Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten [4. neu bearb. u. erg. Aufl.] 9783110363166, 9783110363159

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Table of contents :
Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten
Autoren- und Inhaltsübersicht
Abkürzungsverzeichnis
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
ERSTER TEIL. Die europäische Grundrechtsidee
§ 1 Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten
I. Internationaler und Europäischer Grundrechtsschutz
II. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Menschenrechtsschutzes im Rahmen des Europarats und insbesondere durch die EMRK
1. Die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes durch die EMRK
a) Entstehungsgeschichte
b) Entwicklung der Konvention und der Rechtsprechung
2. Der Menschenrechtsschutz im Europarat im Allgemeinen
a) Vertragliche Menschenrechtsverbürgungen
b) Die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung nach 1989/1990
III. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der EG/EU
1. Frühe Rechtsprechung
2. Entwicklung und dogmatische Begründung der Unionsgrundrechte
3. Forderungen nach einem Grundrechtskatalog für das Unionsrecht und die Europäische Grundrechts-Charta
4. Der Geltungsbereich der Unionsgrundrechte
5. Die Diskussion um einen Beitritt zur EMRK
IV. Die Grundfreiheiten des Unionsrechts
1. Anerkennung als subjektiv-öffentliche Rechte
2. Auslegung der Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote
3. Ergänzung der Personenverkehrsfreiheiten um Rechte aus der Unionsbürgerschaft
4. Drittwirkung und Schutzpflichten: Grundrechtsdogmatik in der Argumentation des EuGH zu den Grundfreiheiten
V. Zusammenfassung: Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten in einem Europa mehrerer Ebenen
ZWEITER TEIL. Die Europäische Menschenrechtskonvention
§ 2 Allgemeine Lehren der EMRK
I. Stellung der EMRK im Gefüge des internationalen und nationalen Rechts
1. Universeller und regionaler Menschenrechtsschutz
2. Grundlagen und Wirkungsweise der EMRK
3. Rang und Wirkungsweise der EMRK in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen
4. Rang und Wirkungsweise der EMRK im Europäischen Unionsrecht
II. Funktionen der Konventionsrechte
1. Gewährleistung des status negativus (Abwehrrechte)
2. Gewährleistung der Rechtsgleichheit
3. Gewährleistung des status positivus (Leistungsrechte)
a) Originäre und derivative Teilhaberechte
b) Anspruch auf Schutz
4. Gewährleistung des status activus (staatsbürgerliche Rechte)
5. Gewährleistung des status activus processualis (Verfahrensrechte)
6. Konventionsrechte als Elemente objektiver Ordnung
III. Auslegung der Konventionsrechte
IV. Berechtigte der Konventionsrechte
V. Verpflichtete der Konventionsrechte
1. Konventionsstaaten des Europarates
2. Internationale und supranationale Organisationen
a) Direkte Bindung
b) Indirekte Bindungswirkungen im Falle eines Handelns der Konventionsstaaten
3. Privatpersonen
VI. Räumlicher Geltungsbereich der EMRK
VII. Zeitliche Geltung der EMRK
VIII. Gewährleistungen und Beschränkungen der Konventionsrechte
1. Stufen der Konventionsrechtsprüfung
2. Anwendbarkeit der Konvention
3. Schutzbereich (Gewährleistungsgehalt) der Konventionsrechte
4. Eingriff, Beeinträchtigung
5. Rechtfertigung des Eingriffs bzw der Beschränkung
a) Einschränkbarkeit der Konventionsrechte
b) Allgemeine Schrankenregelungen
c) Spezielle Schrankenregelungen
aa) Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung
bb) Verfolgung zulässiger Ziele
cc) Verhältnismäßigkeit der Beschränkung
6. Schematische Zusammenfassung
IX. Rechtsschutz
1. Rechtsschutz durch den EGMR
a) Staatenbeschwerde
b) Individualbeschwerde
aa) Zulässigkeit der Beschwerde
bb) Verfahren
cc) Begründetheit der Beschwerde
dd) Wirkungen der Urteile des EGMR
c) Anrufung des EGMR durch das Ministerkomitee
d) Anrufung des EGMR durch die Höchstgerichte der Hohen Vertragsparteien
2. Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte
§ 3 Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot
I. Schutz der Privatsphäre
1. Privat- und Familienleben, Wohnung und Korrespondenz (Art 8 EMRK)
a) Schutzbereiche
b) Beeinträchtigung
c) Rechtfertigung
d) Schutzpflichtdimension
e) Verfahrensdimension
2. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art 9 EMRK)
a) Schutzbereich
b) Beeinträchtigung
c) Rechtfertigung
II. Schutz der persönlichen Integrität
1. Verbot von Folter sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Bestrafung (Art 3 EMRK)
a) Schutzbereiche
b) Beeinträchtigung
c) Rechtfertigung
d) Schutzpflichtdimension und Schutzmechanismen
2. Verbot von Sklaverei, Zwangsarbeit und Menschenhandel (Art 4 EMRK)
3. Recht auf Leben (Art 2 EMRK)
a) Schutzbereich
b) Beeinträchtigung
c) Rechtfertigung
d) Schutzpflichtdimension
III. Diskriminierungsverbot
1. Das akzessorische Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK
a) Akzessorietät
b) Ungleichbehandlung
c) Rechtfertigung
2. Spezielle Gleichheitsaspekte
§ 4 Kommunikationsgrundrechte
I. Die besondere Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte im System der EMRK
II. Die Meinungs- und die Informationsfreiheit
1. Schutzbereiche
a) Die Meinungsfreiheit
b) Die Äußerungsfreiheit
c) Die Informationsfreiheit
d) Die Kunstfreiheit
e) Presse- und Medienfreiheit
f) Wissenschaftsfreiheit
2. Eingriff
3. Rechtfertigung
a) Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage
b) Die zulässigen Eingriffszwecke
c) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
d) Die Privilegierung politischer Kommunikation
e) Anforderungen an potentiell rufschädigende und ehrverletzende Äußerungen, insbesondere: Sorgfaltspflichten der Presse
f) Der staatliche Beurteilungsspielraum bei Eingriffen zum Schutz der Moral und zum Schutz religiöser Überzeugungen
g) Der Prüfungsmaßstab bei Eingriffen in die Rundfunkund Fernsehfreiheit
III. Versammlungsfreiheit
1. Schutzbereich
2. Eingriff
3. Rechtfertigung
a) Zulässige Eingriffszwecke
b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
c) Besondere Einschränkungen für staatliche Bedienstete
IV. Vereinigungsfreiheit
1. Schutzbereich
2. Eingriff
3. Rechtfertigung
V. Koalitionsfreiheit
1. Schutzbereich
a) Individuelle Koalitionsfreiheit
b) Kollektive Koalitionsfreiheit, insbesondere Tarifautonomie und Arbeitskampffreiheit
2. Eingriff
3. Rechtfertigung
VI. Zusammenfassung
§ 5 Wirtschaftsgrundrechte
I. Einführung
II. Schutz des Eigentums
1. Schutzbereich der Eigentumsgarantie
a) Allgemeines
b) Schutz des Bestandes, nicht des Erwerbs
c) Goodwill
d) Öffentlich-rechtliche Ansprüche
e) Geistiges Eigentum
f) Erbrecht
2. Beeinträchtigungen des Eigentumsrechts
a) Enteignungen
b) Nutzungsregelnde Maßnahmen
c) „Sonstige“ Beeinträchtigungen
3. Rechtfertigung von Eigentumsbeeinträchtigungen
a) Gesetzmäßigkeit der Beeinträchtigung
b) Schutz des öffentlichen Interesses
c) Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung
4. Eigentumsrecht und andere Garantien der EMRK
III. Sonstige wirtschaftsrechtliche Garantien
IV. Einfluss der Europäischen Sozialcharta
§ 6 Justiz- und Verfahrensgrundrechte
I. Der Schutz der persönlichen Freiheit (Art 5 EMRK)
1. Das Recht auf Freiheit und Sicherheit
2. Die Eingriffstatbestände
a) Verurteilung
b) Nichtbefolgung von Gerichtsbeschlüssen oder einer durch Gesetz vorgesehenen Verpflichtung
c) Präventiv- und Untersuchungshaft
d) Inhaftnahme Minderjähriger
e) Unterbringung Kranker und Landstreicher
f) Verhinderung des unberechtigten Eindringens in das Staatsgebiet, Abschiebungs- und Auslieferungshaft
3. Rechte der festgenommenen Person
a) Informationsrecht
b) Angemessene Haftdauer und richterliche Vorführung gem Art 5 III EMRK
c) Recht auf richterliche Haftprüfung gem Art 5 IV EMRK
d) Das Recht auf Haftentschädigung
4. Gewährleistungspflichten
II. Justizgrundrechte im Zusammenhang mit Verfahren vor Gerichten
1. Das Recht des fair trial gem Art 6 I EMRK
a) Der Schutzbereich des Art 6 I EMRK
b) Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht
c) Der Grundsatz des fairen Verfahrens
d) Die Öffentlichkeit des Verfahrens
e) Das Gebot angemessener Verfahrensdauer
2. Nulla poena sine lege (Art 7 EMRK)
3. Das Verbot der Doppelbestrafung und -verfolgung
4. Recht auf Nachprüfung einer gerichtlichen Verurteilung
5. Das Recht auf Entschädigung für Fehlurteile (Art 3 7. ZP EMRK)
III. Verfahrensgarantien bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen
IV. Das Recht auf wirksame Beschwerde
DRITTER TEIL. Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
§ 7 Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten
I. Eigenart und Stellung der Grundfreiheiten im Gefüge des Unionsrechts
1. Bedeutung der Grundfreiheiten
2. Die einzelnen Grundfreiheiten
3. Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit der Grundfreiheiten
4. Subjektiv-rechtlicher Charakter der Grundfreiheiten
5. Vorrang der Grundfreiheiten
6. Abgrenzung zu anderen Rechten des primären Unionsrechts
a) Geschriebene Rechte
aa) Unionsgrundrechte
bb) Allgemeines Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV
cc) Sonstige Gleichheitsrechte
dd) Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft
b) Ungeschriebene Rechte
7. Dogmatik der Grundfreiheiten
II. Funktionen der Grundfreiheiten
1. Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte
a) Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten
b) Vergleichsmaßstab
c) Arten der Diskriminierung
d) Wirkungsweise des Diskriminierungsverbots
2. Grundfreiheiten als Freiheitsrechte
3. Grundfreiheiten als Leistungsrechte
a) Abgeleitete Teilhaberechte
b) Recht auf hoheitliche Schutzgewähr
c) Recht auf originäre Teilhabe
4. Grundfreiheiten als Verfahrensrechte
5. Grundfreiheiten als Elemente objektiver Ordnung
III. Berechtigte der Grundfreiheiten
1. Staatsangehörige der Mitgliedstaaten (Unionsbürger)
2. Juristische Personen und Personenmehrheiten innerhalb der Union
3. Drittstaatler sowie juristische Personen und Personenmehrheiten außerhalb der Union
IV. Verpflichtete der Grundfreiheiten
1. Mitgliedstaaten der EU
2. Europäische Union
3. Privatpersonen
V. Räumlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten
VI. Zeitlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten
VII. Schutzbereiche, Beeinträchtigungen und Schranken der Grundfreiheiten
1. Schutzbereich der Grundfreiheiten
a) Sachlicher Schutzbereich
aa) Anwendbarkeit der Grundfreiheiten
bb) Grenzüberschreitender Bezug
cc) Geschützte Verhaltensweisen
dd) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Grundfreiheiten
ee) Nichtvorliegen von Bereichsausnahmen
b) Personeller, räumlicher und zeitlicher Schutzbereich
2. Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Grundfreiheiten
a) Handeln, Dulden oder Unterlassen eines Verpflichteten
b) Art und Weise der Beeinträchtigung
aa) Erfordernis einer Diskriminierung oder Beschränkung
bb) Vorliegen einer Diskriminierung oder Beschränkung
cc) Abgrenzung von Diskriminierungen und Beschränkungen
3. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung von Grundfreiheiten
a) Bestehen einer Grundlage der Beeinträchtigung
aa) Grundlage im Sekundärrecht der EU
bb) Gesetzliche Grundlage im mitgliedstaatlichen Recht
b) Ausdrückliche Schranken
c) Anderweitige unionsrechtliche Schranken
d) Ungeschriebene Schranken
aa) Entwicklung der Rechtsprechung
bb) Geltung der ungeschriebenen Schranken für diskriminierende Beeinträchtigungen
e) Schranken in Bezug auf das Handeln Privater
f) Schranken-Schranken
aa) Unionsgrundrechte und sonstige Primärrechtsbestimmungen
bb) Sekundäres Unionsrecht
cc) Wesensgehaltsgarantie
dd) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
4. Schematische Zusammenfassung
VIII. Rechtsschutz
1. Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen
2. Durchsetzung der Grundfreiheiten durch die EU-Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten
§ 8 Freiheit des Warenverkehrs
I. Schutzbereich
1. Räumlicher Schutzbereich
2. Sachlicher Schutzbereich
a) Aus den Mitgliedstaaten stammende oder sich im freien Verkehr befindende Waren
b) Zum Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs
3. Persönlicher Schutzbereich
a) Berechtigte
b) Verpflichtete
II. Beeinträchtigung
1. Einfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 34 AEUV)
a) Mengenmäßige Beschränkungen
b) Maßnahmen gleicher Wirkung
2. Mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung
III. Rechtfertigung
1. Bereichsübergreifende Aspekte
a) Keine sekundärrechtlichen Regelungen
b) Verhältnis des Art 36 AEUV zu den „zwingenden Erfordernissen“, Anwendungsbereich der Rechtfertigungsgründe und dogmatische Einordnung
c) Nicht wirtschaftlicher Charakter
d) Zur Frage der Notwendigkeit eines territorialen Bezugs
e) Zur Bedeutung der (unionsrechtlichen oder nationalen) Grundrechte
2. Geschriebene Rechtfertigungsgründe
3. Ungeschriebene Schranken
4. Verhältnismäßigkeit
a) Zum Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten
b) Die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im Einzelnen
§ 9 Arbeitnehmerfreizügigkeit
I. Schutzbereich
1. Vorbemerkung
2. Sachlicher Schutzbereich
a) Arbeitnehmereigenschaft
b) Zeitliche Erstreckung
c) Geschützte Betätigungen
d) Bereichsausnahmen
3. Persönlicher Schutzbereich
a) Unionsbürger und ihre Familienangehörigen
b) Drittstaatsangehörige
4. Konkurrenzen
II. Beeinträchtigung
1. Diskriminierungen
2. Beschränkungen
3. Adressaten
III. Rechtfertigung
1. Geschriebene Schranken
2. Ungeschriebene Schranken
3. Schranken-Schranken
§ 10 Niederlassungsfreiheit
I. Einleitung
1. Grundlegende Strukturen und Probleme der Niederlassungsfreiheit im System der Grundfreiheiten
2. Das Zusammenspiel von unions- und völkerrechtlicher Niederlassungsfreiheit
II. Schutzbereich
1. Räumlicher Schutzbereich
2. Personeller Schutzbereich
3. Sachlicher Schutzbereich
a) Erwerbstätigkeit
b) Dauerhafte und stabile Eingliederung in die Volkswirtschaft
c) Ergebnis
d) Primäre und sekundäre Niederlassung als Erscheinungsformen der sachlichen Schutzbereichsgewährleistung
e) Grenzüberschreitender Sachverhalt
4. Bereichsausnahmen
III. Beeinträchtigung
1. Diskriminierungen
2. Beschränkungen
3. Beeinträchtigungen durch Private
IV. Rechtfertigung
V. Die Anwendung der Niederlassungsfreiheit auf juristische Personen gem Art 54 AEUV
§ 11 Dienstleistungsfreiheit
I. Einleitung
1. Die allgemeine Bedeutung der Dienstleistungsfreiheit im Unionsrecht
2. Struktur der Dienstleistungsfreiheit im Unionsrecht
3. Dienstleistungsfreiheit außerhalb des AEU-Vertrages
a) Die „Freiheit Dienstleistungen zu erbringen“ der Grundrechtecharta
b) Sonstige Regelungen außerhalb des AEU-Vertrags
4. Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs durch Sekundärrecht
a) Die Sekundärrechtssetzung bis zum Jahr 2001 (erste und zweite Stufe)
b) Die Binnenmarktstrategie der Kommission vom Januar 2001 (dritte Stufe)
c) Die Dienstleistungsrichtlinie
5. Weitere wichtige Sekundärrechtsakte
II. Schutzbereich
1. Räumlicher Schutzbereich
2. Personeller Schutzbereich
3. Sachlicher Schutzbereich
a) Definition der Dienstleistung gem Art 57 AEUV
b) Grenzüberschreitender Vorgang
c) Bereichsausnahme
d) Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten
III. Beeinträchtigung des Schutzbereichs
1. Adressaten
2. Diskriminierung
a) Offene Diskriminierung
b) Versteckte Diskriminierung
c) Ansässigkeitserfordernisse
d) Abgrenzung zum allgem Diskriminierungsverbot
3. Beschränkungen
a) Umfassendes Beschränkungsverbot
b) Modifikation
IV. Rechtfertigung
1. Ausdrückliche (geschriebene) Schranke
2. Ungeschriebene Schranken
3. Schranken-Schranken
a) Allgemeine Schranken-Schranken
b) Insbesondere: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
V. Aktuelle Entwicklungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit
1. Sport im Lichte der Dienstleistungsfreiheit
2. Die Kohärenz am Beispiel des Glücksspielrechts
a) Einführung in die Problematik des Glücksspielrechts
b) Systematische Stellung des Kohärenzgebots
c) Inhalt
d) Zusammenfassung
3. Weitere bedeutende Entscheidungen des EuGH
§ 12 Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs
I. Schutzbereich
1. Kapitalverkehr
2. Grenzübertritt
3. Zahlungsverkehr
II. Beschränkungsverbot
III. Rechtfertigung von Beschränkungen innerhalb der Union
1. Kodifizierte Rechtfertigungen
2. Zwingende Erfordernisse
IV. Einzelne Regelungsfelder
1. Steuerrecht: Besteuerung von Kapitalerträgen
a) Gleichmäßig wirkende Steuerregelungen
b) Unterschiedlich wirkende (dh diskriminierende) Steuerregelungen
2. Unternehmensrecht
a) Privatisierungsrecht
b) Gesellschaftsrecht
3. Außenwirtschaftsrecht: Meldepflichten
4. Währungsrecht
a) Geldpolitik
b) Wechselkurspolitik
5. Recht des Grundstücksverkehrs
a) Zweitwohnungen
b) Einheimischenmodelle
c) Landwirtschaftliche Grundstücke
d) Grundstücke in Grenzgebieten und Gebieten von militärischer Bedeutung
6. Kreditsicherungsrecht
a) Grundsätze
b) Beispiel: Sicherungsrechte in fremder Währung
V. Zusätzliche Beschränkungen gegenüber Drittstaaten
1. Begründungsfreie Beschränkungen nach Art 64 AEUV
2. Befristete Beschränkungen nach Art 66 AEUV
3. Wirtschaftssanktionen nach Art 215 AEUV
4. Weiter reichende Auslegung des Art 65 AEUV und der zwingenden Erfordernisse
VI. Verhältnis zu den anderen Grundfreiheiten
VII. Schluss
§ 13 Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit
I. Rechtsquellen und systematische Einordnung
II. Prüfungsaufbau
1. Schutzbereich
a) Persönlicher Schutzbereich
b) Sachlicher Schutzbereich
2. Beeinträchtigung
a) Normadressaten
b) Arten der Beeinträchtigung
c) Rechtfertigung
d) Rechtsfolgen eines Verstoßes
VIERTER TEIL. Die Grundrechte der Europäischen Union
§ 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte
I. Eigenart und Stellung der Unionsgrundrechte im Gefüge des unionalen, internationalen und nationalen Rechts
1. Begriff der Unionsgrundrechte
2. Notwendigkeit der Gewährleistung von Unionsgrundrechten auf Unionsebene
3. Geltungsgrund der Unionsgrundrechte
a) Frühere Rechtslage
b) Heutige Rechtslage
4. Einzelne Unionsgrundrechte
5. Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte
6. Subjektiv-rechtlicher und objektiv-rechtlicher Charakter der Rechte und Grundsätze
7. Geltungsrang der Unionsgrundrechte
a) Verhältnis zum primären Unionsrecht
aa) Verhältnis zu den Grundfreiheiten
bb) Verhältnis zu den objektiven Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts
b) Verhältnis zum Sekundärrecht (Tertiärrecht) der EU
c) Verhältnis zur EMRK
d) Verhältnis zum internationalen Recht
e) Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Recht (insbesondere zu den nationalen Grundrechten)
II. Funktionen der Unionsgrundrechte
1. Gewährung von Freiheitsrechten
2. Gewährung von Gleichheitsrechten
3. Gewährung von Leistungsrechten
4. Gewährung von Verfahrensrechten
5. Gewährung von Solidarität, von Bürgerrechten und justiziellen Rechten
6. Unionsgrundrechte als Elemente objektiver Ordnung
7. Rechtsfolgen von Grundrechtsverstößen
III. Funktionen der grundrechtlichen Grundsatznormen
IV. Auslegung der Unionsgrundrechte
V. Berechtigte der Unionsgrundrechte
1. Natürliche Personen
2. Juristische Personen und Personenmehrheiten
VI. Verpflichtete der Unionsgrundrechte
1. Europäische Union
2. Mitgliedstaaten der Europäischen Union
a) Besondere Unionsgrundrechte
b) Charta-Grundrechte
aa) Recht der Union
bb) Durchführung des Unionsrechts
cc) Durchführungsbereich (Anwendungsbereich) des Unionsrechts
c) Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV
3. Privatpersonen
VII. Räumlicher und zeitlicher Geltungsbereich der Unionsgrundrechte
VIII. Gewährleistungen, Beeinträchtigungen und Schranken der Unionsgrundrechte
1. Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte
2. Schutzbereich der Unionsgrundrechte
a) Sachlicher Schutzbereich der Charta-Rechte
aa) Grundrechtlich geschützer Lebensbereich oder geschütztes Rechtsgut
bb) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Unionsgrundrechte
cc) Schutzbereich der ungeschriebenen Unionsgrundrechte
b) Personeller Schutzbereich
3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs der Unionsgrundrechte
4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Unionsgrundrechte
a) Einschränkbarkeit der Grundrechte
b) Gesetzesvorbehalt
c) Verfolgung zulässiger Ziele
d) Schranken-Schranken
aa) Wesensgehaltsgarantie
bb) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
cc) Grundfreiheiten und sonstige Primärrechtsbestimmungen
5. Schematische Zusammenfassung
IX. Rechtsschutz
1. Gerichtlicher Rechtsschutz
a) Rechtsschutz durch die Unionsgerichtsbarkeit
aa) Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen
bb) Rechtsschutzmöglichkeiten der Unionsorgane und Mitgliedstaaten
b) Rechtsschutz durch die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit
2. Weitere Formen des Schutzes der Unionsgrundrechte
§ 15 Würde des Menschen
I. Menschenwürde
1. Schutzbereich
2. Beeinträchtigung
3. Rechtfertigung
II. Recht auf Leben und Unversehrtheit
1. Schutzbereiche
2. Beeinträchtigung
3. Rechtfertigung
III. Verbot der Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit
1. Schutzbereiche
2. Beeinträchtigung
3. Rechtfertigung
IV. Recht auf Asyl und Schutz des Aufenthalts
1. Schutzbereiche
2. Beeinträchtigung
3. Rechtfertigung
§ 16 Höchstpersönliche Rechte
I. Freiheit und Sicherheit
1. Schutzbereich
2. Beeinträchtigung
3. Rechtfertigung
II. Schutz der Privatsphäre
1. Schutzbereich
2. Beeinträchtigung
3. Rechtfertigung
III. Schutz personenbezogener Daten
1. Schutzbereich
2. Beeinträchtigung
3. Rechtfertigung
IV. Recht auf Ehe und Familie
1. Schutzbereich
2. Beeinträchtigung
3. Rechtfertigung
V. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
1. Schutzbereich
a) Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Art 10 I GRCh)
b) Gedanken- und Gewissensfreiheit
c) Recht auf Wehrdienstverweigerung (Art 10 II GRCh)
2. Beeinträchtigung
3. Rechtfertigung
§ 17 Kommunikationsgrundrechte
I. Bedeutung und Rechtsgrundlagen
II. Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit
1. Die Normierung des Art 11 GRCh im Überblick
2. Schutzbereich
a) Meinungs- und Informationsfreiheit
b) Freiheit und Pluralität der Medien
3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs
4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen
a) Rechtfertigung auf Grundlage der Grundrechtecharta
b) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
III. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
1. Die Normierung des Art 12 GRCh im Überblick
2. Schutzbereich
a) Versammlungsfreiheit
b) Vereinigungsfreiheit
c) Koalitionsfreiheit
d) Politische Parteien
3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs
4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen
a) Rechtfertigung auf Grundlage der Grundrechtecharta
b) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
§ 18 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung
I. Bedeutung und Rechtsgrundlagen
II. Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art 13 GRCh)
1. Schutzbereiche
a) Kunstfreiheit
b) Wissenschaftsfreiheit
2. Beeinträchtigungen der Schutzbereiche
3. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen
III. Recht auf Bildung (Art 14 GRCh)
1. Schutzbereiche
a) Zugang zu Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungseinrichtungen (Art 14 I und II GRCh)
b) Freiheit zur Gründung privater Lehranstalten
c) Erziehungs- und unterrichtsbezogenes Elternrecht
2. Beeinträchtigungen der Schutzbereiche
3. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen
§ 19 Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit
I. Schutzbereich
1. Funktion, Bedeutung und Quellen des Unionsgrundrechts der Berufsfreiheit
2. Sachlicher Schutzbereich
a) Inhalt und Einzelgewährleistungen
b) Abgrenzung zu anderen unionsrechtlichen Gewährleistungen
c) Konkurrenzverhältnis zu den Grundfreiheiten
3. Persönlicher Schutzbereich
a) Unionsbürger
b) Juristische Personen
c) Drittstaatsangehörige (einschließlich juristischer Personen)
II. Beeinträchtigung
III. Rechtfertigung
1. Schranken der Berufsfreiheit
2. Anforderungen an eine unionsrechtskonforme Beschränkung der Berufsfreiheit
a) Rechtsgrundlage
b) Verwirklichung des Gemeinwohls
c) Wesensgehaltsgarantie
d) Verhältnismäßigkeitsprüfung
IV. Exkurs: Von der berufsbezogenen Bildung zum Grundrecht auf Bildung
§ 20 Eigentumsgrundrecht
I. Einführung
1. Stellung und Bedeutung des Eigentumsgrundrechts im Unionsrecht
2. Abgrenzung zwischen Eigentums(grund)recht und Eigentumsordnung
II. Die Herleitung und dogmatische Struktur des unionsrechtlichen Eigentumsgrundrechts
III. Das europäische Eigentumsgrundrecht im Einzelnen
1. Vorüberlegungen
2. Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts
a) Persönlicher Schutzbereich
b) Sachlicher Schutzbereich
3. Beeinträchtigung des Schutzbereichs
a) Beschränkungen des Eigentums
b) Eigentumsentziehungen
c) Kritik
4. Rechtfertigung
a) Rechtfertigung von Enteignungen
b) Rechtfertigung von bloßen Nutzungsbeschränkungen
c) Verhältnismäßigkeit und Kontrolldichte
IV. Würdigung der Bonität des europäischen Eigentumsschutzes
§ 21 Gleichheitsgrundrechte
I. Überblick und Systematik
1. Transnationale Integrationsnormen
2. Supranationale Legitimationsnormen
II. Normstruktur und Prüfungsaufbau
III. Der allgemeine Gleichheitssatz
1. Ungleichbehandlung
2. Rechtfertigung
3. Rechtsfolgen eines Verstoßes
IV. Besondere Gleichheitssätze
1. Nichtdiskriminierung, Art 21 GRCh
2. Gleichheit von Männern und Frauen, Art 157 I AEUV, 23 GRCh
a) Schutzbereich
b) Beeinträchtigung
c) Rechtfertigung
d) Rechtsfolgen eines Verstoßes
3. Rechte des Kindes (Art 24 GRCh); Rechte älterer Menschen (Art 25 GRCh); Integration von Menschen mit Behinderung (Art 26 GRCh)
§ 22 Soziale Grundrechte
I. Allgemeiner Teil
1. Solidarität und soziale Rechte
2. Typologie und Dogmatik sozialer Rechte
a) Grundrechte und Grundsätze
b) Grundrechtsfunktionen
3. Die Achtung und grenzüberschreitende Erweiterung sozialer Rechte durch das Unionsrecht
II. Besonderer Teil: Die einzelnen sozialen Grundrechte
1. Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen, Art 27 GRCh
2. Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen, Art 28 GRCh
3. Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst, Art 29 GRCh
4. Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung, Art 30 GRCh
5. Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Art 31 GRCh
6. Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz, Art 32 GRCh
7. Familien- und Berufsleben, Art 33 GRCh
8. Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung, Art 34 GRCh
§ 23 Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse
I. Einführung
II. Die Gewährleistungen im Einzelnen
1. Diensleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse
a) Dienstleistungen
b) Allgemeines wirtschaftliches Interesse
2. Zugang
3. Anerkennung und Achtung
4. Förderung des Zusammenhalts in der Union
III. Abschließende Würdigung
§ 24 Umweltschutz
I. Einführung
II. Die Vorgaben der Norm
1. Hohes Umweltschutzniveau
2. Vorgaben des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung
III. Schlussfolgerungen
§ 25 Verbraucherschutz
I. Einführung
II. Zum Begriff des Verbraucherschutzes
III. Verbraucherschutz in den Politiken der Union
§ 26 Unionsbürgerrechte
I. Einleitung
II. Bürgerschaft als Angelegenheit der Europäischen Union
1. Vom Marktbürger zum Unionsbürger
2. Die Regelungen des AEU-Vertrages zur Unionsbürgerschaft
III. Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft
1. Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft
2. Staatsangehörigkeit als Voraussetzung der Unionsbürgerschaft
3. Unionsbürgerschaft als Ergänzung der Staatsbürgerschaft
IV. Die Unionsbürgerrechte
1. Freizügigkeit
a) Rechtliche Tragweite
b) Schutzbereich
c) Eingriffe und Schranken
2. Politische Rechte und Kontrollrechte
a) Wahlrecht
b) Petitionsrecht (Art 24 II, III iVm 227 bzw 228 AEUV, 43, 44 GRCh)
c) Informationsrecht (Art 24 IV AEUV, 41 IV GRCh)
d) Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art 15 AEUV, 42 GRCh)
e) Recht auf eine gute Verwaltung (Art 41 GRCh)
3. Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 23 AEUV, 46 GRCh)
a) Normzweck und Wirkung
b) Schutzbereich
c) Eingriffe und Schranken
d) Rechtsschutz
4. Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot (Art 18 AEUV)
a) Das Verhältnis des Gleichheitssatzes zu den Unionsbürgerrechten
b) Reichweite des unionsbürgerlichen Teilhaberechts aus Art 18 AEUV iVm 20 bzw 21 AEUV
c) Rechtfertigung von Differenzierungen
V. Bewertung
§ 27 Justiz- und Verfahrensgrundrechte
I. Überblick
1. Bedeutung der Justiz- und Verfahrensgrundrechte im EU-Recht
2. Quellen der Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts
a) Die allgemeinen Rechtsgrundsätze als ursprünglicher Anknüpfungspunkt
b) Die Kodifikation durch die Grundrechtscharta
c) Die Bedeutung des Sekundärrechts
3. Verpflichtete
II. Justiz- und Verfahrensgrundrechte gegenüber den EU-Organen
1. Verfahrensgrundrechte gegenüber den Verwaltungsorganen der EU
a) Die einzelnen Rechte
b) Insbesondere: Verfahrensrechte im Kartellverfahren
2. Verfahrensgrundrechte vor den EU-Gerichten
a) Zugang zu den EU-Gerichten
b) Garantien im Verfahren vor den EU-Gerichten
III. Anforderungen der Justiz- und Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts an die Mitgliedstaaten
1. Anwendbarkeit der Verfahrensgrundrechte auf das Handeln der Mitgliedstaaten
2. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch die Grundfreiheiten
3. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch das Gebot gleichwertigen und effektiven Schutzes (Art 4 III EUV)
a) Stärkung der Verfahrensrechte durch das Effektivitätsgebot
b) Insbesondere: Anspruch auf Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte
c) Konflikte zwischen Verfahrensgarantien und Effektivitätsgebot
IV. Besondere Probleme bei „gestuften“ Verfahren und „gemischten“ Entscheidungen zwischen nationalen Behörden und EU-Kommission
1. Gestufte Verfahren
a) Das Phänomen
b) Gefährdung der Rechte im Verwaltungsverfahren
c) Problematik des Rechtsschutzes
2. Rechtsschutzprobleme bei „gemischten“ Entscheidungen
V. Zusammenfassung
Anhang
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union
Zusammenstellung der besprochenen Fälle
Sachregister
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Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten [4. neu bearb. u. erg. Aufl.]
 9783110363166, 9783110363159

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Dirk Ehlers (Hrsg.) Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten de Gruyter Studium

Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten Herausgegeben von

Dirk Ehlers Bearbeitet von Ulrich Becker Christian Calliess Dirk Ehlers Astrid Epiney Christoph Grabenwarter Jörg Gundel Stefan Kadelbach Thorsten Kingreen Thilo Marauhn Eckhard Pache

Hermann Pünder Matthias Ruffert Frank Schorkopf Katharina Struth Christian Tietje Robert Uerpmann-Wittzack Christian Walter Bernhard W. Wegener Peter von Wilmowsky

4. Auflage

Zitiervorschlag: z. B. Becker in: Ehlers, EuGR, 4. Aufl. 2014, § 9 Rn 54

ISBN 978-3-11-036315-9 e-ISBN 978-3-11-036316-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Datenkonvertierung/Satz: WERKSATZ Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort zur vierten Auflage Die Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten haben sich in den letzten Jahren dynamisch fortentwickelt. Dies ist zum einen auf die immer dichter werdende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention zurückzuführen. Des Weiteren ist die dogmatische Erfassung der Grundfreiheiten weiter verfeinert worden. Schließlich entfalten die Unionsgrundrechte nach Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in viel stärkerem Maße als zuvor reale Kraft. Die Neuauflage des Lehrbuchs zeichnet dies im Einzelnen nach. Mehr Raum wurde insbesondere der Darstellung der Unionsgrundrechte geschenkt, so dass sich das Buch nunmehr in 27 Paragraphen untergliedert. Die Neubearbeitung gibt den Stand des Jahres 2013/2014 wieder. Das Konzept des Lehrbuchs wurde beibehalten. Insbesondere wird auch in der 4. Auflage die systematische Betrachtungsweise, der sich das Buch verpflichtet weiß, durch eingearbeitete Fälle und Lösungen ergänzt. Die Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union sind nach der Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung zitiert worden. Soweit die Entscheidungen noch nicht in die Amtliche Sammlung aufgenommen wurden, wird auf die Veröffentlichung in einer gängigen Zeitschrift, ansonsten auf das Aktenzeichen verwiesen (Internetzugang: http://curia.europa.eu). Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind in erster Linie (ungeachtet des Umstandes, dass es sich nicht um amtliche Übersetzungen handelt) mit einer Fundstelle in der deutschsprachigen Literatur zitiert worden. Nachrangig wird auf die Amtliche Rechtsprechungssammlung zurückgegriffen. Diese wurde mehrfach umbenannt. Vor 1996 wurde die Bezeichnung Publications de la Cour Européenne des Droits de l’Homme, Série A: Arrêts et décisions/Publications of the European Court of Human Rights, Series A: Judgments and Decisions, gewählt. Diese Reihe wird hier in der englischen Version „Series A“ zitiert. Ab 1996 wird von Recueil des Arrêts et Décisions/Reports of Judgments and Decisions gesprochen, wobei hier für den Zeitraum von 1996 bis 1998 die Abkürzung RJD Jahr-Band (römische Ziffer), ab dem 1.11.1998 die Abkürzung ECHR Jahr-Band (römische Ziffer) gewählt wurde. Die Entscheidungen der früheren Kommission sind von 1960 (Band 1) bis 1974 (Band 46) veröffentlicht in: Collection of Decisions of the European Commission of Human Rights (CD); fortgeführt seit 1975 (Band 1) bis 1998 (Band 94) als Decisions and Reports, seit Band 76 aufgeteilt in Series A und B. In Series A finden sich die Entscheidungen in der Originalfassung, in der Serie B in der jeweiligen französischen oder englischen Übersetzung (hier zitiert als: DR). Nicht in den Amtlichen Sammlungen veröffentlichte Entscheidungen werden nach Beschwerdenummer und Entscheidungsdatum zitiert. Die Entscheidungen sind zumeist auch im Internet in der Datenbank (HUDOC) unter www.echr.coe.int auffindbar. Am Schluss des Buches sind alle berücksichtigten Entscheidungen in alphabetischer Reihenfolge zusammengestellt worden. Das gleiche trifft auf die besprochenen Fälle zu. Viele der zitierten Gerichtsentscheidungen sind in der JURA-Kartei (JK) der Ausbildungszeitschrift „JURA“ wiedergegeben und kommentiert worden. Die gesamte Kartei kann beim Verlag bezogen werden. Die umfangreichen redaktionellen Arbeiten sind von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durchgeführt worden. Ihnen sei an dieser Stelle nochmals vielmals gedankt.

V

Vorwort

Besonders zu nennen sind Frau Kristin Vorbeck und Herr Julian Gerhold, welche die Arbeiten koordiniert und die Schlussredaktion durchgeführt haben. Für Stellungnahmen und kritische Hinweise sind Herausgeber und Autoren dankbar. Sie können auf elektronischem Wege übermittelt werden ([email protected]). Münster, im Mai 2014

VI

Dirk Ehlers

Aus dem Vorwort zur ersten Auflage Die ständig zunehmende Bedeutung des europäischen Rechts und die damit einhergehende Verdrängung, Überlagerung oder Ergänzung des nationalen Rechts betrifft nicht nur die Staaten in Europa, sondern auch und gerade die Bürger. In der reichlich vorhandenen Lehrbuchliteratur zum Europarecht spiegelt sich dies bisher nicht hinreichend wider. Es handelt sich fast durchweg um Gesamtdarstellungen des europäischen Gemeinschaftsrechts, welche sich schwerpunktmäßig mit den Institutionen befassen und die grundsätzlichen Rechtspositionen der Bürger eher am Rande streifen. Demgegenüber ist das vorliegende Buch nur den europäischen Grundrechten und Grundfreiheiten gewidmet. Es geht nicht nur um Ausdifferenzierung, sondern auch darum, der Perspektive von oben diejenige von unten an die Seite zu stellen und den Bürgern und ihren Rechten in Europa mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Eingegangen wird nicht nur auf das europäische Gemeinschaftsrecht, sondern auch auf die – immer wichtiger werdende – Europäische Menschenrechtskonvention. Ferner befasst sich ein Kapitel mit der Europäischen Charta der Grundrechte. Auch wenn dieser Charta bisher keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt, wird sie doch nachhaltig die europäische Grundrechtsentwicklung beeinflussen. Das Buch wendet sich in erster Linie an Studierende und Referendare. Gemäß ihrer großen Bedeutung sind die europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten heute in allen Bundesländern Bestandteile der Pflichtfächer im ersten und zweiten juristischen Examen. Die Konzeption des Lehrbuches ist eine dreifache. Zum einen ist es das Bemühen der Autoren gewesen, die europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten auf der Grundlage einer systematischen Durchdringung darzustellen. So sind den Einzeldarstellungen die allgemeinen Lehren vorangestellt worden. Auch wird einheitlich zwischen Schutzbereich, Beeinträchtigung und Rechtfertigung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten unterschieden, wobei die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Gemeinschaftsgrundrechte nach Sachbereichen zusammengefasst wurden. Des Weiteren wurde ungeachtet der Notwendigkeit, den komplexen Stoff zu reduzieren, die Absicht verfolgt, die wesentlichen Problemstellungen der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten zu behandeln. Hierbei haben sich gewisse Überschneidungen nicht vermeiden lassen. So versteht es sich von selbst, dass die im Rahmen der allgemeinen Lehren behandelten Fragestellungen bei der Darstellung der Einzelgrundrechte und Grundfreiheiten wieder auftauchen. Auch bestehen wegen der Bezugnahme des Gemeinschaftsrechts auf die Europäische Menschenrechtskonvention enge Verbindungen zwischen den Gemeinschaftsgrundrechten und den Grundrechten der Europäischen Menschenrechtskonvention. Herausgeber und Autoren haben versucht, dem Überlappen der Problemstellungen durch Vernetzung der Beiträge Rechnung zu tragen. Schließlich liegt dem Buch ein einheitliches didaktisches Konzept zu Grunde, weil abgesehen von der Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Grundrechte und Grundfreiheiten die systematische Betrachtungsweise in allen Beiträgen durch eingearbeitete Fälle und Lösungen ergänzt wird. Die zumeist der Rechtsprechung entnommenen Fälle und Lösungen sollen nicht nur zur Veranschaulichung beitragen, sondern auch den Leser in die Lage versetzen, sich den Stoff selbstständig zu erarbeiten und auf einen Lebenssachverhalt anzuwenden. Sie dienen damit zugleich der Selbstkontrolle. Das Werk ist eine Gemeinschaftsarbeit von 17 Autoren. Der Herausgeber dankt den Verfassern, dass sie zur Verwirklichung des Unterfangens bereit waren, sich in eine von

VII

Vorwort

ihm entworfene Gesamtkonzeption einzufügen und auch terminlich einzubringen. Dass eine so große Zahl von Autoren ein Wagnis ist, war den Beteiligten von vornherein klar. Alle Mitwirkenden hoffen aber, dass trotz aller Unterschiede im Einzelnen ein Ganzes entstanden ist, das nicht nur für die Auszubildenden eine Hilfestellung darstellt, sondern auch allen sonstigen mit dem Europarecht befassten Institutionen und Personen und damit zugleich der Praxis Anregungen zu geben vermag. Münster, im Mai 2002

VIII

Dirk Ehlers

Autoren- und Inhaltsübersicht 1. Teil: Die europäische Grundrechtsidee Dr. Christian Walter Professor an der Universität München § 1 Geschichte und Entwicklung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2. Teil: Die Europäische Menschenrechtskonvention Dr. Dirk Ehlers Professor an der Universität Münster § 2 Allgemeine Lehren der EMRK

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Robert Uerpmann-Wittzack Professor an der Universität Regensburg § 3 Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot

25

. . . . . . . . . . .

96

Dr. Thilo Marauhn Professor an der Universität Gießen § 4 Kommunikationsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

Dr. Bernhard W. Wegener Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg § 5 Wirtschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

Dr. Dr. Christoph Grabenwarter / Katharina Struth Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien, Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichtshofes / Diplom-Juristin § 6 Justiz- und Verfahrensgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

198

3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union Dr. Dirk Ehlers Professor an der Universität Münster § 7 Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

Dr. Astrid Epiney Professorin an der Universität Freiburg, Schweiz § 8 Freiheit des Warenverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

315

Dr. Ulrich Becker Professor an der Universität München Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht § 9 Arbeitnehmerfreizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

IX

Autoren- und Inhaltsübersicht

Dr. Christian Tietje Professor an der Universität Halle-Wittenberg § 10 Niederlassungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383

Dr. Eckhard Pache Professor an der Universität Würzburg § 11 Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

417

Dr. Peter v. Wilmowsky Professor an der Universität Frankfurt § 12 Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . .

470

Dr. Thorsten Kingreen Professor an der Universität Regensburg § 13 Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit

. . . . . . . . .

504

Dr. Dirk Ehlers Professor an der Universität Münster § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

513

Dr. Frank Schorkopf Professor an der Universität Göttingen § 15 Würde des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

581

Dr. Frank Schorkopf Professor an der Universität Göttingen § 16 Höchstpersönliche Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

603

Dr. Hermann Pünder Professor an der Bucerius Law School, Hamburg § 17 Kommunikationsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

629

Dr. Hermann Pünder Professor an der Bucerius Law School, Hamburg § 18 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung . . . . . . . . . . . . .

668

Dr. Matthias Ruffert Professor an der Universität Jena § 19 Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . .

688

Dr. Christian Calliess Professor an der Freien Universität Berlin § 20 Eigentumsgrundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

707

Dr. Thorsten Kingreen Professor an der Universität Regensburg § 21 Gleichheitsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

735

4. Teil: Die Grundrechte der Europäischen Union

X

Autoren- und Inhaltsübersicht

Dr. Thorsten Kingreen Professor an der Universität Regensburg § 22 Soziale Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

757

Dr. Christian Calliess Professor an der Freien Universität Berlin § 23 Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse

. .

775

Dr. Christian Calliess Professor an der Freien Universität Berlin § 24 Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

783

Dr. Christian Calliess Professor an der Freien Universität Berlin § 25 Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

792

Dr. Stefan Kadelbach Professor an der Universität Frankfurt § 26 Unionsbürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

797

Dr. Jörg Gundel Professor an der Universität Bayreuth § 27 Justiz- und Verfahrensgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

839

XI

Inhaltsverzeichnis Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten Autoren- und Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIII Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLV

ERSTER TEIL Die europäische Grundrechtsidee §1

Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Internationaler und Europäischer Grundrechtsschutz

. . . . . . . .

II. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Menschenrechtsschutzes im Rahmen des Europarats und insbesondere durch die EMRK . . . 1. Die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes durch die EMRK . a) Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entwicklung der Konvention und der Rechtsprechung . . . . 2. Der Menschenrechtsschutz im Europarat im Allgemeinen . . . . a) Vertragliche Menschenrechtsverbürgungen . . . . . . . . . . . b) Die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung nach 1989/1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der EG/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Frühe Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entwicklung und dogmatische Begründung der Unionsgrundrechte 3. Forderungen nach einem Grundrechtskatalog für das Unionsrecht und die Europäische Grundrechts-Charta . . . . . . . . . . 4. Der Geltungsbereich der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . 5. Die Diskussion um einen Beitritt zur EMRK . . . . . . . . . . . IV. Die Grundfreiheiten des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . 1. Anerkennung als subjektiv-öffentliche Rechte . . . . . . . 2. Auslegung der Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergänzung der Personenverkehrsfreiheiten um Rechte aus der Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Drittwirkung und Schutzpflichten: Grundrechtsdogmatik in der Argumentation des EuGH zu den Grundfreiheiten .

1 1 3 3 3 4 8 8 10 10 10 11 13 15 16

. . . . . . . .

18 19

. . . .

19

. . . .

21

. . . .

21

V. Zusammenfassung: Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten in einem Europa mehrerer Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

XIII

Inhaltsverzeichnis

ZWEITER TEIL Die Europäische Menschenrechtskonvention §2

Allgemeine Lehren der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Stellung der EMRK im Gefüge des internationalen und nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Universeller und regionaler Menschenrechtsschutz . . . . . . . 2. Grundlagen und Wirkungsweise der EMRK . . . . . . . . . . . 3. Rang und Wirkungsweise der EMRK in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rang und Wirkungsweise der EMRK im Europäischen Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . .

25 26 28

.

31

.

36

II. Funktionen der Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gewährleistung des status negativus (Abwehrrechte) . . . . . . . 2. Gewährleistung der Rechtsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gewährleistung des status positivus (Leistungsrechte) . . . . . . . a) Originäre und derivative Teilhaberechte . . . . . . . . . . . . b) Anspruch auf Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gewährleistung des status activus (staatsbürgerliche Rechte) . . . 5. Gewährleistung des status activus processualis (Verfahrensrechte) 6. Konventionsrechte als Elemente objektiver Ordnung . . . . . . .

38 39 40 41 41 42 44 44 48

III. Auslegung der Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

IV. Berechtigte der Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

V. Verpflichtete der Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . . . 1. Konventionsstaaten des Europarates . . . . . . . . . . . . 2. Internationale und supranationale Organisationen . . . . a) Direkte Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Indirekte Bindungswirkungen im Falle eines Handelns der Konventionsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Privatpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

51 51 52 53

. . . . . . . .

54 58

VI. Räumlicher Geltungsbereich der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zeitliche Geltung der EMRK

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VIII. Gewährleistungen und Beschränkungen der Konventionsrechte . 1. Stufen der Konventionsrechtsprüfung . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendbarkeit der Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schutzbereich (Gewährleistungsgehalt) der Konventionsrechte 4. Eingriff, Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtfertigung des Eingriffs bzw der Beschränkung . . . . . . a) Einschränkbarkeit der Konventionsrechte . . . . . . . . . b) Allgemeine Schrankenregelungen . . . . . . . . . . . . . . c) Spezielle Schrankenregelungen . . . . . . . . . . . . . . . aa) Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung . . . . . . bb) Verfolgung zulässiger Ziele . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verhältnismäßigkeit der Beschränkung . . . . . . . . 6. Schematische Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .

XIV

25

. . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

58 61 62 62 63 64 64 65 65 66 68 68 70 70 72

Inhaltsverzeichnis

IX. Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsschutz durch den EGMR . . . . . . . . . . . a) Staatenbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Individualbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zulässigkeit der Beschwerde . . . . . . . . . bb) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Begründetheit der Beschwerde . . . . . . . . dd) Wirkungen der Urteile des EGMR . . . . . c) Anrufung des EGMR durch das Ministerkomitee d) Anrufung des EGMR durch die Höchstgerichte der Hohen Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte . . . . . §3

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

73 73 74 74 75 84 86 88 94

. . . . . . . . . . . . . .

94 94

Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . .

96

I. Schutz der Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Privat- und Familienleben, Wohnung und Korrespondenz (Art 8 EMRK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schutzpflichtdimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verfahrensdimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art 9 EMRK) a) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

96 97 102 104 105 107 108 108 110 110

. . .

112

. . . . .

. . . . .

112 112 114 115 116

2. Verbot von Sklaverei, Zwangsarbeit und Menschenhandel (Art 4 EMRK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

3. Recht auf Leben (Art 2 EMRK) a) Schutzbereich . . . . . . . . b) Beeinträchtigung . . . . . . . c) Rechtfertigung . . . . . . . . d) Schutzpflichtdimension . . .

II. Schutz der persönlichen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbot von Folter sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Bestrafung (Art 3 EMRK) . . . . . . . . . a) Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schutzpflichtdimension und Schutzmechanismen . . . .

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. . . . .

. . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

96

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

118 118 120 121 123

III. Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das akzessorische Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK a) Akzessorietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Spezielle Gleichheitsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

124 124 124 125 126 128

XV

Inhaltsverzeichnis

§4

Kommunikationsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

I. Die besondere Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte . . . . . im System der EMRK

129

II. Die Meinungs- und die Informationsfreiheit . . . . . . . . . . 1. Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Äußerungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Informationsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Kunstfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Presse- und Medienfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . f) Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage . . . . . . b) Die zulässigen Eingriffszwecke . . . . . . . . . . . . . . c) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . d) Die Privilegierung politischer Kommunikation . . . . . e) Anforderungen an potentiell rufschädigende und ehrverletzende Äußerungen, insbesondere: Sorgfaltspflichten der Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Der staatliche Beurteilungsspielraum bei Eingriffen zum Schutz der Moral und zum Schutz religiöser Überzeugungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Der Prüfungsmaßstab bei Eingriffen in die Rundfunkund Fernsehfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . .

130 131 131 131 133 135 136 138 139 141 142 144 147 149

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150

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153

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154

III. Versammlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässige Eingriffszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . c) Besondere Einschränkungen für staatliche Bedienstete

. . . . . . .

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156 156 158 158 158 158 159

IV. Vereinigungsfreiheit . . 1. Schutzbereich . . . . 2. Eingriff . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . .

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160 161 162 162

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164 165 165

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166 167 167

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V. Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Individuelle Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . b) Kollektive Koalitionsfreiheit, insbesondere Tarifautonomie und Arbeitskampffreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung

XVI

. . . . . . . . . . . . . .

Inhaltsverzeichnis

§5

Wirtschaftsgrundrechte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

II. Schutz des Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzbereich der Eigentumsgarantie . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutz des Bestandes, nicht des Erwerbs . . . . c) Goodwill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Öffentlich-rechtliche Ansprüche . . . . . . . . e) Geistiges Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . f) Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beeinträchtigungen des Eigentumsrechts . . . . . . a) Enteignungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nutzungsregelnde Maßnahmen . . . . . . . . . c) „Sonstige“ Beeinträchtigungen . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung von Eigentumsbeeinträchtigungen . a) Gesetzmäßigkeit der Beeinträchtigung . . . . . b) Schutz des öffentlichen Interesses . . . . . . . . c) Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung . . . 4. Eigentumsrecht und andere Garantien der EMRK

. . . . . . . . . . . . . . . . .

172 173 174 175 176 177 178 179 179 180 181 182 184 184 185 187 194

. . . . . . . . . . . . . . .

195

IV. Einfluss der Europäischen Sozialcharta . . . . . . . . . . . . . . . .

196

III. Sonstige wirtschaftsrechtliche Garantien

§6

Justiz- und Verfahrensgrundrechte

. . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Der Schutz der persönlichen Freiheit (Art 5 EMRK) . . . . . . . . 1. Das Recht auf Freiheit und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Eingriffstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nichtbefolgung von Gerichtsbeschlüssen oder einer durch Gesetz vorgesehenen Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . c) Präventiv- und Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . d) Inhaftnahme Minderjähriger . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Unterbringung Kranker und Landstreicher . . . . . . . . . f) Verhinderung des unberechtigten Eindringens in das Staatsgebiet, Abschiebungs- und Auslieferungshaft . . . . . . . . 3. Rechte der festgenommenen Person . . . . . . . . . . . . . . . a) Informationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Angemessene Haftdauer und richterliche Vorführung gem Art 5 III EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Recht auf richterliche Haftprüfung gem Art 5 IV EMRK . . d) Das Recht auf Haftentschädigung . . . . . . . . . . . . . . 4. Gewährleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Justizgrundrechte im Zusammenhang mit Verfahren vor Gerichten 1. Das Recht des fair trial gem Art 6 I EMRK . . . . . . . . . . . a) Der Schutzbereich des Art 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . b) Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht

198

. . . .

198 199 201 203

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204 205 206 206

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208 210 210

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210 212 213 214

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215 215 215 217

XVII

Inhaltsverzeichnis

c) Der Grundsatz des fairen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . d) Die Öffentlichkeit des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . e) Das Gebot angemessener Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . Nulla poena sine lege (Art 7 EMRK) . . . . . . . . . . . . . . . Das Verbot der Doppelbestrafung und -verfolgung . . . . . . . . Recht auf Nachprüfung einer gerichtlichen Verurteilung . . . . . Das Recht auf Entschädigung für Fehlurteile (Art 3 7. ZP EMRK)

220 225 226 229 232 234 234

III. Verfahrensgarantien bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen . . . .

235

IV. Das Recht auf wirksame Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

2. 3. 4. 5.

DRITTER TEIL Die Grundfreiheiten der Europäischen Union §7

Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I. Eigenart und Stellung der Grundfreiheiten im Gefüge des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die einzelnen Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit der Grundfreiheiten 4. Subjektiv-rechtlicher Charakter der Grundfreiheiten . . . . . . 5. Vorrang der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Abgrenzung zu anderen Rechten des primären Unionsrechts . . a) Geschriebene Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Allgemeines Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV cc) Sonstige Gleichheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft . . . . . . b) Ungeschriebene Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Dogmatik der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

239 239 240 242 245 245 246 246 246 247 248 248 249 250

. . . . . . . . . . . . .

250 251 251 251 254 254 254 260 260 261 262 262 263

III. Berechtigte der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Staatsangehörige der Mitgliedstaaten (Unionsbürger) . . . . . . .

264 264

II. Funktionen der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . 1. Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte . . . . . . a) Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten b) Vergleichsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . c) Arten der Diskriminierung . . . . . . . . . . d) Wirkungsweise des Diskriminierungsverbots . 2. Grundfreiheiten als Freiheitsrechte . . . . . . . . 3. Grundfreiheiten als Leistungsrechte . . . . . . . a) Abgeleitete Teilhaberechte . . . . . . . . . . b) Recht auf hoheitliche Schutzgewähr . . . . . c) Recht auf originäre Teilhabe . . . . . . . . . 4. Grundfreiheiten als Verfahrensrechte . . . . . . . 5. Grundfreiheiten als Elemente objektiver Ordnung

XVIII

239

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Inhaltsverzeichnis

2. Juristische Personen und Personenmehrheiten innerhalb der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Drittstaatler sowie juristische Personen und Personenmehrheiten außerhalb der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verpflichtete der Grundfreiheiten 1. Mitgliedstaaten der EU . . . . 2. Europäische Union . . . . . . 3. Privatpersonen . . . . . . . . .

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269 269 270 270

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276

VI. Zeitlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . .

277

VII. Schutzbereiche, Beeinträchtigungen und Schranken der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzbereich der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . a) Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anwendbarkeit der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . bb) Grenzüberschreitender Bezug . . . . . . . . . . . . . cc) Geschützte Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . dd) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Nichtvorliegen von Bereichsausnahmen . . . . . . . . b) Personeller, räumlicher und zeitlicher Schutzbereich . . . . 2. Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Grundfreiheiten . . a) Handeln, Dulden oder Unterlassen eines Verpflichteten . . b) Art und Weise der Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . aa) Erfordernis einer Diskriminierung oder Beschränkung bb) Vorliegen einer Diskriminierung oder Beschränkung . cc) Abgrenzung von Diskriminierungen und Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung von Grundfreiheiten . a) Bestehen einer Grundlage der Beeinträchtigung . . . . . . aa) Grundlage im Sekundärrecht der EU . . . . . . . . . bb) Gesetzliche Grundlage im mitgliedstaatlichen Recht . b) Ausdrückliche Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anderweitige unionsrechtliche Schranken . . . . . . . . . d) Ungeschriebene Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entwicklung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . bb) Geltung der ungeschriebenen Schranken für diskriminierende Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . e) Schranken in Bezug auf das Handeln Privater . . . . . . . f) Schranken-Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unionsgrundrechte und sonstige Primärrechtsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sekundäres Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . 4. Schematische Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

267

. . . .

V. Räumlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten

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265

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278 278 278 279 279 279

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281 282 285 285 285 286 286 286

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294 295 295 295 296 297 299 300 300

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301 302 303

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303 304 305 305 311

. . . . .

XIX

Inhaltsverzeichnis

§8

VIII. Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . 2. Durchsetzung der Grundfreiheiten durch die EU-Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

312 312

Freiheit des Warenverkehrs

315

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Räumlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aus den Mitgliedstaaten stammende oder sich im freien Verkehr befindende Waren . . . . . . . . . . . . . . . b) Zum Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs . 3. Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Berechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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316 316 316

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316 319 320 320 320

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324

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324 324 325

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336

II. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 34 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mengenmäßige Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . b) Maßnahmen gleicher Wirkung . . . . . . . . . . . . . . 2. Mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

III. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bereichsübergreifende Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine sekundärrechtlichen Regelungen . . . . . . . . . . . b) Verhältnis des Art 36 AEUV zu den „zwingenden Erfordernissen“, Anwendungsbereich der Rechtfertigungsgründe und dogmatische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nicht wirtschaftlicher Charakter . . . . . . . . . . . . . . d) Zur Frage der Notwendigkeit eines territorialen Bezugs . . e) Zur Bedeutung der (unionsrechtlichen oder nationalen) Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geschriebene Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . 3. Ungeschriebene Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zum Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten . . . . . . b) Die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im Einzelnen §9

. . . . .

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337 338 338

. . . . . .

339 342 344

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345 346 347 348 350 351

Arbeitnehmerfreizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

I. Schutzbereich . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . 2. Sachlicher Schutzbereich . . a) Arbeitnehmereigenschaft b) Zeitliche Erstreckung . . c) Geschützte Betätigungen d) Bereichsausnahmen . . .

XX

314

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356 356 357 357 361 362 367

Inhaltsverzeichnis

3. Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . a) Unionsbürger und ihre Familienangehörigen . . . b) Drittstaatsangehörige . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beeinträchtigung . . . . . . 1. Diskriminierungen . . . 2. Beschränkungen . . . . . 3. Adressaten . . . . . . . .

§ 10

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368 368 369 371

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372 372 374 377

III. Rechtfertigung . . . . . . . . 1. Geschriebene Schranken . 2. Ungeschriebene Schranken 3. Schranken-Schranken . . .

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377 377 379 380

Niederlassungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlegende Strukturen und Probleme der Niederlassungsfreiheit im System der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Zusammenspiel von unions- und völkerrechtlicher Niederlassungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383

II. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Räumlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Personeller Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dauerhafte und stabile Eingliederung in die Volkswirtschaft . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Primäre und sekundäre Niederlassung als Erscheinungsformen der sachlichen Schutzbereichsgewährleistung . . . . . . . . . e) Grenzüberschreitender Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bereichsausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

388 388 389 389 390 392 392

III. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . 1. Diskriminierungen . . . . . . . . . . . 2. Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . 3. Beeinträchtigungen durch Private . . .

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383 386

396 398 400

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403 403 405 408

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

408

V. Die Anwendung der Niederlassungsfreiheit auf juristische Personen gem Art 54 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

411

Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

417

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die allgemeine Bedeutung der Dienstleistungsfreiheit im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Struktur der Dienstleistungsfreiheit im Unionsrecht . . . . . . .

418

IV. Rechtfertigung

§ 11

. . . .

418 419

XXI

Inhaltsverzeichnis

3. Dienstleistungsfreiheit außerhalb des AEU-Vertrages . . . . . . a) Die „Freiheit Dienstleistungen zu erbringen“ der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sonstige Regelungen außerhalb des AEU-Vertrags . . . . . 4. Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs durch Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Sekundärrechtssetzung bis zum Jahr 2001 (erste und zweite Stufe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Binnenmarktstrategie der Kommission vom Januar 2001 (dritte Stufe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Dienstleistungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Weitere wichtige Sekundärrechtsakte . . . . . . . . . . . . . . . II. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Räumlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . 2. Personeller Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . 3. Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . a) Definition der Dienstleistung gem Art 57 AEUV b) Grenzüberschreitender Vorgang . . . . . . . . c) Bereichsausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten .

XXII

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III. Beeinträchtigung des Schutzbereichs . . . . . . . . . . 1. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Offene Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . b) Versteckte Diskriminierung . . . . . . . . . . . . c) Ansässigkeitserfordernisse . . . . . . . . . . . . . d) Abgrenzung zum allgem Diskriminierungsverbot 3. Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Umfassendes Beschränkungsverbot . . . . . . . b) Modifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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439 440 441 441 442 442 443 444 444 446

IV. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausdrückliche (geschriebene) Schranke . . . . . . . 2. Ungeschriebene Schranken . . . . . . . . . . . . . . 3. Schranken-Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Schranken-Schranken . . . . . . . . b) Insbesondere: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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447 447 449 450 451 451

V. Aktuelle Entwicklungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sport im Lichte der Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . 2. Die Kohärenz am Beispiel des Glücksspielrechts . . . . a) Einführung in die Problematik des Glücksspielrechts b) Systematische Stellung des Kohärenzgebots . . . . . c) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weitere bedeutende Entscheidungen des EuGH . . . . .

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457 457 462 462 463 464 467 467

Inhaltsverzeichnis

§ 12

Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs

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470

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470 470 472 473

II. Beschränkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

474

III. Rechtfertigung von Beschränkungen innerhalb der Union . . . . . . 1. Kodifizierte Rechtfertigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zwingende Erfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

476 476 477

IV. Einzelne Regelungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Steuerrecht: Besteuerung von Kapitalerträgen . . . . . . . a) Gleichmäßig wirkende Steuerregelungen . . . . . . . . b) Unterschiedlich wirkende (dh diskriminierende) Steuerregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unternehmensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Privatisierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Außenwirtschaftsrecht: Meldepflichten . . . . . . . . . . 4. Währungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Geldpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wechselkurspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Recht des Grundstücksverkehrs . . . . . . . . . . . . . . a) Zweitwohnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einheimischenmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Landwirtschaftliche Grundstücke . . . . . . . . . . . . d) Grundstücke in Grenzgebieten und Gebieten von militärischer Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . 6. Kreditsicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beispiel: Sicherungsrechte in fremder Währung . . . .

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479 479 479

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480 485 485 486 487 488 488 489 489 489 492 493

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494 494 494 495

V. Zusätzliche Beschränkungen gegenüber Drittstaaten . . . . . . . . . 1. Begründungsfreie Beschränkungen nach Art 64 AEUV . . . . . . 2. Befristete Beschränkungen nach Art 66 AEUV . . . . . . . . . . 3. Wirtschaftssanktionen nach Art 215 AEUV . . . . . . . . . . . . 4. Weiter reichende Auslegung des Art 65 AEUV und der zwingenden Erfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

496 497 498 499

VI. Verhältnis zu den anderen Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . .

500

I. Schutzbereich . . . 1. Kapitalverkehr . 2. Grenzübertritt . 3. Zahlungsverkehr

VII. Schluss § 13

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499

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502

Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . .

504

I. Rechtsquellen und systematische Einordnung . . . . . . . . . . . . . II. Prüfungsaufbau . . . . . . . . . . 1. Schutzbereich . . . . . . . . . a) Persönlicher Schutzbereich b) Sachlicher Schutzbereich .

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504 505 505 505 506

XXIII

Inhaltsverzeichnis

2. Beeinträchtigung . . . . . . . . a) Normadressaten . . . . . . . b) Arten der Beeinträchtigung . c) Rechtfertigung . . . . . . . . d) Rechtsfolgen eines Verstoßes

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III. Funktionen der grundrechtlichen Grundsatznormen . . . . . . . . .

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IV. Auslegung der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

538

VIERTER TEIL Die Grundrechte der Europäischen Union § 14

Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . I. Eigenart und Stellung der Unionsgrundrechte im Gefüge des unionalen, internationalen und nationalen Rechts . . . . . . 1. Begriff der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Notwendigkeit der Gewährleistung von Unionsgrundrechten auf Unionsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Geltungsgrund der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . a) Frühere Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Heutige Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einzelne Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Subjektiv-rechtlicher und objektiv-rechtlicher Charakter der Rechte und Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Geltungsrang der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . a) Verhältnis zum primären Unionsrecht . . . . . . . . . . . aa) Verhältnis zu den Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . bb) Verhältnis zu den objektiven Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zum Sekundärrecht (Tertiärrecht) der EU . . . c) Verhältnis zur EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verhältnis zum internationalen Recht . . . . . . . . . . . e) Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Recht (insbesondere zu den nationalen Grundrechten) . . . . . . . . . . . . . . II. Funktionen der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gewährung von Freiheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gewährung von Gleichheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . 3. Gewährung von Leistungsrechten . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gewährung von Verfahrensrechten . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gewährung von Solidarität, von Bürgerrechten und justiziellen Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Unionsgrundrechte als Elemente objektiver Ordnung . . . . . 7. Rechtsfolgen von Grundrechtsverstößen . . . . . . . . . . . .

XXIV

Inhaltsverzeichnis

V. Berechtigte der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Juristische Personen und Personenmehrheiten . . . . . . . . . . .

539 539 540

VI. Verpflichtete der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mitgliedstaaten der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . a) Besondere Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Charta-Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Recht der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Durchführung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . cc) Durchführungsbereich (Anwendungsbereich) des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV . . . . . . . . . . . . . 3. Privatpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

542 542 543 543 543 543 544

VII. Räumlicher und zeitlicher Geltungsbereich der Unionsgrundrechte .

554

VIII. Gewährleistungen, Beeinträchtigungen und Schranken der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . a) Sachlicher Schutzbereich der Charta-Rechte . . . . . . . . . aa) Grundrechtlich geschützer Lebensbereich oder geschütztes Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Schutzbereich der ungeschriebenen Unionsgrundrechte b) Personeller Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs der Unionsgrundrechte 4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Unionsgrundrechte a) Einschränkbarkeit der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . b) Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfolgung zulässiger Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schranken-Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . cc) Grundfreiheiten und sonstige Primärrechtsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schematische Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gerichtlicher Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsschutz durch die Unionsgerichtsbarkeit . . . . . . aa) Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen . . . . . . bb) Rechtsschutzmöglichkeiten der Unionsorgane und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsschutz durch die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit 2. Weitere Formen des Schutzes der Unionsgrundrechte . . . .

548 553 553

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555 557 557 557

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557

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561 562 562 562 564 564 565 567 568 568 569

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574 574

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575 575 575 575

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576 577 579

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XXV

Inhaltsverzeichnis

§ 15

Würde des Menschen

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I. Menschenwürde . . . . . 1. Schutzbereich . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . 3. Rechtfertigung . . . . .

§ 16

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582 582 586 586

II. Recht auf Leben und Unversehrtheit . . 1. Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . .

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III. Verbot der Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit 1. Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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594 594 596 597

IV. Recht auf Asyl und Schutz des Aufenthalts 1. Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . .

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597 598 601 601

Höchstpersönliche Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

603

I. Freiheit und Sicherheit 1. Schutzbereich . . . 2. Beeinträchtigung . 3. Rechtfertigung . . .

XXVI

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581

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603 604 606 606

II. Schutz der Privatsphäre . . 1. Schutzbereich . . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . .

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607 609 612 612

III. Schutz personenbezogener Daten 1. Schutzbereich . . . . . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . .

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615 616 618 619

IV. Recht auf Ehe und Familie 1. Schutzbereich . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . 3. Rechtfertigung . . . . .

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V. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit . . . . . . . . . . 1. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Art 10 I GRCh) b) Gedanken- und Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . c) Recht auf Wehrdienstverweigerung (Art 10 II GRCh) . . 2. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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625 625 625 627 628 628 628

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Inhaltsverzeichnis

§ 17

§ 18

Kommunikationsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

629

I. Bedeutung und Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

629

II. Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit . . . . . . . 1. Die Normierung des Art 11 GRCh im Überblick . . . . 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Meinungs- und Informationsfreiheit . . . . . . . . . b) Freiheit und Pluralität der Medien . . . . . . . . . . 3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs . . . . . . . . . . 4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen . . . . . . . . . a) Rechtfertigung auf Grundlage der Grundrechtecharta b) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs . . .

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631 632 634 634 640 643 644 644 647

III. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit . . . . . . . . . . 1. Die Normierung des Art 12 GRCh im Überblick . . . . 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Versammlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vereinigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Politische Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs . . . . . . . . . . 4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen . . . . . . . . . a) Rechtfertigung auf Grundlage der Grundrechtecharta b) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs . . .

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652 653 653 653 656 657 660 662 663 663 664

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668

I. Bedeutung und Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

668

Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung

II. Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art 13 GRCh) 1. Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kunstfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . 2. Beeinträchtigungen der Schutzbereiche . . . 3. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen . . .

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671 672 672 673 675 676

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678 679

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679 682 683 684 685

Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . .

688

I. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Funktion, Bedeutung und Quellen des Unionsgrundrechts der Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

688

III. Recht auf Bildung (Art 14 GRCh) . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zugang zu Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungseinrichtungen (Art 14 I und II GRCh) . . . . . . . . . . b) Freiheit zur Gründung privater Lehranstalten . . . . . . c) Erziehungs- und unterrichtsbezogenes Elternrecht . . . . 2. Beeinträchtigungen der Schutzbereiche . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . § 19

. . . . . .

. . . . . .

. . . . .

688

XXVII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur von Arnauld, Andreas

Völkerrecht, Heidelberg 2012 (zit: v Arnauld VR)

Arndt, Hans-Wolfgang/ Fischer, Kristian

Europarecht, 10. Aufl, Heidelberg 2010 (zit: Arndt/Fischer ER)

Barnard, Catherine

The substantive law of the EU. The four freedoms, 3. Aufl, Oxford 2010 (zit: Barnard EU)

Bergmann, Jan/ Lenz, Christofer (Hrsg)

Der Amsterdamer Vertrag. Eine Kommentierung der Neuerungen des EU- und EG- Vertrages, Köln 1998 (zit: Bearbeiter in: Bergmann/Lenz, EUV/EGV)

Bieber, Roland/Epiney, Astrid/ Haag, Marcel

Die Europäische Union. Europarecht und Politik, 10. Aufl, Baden-Baden 2012 (zit: Bearbeiter in: Bieber/Epiney/Haag, EU)

Bleckmann, Albert

Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre. Vom Kompetenz- zum Kooperationsvölkerrecht, Köln ua 1995 (zit: Bleckmann VRL)

Bleckmann, Albert

Europarecht, 6. Aufl, Köln/Berlin/Bonn/München 1997 (zit: Bleckmann ER)

Blumenwitz, Dieter/ Breuer, Marten

Fälle und Lösungen zum Völkerrecht. Übungsklausuren mit gutachterlichen Lösungen und Erläuterungen, 2. Aufl, Stuttgart 2005 (zit: Blumenwitz/Breuer VR)

von Bogdandy, Armin/ Bast, Jürgen (Hrsg)

Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl, Heidelberg 2009 (zit: Bearbeiter in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR)

Borchardt, Klaus-Dieter

Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 5. Aufl, Heidelberg 2012 (zit: Borchardt EU)

Buergenthal, Thomas/Doehring, Karl/Kokott, Julianne/ Maier, Harold G

Grundzüge des Völkerrechts, 3. Aufl, Heidelberg 2003 (zit: BDKM, VR)

Calliess, Christian/ Ruffert, Matthias (Hrsg)

Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 4. Aufl, Neuwied 2011 (zit: Bearbeiter in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV)

Calliess, Christian/ Ruffert, Matthias (Hrsg)

EUV, AEUV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer

XLV

Inhaltsverzeichnis

2. Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhalt und Einzelgewährleistungen . . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzung zu anderen unionsrechtlichen Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konkurrenzverhältnis zu den Grundfreiheiten . . . . . . . 3. Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unionsbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Drittstaatsangehörige (einschließlich juristischer Personen)

. . . .

693 694

. . . . . .

. . . . . .

695 698 699 699 699 700

II. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

700

III. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schranken der Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anforderungen an eine unionsrechtskonforme Beschränkung der Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verwirklichung des Gemeinwohls . . . . . . . . . . . . . c) Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . .

§ 20

. . . . . .

701 702

. . . . .

. . . . .

702 702 702 703 703

IV. Exkurs: Von der berufsbezogenen Bildung zum Grundrecht auf Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

705

Eigentumsgrundrecht

. . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

707

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Stellung und Bedeutung des Eigentumsgrundrechts im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung zwischen Eigentums(grund)recht und Eigentumsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

707

II. Die Herleitung und dogmatische Struktur des unionsrechtlichen Eigentumsgrundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das europäische Eigentumsgrundrecht im Einzelnen . . . . 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts . . . . . . . . a) Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . b) Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beeinträchtigung des Schutzbereichs . . . . . . . . . . . a) Beschränkungen des Eigentums . . . . . . . . . . . . b) Eigentumsentziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtfertigung von Enteignungen . . . . . . . . . . b) Rechtfertigung von bloßen Nutzungsbeschränkungen c) Verhältnismäßigkeit und Kontrolldichte . . . . . . . IV. Würdigung der Bonität des europäischen Eigentumsschutzes

XXVIII

. . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

707 708 714

. . . . . . . . . . . . .

717 717 718 718 718 721 722 723 726 726 727 728 731

. . . .

733

Inhaltsverzeichnis

§ 21

Gleichheitsgrundrechte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

735

I. Überblick und Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Transnationale Integrationsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Supranationale Legitimationsnormen . . . . . . . . . . . . . . .

735 736 736

II. Normstruktur und Prüfungsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . .

737

III. Der allgemeine Gleichheitssatz . 1. Ungleichbehandlung . . . . 2. Rechtfertigung . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen eines Verstoßes

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

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. . . .

. . . .

. . . .

738 739 740 741

. . . . . .

741 741

. . . . .

. . . . .

743 745 748 752 753

. . .

755

Soziale Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

757

IV. Besondere Gleichheitssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nichtdiskriminierung, Art 21 GRCh . . . . . . . . . . . . . 2. Gleichheit von Männern und Frauen, Art 157 I AEUV, 23 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsfolgen eines Verstoßes . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechte des Kindes (Art 24 GRCh); Rechte älterer Menschen (Art 25 GRCh); Integration von Menschen mit Behinderung (Art 26 GRCh) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 22

I. Allgemeiner Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Solidarität und soziale Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Typologie und Dogmatik sozialer Rechte . . . . . . . . . . a) Grundrechte und Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Achtung und grenzüberschreitende Erweiterung sozialer Rechte durch das Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . . .

. . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

757 757 758 758 760

. . .

763

II. Besonderer Teil: Die einzelnen sozialen Grundrechte . . . . . . . . 1. Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen, Art 27 GRCh . . . . . . . 2. Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen, Art 28 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst, Art 29 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung, Art 30 GRCh . . . . 5. Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Art 31 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz, Art 32 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Familien- und Berufsleben, Art 33 GRCh . . . . . . . . . . . . 8. Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung, Art 34 GRCh . .

.

766

.

767

.

767

. .

769 770

.

771

. . .

772 772 773

XXIX

Inhaltsverzeichnis

§ 23

Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse . .

775

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

775

II. Die Gewährleistungen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Diensleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse a) Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Allgemeines wirtschaftliches Interesse . . . . . . . . . . 2. Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anerkennung und Achtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Förderung des Zusammenhalts in der Union . . . . . . . .

§ 24

§ 25

. . . . . . .

777 778 778 778 780 780 781

III. Abschließende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

781

Umweltschutz

XXX

. . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

783

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

783

II. Die Vorgaben der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hohes Umweltschutzniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorgaben des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung . . . .

784 784 787

III. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

788

Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

792

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

792

II. Zum Begriff des Verbraucherschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . .

794

III. Verbraucherschutz in den Politiken der Union § 26

. . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

795

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

797

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

797

II. Bürgerschaft als Angelegenheit der Europäischen Union . . . . . . . 1. Vom Marktbürger zum Unionsbürger . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Regelungen des AEU-Vertrages zur Unionsbürgerschaft . . .

798 798 800

III. Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft . . 1. Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . 2. Staatsangehörigkeit als Voraussetzung der Unionsbürgerschaft . 3. Unionsbürgerschaft als Ergänzung der Staatsbürgerschaft . . . .

802 802 805 808

IV. Die Unionsbürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtliche Tragweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eingriffe und Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politische Rechte und Kontrollrechte . . . . . . . . . . . a) Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Petitionsrecht (Art 24 II, III iVm 227 bzw 228 AEUV, 43, 44 GRCh) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Informationsrecht (Art 24 IV AEUV, 41 IV GRCh) .

. . . . . . .

810 810 810 811 813 814 814

. . . . . . . . . .

821 822

Unionsbürgerrechte

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

Inhaltsverzeichnis

§ 27

d) Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art 15 AEUV, 42 GRCh) e) Recht auf eine gute Verwaltung (Art 41 GRCh) . . . . . . . . 3. Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 23 AEUV, 46 GRCh) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normzweck und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eingriffe und Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot (Art 18 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Verhältnis des Gleichheitssatzes zu den Unionsbürgerrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Reichweite des unionsbürgerlichen Teilhaberechts aus Art 18 AEUV iVm 20 bzw 21 AEUV . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigung von Differenzierungen . . . . . . . . . . . . .

823 824

V. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

835

Justiz- und Verfahrensgrundrechte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Justiz- und Verfahrensgrundrechte im EU-Recht 2. Quellen der Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts . . . . . . . a) Die allgemeinen Rechtsgrundsätze als ursprünglicher Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Kodifikation durch die Grundrechtscharta . . . . . . . c) Die Bedeutung des Sekundärrechts . . . . . . . . . . . . . . 3. Verpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Justiz- und Verfahrensgrundrechte gegenüber den EU-Organen 1. Verfahrensgrundrechte gegenüber den Verwaltungsorganen der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die einzelnen Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Insbesondere: Verfahrensrechte im Kartellverfahren . . . 2. Verfahrensgrundrechte vor den EU-Gerichten . . . . . . . . a) Zugang zu den EU-Gerichten . . . . . . . . . . . . . . . b) Garantien im Verfahren vor den EU-Gerichten . . . . .

825 825 826 828 829 829 830 830 833

839

. . .

839 839 840

. . . .

840 841 843 844

. . .

844

. . . . . .

844 844 847 850 850 857

. . . . . .

. . . . . .

III. Anforderungen der Justiz- und Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts an die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendbarkeit der Verfahrensgrundrechte auf das Handeln der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch das Gebot gleichwertigen und effektiven Schutzes (Art 4 III EUV) . . . . . . a) Stärkung der Verfahrensrechte durch das Effektivitätsgebot . b) Insbesondere: Anspruch auf Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konflikte zwischen Verfahrensgarantien und Effektivitätsgebot

861 861 864 865 865 867 869

XXXI

Inhaltsverzeichnis

IV. Besondere Probleme bei „gestuften“ Verfahren und „gemischten“ Entscheidungen zwischen nationalen Behörden und EU-Kommission 1. Gestufte Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gefährdung der Rechte im Verwaltungsverfahren . . . . . . . c) Problematik des Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsschutzprobleme bei „gemischten“ Entscheidungen . . . . . V. Zusammenfassung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

871 871 871 872 873 874 875

Anhang Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte . . . . . . .

877

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union . .

898

Zusammenstellung der besprochenen Fälle

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

934

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

937

XXXII

Abkürzungsverzeichnis Hinweis: Die Abkürzungen werden immer nur in der Grundform verwendet (auch wenn im Text der Genitiv oder Plural gebraucht wird).

A a aA aaO abgedr abl ABl Abs Abschn abw aE AEMR AEUV aF AfP AJCL AJIL AktG allgem allgM Alt aM amtl Begr and Änd ÄndG Anh Anl Anm Ans ao AöR ARB ArbR ArbuR arg Art AS AT AuA Aufl ausf AuslG

auch anderer Ansicht am angegebenen Ort abgedruckt ablehnend Amtsblatt Absatz Abschnitt abweichend am Ende Allgemeine Erklärung für Menschenrechte Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Archiv für Presserecht American Journal of Comparative Law American Journal of International Law Aktiengesetz allgemein allgemeine Meinung Alternative andere(r) Meinung amtliche Begründung anders Änderung Gesetz zur Änderung (von) Anhang Anlage Anmerkung Ansicht außerordentlich Archiv des öffentlichen Rechts Assoziationsratsbeschluss Arbeitsrecht Arbeit und Recht Argument Artikel Amtliche Sammlung Allgemeiner Teil Arbeit und Arbeitsrecht Auflage ausführlich Ausländergesetz

XXXIII

Abkürzungsverzeichnis

AVR AWG AWV Az

Archiv des Völkerrechts Außenwirtschaftsgesetz Außenwirtschaftsverordnung Aktenzeichen

B b B bad-württ BAG BAnz BAT BauGB BayVBl BayVGH BBankG Bd Bde Begr begr Beil Bek Bekl Bem ber bes betr BetrVG Bf BGB BGBl BGH BImSchG BIP bish BKR BR-Drs BS BSHG Bsp bspw BT-Drs Buchst Bull EG Bull EU BVerfG BVerfGE BVerwG

bei Bund(es) baden-württembergisch Bundesarbeitsgericht Bundesanzeiger Bundesangestelltentarifvertrag Baugesetzbuch Bayerische Verwaltungsblätter Bayrischer Verfassungsgerichtshof Gesetz über die Deutsche Bundesbank Band Bände Begründung begründet Beilage Bekanntmachung Beklagter Bemerkung berichtigt besonders, besondere betreffend Betriebsverfassungsgesetz Beschwerdeführer Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundes-Immissionsschutzgesetz Bruttoinlandsprodukt bisher(ige) Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Bundesrats-Drucksache Beamtenstatut Bundessozialhilfegesetz Beispiel beispielsweise Bundestags-Drucksache Buchstabe Bulletin der Europäischen Gemeinschaften Bulletin der Europäischen Union Bundesverfassungsgericht amtliche Sammlung der Entscheidungen des BVerfG Bundesverwaltungsgericht

XXXIV

Abkürzungsverzeichnis

BVerwGE bzgl bzw C ca CETS CD CDE CEEP CLMR CMLRev D dag DB DDR dementspr dens ders dgl dh dies Diss Dok DÖV DR Drs dt DuD DVBl E E EAG EAGV ebd EC ECHR ed(s) EG EGB EGBGB EGKS EGKSV

amtliche Sammlung der Entscheidungen des BVerwG bezüglich beziehungsweise

circa Council of Europe Treaty Series Collections of Decisions, Sammlung der Entscheidungen der EKMR Cahiers de droit européen Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft Common Market Law Reports Common Market Law Review

dagegen Der Betrieb Deutsche Demokratische Republik dementsprechend denselben derselbe dergleichen das heißt dieselben Dissertation Dokument Die Öffentliche Verwaltung Décisions et Rapports der Europäischen Kommission für Menschenrechte Drucksache deutsch Datenschutz und Datensicherheit Deutsches Verwaltungsblatt

Entscheidung Europäische Atomgemeinschaft EAG-Vertrag ebenda European Community European Court Of Human Rights editor(s)/edition Europäische Gemeinschaft(en) Europäischer Gewerkschaftsbund Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuches Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl

XXXV

Abkürzungsverzeichnis

EGMR EGV EG-VO EHRLR Einf Einl EJIL EKMR ELJ ELR ELRev EMRK EMRK-E endg engl entspr Entw EP EPL ER ErgBd Erl Erläuterungen ES ESC EStG ESZB etc ETS EU EuG EuG-VerfO EuGH EuGH-VerfO EuGR EuGRZ EuGVÜ

EuR EURATOM europ EuropawahlG EuropawahlRL EUV EuZW

XXXVI

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft EG-Verordnung European Human Rights Law Review Einführung Einleitung European Journal of International Law Europäische Kommission für Menschenrechte European Law Journal European Law Reporter European Law Review Europäische Menschenrechtskonvention Entwurf der Europäischen Menschenrechtskonvention (14. Zusatzprotokoll) endgültig englisch entsprechend Entwurf Europäisches Parlament European Public Law Europarecht Ergänzungsband Erläuterung(en) Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents zur Charta der Grundrechte Entscheidungssammlung Europäische Sozialcharta Einkommensteuergesetz Europäisches System der Zentralbanken et cetera European Treaty Series Europäische Union Gericht 1. Instanz Verfahrensordnung des Gerichts Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Verfahrensordnung des Gerichtshofs Europäisches Gemeinschaftsrecht Europäische Grundrechte-Zeitschrift Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27.10.1968 (BGBl 1972 II 774) Europarecht (Zeitschrift) Europäische Atomgemeinschaft europäisch Europawahlgesetz Europawahlrichtlinie Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

Abkürzungsverzeichnis

E-ÜB EWG EWGV EWR EWS EZB

Entwurf zum Beitrittsübereinkommen der EU zur EMRK Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht Europäische Zentralbank

F f ff FAZ FG Fn franz FS

folgende fortfolgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Finanzgericht Fußnote französisch Festschrift

G GA GAP GASP GATS GATT GBl GBO geänd gem Ges GG ggf GK glA GmbH GmbHR GO GR GRCh grds grundl GS GSGA GV GVBl GVG GWB GYIL

Generalanwalt Gemeinsame Agrarpolitik Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik General Agreement on Trade in Services General Agreement on Tariffs and Trade Gesetzblatt Grundbuchordnung geändert gemäß Gesetz Grundgesetz gegebenenfalls Große Kammer gleicher Ansicht Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH Rundschau Geschäftsordnung Grundrechte Grundrechts-Charta grundsätzlich grundlegend Gedächtnisschrift Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeinehmer vom Dezember 1989 (Europarat) Gemeinsame Verfügung (mehrerer Ministerien) Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen German Yearbook of International Law

XXXVII

Abkürzungsverzeichnis

H hA Halbs HandwO HbER Hdb HdBEUWirtschR Hervorh hess Hinw hL hM HRLJ Hrsg I ICLQ idF idR idS iE ieS ILM im allg InfAuslR insb insg IntGesR IPbürgR IPR IPrax IPwirtR

herrschende Ansicht Halbsatz Handwerksordnung Handbuch Europarecht Handbuch Handbuch für Europäisches Wirtschaftsrecht Hervorhebung hessisch Hinweis herrschende Lehre herrschende Meinung Human Rights Law Journal Herausgeber

iS(v) iSd iSe iVm iVz IWF iwS iZw

International and Comparative Law Quarterly in der Fassung in der Regel in diesem Sinne im Ergebnis im engeren Sinne International Legal Materials im allgemeinen Informationsbrief Ausländerrecht insbesondere insgesamt Internationales Gesellschaftsrecht Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationales Privatrecht Praxis des internationalen Privatrechts Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im Sinne (von) im Sinne des/der im Sinne einer/eines in Verbindung mit im Verhältnis zu Internationaler Währungsfonds in weiterem Sinne im Zweifel

J JBl jew JK JöR JTDE

Juristische Blätter jeweils JURA – Karteikarte Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Journal des Tribunaux – Droit européen

XXXVIII

Abkürzungsverzeichnis

JURA JuS JZ K Kap KJ Kl KOM Komm KommunalwahlRL KonsG krit KritV

Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung

KSZE KWahlG

Kapitel Kritische Justiz Kläger Europäische Kommission Kommentar Kommunalwahlrichtlinie Konsulargesetz (BGBl 1974 I 2317) kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kommunalwahlgesetz

L lfd LGBl. lit Lit LS lt LV

laufend Landesgesetzblatt Buchstabe Literatur Leitsatz laut Literaturverzeichnis

M m Hinw m krit Anm m zust Anm Maastr JECL maW mE MLR mwN

mit Hinweis(en) mit kritischer Anmerkung (von) mit zustimmender Anmerkung Maastricht Journal of European and Comparative Law mit anderen Worten meines Erachtens Modern Law Review mit weiteren Nachweisen

N Nachw NATO NdsVBl nF NJW NJOZ Nov Nr Nrn NV

Nachweis(e) North Atlantic Treaty Organization Niedersächsische Verwaltungsblätter neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Online Zeitschrift Novelle Nummer Nummern Naamloze Vennootschap, niederländisch für Aktiengesellschaft

XXXIX

Abkürzungsverzeichnis

NVwZ NVwZ-RR NW NZA NZZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungsreport Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht Neue Züricher Zeitung

O o O oa oä OECD og oJ ÖstGewO OSZE oV

oben Ordnung oben angegeben oder ähnlich Organization for Economic Cooperation and Development oben genannt ohne Jahr österreichische GewO Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ohne Verfasser

P phG PJZS Prot

persönlich haftender Gesellschafter polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Protokoll

R RA RabelsZ RAussch RdA RdErl Rdschr Reg Rep RESC Rev rh-pf RIW RJD RL RMC Rn Rs Rspr Rspr-Nachw RUDH

XL

Rechtsanwalt Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Rechtsausschuß Recht der Arbeit Runderlaß Rundschreiben Regierung Reports of Judgments and Decisions Revidierte Europäische Sozialcharta von 1996 (Europarat) Review rheinland-pfälzisch Recht der internationalen Wirtschaft Reports of Judgement and Decision Richtlinie Revue du Marché Commun Randnummer Rechtssache Rechtsprechung Rechtsprechungsnachweise Revue Universelle des Droits de l’Homme

Abkürzungsverzeichnis

S s S sa so su sächs sachs-anh Sart SGb SGB Slg sog Sp st StGB StR str stRspr StuB StuW SZ

siehe Seite, Satz siehe auch siehe oben siehe unten sächsisch sachsen-anhaltinisch Sartorius Die Sozialgerichtsbarkeit Sozialgesetzbuch Amtliche Sammlung der Entscheidungen des EuGH sogenannt(e) Spalte ständige Strafgesetzbuch Steuerrecht strittig, streitig ständige Rechtsprechung Steuern und Bilanzen Steuer und Wirtschaft Süddeutsche Zeitung

T Tz

Textziffer

U u uä ua UAbs. uam Überbl Übk üM umstr UN UNICE unstr UNTS unv Urt US usw UTR uU uVm UWG

unten und ähnliche unter anderem, und andere Unterabsatz und anderes mehr Überblick Übereinkommen überwiegende Meinung umstritten United Nations Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas unstreitig/unstrittig United Nations Treaty Series unveröffentlicht Urteil United States Reports (Cases Adjuged in the Supreme Court) und so weiter Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts unter Umständen und Vieles mehr Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb

XLI

Abkürzungsverzeichnis

V v Var VB verb Rs Verf VerfGH VerfO EMRK Vers VG VGH BW VGH vgl vH VK VO Vol Voraufl Vorbem VR VSSR VVDStRL VVE VwGO W w Nachw b WM

vom/von Variante Verfassungsbeschwerde verbundene Rechtssache Verfassung Verfassungsgerichtshof Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Versicherung Verwaltungsgericht Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg Verfassungsgerichtshof vergleiche vom Hundert Vereinigtes Königreich Verordnung Volume Vorauflage Vorbemerkung Völkerrecht Vierteljahresschrift für Sozialrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Vertrag über eine Verfassung für Europa Verwaltungsgerichtsordnung

WVK / WVRK WWU

weitere Nachweise bei Wertpapier-Mitteilungen – Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht Wohngeldgesetz Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz World Trade Organisation Entscheidungssammlung zum Wirtschafts- und Bankrecht Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen vom 24.4.1963 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Wirtschafts- und Währungsunion

Y YB YEL

Yearbook of the European Convention on Human Rights Yearbook of European Law

Z z ZaöRV ZAP

zum Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für die Anwaltspraxis

WoGG WpÜG WTO WuB WÜK

XLII

Abkürzungsverzeichnis

ZAR zB ZeuP ZEuS ZfA ZfBR ZfV ZG ZGR ZHR ZIAS Ziff ZIP zit ZP ZPO ZRP zT ZUM ZUR zust zutr ZVglRWiss zZ

Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zum Beispiel Zeitschrift für europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für deutsches und internationales Baurecht Zeitschrift für Verwaltungsrecht Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zitiert Zusatzprotokoll Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik zum Teil Zeitschrift für Urheber und Medienrecht Zeitschrift für Umweltrecht zustimmend zutreffend Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft zur Zeit

XLIII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Grundrechtecharta, 4. Aufl, München 2011 (zit: Bearbeiter in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV) Constantinesco, Léontin-Jean

Das Recht der Europäischen Gemeinschaften. Bd I. Das Institutionelle Recht, Baden-Baden 1977 (zit: Constantinesco EG I)

Craig, Paul/ De Búrca, Gráinne

EU Law, 5. Aufl, Oxford 2011 (zit: Craig/de Búrca EU)

Dauses, Manfred (Hrsg)

Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Loseblatt, München (zit: Bearbeiter in: Dauses, HdBEUWirtschR)

Doehring, Karl

Völkerrecht. Ein Lehrbuch, 2. Aufl, Heidelberg 2004 (zit: Doehring VR)

Dörr, Oliver/ Lenz, Christofer

Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Baden-Baden 2006 (zit: Dörr/Lenz Verwaltungsrechtsschutz)

Dörr, Oliver/Grote, Rainer/ Marauhn, Thilo (Hrsg)

Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl, Tübingen 2013 (zit: Bearbeiter in: Dörr/Grote/Marauhn, KK)

Ehlermann, Claus-Dieter/ Bieber, Roland (Hrsg)

Handbuch des Europäischen Rechts, Loseblatt, Baden-Baden (zit: Bearbeiter in HdBEuR)

Ehlers, Dirk/ Schoch, Friedrich

Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, Berlin 2009 (zit: Ehlers/Schoch RS)

Emmert, Frank

Europarecht, München 1996 (zit: Emmert ER)

Fastenrath, Ulrich/ Groh, Thomas

Europarecht. Grundlagen und Schwerpunkte, 3. Aufl, Baden-Baden 2012 (zit: Fastenrath/Groh ER)

Fischer, Hans Georg

Europarecht, 2. Aufl, Köln ua 2008 (zit: HG Fischer ER I)

Fischer, Hans Georg

Europarecht. Grundlagen des Europäischen Gemeinschaftsrechts in Verbindung mit deutschem Staats- und Verwaltungsrecht, 3. Aufl, München 2001 (zit: HG Fischer ER II)

Fischer, Klemens H

Der Vertrag von Lissabon. Text und Kommentar zum Europäischen Reformvertrag, 2. Aufl, Baden-Baden 2010 (zit: KH Fischer Vertrag von Lissabon)

Fischer, Peter/ Köck, Heribert Franz/ Karollus, Margit M

Europarecht. Das Recht der EU/EG, des Europarats und der wichtigsten anderen europäischen Organisationen, 4. Aufl, Wien 2002 (zit: Fischer/Köck/Karollus ER)

XLVI

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Frenz, Walter

Handbuch Europarecht. Band 1, Europäische Grundfreiheiten, 2. Aufl, Berlin/Heidelberg 2012 (zit: Frenz GF)

Frenz, Walter

Handbuch Europarecht. Band 4, Europäische Grundrechte, Berlin/Heidelberg 2009 (zit: Frenz GR)

Frowein, Jochen A/ Peukert, Wolfgang

Europäische Menschenrechtskonvention. Kommentar, 3. Aufl, Kehl 2009 (zit: Bearbeiter in: Frowein/Peukert, EMRK)

Geiger, Rudolf/ Khan, Daniel-Erasmus/ Kotzur, Markus

EUV, AEUV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 5. Aufl, München 2010 (zit: Geiger/Khan/Kotzur EUV/AEUV)

Geiger, Rudolf

EUV/EGV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 4. Aufl, München 2004 (zit: Geiger EUV/EGV)

Geiger, Rudolf

Grundgesetz und Völkerrecht – mit Europarecht. Ein Studienbuch, 5. Aufl, München 2010 (zit: Geiger GG/VR)

Golsong, Heribert/ Karl, Wolfram (Hrsg)

Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention – Texte und Dokumente, Loseblatt, Köln/Berlin/Bonn/München 2007 (zit: Bearbeiter in: Karl, Int EMRK)

Grabenwarter, Christoph/ Pabel, Katharina

Europäische Menschenrechtskonvention. Ein Studienbuch, 5. Aufl, München 2012 (zit: Grabenwarter/Pabel EMRK)

Grabenwarter, Christoph (Hrsg) Kontinuität und Wandel der EMRK, Kehl 1998 (zit: Bearbeiter in: Grabenwarter, Kontinuität) Grabitz, Eberhard/ Hilf, Meinhard/ Nettesheim, Martin (Hrsg)

Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt, 52. EL München 2014 (zit: Bearbeiter in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV)

von der Groeben, Hans/ Schwarze, Jürgen (Hrsg)

Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Kommentar, 4 Bde, 6. Aufl, Baden-Baden 2003 (zit: Bearbeiter in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV)

Hailbronner, Kay/ Jochum, Georg

Europarecht I. Grundlagen und Organe, 2005 Europarecht II. Binnenmarkt und Grundfreiheiten, 2006 (zit: Hailbronner/Jochum ER Bd I bzw. II)

Hailbronner, Kay/ Klein, Eckart/Magiera, Siegfried/Müller-Graff, Peter-Christian (Hrsg)

Handkommentar zum EU-Vertrag (EUV/EGV), Loseblatt, Köln/Berlin/Bonn/München (zit: Bearbeiter in: Hailbronner, EUV/EGV)

XLVII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Hakenberg, Waltraud

Europarecht, 6. Aufl, München 2012 (zit: Hakenberg ER)

Haltern, Ulrich

Europarecht. Dogmatik im Kontext, 2. Aufl, Tübingen 2007 (zit: Haltern ER)

Haratsch, Andreas/ Koenig, Christian/ Pechstein, Matthias

Europarecht, 8. Aufl, Tübingen 2012 (zit: Haratsch/Koenig/Pechstein ER)

Hellmann, Vanessa

Der Vertrag von Lissabon, Heidelberg 2009 (zit: Hellmann Vertrag Lissabon)

Herdegen, Matthias

Europarecht, 15. Aufl, München 2013 (zit: Herdegen ER)

Herdegen, Matthias

Völkerrecht, 12. Aufl, München 2013 (zit: Herdegen VR)

Heselhaus, F. Sebastian/

Handbuch der Europäischen Grundrechte, München 2006 (zit: Bearbeiter in: Heselhaus/Nowak, GR)

Nowak, Carsten (Hrsg) Hobe, Stefan

Europarecht, 7. Aufl, Köln ua 2012 (zit: Hobe, ER)

Huber, Peter M

Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl, München 2002 (zit: Huber Integration)

Ipsen, Hans Peter

Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972 (zit: HP Ipsen EuGR)

Ipsen, Knut

Völkerrecht, 6. Aufl, München 2012 (zit: Bearbeiter in: Ipsen, VR)

Janis, Mark/ Kay, Richard/ Bradley, Anthony

European Human Rights Law, 3. Aufl, Oxford 2008 (zit: Janis/Kay/Bradley EMRK)

Jarass, Hans D

Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl, München 2013 (zit: Jarass GRCh)

Jarass, Hans D

Die EU-Grundrechte, München 2005 (zit: Jarass GR)

Karpenstein, Ulrich

Praxis des EG-Rechts, München 2006 (zit: Karpenstein Praxis EG)

Karpenstein, Ulrich/ Mayer, Franz C (Hrsg)

EMRK. Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, München 2012 (zit: Bearbeiter in: Karpenstein/Mayer, EMRK)

XLVIII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Kempen, Bernhard/ Hillgruber, Christian

Völkerrecht, 2. Aufl, München 2012 (zit: Kempen/Hillgruber VR)

Kimminich, Otto/ Hobe, Stephan

Einführung in das Völkerrecht, 9. Aufl, Stuttgart 2008 (zit: Kimminich/Hobe VR)

Kunig, Philip/ Uerpmann-Wittzack, Robert

Übungen im Völkerrecht, 2. Aufl, Berlin/New York 2006 (zit: Kunig/Uerpmann-Wittzack Übungen)

Lecheler, Helmut

Einführung in das Europarecht, 2. Aufl, München 2003 (zit: Lecheler ER)

Lecheler, Helmut/ Gundel, Jörg

Übungen im Europarecht, 2. Aufl, Berlin/New York 2006 (zit: Lecheler/Gundel Übungen)

Lenz, Carl Otto/ EU-Verträge. Kommentar – EUV – AEUV – GrCh, Borchardt, Klaus-Dieter (Hrsg) 6. Aufl, Köln 2012 (zit: Bearbeiter in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV) Mayer, Heinz (Hrsg)

Kommentar zu EUV, AEUV, Loseblatt, Wien 2013 (zit: Bearbeiter in: Mayer, EUV/AEUV)

Meyer, Jürgen (Hrsg)

Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl, Baden-Baden 2011 (zit: Bearbeiter in: Meyer, ChGr)

Meyer-Ladewig, Jens

Europäische Menschenrechtskonvention. Handkommentar, 3. Aufl, Baden-Baden 2011 (zit: Meyer-Ladewig EMRK)

Mowbray, Alastair

Cases and Materials on the European Convention on Human Rights, 3. Aufl, Oxford 2012 (zit: Mowbray EMRK)

Nagel, Bernhard

Wirtschaftsrecht der Europäischen Union. Eine Einführung, 4. Aufl, Baden-Baden 2003 (zit: Nagel EuWirtschR)

Nicolaysen, Gert

Europarecht I. Die europäische Integrationsverfassung, 2. Aufl, Baden-Baden 2002 Europarecht II. Das Wirtschaftsrecht im Binnenmarkt, Baden-Baden 1996 (zit: Nicolaysen ER Bd I bzw. II)

Niedobitek, Matthias (Hrsg)

Europarecht – Grundlagen der Union, Berlin 2014 (zit: Bearbeiter in: Niedobitek, EuR 1)

Niedobitek, Matthias (Hrsg)

Europarecht – Politiken der Union, Berlin 2014 (zit: Bearbeiter in: Niedobitek, EuR 2)

Nowak, Manfred

UN Covenant on Civil and Political Rights, 2. Aufl, Kehl 2005 (zit: Nowak CCPR)

Oppermann, Thomas/ Classen, Claus Dieter/ Nettesheim, Martin

Europarecht, 5. Aufl, München 2011 (zit: Oppermann/Classen/Nettesheim ER)

XLIX

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Ovey, Claire/ White, Robin CA

The European Convention on Human Rights, 5. Aufl, Oxford 2010 (zit: Ovey/White EMRK)

Pechstein, Matthias

EU-/EG-Prozessrecht, Tübingen 2007 (zit: Pechstein PR)

Peters, Anne/ Altwicker, Tilmann

Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention. Mit rechtsvergleichenden Bezügen zum deutschen Grundgesetz, 2. Aufl, München 2012 (zit: Peters/Altwicker EMRK)

Rengeling, Hans-Werner/ Szczekalla, Peter

Grundrechte in der Europäischen Union, Köln/Berlin/ München 2004. (zit: Rengeling/Szczekalla GR)

Rengeling, Hans-Werner/ Middeke, Andreas/ Gellermann, Martin

Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 2. Aufl, München 2003 (zit: RMG Hb Rechtsschutz)

Röttinger, Moritz/ Weyringer, Claudia (Hrsg)

Handbuch der Europäischen Integration. Strategie – Struktur – Politik der Europäischen Union, 2. Aufl, Wien 1996 (zit: Bearbeiter in: Röttinger/Weyringer, HdEI)

Schäfer, Peter

Studienbuch Europarecht. Das Wirtschaftsrecht der EG, 3. Aufl, Stuttgart 2006 (zit: Schäfer EGWirtschR)

Schilling, Theodor

Internationaler Menschenrechtsschutz, 2. Aufl, Tübingen 2010 (zit: Schilling IMR)

Schima, Bernhard

Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl, München 2004 (zit: Schima Vorabentscheidungsverfahren)

Schroeder, Werner

Grundkurs Europarecht, 3. Aufl, München 2013 (zit: Schroeder ER)

Schulze, Reiner/ Zuleeg, Manfred/ Kadelbach, Stefan (Hrsg)

Europarecht. Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2. Aufl, Baden-Baden 2010 (zit: Bearbeiter in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, ER)

Schwartmann, Rolf

Der Vertrag von Lissabon, 4. Aufl, Heidelberg 2011 (zit: Schwartmann Vertrag Lissabon)

Schwarze, Jürgen/Becker, Ulrich/ EU-Kommentar, 3. Aufl, Baden-Baden 2012 Hatje, Armin/Schoo, Johann (zit: Bearbeiter in: Schwarze, EU-Komm) (Hrsg) Schweisfurth, Theodor

Völkerrecht, Tübingen 2006 (zit: Schweisfurth VR)

Schweitzer, Michael

Staatsrecht III. Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht, 10. Aufl, Heidelberg 2010 (zit: Schweitzer StR III)

L

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Schweitzer, Michael/ Hummer, Waldemar

Europarecht, 6. Aufl, Neuwied 2007 (zit: Schweitzer/Hummer ER)

Schweitzer, Michael/ Hummer, Waldemar/ Obwexer, Walter

Europarecht. Das Recht der Europäischen Union, 2007 (zit: Schweitzer/Hummer/Obwexer ER)

Stein, Torsten/ von Buttlar, Christian

Völkerrecht, 13. Aufl, Köln ua 2012 (zit: Stein/v Buttlar VR)

Streinz, Rudolf

Europarecht, 9. Aufl, Heidelberg 2012 (zit: Streinz ER)

Streinz, Rudolf (Hrsg)

EUV/EGV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, München 2003 (zit: Bearbeiter in: Streinz, EUV/EGV)

Streinz, Rudolf (Hrsg)

EUV/AEUV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 2. Aufl, München 2012 (zit: Bearbeiter in: Streinz, EUV/AEUV)

Streinz, Rudolf/ Ohler, Christoph/ Herrmann, Christoph

Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU. Einführung mit Synopse, 3. Aufl, München 2010 (zit: Streinz/Ohler/Herrmann Vertrag Lissabon)

Tettinger, Peter J/ Stern, Klaus (Hrsg)

Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, München 2006 (zit: Bearbeiter in: Tettinger/Stern, GRCh)

Thiele, Alexander

Europäisches Prozessrecht, München 2007 (zit: Thiele Europ ProzessR)

Thun-Hohenstein, Christoph/ Cede, Franz/Hafner, Gerhard

Europarecht, 6. Aufl, Wien 2008 (zit: Thun-Hohenstein/Cede/Hafner ER)

Tridimas, Takis

The General principles of EU Law, 3. Aufl, Oxford 2012 (zit: Tridimas EU)

Vedder, Christoph/ Heintschel von Heinegg, Wolff

Europäischer Verfassungsvertrag, Baden-Baden 2007 (zit: Bearbeiter in: Vedder/Heintschel v Heinegg, EVV)

Villiger, Mark E.

Handbuch der EMRK, 2. Aufl, Zürich 1999 (zit: Villiger EMRK)

Vitzthum, Wolfgang Graf von (Hrsg)

Völkerrecht, 5. Aufl, Berlin/New York 2010 (zit: Bearbeiter in: Graf Vitzthum, VR)

Vitzthum, Wolfgang Graf von/Proelß, Alexander (Hrsg)

Völkerrecht, 6. Aufl, Berlin/Boston 2013 (zit: Bearbeiter in: Graf Vitzthum/Proelß, VR)

Zäch, Roger

Grundzüge des Europäischen Wirtschaftsrechts, 2. Aufl, Baden-Baden/Zürich 2005 (zit: Zäch EuWirtschR)

LI

1. Teil: Die europäische Grundrechtsidee §1 Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten Christian Walter I. Internationaler und Europäischer Grundrechtsschutz Versteht man sie im Kontext internationaler und supranationaler Organisationen, insbesondere des Europarats und der EU, so sind „europäische“ Grundrechte und Grundfreiheiten eine Entwicklung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und Teil eines in dieser Zeit entstehenden internationalen Menschenrechtsschutzes. Wichtige Meilensteine des internationalen Menschenrechtsschutzes waren die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Oktober 1948, die Europäische Menschenrechtskonvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. September 1950 sowie die beiden ebenfalls im Rahmen der Vereinten Nationen erarbeiteten Menschenrechtspakte aus dem Jahr 1966: der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Diese internationale Rechtsentwicklung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg knüpft an die Tradition der großen Menschenrechtserklärungen der Aufklärung, insbesondere die Französische Menschenrechtserklärung von 1789, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die „bills of rights“ der Neuenglandstaaten an. Der internationale Menschenrechtsschutz ist so die völkerrechtliche Fortschreibung einer in den nationalen Verfassungen entstandenen Rechtskultur.1 Auf der regionalen Ebene Europas hat der Einigungsprozess der Nachkriegszeit eine Vielzahl internationaler Organisationen mit unterschiedlicher Zielsetzung hervorgebracht.2 Für die Entwicklung der Grundrechte und Grundfreiheiten sind vor allem der Europarat, die OSZE und die EU von Bedeutung. Der Menschenrechtsschutz im Rahmen der drei Organisationen unterscheidet sich in wichtigen Punkten. Der Europarat ist die älteste der drei Organisationen. Gegründet im Jahr 1949 hat er nach Art 1 seiner Satzung die Aufgabe, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze ihrer gemeinsamen Ideale und Grundsätze herzustellen. Er widmete sich vor allem der Ausarbeitung von völkerrechtlich verbindlichen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte und zur Behandlung sozialer Fragen.3 Dabei ist ihm eine besondere Rolle als „Hüter von Men-

1 Dazu H Hofmann NJW 1989, 3177 ff; allgem zur Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten Oestreich Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, 2. Aufl 1978. 2 S den Überblick bei Oppermann in: Oppermann/Classen/Nettesheim Europarecht, 4. Aufl 2009, § 3 (der Abschnitt wurde nicht mehr in der aktuellen Aufl fortgeführt) und Herdegen ER, § 1 Rn 6–11. 3 S im Einzelnen die Nachweise bei Oppermann in: Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 2 Rn 9 ff.

1

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§1 I

3

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Christian Walter

schenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie“4 zugewachsen. Der Menschenrechtsschutz im Rahmen der OSZE zeichnete sich während der Entspannungspolitik der Siebziger Jahre vor allem durch seinen prozesshaften und völkerrechtlich unverbindlichen Charakter aus.5 Dieser kommt in der damaligen Bezeichnung der heutigen OSZE als „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)“ zum Ausdruck.6 Sowohl die im Rahmen des Europarats erarbeiteten Verträge als auch der Menschenrechtsschutz durch KSZE und OSZE sind darauf gerichtet, Menschenrechte gegenüber der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten zu schützen. Auf einer anderen Ebene liegt die Diskussion um den Schutz von Grund- und Menschenrechten in der EU. In der EU waren seit dem 1. November 1993 die früheren drei Europäischen Gemeinschaften (EG, EGKS und EAG) zusammengefasst. Der EGKS-Vertrag ist zum 23. Juli 2002 nach 50jähriger Laufzeit außer Kraft getreten (Art 97 EGKSVertrag in der Fassung des Vertrags von Amsterdam).7 Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurden die frühere EG und die EU in der EU verschmolzen (vgl Art 1 III 3 EUV).8 Die von der Union ausgeübte Hoheitsgewalt wirkt in vielfältiger Weise in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinein und ersetzt in nicht unerheblichem Umfang die staatliche Hoheitsgewalt. Dies rief eine Diskussion um den Grundrechtsschutz gegenüber Akten des Gemeinschaftsrechts hervor. Hier geht es also zunächst nicht um den internationalen Schutz von Menschenrechten gegenüber staatlicher Hoheitsgewalt, sondern um die Beachtung und Durchsetzung von Grundrechtsstandards gegenüber einer neu geschaffenen, supranationalen Hoheitsgewalt. Der folgende Überblick über die Geschichte und Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten behandelt zunächst den Grundrechtsschutz im Rahmen des Europarats und insbesondere unter dem System der EMRK und anschließend die Entwicklung des Grundrechtsschutzes im Europäischen Unionsrecht. Er schließt mit einer Darstellung der Entwicklung der Grundfreiheiten im Europäischen Unionsrecht, die ursprünglich vor allem als Mittel zur Abwehr von Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verstanden wurden, sich heute aber zunehmend als wirtschaftliche Freiheitsrechte erweisen.

4 So die Formulierung in der Erklärung des Deutschen Bundestags „50 Jahre Europarat: 50 Jahre europäischer Menschenrechtsschutz“, BT-Drs 14/1568 v 09.09.1999, 2. 5 In der Schlussakte von Helsinki (Bulletin der Bundesregierung Nr 102 vom 15.08.1975, 965 f) wurde 1975 die Achtung der Menschenrechte als selbstständiger Grundsatz verankert (Ziff VII der Leitlinien) und Korb III enthielt ua Vereinbarungen über menschliche Kontakte, s dazu Hailbronner in: Graf Vitzthum, VR, 3. Abschn Rn 258. 6 Die Umbenennung in „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ erfolgte nach den politischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa (vgl die Gipfelerklärung von Helsinki „Herausforderungen des Wandels“, Ziff 46, Bulletin der Bundesregierung Nr 82 v 23.07.1992, 777, 781). 7 Dazu Obwexer EuZW 2002, 517 ff. 8 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 1 Rn 6 ff; die EAG besteht jedoch weiterhin fort, vgl Abl 2007 Nr C 306/199; s auch Streinz ER Rn 89.

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Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten

§ 1 II 1

II. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Menschenrechtsschutzes im Rahmen des Europarats und insbesondere durch die EMRK Der Europarat sieht seine Aufgabe in erster Linie in der Erarbeitung von völkerrechtlich verbindlichen Verträgen zum Schutz von Menschenrechten. Von den über 216 im Rahmen des Europarats erarbeiteten Verträgen9 ist ein wichtiger Teil dem Schutz der Menschenrechte gewidmet, darunter an erster Stelle die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).

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1. Die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes durch die EMRK Die Europäische Menschenrechtskonvention, der zunächst nur 10 Mitgliedstaaten angehörten, hat sich in den vergangenen 50 Jahren zu einem internationalen Rechtsschutzsystem entwickelt, dem inzwischen 47 Mitgliedstaaten angehören und das durchaus mit dem der Verfassungsgerichtsbarkeit in nationalen Rechtsordnungen verglichen werden kann.10 Manche sprechen sogar von einer „Europäischen Grundrechtsverfassung“11. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte selbst verwendet den Begriff „constitutional instrument of European Public Order“12.

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a) Entstehungsgeschichte Die Idee zur Schaffung einer europäischen Menschenrechtskonvention einschließlich eines Gerichtshofs zu ihrer Durchsetzung wurde auf dem 1. Kongress der Europäischen Bewegung in Den Haag formuliert.13 Während der Beratungen über den Konventionstext entfielen das im ursprünglichen Entwurf enthaltene Grundrecht auf Eigentum, das elterliche Erziehungsrecht und das Recht auf freie Wahlen.14 Außerdem wurde es zugelassen, Vorbehalte zu einzelnen Konventionsrechten zu formulieren.15 Dadurch konnten die Mitgliedstaaten den Umfang ihrer Verpflichtungen aus der EMRK selbst mitbestimmen. Die EMRK trat nach der Ratifikation durch zehn Staaten am 3. September 1953 in Kraft. Von den großen westeuropäischen Staaten hielt sich vor allem Frankreich sehr lange zurück, das die Konvention erst am 3. Mai 1974 ratifizierte. Als besonders schwierig erwies sich die Vereinbarung eines Individualbeschwerdeverfahrens, mit dem der einzelne Bürger Konventionsverletzungen unmittelbar vor von der Konvention geschaffenen europäischen Rechtsschutzorganen geltend machen konnte. Die Staaten waren nicht bereit, dem Einzelnen einen direkten Zugang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verschaffen. Die schließlich gefundene Lösung bestand darin, die Individualbeschwerde vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte zuzulassen, und es dieser zu überlassen, ob sie den Gerichtshof anruft oder nicht.16 Demgegenüber hielt man eine Beschwerde durch einen anderen Mitgliedstaat für 9 S den Nachweis unter http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ListeTraites.asp?CL=GER& CM=8; s a Klein ArchVR 39 (2001), 121, 123. 10 Frowein Collected Courses of the Academy of European Law, 1990, Vol I Book 2, 267, 278. 11 Hoffmeister Der Staat 40 (2001), 349 ff; s a Walter ZaöRV 59 (1999), 961 ff. 12 EGMR, ZaöRV 56 (1996), 439, Rn 75 – Loizidou, mit Besprechung von Ress ebd 427 ff. 13 Partsch ZaöRV 15 (1953/54), 631, 633 ff. 14 Ausf zur Entstehungsgeschichte Brinkmeier MenschenRechtsMagazin, Themenheft „50 Jahre EMRK“, 21, 26 ff; Partsch ZaöRV 15 (1953/54), 631, 633 ff. 15 Giegerich ZaöRV 55 (1995), 713 ff. 16 Vgl die Liste der Antragsberechtigten in Art 48 EMRK aF.

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§ 1 II 1

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Christian Walter

unproblematisch, verblieb diese doch im Rahmen der traditionellen Struktur der internationalen Gerichtsbarkeit und des internationalen Rechts als eines Rechts zwischen Staaten. Im Ergebnis sah die Konvention damit zwei verschiedene Verfahrensarten vor: die Staatenbeschwerde und die Individualbeschwerde. Während die Staatenbeschwerde automatisch mit dem Beitritt zur EMRK akzeptiert werden musste, bedurfte es für die Anerkennung des Individualbeschwerdeverfahrens vor der Kommission und die Unterwerfung unter die Zuständigkeit des Gerichtshofs jeweils einer gesonderten Erklärung.17 Kommission und Gerichtshof nahmen ihre Arbeit noch in den fünfziger Jahren auf. Die Europäische Kommission für Menschenrechte wurde 1954 gebildet, nachdem die nach dem damaligen Art 25 IV EMRK erforderlichen sechs Erklärungen eingegangen waren. Die Errichtung des Gerichtshofs verzögerte sich, da die Staaten bei der Anerkennung der Gerichtsbarkeit noch zurückhaltender waren als bei Anerkennung des Individualbeschwerdeverfahrens vor der Kommission. Erst 1958 lagen die nach dem früheren Art 56 erforderlichen acht Erklärungen vor. b) Entwicklung der Konvention und der Rechtsprechung

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Die Konvention wurde im Laufe der Jahre um bisher 16 Zusatzprotokolle ergänzt, die sowohl die materiellen Garantien als auch das Rechtsschutzverfahren vor Kommission und Gerichtshof betrafen. Die schon während der Entstehungsgeschichte umstrittenen Grundrechte auf Eigentum, Erziehung der Kinder und freie Wahlen wurden in das 1. ZP (Art 1 bis 3) aufgenommen. Als weitere wichtige Ergänzungen sind strafrechtliche Garantien wie das Verbot der Doppelbestrafung (Art 4 des 7. ZP), das Recht auf ein Rechtsmittel gegen strafrechtliche Verurteilungen (Art 2 des 7. ZP), die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten (Art 1 u 2 des 6. ZP) und neuerdings unter allen Umständen (also auch in Kriegszeiten, Art 1 des 13. ZP) zu nennen. Hinzugekommen sind auch das Verbot der Schuldnerhaft (Art 1 des 4. ZP), das Freizügigkeitsrecht (Art 2 des 4. ZP), das Verbot der kollektiven Ausweisung von Ausländern (Art 4 des 4. ZP) sowie das Recht auf Gleichberechtigung der Ehegatten während der Ehe und bei ihrer Auflösung (Art 5 des 7. ZP). Anders als in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen (Art 7) und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art 14 I) fehlte es in der EMRK lange Zeit an einem allgemeinen Gleichheitssatz. Die Regelung in Art 14 EMRK bezieht sich nur auf Gleichheit beim Genuss der durch die Konvention garantierten Rechte.18 Mit dem Inkrafttreten des 12. ZP am 1. April 2005 hat sich dieser Umstand geändert. Die ZPe 9 und 11 haben das Rechtsschutzverfahren erheblich modifiziert und bringen damit eine veränderte Stellung des Individuums im Völkerrecht zum Ausdruck. Mit dem 9. ZP erhielt der Beschwerdeführer, der das Verfahren vor der Kommission eingeleitet hatte, selbst das Recht, den Gerichtshof anzurufen.19 Das 11. ZP 20 modifizierte schließlich das gesamte Verfahren, indem es die Kommission abschaffte und damit die Zweistufigkeit beseitigte. Seit dem 1. November 1998 gibt es nur noch den Gerichtshof, der allerdings anders als die beiden Vorgängerinstitutionen nun zu einer ständig tagenden Einrichtung wurde. Eine weitere Änderung durch das 11. ZP liegt in der Einführung einer obligatori17 18 19 20

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Art 25 I u Art 46 I EMRK aF. Dazu näher Weiß MenschenRechtsMagazin 2000, Themenheft „50 Jahre EMRK“, 36, 43 ff. BGBl II 1994, 491. BGBl II 1995, 579.

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schen Gerichtsbarkeit, sodass die Mitgliedschaft in der Konvention nun automatisch die Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Entscheidung über Individualbeschwerden nach sich zieht.21 Die zuvor erforderliche gesonderte Anerkennung durch die Mitgliedstaaten ist entfallen. Beibehalten wurde die Funktion des Ministerkomitees22 als Überwachungsorgan für die Ausführung der Urteile.23 Ähnlich wie das Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht droht das Individualbeschwerdeverfahren in Straßburg an seinem eigenen Erfolg zu ersticken. Im Jahr 2001 wurden 13.858 Beschwerden registriert, denen 889 Urteile und 8.989 Unzulässigkeitsentscheidungen und Streichungen aus der Verfahrensliste gegenüberstanden.24 Dies rief eine lebhafte Reformdiskussion hervor, die im Mai 2004 zur Annahme des 14. ZP führte. Wichtige Änderungen betreffen die Möglichkeit von Einzelrichterentscheidungen über die Zulässigkeit von Individualbeschwerden, eine neue Zulässigkeitshürde in Form eines „significant disadvantage“ und eine Stärkung des Durchsetzungsmechanismus durch das Ministerkomitee, das nach dem 14. ZP die Möglichkeit erhält, den Gerichtshof mit der Frage zu befassen, ob eine unterlegene Vertragspartei gegen ihre Verpflichtung zur Beachtung des gegen sie ergangenen Urteils verstoßen hat. Das 14. ZP ist mit einiger Verzögerung, die durch Vorbehalte in der russischen Duma hervorgerufen wurde, am 1. Juni 2010 in Kraft getreten. Seit dem Inkrafttreten haben sich die Erledigungszahlen vor allem durch die Einzelrichterentscheidungen nochmals deutlich erhöht. Aufgrund der unverändert hohen Eingangszahlen arbeitet der Gerichtshof aber nach wie vor an der Grenze der Belastbarkeit.25 Entscheidend für die Entwicklung des gesamten Konventionssystems in den vergangenen 50 Jahren war die sich erst langsam herausbildende Akzeptanz des Individualrechtsschutzes. Von den großen europäischen Staaten hatte allein Deutschland – aus historisch offensichtlichen Gründen – frühzeitig die Zuständigkeit der Kommission für Individualbeschwerden akzeptiert. Mit dem Vereinigten Königreich folgte erst 1966 ein zweiter großer europäischer Staat. Frankreich akzeptierte Individualbeschwerden erst 1981. Unter diesen Umständen offensichtlicher Zurückhaltung der Mitgliedstaaten gegenüber einem internationalen Individualrechtsschutz kann es nicht verwundern, dass Kommission und Gerichtshof vielfach „judicial self-restraint“ übten.26 Die Gründe für eine solche Zurückhaltung sind inzwischen weitgehend entfallen, und der Gerichtshof versteht die Konvention zu Recht als „living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions“27. Dies bewirkt, dass die Straßburger Rechtsprechung zunehmend

21 22 23 24 25

Art 34 EMRK nF; allgem zu den Änderungen durch das 11. ZP Schlette ZaöRV 56 (1996), 905 ff. Art 13 ff Satzung des Europarats. Art 46 II EMRK nF. Pressemitteilung des Gerichtshofs v 21.01.2002. Die Zahl der Erledigungen durch Beschluss oder Urteil stieg um 68 % von 52.188 im Jahr 2011 auf 87.879 im Jahr 2012. Im Jahr 2012 gingen insgesamt 65.200 neue Beschwerden ein. Damit ist der Gerichtshof unter dem neuen Verfahren erstmals in der Lage, den Gesamtbestand abzubauen. Dieser befindet sich allerdings nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau. Zum 31.12.2012 waren insgesamt 128.100 Verfahren anhängig. Das sind aber immerhin 16 % weniger als zum Jahresbeginn (151.600), siehe http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_analysis_2012_ENG.pdf. 26 → zur Grundrechtsdogmatik in der EMRK § 2. 27 EGMR, EuGRZ 1979, 163, Rn 31 – Tyrer; krit gegenüber der von ihm als dynamisch angesehenen Auslegung der Konvention durch den Gerichtshof Buß DÖV 1998, 323, 328 ff.

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das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten beeinflusst.28 Besonders eindrücklich zeigt sich dies am Beispiel Frankreichs, das traditionell keine nachträgliche Verfassungskontrolle von bereits in Kraft getretenen Gesetzen kennt. Hier nehmen die Fachgerichte inzwischen eine sog „contrôle de conventionnalité“, also eine Überprüfung von Gesetzen auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK, vor, und es gibt bereits Fälle, in denen (gültige) nationale Gesetze nicht angewendet wurden, weil die Gerichte bei ihrer Anwendung einen Verstoß gegen die EMRK für unvermeidlich hielten.29 Der quasi-verfassungsgerichtliche Charakter des neuen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zeigt sich auch daran, dass politisch so brisante Fragen wie die Strafbarkeit des politischen Führungspersonals der ehemaligen DDR wegen der Schüsse an der innerdeutschen Grenze oder Parteiverbotsverfahren in der Türkei Gegenstand seiner Entscheidungen sind.30 Einen besonderen Schritt für die Wirkung der EMRK in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bedeutete die Inkorporierung in die britische Rechtsordnung durch den Human Rights Act des Jahres 1998.31 Da ohne eine solche Inkorporierung nach britischem Verfassungsrecht ein völkerrechtlicher Vertrag nicht unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen begründen kann, gab es vor dem Human Rights Act statistisch gesehen relativ viele Konventionsverfahren gegen das Vereinigte Königreich.32 Seit dem Inkrafttreten des Human Rights Act zum 02.10.2000 hat sich eine umfangreiche Rechtsprechung englischer Gerichte entwickelt, die den in der EMRK gewährleisteten Rechten zusätzliche Bedeutung verleiht.33 In der deutschen Rechtsordnung genießt die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist sie allerdings bei der Auslegung der deutschen Grundrechte zu berücksichtigen.34 Versuche in der Literatur, eine über diese bloße Auslegungshilfe hinausgehende Bindungswirkung zu begründen,35 wurden von der Rechtsprechung nicht aufgenommen.36 Im Jahre 2004 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch in seiner Görgülü-Entscheidung eine neue Formel für die Bindung deutscher Gerichte an Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelt. Aus der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht aus Art 20 III GG schließt das Bundesverfassungsgericht auf die Notwendigkeit, die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und deren Auslegung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zu berücksichtigen. Sowohl die fehlende Ausein-

28 Nachw und bes Problemfälle mit Bezug zu Deutschland bei Frowein NVwZ 2002, 29 ff. 29 S etwa die Entscheidung des französischen Conseil d’Etat v 30.10.1998, RDP 1999, 649 – Lorenzi. 30 EGMR, NJW 2001, 3035 ff – Krenz; dazu Werle NJW 2001, 3001 ff; Rau NJW 2001, 3008 ff; EGMR v 31.07.2001, 41340/98 – Refah-Partisi; RJD 1999-VIII – ÖZDEP. 31 Dazu Grote ZaöRV 58 (1998), 309 ff; vgl auch die irische European Convention on Human Rights Bill (No 26 of 2001) v 10.04.2001. 32 Nachw bei Grote ZaöRV 58 (1998), 309, 322 ff. 33 S die Übersicht von Raine/Walker in: Halliday/Schmidt (Hrsg) Human Rights brought home, 2004, 123 ff. 34 BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 115. 35 Mit unterschiedlichen Ansätzen Bleckmann EuGRZ 1994, 149 ff; Frowein Der Europäische Grundrechtsschutz und die nationale Gerichtsbarkeit, 1983, 26; Ress FS Zeidler, 1987, S 1775, 1790 ff; sowie die Nachw bei Hoffmeister Der Staat 40 (2001), 349 ff; Walter ZaöRV 59 (1999), 961 ff. 36 S ausf zum Ganzen Grabenwarter VVDStRL 60 (2000), 290, 299 ff.

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andersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische „Vollstreckung“ könnten gegen Grundrechte des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen.37 Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Nicht-Beachtung einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Verletzung von deutschen Grundrechten im Wege der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht gerügt werden kann. Trotz dieser EMRKfreundlichen Grundtendenz ist die Entscheidung in der Literatur auf berechtigte Kritik gestoßen, weil in ihr an anderen Stellen die deutsche Souveränität gegenüber der EMRK betont wurde.38 Namentlich die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht zur Sicherungsverwahrung zeigt aber, dass (derzeit) in der praktischen Handhabung der konventionsfreundliche Aspekt der Görgülü-Entscheidung überwiegt.39 In den letzten Jahren war der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrfach mit der Frage beschäftigt, inwiefern die Mitgliedstaaten den Bindungen der EMRK unterliegen, wenn sie bislang im nationalen Bereich erledigte Aufgaben auf internationale Organisationen übertragen.40 In seiner neueren Rechtsprechung41 geht der Gerichtshof davon aus, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, für ein der EMRK im Wesentlichen vergleichbares Niveau des Grundrechtsschutzes zu sorgen. Entschieden wurde dies in mehreren Verfahren über den Kündigungsschutz im Rahmen der European Space Agency (ESA).42 Eine Entscheidung, mit der eine mittelbare Bindung der Unionsorgane an die EMRK angenommen worden wäre, gibt es bislang nicht.43 Immerhin aber hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Europäische Parlament als „gesetzgebende Körperschaft“ im Sinne von Art 3 1. ZP EMRK qualifiziert und das Vereinigte Königreich wegen eines Verstoßes gegen diese Vorschrift verurteilt, weil es die Bewohner von Gibraltar nicht an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen ließ.44 In dieser Rechtsprechung zeigt sich der Versuch, die Grundrechtsverbürgungen der EMRK nicht nur im innerstaatlichen Bereich der Mitgliedstaaten durchzusetzen, sondern auch vor einem Unterlaufen durch eine „Flucht in organisatorisch verselbständigte Einheiten auf zwischenstaatlicher Ebene“45 zu bewahren. Der Gerichtshof nimmt insoweit eine Schutzpflicht der Mitgliedstaaten aus Art 1 EMRK an.46

37 BVerfGE 111, 307, 323 f – Görgülü = JK 2005, GG Art 20 III/39. 38 BVerfGE 111, 307, 324 f und 327 f – Görgülü = JK 2005, GG Art 20 III/39; zur Kritik etwa Cremer EuGRZ 2004, 683; Ruffert EuGRZ 2007, 245, 252 f; Breuer NVwZ 2005, 412; Frowein in: FS Delbrück, 2005, S 279, 285. 39 BVerfGE 128, 326, 368 ff – Sicherungsverwahrung = JK 2011, StGB § 67 d III/1. 40 Ausf zu den damit verbundenen Rechtsproblemen Winkler Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 2000, 153 ff; → § 2 Rn 52 f; § 14 Rn 30. 41 Eine frühe Kommissionsentscheidung zu diesem Problemkreis ist der Fall M, s dazu Giegerich ZaöRV 50 (1990), 836 ff. 42 EGMR, NJW 1999, 1173 ff – Waite = JK 99, EMRK Art 6/2. 43 Das Verfahren Senator-Lines gegen die 15 Mitgliedstaaten der EU (vgl den Antrag in RUDH 12 (2000), 191 ff) wurde wegen Wegfalls der Beschwer als unzulässig abgewiesen; vgl auch EGMR, EuGRZ 2005, 234 – Emesa Sugar. 44 EGMR, EuGRZ 1999, 200 ff – Matthews = JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2. 45 So die Formulierung des BVerfG in einem ähnlich gelagerten Fall, DVBl 2001, 1130 ff. 46 EGMR, EuGRZ 1999, 200, Rn 29 ff – Matthews = JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2.

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In einer weiteren Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine recht umfassende Kontrolle des Menschenrechtsstandards innerhalb der Europäischen Union vorgenommen. Im Bosphorus-Urteil hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte indirekt über die Vereinbarkeit einer Europäischen Verordnung, die Sanktionen gegen das ehemalige Jugoslawien umsetzte, mit der EMRK zu entscheiden. Zwar stellte der Gerichtshof im Ergebnis keine Verletzung von Art 1 1. ZP EMRK fest. Er hob jedoch deutlich hervor, dass die Mitgliedstaaten sich ihren Verpflichtungen aus der EMRK nicht entziehen können, indem sie Hoheitsrechte auf eine internationale Organisation übertragen. Für die Behandlung solcher Fälle entwickelte der Gerichtshof einen speziellen zweistufigen Test. In einem ersten Schritt begründet der Gerichtshof eine Vermutung für die Vereinbarkeit des Handelns einer internationalen Organisation mit der EMRK, wenn die fragliche Organisation einen in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht der EMRK äquivalenten Menschenrechtsschutz bietet. Allerdings kann diese Vermutung im zweiten Schritt im konkreten Einzelfall widerlegt werden. Während der erste Schritt mit der Solange II-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis in die Formulierung hinein vergleichbar ist, geht der zweite Schritt weiter, denn das Bundesverfassungsgericht schließt die Einzelfallprüfung weitgehend aus. Während die bislang zitierte Rechtsprechung den Grundrechtsschutz nach der EMRK auch gegenüber dem Handeln internationaler Organisationen, die formal keine Mitglieder des Konventionssystems sind, eher ausgebaut hat, gibt es beim Rechtsschutz gegen den Vereinten Nationen zurechenbares Handeln eine gegenläufige Tendenz. Hier hat der Gerichtshof eine sehr pauschale Freizeichnung für sämtliches Handeln des Sicherheitsrats im Rahmen von Kapitel VII der UN-Charta vorgenommen47, die sich nur schwer in die bisherigen Grundsätze der Rechtsprechung einfügen lässt48. Es bleibt zu hoffen, dass diese Tendenz nicht auf andere Bereiche des Handelns internationaler Organisationen übertragen wird.49

2. Der Menschenrechtsschutz im Europarat im Allgemeinen a) Vertragliche Menschenrechtsverbürgungen 20

Aus dem Bereich der vertraglichen Verbürgungen einzelner Menschenrechte verdienen drei Einzelentwicklungen nähere Erwähnung. Bereits 1961 wurde die Europäische Sozialcharta angenommen, mit der die Unterzeichnerstaaten das Ziel verfolgen, „den Lebensstandard ihrer Bevölkerung in Stadt und Land zu verbessern“50. Die Charta gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, aus einem Katalog von sieben Rechten fünf als für sich verbindlich zu akzeptieren (Art 20) und sieht zur Überwachung vor, dass die Mitgliedstaaten zu den von ihnen angenommenen Artikeln im Abstand von zwei Jahren und zu den übrigen Artikeln in regelmäßigen Abständen Staatenberichte vorlegen (Art 21, 22), die von einem Sachverständigenausschuss geprüft werden (Art 24). Die Sozialcharta wurde durch mehrere Protokolle ergänzt, die 1999 in einer revidierten Sozialcharta zusammengefasst wurden. Diese trat am 01.07.1999 in Kraft, wurde aber von wichtigen europäischen Staa-

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EGMR, EuGRZ 2007, 522 ff – Behrami u Saramati. S auch Frowein FS Schmidt-Aßmann, 2008, S 333, 337 ff. S die nähere Analyse der Rspr bei Janik ZaöRV 70 (2010), 127 ff. So die Motivation nach der vierten Erwägung in der Präambel der Europäischen Sozialcharta; BGBl II 1964, 1262.

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ten bislang nicht ratifiziert. Die Bundesrepublik Deutschland gehört sogar zu den wenigen Staaten, die den revidierten Text überhaupt nicht unterzeichnet haben.51 Wegen seiner Präventivverfahren verdient das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26.11.1987 besondere Erwähnung. Es errichtet einen Ausschuss, das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, der Besuche in den Haftanstalten52 der Mitgliedstaaten durchführen kann und über diese Besuche Berichte erstattet, die im Einverständnis mit der betreffenden Vertragspartei öffentlich gemacht werden können. Das Besondere an der Konvention liegt in der Möglichkeit des Komitees, Empfehlungen für die zukünftige Vorgehensweise des betreffenden Mitgliedstaates auszusprechen (Art 10 I der Konvention). Das Komitee nutzt diese Befugnis nicht nur, um Vorschläge für die Beseitigung tatsächlich festgestellter Missstände zu machen, sondern es hat allgemeine Vorschläge zur Verhinderung von Misshandlungen unterbreitet und damit den Weg zu einem präventiven Schutz vor Folter geebnet. In den vergangenen Jahren widmete sich die Kodifikationsarbeit des Europarats den besonderen Problemen des Minderheitenschutzes. Am 05.11.1992 wurde die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen angenommen, deren Einhaltung ebenfalls durch einen Sachverständigenausschuss überwacht wird. Die Charta trat für Deutschland zum 01.01.1999 in Kraft. Daneben besteht das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 01.02.1995, das für die Bundesrepublik Deutschland zum 01.02.1998 in Kraft trat, und das gleichfalls mit einem eigenen Überwachungsmechanismus ausgestattet ist53 sowie einen umfassenden Katalog von Minderheitenrechten statuiert.54 Der Minderheitenschutz im Rahmen des Europarates bereitet Frankreich spezielle Probleme. Der französische Verfassungsrat entschied 1997, dass das verfassungsrechtliche Prinzip der „Einheit der Republik“ einer Beteiligung an der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen entgegen stehe.55 Das Rahmenübereinkommen wurde von Frankreich nicht einmal gezeichnet. Ein weiterer Schwerpunkt der Kodifikationsarbeit betrifft medizinische und bioethische Fragen. Hierzu verdienen die Konvention über Menschenrechte und Biomedizin (Oviedo Konvention) vom 04.04.1997, sowie Zusatzprotokolle über das Verbot des Klonens von Menschen (vom 12.01.1998), über Transplantationen von Organen und Gewebe menschlichen Ursprungs (24.01.2002), über biomedizinische Forschung (25.01.2005) und über genetische Tests für Gesundheitszwecke (27.11.2008) Erwähnung. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Arbeiten des Europarats in diesem Bereich eher kritisch betrachtet, da man das Schutzniveau für nicht ausreichend erachtet. Weder die Konvention noch die Zusatzprotokolle wurden von der Bundesrepublik gezeichnet.

51 ETS Nr 163. 52 Einschließlich psychiatrischer und anderer geschlossener Anstalten, vgl Alleweldt EuGRZ 1998, 245, 247 mit Giegerich ZaöRV 50 (1990), 836 ff. 53 Zu diesem R Hofmann ZEuS 1999, 379 ff. 54 S im Einzelnen R Hofmann MenschenRechtsMagazin 2000, 63 ff. 55 Décision Nr 99-412 DC v 15.6.1999; verfügbar unter http://www.conseil-constitutionnel.fr/ decision/1999/99412/index.htm.

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b) Die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung nach 1989/1990 24

Die Parlamentarische Versammlung ist neben dem Ministerkomitee das zweite zentrale Organ des Europarats.56 Sie übernahm in den Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges eine wichtige Rolle bei der Grundrechtsdurchsetzung und Grundrechtsförderung. Bereits im Jahr 1949 verpflichtete sich das Ministerkomitee, das in Art 4 der Satzung des Europarats enthaltene Recht, neue Mitglieder zum Beitritt einzuladen, nur unter Beteiligung der Parlamentarischen Versammlung auszuüben. Die Parlamentarische Versammlung nutzte dieses Beteiligungsrecht, um nach dem Ende des Kalten Krieges bei den Beitrittsanwärtern aus Mittel- und Osteuropa die Einhaltung der Menschenrechte zu prüfen. Hierzu entsandte sie Berichterstatter in die betreffenden Staaten, deren Aufgabe es war, die nationalen Rechtsordnungen auf ihre Vereinbarkeit mit den Menschenrechtsstandards des Europarats zu untersuchen und darüber einen Bericht vorzulegen. Die Parlamentarische Versammlung ging auch dazu über, in ihren Stellungnahmen zu Beitrittsvorhaben die Absicht des Kandidaten festzuhalten, die EMRK einschließlich des damals noch gesondert zu akzeptierenden Individualbeschwerdeverfahrens zu ratifizieren. Die Parlamentarische Versammlung hat diese Aufnahmebedingungen später um ein Überwachungsverfahren ergänzt, mit dem die Einhaltung der Verpflichtungen nach einem erfolgten Beitritt sichergestellt werden soll. Diese Praxis führte während des Tschetschenien-Krieges dazu, dass die Parlamentarische Versammlung die Mitgliedschaft Russlands im Europarat wegen der Form der Kriegsführung in Frage stellte.57 Die Parlamentarische Versammlung hat sich durch diese Vorgehensweise einen besonderen Ruf bei der Durchsetzung der Menschenrechtsstandards in Mittel- und Osteuropa in der Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs erworben.

III. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der EU 25

Anders als die EMRK, die darauf gerichtet ist, einen grundrechtlichen Mindeststandard in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durchzusetzen, betrifft die Frage nach dem Grundrechtsschutz im Rahmen des Unionsrechts vor allem die Frage danach, wie Grundrechte gegenüber einer nicht-staatlichen Hoheitsgewalt gesichert werden können (→ § 14 Rn 3 ff).

1. Frühe Rechtsprechung 26

Der Europäische Gerichtshof erweckte in seiner frühen Rechtsprechung den Eindruck mangelnder Grundrechtssensibilität.58 Der Eindruck entstand dadurch, dass der Gerichtshof Rügen, die sich auf eine Verletzung nationaler Grundrechte stützten, als unzulässig zurückwies, ohne auf das Grundrechtsproblem einzugehen.59 Dieses Vorgehen war zwar

56 Die Parlamentarische Versammlung setzt sich aus Mitgliedern der nationalen Parlamente zusammen (vgl Art 25 der Satzung des Europarats); vgl das Diagramm bei Blackburn/Polakiewicz (Hrsg) Fundamental rights in Europe, 2001, 23. 57 S Recommendation 1444 (2000) v 27.01.2000 und Resolution 1221 (2000) v 29.06.2000; allgem Bowring Helsinki Monitor 11 (2000), 53 ff. 58 S zum Folgenden auch Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, 657, 662 ff. 59 Vgl etwa EuGH, Slg 1960, 887, 920 f – Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft; Slg 1965, 296, 312 – Sgarlata (Wortlaut des Vertragstextes geht einer grundrechtlichen Argumentation unbedingt vor).

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dogmatisch zwingend, denn der Gerichtshof kann nationale Vorschriften weder auslegen noch gegenüber dem Gemeinschafts-/Unionsrecht anwenden. Die Kombination der (richtigen) Entscheidung, Art 14 GG finde gegenüber dem Gemeinschaftsrecht keine Anwendung, mit der Aussage, das Gemeinschaftsrecht enthalte „weder einen geschriebenen noch einen ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass ein erworbener Besitzstand nicht angetastet werden darf“60, musste allerdings Zweifel am Eigentumsschutz im Gemeinschaftsrecht wecken (→ ausf hierzu § 19).

2. Entwicklung und dogmatische Begründung der Unionsgrundrechte Der Gerichtshof hat diese zurückhaltende Rechtsprechung ab dem Ende der 1960er Jahre korrigiert und die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht verankert angesehen. Die Entwicklung des Grundrechtsschutzes beginnt mit der Entscheidung Stauder 61. Dieser Fall betraf die Abgabe von Butter an Sozialhilfeempfänger zu herabgesetzten Preisen. Um Missbrauch zu vermeiden, verpflichtete das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten in der deutschen Fassung der Regelung, Sorge dafür zu tragen, dass die Begünstigten „Butter nur gegen einen auf ihren Namen ausgestellten Gutschein“ erhalten können. Die anderen sprachlichen Fassungen sprachen dagegen nur von einem „individualisierten Gutschein“. Der Kläger des Ausgangsverfahrens war der Auffassung, dass es mit seinen Grundrechten unvereinbar sei, beim Erwerb seinen Namen und damit seine Identität gegenüber dem Verkäufer offen legen zu müssen. Der Gerichtshof legte die Regelung angesichts der verschiedenen sprachlichen Fassungen dahin aus, dass sie nur eine Individualisierung verlange, nicht aber eine Nennung des Namens. Im Anschluss an diese Auslegung erfolgt – gewissermaßen zusätzlich, aber für die Begründung eigentlich gar nicht mehr erforderlich – die äußerst knappe Grundlegung eines Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht:

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„Bei dieser Auslegung enthält die streitige Vorschrift nichts, was die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person in Frage stellen könnte.“

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Für die dogmatische Begründung dieser Rechtsprechung sind die Ausführungen des Generalanwalts Römer von Bedeutung, der sich in seinen Schlussanträgen einer damals im Schrifttum vertretenen Auffassung anschließt, „durch wertende Rechtsvergleichung seien gemeinsame Wertvorstellungen des nationalen Verfassungsrechts, insbesondere der nationalen Grundrechte zu ermitteln, die als ungeschriebener Bestandteil des Gemeinschaftsrechts beachtet werden müssten“62. Der Unterschied dieser dogmatischen Begründung gegenüber der vom Gerichtshof abgelehnten unmittelbaren Anwendung nationaler Grundrechte liegt darin, dass sie sich nicht allein auf die Grundrechte eines Mitgliedstaats stützt und auch die nationalen Grundrechte nicht selbst anwendet, sondern in ihnen nur eine Rechtserkenntnisquelle für die Ermittlung der ungeschriebenen Unionsgrundrechte sieht (→ § 14 Rn 8). Der Gerichtshof hat diese dogmatische Herleitung 1970 in der Entscheidung Internationale Handelsgesellschaft bestätigt. Dort wurde zunächst betont, dass der Anwendungsvorrang des

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60 EuGH, Slg 1960, 885, 921 – Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft. 61 EuGH, Slg 1969, 419 ff – Stauder. 62 EuGH, Slg 1969, 419, 427 f – Stauder.

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Gemeinschaftsrechts auch das nationale Verfassungsrecht und dessen Grundrechtsgarantien betreffe. Im Anschluss stellt der Gerichtshof aber fest, dass ein gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz durch den Gerichtshof erfolge, der von den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ getragen sei.63 Neben die „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ trat 1974 in der Entscheidung Nold eine weitere Rechtserkenntnisquelle: Der Gerichtshof hat in diesem Verfahren anerkannt, dass die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte „Hinweise geben [können], die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind“64. Diese noch sehr vorsichtig klingende Formulierung wurde in den Folgejahren hinsichtlich der EMRK verstärkt und dient inzwischen als Grundlage einer weitgehenden Berücksichtigung der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs durch den EuGH. Der EuGH hat die „besondere Bedeutung“ der EMRK gegenüber anderen völkerrechtlichen Verträgen mehrfach hervorgehoben.65 Auch stützt er sich inzwischen ganz selbstverständlich auf Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte, wenn es um die Auslegung der EMRK geht. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für dieses Vorgehen betrifft die Garantie eines zügigen Verfahrens. In diesem Bereich gibt es eine umfassende Rechtsprechung der Straßburger Organe zu Art 6 I EMRK.66 Der EuGH hat in einer Entscheidung über die Dauer des Verfahrens vor dem Gericht erster Instanz ohne weiteres die Maßstäbe des Art 6 I EMRK angewandt und dabei zur Bestimmung des angemessenen Zeitrahmens die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs herangezogen. Die entsprechende Passage der Entscheidung erweckt geradezu den Eindruck, als fühle sich der EuGH an diese Rechtsprechung gebunden.67 Allerdings darf die Selbstverständlichkeit, mit der sich der EuGH auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stützt, nicht über die dogmatische Ableitung der Unionsgrundrechte hinwegtäuschen. Der EuGH hat es bislang trotz verschiedener Ansätze in der Literatur68 abgelehnt, eine förmliche Bindung der Unionsrechtsordnung an die EMRK anzunehmen. Beim gegenwärtigen Stand der Dogmatik bleibt es deshalb dabei, dass die EMRK nur als eine Rechtserkenntnisquelle dient. Sie ist keine eigene Rechtsquelle des Unionsrechts.69 Das Gericht erster Instanz hat dies sogar mehrfach ausdrücklich klargestellt.70 Bei dieser Form der vergleichenden Berücksichtigung lassen sich freilich Divergenzen in der Auslegung nicht ganz vermeiden. Dies gilt erst recht, wenn der Gerichtshof in Luxemburg mit einer Grund-

63 EuGH, Slg 1970, 1125, Rn 4 – Internationale Handelsgesellschaft. 64 EuGH, Slg 1974, 491, Rn 13 – Nold. 65 Etwa EuGH, Slg 1997, I-7493, Rn 12 – Annibaldi; der Gerichtshof selbst sieht für die besondere Betonung der EMRK die Entscheidung Slg 1986, 1651, Rn 18 – Johnston als grundlegend an, s Slg 1991, I-2925, Rn 41 – ERT. 66 S im Einzelnen Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 6 Rn 235 ff. 67 S allerdings EuGH, Slg 2000, I-665, Rn 4 ff – Emesa Sugar; dazu die krit Bemerkungen bei Krüger/Polakiewicz EuGRZ 2001, 92, 98. 68 S etwa Hilf FS Bernhardt, 1995, S 1193, 1197 f; weitere Nachw bei Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 EUV Rn 6. 69 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 EUV Rn 5; → § 14 Rn 5 ff. 70 EuG, Slg 2001, II-729, Rn 59 – Mannesmann-Röhrenwerke AG; Slg 1998, II-1751, Rn 311 f – Mayr-Melnhof.

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rechtsfrage befasst ist, bevor diese Gegenstand einer Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs war.71 Der Europäische Gerichtshof und das Gericht erster Instanz haben auf der Grundlage der beiden genannten Rechtserkenntnisquellen (Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und völkerrechtliche Verträge, insbesondere EMRK) einen umfangreichen Katalog ungeschriebener Grundrechte entwickelt (→ ausf hierzu §§ 14–27). Das Bundesverfassungsgericht, das dem Grundrechtsschutz durch den EuGH zunächst skeptisch gegenüber stand und eine Überprüfungsbefugnis für sich in Anspruch nahm (Solange I-Entscheidung),72 entschied 1986, dass der vom EuGH gewährte Grundrechtsschutz dem des Grundgesetzes generell im Wesentlichen vergleichbar ist (Solange II-Entscheidung).73 Seither sind Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollanträge, die sich gegen europäisches Unionsrecht richten, unzulässig. Zweifel an der Fortgeltung dieser Rechtsprechung, die in der Folge des Maastricht-Urteils74 entstanden waren, beseitigte das Bundesverfassungsgericht im April 2000 in seiner Entscheidung zur Bananenmarkt-Ordnung.75 1993 fand die dogmatische Ableitung des Grundrechtsschutzes durch die Rechtsprechung des EuGH eine teilweise Absicherung76 im primären Unionsrecht: Nach Art 6 II EUV achtete die Union „die Grundrechte, wie sie in der am 04.11.1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“

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3. Forderungen nach einem Grundrechtskatalog für das Unionsrecht und die Europäische Grundrechte-Charta Die rechtspolitischen Forderungen nach einem eigenen Katalog geschriebener Unionsgrundrechte, die zur Proklamation der Europäischen Grundrechte-Charta auf dem Europäischen Rat von Nizza am 07.12.2000 führten,77 waren nicht neu. Schon im Jahr 1989 verabschiedete das Europäische Parlament mit der „Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten“ erstmals einen umfassenden Katalog.78 Die Erklärung enthält nicht nur

71 So dürfte sich wohl die bisher deutlichste Divergenz erklären, die sich in der Rspr der beiden Gerichtshöfe feststellen lässt: Der EuGH entschied 1989 unter ausdrücklicher Heranziehung von Art 8 EMRK, dass das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung den Schutz von Geschäftsräumen nicht erfasse (Slg 1989, 2859, Rn 18 – Hoechst = JK 90, EWGV § 173/2). Der EGMR, der mit der gleichen Rechtsfrage erst 1992 befasst war, entschied genau umgekehrt (NJW 1993, 718, Rn 29 – Niemietz = JK 93, EMRK Art 8/1). 72 BVerfGE 37, 271 ff – Solange I. 73 BVerfGE 73, 339 ff – Solange II = JK 87, GG Art 24 I/1. 74 BVerfGE 89, 155 ff – Maastricht = JK 94, GG Art 23/1. 75 BVerfGE 102, 147 ff – Bananenmarktordnung; dazu die Bewertung bei Nicolaysen/Nowak NJW 2001, 1233, 1235 f. 76 Art 6 II EUV bezieht sich neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten nur auf die EMRK, während die Rspr des EuGH allgem Verträge zum Schutz der Menschenrechte als Rechtserkenntnisquelle nennt und die EMRK nur als einen besonders wichtigen solchen Vertrag hervorhebt. 77 ABl 2000 Nr C 364/1. 78 ABl 1989 Nr C 120/51.

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die klassischen Freiheitsrechte, wie sie auch in der EMRK ihren Niederschlag gefunden haben, sondern außerdem einige soziale Grundrechte, wie ein Recht auf Bildung (Art 16) oder ein Recht auf sozialen Schutz (Art 15). Ein vergleichbarer Grundrechtskatalog, einschließlich der sozialen Grundrechte findet sich auch in Titel VIII der vom Parlament am 10.02.1994 angenommenen Entschließung zur Verfassung der Europäischen Union.79 Der Text der in Nizza angenommenen Europäischen Grundrechte-Charta wurde nicht in der bislang üblichen Form einer Regierungskonferenz erarbeitet, sondern in der Form eines sog „Konvents“. Hierdurch wurden neue Wege der Beteiligung nationaler Parlamente und der Öffentlichkeit beschritten. Der durch den Europäischen Rat von Tampere (Finnland) geschaffene Konvent bestand aus 15 Vertretern der nationalen Regierungen, 16 Europaabgeordneten, 30 nationalen Parlamentariern und einem Vertreter der Kommission. Die hierin liegende Abkehr von einer rein intergouvernementalen Form der Erarbeitung ist Ausdruck eines Schritts von „konstitutioneller Bedeutung“80 und vermittelt der Charta eine bislang in dieser Form auf europäischer Ebene nicht erreichte (parlamentarische) Legitimation.81 Allerdings hat sich der Europäische Rat von Nizza auf eine feierliche Proklamation der Charta beschränkt und es abgelehnt, ihr rechtliche Verbindlichkeit zukommen zu lassen oder sie gar im Primärrecht zu verankern. Schon damals wäre es allerdings eine Unterschätzung gewesen, wenn man die Grundrechte-Charta wegen ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit als für die Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes weitgehend irrelevant angesehen hätte.82 Die Charta enthält die modernste Systematisierung der Grundrechte und kann gerade wegen der Zusammensetzung des Konvents und des dort weitgehend verfolgten Konsensprinzips als repräsentativer Ausdruck des gegenwärtigen Grundrechtsstandards in der Union angesehen werden. Ihre systematisierende Wirkung zeigte sich schnell daran, dass die Generalanwälte beim Europäischen Gerichtshof in ihren Stellungnahmen zu Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof die Charta umgehend heranzogen, um ein mit den damaligen Rechtserkenntnisquellen des europäischen Grundrechtsschutzes gewonnenes Ergebnis zu bestätigen. Im Januar 2002 hat dann auch erstmals das damalige Europäische Gericht erster Instanz die Charta in dieser Weise zur Bestätigung der von ihm aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ermittelten Unionsgrundrechte herangezogen.83 Der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnete Vertrag über eine Verfassung für Europa hätte in seinem Teil II die verbindliche Geltung der Grundrechte-Charta vorgesehen. Zumindest insoweit war sein Scheitern allerdings folgenlos, denn der Vertrag von Lissabon erhebt in Art 6 I 1 EUV die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung84 ebenfalls in den Rang des Primärrechts. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass sich Polen und das Vereinigte Königreich durch ein Protokoll gegenüber einer Ausweitung der Befugnisse des EuGH oder ihrer eigenen nationalen Gerichte verwahren. Auch sollen durch die Charta keine für diese beiden Staaten geltenden subjektiven Rechte

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ABl 1994 Nr C 61/155. Vgl Leinen/Schönlau integration 24 (2001), 26. Bernsdorff NdsVBl 2001, 177, 178. Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, 657, 666 ff. EuG, Slg 2002, II-313, Rn 48 – max.mobil. ABl 2007 Nr C 303/1.

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geschaffen werden, die nicht schon im nationalen Recht bestehen.85 Dieses Protokoll vermag allerdings nur die Wirkung der Charta im innerstaatlichen Recht dieser beiden Staaten zu begrenzen. Demgegenüber bleibt die Bindung an die Unionsgrundrechte im Übrigen unangetastet. Diesen Befund unterstreicht Art 6 III EUV, der bestimmt, dass die Unionsgrundrechte weiterhin als „allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“ bleiben.

4. Der Geltungsbereich der Unionsgrundrechte Ihrem historischen Kontext entsprechend konnte man die Unionsgrundrechte zunächst als ein Mittel verstehen, mit dem die Bindung der Unionsorgane an grundrechtliche Schutzstandards gewährleistet werden sollte. Art 6 I EUV bringt mit der Formulierung „die Union erkennt die Grundrechte …“86 die Bindung der Union deutlich zum Ausdruck. Allerdings konnte angesichts der durch den supranationalen Charakter des Unionsrechts bewirkten engen Verzahnung von Unionsrecht und nationalem Recht die Frage nach dem genauen Umfang der Bindungswirkung von Unionsgrundrechten, insbesondere die nach einer Erstreckung ihrer Bindungswirkung auf die Mitgliedstaaten, nicht ausbleiben.87 Vor dem Inkrafttreten der Grundrechte-Charta hat der Gerichtshof in zwei Fallgruppen eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte anerkannt: 1) beim Vollzug von unmittelbar anwendbarem Unionsrecht durch Behörden der Mitgliedstaaten und 2) bei zulässigen Einschränkungen der durch das Unionsrecht gewährleisteten Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten.88 Die Frage ist nun ausdrücklich in Art 51 GRCh geregelt, der eine Bindung der Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ annimmt. Der EuGH hat allerdings in der umstrittenen Entscheidung Åkerberg Fransson entschieden, dass die Mitgliedstaaten immer dann Unionsrecht im Sinne dieser Vorschrift „durchführen“, wenn eine mitgliedstaatliche Regelung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.89 Damit ist ein sehr weiter Anwendungsbereich für die Geltung der Unionsgrundrechte gegenüber mitgliedstaatlichen Maßnahmen eröffnet.90 Daneben gibt es im Bereich der auswärtigen Beziehungen der Union Elemente einer Grundrechtspolitik. Die Union hat in den Assoziierungsabkommen, die sie mit verschiedenen Staaten geschlossen hat, in zunehmendem Maße Grundrechtsklauseln aufgenommen, mit denen die Fortdauer der Zusammenarbeit von der Einhaltung bestimmter grundrechtlicher Mindeststandards abhängig gemacht wird.91 Über diesen sehr begrenzten Bereich hinaus gibt es bislang aber keine eigene Grundrechtspolitik der Union.92

85 Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, ABl 2007 Nr C 306/156; s a die Erklärungen Nr 60 und 61 Polens, ABl 2007 Nr C 306/270. 86 Hervorhebung des Verf. 87 Dazu Ruffert EuGRZ 1995, 518 ff; → § 14 Rn 61 ff. 88 EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf; Slg 1991, I-2925, Rn 42 f – ERT; ausf dazu Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 7 ff; s auch Streinz, ER, Rn 751. 89 EuGH, NJW 2013, 1415, Rn 19 ff – Åklagare = JK 2013, GrCh Art 51/1. 90 Krit hierzu Kingreen EuR 2013, 446, 450; Ohler NVwZ 2013, 1433, 1438; Thym NVwZ 2013, 889, 893 f. 91 Ausf zu diesen Klauseln: Hoffmeister Menschenrechts- und Demokratieklauseln in den vertraglichen Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft, 1998; Simma/Aschenbrenner/Schulte in: Alston (Hrsg) The EU and Human Rights, 1999, 571 ff. 92 S dazu einerseits Alston/Weiler in: Alston (Fn 91) S 3 ff und andererseits v Bogdandy JZ 2001, 157 ff.

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Ein besonderes Problem für den Geltungsbereich der Unionsgrundrechte stellt sich im Bereich der Umsetzung von Sanktionen des Sicherheitsrats gegen Individuen. Im Zuge der Terrorismusbekämpfung und im Rahmen von Maßnahmen gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen hat der Sicherheitsrat seine Befugnisse aus Kapitel VII der UN-Charta in den letzten Jahren auch dazu genutzt, Maßnahmen gegen konkret benannte Privatpersonen und Organisationen zu ergreifen.93 Da sich die Union bei der Umsetzung auch solcher Maßnahmen für zuständig hält, stellt sich die Frage nach Rechtsschutzmöglichkeiten vor den europäischen Gerichten, wenn die Betroffenen sich gegen die Sanktionen wehren wollen. Hier hatte das EuG zunächst unter Hinweis auf den für die Mitgliedstaaten bindenden Charakter von Sicherheitsratsbeschlüssen die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte verneint und sich auf einen völkerrechtlichen Mindeststandard des ius cogens beschränkt.94 Der EuGH ist dieser Auffassung nun im Rechtsmittelverfahren zu Recht entgegengetreten und versteht den unionsrechtlichen Umsetzungsakt als uneingeschränkt der Bindung an die Unionsgrundrechte unterworfen.95

5. Die Diskussion um einen Beitritt zur EMRK 40

Trotz der aufgrund der Rechtsprechung des EuGH entstandenen Grundrechtsgarantien wurde der Zustand vielfach als unbefriedigend empfunden.96 Neben den Bestrebungen, einen eigenen Grundrechtskatalog für das Unionsrecht zu formulieren,97 gab es deshalb schon früh Absichten, einen förmlichen Beitritt der Union zur EMRK herbeizuführen. Für den Beitritt zur EMRK wurde geltend gemacht, dass hierdurch eine Verdopplung europäischer Grundrechtsstandards vermieden und eine einheitliche institutionelle Sicherung dieser Standards durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ermöglicht werde.98 Die Kommission hatte bereits 1979 in einem Memorandum den Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK erwogen.99 Das Parlament unterstützte ebenfalls die Beitrittsbestrebungen.100 Einem Beitritt standen allerdings mehrere Hindernisse entgegen. Auf der Seite der EMRK bestand das Problem, dass diese nur „für Mitglieder des Europarats“ zur Unterzeichnung aufliegt,101 die Satzung des Europarats aber ausschließlich den Beitritt von Staaten vorsieht.102 Das 14. ZP hat hier aber eine Änderung der 93 S zB SC Res 1267 v 15.10.1999; SC Res 1521 v 22.12.2003; SC Res 1540 v 28.04.2004. 94 EuG, Slg 2005, II-3533 Rn 272 u 277 – Yusuf; Slg 2005, II-3649, Rn 283 – Kadi. 95 EuGH, Slg 2008, I-6351, Rn 299 – Kadi = JK 2009, EGV Art 301/1. Vgl zur Problematik Kämmerer EuR, Beiheft 1, 2008, 65 ff; Ohler EuZW 2008, 630 ff; Sauer NJW 2008, 3685 ff; Schmalenbach, JZ 2009, 35 ff; diese Rspr wurde im Fall Kadi II bestätigt, s EuGH, EuGRZ 2013, 389, Rn 97 ff. 96 S statt anderer Kokott AöR 121 (1996), 599, 602; aus der gegenwärtigen Beitrittsperspektive die Entwicklung analysierend Tomuschat in: Leutheusser-Schnarrenberger (Hrsg) Vom Recht auf Menschenwürde, 2013, S 71 ff. 97 → Dazu bereits unter Rn 34. 98 S etwa Wildhaber Zeitschrift für schweizerisches Recht 2000, 123, 134. 99 EuGRZ 1979, 330 ff; dazu die Bemerkungen von Bieber EuGRZ 1979, 338 ff. 100 Entschließung v 27.04.1979, EuGRZ 1979, 257; s a die Entschließung v 18.01.1994 zum Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte, ABl 1994 Nr C 44/32. 101 Art 59 I 1 EMRK. 102 Art 4 S 1 Satzung des Europarats; Lösungsvorschläge für dieses Problem finden sich im Memorandum der Kommission EuGRZ 1979, 330, 337 (Ziff VII); s a Bernhardt in: FS Everling, 1995, S 103 ff; Krüger/Polakiewicz EuGRZ 2001, 92, 102.

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EMRK bewirkt, die nun ausdrücklich den Beitritt der Europäischen Union erlaubt. Für das Unionsrecht war fraglich, ob dieses einen Beitritt zu einem Menschenrechtsvertrag zulassen würde. In seinem auf Antrag des Rates erstatteten Gutachten 2/94 entschied der Europäische Gerichtshof, dass der Union die Zuständigkeit fehle, der EMRK förmlich beizutreten. Der Gerichtshof stützte diese Entscheidung maßgeblich darauf, dass der Union die Außenkompetenz zum Abschluss eines derartigen völkerrechtlichen Vertrages fehle.103 Die nach dieser Rechtsprechung für einen Beitritt erforderliche Änderung des primären Unionsrechts erfolgte zunächst weder in Amsterdam noch in Nizza. Die Mitgliedstaaten entschieden sich stattdessen dafür, mit der Europäischen Grundrechte-Charta einen eigenen Grundrechtskatalog für das Unionsrecht zu formulieren104. Diese Zurückhaltung gegenüber einem Beitritt der EU zur EMRK änderte sich aber im Rahmen der Beratungen über einen Vertrag für eine Verfassung für Europa. Nachdem in verschiedenen früheren Fassungen zunächst nur von der Möglichkeit eines Beitritts und später von einer politischen Absicht die Rede war („die Union strebt an“),105 sprach sich der am 29. Oktober 2004 in Rom unterschriebene Text jedenfalls in der deutschen und französischen Fassung für den Beitritt zur EMRK im Indikativ aus („die Union tritt bei“), während die englische Fassung einen Auftrag formulierte (the Union shall accede).106 Der Vertrag von Lissabon übernimmt diese Formulierungen. Während die deutsche Fassung wiederum den Indikativ verwendet, bleibt die englische Fassung bei ihrem zurückhaltenden „shall accede“ (Art 6 II EUV). Unabhängig von den sprachlichen Divergenzen wird man festhalten müssen, dass trotz der indikativischen Formulierung der Beitritt nicht automatisch mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wirksam werden konnte, weil das von der EMRK vorgesehene Beitrittsverfahren einzuhalten ist. Die deutliche politische Aussage zugunsten eines Beitritts ist aber in jedem Fall zu begrüßen; sie beseitigt außerdem jeden Zweifel an der Zuständigkeit der Union zu einem solchen Beitritt. Am 5. April wurde nach mehrjährigen Verhandlungen der Entwurf eines Beitrittsabkommens angenommen, das von einer Gruppe von 14 Mitgliedern des Europarats mit der Kommission ausgehandelt worden war.107 Neben institutionellen Fragen der Beteiligung der EU im Europarat,108 dem sie weiterhin nicht förmlich angehören wird, regelt das Abkommen vor allem einen sog. „Mitbeklagten-Mechanismus“, in dem die Union und ein Mitgliedstaat gleichberechtigt als Beklagtenpartei vor dem EGMR auftreten können. Hierdurch sollen potentielle Nachteile vermieden werden, die entstehen könnten, wenn die Verantwortlichkeit für eine behauptete EMRK-Verletzung zwischen Union und Mitgliedstaat unklar ist. Außerdem wird damit die Bindungswirkung auf beide Mitbeklagte erstreckt.109 Des Weiteren wird die Möglichkeit einer Vorlage an den EuGH eröffnet, wenn dieser während des nationalen Verfahrens nicht mit der Sache befasst war.110 Die

103 EuGH, Slg 1996, I-1759, Rn 34 – Gutachten 2/94. 104 Grabenwarter FS Steinberger, 2002, S 1129, 1148 ff. 105 Dazu im Einzelnen Grabenwarter EuGRZ 2004, 563, 569. 106 Art I-9 VVE. 107 Final Report to the CDDH, 47+1 (2013) 008, 5 April 2013; zu den Verhandlungen und ihrer Struktur näher Polakiewicz EuGRZ 2013, 472, 473 f; Streinz FS Klein, 2013, S 687, 690. 108 Dazu namentlich Polakiewicz EuGRZ 2013, 472, 479 ff. 109 Näher Streinz (Fn 107), S 695 f; Polakiewicz EuGRZ 2013, 472, 476 ff. 110 Näher Streinz (Fn 107), S 696 f; Polakiewicz EuGRZ 2013, 472, 478 f.

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Vereinbarkeit des Abkommensentwurfs mit dem Unionsrecht wird derzeit vom EuGH in einem Gutachtenverfahren nach Art 218 XI AEUV geprüft.111

IV. Die Grundfreiheiten des Unionsrechts 43

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Der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital kennzeichnet nach Art 26 II AEUV den von der Union errichteten Binnenmarkt. Die hierdurch gewährleisteten sog Markt- oder Grundfreiheiten gehören zu den wichtigsten Eckpfeilern des Unionsrechts. Der Begriff der „Grundfreiheit“ wird zwar in den Verträgen nicht ausdrücklich verwendet. Er hat sich aber in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur eingebürgert.112 Seit Beginn der 1980er Jahre wird er auch vom EuGH verwendet.113 Außerdem fand er Eingang in die nicht-deutschsprachige Literatur.114 Hiermit ist eine gewisse Begriffsverengung und -verschiebung gegenüber dem früheren Sprachgebrauch verbunden. Im Jahr 1950 bezeichnete die EMRK noch die durch sie gewährleisteten Menschenrechte auch als „Grundfreiheiten“. Ungeachtet grundrechtlicher Gehalte, insbesondere der durch den AEUV garantierten Personenverkehrsfreiheiten,115 liegt es auf der Hand, dass ein jeweils unterschiedliches Begriffsverständnis vorliegt. Die EMRK verwendet den Begriff der Grundfreiheit für die in einem Katalog garantierten Menschenrechte, das Unionsrecht bezeichnet damit die für die Herstellung des Binnenmarktes notwendigen wirtschaftlichen Freiheiten im grenzüberschreitenden Verkehr. Die Grundfreiheiten waren von Anfang an Bestandteil des EWG-Vertrages. Sie haben allerdings im Laufe der Zeit eine erhebliche Verdeutlichung und Konkretisierung durch die Rechtsprechung des EuGH erfahren. Sie entwickelten sich in dieser Rechtsprechung von zunächst auf Abbau von Benachteiligungen aufgrund der Staatsangehörigkeit gerichteten Diskriminierungsverboten zu weit reichenden Beschränkungsverboten, in denen schließlich auch dogmatisch die Konturen wirtschaftlicher Freiheitsrechte erkennbar werden. Hinzu kamen in den vergangenen Jahren auch ein Ausbau der Personenverkehrsfreiheiten und der Unionsbürgerschaft zu einem allgemeinen Freizügigkeitsrecht. Wichtige Meilensteine dieser Entwicklung sind: 1) die Anerkennung der Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte mit der Folge ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit in den internen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten; 2) der Ausbau des Schutzbereiches der Grundfreiheiten zu umfassenden Diskriminierungs- und Beschränkungsverboten; 3) die Ergänzung der Personenverkehrsfreiheiten um Gewährleistungen aus dem mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Freizügigkeitsrecht (Art 21 AEUV) und schließlich 4) die Verwendung von grundrechtsdogmatischen Argumentationsmustern in Form von „Drittwirkung“ und „Schutzpflichten“.

111 Gutachten 2/13, Abl 2013 Nr C 260/32. 112 Zum Begriff s Kingreen in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, 705 ff. 113 EuGH, Slg 1981, 2595, Rn 8 – Casati; s näher Pfeil Historische Vorbilder und Entwicklung des Rechtsbegriffs der „Vier Grundfreiheiten“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1998, S 4 ff. 114 Nachweise bei Pfeil (Fn 113) S 6 ff. 115 Classen in: Oppermann/Classen/Nettesheim, ER, § 22 Rn 1.

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1. Anerkennung als subjektiv-öffentliche Rechte Für die gesamte weitere Entwicklung des Unionsrechts von zentraler Bedeutung ist die Anerkennung der Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte in der Entscheidung van Gend&Loos aus dem Jahr 1963. Heute ist der Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit des primären Unionsrechts (→ vgl § 7 Rn 7) so selbstverständlich geworden, dass die damalige Position der niederländischen und der belgischen Regierung, über die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts entscheide das jeweilige nationale Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten, kaum noch nachvollziehbar erscheint. Vergleicht man die Haltung der beiden Regierungen mit der Entscheidung des EuGH, so zeigt sich, welchen erheblichen qualitativen Sprung die Unionsrechtsordnung mit der Anerkennung der Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte gegenüber sonstigen völkerrechtlichen Verträgen machte.116 Nach der Entscheidung des EuGH in dem Verfahren van Gend&Loos schafft die Gemeinschaft eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die einzelnen Bürger sind. Der Vertrag solle auch dem Einzelnen Rechte verleihen: „Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt.“117 Die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundfreiheiten (und anderer Bestimmungen, die solche „eindeutigen Verpflichtungen“ begründen) führte in den Folgejahren dazu, dass das Gemeinschafts- und später Unionsrecht die internen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in erheblichem Umfang beeinflusste. Die praktische Bedeutung dieser Rechtsprechung und ihre Wirkung auf die nationalen Rechtsordnungen zeigen sich daran, dass gerade die besonders umstrittenen Entscheidungen des EuGH nicht zu Fragen der Kompetenz der Union ergingen, sondern zur Bedeutung der Grundfreiheiten und zur unmittelbaren Anwendung des Unionsrechts.118

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2. Auslegung der Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote119 Zu dieser Entwicklung trug maßgeblich bei, dass der Gerichtshof die Grundfreiheiten nach und nach zu umfassenden Wirtschaftsfreiheiten ausbaute, die nicht nur offene und versteckte Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verbieten, sondern alle Maßnahmen untersagen, die zu einer Beschränkung des Waren- und Personenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten führen können. Nach dem Wortlaut im Vertragstext bestehen nicht unerhebliche Unterschiede im Schutzbereich der einzelnen Grundfreiheiten. Während die Warenverkehrsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs ausdrücklich Beschränkungen als unzulässig bezeichnen (vgl Art 34 u 56 I 1 AEUV), statuieren die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit zunächst einmal nur ein Verbot der Differenzierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art 45 II u 49 AEUV). Der EuGH hat allerdings im Laufe der Jahre alle Grundfreiheiten so ausgelegt, dass sie sowohl ein Diskriminierungs- als auch ein

116 Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 24. 117 EuGH, Slg 1963, 3, 12 – van Gend & Loos. 118 S etwa EuGH, Slg 1998, I-1931 ff – Kohll; Slg 1998, I-1831 ff – Decker; Slg 2000, I-69 ff – Kreil = JK 2000, EGV Art 141/2. 119 → dazu ausf § 7 Rn 21 ff.

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Beschränkungsverbot aufstellen. Insgesamt kann man sagen, dass sich die Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit als Schrittmacher für die Entwicklung bei den anderen Grundfreiheiten erwiesen hat. Das umfassende Beschränkungsverbot für die Warenverkehrsfreiheit formulierte der EuGH in dem Verfahren Dassonville. Nach der seither so genannten Dassonville-Formel sind unter Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen im Sinne von Art 34 AEUV alle Handelsregelungen der Mitgliedstaaten zu verstehen, die geeignet sind, „den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern.“120 Diese Formulierung macht deutlich, dass auch diskriminierungsfreie Beschränkungen des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten in den Anwendungsbereich von Art 34 AEUV fallen. In letzter Konsequenz hätte diese weite Auslegung des Beschränkungsverbots dazu geführt, dass im Prinzip jedes Produkt, das in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und/oder in den Verkehr gebracht wurde, uneingeschränkt in die anderen Mitgliedstaaten hätte eingeführt und dort vertrieben werden können.121 Aus dem Bestreben, eine so weitreichende Konsequenz zu vermeiden, erklärt sich die Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung, die zwingende Erfordernisse des Gesundheits- und Verbraucherschutzes sowie des Schutzes des Handelsverkehrs und der steuerlichen Kontrolle schon aus dem Tatbestand des Art 34 AEUV ausnimmt.122 Auch die Entscheidung in dem Verfahren Keck und Mithouard, mit der Beschränkungen von Verkaufsmodalitäten,123 also etwa Ladenöffnungszeiten124 oder eine Apothekenpflichtigkeit bestimmter Produkte125, gleichfalls schon aus dem Tatbestand des Art 34 AEUV ausgenommen wurden, verfolgt das Ziel, die Wirkungen der weiten Dassonville-Formel einzuschränken. Bei der Warenverkehrsfreiheit zeigt sich also eine zunächst den Tatbestand ausweitende, dann aber für bestimmte Fallgruppen wieder einschränkende Rechtsprechung. Vergleichbare Entwicklungen lassen sich für die anderen Grundfreiheiten nachweisen. Für die Dienstleistungsfreiheit, die schon nach dem Vertragstext kein bloßes Diskriminierungsverbot aufstellt, hat der EuGH dies bereits in seiner ersten Entscheidung zu erkennen gegeben.126 Die Entscheidung Alpine Investments deutet an, dass die einschränkende Auslegung durch die Keck-Entscheidung grundsätzlich auf die Dienstleistungsfreiheit übertragen werden kann.127 Auch die Niederlassungsfreiheit wurde in der Rechtsprechung des Gerichtshofs vom bloßen Diskriminierungsverbot zu einem Beschränkungsverbot ausgebaut.128 In der viel beachteten Bosman-Entscheidung hat der EuGH schließlich die genannten Grundsätze auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit angewandt. Dort hat er auch angedeutet, dass nicht nur der Grundgedanke des Beschränkungsverbots übertragen wer-

120 EuGH, Slg 1974, 837, Rn 5 – Dassonville. 121 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 37. 122 EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8 – Rewe-Zentral-AG (Cassis de Dijon). 123 EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 16 – Keck u Mithouard; fortentwickelt in EuGH, Slg 2009, I-568, Rn 33 ff – Kommission/Italien. 124 EuGH, Slg 1994, I-2355, Rn 12 f – Punta casa. 125 EuGH, Slg 2003, I-14887, Rn 72 – Deutscher Apothekerverband e.V. = JK 2004, EGV Art 28/4. 126 EuGH, Slg 1974, 1299, Rn 10 – van Binsbergen. 127 EuGH, Slg 1995, I-1141, Rn 33 ff – Alpine Investment. 128 Vgl die zusammenfassende Darstellung der Grundsätze in EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 37 ff – Gebhard, sowie die Beschreibung der Entwicklung der Rspr zur Niederlassungsfreiheit bei Bröhmer in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 23 ff; vgl aber auch dort Rn 32 f zur Kritik am Sprachgebrauch des Diskriminierungsbegriffs.

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den kann, sondern auch die einschränkende Auslegung nach der Keck-Formel.129 Insgesamt kann man in der Rechtsprechung der vergangenen Jahre somit eine Konvergenz zu einer gemeinsamen Dogmatik der Grundfreiheiten feststellen.130

3. Ergänzung der Personenverkehrsfreiheiten um Rechte aus der Unionsbürgerschaft Das Freizügigkeitsrecht aus Art 21 AEUV bildet die Rechtsgrundlage für ein allgemeines, von den ökonomischen Freiheiten unabhängiges Freizügigkeitsrecht.131 Die Bestimmung ist nach der neueren Rechtsprechung des EuGH jedenfalls in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot132 und nach nahezu einhelliger Auffassung in der Literatur unmittelbar anwendbar.133 In Kombination mit dem Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV wirkt sie zunehmend als Katalysator für eine umfassende sozialrechtliche Gleichstellung der Unionsbürger. Ein deutliches Beispiel für diese Entwicklung ist die Entscheidung in der Rechtssache D’Hoop: Einer Belgierin wurde in Belgien ein bestimmter sozialrechtlicher Anspruch (ein Überbrückungsgeld beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf) mit der Begründung verweigert, dass sie ihre höhere Schulausbildung nicht in Belgien, sondern in Frankreich abgeschlossen habe. Der EuGH sah darin eine nicht gerechtfertigte Benachteiligung aufgrund eines Gebrauchs des allgemeinen Freizügigkeitsrechts aus Art 18 EGV (jetzt Art 21 AEUV). Unabhängig davon, ob man diese Entwicklung eher negativ als „Einfallstor für einen fast grenzenlosen Anwendungsbereich des Art 12 EGV (jetzt Art 18 AEUV)“ versteht,134 oder in ihr eine zu begrüßende Stärkung der Rechte des Einzelnen sieht,135 macht sie das Freizügigkeitsrecht aus der Unionsbürgerschaft zu einem Auffanggrundrecht in allen Fällen, die mangels eines wirtschaftlichen Bezugs nicht unter die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder die Niederlassungsfreiheit fallen.

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4. Drittwirkung und Schutzpflichten: Grundrechtsdogmatik in der Argumentation des EuGH zu den Grundfreiheiten136 Mit der Bosman-Entscheidung hat der EuGH zugleich auch seine schon früher entwickelte Rechtsprechung bestätigt, nach der die Grundfreiheiten nicht nur staatliche Stellen in den Mitgliedstaaten binden, sondern auch Privatpersonen. Unklar blieb allerdings noch der Umfang dieser Drittwirkung. In den Entscheidungen Walrave 137 und Bosman wurde sie

129 EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 103 – Bosman; s deutlicher insoweit noch die Schlussanträge GA Lenz, ebd, Rn 206; s a die Erörterung des Problems und der verschiedenen vertretenen Positionen bei Ganten Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, S 124–129; Schulte-Westenberg Zur Bedeutung der ‚Keck‘-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Arbeitnehmerfreizügigkeit gem Art 39 EG, 2009. 130 Hilf/Pache NJW 1996, 1169, 1172; Kingreen (Fn 116) S 61 f; s a Classen EWS 1995, 97 ff. 131 Kadelbach in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, 611, 625 f. 132 EuGH, Slg 2001, I-6193, Rn 30 ff – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1; Slg 2002, I-6191, Rn 25 ff – D’Hoop; Slg 2002, I-7091, Rn 84 ff – Baumbast; Slg 2004, I-7573, Rn 31 ff – Trojani; vgl a die abweichende Meinung GA Geelhoed, EuGH, Slg 2004, I-7573, Rn 66 ff – Trojani. 133 Kadelbach in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, 611, 625; Streinz ER, Rn 981 ff; s a Scheuing EuR 2003, 744, 759 ff; krit zur Methodik des EuGH Hailbronner NJW 2004, 2185, 2186 ff. 134 Bode EuZW 2002, 637, 639. 135 So die Tendenz bei Borchardt NJW 2000, 2057, 2058. 136 → Dazu ausf § 7 Rn 54 ff. 137 EuGH, Slg 1974, 1405, Rn 17 ff – Walrave.

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§ 1 IV 4

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für die Dienstleistungsfreiheit und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gegenüber Sportverbänden und anderen Vereinigungen angenommen, die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit befugt sind. Aus diesem Grund wurde in der Literatur vielfach eine unmittelbare Drittwirkung nur dann angenommen, wenn die betreffenden Privatpersonen mit einer gewissen Regelungsbefugnis ausgestattet waren.138 Für die Warenverkehrsfreiheit lehnt der EuGH nach anfänglichen Unsicherheiten inzwischen generell in ständiger Rechtsprechung eine unmittelbare Drittwirkung ab.139 Im Sommer 2000 sprach der EuGH demgegenüber in dem Verfahren Angonese jedenfalls der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine unmittelbare Drittwirkung auch in Fällen zu, in denen es gerade an einer sozialen Machtausübung durch eine Vereinigung zur Wahrnehmung kollektiver Interessen fehlte.140 Es ist kaum anzunehmen, dass damit das letzte Wort in Sachen unmittelbarer Drittwirkung gesprochen ist.141 Die Entscheidung ist in der Literatur auf Kritik gestoßen.142 Außerdem betraf sie – anders als der Fall Bosman – eine Diskriminierungssituation und erlaubt deshalb nicht zwangsläufig Rückschlüsse darauf, wie in einem vergleichbaren Fall mit einer nicht diskriminierenden, sondern nur beschränkenden Maßnahme entschieden worden wäre. Schließlich bleibt das grundsätzliche Problem, eine Dogmatik zu entwickeln, mit der die Drittwirkungsproblematik für alle Grundfreiheiten gelöst werden kann. Hinzu kommt, dass mit der für die Warenverkehrsfreiheit entwickelten dogmatischen Figur der Schutzpflicht143 ein Instrument zur Verfügung steht, das ähnliche Ziele verfolgt.144 Als französische Bauern immer wieder gewaltsam den Import von Agrarprodukten aus Spanien und anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft verhinderten und die Kommission deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich einleitete, stand der EuGH vor einem der Drittwirkungsproblematik vergleichbaren Problem. Auch hier ging es darum, die Geltung der Grundfreiheiten gegenüber einer Beschränkung durch privates Handeln durchzusetzen. Anders als bei der Dienstleistungsfreiheit wählte der Gerichtshof aber nicht den Weg über eine unmittelbare Drittwirkung, sondern leitete aus der Warenverkehrsfreiheit eine staatliche Schutzpflicht ab, Behinderungen der Warenverkehrsfreiheit durch Private zu verhindern. Er entschied deshalb, dass Frankreich gegen seine Pflichten aus dem EG-Vertrag verstoßen habe, weil es gegenüber regelmäßig wiederkehrenden gewalttätigen Protesten untätig geblieben sei.145 Auf diesem Weg wird faktisch das gleiche Ergebnis erreicht: Die Geltung der Grundfreiheiten muss auch gegenüber Störungen durch Private durchgesetzt werden. Allerdings erfolgt dies nicht durch eine unmittelbare Anwendung der entsprechenden Vertragsbestimmungen gegen die störenden

138 Streinz/Leible EuZW 2000, 459 ff mwN. 139 Dazu im Einzelnen die ausf Analyse der Rspr bei Ganten (Fn 129) S 34–45; Jaensch Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, S 45–64; s a Streinz/Leible EuZW 2000, 459, 460. 140 EuGH, Slg 2000, I-4139, Rn 31, 36 – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1. 141 Kingreen in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, 705, 743 ff. 142 Streinz/Leible EuZW 2000, 459, 464 ff. 143 Vgl Schlussanträge GA Stix-Hackl, EuGH, Slg 2005, I-7287, Rn 48 – Coname = JK 2006, EGV Art 43/7. 144 S vergleichend zur dogmatischen Begründung von Schutzpflichten Jaeckel Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001, S 222 ff. 145 EuGH, Slg 1997, I-6959, Rn 30 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2; dazu Szczekalla DVBl 1998, 219 ff.

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Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten

§1 V

Privatpersonen, sondern nur mittelbar über die Ableitung einer Schutzpflicht des Staates, der dann gehalten ist, die Störung zu unterbinden. Schon an der Begrifflichkeit und den nunmehr in Rechtsprechung und Literatur verwendeten dogmatischen Figuren zeigt sich, in welchem Umfang die Grundfreiheiten inzwischen Anleihe bei den allgemeinen Grundrechtslehren nehmen: Schutzpflicht und mittelbare oder unmittelbare Drittwirkung sind Begriffe, die der Grundrechtsdogmatik entlehnt sind und deutlich machen, dass die Grundfreiheiten sich von der ursprünglich vor allem auf der Beseitigung von Diskriminierungen liegenden Akzentsetzung146 weit entfernt und sich durch die Rechtsprechung des EuGH inzwischen in echte wirtschaftliche Freiheitsrechte verwandelt haben.147

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V. Zusammenfassung: Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten in einem Europa mehrerer Ebenen Die beschriebenen Einzelentwicklungen im Recht der Europäischen Union und der EMRK entfalten Wechselwirkungen untereinander, finden aber nicht in einer einheitlichen europäischen Rechtsordnung, sondern auf unterschiedlichen Ebenen statt. Dies macht Verallgemeinerungen schwierig. Folgende Entwicklungslinien lassen sich aber zusammenfassend festhalten:

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1) Der nationale Grundrechtsschutz wurde seit 1945 um einen zunehmend sich intensivierenden internationalen Menschenrechtsschutz ergänzt. Spätestens mit der Ausgestaltung, die das Rechtsschutzsystem der EMRK durch das 11. ZP seit dem 01.11.1998 erlangt hat, nimmt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte quasi-verfassungsgerichtliche Funktionen des Grundrechtsschutzes in Europa wahr. 2) Für eine so intensiv in die nationalen Rechtsordnungen hineinreichende supra-nationale Rechtsordnung wie die des Unionsrechts hat sich ein eigener Grundrechtsschutz innerhalb der Organisation als unumgänglich erwiesen. Dieser wird durch die Rechtsprechung des EuGH gewährleistet. Bislang ist die Union zwar der EMRK nicht förmlich beigetreten, aber die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg sorgen für eine weitgehende Parallelität der Prüfungsmaßstäbe. Eine Identität des Schutzniveaus können sie freilich nicht bewirken. Diese dürfte mit dem bald bevorstehenden Beitritt der Union zur EMRK aber schließlich erreicht werden. 3) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bemüht sich in den vergangenen Jahren zunehmend darum, das Schutzniveau der EMRK nicht nur in den innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durchzusetzen, sondern er hält die Mitgliedstaaten dazu an, die Grundrechtsverbürgungen der EMRK auch dann sicherzustellen, wenn sie Aufgaben aus dem nationalen Bereich auf internationale Organisationen verlagern. 4) Die ursprünglich vor allem für den Abbau von Diskriminierungen im unionsinternen Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr entwickelten Grundfreiheiten des Unions-

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146 Vgl etwa die Beschreibung des Zwecks eines Verbots von Maßnahmen mit gleicher Wirkung in Art 28 EGV bei Ipsen EuGR, 588 f. 147 Gegen ein freiheitsrechtliches Verständnis und für einen materiellen Diskriminierungsbegriff argumentiert Kingreen (Fn 116) S 72 u 118 ff.

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rechts haben durch die Ausformung als Beschränkungsverbote in der Rechtsprechung des EuGH zunehmend den Charakter wirtschaftlicher Grundrechte gewonnen. Sie werden im Bereich der Personenfreiheiten durch das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art 21 AEUV ergänzt, das im Zusammenwirken mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Art 18 AEUV ein Auffanggrundrecht für diejenigen Fälle ist, in denen eine Anwendung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit am mangelnden wirtschaftlichen Bezug scheitert. 59

Eine wachsende Herausforderung liegt in der Organisation eines mehrebenenübergreifenden Grundrechtsschutzes, in den das Handeln internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen einbezogen wird und der zugleich das Verhältnis der beiden europäischen Gerichtshöfe EuGH und EGMR zueinander klärt.148

148 Vgl zu dieser Problematik Schmahl EuR, Beiheft 1, 2008, 7 ff; Dederer ZaöRV 66 (2006), 575 ff; Giegerich EuGRZ 2004, 758 ff.

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2. Teil: Die Europäische Menschenrechtskonvention §2 Allgemeine Lehren der EMRK Dirk Ehlers Leitentscheidungen: EGMR, NJW 1993, 718 ff – Niemietz = JK 93, EMRK Art 8/1; NVwZ 1999, 57 ff – Guerra = JK 99, EMRK Art 8/3; NJW 1999, 1173 ff – Waite u Kennedy = JK 99, EMRK Art 6/2; NJW 1999, 3107 ff – Matthews = JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2; NJW 2001, 3035 ff – Krenz; NVwZ 2003, 1489 – Refah Partisi ua; NJW 2004, 2647 ff – Caroline von Hannover = JK 2005, EMRK Art 8/4; NJW 2005, 2530 ff – von Maltzan = JK 2006, EMRK Art 1 1.ZP/2; NJW 2006, 197 ff – Bosphorus = JK 2006, EMRK Art 1/3; NJW 2006, 2389 ff – Sürmeli = JK 2007, EMRK Art 13/1; NJW 2010, 3145 – Magnus Gäfgen = JK 2009, EMRK Art 3/3; NVwZ 2011, 737 ff – Lautsi = JK 2011, EMRK Zusatzprotokoll Art 2/2; NJW 2010, 2495 ff – Sicherungsverwahrung = JK 2010, EMRK Art 5 I/2; BVerfGE 111, 307 ff – Geltung EMRK und Bindungswirkung = JK 2005, GG Art 20 III/39; BVerfGE 128, 326 ff – Sicherungsverwahrung. Schrifttum: Frowein/Peukert (Hrsg) Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl 2009; Grabenwarter/Pabel Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl 2012; Grabenwarter European Convention on Human Rights, 2014; Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg) EMRK/GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2013; Janis/Kay/Bradley European Human Rights Law, 3. Aufl 2008; Karl (Hrsg) Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 2012, Loseblatt; Kadelbach in: Ehlers/Schoch (Hrsg) Rechtsschutz im öffentlichen Recht, 2009, §§ 2, 5; Karpenstein/Mayer (Hrsg) EMRK, 2012; Meyer-Ladewig Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, 3. Aufl 2011; Mowbray Cases and Materials on the European Convention on Human Rights, 2. Aufl 2007; Papier/Merten (Hrsg) HGR, Bd VI/2, Europäische Grundrechte, Universelle Menschenrechte, 2009; Peters/Altwicker Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl 2012; Reid A Practitioner’s Guide to the European Convention on Human Rights, 3. Aufl 2008; Schilling Internationaler Menschenrechtsschutz, 2. Aufl 2010.

I. Stellung der EMRK im Gefüge des internationalen und nationalen Rechts Fall 1: (EGMR, NJW 2004, 2647 ff – Caroline von Hannover = JK 2005, EMRK Art 8/4) Die Bf (Caroline von Hannover) ist die Schwester des heutigen und die älteste Tochter des früheren Regierenden Fürsten von Monaco. Sie ist Vorsitzende verschiedener humanitärer und kultureller Stiftungen, übt jedoch keinerlei Amt im Fürstentum aus. Sie fühlt sich fortwährend von sog Paparazzi in ihrem Privatleben beobachtet und verfolgt und wendet sich gegen die Veröffentlichung von Fotos in der „Yellow-Press“ deutscher Zeitschriften. Ihre Klage vor deutschen Gerichten sowie eine VB hatten nur teilweise Erfolg.1 Die Bf wendet sich mit einer Individualbeschwerde an den EGMR und rügt eine Verletzung des von Art 8 EMRK garantierten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens.

Fall 2: (BVerfGE 111, 307 – Görgülü = JK 2005, GG Art 20 III/39) Der Bf hat sich als Vater eines nichtehelich geborenen, mittlerweile von einer anderen Familie adoptierten Sohnes vergeblich vor dem letztinstanzlich zuständigen deutschen OLG um eine

1 BGHZ 131, 332 ff; BVerfGE 101, 361 ff.

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Übertragung des Sorgerechts und die Einräumung eines Umgangsrechtes mit seinem Sohn bemüht. Auf seine Individualbeschwerde hin hat der EGMR festgestellt, dass die Sorgerechtsentscheidung und der Ausschluss des Umgangsrechts den Bf in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art 8 EMRK verletzen. Einen erneuten Antrag, ihm die elterliche Sorge zu übertragen und ein Umgangsrecht einzuräumen, hat das OLG letztinstanzlich mit der Begründung abgewiesen, dass der Urteilsspruch des EGMR nur die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt, nicht aber deren Gerichte bindet. Mit seiner dagegen vor dem BVerfG erhobenen VB rügt der Bf die Verletzung des Art 6 GG.

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Fall 3: (BVerfGE 128, 326) Die straffällig gewordenen Bf sind in Deutschland rechtskräftig zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Sie wenden sich nach erfolgloser Erschöpfung des Rechtswegs vor dem BVerfG dagegen, dass teilweise die zusätzlich angeordnete Sicherheitsverwahrung über die ursprünglich gesetzlich vorgesehene 10-Jahres-Frist hinaus verlängert, teilweise die Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet wurde.

1. Universeller und regionaler Menschenrechtsschutz 4

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Grund- oder (für alle geltende) Menschenrechte des Einzelnen gegenüber den Trägern hoheitlicher Gewalt werden heute auf universeller, regionaler und nationaler Ebene anerkannt. Letzteres wird jedenfalls in der westlichen Welt mittlerweile als selbstverständlich erachtet. Universell gesehen ist neben zahlreichen speziellen Konventionen (zB gegen Völkermord, Folter, Sklaverei, Rassendiskriminierung, Diskriminierung von Frauen und zur Wahrung der Rechte von Kindern)2 vor allem die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948 beschlossene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR)3 zu nennen, mit der die Menschrechtsentwicklung begonnen hat. Die AEMR enthält einen Katalog der wichtigsten bürgerlichen, sozialen und politischen Rechte wie das Recht auf Leben und Freiheit, das Verbot der Sklaverei und Folter, die Gleichheit vor dem Gesetz und den Anspruch auf Rechtsschutz. Zugleich erkennt sie die Schranken an, die das Gesetz ausschließlich zu dem Zweck vorsieht, um die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten der anderen zu gewährleisten und den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und der allgemeinen Wohlfahrt in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen (Art 29 Nr 2). Ob die nicht mittels einer völkerrechtlichen Rechtsquelle, sondern einer Resolution zur Geltung gebrachte Erklärung völkerrechtliche Bindungswirkungen erzeugt, ist umstritten.4 Die Frage dürfte zu verneinen sein. Jedenfalls trägt sie eher zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht bei. Außerdem nehmen zahlreiche Menschenrechtsgewährleistungen auf die AEMR Bezug. So wird sie auch in der Präambel der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) erwähnt, ohne damit in die EMRK inkorporiert zu werden. Die AEMR statuiert einen Mindeststandard der Menschenrechte, an dem der Menschenrechtsschutz in den Staaten und Regionen gemessen werden kann. Politisch wird die Einhaltung des Standards durch einen der Generalversammlung der Vereinten Nationen

2 Vgl die Übersicht bei Ipsen in: ders, VR, § 48 Rn 1 ff; Stein/v Buttlar VR, Rn 1017 ff. 3 Sart II Nr 15. 4 Vgl Kau in: Graf Vitzthum, VR, III Rn 235; Epping in: Ipsen, VR, § 7 Rn 10.

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zugeordneten (die vorherige Menschenrechtskommission ersetzenden) Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen überwacht.5 Der Menschenrechtsrat wird auf Beschwerden und speziellen Anlass hin tätig und überprüft regelmäßig die Erfüllung der eingegangenen Verpflichtungen auf dem Gebiet der Menschenrechte. Unterstützt wird er durch den UNHochkommissar für Menschenrechte. Auf universeller Ebene völkerrechtlich abgesichert wurde der Menschenrechtsschutz durch den in Deutschland 1976 in Kraft getretenen Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwirtR) vom 19.12.1966.6 Die Pakte gelten heute in rund 75 % der existierenden Staaten, darunter in allen Mitgliedstaaten des Europarates. Der IPbürgR wiederholt sinngemäß die liberalen Verbürgungen der AEMR, wobei die Gewährleistungen zumeist detaillierter geraten sind und nur teilweise einen Gesetzesvorbehalt kennen (vgl Art 9, 12). Es besteht aber keine Deckungsgleichheit. ZB enthält der IPbürgR im Gegensatz zur AEMR Bestimmungen über die Todesstrafe7, anders als Art 17 AEMR aber keine Garantie des Rechts auf Eigentum. Im Falle eines öffentlichen Notstands dürfen die Rechte teilweise suspendiert werden (Art 4). Neben Abwehrrechten verpflichtet der Pakt auch zu positiven Vorkehrungen (zB Art 2 II, 6 I 2). Im Gegensatz zum IPbürgR enthält der auf die Initiative der damaligen sozialistischen Staaten zurückgehende IPwirtR keine unmittelbar anwendbaren Rechtspflichten, wohl aber allgemeine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Versprechungen objektiv-rechtlicher Art. Zur Durchsetzung der in den Pakten garantierten Rechte dient zunächst ein periodisches und obligatorisches Berichtssystem der Vertragsstaaten (Art 40 IPbürgR; Art 16 IPwirtR). Die auf der Grundlage des IPbürgR erstatteten Berichte werden durch den aus gewählten unabhängigen Mitgliedern bestehenden Menschenrechtsausschuss (Art 28 IPbürgR), die Berichte iSd IPwirtR durch den aus unabhängigen Experten bestehenden Ausschuss für Wirtschaft und kulturelle Rechte, der als Hilfsorgan des Wirtschafts- und Sozialrates nach Art 68 der UN-Charta durch den Sicherheitsrat errichtet wurde, geprüft und ausgewertet.8 Sodann sieht der IPbürgR (nicht der IPwirtR) sowohl eine fakultative Staatenbeschwerde (Art 41) als auch eine fakultative Individualbeschwerde9 vor. In beiden Fällen findet eine Überprüfung in einem gerichtsähnlichen Verfahren durch den Menschenrechtsausschuss statt, der einen Bericht über den Sachverhalt abgibt (und nicht etwa Feststellungen über eine Vertragsverletzung trifft)10 oder auf eine Individualbeschwerde hin seine (die Vertragsstaaten nicht bindende, jedenfalls aber zu beachtende) Auffassung (nicht Entscheidung) mitteilt.11 Die Bundesrepublik Deutschland hat beide Beschwerdemöglichkeiten mit gewissen Vorbehalten anerkannt.12 Das Staatenbeschwerdeverfahren wird in der Praxis nicht in Anspruch genom-

5 GV-Resolution 60/251 v 3.4.2006; vgl dazu Schilling IMR, Rn 6; Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 2 Rn 6; Karrenstein Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, 2011. 6 Vgl BGBl II 1973, 1534, 1570 = Sart II Nr 20 und Nr 21. 7 Vgl Art 6 sowie das Zweite Fakultativprotokoll zu dem IPbürgR zur Abschaffung der Todesstrafe vom 15.12.1989, BGBl II 1992, 391 = Sart II 20b. 8 Vgl Kau in: Graf Vitzthum, VR, III Rn 239. Näher zur Berichterstattung und deren Mängel Schilling IMR, Rn 747 ff. 9 Art 2 Fakultativprotokoll zum IPbürgR v 19.12.1966, BGBl II 1992, 1247 = Sart II Nr 20a. 10 Art 41 I IPbürgR. 11 Art 5 IV Fakultativprotokoll zum IPbürgR . 19.12.1966, BGBl II 1992, 1247 = Sart II Nr 20a, 12 BGBl II 1976, 1068; der Vorbehalt in Bezug auf die Individualbeschwerde ist im Sart II Nr 20a S 1, abgedruckt.

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men. Die Möglichkeit, Individualbeschwerde zu erheben, dürfte für Europäer ebenfalls nicht von großem Interesse sein, weil der Menschenrechtsausschuss zum einen nur tätig wird, wenn dieselbe Sache nicht bereits in einem anderen internationalen Streitbeilegungsverfahren geprüft und (regelmäßig) der innerstaatliche Rechtsschutz erschöpft wurde,13 die EMRK zum anderen einen ungleich effektiveren Rechtsschutz zur Verfügung stellt (Rn 83 ff). Bisher gab es 19 Individualbeschwerden gegen Deutschland. Davon war nur eine erfolgreich.14 Das heißt aber nicht, dass die Menschenrechtspakte in Europa vernachlässigt werden können. Sie wirken in mancherlei Hinsicht auf die EMRK ein. So garantiert der IPbürgR Rechte, die in der EMRK selbst nicht enthalten sind, sondern erst im 7. Zusatzprotokoll (ZP) zur EMRK garantiert wurden, um den Menschenrechtsschutz der EMRK auf den Stand des IPbürgR zu bringen.15 Zwar kein genuin menschenrechtliches Instrument, aber eine gewisse Absicherung menschenrechtlicher Standards in den Vertragsstaaten gewährleistet des Weiteren die individuelle strafrechtliche Sanktionsmöglichkeit bei Verbrechen des Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und (noch nicht in Kraft getreten) Verbrechen der Aggression durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH).16 Regionale Menschenrechtsverbürgungen gibt es zB in Gestalt der Amerikanischen Menschenrechtskonvention, der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker und der Arabischen Charta der Menschenrechte.17 Vor allem aber ist auf die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4.11. 195018 zu verweisen, welche die älteste regionale Menschenrechtskonvention neuzeitiger Art darstellt und zusammen mit der OSZE (→ § 1 Rn 2) und dem Recht der Euopäischen Union einen Mindestgrundrechtsstandard in Europa gewährleisten will. Bei der EMRK handelt es sich um einen multilateralen völkerrechtlichen Vertrag, der erstmalig nicht nur die Beziehung zwischen Staaten oder internationalen Organisationen und Staaten, sondern zwischen Staaten und Individuen zum Gegenstand hat. Die Individuen sind nicht nur Objekt, sondern Subjekt der Regelungen und können mittels Erhebung einer Individualbeschwerde ihre Rechte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) durchsetzen. Dies läuft auf die Anerkennung einer partiellen Völkerrechtssubjektivität von Individuen hinaus.

2. Grundlagen und Wirkungsweise der EMRK 8

Die EMRK ist vom Europarat19 verabschiedet worden. Dieser stellt eine von den europäischen Staaten im Jahre 1949 gebildete völkerrechtliche Organisation zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, sowie zur Förderung des wirt-

13 Art 5 II Fakultativprotokoll zum IPbürgR. 14 Näher zur Zulässigkeit und zur Begründetheit einer Beschwerde zum Menschenrechtsausschuss sowie zu dem Individualbeschwerdeverfahren vor dem Menschenrechtsausschuss Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 2 Rn 19 ff. 15 Vgl zB einerseits Art 14 V, VI, VII, 23 IV IPbürgR, andererseits Art 2 I, 3, 4, 5 7. ZP EMRK. 16 BGBl II 2000, 1294 = Sart II Nr 35; vgl auch das Internationale Tribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und das Internationale Tribunal für Ruanda (ICTR). 17 Vgl den Überblick bei Ipsen in: ders, VR, § 49 Rn 16 ff; v Arnauld VR, Rn 753 ff; ferner Wittinger JURA 1999, 405 ff. 18 BGBl II 1952, 685 = Sart II Nr 130. 19 Vgl BGBl II 1964, 1262 = Sart II Nr 115.

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schaftlichen und sozialen Fortschritts dar.20 Im Jahre 1950 ist die Bundesrepublik Deutschland assoziiertes Mitglied, 1951 Vollmitglied des Europarates geworden. Bis Anfang des Jahres 2009 sind 47 Staaten Europas (einschließlich aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie so großer, aber am Rande von Europa liegender Staaten wie der Russischen Föderation und der Türkei) dieser Organisation beigetreten. In Wahrnehmung seines Förderauftrags hat der Europarat annähernd 200 Konventionen oder Übereinkommen verabschiedet. So wurde zB im Jahre 1961 als sozialrechtliches Pendant zur EMRK die bisher nicht von allen Mitgliedstaaten des Europarates in Kraft gesetzte Europäische Sozialcharta erlassen.21 Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, zehn der neunzehn rechtsgewährenden Artikel oder 45 Absätze der Sozialchartabestimmungen als bindend anzunehmen (Art 20) und Berichte über die angenommenen Bestimmungen zu verfassen (Art 21), die von einem Sachverständigenausschuss überprüft werden (Art 24 f). Weitaus die größte Bedeutung von allen Abkommen des Europarates kommt jedoch der EMRK zu. Schon nach Art 3 der Satzung des Europarates muss jedes Mitglied den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts sowie den Grundsatz anerkennen, dass jeder, welcher der Hoheitsgewalt eines Mitgliedstaates unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll. Um diese Grundsätze zu bekräftigen und mit Leben zu erfüllen, ist die stark von der AEMR beeinflusste EMRK am 4.11.1950 in Rom unterzeichnet worden. Nach Ratifizierung durch zehn Staaten (darunter die Bundesrepublik Deutschland) ist die Konvention am 3.9.1953 in Kraft getreten.22 Maßgebend ist allein die englische und französische Sprachfassung.23 Die Bedeutung der Bindung an die Europäische Menschenrechtskonvention kann besonders in Staaten, die keine rechtsstaatliche Vergangenheit haben, nicht hoch genug veranschlagt werden.24 Die Konvention enthält 14 Gewährleistungen (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte, Recht auf Leben, Verbot der Folter, Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit, Recht auf Freiheit und Sicherheit, Recht auf ein faires Verfahren, keine Strafe ohne Gesetz, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Recht auf Eheschließung, Recht auf wirksame Beschwerde, Diskriminierungsverbot) sowie Begrenzungsregelungen und Rechtsschutzbestimmungen. Die Konvention ist bis heute durch vierzehn Zusatzprotokolle ergänzt oder revidiert worden.25 Die Zusatzprotokolle verpflichten nur die Staaten, die sie ratifiziert haben. Da teilweise die EMRK geändert, teilweise frühere Protokolle durch spätere ersetzt wurden, sind eine Reihe von Zusatzpotokollen gegenstandslos geworden. Das 1. ZP EMRK schützt das Eigentum, das Recht auf Bildung und das Recht auf freie und geheime Wahlen. Das 4. ZP EMRK betrifft vor allem die Freizügigkeit von In- und Ausländern sowie Ausweisungsverbote. Das 6. ZP EMRK regelt die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten. Das 13. ZP EMRK dehnt dieses Verbot auch auf Kriegszeiten aus. Ergänzungen der Justiz- und Verfahrensgarantien trifft das 7. ZP EMRK. Im 12. ZP EMRK wird ein all20 21 22 23 24

Art 1 lit a der Satzung des Europarates, BGBl I 1950, 263 = Sart II Nr 110. Sart II Nr 115. Vgl BGBl II 1954, 14. Vgl die Schlusserklärung nach Art 59 IV EMRK. Von den im Januar 2013 beim EGMR anhängigen Verfahren stammten über 21 % aus der Russischen Föderation und über 13 % aus der Türkei – im Gegensatz zu 1,6 % aus Deutschland. 25 Vgl die Übersicht bei Mayer in: ders/Karpenstein, EMRK, Einleitung Rn 14. Abgedruckt sind die noch relevanten ZP in Sart II Nr 131 ff.

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gemeineres Diskriminierungsverbot garantiert, welches das Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK erheblich erweitert. Besondere Bedeutung kommt dem am 1.11.1998 in Kraft getretenen, die Protokolle 2, 3, 5, 8, 9 und 10 ersetzenden 11. ZP EMRK zu,26 weil es den Rechtsschutz vereinfacht und effektiviert hat (Rn 83). Seit diesem Zeitpunkt nehmen sich die Richter des Gerichtshofs hauptamtlich der eingehenden Beschwerden an (Rn 84). Da der Gerichtshof mittlerweile für mehr als 820 Millionen potentielle Beschwerdeführer von Island bis Wladiwostok zuständig ist, nimmt die Arbeitsbelastung kontinuierlich zu. Ende Januar 2013 waren über 126 850 pending applications und über 21 950 pre-judicial applications beim Gerichtshof anhängig – insgesamt also fast 150 000.27 Die meisten Verfahren (und Verurteilungen) betreffen – von kleineren Schwankungen abgesehen – seit Längerem die Russische Föderation und die Türkei. Jeden Tag sollen rund 1200 Schreiben beim Gericht ankommen. Die meisten dieser Schreiben erfüllen zwar nicht die Voraussetzung einer Beschwerde. Alle müssen aber abgearbeitet und beantwortet werden. Um dieser Arbeitslast besser gerecht werden zu können, ist durch das am 1. Juni 2010 in Kraft getretene 14. ZP EMRK das Kontrollsystem vereinfacht und effektiviert worden (Rn 83). Insbesondere in einfachen Fällen darf nunmehr ein Einzelrichter endgültige Entscheidungen treffen (Art 27 EMRK). Gleichzeitig hat das 14. ZP EMRK die Möglichkeit vorgesehen, dass die EU als Nicht-Staat der EMRK beitreten kann (Art 17 Nr 1, vgl Rn 21 f). Zwei weitere, den Rechtsschutz betreffende Protokolle28 (Nr 15 u 16) sind verabschiedet oder vorbereitet worden, aber noch nicht in Kraft getreten (Rn 84 f). Bei der Unterzeichnung der Konvention sind zT gem Art 57 EMRK Vorbehalte angemeldet worden (Rn 68). Auch wurden nicht alle Zusatzprotokolle von allen Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert. So ist das 7. und 12. Zusatzprotokoll bisher nicht von Deutschland ratifiziert worden. Daher variiert der Umfang der aus der EMRK resultierenden völkerrechtlichen Bindungen der Konventionsstaaten. Art 53 EMRK normiert, dass keine Bestimmung der EMRK als Minderung eines der Menschenrechte und Grundfreiheiten ausgelegt werden darf, die in nationalen Gesetzen oder in anderen internationalen Übereinkommen festgelegt sind (Günstigkeitsprinzip).29 Diese Vorschrift belässt den Konventionsstaaten somit einen Spielraum, ein höheres Schutzniveau als nach der EMRK zu garantieren. Allerdings ist dieser Spielraum stets beschränkt, wenn in das Staat-BürgerVerhältnis ein Dritter mit kollidierenden, durch die EMRK geschützten Grundrechtsansprüchen eindringt. Dann lässt sich der weitreichendere Schutz eines nationalen Grundrechts nur durchhalten, wenn der Schutz eines kollidierenden Grundrechts dadurch nicht das durch die EMRK verbürgte Niveau unterschreitet. Dies führt in der Regel dazu, dass

26 BGBl II 1995, 579. 27 Vgl European Court of Human Rights, Statistics 1/1-31/1/2013. 28 Protocol No 15 amending the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, CETS No 213; da das 15. ZP die EMRK ändert, bedarf es zum Inkrafttreten der Ratifizierung durch sämtliche Hohe Vertragsparteien. 29 Spiegelbildliche Günstigkeitsprinzipien enthalten Art 53 GRCh (für das Verhältnis von Unionsgrundrechten zu den internationalen Gewährleistungen und den Verfassungen der Mitgliedstaaten) sowie Art 142 GG (für das Verhältnis von Bundes- und Landesgrundrechten). Verschiedene Normierungen des GG (zB betreffend das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften) gehen über die EMRK hinaus.

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der Grundrechtsschutz bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen an das Niveau der EMRK heranzuführen ist.30

3. Rang und Wirkungsweise der EMRK in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Die Konvention überlässt es den Konventionsstaaten, in welcher Weise sie ihrer Pflicht zur Beachtung der Vertragsvorschriften genügen.31 Die Stellung der EMRK im Recht der Konventionsstaaten ist sehr unterschiedlich.32 In Betracht kommt ein Überverfassungsrang33, Verfassungrang (zB Österreich34), Übergesetzesrang und Gesetzesrang. Von Übergesetzesrang lässt sich sprechen, wenn die EMRK über den einfachen Gesetzen, aber unter dem Verfassungsrecht steht. Dies ist in vielen Konventionsstaaten der Fall.35 Oftmals ist die Rangfrage aber nicht eindeutig geklärt.36 Im Vereinigten Königreich kam der EMRK früher nur völkerrechtliche Verbindlichkeit zu. Doch ist das EMRK-Recht durch den Human Rights Act 1998 in das Recht des Vereinigten Königreichs inkorporiert worden.37 Dadurch hat es Gesetzesrang erlangt. Behörden und Gerichte sind zu konventionskonformer Auslegung und Anwendung der erlassenen Gesetze verpflichtet.38 Im Falle einer Kollision sind die Gerichte wegen des im Vereinigten Königreich überaus bedeutsamen Verfassungsgrundsatzes der „Sovereignty of Parliament“ zwar nicht befugt, die entgegenstehenden Parlamentsgesetze (provisions of primary legislation im Gegensatz zu der subordinate legislation) für nichtig oder unanwendbar zu erklären. Dies gilt auch für frühere Parlamentsgesetze. Doch dürfen sie eine Unvereinbarkeit förmlich feststellen (declaration of incompatibility39), so dass Druck auf das Parlament ausgeübt wird, den Verstoß abzustellen. Die Konventionskonformität zu erlassender Parlamentsgesetze wird im Vereinigten Königreich im Gesetzgebungsverfahren in vorbildlicher Weise überprüft.40 30 Dies trat im Open Door-Fall zu Tage: Nach der irischen Verfassung genießt das ungeborene Leben einen weitreichenderen Schutz als nach der EMRK. Dieser weitreichendere Schutz hätte im konkreten Fall ein Absinken des Schutzes der Meinungsfreiheit einer Schwangerenberatungseinrichtung unter das Niveau der EMRK bedeutet, so dass der weitreichendere Schutz des ungeborenen Lebens iE zur Wahrung eines EMRK-konformen Schutzniveaus der Meinungsfreiheit zurücktreten musste; EGMR, Series A 246-A, Rn 61 ff – Open Door. Vgl dazu Grabenwarter VVDStRL 60 (2001) 290, 298 f. Näher zu den mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen BVerfGE 111, 307, 317; 128, 326, 371; Hoffmann-Riem EuGRZ 2006, 492 ff; Calliess in: Merten/Papier, HGR, Bd II, 2006, § 44 Rn 18 ff. 31 EGMR, EuGRZ 1976, 62 – Schwedischer Lokomotivführerverband; Series A 98 (1986) – James ua; Geiger GG/VR, § 72 VI 1. 32 Vgl Ress in: Maier (Hrsg) Europäischer Menschenrechtsschutz, 1982, S 260 ff; Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Einführung Rn 7; vgl hierzu Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 299 ff. 33 Vgl dazu Peters/Altwicker EMRK, § 1 Rn 6 (m Hinw auf die Niederlande, Rumänien, Slowakei und die Tschechische Republik). 34 Vgl Art II Nr 7 des BVerfG. Näher dazu Giegerich in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, II Rn 39. 35 Vgl die Einschätzung von Grabenwarter/Pabel EMRK, § 3 Rn 3. 36 Zu der nicht eindeutigen Rechtslage in der Schweiz vgl zB Giegerich in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, II Rn 44. 37 Abdruck zB in Janis/Kay/Bradley EMRK, 934 ff. 38 Vgl Section 2, 3. 39 Section 4. 40 Vgl Ress in: Karl (Hrsg) Internationale Gerichtshöfe und nationale Rechtsordnung, 2005, S 39, 65 ff; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 3 Rn 5; Janis/Kay/Bradley EMRK, S 864 ff.

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In Deutschland gelten die EMRK und ihre Zusatzprotokolle als einfaches Bundesgesetz,41 soweit der Bundesgesetzgeber jeweils durch förmliches Gesetz gem Art 59 II GG zugestimmt hat.42 Versuche, über Art 1 II, 24 I, 25 GG oder das Rechtsstaatsprinzip einen allgemeinen Verfassungs- oder Übergesetzesrang der EMRK zu begründen43, haben sich zu Recht nicht durchsetzen können. Allerdings können bestimmte Gewährleistungen der EMRK (wie zB das Verbot der Folter und der Sklaverei, Art 3, 4 I EMRK) zugleich allgemeine Regeln des Völkerrechts verkörpern.44 Gemäß Art 25 S 2 GG gehen solche Regeln den Gesetzen vor. Dies hat zur Folge, dass sich der Gesetzgeber nicht darüber hinwegsetzen darf. Entgegenstehendes Bundesrecht ist zwar nicht nichtig, muss aber außer Anwendung bleiben.45 Hat die EMRK grundsätzlich nur einfachen Gesetzesrang, dürfte der Bundesgesetzgeber an sich durch eine lex posterior von der EMRK abweichen. Jedoch gebietet die in den Art 23 ff, 59 II GG zum Ausdruck kommende Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes46, dass die Gesetze im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland ausgelegt und angewendet werden, selbst wenn sie später als ein völkerrechtlicher Vertrag erlassen worden sind. Es ist nämlich nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen wollte.47 Der Sache nach läuft dies auf eine objektiv-rechtliche Geltung der Konventionsrechte als Maßstab für die Auslegung und Gestaltung des einfachen Rechts hinaus, in ähnlicher Weise, wie dies aus der Lüth-Rspr des BVerfG48 zur Drittwirkung der Grundrechte bekannt ist.49 Noch nicht endgültig geklärt ist, wonach sich die Auslegung des EMRK-Rechts in Deutschland bestimmt. Dies richtet sich danach, in welcher Weise das Völkerrecht in die innerstaatliche Rechtsordnung übernommen wird. Im Wesentlichen werden dazu in Deutschland (und in allen anderen Ländern, die von einer dualistischen Struktur von Völkerrecht und nationalem Recht ausgehen) zwei Auffassungen vertreten. Während nach

41 Vgl BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 120; 111, 307, 317 = JK 2005, GG Art 20 III/39; 128, 326, 367; Uerpmann Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, S 72 ff; Hoffmann-Riem EuGRZ 2002, 473, 475; Kadelbach JURA 2005, 480, 484. 42 Eine Kompetenz des Bundes für die Zustimmung zur EMRK (Art 59 II GG) dürfte deshalb zu bejahen sein, weil sich die EMRK an die (Gesamt-) Staaten wendet und die Gewährleistungen in Deutschland die Grundrechte des Grundgesetzes ergänzen sollen. 43 Zum Rechtsstaatsprinzip vgl Giegerich in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, II Rn 4 ff. 44 Ebenso Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 306. 45 Zum bloßen Anwendungsvorrang vgl Streinz in: Sachs (Hrsg) Grundgesetz, 6. Aufl 2011, Art 25 Rn 93. 46 BVerfGE 111, 307, 317 ff = JK 2005, GG Art 20 III/39. 47 Erstmalig zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung BVerfGE 6, 309, 367; grundlegend BVerfGE 74, 358, 370; vgl ferner BVerfGE 128, 326, 365 mwN; näher zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung Schorkopf in: Diederich (Hrsg) Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren, 2010, S 131 ff; ferner [zur konventionskonformen Auslegung (mit weiteren Differenzierungen)] Uerpmann (Fn 41) S 48 ff. 48 BVerfGE 7, 198 ff; vgl auch BVerfGE 103, 89 (100). 49 Vgl auch EuGH, Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1, wonach ein innerstaatliches Verbot von Preisausschreiben in Zeitschriften nicht gegen die Freiheit des Warenverkehrs verstößt, weil das Verbot im Lichte des Art 10 EMRK ausgelegt werden müsse und diese Bestimmung zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt Eingriffe in die Freiheit der Meinungsäußerung zulässt.

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der Transformationslehre das Völkerrecht in innerstaatliches Recht umgewandelt wird (mit der Folge, dass sich die Interpretation nach innerstaatlichem Recht beurteilt), kommt es nach der Vollzugslehre durch den innerstaatlichen Vollzugsbefehl als solches im Inland zum Tragen (ohne in nationales Recht umgewandelt zu werden). Letzterer Ansicht ist zu folgen, da andernfalls das Völkerrecht je nach innerstaatlicher Rechtsordnung einen anderen Sinngehalt erhalten würde.50 Abgesehen von der unmittelbaren Einwirkung auf das Gesetzesrecht sind Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK nach der zutreffenden Ansicht des BVerfG auch bei der Auslegung des Grundgesetzes in Betracht zu ziehen, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt.51 Deshalb diene die Rspr des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.52 So hat das BVerfG zB seine Ansichten über die Verfassungsmäßigkeit einer nur von Männern erhobenen Feuerwehrabgabe oder die Verfassungsmäßigkeit der in Deutschland üblichen Sicherungsverwahrung nach entgegenstehenden Entscheidungen des EGMR53 revidiert.54 Mittelbar bekommt die EMRK auf diese Weise im innerstaatlichen Recht doch einen quasi verfassungsrechtlichen Rang. Eine Verfassungsbeschwerde (VB) vor dem BVerfG kann zwar nicht unmittelbar auf die Verletzung eines in der EMRK enthaltenen Menschenrechts, wohl aber auf das einschlägige Grundrecht des Grundgesetzes mit der Begründung gestützt werden, die staatlichen Organe hätten wegen der Missachtung der EMRK und der dazu ergangenen Entscheidungen des EGMR die Bedeutung dieses Grundrechts verkannt.55 Die Anknüpfung an das parallele nationale Grundrecht ist der früher favorisierten Möglichkeit vorzuziehen, die Beachtung der EGMR-Urteile über Art 2 I iVm Art 25 GG oder Art 3 I GG durchzusetzen.56 Sind im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet, trifft deutsche Gerichte nach der Rspr des BVerfG die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben.57 Dies dürfte dann auch für das BVerfG selbst gelten. Verfassungsgerichtlich nicht abgesichert sind die materiell-rechtliche Beachtlichkeit der EMRK und die Entscheidung des EGMR allerdings, 50 Vgl auch BVerfGE 46, 342, 363, 403 f; 75, 223, 244 f; 90, 286, 364; 104, 151, 209; ferner aber auch BVerfGE 111, 307, 316 („transformiert“) = JK 2005, GG Art 20 III/39. Näher zum Ganzen Schweitzer StR III, Rn 423, 441 ff; Geiger GG/VR, § 33 II 1, 3. Zu den Regeln der Konventionsinterpretation vgl Cremer in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, IV. 51 Zur Unzulässigkeit einer EGMR-konformen Grundrechtsauslegung zu Lasten des nationalen Grundrechtsstandards vgl (am Beispiel der Pirateriebekämpfung vor Somalia) Walter/vUngernSternberg DÖV 2012, 861, 865 f. 52 BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 317 = JK 2005, GG Art 20 III/39; 128, 326, 368; Voßkuhle NJW 2013, 1329 f. 53 Vgl EGMR, NVwZ 1995, 365 f – Karlheinz Schmidt = JK 95, EMRK Art 14/1; → § 3 Rn 66, 72. 54 Vgl zur Feuerwehrabgabe einerseits BVerfGE 13, 167 ff, andererseits BVerfGE 92, 91 ff. Das BVerfG hat sich zwar nicht ausdrücklich der Rspr des EGMR angeschlossen, kommt in Abweichung von einer früheren Entscheidung aber zu demselben Ergebnis. Zur Sicherungsverwahrung vgl Fall 3. 55 Vgl BVerfGE 111, 307, 317 = JK 2005, GG Art 20 III/39. 56 Klein JZ 2004, 1176, 1178. Näher dazu Frowein FS Zeidler, Bd II, 1987, S 1763, 1770 f; Dreier in: ders (Hrsg) Grundgesetz, Bd I, 2. Aufl 2004, Vorb Rn 29; Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 306 f. 57 BVerfGE 111, 307, 323 ff = JK 2005, GG Art 20 III/39.

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wenn entweder die EMRK über das Grundgesetz hinausgeht oder das Grundgesetz anderes gebietet. So geht das BVerwG davon aus, dass das Art 33 V GG entnommene Streikverbot auch für Beamte, die außerhalb der hoheitlichen Staatsverwaltung tätig werden, mit Art 11 EMRK unvereinbar ist, das verfassungsunmittelbare Streikverbot aber weiter gelte und der Bundesgesetzgeber dazu „berufen“ sei, die übergangsweise hinzunehmende Kollisionslage zwischen dem deutschen Verfassungsrecht und der EMRK durch eine konventionskonforme Fortentwicklung des Statusrechts der Beamten aufzulösen.58 Die Einwirkung der EMRK auf das nationale Verfassungsrecht ändert nichts daran, dass über die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes letztverbindlich das BVerfG entscheidet.

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Lösung Fall 1: Gegen die Zulässigkeit der Individualbeschwerde (Art 34, 35 EMRK) bestehen keine Bedenken. Begründet ist die Beschwerde, wenn die Entscheidungen der deutschen Gerichte die Bf in ihrem von Art 8 I EMRK garantierten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzen. Zum Begriff des Privatlebens gehören Elemente der Identität einer Person wie das Recht am eigenen Bild. Die von der Bf gerügte Veröffentlichung von Fotos in unterschiedlichen Alltagssituationen unterfällt dem Bereich des Privatlebens. In Auslegung der §§ 22, 33 KUG und zur Herstellung eines Ausgleichs zwischen dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit (Art 5 I 2 GG) und dem berechtigten Interesse der Bf am Schutz ihres Privatlebens (Art 2 I iVm 1 I GG) haben die deutschen Gerichte entschieden, dass die Bf als absolute Person der Zeitgeschichte auch außerhalb ihrer Wohnung den Schutz ihres Privatlebens genießt, vorausgesetzt, sie befinde sich in örtlicher Abgeschiedenheit. Ansonsten komme der Pressefreiheit und damit dem Recht auf Veröffentlichung der Fotos selbst dann stärkeres Gewicht zu, wenn es sich um Unterhaltungspresse handle. Diesem Ergebnis ist der EGMR nicht gefolgt. Für die Abwägung zwischen dem Schutz des Privatlebens und der Freiheit der Meinungsäußerung komme es entscheidend darauf an, ob die Fotoaufnahmen zur öffentlichen Diskussion über eine Frage allgemeinen Interesses beitragen. Da die umstrittenen Fotos die Bf bei Tätigkeiten rein privater Art zeigten, dienten sie nur dazu, die Neugier eines bestimmten Publikums zu befriedigen. Unter besonderen Umständen könne das Recht der Öffentlichkeit auf Information zwar auch Aspekte des Privatlebens von Personen des öffentlichen Lebens einbeziehen, doch handle es sich bei der Bf nicht um eine solche Person. Somit hat der EGMR eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens festgestellt und der Individualbeschwerde stattgegeben.59

Mittlerweile wird der EGMR nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe (auch der verfassungsrechtlichen60) immer häufiger angerufen. Zahlreiche Entscheidungen deutscher (und ausländischer) Fachgerichte hat der EGMR als Verstöße gegen die EMRK eingestuft.61 Auch von der Rspr des BVerfG ist der EGMR des Öfteren abgewi58 BVerwG v 27.02.2014, 2 C 1.13. 59 Vgl krit zu der Entscheidung des EGMR Heldrich NJW 2004, 2634 ff, zust Tettinger JZ 2004, 1144 ff. Zur späteren VB betreffend Caroline von Hannover vgl BVerfGE 120, 180 ff; Frenz NJW 2008, 3102 ff; Hoffmann-Riem NJW 2009, 20 ff; Klaas ZUM 2008, 432 ff. 60 Vgl am Beispiel des Religionsrechts etwa EGMR, ÖJZ 2001, 774 – Cha’are Shalom Ve Tsedek; NJW 2001, 2871 – Dahlab; EuGRZ 2010, 285 – K/Deutschland; NVwZ 2010, 177 – Leela Förderverein eV ua; EuGRZ 2010, 560 – Schüth; NVwZ 2011, 1503 – Wasmuth; NVwZ 2011, 737 ff – Lautsi = JK 2011, EMRK Zusatzprotokoll Art 2/2. 61 Vgl etwa Dreier (Fn 56) Vorb Rn 28.

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chen, wie die Fälle 1 bis 3 anschaulich zeigen). Doch sind solche Abweichungen aufs Ganze gesehen bisher selten. So ist zB die sog Mauerschützen-Rspr des BVerfG62 vom EGMR als konventionsgemäß erachtet worden.63 Auch hat die Große Kammer des EGMR die im Gegensatz zum BVerfG64 von einer Kammer vertretene Ansicht, die entschädigungslose Enteignung vererbten Bodenreformlandes aus der DDR-Zeit sei mit der Eigentumsgarantie des Art 1 1. ZP EMRK unvereinbar65, nicht aufrechterhalten.66 Verfahrensrechtlich ist auch das BVerfG an die sich aus Art 6 I 1 EMRK ergebenden Anforderungen (angemessene Frist) gebunden (vgl Rn 37), verstößt in der Praxis gleichwohl vielfach dagegen.67 Immerhin ist als Reaktion auf die Rspr des EGMR (Rn 37) eine Verzögerungsrüge in das BVerfGG (Art 97a ff) eingefügt worden. Lösung Fall 2: Die zulässige VB ist begründet, wenn der Beschluss des OLG den Bf in seinem Grundrecht aus Art 6 GG verletzt. Die elterliche Sorge und der Umgang mit dem eigenen Kind werden vom Schutzbereich des Art 6 I, III umfasst. Der die Übertragung der elterlichen Sorge sowie die Einräumung eines Umgangsrechts ablehnende Beschluss des OLG stellt einen Grundrechtseingriff dar. Der Rechtfertigung des Eingriffs könnte ein Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht aus Art 20 III GG entgegenstehen, weil das OLG das Urteil des EGMR nicht hinreichend berücksichtigt hat. Dies ist der Fall, wenn die Gewährleistungen der EMRK bei der Auslegung des nationalen Rechts zu berücksichtigen sind (1), die Entscheidung des EGMR Beachtung finden muss (2) und die Nichtbeachtung Auswirkungen auf die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs hat (3). 1. Die EMRK-Rechte gelten im Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Auch wenn die EMRK somit selbst kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist, beeinflusst sie wegen der – in Art 23–25 und 59 II GG zum Ausdruck kommenden – Völkerrechtsfreundlichkeit des GG als Auslegungshilfe auch die Auslegung der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze. 2. Die Entscheidungen des EGMR erwachsen gem Art 42, 44 EMRK in Rechtskraft. Aus dem Feststellungsurteil des EGMR folgt nicht nur, dass die Vertragspartei nicht mehr die Ansicht vertreten kann, ihr Handeln sei konventionsgemäß gewesen, sondern auch die Verpflichtung derselben, den ohne die Konventionsverletzung bestehenden Zustand wieder herzustellen bzw noch andauernde Verletzungen zu beenden.68 Innerstaatlich erstreckt sich diese Bindungswirkung gem Art 20 III, 59 II und 19 IV GG auf alle Träger der deutschen öffentlichen Gewalt. Auch die deutschen Gerichte sind damit über die Bindung an Gesetz und Recht und die verbindliche Auslegung der EMRK durch den EGMR zur Berücksichtigung der Entscheidungen des EGMR verpflichtet. Hierbei ist nach Ansicht des BVerfG allerdings zu berücksichtigen, dass die Wirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs nur auf die jeweilige res judicata bezogen ist, eine Berücksichtigung nur im Rahmen methodisch vertret-

62 BVerfGE 96, 130 ff. 63 Vgl EGMR, NJW 2001, 3035 ff – Streletz, Keßler u Krenz. Näher dazu Kadelbach JURA 2002, 329 ff. 64 BVerfG-K, WM 2001, 775 ff. 65 EGMR, NJW 2004, 923 ff – Jahn ua. 66 EGMR (GK), NJW 2005, 2907 ff – Jahn ua. Vgl auch NJW 2005, 2530 ff – von Maltzan ua. Zu beiden JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2. 67 Vgl das Beispiel EGMR, NVwZ 2010, 177 – Leela Förderverein eV ua = JK 2010, EMRK Art 6 I/3, wonach die Bundesrepublik Deutschland verurteilt wurde, weil das Verfahren vor dem BVerfG 11 Jahre und 3 Monate gedauert hat. 68 Vgl EGMR, EuGRZ 2004, 268, 275 – Assanidzé.

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barer Gesetzesauslegung erfolgen darf und sich bis zu einem erneuten nationalen Verfahren die Sach- und Rechtslage ändern kann. 3. Urteile nationaler Gerichte sind nach stRspr des BVerfG verfassungsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob sie willkürlich sind oder auf einer unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts oder anderer Verfassungsnormen beruhen. Das BVerfG ist jedoch dazu berufen, die fehlerhafte Anwendung völkerrechtlicher Bestimmungen durch deutsche Gerichte nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen. Aus Art 1 II GG (der dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten besonderen Schutz zuweist) und Art 59 II GG ergibt sich die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die EMRK in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen. Die Auffassung des OLG, durch das Urteil des EGMR nicht gebunden zu sein, hat damit Auswirkungen auf die Rechtfertigung des Eingriffs in Art 6 GG. Indem das Gericht sich aufgrund der Verkennung der Bindungswirkung nicht mit der Einwirkung des Art 8 EMRK in der Auslegung durch den EGMR auf Art 6 GG auseinandergesetzt hat, hat es den Gewährleistungsinhalt dieses Grundrechts übersehen bzw. unrichtig beurteilt. Daher hat das BVerfG den Beschluss des OLG aufgehoben und die Rechtssache zur erneuten Entscheidung an dieses zurückverwiesen.69

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Lösung Fall 3: Die VB haben Erfolg, wenn sie zulässig sind und Art 2 II 2 iVm Art 104 I 1, 20 III GG verletzen. Die Sicherungsverwahrung wurde auf der Grundlage gesetzlicher Vorschriften (des StGB) angeordnet. Das BVerfG hat diese Bestimmungen für verfassungskonform erachtet70, der EGMR aber später entschieden, dass die strafrechtlichen Bestimmungen konventionsrechtswidrig sind, weil sowohl die Verlängerung als auch die rückwirkende Anordnung der Sicherungsverwahrung eine zusätzliche Strafe darstellt, die nicht mit Art 5 I u 7 I EMRK vereinbar ist.71 Die Rechtskraft einer Vereinbarkeitserklärung im Tenor der Entscheidung des BVerfG stellt im Hinblick auf eine erneute Normkontrolle grundsätzlich ein Prozesshindernis dar72, das aber entfällt, wenn später rechtserhebliche Änderungen der Sach- und Rechtslage eintreten73. Entscheidungen des EGMR stehen einer rechtserheblichen Änderung gleich. Daher hat das BVerfG die Beschwerden für zulässig erachtet, sich nunmehr an der von seiner früheren Auffassung abweichenden Ansicht des EGMR orientiert und festgestellt, dass die deutschen Vorschriften zur Sicherungsverwahrung nicht mit dem GG vereinbar sind. Dementsprechend wurde den VB stattgegeben.74

4. Rang und Wirkungsweise der EMRK im Europäischen Unionsrecht 20

Schon vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon75 hat die EMRK das Europäische Unions- (Gemeinschafts-)Recht nachhaltig beeinflusst, weil die Union gem Art 6 II EUV aF die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des

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Vgl näher dazu Papier EuGRZ 2006, 1 ff; Ruffert EuGRZ 2007, 245 ff; Esser StV 2005, 348 ff. BVerfGE 109, 123. EGMR, NJW 2010, 2495 – M/Deutschland = JK 2010, EMRK Art 5 I/2. BVerfGE 69, 92, 102 f. BVerfGE 82, 198, 207 f. Vgl hierzu auch Volkmann JZ 2011, 835; Grabenwarter EuGRZ 2012, 507; Payandeh/Sauer JURA 2012, 289. 75 ABl EU Nr C 306/1.

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Gemeinschaftsrechts ergeben, zu achten hatte. Daraus ergab sich aber zugleich, dass die EMRK keine unmittelbare Bindungswirkung im Unionsrecht erzeugte. Zudem hat sie nur die Mitglieder des Europarats (Art 59 I EMRK) und damit nur Staaten, nicht aber die EU oder die Europäischen Gemeinschaften gebunden. Zum anderen ließ sich aus Art 6 II EUV aF eine einseitige strikte Bindung an die EMRK nicht entnehmen (weil sich eine solche nicht mit der Verpflichtung zur bloßen „Achtung“ der Menschenrechte sowie der gleichzeitigen Bindung an die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verträgt). Vielmehr stellte die EMRK (und die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten) nur eine bloße Rechtserkenntnisquelle dar (→ § 14 Rn 6 f).76 Nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon hat sich die Rechtslage zunächst nur insofern geändert, als die Union gem Art 6 I EUV die Rechte, Freiheiten und Grundsätze „anerkennt“, die in der GRCh niedergelegt sind, wobei der Charta und den Verträgen gleicher Rang zugemessen wurde. Nach Art 52 III 1 GRCh haben die in der Charta gewährten Rechte, die den in der EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite wie in der Konvention (→ § 14 Rn 30 ff, 91). Zudem darf gem Art 53 GRCh keine Bestimmung der Charta als Einschränkung oder Verletzung des durch die EMRK gewährleisteten Schutzniveaus ausgelegt werden (→ § 14 Rn 35, 54). Dies verstärkt die Einwirkungen der EMRK auf das Unionsrecht. Doch bleibt es bis zu dem nach Art 6 II EUV vorgesehenen Beitritt der EU zur EMRK dabei, dass die EMRK für das Unionsrecht nur eine Rechtserkenntnisquelle bildet. Zwar sind die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, gem Art 6 III EUV bereits heute als allgemeine Grundsätze „Teil des Unionsrechts“. Auch Grundsätze könnten eine (konkretisierungsbedürftige) Rechtsquelle darstellen. Doch gäbe der Beitritt zur EMRK dann keinen Sinn. Zum Bestandteil des Unionsrechts wird die EMRK somit erst mit Vollzug des Beitritts, zu dem die EU nach Art 6 II 1 EUV verpflichtet ist. Konventionsrechtlich stehen einem partiellen Beitritt der EU zur EMRK keine entscheidenden Hindernisse im Wege, nachdem Art 59 II EMRK auch den Beitritt der EU erlaubt. Unionsrechtlich hängt der Beitritt von den in Art 6 II 2 EUV und dem Prot Nr 8 zu Art 6 II EUV77 vorgesehenen inhaltlichen Voraussetzungen ab. Außerdem muss das in Art 218 AEUV (insbesondere VI UA 2 lit a ii, VIII UA 2 S 2) vorgesehene Verfahren eingehalten werden. Im Einzelnen besteht erheblicher Regelungsbedarf.78 So ist die EU den Konventionsstaaten gleichzustellen (auch im Hinblick auf die Wahl eines EU-Richters) und am Ministerkommittee (Art 54 EMRK) und den Kosten zu beteiligen. Vor allem aber sind Rechtsschutzfragen zu lösen (insbesondere die Beteiligung von EU und Mitgliedstaaten als „Co-respondent“ (Rn 117), Möglichkeit einer Vorabbefassung des EuGH, wenn es um die Vereinbarkeit einer unionsrechtlichen Bestimmung mit der EMRK geht, Ausschluss der Staatenbeschwerde zwischen den EU-Mitgliedstaaten gem Art 344 AEUV, vgl Rn 117). Der Europarat und die EU haben eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich im April 2013 auf den Entwurf für einen völkerrechtlichen Beitritt der EU zur EMRK geeinigt

76 Vgl Vorauflage → § 2 Rn 18; 14 Rn 8, 10. 77 Sart II Nr 147. 78 Näher dazu Uerpmann-Wittzack EuR 2012, Beiheft 2, 167 ff; Obwexer EuR 2012, 115 ff; Polakiewicz EuGRZ 2013, 472 ff.

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hat.79 Zunächst muss der EuGH den Vorschlag prüfen.80 Mit einem wirksamen Beitritt kann frühestens im Jahre 2015 gerechnet werden. Das Beitrittsübereinkommen stellt ein gemischtes (dh sowohl von der Zustimmung des Rates als auch der Mitgliedstaaten abhängiges) völkerrechtliches Übereinkommen im Rang zwischen Primär- und Sekundärrecht der EU dar, bindet also die Organe der Union und die Mitgliedstaaten unmittelbar als Rechtsquelle (Art 216 II AEUV). Da das primäre Unionsrecht einschließlich der Grundrechtecharta ebenso wie das nationale Verfassungsrecht (Rn 13) völkerrechtsfreundlich auszulegen ist (vgl auch Art 53 GRCh) und die EMRK nach der Mindestsicherungsklausel des Art 52 III GRCh für die Interpretation der GRCh der EU sowie nach Art 6 III EUV für die Gewinnung der als allgemeine Grundsätze geltenden Unionsgrundrechte heranzuziehen ist, kommt der EMRK ungeachtet des Umstandes, dass sie insoweit nur den Charakter einer Rechtserkenntnisquelle hat, ein quasi-primärrechtlicher Rang zu (näher dazu → § 14 Rn 32). Zudem nimmt die EMRK mit Beitritt der EU im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten am Anwendungsvorrang des Unionsrechts81 teil. Gleichzeitig wird der EGMR das oberste Grundrechtegericht in Europa auch im Hinblick auf den Unionsraum, weil eine Individualbeschwerde beim Gerichtshof auch gegen Handlungen oder Unterlassungen der EU oder der im Anwendungsbereich des Unionsrechts handelnden Mitgliedstaaten erhoben werden kann.82 Die Gewährleistung der EMRK und die Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. In jedem Fall muss der Mindeststandard der EMRK (Art 53 GRCh) beachtet werden (→ § 14 Rn 30).

II. Funktionen der Konventionsrechte 25

Bei Konventionsrechten handelt es sich um subjektive Rechte, dh um normative Verhaltensbindungen, die (auch) der Befriedigung von Individualinteressen dienen und den Geschützten die Rechtsmacht zur Durchsetzung ihrer Interessen auf dem Gerichtsweg einräumen. Inhaltlich werden grundrechtliche Gewährleistungen in Anlehnung an Georg Jellinek83 vielfach danach unterschieden, welchen Status (Zustand) des Einzelnen sie schützen. Der status negativus wird durch Abwehr- oder Freiheitsrechte (1), der status positivus durch Leistungsrechte (3), der status activus durch staatsbürgerliche Rechte (4) und der status activus processualis 84 durch sonstige Verfahrensrechte (5) ausgeformt und gesichert. Diesen verschiedenen Schutzrichtungen lassen sich auch die Garantien der EMRK zuordnen. Darüber hinaus bedürfen die Gleichheitsrechte (2) einer gesonderten Betrachtung. Ferner ist es notwendig, das Augenmerk auf die objektiv-rechtliche Bedeu79 Final report to the CDDH, 47+1(2013)008 v 10.06.2013. 80 Die Europäischen Kommission hat einen Antrag auf die Erstellung eines Gutachtens nach Art 218 XI AEUV gestellt, Gutachten 2/13, ABl EU 2013, C 260, 19. 81 Vgl EuGH, Slg 1964, 1253 ff – Costa/ENEL; Ehlers Der Vorrang der europäischen Unionsrechts, JURA 2011, 187 ff. 82 Vgl auch Obwexer EuR 2012, 115, 121. 83 Jellinek System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl 1919, S 87, 94 ff. Auf die Voraussetzungen und Schwächen der Statuslehre (vgl krit Cremer Freiheitsgrundrechte, 2003) kann hier nicht eingegangen werden. Trennt man nur zwischen staatlichen Eingriffen und Leistungen, müssen zB auch die Verfahrensrechte zu den Leistungsrechten gezählt werden. 84 Vgl zu dieser Begriffsbildung Häberle VVDStRL 30 (1971), 43, 80 f.

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tung der Konventionsrechte zu richten (6). Wegen der Gewährleistungsgehalte im Einzelnen wird auf die folgenden Paragraphen des Lehrbuchs verwiesen.85

1. Gewährleistung des status negativus (Abwehrrechte) Auch die EMRK schützt schwerpunktmäßig die Freiheit des Einzelnen vor dem Staat, indem sie dem Einzelnen eine bestimmte Freiheitssphäre garantiert und ihm einen Anspruch auf Unterlassung rechtswidriger Eingriffe des Staates sowie auf Beseitigung bereits vollzogener, aber noch rückgängig zu machender Eingriffe vermittelt. Inhaltlich geht es zunächst um den Schutz des Lebens86 (Art 2 EMRK; → § 3 Rn 48 ff) einschließlich des Verbots der Todesstrafe (Art 1u 2 6. ZP EMRK, Art 1 13. ZP EMRK; → § 3 Rn 56 f), der körperlichen Integrität (Art 3 EMRK; → § 3 Rn 38 ff) und Freiheit (Art 4 EMRK, Art 1, 3 u 4 4. ZP EMRK) sowie der Freizügigkeit (Art 2 4. ZP EMRK87). Garantiert werden ferner das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens88 (Art 8 EMRK; → § 3 Rn 3 ff), auf Erziehung durch die Eltern (Art 2 1. ZP EMRK89), auf Eheschließung (Art 12 EMRK; → § 3 Rn 11), auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit 90 (Art 9 EMRK; → § 3 Rn 31 ff), auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art 10 f EMRK; → § 4 Rn 59 ff, 75 ff) sowie auf Eigentum (Art 1 1. ZP EMRK; → § 5 Rn 3 ff, vgl auch bereits Rn 9). Damit werden die meisten Grundrechtspositionen, die das Grundgesetz garantiert, auch von der EMRK anerkannt, wobei der Sinngehalt im Einzelnen differiert. Allerdings fehlt zB, von den Teilelementen des Verbotes der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art 4 EMRK) abgesehen, ein Schutz der Berufsfreiheit sowie des Asylrechts.91 Indem der EGMR aber zB das Ergreifen eines Berufs und dessen Ausübung auch als Bestandteil des durch Art 8 EMRK geschützten Rechts auf Achtung des Privatlebens ansieht92 und kommerzielle Informationen als Schutzgut von Art 10 EMRK anerkennt,93 wird das Fehlen des Grundrechts der Berufsfreiheit teilweise kompensiert. Dagegen garantiert die EMRK dem Einzelnen keine allgemeine Handlungsfreiheit iSd Art 2 I GG.

85 Überblicksdarstellungen aus neuerer Zeit finden sich auch bei Grabenwarter/Pabel EMRK, §§ 20 ff, Peters/Altwicker EMRK, §§ 5 ff. 86 Aus dem Umstand, dass es in der Frage, wann das Leben beginnt und welche Rechtsstellung dem Embryo zukommt, keinen Konsens in den Konventionsstaaten gibt, hat der EGMR gefolgert, dass diesen diesbezüglich ein Beurteilungsspielraum zusteht (NJW 2005, 727 ff = JK 2005, EMRK Art 2 I 1/1 – Vo/Frankreich). Zum fehlenden Recht auf Sterbehilfe vgl EGMR, NJW 2002, 2851, Rn 39 ff – Pretty. Näher dazu Alleweldt in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, X Rn 11 ff, 90 f. 87 Anders als Art 11 GG (BVerfGE 6, 32, 35 f; 72, 200, 245) schützt Art 2 II 4. ZP EMRK auch das Recht auf Ausreise und Auswanderung. 88 Die Vorschrift wird vom EGMR sehr weit verstanden. Sie hat daher zT Auffangcharakter. 89 Die Vorschrift schließt die Freiheit der Gründung von Privatschulen ein. Vgl EGMR, EuGRZ 1976, 478, Rn 50 – Kjeldsen. 90 Zur Vereinbarkeit eines Kopftuchverbots für muslimische Lehrerinnen an staatlichen Schulen vgl EGMR, NJW 2001, 2871 ff – Dahlab = JK 2002, EMRK Art 9/1. 91 Das Erbrecht wird jedoch nach Auffassung des EGMR von Art 1 1. ZP EMRK geschützt, EGMR, EuGRZ 1979, 454 ff – Marckx; → § 5 Rn 19. 92 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 28. 93 Vgl EGMR, EuGRZ 1990, 261, 262 – Autronic AG; Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 12 f.

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2. Gewährleistung der Rechtsgleichheit 27

Gleichheitsrechte gewährleisten keinen bestimmten Status, sondern garantieren allgemein die Rechtsgleichheit zwecks Abwehr von Eingriffen, Teilhabe an gewährten Begünstigungen oder Einräumung von Verfahrensrechten und staatsbürgerlichen Rechten. Die EMRK als solche (dh unter Außerachtlassung des 12. ZP EMRK) enthält keinen allgemeinen Gleichheitssatz, sondern verbietet gemäß Art 14 EMRK – als lediglich akzessorisches Recht – nur Diskriminierungen (dh eine ungleiche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte) im Hinblick auf den Genuss der von der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten (→ § 3 Rn 66 ff).94 Zu den in der Konvention anerkannten Rechten und Freiheiten gehören auch die Zusatzprotokolle. Einen besonderen Gleichheitssatz garantiert Art 5 7. ZP EMRK, wonach Ehegatten untereinander und in ihren Beziehungen zu ihren Kindern gleiche Rechte und Pflichten privatrechtlicher Art hinsichtlich der Eheschließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe haben.95 Ein Bezug zur Konvention besteht, wenn ein Konventionsrecht thematisch einschlägig ist. Der EGMR legt hierbei einen äußerst großzügigen Maßstab zugrunde (nähert sich also dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art 1–12 ZP EMRK an). So verlangt er nicht zwingend, dass der Schutzbereich eröffnet ist oder gar ein Eingriff oder eine Verletzung vorliegt. ZB fällt der freiwillige Feuerwehrdienst gem Abs 4 lit d nicht in den Schutzbereich des Art 4 EMRK. Gleichwohl hat der EGMR geprüft, ob die Differenzierung zwischen Männern und Frauen mit der Vorschrift vereinbar ist.96 Art 14 EMRK zählt die Merkmale auf, nach denen eine Diskriminierung verboten ist. Doch ist die Aufzählung nicht abschließend.97 Diskriminierungen sind nach der Rspr des EGMR nicht schlechthin verboten, sondern nur dann, wenn sie sachlich nicht gerechtfertigt werden können.98 Ungleichbehandlungen müssen ein legitimes Ziel verfolgen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Die Kontrolldichte ist unterschiedlich ausgeprägt, weil der EGMR den Konventionsstaaten teilweise einen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation/marge d’appréciation) zugesteht (Rn 80, 120).99 Wegen der Akzessorität des Diskriminierungsverbotes gem Art 14 EMRK kommt es auf die Diskriminierung nicht an, wenn das Konventionsrecht schon aus anderen Gründen verletzt worden ist. Eine volle Wirkung entfaltet Art 14 EMRK erst, wenn die Verletzung gerade in der Diskriminierung besteht. So ist die Untersagung des Läutens von Kirchenglocken zu Ruhezeiten zwar durch Art 9 II EMRK gedeckt, darf sich aber gleichwohl nicht nur gegen bestimmte Religionsgemeinschaften richten.100 Wegen des weiten Katalogs von Konventionsrechten wird im Ergebnis doch eine Wirkung erzielt, welche der eines allgemeinen Gleichheitssatzes in vielen Fällen nahe kommt. Für ein nichtakzessorisches (generelles) Diskriminierungsverbot spricht sich Art 1 des 12. ZP EMRK aus (bei Aufzählung gleicher Verbotstatbestände). Nach Abs 1 der Vorschrift ist der Genuss eines jeden „auf Gesetz beruhenden Rechtes“ (right set forth by law/droits prévu par la loi) ohne Diskriminierung iSd Merkmale des Art 14 EMRK zu

94 Damit bleibt die EMRK zB gegenüber Art 7 AEMR oder Art 26 IPbürgR zurück. 95 Das 7. ZP EMRK ist in Deutschland, den Niederlanden, der Türkei und dem Vereinigten Königreich nicht in Kraft getreten. 96 EGMR, NVwZ 1995, 365, Rn 22 – Karlheinz Schmidt. 97 Vgl zur Diskriminierung von Behinderten zB EGMR, NJW 2002, 2851, Rn 87 ff – Pretty. 98 Grdl EGMR, EuGRZ 1975, 298 – Belgischer Sprachenfall. 99 Vgl Peters/Altwicker EMRK, § 3 Rn 18. 100 Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 14 Rn 4.

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gewährleisten. Absatz 2 ergänzt, dass niemand durch die öffentliche Gewalt wegen eines der in Abs 1 genannten Gründe diskriminiert werden darf. Erfasst werden damit alle Ungleichbehandlungen in den genannten Fällen schlechthin, dh auch bezüglich solcher Rechte, die nicht in der Konvention enthalten sind. Das 12. ZP EMRK ist zwar in Kraft getreten, wurde bisher (Mitte 2013) aber nur von 18 Staaten ratifiziert (nicht zB von den großen Staaten wie Deutschland, Frankreich, Russische Föderation, Türkei und Vereinigtes Königreich oder auch von Österreich und der Schweiz).

3. Gewährleistung des status positivus (Leistungsrechte) a) Originäre und derivative Teilhaberechte Leistungsrechte zielen auf staatliches Handeln ab (insbesondere um reale Freiheiten verwirklichen zu können). Sie lassen sich danach einteilen, ob sie auf originäre oder derivative Teilhabe gerichtet sind.101 Im zuerst genannten Fall geht es um das Ergreifen noch nicht vorhandener staatlicher Maßnahmen, im letzteren um den Zugang zu schon bestehenden staatlichen Einrichtungen oder Leistungen. Ein Leistungsrecht garantiert Art 3 7. ZP EMRK, wonach der Einzelne eine Entschädigung bei bestimmten Fehlurteilen beanspruchen kann. Im Übrigen finden sich in der EMRK keine Bestimmungen, die dem Einzelnen ausdrücklich ein originäres Teilhaberecht (zB auf sozialen Schutz102) einräumen. So werden weder das wirtschaftliche Existenzminimum noch ein Recht auf Arbeit garantiert. Auch ergibt sich aus der Verpflichtung zur Achtung der Wohnung (Art 8 I EMRK) kein Recht auf Wohnung.103 Ferner wird das in Art 2 des 1. ZP EMRK verankerte Recht auf Bildung dahingehend interpretiert, dass nur von den staatlicherseits bereits eingerichteten Ausbildungsgängen bei Vorliegen der Voraussetzungen Zugang zu den vorhandenen Einrichtungen verlangt werden kann. Dagegen soll auf seiner Grundlage nicht die Einrichtung neuer Ausbildungsgänge gefordert werden können.104 Jedoch wird man der Vorschrift entnehmen müssen, dass der Staat überhaupt ein allgemein zugängliches Schulsystem zu organisieren oder zur Verfügung zu stellen hat und der Einzelne dies beanspruchen kann. Ähnliches gilt für eine Reihe weiterer Gewährleistungen, weil diese auf normative, organisatorische oder verfahrensmäßige Ausgestaltung angelegt sind. ZB ist aus dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) ein Recht auf Akteneinsicht, auf Anhörung, auf Information über das Beweismaterial und auf Stellungnahme abgeleitet worden.105 Aus Art 10 I 2 Alt 2 EMRK, namentlich der passiven Informationsfreiheit („freedom to receive information“/„liberté de recevoir des informations“) und der ebenfalls in Art 10 I EMRK verorteten Pressefreiheit (→ § 4 Rn 17) hat der EGMR einen Anspruch auf Zugang zu Informationen für die Presse und solche Nichtregierungsorganisationen, die eine demokratische Kontrollfunktion („public/social

101 Vgl zu dieser Unterscheidung Martens VVDStRL 30 (1971), 7, 21 ff. 102 Vgl zu den sozialen Grundrechten Iliopoulos-Strangas (Hrsg) Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, 1. Aufl 2009. 103 Vgl EGMR, ECHR 2001-I, 41 Rn 98 f – Chapman. 104 Vgl Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 2 1. ZP Rn 2; Meyer-Ladewig EMRK, Art 2 1. ZP Rn 6; Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 1. ZP Rn 1. Hat der Staat in der Elementarstufe eine Schulausbildung in einer bestimmten Sprache zur Verfügung gestellt, muss er dies auch für die Sekundarstufe tun, vgl EGMR, RJD 2001-IV, Rn 277 – Zypern. 105 Vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 64 mit Rspr-Nachw.

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watchdog“/„chien de garde“) innehaben, gegenüber staatlichen Stellen hergeleitet.106 Der Anspruch setzt voraus, dass der Staat ein Informationsmonopol hat, sodass die Vorenthaltung der Information eine Zensurwirkung entfaltet. Dagegen ist nicht in jedem Fall erforderlich, dass die Informationen „bereit und verfügbar“ (ready and available) sind.107 Eine Informationsbeschaffungspflicht trifft den Staat jedoch nicht.108 Vielfach stehen die organisatorischen und verfahrensmäßigen Sicherungen in Zusammenhang mit den abwehrrechtlichen Garantien der Konventionsrechte (Rn 26), den Schutzpflichten (Rn 31), der staatsbürgerlichen Gewährleistung des Art 3 1. ZP EMRK (Rn 34) und den Verfahrensrechten (Rn 37). So wohnt allen staatsbürgerlichen Rechten und selbständigen Verfahrensrechten ein Leistungselement inne. ZB setzen die Rechte auf freie Wahlen, ein faires gerichtliches Verfahren oder eine wirksame Beschwerde die Einrichtung von Wahlen, Gerichten und Beschwerdeinstanzen voraus. Ebenso lässt sich ein Recht auf unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher (Art 6 III lit e EMRK) nur verwirklichen, wenn der Staat einen Dolmetscherdienst organisiert. Derivative Teilhaberechte können sich in erster Linie aus dem Diskriminierungsverbot ergeben (Rn 27), dem auch und gerade das Gebot gleicher Begünstigung innewohnt (wenn nach dem Konzept des Staates überhaupt eine Begünstigung gewährt werden soll). b) Anspruch auf Schutz

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Fall 4: (EGMR, NVwZ 1999, 57 ff – Guerra = JK 99, EMRK Art 8, 10, 50/3) Die Bf wohnen in der Nähe einer Chemiefabrik, in der es mehrfach zu Unfällen – bis hin zu schwerwiegenden Arsenvergiftungen – gekommen ist. Die örtlichen Behörden sind verpflichtet, die Bevölkerung über die Gefahren der Fabrik sowie die Sicherheitsvorkehrungen und das Vorgehen bei Unfällen zu informieren. Nachdem sich die Behörden mit Billigung der angerufenen nationalen Gerichte unter Hinweis auf die noch laufenden Untersuchungen geweigert haben, Informationen herauszugeben, möchten die Bf wissen, ob sich die Einlegung einer Individualbeschwerde beim EGMR empfiehlt. Abwandlung: (EGMR, NVwZ 2013, 415 – Di Sarno ua) Verschiede Bf aus der Provinz Neapel wenden sich vor dem EGMR unter Berufung auf Art 8 I EMRK dagegen, dass sie seit Monaten in einer Umwelt leben müssen, die durch aufgehäufte Abfälle auf öffentlichen Straßen belastet ist.

Wie das BVerfG109 und der EuGH (→ § 7 Rn 38; § 14 Rn 46) leitet auch der EGMR in ständiger Rspr aus den Freiheitsrechten (und anderen Konventionsrechten) unter bestimmten Voraussetzungen Ansprüche des Einzelnen auf staatlichen Schutz – insbeson-

106 EGMR v 14.4.2009, 37374/05, Rn 35 ff – Társaság a Szabadságjogokért (betreffend den Zugang zu Dokumenten über eine Verfassungsbeschwerde eines Parlamentspolitikers); v 25.6.2013, 48135/06, Rn 28 – Youth Initiative for Human Rights; v 28.11.2013, 39534/07, Rn 34 – Österreichische Vereinigung. 107 Vgl EGMR v 28.11.2013, 39534/07, Rn 44 ff – Österreichische Vereinigung unter explizitem Bezug auf die „ready and available“-Beschränkung aus EGMR v 14.4.2009, 37374/05, Rn 36 – Társaság a Szabadságjogokért. 108 EGMR, NVwZ 1999, 57 Rn 53 – Guerra ua. 109 Vgl Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher Grundrechte, Staatsrecht II, 29. Aufl 2013, Rn 101 ff.

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dere vor rechtswidrigen Eingriffen Privater in die geschützte Rechtssphäre – ab.110 ZB ist der Konventionsstaat nicht nur verpflichtet, Eingriffe in das Recht auf Leben (Art 2 EMRK) zu unterlassen, sondern wirksame strafrechtliche Vorschriften mit abschreckender Wirkung zu erlassen, für amtliche und wirksame Untersuchungen zu sorgen, wenn ein Mensch durch Gewaltanwendung zu Tode gekommen ist, und eine Strafverfolgung mit dem Ziel der Prävention, Unterdrückung und Bestrafung bei Verstößen gegen die strafrechtlichen Normen zu organisieren.111 Im Falle einer Infizierung mit einer tödlichen Krankheit kann auch eine angemessene zivilrechtliche Wiedergutmachung geboten sein.112 Das Verbot der Folter gebietet staatliche Maßnahmen, die auch sicherstellen müssen, dass die ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen nicht durch Privatpersonen gefoltert, unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden.113 Ferner verpflichtet Art 8 I EMRK den Staat nicht nur zu einer Achtung des Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz durch das Unterlassen rechtswidriger Eingriffe. Vielmehr muss der Staat diese Rechtsgüter positiv schützen.114 In vielen Entscheidungen entnimmt der EGMR auch der allgemeinen Pflicht der Konventionsstaaten zur Achtung der Menschenrechte positive Verpflichtungen (Art 1 EMRK).115 Die Schutzpflichten binden den Staat nicht nur objektiv-rechtlich, sondern korrespondieren mit einem subjektiven Recht der Betroffenen. Der Umfang der Schutzpflicht hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Insbesondere dürfen den Behörden keine unmöglichen oder unverhältnismäßigen Lasten auferlegt werden.116 Lösung Fall 4: Eine auf die EMRK gestützte Individualbeschwerde (Art 34 EMRK) ist begründet, wenn der Bf in einem durch die EMRK geschützten Recht verletzt ist. Hier kommt eine Verletzung des Rechts auf Leben (Art 2 EMRK), des Rechts auf Empfang von Informationen (Art 10 I 2 EMRK) und des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 I EMRK) in Betracht. Da die Bf keinen Anspruch auf Abwehr staatlichen Handelns, sondern auf positive Verpflichtung zur Information geltend machen, können die Vorschriften nur verletzt sein, wenn sich aus ihnen Leistungsrechte ableiten lassen. Dies dürfte hinsichtlich des Konventionsrechts auf Leben (Art 2 I EMRK) hier zu verneinen sein. Was das Recht angeht, Informationen zu empfangen (Art 10 I 2 EMRK), hat der EGMR im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Journalisten von einem Recht der Öffentlichkeit gesprochen, angemessen informiert zu werden117 (vgl zB EGMR, EuGRZ 1995, 16, Rn 59 – Observer). Ein Anspruch auf Informationserteilung durch den Staat soll aber nur Journalisten zustehen. Im Übrigen bleibe es bei dem Grundsatz, dass Art 10 EMRK ein Abwehr- und nicht ein Leistungsrecht gewährt. Dagegen verpflichtet Art 8 I EMRK nach stRspr des EGMR

110 Ausführlich dazu Szczekalla Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, S 712 ff; Streuer Die positiven Verpflichtungen des Staates, 2003, S 191 ff. 111 Vgl EGMR, RJD 1998-VIII, 3159, Rn 115 – Osman; v 18.07.2000, 25625/94, Rn 77 ff – Ekinci; NJW 2001, 3035, Rn 86 – Streletz, Keßler u Krenz. 112 EGMR, NJW 2010, 1865, Rn 29 f – Colak u Tsakiridis. 113 EGMR, ECHR 2001-V, Rn 73 – Z ua/Vereinigtes Königreich. 114 EGMR, NVwZ 2004, 1465 ff – Hatton; → § 3 Rn 26 f. Vgl ferner Wildhaber/Breitenmoser in: Karl, Int EMRK, Art 8 Rn 74 ff. 115 Vgl die Nachw bei Szczekalla (Fn 110) S 727. 116 EGMR, Rep 1998-VIII, 3159, Rn 116 – Osman. Vgl aber auch NVwZ 2004, 1465 ff – Hatton. 117 Vgl zB EGMR, EuGRZ 1995, 16, Rn 59 – Observer.

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den Staat nicht nur dazu, sich eines Eingriffs in das Privat- und Familienleben zu enthalten, sondern gebietet ihm auch positiv eine wirkungsvolle Respektierung des Privat- und Familienlebens. Da der EGMR annimmt, dass schwerwiegende Umweltverschmutzungen das Privat- und Familienleben beeinträchtigen, habe der Staat die Bf über die Risiken informieren müssen, die sie und ihre Familien dadurch eingingen, dass sie in einer im Falle eines Unfalls den Gefahren der Chemiefabrik in besonderer Weise ausgesetzten Ortschaft wohnen blieben. Der Hinweis auf die noch laufenden Untersuchungen verfange nicht, weil den Bf ein weiteres Zuwarten nicht zumutbar gewesen sei. Somit habe der Staat durch das Vorenthalten von Umweltinformationen die Garantie des Art 8 I EMRK verletzt.

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Lösung Abwandlung: In Betracht kommt eine Verletzung der sich aus Art 8 I EMRK ergebenden Schutzpflicht des Staates. Schwere Beeinträchtigungen der Umwelt können das Wohlbefinden von Personen belasten und die Nutzung ihrer Wohnung in einem Ausmaß beeinträchtigen, dass ihre in Art 8 EMRK garantierten Rechte verletzt sind. Dies hat der EGMR wegen der „anhaltenden Unfähigkeit“ der italienischen Behörden, eine normale Abfuhr, Verarbeitung und Beseitigung von Müll zu gewährleisten, angenommen.

4. Gewährleistung des status activus (staatsbürgerliche Rechte) 34

Auf die Ausformung staatsbürgerlicher Grundrechte hat die EMRK weitgehend verzichtet. Als einziges staatsbürgerliches Recht ist Art 3 1. ZP EMRK zu nennen, der die Vertragsparteien verpflichtet, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten. Durch die zu dieser Vorschrift ergangene Rspr des EGMR ist das aktive und passive Wahlrecht weiter ausgestaltet worden. So hat der Gerichtshof zB das Prinzip der Gleichheit der Staatsbürger aus Art 3 1. ZP EMRK abgeleitet, obwohl die Wahlrechtsgleichheit in dieser Bestimmung nicht genannt wird.118 Ein gleicher Erfolgswert der abgegebenen Stimmen wird nicht verlangt. Auch schreibt die EMRK kein bestimmtes Wahlsystem vor.

5. Gewährleistung des status activus processualis (Verfahrensrechte) 35

Fall 5: (EGMR, NJW 2006, 2389 ff – Sürmeli = JK 2007, EMRK Art 13/1) Der Bf hat auf dem Weg zur Schule in Deutschland einen Unfall erlitten. In der im Jahr 1989 vor dem LG erhobenen Klage verlangt er höheren Schadensersatz als von der Haftpflichtversicherung gezahlt. 1991 erging ein Grund- und Teilurteil, wonach dem Bf Ersatz in Höhe von 80 % des Schadens zusteht. Berufung und Revision wurden vom OLG und BGH zurückgewiesen. Seit dem Jahre 1994 wird der Rechtsstreit über die Höhe des Schadens vor dem LG weitergeführt. Eine VB des Bf hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen. Ebenso wurde ein Antrag auf Prozesskostenhilfe abgewiesen. Im Jahre 1999 hat sich der Bf an den EGMR gewandt. Er rügt, dass das Verfahren vor dem LG zu lange dauere und es im deutschen Recht keinen Rechtsbehelf gäbe. Eine Kammer hat die Beschwerde für zulässig erklärt (vgl Art 29 EMRK) und die Sache nach Art 30 EMRK an die Große Kammer abgegeben.

118 Vgl zB EGMR, Series A 113, Rn 54 – Mathieu-Mohin.

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Abwandung: (EGMR, NVwZ 2013, 47 – Taron = JK 2013, EMRK Art 35 I/1) Der Bf hat im Jahre 2007 Beschwerde beim EGMR wegen der überlangen Dauer eines von ihm in Deutschland eingeleiteten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens eingelegt. Am 7.12.2011 teilte die deutsche Regierung dem EGMR mit, dass in Umsetzung des Piloturteils Rumpf (Rn 37) das Gesetz über den Rechtsschutz vor überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (BGBl I 2011, 2302) in Kraft getreten sei, dass in Folge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens eine Entschädigung nach Verzögerungsrüge vorsieht (§ 198 GVG iVm § 173 S 2 VwGO). Daraufhin fragte der EGMR den Bf, ob er beabsichtige, innerhalb der gesetzlich festgelegt von dem neuen Rechtsbehelf (Verzögerungsrüge) Gebrauch zu machen. Der Bf lehnte dies als unzumutbar ab, wobei er darauf verwies, dass sein Fall nun schon vier Jahre beim EGMR anhängig sei.

Besonderes Gewicht wird auf die Gewährung von Verfahrensgarantien gelegt (→ § 6 Rn 36 ff). Die Anforderungen gehen zT erheblich über diejenigen des Grundgesetzes hinaus.119 Es zeigt sich erneut, dass andere Rechtsordnungen und Kodifikationen dem Verfahrensgedanken größere Bedeutung beimessen als das deutsche Recht.120 Im Einzelnen schützt Art 5 EMRK vor ungerechtfertigten Verhaftungen (→ § 6 Rn 3 ff),121 Art 6 EMRK enthält Garantien für die Gerichtsverfahren, Art 7 EMRK statuiert den Grundsatz „nulla poena sine lege“122, und Art 13 EMRK garantiert ein Recht auf wirksame Beschwerde. Ausgeweitet wurden diese Bestimmungen durch das 7. ZP zur EMRK, das ua verfahrensrechtliche Schutzvorschriften in Bezug auf die Ausweisung ausländischer Personen, die Garantie von Rechtsmitteln in Strafsachen oder die Beachtung des Grundsatzes „ne bis in idem“ vorschreibt.123 Daneben können ähnlich wie im deutschen Recht124 auch aus dem materiellen Konventionsrecht Verfahrensgarantien und Folgerungen für die Handhabung des nationalen Verfahrensrechts abgeleitet werden. ZB hat der EGMR aus Art 8 EMRK einen Anspruch auf ein angemessenes Verfahren zur Regulierung von Parkberechtigungen für Zigeunerwohnwagen hergeleitet.125 Insgesamt ist es dem Gerichtshof gelungen, einen gemeineuropäischen Standard des „fair trial“ zu etablieren, der fortlaufend weiterentwickelt wird.126 Der genaue Sinngehalt der Verfahrensgarantien erschließt sich oftmals erst nach Heranziehung der maßgeblichen englischen und französischen Sprachfassung. So garantiert Art 6 I 1 EMRK jeder Person bestimmte Verfahrensrechte „in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“. Bei Berücksichtigung der englischen und französischen Ausdrücke („civil rights and obligations“/„droits et obligations de caractère civil“) ergibt sich, dass die Vorschrift auch einen großen Teil der Streitigkeiten erfasst, die nach der deutschen Rechtsordnung in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit oder Verfassungsgerichtsbarkeit fallen. Hierzu zählen etwa die

119 Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 312. 120 Vgl zB Ehlers DVBl 2004, 1441, 1446, 1449 f. 121 Vgl dazu EGMR, NJW 1999, 775 ff – K-F = JK 99, EMRK Art 5 I/1. Das in Art 5 I EMRK mit garantierte Recht auf Sicherheit ist nur eine Ausprägung des Rechts auf Freiheit und garantiert kein Recht auf Leistung oder Schutz. Vgl Elberling in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 5 Rn 5. 122 Vgl dazu EGMR, NJW 2001, 3035 ff – Streletz, Keßler u Krenz; → § 6 Rn 61 ff. 123 Das 7. ZP zur EMRK ist von der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht ratifiziert worden. 124 Vgl Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl 1995, Rn 358 ff. 125 EGMR, RJD 1996-IV, 1271, Rn 76 – Buckley. 126 Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 312.

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beamtenrechtlichen Streitigkeiten mit Ausnahme solcher, welche die – eng zu verstehenden – allgemeinen Interessen des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften betreffen.127 Nichts anderes gilt für Streitigkeiten vermögensrechtlicher Art, zB in Bezug auf die Erteilung einer Baugenehmigung.128 Das in Art 6 EMRK garantierte Recht auf ein faires Verfahren hat sich als die Vorschrift erwiesen, deren Verletzung am häufigsten geltend gemacht und bisher auch am häufigsten festgestellt wurde.129 Dies gilt besonders für das Gebot, in angemessener Frist zu verhandeln.130 So hat der EGMR unter Berufung auf diese Klausel in mehreren Fällen sogar eine überlange Verfahrensdauer des BVerfG „beanstandet“.131 Entscheiden die Fachgerichte nicht in angemessener Zeit, entnimmt der Gerichtshof Art 13 EMRK die Notwendigkeit, eine innerstaatliche Beschwerdemöglichkeit vorzusehen.132 Ob sich die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG133 hierzu eignet, ist zweifelhaft.134 Die Große Kammer des EGMR hat strukturelle Defizite des geltenden deutschen Prozessrechts im Hinblick auf den Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer bemängelt135 und den deutschen Gesetzgeber „ermutigt“, eine Untätigkeitsbeschwerde in die Prozessordnungen aufzunehmen.136 Da der deutsche Gesetzgeber nicht reagiert und der EGMR mehr als 40 Urteile gegen Deutschland gefällt hat, in denen eine überlange Dauer von Gerichtsverfahren festgestellt wurde, ist die Bundesrepublik in dem ersten und bisher einzigen (für die deutsche Rechtskultur beschämenden) Pilotverfahren gegen Deutschland in der Entscheidung vom 2.9.2010137 verurteilt worden, nunmehr ohne Verzögerung, spätestens binnen eines Jahres, einen Rechtsbehelf oder mehrere gegen überlange Gerichtsverfahren zu schaffen. Daraufhin hat Deutschland das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren erlassen.138 Dieses sieht eine Entschädigung im Falle einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens nach Erhebung einer Verzögerungsrüge vor.139 Der EGMR geht bis auf weiteres davon aus, dass dies den Vorgaben seines Piloturteils gegen Deutschland genügt (Abwandlung Fall 5).

127 Vgl EGMR, NVwZ 2000, 661, Rn 60 ff – Pellegrin; NJW 2002, 3087, 3089 – Volkmer. Dazu Schmidt-Aßmann FS Schmitt-Glaeser, 2003, S 317, 328 f. 128 Vgl Peters/Altwicker EMRK, § 19 Rn 8 m Nachw. 129 Vgl auch Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 6 Rn 3. 130 Zur Frage, was angemessen ist, vgl → § 6 Rn 55 ff. 131 Vgl EGMR, NJW 1997, 2809 ff – Probstmeier; EuGRZ 1997, 310 ff – Pammel; EuGRZ 2003, 228, Rn 51 – Norbert Kind. 132 Vgl EGMR, NJW 2001, 2694 – Kudla. Dazu Meyer-Ladewig NJW 2001, 2679 f; Schmidt-Aßmann (Fn 127) S 331 ff; Gundel DVBl 2004, 17 ff. 133 Vgl zB BVerfG-K, NJW 2008, 503. 134 Näher dazu Steinbeiß-Winkelmann NJW 2008, 1783 ff. 135 Zuletzt EGMR, NJW 2010, 3355 – Rumpf. 136 EGMR, NJW 2006, 2389, Rn 137 f – Sürmeli. 137 EGMR, NJW 2010, 3355 – Rumpf. 138 BGBl I 2011, 2302. 139 Krit dazu statt vieler Ossenbühl DVBl 2012, 857.

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Lösung Fall 5: Begründet ist die Individualbeschwerde, wenn der Bf in einem Konventionsrecht verletzt ist. In Betracht kommt eine Verletzung der Art 13 und 6 I EGMR. 1. Verletzung des Art 13 EMRK: Die Vorschrift gewährt jeder Person, die in einem Konventionsrecht verletzt worden ist, das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben. Wirksam ist eine Beschwerde, wenn mit ihr die Verletzung oder ihre Fortdauer verhindert oder angemessene Hilfe für schon eingetretene Verletzungen erlangt werden kann. Wird eine überlange Verfahrensdauer gerügt, muss es einen Rechtsbehelf geben, mit dem der Bf entweder die Entscheidung des zuständigen Gerichts beschleunigen oder angemessene Wiedergutmachung für schon eingetretene Verzögerungen erlangen kann (EGMR, Slg 2002, VIII Nr 17 – Mifsud). Im deutschen Recht kommen eine VB, Dienstaufsichtsbeschwerde, Untätigkeitsbeschwerde und eine Klage auf Schadensersatz in Betracht. a) Verfassungsbeschwerde: Das BVerfG erkennt ein Recht auf ein zügiges Gerichtsverfahren an. Bei übermäßig langem Verfahren stellt es die Verfassungswidrigkeit fest und fordert das zuständige Gericht auf, das Verfahren zu beschleunigen oder abzuschließen (vgl zB BVerfG, NJW 2005, 739). Doch kann das BVerfG weder eine Frist zum Abschluss des Verfahrens setzen (vgl aber auch BVerfG, NJW 2001, 214) noch andere Maßnahmen zur Beschleunigung anordnen oder eine Wiedergutmachung zusprechen. Daher ist die VB (jedenfalls bei Zugrundelegung der bisherigen Rspr des BVerfG) nach Ansicht des EGMR kein wirksamer Rechtsbehelf iSd Art 13 EMRK. b) Dienstaufsichtsbeschwerde: Eine Dienstaufsichtsbeschwerde nach § 2, 26 DRiG ist schon deshalb kein wirksamer Rechtsbehelf iSd Art 13 EMRK, weil sie dem Bf keinen Anspruch darauf gibt, den Staat zur Ausübung seiner Aufsichtsbefugnisse zu zwingen. c) Außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde: Für eine außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde gibt es in Deutschland keine gesetzliche Grundlage. Einige Gerichte erkennen sie zwar trotzdem an. Wegen der Unsicherheit, ob und unter welchen Voraussetzungen sie zulässig ist, kann sie aber nicht als wirksamer Rechtsbehelf angesehen werden. d) Amtshaftungsklage: Selbst wenn die Gerichte zu dem Ergebnis kommen sollten, dass Verfahrensverzögerungen zu einer Amtshaftung führen, können sie doch keinen Ersatz für Nichtvermögensschäden zusprechen. Somit gibt es in Deutschland nach Auffassung des EGMR keinen wirksamen Rechtsbehelf iSd Art 13 EMRK gegen eine überlange Dauer eines gerichtlichen Verfahrens. 2. Verletzung eines Konventionsrechts: In Betracht kommt eine Verletzung des Art 6 I 1 EMRK, wonach jede Person ein Recht darauf hat, dass über Streitigkeiten (hier in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche) innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Hier war die Verfahrensdauer nicht mehr angemessen, so dass Art 6 I 1 EMRK verletzt wurde. Der EGMR hat dem Bf gem Art 41 EMRK eine Entschädigung in Höhe von 10 000 € zugesprochen.140 Lösung Abwandlung: Nach Art 35 I, III lit a EMRK ist eine Beschwerde unzulässig, wenn die innerstaatlichen Rechtsbehelfe (offensichtlich) nicht erschöpft wurden. Für der Prüfung, ob die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft wurden, ist normalerweise das Datum entscheidend, an dem der EGMR angerufen wurde. Von dieser Regel gibt es aber Ausnahmen, die durch die besonderen Umstände des Falles gerechtfertigt sein können (EGMR, 2001-IX – Brusco/Italien). Nach Erlass des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und 140 Von der Einreichung der Beschwerde beim EGMR bis zur Entscheidung der Großen Kammer waren rund sieben Jahre vergangen. Dies zeigt, dass es mehr Vorteile bietet, „zu kontrollieren als kontrolliert zu werden“.

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strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Rn 37) hat der Bf die Möglichkeit gehabt, eine Verzögerungsrüge vor den deutschen Gerichten zwecks Erlangung einer Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens zu erheben. Dies gilt nach Art 23 des Gesetzes auch für bereits anhängige Verfahren. Das deutsche Gesetz sieht als Rechtsfolge im Falle eines überlangen Gerichtsverfahrens zwar nur eine Entschädigung vor. Doch sieht der EGMR „im Augenblick“ keinen Anlass anzunehmen, dass dies nicht ausreicht. Dementsprechend ist die Beschwerde wegen des Nichtgebrauchtmachens von der Verzögerungsrüge als unzulässig zurückgewiesen worden.

6. Konventionsrechte als Elemente objektiver Ordnung 40

Wie ausgeführt wurde, gilt die EMRK in der deutschen Rechtsordnung im Rang eines Bundesgesetzes und bindet demgemäß alle staatlichen Organe, auch wenn keine Rechte geltend gemacht werden. Dies hat ua zur Konsequenz, dass das nationale Recht konventionskonform ausgelegt werden muss (vgl auch Rn 13).

III. Auslegung der Konventionsrechte 41

Die Auslegung der EMRK141 hat sich ebenso wie die Ermittlung der Bindungswirkungen der EGMR-Entscheidung an der gleicherweise maßgeblichen (vgl Art 33 WVK) englischen und französischen Sprachfassung zu orientieren (Rn 8). Nicht anders als sonstige völkerrechtliche Verträge (vgl Art 31 I WVK) muss die EMRK autonom im Lichte ihres Zieles und Zweckes ausgelegt werden, wobei Wortlaut (Art 31 II WVK) und Zusammenhang zu berücksichtigen sind. In Bezug auf die anerkannten Menschenrechte des Völkerrechts oder den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei ist gem Art 53 EMRK das Günstigkeitsprinzip (Rn 10) zu berücksichtigen. Dementsprechend ist zB auch dem humanitären Völkerrecht Rechnung zu tragen.142 Wegen ihres auf dauerhafte Begrenzung der Staatsgewalt gerichteten Charakters ist ähnlich wie im Europäischen Unionsrecht eine dynamische (im Gegensatz zur statisch-historischen) Auslegung geboten, die dem Grundsatz der Effektivität (effet utile) verpflichtet ist. Insoweit ist auch eine Rechtsfortbildung nicht ausgeschlossen. Dementsprechend betont die Rspr, dass die EMRK ein „living instrument/ instrument vivant“ sei, „which must be interpreted in the light of present-day conditions/ à interpréter à la lumiére des conditions de vie actuelles“. Garantiert werden sollen Rechte, die nicht „theoretical or illusory/théoriques ou illusoires“, sondern „practical and effective/concrets et effectives“ sind.143 Der historischen Interpretation (vgl Art 32 WVK) kommt nur dann eine größere Bedeutung zu, wenn es um die Auslegung von Vorbehalten der Konventionsstaaten geht. Systematisch muss das Zusammenspiel von Konvention und Zusatzprotokollen mit der Satzung des Europarates und den vor diesem Rat abgeschlossenen Abkommen sowie die Einbettung in das allgemeine Völkerrecht beachtet werden. Der Rückgriff auf die völkervertragliche Praxis ist auch nicht ausgeschlossen, wenn diese nicht von allen Konventionsstaaten geteilt wird (weil diese zB die in Bezug genommenen

141 Näher dazu Cremer in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, IV; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 5; Peters/ Altwicker EMRK, § 2 Rn 40 ff. 142 Vgl EGMR, NJW 2001, 3035 ff – Streletz, Keßler u Krenz; NVwZ 2006, 1267, Rn 163 – Öcalan. 143 Grundlegend EGMR, EuGRZ 1979, 162, Rn 31 – Tyrer; EuGRZ 1979, 626, Rn 24 – Airey.

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völkerrechtlichen Verträge nicht ratifiziert haben).144 Soweit auf das Recht der Konventionsstaaten verwiesen wird (zB Art 12 EMRK: „nach den innerstaatlichen Gesetzen“), darf dieses den Wesensgehalt des Konventionsrechts nicht antasten.145 Bestehen keine gemeinsamen Rechtsauffassungen zwischen den Konventionsstaaten kann die Kontrolldichte gemindert sein (Rn 27, 120).

IV. Berechtigte der Konventionsrechte Wie sich aus Art 1 EMRK ergibt, werden durch die EMRK (einschließlich der Zusatzprotokolle) grundsätzlich alle der Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten unterstehenden „Personen“ geschützt. Auf die Staatsangehörigkeit kommt es anders als nach den deutschen Grundrechten (die zwischen Jedermanns- und Deutschenrechten unterscheiden) prinzipiell nicht an.146 Aus dem Schutzgehalt der Verbürgung kann sich allerdings ergeben, dass diese nur für bestimmte Personen von Bedeutung ist und daher auch nur diesen Personen zukommen kann. ZB steht das Recht auf Eheschließung allein „Männern und Frauen im heiratsfähigen Alter“ (Art 12 EMRK147), das Recht auf Einreise allein den eigenen Staatsangehörigen (Art 3 II 4. ZP EMRK) und bestimmte Verfahrensrechte in Bezug auf die Ausweisung allein ausländischen Personen (Art 1 7. ZP EMRK) zu.148 Was die EMRK unter Personen versteht, lässt sich aus der das Recht der Individualbeschwerde garantierenden Bestimmung des Art 34 herleiten (Rn 87 ff). Danach sind natürliche Personen, nichtstaatliche Organisationen oder Personenvereinigungen gemeint. Soweit das Recht auf Leben in Rede steht, könnte (und dürfte) zu den natürlichen Personen auch der nasciturus gehören. Der EGMR hat sich hierzu bisher nicht abschließend geäußert und offen gelassen, ob die EMRK ein Recht auf Abtreibung oder ein Verbot der Abtreibung kennt respektive die Tötung eines Fötus mit Blick auf Art 2 EMRK strafrechtlich verfolgt werden muss.149 Auf das Alter oder die Geschäftsfähigkeit der natürlichen Per-

144 Vgl EGMR v 12.11.2008, 34503/97, Rn 89 – Demir u Baykara. Näher zur sog Konsensmethode des EGMR und zur Vereinbarkeit mit der evolutionären Auslegungsmethode und dem Demokratieprinzip Nußberger ReWiss 2012, 179; vUngern-Sternberg AVR 51 (2013), 279. 145 Vgl zB EGMR, Series A 106, Rn 50 – Rees. 146 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 1 Rn 3. 147 Auch Transsexuelle haben das Recht, eine Person ihres früheren Geschlechts zu heiraten (EGMR, NJW-RR 2004, 289, Rn 100 – Goodwin), ferner sollen auch gleichgeschlechtliche „Ehen“ nicht ausgeschlossen sein, ohne dass die Konventionsstaaten verpflichtet sind, solche Partnerschaften zuzulassen (EGMR, EuGRZ 2010, 445, Rn 61 – Schalk u Kopf). Vgl auch die weitere Fassung des Art 9 GRCh. 148 Das in Art 3 EMRK niedergelegte Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung und das in Art 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens vermitteln Ansprüche, die dazu führen können, dass ein Ausländer nicht des Landes verwiesen werden darf. So kann aus Art 3 EMRK folgen, dass ein Ausländer nicht ausgeliefert werden darf, wenn dieser im Verfolgerstaat einer Strafe oder Behandlung ausgesetzt zu sein droht, die mit Art 3 EMRK nicht vereinbar ist. Vgl EGMR, EuGRZ 1989, 314 ff – Soering; Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 314. Zur Prüfung bei einer Abschiebung in einen Konventionsstaat vgl BVerwG, NWVBl 2005, 260 ff. 149 Zur Frage der strafrechtlichen Verfolgung vgl Europäische Kommission für Menschenrechte, EuGRZ 1978, 199; EGMR, NJW 2005, 727 – Vo = JK 2005, EMRK Art 2 I 1/1; für einen Schutz auch Röben in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, V Rn 36 ff. Zur Vereinbarkeit des Verbots eines Schwangerschaftsabbruchs mit Art 8 I EMRK vgl EGMR (GK), NJW 2011, 2107 ff – A., B., u C.

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sonen kommt es nicht an. Kollidiert der Konventionsschutz der Minderjährigen mit dem ebenfalls geschützten Erziehungsrecht der Eltern (Art 2 S 2 1. ZP EMRK), muss der Staat eine verhältnismäßige Zuordnung vornehmen. Zur prozessualen Geltendmachung des Minderjährigenschutzes vgl Rn 91. Die Grundrechtsberechtigung endet mit dem Tod. Dies schließt einen postmortalen Konventionsschutz nicht aus. Eine diesbezügliche Rspr gibt es bisher aber – soweit ersichtlich – nicht. Jedoch dürfen Erben bei berechtigtem Interesse das Verfahren des verstorbenen Beschwerdeführers vor dem EGMR fortführen.150 Zu den geschützten Organisationen und Personengruppen gehören Stiftungen und Personenvereinigungen jeglicher Art, sofern sie nichtstaatlicher Provenienz sind. Unerheblich ist, ob die Zusammenschlüsse mit Rechtsfähigkeit ausgestattet sind, nach welchem Recht sie organisiert wurden und wo sie ihren Sitz haben.151 Demgemäß können sich insbesondere die von Privaten getragenen juristischen Personen des Privatrechts auf die EMRK berufen. Allerdings schützen viele Konventionsrechte nur Freiheitssphären, die ihrem Inhalt nach allein auf natürliche Personen anwendbar sind (zB das Recht auf Leben, der Schutz vor Folter, das Recht auf persönliche Freiheit oder das Recht auf Achtung des Familienlebens). Dagegen hat der EGMR152 im Gegensatz zur früheren Rspr des EuGH153 zB das Recht auf Achtung der Wohnung (Art 8 I EMRK) so ausgelegt, dass auch Geschäftsräume geschützt werden (→ § 3 Rn 13). Daher können auch Personenvereinigungen Träger dieses Grundrechts sein. Die Rechte der nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen sind von denen ihrer Mitglieder zu unterscheiden. Dementsprechend sind die Organisationen oder Personengruppen nicht befugt, Rechte ihrer Mitglieder geltend zu machen.154 Auch nach ihrer Auflösung können Organisationen oder Personengruppen sich unter bestimmten Voraussetzungen noch auf die Konventionsrechte berufen (insbesondere wenn die Auflösung Folge der behaupteten Verletzung ist).155 Keinen Schutz genießen staatliche Organisationen oder Personengruppen.156 Der Staat ist Verpflichteter, nicht Berechtigter der Konventionsrechte. Dies gilt auch dann, wenn er sich privatrechtlicher Organisations- oder Handlungsformen bedient (also zB „fiskalisch“ tätig wird).157 Deshalb wird zB nicht das Eigentum von Gemeinden durch Art 1 1. ZP EMRK geschützt.158 Andererseits kann den juristischen Personen des öffentlichen Rechts 150 Vgl Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 15. Nach Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 4 soll die Fortführung eines Prozesses nur die Prozessfähigkeit betreffen. 151 Vgl auch Partsch in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg) Die Grundrechte, Bd I/1, 1966, S 235, 295; Gornig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988, S 284. 152 EGMR, EuGRZ 1993, 65, Rn 29 ff – Niemietz = JK 93, EMRK Art 8/1; NJW 2006, 1495 ff – Buck; NJW 2010, 2109 ff – Kolesnichenko. 153 EuGH, Slg 1989, 2919, Rn 18 – Hoechst = JK 90, EWGV § 173/2. Vgl aber auch Slg 2002, I-9011, Rn 29 – Roquette frères. 154 Vgl die Nachw bei Rogge in: Karl, Int EMRK, Art 34 Rn 141; dems EuGRZ 1996, 341, 343; Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 17 f. 155 Vgl die Nachw bei Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 19. 156 Vgl auch Art 34 EMRK (nichtstaatliche Organisation). 157 Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 18. 158 AA Tettinger FS Börner, 1992, S 625, 633 ff, wonach sich alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts auf das Eigentumsrecht berufen können, weil nach Art 1 I 1. ZP EMRK „jede natürliche oder juristische Person“ das Recht auf Achtung ihres Eigentums hat. Vgl auch Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1988, Bd III/1, S 1103. Die von Tettinger zitierte Rspr des EGMR betraf juristische Personen des Privatrechts und gerade nicht des öffentlichen Rechts. Vgl auch Rn 90, 92.

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nicht generell die Konventionsrechtsfähigkeit abgesprochen werden. So sind die korporierten Religionsgemeinschaften als nichtstaatliche Organisationen bzw Personengruppen anzusehen, da es sich um gesellschaftliche Einrichtungen handelt (jedenfalls, wenn sie nicht als Staatskirchen organisiert sind).159 Entsprechendes kann für Rundfunkanstalten gelten.160 Im Übrigen sind noch viele Fragen ungeklärt. Wie im deutschen Recht dürften sich auch diejenigen staatlichen Rechtsträger, die „unmittelbar dem durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich zuzuordnen“ sind (Beispiel: Meinungsäußerung staatlicher Universitäten in Wahrnehmung ihres wissenschaftlichen Auftrags),161 auf die Gewährleistungen berufen können.162 Hinsichtlich der Privatrechtssubjekte mit staatlichen und privaten Anteilseignern oder Mitgliedern (etwa gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen) stellen das Europäische Unionsrecht und das deutsche Verfassungsrecht163 auf die Beherrschungsverhältnisse ab (→ § 14 Rn 57). Für die EMRK dürfte Entsprechendes gelten.164 Mit Staatsgewalt beliehenen Personen muss eine Berufung auf die Konventionsrechte dagegen versagt bleiben, da sie als Träger von Staatsgewalt anzusehen sind, wenn und soweit sie Hoheitsrechte ausüben. Unberührt bleibt das Recht eine Staatenbeschwerde wegen einer Verletzung der EMRK durch andere Staaten zu erheben (Rn 86).

V. Verpflichtete der Konventionsrechte 1. Konventionsstaaten des Europarates Wenn die EMRK gem Art 1 die der Hoheitsgewalt einer Vertragspartei unterliegenden Personen berechtigt, folgt daraus als Umkehrschluss, dass die Vertragsparteien durch die Konventionsrechte verpflichtet werden. Unter Vertragsstaaten sind alle Staaten des Europarates – sowie nach einem Beitritt auch die EU (Rn 21 f) – zu verstehen, welche die EMRK respektive ihre ZP ratifiziert haben (Art 59 EMRK) – Konventionsstaaten. Die Bindung bezieht sich auf alle Staatsgewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) und alle Träger von Staatsgewalt (zB auch auf die Bundesländer und kommunalen Gebietskörperschaften). Auf die Rechtsform des Handelns (öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich) kommt es nicht an. Zu den Trägern von Staatsgewalt sind ebenso wie im deutschen Recht165 auch die Beliehenen und alle Privatrechtssubjekte zu zählen, hinter denen unmittelbar oder mittelbar allein der Staat steht (wie zB die Eigengesellschaften). Entsprechendes dürfte für die vom Staat beherrschten gemischt zusammengesetzten Privatrechtsvereinigungen gelten (vgl Rn 45). Dagegen müssen die korporierten Religionsgemeinschaften und Rundfunkanstalten, jedenfalls soweit es sich nicht um Staatskirchen und staatliche Rundfunkbetreiber handelt, der Sphäre der Privaten zugeordnet werden (vgl Rn 45). Der Staat ist für jede Konventionsverletzung verantwortlich, auch wenn er keine Möglichkeit

159 Vgl Ehlers in: Sachs (Fn 45) Art 140 GG/137 WRV Rn 25. Zur Einstufung der orthodoxen Kirche in Griechenland als nichtstaatliche Organisation vgl EGMR, Serie A Vol 1994, Bd 301 N 48 f – Les saints monastéres. 160 Vgl EGMR, Slg 2003 – X, 926 – Radio France; ÖJZ 2007, 472 – Österreichischer Rundfunk; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 5; Röben in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, V Rn 33. 161 Vgl BVerfGE 31, 314, 322; 39, 302, 314. 162 Vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 5. 163 BVerfGE 128, 226 – Fraport. 164 Vgl auch Barden Grundrechtsfähigkeit gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen, 2002, S 185 ff. 165 Vgl Ehlers in: Erichsen/ders (Hrsg) Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl 2010, § 1 Rn 4.

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der Einflussnahme hatte (wie auf die Jurisdiktion der unabhängigen Gerichte) oder seine Amtsträger weisungswidrig gehandelt haben.166 Neben positiven Handlungen können auch Duldungen oder Unterlassungen des Staates (zB Verweigerung der Unterstützung durch einen Dolmetscher im Falle des Art 6 III lit e EMRK) eine Verletzung der Konvention herbeiführen.167 Ferner können Verstöße der Konventionsstaaten gegen supranationales Recht am Maßstab der EMRK gemessen werden. So soll eine willkürliche Nichtvorlage an den EuGH (Art 267 AEUV) gegen das in Art 6 I EMRK garantierte Recht auf ein faires Verfahren verstoßen168 und die Nichtbeachtung einer unmittelbar anwendbaren EU-Richtlinie das in Art 1 1. ZP EMRK geschützte Eigentumsrecht verletzen können.169 Rechtsschutz vor dem EGMR kann wegen der Subsidiarität der Individualbeschwerde (Rn 99 ff) allerdings nur verlangt werden, wenn die unionsrechtlichen und innerstaatlichen Schutzmechanismen einschließlich der verfassungsrechtlichen Rechtsbehelfe nicht zum Tragen kommen. Näher zur Bindung der Konventionsstaaten an die EMRK bei der Anwendung internationalen oder supranationalen Rechts Rn 48. Nicht verantwortlich ist ein Staat für die Ausübung hoheitlicher Gewalt auf seinem Territorium, wenn die Gewalt nicht von ihm selbst, sondern von einem anderen Staat ausgeübt wird. In einem solchen Fall trifft die konventionsrechtliche Verantwortlichkeit nur den anderen Staat, sofern es sich um einen Konventionsstaat handelt. Eine solche Lage kann sich insbesondere bei einem transnationalen Verwaltungshandeln auf völkerrechtlicher oder unionsrechtlicher Grundlage ergeben. So darf die Polizei bspw nach dem Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen170 unter bestimmten Voraussetzungen grenzüberschreitend tätig werden.171 Auch nach Maßgabe der EMRK ist dann nur der Staat verantwortlich, der die Grenze überschritten hat, und nicht derjenige, auf dessen Territorium gehandelt worden ist. Da die Hoheitsgewalt iSd Art 1 EMRK grundsätzlich territorial begrenzt ist und nicht ohne weiteres mit der Staatenverantwortlichkeit nach allgemeinem Völkerrecht gleichgesetzt werden kann172, bindet die EMRK den Staat bei einem extraterritorialen Handeln nur ausnahmsweise (Rn 62).

2. Internationale und supranationale Organisationen 48

Fall 6: (EGMR, NJW 1999, 3107 ff – Matthews = JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2) Die Bf ist britische Staatsbürgerin mit Wohnsitz in Gibraltar. Sie beantragte ihre Registrierung als Wählerin für die Wahlen zum Europäischen Parlament. Unter Hinweis auf den Anhang II des Beschlusses und des Aktes zur Einführung allgemeiner und unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 20.9.1976 (Sart II Nr 262) wurde dieser Antrag abgelehnt. Nach Anhang II (heute Anhang I) wird das Vereinigte Königreich die Vorschriften des Wahlaktes nur auf das Vereinigte Königreich anwenden.

166 EGMR, EuGRZ 1979, 149, Rn 150 ff – Irland. 167 Vgl auch die Rechtsprechungsbeispiele bei Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 1 Rn 15 (Pflicht des Staates zum Einschreiten bei Untätigbleiben eines Pflichtverteidigers bzw der Durchsetzung des Rechts auf Trennung von Tisch und Bett). 168 Vgl EGMR v 23.3.1999, 41358/98 – Desmots; v 7.9.1999, 38399/97 – Dotta; v 25.1.2000, 44861/98 – Moosbrugger. 169 Vgl EGMR, EuGRZ 2007, 671 ff – S.A. Jacquers Dangeville; näher dazu Breuer JZ 2003, 433 ff. 170 BGBl II 1993, 1013 = Sart II Nr 280. 171 Vgl Art 40, 41 Schengen-Durchführungsübereinkommen. 172 Vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 13; Peters/Altwicker EMRK, § 35 Rn 10.

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Gibraltar ist ein vom Vereinigten Königreich abhängiges Territorium, stellt jedoch selbst keinen Teil des Vereinigten Königreiches dar. Der EGV fand gemäß Art 299 IV EGV (Art 355 III AEUV) auf Gibraltar Anwendung. Im Beitrittsvertrag von 1972 ist jedoch festgelegt, dass nicht alle Bestimmungen des EGV in Gibraltar gelten. Insbesondere ist Gibraltar nicht Teil der Zollunion und gilt als Drittstaat im Sinne der gemeinsamen Handelspolitik. Obwohl Gibraltar nicht Teil des Vereinigten Königreichs ist, gelten die dort lebenden britischen Bürger als Staatsangehörige im Sinne des EGV. Die Bf rügt mit einer gegen das Vereinigte Königreich gerichteten Individualbeschwerde die Verletzung des Art 3 1. ZP EMRK. Die Vorschrift garantiert, freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten. Fall 7: (EGMR, NJW 2006, 197 – Bosphorus = JK 2006, EMRK Art 1/3) Ein von einer jugoslawischen Fluggesellschaft geleastes Flugzeug der türkischen Fluggesellschaft Bosphorus (Bf) ist während des Jugoslawien-Konfliks im Jahre 1993 in Dublin auf der Grundlage der eine Resolution des UN-Sicherheitsrats umsetzenden Embargo-VO Nr 990/93 der EG beschlagnahmt worden. Der irische Supreme Court hat das gegen die Beschlagnahme gerichtete Rechtsmittel der Bf letztinstanzlich zurückgewiesen, nachdem der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens entschieden hat, dass die EGVO auf den vorliegenden Fall anwendbar ist. Die Bf wendet sich an den EGMR und rügt die Verletzung ihres Rechts auf Eigentum aus Art 1 des 1. ZP EMRK.

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a) Direkte Bindung Da die EMRK auf der Grundlage der Satzung des Europarates erlassen worden ist, sind auch die Organe des Europarates selbst an die Konvention und ihre Zusatzprotokolle gebunden (solange sie nicht durch spätere Abkommen überlagert oder außer Kraft gesetzt werden).173 Dem kommt deshalb keine große Bedeutung zu, weil dem Europarat keine Herrschaftsbefugnisse übertragen wurden. Doch ist der Europarat verpflichtet, nur solche Mitglieder aufzunehmen, die im Prinzip (dh vorbehaltlich der Anbringung von Vorbehalten174) die in der EMRK positivierten Menschenrechte anerkennen, wie sich auch aus Art 3 seiner Satzung ergibt (vgl Rn 8). Sonstige internationale oder supranationale Organisationen, die im räumlichen Geltungsbereich der Konvention Hoheitsrechte ausüben, sind nicht (direkt) an die EMRK gebunden, weil der Beitritt zur EMRK gem Art 59 I nur den Mitgliedern des Europarates und somit nur Staaten175 gestattet ist. Anderes gilt lediglich für die EU (Art 59 II EMRK). Kommt es zu einem Beitritt der EU zur EMRK (Rn 21 f), kann auch Beschwerde gegen die Entscheidungen des EuGH176 beim EGMR eingelegt werden. Je nach Zusammensetzung des Spruchkörpers des EGMR (Rn 84), könnte dies zur Folge haben, dass Richter über EU-Recht urteilen, die keinem der Mitgliedstaaten der EU angehören. Verstöße der EU gegen die EMRK können die konventionsrechtliche Haftung nach Art 41 auslösen.

173 Vgl auch Partsch (Fn 151) S 299 f. 174 Vgl Art 57 EMRK. 175 Art 4 und 5 der Satzung des Europarates. 176 Art 19 I EUV.

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b) Indirekte Bindungswirkungen im Falle eines Handelns der Konventionsstaaten 52

Verpflichten die Konventionsrechte nicht die internationalen oder supranationalen Organisationen, können auch die Konventionsstaaten, die diesen Organisationen beigetreten sind, nicht für deren Handlungen verantwortlich gemacht werden.177 Eine Bindung der Konventionsstaaten kann uU auch dann entfallen, wenn diese nur im Auftrag internationaler oder supranationaler Organisationen gewissermaßen als deren Werkzeuge tätig werden. So hat der EGMR jedenfalls eine Überprüfung des Handelns der Konventionsstaaten, die im Namen der Vereinten Nationen tätig geworden sind, am Maßstab der EMRK unter Hinweis auf die Vorrangregel des Art 103 UN-Charta178 sowie die hierzu ergangene Rspr des IGH179 abgelehnt (Rn 62 und Fall 8). Andererseits setzt eine Bindung an Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen180 nach der im Ergebnis mit der Rspr des EuGH übereinstimmenden Auffassung181 (→ § 14 Rn 34 ff. und Fall 3) des Gerichtshof die Gewährung eines gleichwertigen Schutzes von Menschenrechten („equivalent protection“182, insbesondere die Möglichkeit der Erlangung gerichtlichen Rechtsschutzes) voraus.183 Auch bleibt die Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten in vollem Umfange bestehen, wenn das internationale oder supranationale Recht ihnen einen Umsetzungsoder Vollzugsspielraum belässt.184 Besonders problematisch ist die Abgrenzung oder Zuordnung der unterschiedlichen Rechtsquellen, wenn die tätig werdenden Konventionsstaaten an das internationale oder supranationale Recht gebunden sind, diese Bindung aber der EMRK widerspricht. Um eine Kollision zwischen dem innerstaatlich geltenden internationalen bzw vorrangig geltenden supranationalen Recht einerseits und der EMRK nach Möglichkeit zu entgehen, hat die – inzwischen aufgelöste185 – Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) eine an die Solange II-Entscheidung des BVerfG186 angelehnte Auffassung vertreten. Danach soll eine Beschwerde auf der Grundlage der EMRK unzulässig sein, wenn im Recht der internationalen bzw supranationalen Organisationen ein vergleichbarer Grundrechtsschutz angelegt ist.187 Dies treffe namentlich auf das Europäische Gemeinschaftsrecht (heute: Unionsrecht) zu. Damit hat die EKMR eine Verantwortung der Konventionsstaaten für EG-Akte (heute EU-Akte) in weitem Umfange verneint.188

177 Vgl auch EGMR v 9.9.2008, 73250/01 – Boivin; v 9.12.2008, 73274/01 – Connolly. 178 Sart II Nr 1. 179 Vgl IGH, ICJ Rep 1994, 392 Rn 107 – Nicaragua. 180 Art 25 UN-Charta. 181 EuGH, Slg 2008, I-6351 ff – Kadi = JK 2009, EGV Art 301/1. 182 Dieser Maßstab entstammt der Bosphorus-Rspr, vgl EGMR, NJW 2006, 197, 198 – Bosphorus und Fall 7. 183 Ein Verstoß gegen Art 6 I EMRK wurde festgestellt in: EGMR v 26.11.2013, Nr 5809/08 – AlDulimi, noch zurückhaltend EGMR, NJOZ 2013, 1183 ff – Nada. 184 In der Entscheidung EGMR, EuGRZ 2011, 11 – Nederlandse Kokkelvisserij, hat der EGMR als Anknüpfungspunkt für die konventionsrechtliche Verantwortung die Vorlage des nationalen Gerichts an den EuGH ausreichen lassen. Vgl auch Mayer in: Karpenstein/ders, EMRK, Einleitung Rn 144. 185 Vgl Rn 83. 186 BVerfGE 73, 339, 375 f. Näher dazu → § 14 Rn 19. 187 Vgl namentlich EGMR, ZaöRV 50 (1990), 865, 867 – M & Co. Näher dazu Giegerich ZaöRV 1990, 836 ff. 188 Zutreffend Lenz EuZW 1999, 311 ff.

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Der EGMR ist dieser Ansicht mittlerweile mit gewissen Modifikationen bzw Klarstellungen gefolgt. Bereits in seiner Entscheidung vom 15.11.1996 hat er allerdings festgestellt, dass ein Konventionsstaat nicht allein deswegen von seiner konventionsrechtlichen Verantwortlichkeit für einen innerstaatlichen Rechtsakt befreit ist, weil dieser lediglich zwingende Vorgaben des europäischen Gemeinschaftsrechts (Unionsrecht) umsetzt.189 In neueren Entscheidungen hat der EGMR seinen Standpunkt verdeutlicht. Zwar schließe die EMRK die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale oder supranationale Organisationen nicht aus. Dies ändere aber nichts an der Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Einhaltung der Konventionsrechte. Die Konventionsstaaten müssten sicherstellen, dass die internationale oder supranationale Rechtsordnung einen der Konvention vergleichbaren Standard gewährleistet. Tun sie dies nicht, verletzt das Unterlassen die Konvention. Die Verantwortlichkeit bleibe auch im Verhältnis zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) bestehen.190 Da die von der EMRK garantierten Rechte nicht „theoretical or illusory/théorique ou illusoires“, sondern „practical and effective/concret et effective“ gelten sollen und da die Wirkungen des Gemeinschaftsrechts (Unionsrechts) denjenigen des innerstaatlichen Rechts entsprächen, müsse ein Mitgliedstaat die Konventionsrechte auch gegenüber Gemeinschaftsakten (Unionsakten) in vollem Umfange sichern.191 Allerdings hat der EGMR in seiner Bosphorus-Entscheidung (Fall 7) festgestellt, dass die Staaten ihre Verpflichtungen aus der Konvention erfüllen, solange der Grundrechtsschutz in der internationalen Organisation dem durch die EMRK gewährleisteten zumindest gleichwertig ist. Treffe dies zu, läge eine Vermutung für die Einhaltung der Anforderung der EMRK durch den Staat vor (Rn 57). Gleichwertigkeit bedeutet nicht Identität, sondern Vergleichbarkeit. Widerlegt ist die Gleichwertigkeitsvermutung, wenn der Schutz der Konventionsrechte „offensichtlich“ unzureichend ist.192 Für das Europäische Unionsrecht wird eine solche Vergleichbarkeit des Grundrechtsschutzes prinzipiell bejaht (Rn 57). Vergleicht man die Zurücknahme der Kontrolldichte des EGMR mit der (ua) das Verhältnis des sekundären Gemeinschaftsrechts mit den Grundrechten des Grundgesetzes betreffenden Solange-Rspr des BVerfG193, zeigen sich Unterschiede. Das BVerfG erachtet den Grundrechtsschutz im Hoheitsbereich der EU als nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des GG im Wesentlichen gleich. Deshalb will es seine Gerichtsbarkeit im Hinblick auf das sekundäre Gemeinschaftsrecht nur noch ausüben, wenn dargelegt wird, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz auf der Ebene des Unionsrechts „generell“ nicht gewährleistet ist (→ § 14 Rn 38). Diese Voraussetzung dürfte kaum jemals gegeben sein. Dagegen stellt der EGMR nicht auf einen strukturellen (generellen) Vergleich der EMRK-Rechte und Unionsgrundrechte, sondern auf den Einzelfall ab. Andererseits wird die Vermutung eines vergleichbaren Grundrechtsschutzes nur widerlegt, wenn der Schutz der Konventionsrechte „offensichtlich“ unzureichend ist. Damit nähert sich der EGMR doch wieder der Betrachtungsweise des BVerfG an. Sinnvoll wäre es, wenn die Überprüfungsmöglichkeit vor dem BVerfG an diesen Maßstab angeglichen wird, zumal bei der Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle auch auf den Einzelfall abgestellt wird. 189 EGMR, Rep 1996-V, 1614, Rn 30 – Cantoni. 190 Näher dazu Michl Die Überprüfung des Unionsrechts am Maßstab der EMRK, 2013. 191 Vgl EGMR, NJW 1999, 1173 ff – Waite = JK 99, EMRK Art 6/2; NJW 1999, 3107 ff – Matthews = JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2 (Fall 6). 192 Näher dazu EGMR, EuGRZ 2011, 11 – Nederlandse Kokkelvisserij. 193 Vgl BVerfGE 73, 339, 387; 102, 147, 161 ff; 123, 267 ff = JK 2009, GG Art 38 I/18.

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Wird die Vermutung der Gleichwertigkeit der EMRK-Rechte und der Unionsgrundrechte ausnahmsweise widerlegt, überprüft der EGMR indirekt über die Verantwortung der Mitgliedstaaten der EU für die Wahrung der Rechte aus der EMRK auch die Akte der EU. Für Mitgliedstaaten der EU kann die Verantwortung für die Einhaltung des EMRK-Standards auch gegenüber dem Unionsrecht dann zu erheblichen Problemen führen. Folgen sie dem (nach Ansicht des EGMR) konventionswidrigen Unionsrecht, verletzen sie die EMRK. Lassen sie dagegen das Unionsrecht unangewendet, missachten sie dessen Vorrang gegenüber dem nationalen Recht.194 Zu einer endgültigen Lösung des Rangverhältnisses von EMRK und Unionsgrundrechten kommt es erst, wenn die EU der EMRK beitritt (Rn 21 f). Dann sind sowohl die EU als auch ihre Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts uneingeschränkt an die EMRK gebunden. Jedoch dürfte die konventionsrechtliche Kontrolldichte nach der ratio decidendi der Bosphorus-Rspr des EGMR gemindert bleiben, zumal dann, wenn die Grundrechtsüberprüfung im Wege des vorgesehenen Vorabbefassungsverfahrens (Rn 22) zunächst dem EuGH übertragen wird (vgl auch Rn 120) und mit Inkrafttreten des 15. ZP EMRK (Rn 9) eine Subsidiaritätsklausel in die Präambel der EMRK eingefügt wird (Rn 120). Lösung Fall 6: Die zulässige Individualbeschwerde ist begründet, wenn die Bf in einem durch die EMRK geschützten Recht verletzt ist. Als verletztes Recht kommt nur das durch Art 3 1. ZP EMRK garantierte Recht auf Teilnahme an freien Wahlen zu einer gesetzgebenden Körperschaft in Betracht. Die Verletzung setzt voraus, dass der Schutzbereich des genannten Rechts betroffen ist, sich die Betroffenheit als Beeinträchtigung darstellt und einer Rechtfertigung entbehrt. Der Schutzbereich kann nur beeinträchtigt sein, wenn die Bf zum Kreis der Berechtigten gehört, das Vereinigte Königreich Verpflichtungsadressat des Konventionsrechts ist und der räumliche Geltungsbereich der EMRK bzw des 1. ZP EMRK betroffen ist. Ferner müssen die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift gegeben sein. Da Art 3 1. ZP EMRK das Wahlrecht grundsätzlich allen (erwachsenen) Personen zuerkennt, die der Hoheitsgewalt der gesetzgebenden Körperschaft unterliegen, ist die Bf als Berechtigte des Konventionsrechts anzusehen. Eine Verantwortlichkeit des Vereinigten Königreichs für die Nichtdurchführung von Wahlen zum Europäischen Parlament in Gibraltar könnte hier daran scheitern, dass der zum Gemeinschafts- (Unions-) Recht gehörende Anhang II des Wahlaktes eine Wahl in Gibraltar ausschließt. Da die EG (EU) nicht Mitglied des Europarats war (und ist), unterliegen Gemeinschafts- (Unions-) akte nicht der Kontrolle durch den EGMR. Die Konventionsstaaten können sich durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale oder supranationale Gemeinschaften aber nicht der Verantwortung entziehen. Sie sind daher auch nach Übertragung für die Einhaltung des Konventionsschutzes verantwortlich. Somit wird das Vereinigte Königreich nach wie vor durch Art 3 1. ZP EMRK verpflichtet. Mittels der Abgabe von Erklärungen iSd Art 56 EMRK, Art 4 1. ZP EMRK hat das Vereinigte Königreich den räumlichen Geltungsbereich der EMRK und des 1. ZP auch auf Gibraltar erstreckt. Schließlich ist das Europäische Parlament als gesetzgebende Körperschaft anzusehen, da es sich nicht notwendigerweise um ein nationales Parlament handeln muss und das Europäische Parlament „the principle form of democratic, political accountability in the Community“ repräsentiert. Allerdings wird das Recht auf freie Wahlen nicht absolut gewährleistet, sondern ist Beschränkungen (bzw Ausgestaltungen) unterworfen. Diese dürfen das Wahlrecht aber nicht in seinem Wesensgehalt antasten. Da hier den Bürgern von Gibraltar jede Einflussmöglichkeit auf die Zusammen194 Vgl zu diesem Vorrang EuGH, Slg 1964, 1253, 1270 f – Costa/ENEL.

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setzung des Europäischen Parlaments genommen wird, ist der Wesensgehalt des Rechts auf freie Wahlen verletzt. Daher hatte die Individualbeschwerde der Bf Erfolg. In Reaktion auf die Entscheidung des EGMR hat das Vereinigte Königreich auch den Personen mit Wohnsitz in Gibralta das aktive und passive Wahlrecht für die Wahlen zum Europäischen Parlament gewährt. Der EuGH hat dies für vereinbar mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht gehalten.195

Lösung Fall 7: Die Beschwerde ist begründet, wenn die Bf durch die Beschlagnahme des Flugzeugs in ihrem Recht auf Eigentum aus Art 1 des 1. ZP EMRK verletzt worden ist. Die Beschlagnahme des Flugzeugs greift in das konventionsrechtlich geschützte Eigentumsrecht der Bf ein. Der Eingriff ist nur gerechtfertigt, wenn ein gerechter Ausgleich zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses und den Eigentumsinteressen der Bf hergestellt wurde. Rechtsgrundlage für den Eingriff ist die VO Nr 990/93. Da eine VO nach Art 249 U A II EGV (heute 288 U A II AEUV) allgemeine Geltung hat und in allen ihren Teilen verbindlich unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, war Irland gemeinschaftsrechtlich (unionsrechtlich) verpflichtet, die VO anzuwenden. Dies ergab sich auch aus der Vorabentscheidung des EuGH. Dass mit der Beschlagnahme verfolgte Allgemeininteresse lag für Irland somit in der Erfüllung der sich aus der Mitgliedschaft in der EG (EU) ergebenden rechtlichen Verpflichtungen. Hierbei handelt es sich um ein berechtigtes Interesse von erheblichem Gewicht. Die EMRK verbietet es den Konventionsstaaten nicht, Hoheitsbefugnisse auf eine internationale oder supranationale Organisation zu übertragen. Andererseits ist jeder Konventionsstaat nach Art 1 EMRK für alle Handlungen und Unterlassungen seiner Organe verantwortlich, unabhängig davon, ob ein solches Handeln oder Unterlassen auf innerstaatliches Recht oder auf völkerrechtliche Verpflichtungen zurückgeht. Deshalb bleibt jeder Konventionsstaat auch dann nach der Konvention verantwortlich, wenn er vertraglich Verpflichtungen gegenüber einer internationalen Organisation nachkommt, die er nach Inkrafttreten der Konvention eingegangen ist. Staatliches Handeln in Erfüllung solcher Verpflichtungen ist jedoch solange gerechtfertigt, wie die jeweilige Organisation die Grundrechte schützt – und das in einer Art, die wenigstens als gleichwertig zu dem von der Konvention gewährten Schutz anzusehen ist. Gleichwertig meint dabei vergleichbar, nicht identisch. Wenn sich zeigt, dass die internationale Organisation einen gleichwertigen Grundrechtsschutz bietet, gilt die Vermutung, dass sich ein Staat den Anforderungen der Konvention nicht entzogen hat, wenn er lediglich den rechtlichen Verpflichtungen nachkommt, die sich für ihn aus seiner Mitgliedschaft in der Organisation ergeben. Diese Vermutung kann wiederlegt werden, wenn in einem bestimmten Fall anzunehmen ist, dass der Schutz von Konventionsrechten offensichtlich unzureichend ist. Dann muss das Interesse an internationaler Zusammenarbeit wegen der Rolle der Konvention als ein „Verfassungsinstrument der europäischen ordre public“ im Bereich der Menschenrechte zurückstehen. Die Gründungsverträge der EG (EU) enthielten ursprünglich keine ausdrücklichen Bestimmungen zum Schutz der Grundrechte. Später hat der EuGH allerdings anerkannt, dass diese Rechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung er zu sichern hat. Bei der Ausformung der ungeschriebenen Unionsgrundrechte hat sich der EuGH im besonderen Maße an der EMRK als Rechtserkenntnisquelle orientiert (→ § 14 Rn 9). Die Wirksamkeit materieller Menschenrechtsgarantien hängt allerdings von den zur Sicherstellung ihrer Einhaltung vorgesehenen Kontrollmechanismen ab. Zwar weist das EU-Recht bislang keine Grundrechts-

195 EuGH, Slg 2006, I-7917, Rn 59 ff – Spanien/Vereinigtes Königreich.

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beschwerde für Individuen auf. Die Verklammerung von innerstaatlichen Rechtsbehelfen mit dem Verfahren vor dem EuGH (durch das Vorabentscheidungsverfahren) ermöglicht es den Bürgern jedoch, ihren Grundrechtsschutz gerichtlich durchzusetzen. Deshalb ist der EGMR zu der Auffassung gelangt, dass der im EG-Recht (EU-Recht) vorgesehene Schutz der Grundrechte als dem der Konvention „gleichwertig“ angesehen werden kann. Folglich ist zu vermuten, dass sich Irland den Anforderungen der Konvention nicht entzogen hat, da es die rechtlichen Verpflichtungen erfüllte, denen es als Mitglied der EG (EU) nachzukommen hatte. Auch in Anbetracht der vorliegenden Vorabentscheidung des EuGH ist es hinsichtlich der Einhaltung der Grundrechte zu keinem Versagen der beschriebenen Kontrollmechanismen gekommen. Da die Beschlagnahme somit nicht das Eigentumsgrundrecht des Bf aus Art 1 des 1. ZP EMRK verletzt hat, ist die Individualbeschwerde als unbegründet abgewiesen worden.

3. Privatpersonen 58

Entgegen einer mitunter vertretenen Ansicht196 entfalten die Konventionsrechte keine unmittelbare Wirkung gegenüber Privatpersonen. Dies folgt bereits aus Art 1 EMRK und wird durch die Bestimmungen der Art 33 und 34 EMRK bestätigt, weil diese nur Beschwerden wegen behaupteter Verletzungen einer Hohen Vertragspartei (Staaten oder EU), nicht aber wegen Verletzungen von Individuen vorsehen. Allerdings wirken nicht wenige Konventionsrechte – wie etwa das Verbot der Leibeigenschaft (Art 4 I EMRK) sowie das Recht auf Eheschließung (Art 12 EMRK) oder die Gleichberechtigung der Ehegatten (Art 5 7. ZP EMRK) – auch und gerade auf das Privatrecht ein. Ferner ist bereits ausgeführt worden (Rn 31), dass sich aus den Konventionsrechten Ansprüche auf Gewährung staatlichen Schutzes vor rechtswidrigen Eingriffen Privater entnehmen lassen. In erster Linie ist der Staat verpflichtet, Gesetze zu erlassen, die ein konventionswidriges Verhalten Dritter nicht zulassen.197 Jedenfalls in einem Fall ist der EGMR weiter gegangen und hat eine unmittelbare Verantwortung eines Konventionsstaates für eine körperliche Bestrafung durch den Direktor einer Privatschule angenommen, also nicht an ein staatliches, sondern privates Verhalten angeknüpft, dieses aber dem Staat zugerechnet.198

VI. Räumlicher Geltungsbereich der EMRK 59

Fall 8: (EGMR, NJW 2003, 413 – Bankovic) Mehrere Bf haben sich unter Berufung auf Art 2 EMRK und weiterer Vorschriften der EMRK mit einer gegen die der NATO angehörenden Konventionsstaaten gerichteten Individualbeschwerde an den EGMR gewandt, weil die NATO einen Fernsehsender der ehemaligen Republik Jugoslawien bombardiert hat und hierbei Angehörige der Bf zu Tode gekommen sind.

196 BGHZ 27, 284, 285 f. Vgl demgegenüber zB Szczekalla (Fn 110) S 900 f, 906; Röben in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, V Rn 146 ff. 197 Vgl EGMR, EuGRZ 1981, 559 – Young ua. 198 EGMR, Series A 247-C, Rn 27 f – Costello-Roberts. Zwar fehlte in England ein Gesetz, welches die körperliche Bestrafung von Schülern verbot, so dass der EGMR auf die Schutzpflicht des Staates hätte abstellen können. Er hat dies aber nicht getan.

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Fall 9: (EGMR, NVwZ 2008, 645 – Behrami ua) Bf A und B aus dem Kosovo haben sich an den EGMR gewandt. A rügt die Verletzung des Art 2 EMRK, weil ein französischer Offizier der (auf der Grundlage einer Entschließung der Vereinten Nationen tätig gewordenen) Internationalen Schutztruppe (KFOR) eine nicht explodierte Bombe nicht entschärft habe und dadurch sein Sohn getötet worden ist. B macht geltend, dass er zu Unrecht auf Befehl eines norwegischen Offiziers der Schutztruppe festgenommen wurde und dies gegen Art 5 EMRK verstoßen habe.

Abwandlung: (EGMR v 7.7.2011, 27021/08 – Al-Jedda) Der Bf reiste nach dem Sturz Saddam Husseins in den Irak, wurde von US-Soldaten wegen des Verdachts terroristischer Aktivitäten verhaftet, in ein britisches Militärgefängnis überstellt und drei Jahre festgehalten, ohne dass gegen ihn Anklage erhoben wurde. Nach Erschöpfung des Rechtswegs rügte er vor dem EGMR eine Verletzung seiner Rechte aus Art 5 EMRK. Das Vereinigte Königreich lehnte jede Verantwortlichkeit ab, weil die Vereinten Nationen mit den Resolutionen 1483 und 1511 die Letztverantwortlichkeit für das Verhalten der IRA-Truppen im Irak übernommen habe.

Art 1 EMRK knüpft die Verpflichtung der Konventionsstaaten zur Beachtung der EMRK an die Ausübung von Hoheitsgewalt („jurisdiction“/„juridiction“). In der Regel übt ein Staat Hoheitsgewalt auf dem eigenen Territorium aus. Jedoch ist der räumliche Geltungsbereich der EMRK weiter. So unterstehen die diplomatischen und konsularischen Vertreter oder die staatlichen Schiffe und Flugzeuge auch außerhalb des eigenen Territoriums der Hoheitsgewalt des Staates.199 Das extraterritoriale Handeln eines Staates unterliegt nach der Rspr des EGMR dagegen prinzipiell nicht der Bindung an die EMRK, weil die Hoheitsgewalt iSd Art 1 EMRK territorial zu verstehen sei. Die EMRK sei nicht dazu gedacht, auf das Verhalten von Vertragsstaaten weltweit angewendet zu werden.200 Anderes gilt aber, wenn ein Staat die (effektive) Kontrolle über einen außerhalb seiner Grenzen gelegenes Gebiet ausübt, Befehlsgewalt wahrnimmt (durch militärische Besetzung201 oder kraft Zustimmung, Aufforderung oder Einwilligung der Regierung202) oder extraterritoriale Gewalt anwendet.203 Im Einzelnen lässt die Rspr nicht immer eine klare Linie erkennen. Vor allem bei militärischen Einsätzen in internationalen oder nicht internationalen Konflikten hat der EGMR zunächst eine sehr restriktive Haltung im Hinblick auf die Geltung der EMRK eingenommen – sei es, dass eine effektive Kontrolle ver199 Zu den Rspr-Nachw vgl Johann in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 1 Rn 21. 200 EGMR, NJW 2003, 413, 417 – Bankovic (Fall 8). 201 EGMR, EuGRZ 1997, 555 Rn 52 – Loizidou (Verantwortlichkeit der Türkei für das Verhalten in Nordzypern). 202 Vgl EKMR, Yearbook of the European Convention on Human Rights 20 (1977), 372, 404 – X (Ausübung fremdenpolizeilicher Tätigkeit der Schweiz in Liechtenstein auf der Grundlage eines Abkommens). 203 Vgl zusammenfassend m Nachw zur Rspr Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 14 ff. Näher dazu insbes EGMR, NJW 2003, 413 ff – Bankovic (Fall 8); NJW 2005, 1849 ff – Ilas¸ cu (Verantwortlichkeit der Russischen Föderation für ein Gebiet von Moldawien); v 16.11.2007 Rn 66 ff – Issa ua (Behauptete Menschenrechtsverletzungen im Rahmen einer türlischen Militäraktion im Norden des Irak); NJW 2006, 2971 f – Saddam Hussein; ferner den Fall 9. Tendenziell scheint der EGMR geringere Anforderungen an die Ausübung von Hoheitsgewalt zu stellen, wenn das Gebiet eines anderen Konventionsstaates betroffen ist.

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neint wurde (Fall 8) oder die Anwendung der EMRK wegen des Handelns unter dem Dach Internationaler Organisationen von vornherein ausgeschlossen wurde (Fall 9). Tendenziell scheint er davon in neuerer Zeit zu Recht vorsichtig abzurücken (Abwandlung Fall 9). Die Voraussetzungen für eine Derogation von den Konventionsverpflichtungen gem Art 15 EMRK (Rn 73) liegen idR nicht vor. Keine effektive Kontrolle soll die Lufthoheit darstellen, so dass auch Bombadierungen nicht an der EMRK gemessen worden sind (Fall 8). Dieser restriktive Ansatz wird der auch ansonsten gebotenen dynamischen Auslegung der EMRK (Rn 41) nicht gerecht.204 Werden Streitkräfte im Namen der Vereinten Nationen tätig, soll die EMRK von vornherein nicht anwendbar sein (Fall 9). Dies kann indessen jedenfalls nicht gelten, wenn sich die Vorgaben aus den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und der EMRK nicht widersprechen, der Sicherheitsrat lediglich eine Empfehlung abgegeben hat oder den Staaten eigenverantwortlich zu füllende Handlungsspielräume belassen worden sind (Abwandlung Fall 9).205 Bei Festnahmen (Entführungen) von Personen aus dem Ausland (die der Staat anschließend in seinen Einflussbereich bringt) wird die tatsächliche Gewalt über die festgenommene Person als ausreichend erachtet.206 Des Weiteren bleibt die Verantwortlichkeit eines Konventionsstaates auch dann bestehen, wenn er eine Person ausweist oder an einen anderen Staat ausliefert, die menschenrechtsverletzenden Maßnahmen jedoch allein in dem aufnehmenden Land erfolgen oder zu befürchten sind.207 Schließlich ermöglichen es die „Kolonialklausel“ des Art 56 EMRK und die entsprechenden Bestimmungen der Zusatzartikel (Art 4 1. ZP EMRK, Art 5 4. ZP EMRK, Art 5 6. ZP EMRK, Art 6 7. ZP EMRK) den Konventionsstaaten, die Konvention einschließlich ihrer Rechtsschutzmöglichkeiten auf Gebiete auszudehnen, für deren internationale Beziehungen sie verantwortlich sind (zB Niederländische Antillen, Falklandinseln usw).208

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Lösung Fall 8: Der EGMR hat die Beschwerden als unzulässig abgewiesen, weil für die angegriffenen Handlungen der beklagten Staaten eine Verantwortlichkeit nach der Konvention nicht besteht. Extraterritoriale Handlungen unterfielen nur dann dem Begriff der Hoheitsgewalt iSv Art 1 EMRK, wenn über das fremde Gebiet eine effektive Kontrolle ausgeübt werde. Dies treffe auf eine bloße Luftherrschaft nicht zu. Zur gegenteiligen Auffassung vgl die Ausführungen oben. Lösung Fall 9: Der EGMR hat die Beschwerden als unzulässig angesehen, weil diese rationae personae (nicht rationae loci – vgl zu dieser Unterscheidung Rn 90, 94) mit der EMRK unvereinbar seien. Das umstrittene Vorgehen der KFOR sei den Vereinten Nationen zuzurechnen, weil

204 Vgl auch Surholt Amtshaftung für Handlungen in Auslandseinsätzen der Bundeswehr, 2014, S 265 ff. 205 Vgl auch Surholt (Fn 204), S 327 ff. 206 Vgl EGMR (Kammer der Ersten Sektion), EuGRZ 2003, 472 – Öcalan (Verhaftung des Kurdenführers durch türkische Beamte in Kenia); (GK), NVwZ 2006, 1267 ff – Öcalan. 207 EGMR, EuGRZ 1989, 314, Rn 91 – Soering. 208 Andererseits ist das Individualbeschwerderecht im Hinblick auf das Hoheitsgebiet der Isle of Man zeitweilig nicht anerkannt worden. Vgl näher dazu Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 63 Rn 4 f.

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diese – nicht die Heimatstaaten – die Kontrolle über die Handlung der Soldaten gehabt habe. Auch der Umstand, dass sich die Konventionsstaaten nicht einfach durch Übertragung ihrer Hoheitsrechte auf eine internationale Organisation ihrer Verantwortung entziehen könnten (vgl Fall 7) soll hier zu keinem anderen Ergebnis führen. Zum einen komme dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine einzigartige Verantwortung zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu, was eine Kontrolle von Maßnahmen aufgrund von Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen ausschließe. Zum anderen ergebe sich aus Art 103 UN-Charta ein Vorrang der Charta vor anderen Verpflichtungen. Die Argumentation des EGMR ist nicht zweifelsfrei. Zunächst wird gegen Maßnahmen der Vereinten Nationen kein dem EMRK vergleichbarer Grundrechtsschutz gewährt (schon weil es an einer dem EGMR vergleichbaren Gerichtsinstanz fehlt). Sodann werden die Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Kapitel VII der Vereinten Nationen zu militärischen Maßnahmen ermächtigt, aber nicht verpflichtet. Des Weiteren setzt Art 103 der Charta einen Widerspruch voraus. Schließlich ließe sich die Auffassung vertreten, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen Teil seiner „einzigartigen Verantwortung“ an die Staaten abgibt, wenn er zu Militäreinsätzen ermächtigt, so dass Raum für die Anwendbarkeit der Konvention gegeben wäre. Folgt man dem EGMR, könnten Maßnahmen im Namen der Vereinten Nationen niemals an der EMRK gemessen werden. Lösung Abwandlung Fall 9: Da der UN-Sicherheitsrat im Irak zwischen 2004 und 2007 weder effektive Kontrolle noch letzte Verantwortung und Kontrolle über das Verhalten britischer Truppen im Irak gehabt hat, hat der EGMR festgestellt, dass das Vereinigte Königreich und nicht die Vereinten Nationen für die Inhaftierung verantwortlich war. Untersucht wird sodann, ob sich aus den Resolutionen 1483 und 1511 ein Dispens von Art 5 EMRK ergibt. Dies wird verneint, weil der Sicherheitsrat nicht beabsichtigt habe, die Staaten in irgendeiner Weise zu einem Bruch grundlegender Menschenrechte zu verpflichten und die Resolutionen den beteiligten Staaten Spielräume bei der Wahl der Mittel gelassen habe. Da das Vereinigte Königreich Art 5 EMRK verletzt hat, war die Beschwerde erfolgreich.

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VII. Zeitliche Geltung der EMRK Da die Konvention keine rückwirkende Kraft hat, werden die Konventionsstaaten erst mit dem Beitritt zur Konvention und nur für die Dauer des Beitritts gebunden (sofern kein Vorbehalt gemacht wurde). Für Maßnahmen der Bundesrepublik Deutschland, die vor dem 3.9.1953 erlassen worden sind (dh dem Inkrafttreten der Konvention), besteht somit keine Konventionsbindung.209 Allerdings müssen sich vor Inkrafttreten der Konvention erlassene Maßnahmen dann auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention hin überprüfen lassen, wenn sie fortdauernde Auswirkungen zeitigen.

209 Vgl EGMR, NJW 2009, 492 ff – Associazione Nazionale ua (Entschädigung für Zwangsarbeit italienischer Kriegsgefangener); EuGRZ 2011, 477 ff – Distomo = JK 2012, EMRK Art 1 1. ZP/4; zur Staatenimmunität in solchen Fällen vgl IGH, 3.2.2012 – Germany/Italy = JK 2012, IGH Germany v. Italy/1.

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VIII. Gewährleistungen und Beschränkungen der Konventionsrechte 1. Stufen der Konventionsrechtsprüfung 67

In Deutschland wird eine Grundrechtsprüfung üblicherweise in drei Stufen vorgenommen, indem zwischen Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung unterschieden wird.210 Dieser Prüfungsaufbau ist für die Abwehrfunktion der Freiheitsrechte entwickelt worden und auch dort nicht selbstverständlich. So besteht die Tendenz zur Annahme quasi unbegrenzter natürlicher Freiheiten (im Gegensatz zu rechtlich gewährten und damit oftmals von vornherein begrenzten, gleichzeitig aber auf reale Entfaltung angelegten Freiheiten).211 Ferner ist zweifelhaft, ob sich die Ausgestaltung der rechts- bzw normgeprägten Grundrechte (wie etwa die Vereinigungsfreiheit oder das Eigentumsgrundrecht) auf diese Weise stets angemessen in den Griff bekommen lassen. Dennoch wird das Prüfungsschema mit gewissen Modifikationen212 zumeist auch auf die anderen Grundrechtsgewährleistungen (also den Gleichheits-, Leistungs-, Staatsbürger- und Verfahrensrechte) angewandt. Für die Überprüfung von EMRK-Verletzungen fehlt es bisher an einem ausgefeilten, einheitlich zugrunde gelegten Raster. Obwohl der in Deutschland übliche Prüfungsaufbau hinterfragt werden kann, tauchen die zu behandelnden Fragestellungen auch auf der EMRK-Ebene in vergleichbarer Weise auf. Teilweise finden sich bereits im Normentext entsprechende Formulierungen (vgl Rn 70). Daher erscheint es angemessen, den Prüfungsansatz auch insoweit grds zugrunde zu legen.213 Zusätzlich ist die Anwendbarkeit der Konvention gesondert zu prüfen. Tendenziell sind Schutzbereich und Eingriff weit zu fassen, dafür werden den Konventionsstaaten auf der Rechtfertigungsebene aber erhebliche Gestaltungsspielräume eingeräumt (vgl Rn 120). Vertretbar ist es auch, nach Feststellung der Anwendbarkeit der Konvention nur zweistufig vorzugehen, dh zunächst danach zu fragen, ob der Gewährleistungsgehalt der Konventionsrechte beeinträchtigt wurde, und sodann zu prüfen, ob die Beeinträchtigung rechtmäßig ist. Ohnehin darf ein Prüfungsschema nicht schematisch angewendet werden. Geht es zB nur um die Frage, ob gegen das Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK verstoßen worden ist, reicht es (nach Feststellung der Einschlägigkeit der Konventionsrechte) aus zu prüfen, ob eine Ungleichbehandlung vorliegt und ob sich diese rechtfertigen lässt. Bei Verfahrens- und Justizrechten empfiehlt es sich, darauf abzustellen, ob das Verfahrens- bzw Justizrecht anwendbar ist (was der Eröffnung des Schutzbereichs entspricht) und ob das gebotene Verfahren beachtet wurde. Im Falle absolut geschützter Rechte wie dem Verbot der Folter214 (Art 3 EMRK) steht mit der Einschlägigkeit des Schutzbereichs bereits die Verletzung fest.215

210 Vgl etwa Starck in: v Mangoldt/Klein/ders (Hrsg) Kommentar zum Grundgesetz: GG, 6. Aufl 2010, Bd 1, Art 1 Rn 262 ff; Dreier (Fn 56) Rn 119 ff; Jarass in: ders/Pieroth, Grundgesetz, 12. Aufl 2012, Vorb vor Art 1 Rn 14 ff; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn 109) Rn 212 ff. 211 Krit Hoffmann-Riem Der Staat 2004, 203, 226 ff (der ebenfalls einen dreistufigen Aufbau befürwortet, aber statt vom Schutzbereich vom Gewährleistungsgehalt spricht, um deutlich zu machen, dass es nicht um abgegrenzte Sphären bzw Bereiche, sondern um normative Gehalte geht); Krebs in: Merten/Papier (Hrsg) HGR, Bd II, 2006, § 31 Rn 123 ff. 212 Vgl Jarass in: ders/Pieroth (Fn 210) Vorb vor Art 1 Rn 15 f. 213 Ebenso Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 1 ff; Peters/Altwicker EMRK, § 3 Rn 1 ff. 214 → § 3 Rn 38. 215 Vgl auch Marauhn/Merhof in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, VII Rn 19.

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2. Anwendbarkeit der Konvention Ein staatliches Verhalten kann nur an den Verbürgungen der EMRK gemessen werden, wenn diese eine einschlägige Maßstabsnorm enhält, die auf den zu beurteilenden Sachverhalt anwendbar ist. Beides ist nicht selbstverständlich, da die EMRK keinen umfassenden Grundrechtsschutz gewährt und nicht alle EMRK-Bestimmungen Bindungswirkungen entfalten. So treten die Zusatzprotokolle nur in Kraft, wenn sie von einer ausreichenden Zahl von Konventionsstaaten ratifiziert worden sind. Sie verpflichten nur jene Staaten, die diese ratifiziert haben. Dagegen gilt die EMRK selbst im Grundsatz für alle Konventionsstaaten. Allerdings kann jeder Staat gem Art 57 EMRK bei Unterzeichnung der Konvention (bzw der Zusatzprotokolle) oder bei Hinterlegung der Ratifikationsurkunde durch einseitige Erklärungen (iSd Art 2 I lit d WVK) Vorbehalte anmelden216, soweit ein zu dieser Zeit in seinem Hoheitsgebiet geltendes Gesetz mit der betreffenden Bestimmung nicht übereinstimmt.217 Die Vorbehalte schließen eine Konventionsbindung aus, so dass darauf gestützte Beschwerden ratione materiae unzulässig sind (Rn 96). Nicht statthaft sind Vorbehalte zu der Regelung, dass die Todesstrafe abgeschafft ist (Art 4 6. ZP EMRK; Art 3 13. ZP EMRK). Im Übrigen müssen die Vorbehalte auf einem bereits in Kraft befindlichen Gesetz zum Zeitpunkt der Ratifikation der EMRK oder eines Zusatzprotokolls (nicht später) beruhen. Erforderlich ist, dass die Gesetze nicht allgemeiner Art sind218 (dh sich auf „einzelne Bestimmungen“ der EMRK beziehen und nicht nur zB bloß auslegende Erklärungen der Konventionsstaaten darstellen), mit der EMRK oder ihren Zusatzprotokollen kollidieren und dem Bestimmtheitsgebot219 genügen. Der Vorbehalt muss mit einer kurzen Darstellung des betreffenden Gesetzes verbunden sein (Art 57 II EMRK). Die Gültigkeit der (leider zahlreichen220) Vorbehalte unterliegt (jedenfalls mittelbar) der Überprüfung durch den EGMR, weil dieser über die Konventionspflichten der Staaten zu entscheiden hat.221 Wegen der gebotenen restriktiven Auslegung der Voraussetzungen des Art 57 EMRK für die Erklärung von Vorbehalten zu einzelnen Bestimmungen der EMRK erweisen sich viele von den Konventionsstaaten abgegebene Vorbehalte als ungültig oder in ihrer Wirkung als eingeschränkt.222 Die von Deutschland erklärten Vorbehalte sind entweder zurückgenommen worden, stellen in Wahrheit bloße Interpretationserklärungen dar oder sind nicht in Kraft getreten, so dass Art 57 EMRK derzeit in Deutschland nicht zum Zuge kommt.223 Die Notstandsklausel des Art 15 EMRK berührt nicht die Anwendbarkeit der Regelungen, sondern ermächtigt nur dazu, von den Verpflichtungen abzuweichen (Rn 73).

216 Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit von Vorbehalten vgl Art 19 WVK. 217 Näher dazu Behnsen Das Vorbehaltsrecht völkerrechtlicher Verträge, 2007, S 207. 218 Vgl Art 57 I 2 EMRK. 219 Erklärungen, die nicht auf bestimmte Regelungen abzielen oder unklar formuliert wurden, sind unzulässig. Vgl EGMR, EuGRZ 1989, 21, Rn 52 ff – Belilos. 220 Vgl die Zusammenstellung bei Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 57 Rn 1 ff. Zu den deutschen Vorbehalten vgl Fn 238. 221 Vgl zB EGMR, EuGRZ 1989, 21, Rn 50 – Belilos; ÖJZ 2001, 194, Rn 28 f – Eisenstecken. 222 Vgl zB EGMR, JBl 1995, 577– Gradinger. Siehe zu dieser Problematik auch Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 297 f. 223 Vgl zu den deutschen Vorbehalten Meyer-Ladewig EMRK, Art 57 Rn 7 ff; Behnsen in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 57 Rn 3 ff.

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3. Schutzbereich (Gewährleistungsgehalt) der Konventionsrechte 69

Unter dem Schutzbereich der Konventionsrechte lässt sich der geschützte Wirklichkeitsausschnitt (zB Äußerung einer Meinung im Falle des Art 10 EMRK), unter dem Gewährleistungsgehalt die rechtliche Garantie selbst verstehen (zB Recht auf freie Meinungsäußerung).224 Ebenso wie im deutschen Recht225 wird auch die sog negative Freiheit geschützt (also zB die Freiheit, keine Religion zu haben).226 Berücksichtigt werden muss auch das Günstigkeitsprinzip des Art 53 GRCh. Näher dazu und zur Auslegung der Konventionsbestimmungen Rn 41. Nicht auf den Konventionsschutz berufen kann sich, wer auf die Konventionsrechte verbindlich verzichtet hat oder diese missbräuchlich in Anspruch nimmt (Art 17 EMRK; vgl Rn 109). Ein Verzicht ist nur wirksam, wenn nicht Rechte anderer oder öffentliche Interessen entgegenstehen.227 Missbräuchlich in Anspruch genommen wird das durch Art 10 EMRK garantierte Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung zB, wenn der Holocaust geleugnet wird.228

4. Eingriff, Beeinträchtigung 70

Die Hoheitsrechte schützen in ihrem thematisch einschlägigen Bereich nicht vor Nachteilszufügungen jeglicher Art, sondern nur vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen bzw Beeinträchtigungen. Die EMRK spricht teils von Eingriffen (interferences/ingérences; zB Art 8 II, 10 I 2), teils von Einschränkungen (restrictions/limitations; zB Art 9 II, 10 II, 11 II 1, 2 III, IV 4. ZP EMRK) oder Entzug (Art 1 I 1. ZP EMRK). Ein Eingriff bzw eine Beeinträchtigung ist nur gegeben, wenn ein ausreichend enger Zusammenhang zwischen den staatlichen Maßnahmen und der Belastung für den Berechtigten besteht. Eine systematische Eingriffsdogmatik zur EMRK wurde bislang nicht entwickelt. Vielmehr ist das Vorgehen kasuistisch.229 So stellt der EGMR vielfach nicht darauf ab, ob die Nachteilszufügung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich bzw mit oder ohne Befehl erfolgt ist.230 Im Einzelnen kann sich die Lage aber anders darstellen, zB weil ein Rechtsakt231 oder eine gewisse Intensität der Beeinträchtigung232 verlangt wird. Grundsätzlich herrscht die Tendenz vor, keine besonderen Anforderungen an 224 Vgl zum Sprachgebrauch Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn 109) Rn 219; Jarass GR, § 6 Rn 15 ff. 225 Krit Hellermann Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, 1993. 226 Vgl zur Religionsfreiheit Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 9 Rn 2; → vgl auch § 3 Rn 31 ff. 227 Ebenso Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 32 f. 228 EGMR, NJW 2004, 3691 ff – Garaudy. 229 Vgl Weber-Dürler VVDStRL 57 (1998), 57, 86. 230 Restriktiver Villiger EMRK, Rn 542 (Ausklammerung mittelbarer Grundrechtsberührungen). 231 Nach der Menschenrechtskommission waren medizinische Untersuchungen oder Impfungen nur dann als Eingriff in Art 8 I EMRK anzusehen, wenn sie aufgrund einer obligatorischen Anordnung erfolgten (krit hierzu Wildhaber/Breitenmoser in: Karl, Int EMRK, Art 8 Rn 64). 232 So kann von Folter iSd Art 3 EMRK nur gesprochen werden, wenn ein gewisses Minimum an Schwere erreicht wird (EGMR, EuGRZ 1979, 149, Rn 162 – Irland; NJW 2010, 3145, Rn 101 – Gäfgen = JK 2009, EMRK Art 3/3). Auch sollen geringfügige staatliche Maßnahmen und Handlungen keine Eingriffe iSd Art 8 II EMRK darstellen (Wildhaber/Breitenmoser in: Karl, Int EMRK, Art 8 Rn 61). Beispielsweise beeinträchtigen nur schwere Umweltverschmutzungen und damit verbundene Emissionen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 I EMRK (vgl EGMR, EuGRZ 1995, 530 ff – Lopéz Ostra = JK 96, EMRK Art 8/2; NVwZ 2004, 1465, Rn 96 – Hatton ua).

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den Eingriff bzw die Beeinträchtigung zu stellen,233 um einen wirksamen Konventionsrechtsschutz zu gewährleisten. So werden auch mittelbare Eingriffe, die sich nicht direkt gegen den geschützten Menschenrechtsträger richten (wie Warnungen vor Sekten234) oder tatsächliche Beeinträchtigungen (wie das Sammeln und Speichern personenbezogener Daten235) erfasst. Ferner kann auch die Mitwirkung an Fremdbeeinträchtigungen (Auslieferung einer Person an einen Staat, in dem der Person eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe droht) den Konventionsrechtsschutz auslösen.236 Die Nichterfüllung positiver Handlungspflichten (Schutzpflichten) wird einem Eingriff ebenso wie Ungleichbehandlungen gleichgestellt.237 Vom Eingriff bzw von der Beeinträchtigung zu trennen sind andere Formen der Rechtsregulierung wie insbesondere die Ausgestaltung der Konventionsrechte durch den Gesetzgeber. Wenn Art 12 EMRK das Recht auf Eheschließung „nach den innerstaatlichen Gesetzen“ garantiert, stellt der Erlass diesbezüglicher Gesetze keine Beschränkung dar, sondern ermöglicht erst die Konventionsrechtsausübung. Derartige Normprägungen kennzeichnen viele Konventionsrechte, auch wenn sie im Normtext nicht immer ausdrücklich anklingen (wie zB bei dem Recht auf Achtung des Eigentums und dem Recht auf freie Wahlen, Art 1, 3 1. ZP EMRK). Die Ausgestaltungen der Konventionsrechte mutieren zum Eingriff bzw zur Beeinträchtigung, wenn das im Konventionsrecht mit enthaltene Untermaßverbot missachtet oder in eine nach bisherigem Recht bestehende Position eingegriffen wird.238

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5. Rechtfertigung des Eingriffs bzw der Beschränkung a) Einschränkbarkeit der Konventionsrechte Beeinträchtigt ein staatliches Tun, Dulden oder Unterlassen den Schutzbereich bzw den Gewährleistungsgehalt eines Konventionsrechts, folgt daraus noch keine Rechtsverletzung. Vielmehr kann die Maßnahme gerechtfertigt sein, weil der Staat das Konventionsrecht beschränken darf. Wie das Grundgesetz unterscheidet auch die EMRK zwischen vorbehaltlos gewährleisteten Rechten und solchen mit einem Schrankenvorbehalt. Vorbehaltlos gewährleistete Rechte stellen eine Ausnahme dar. In Deutschland dürfen derartige Rechte gemäß dem Prinzip der Einheit der Verfassung durch kollidierendes Verfassungsrecht (insbesondere kollidierende Grundrechte) begrenzt werden239, wobei dieses teils als

233 Vgl auch Roth Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, 1994, S 58 ff. 234 Vgl EGMR, NVwZ 2010, 177, Rn 84 – Leela Förderkreis eV ua = JK 2010, EMRK Art 6 I/3. 235 Vgl EGMR (GK), EuGRZ 2009, 299, Rn 59 ff – S u Marper; Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 8 Rn 5. 236 Vgl Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 3 Rn 20 ff. Im Falle einer Ausweisung liegt zudem so gut wie immer ein Eingriff in das durch Art 8 I EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens vor. Vgl etwa EGMR, NJW 2003, 2595 ff – Adam. 237 Vgl EGMR, EuGRZ 1995, 530, Rn 54 ff – Lopéz Ostra; NJW 2005, 3767 ff – Moreno Gómez = JK 2006, EMRK Art 5/8; NVwZ 2008, 1215, 1216 – Gaida. Krit zur früheren Rspr Wildhaber/ Breitenmoser in: Karl, Int EMRK, Art 8 Rn 13, 55 ff. 238 Vgl zu dem hier zugrunde gelegten Grundrechtsverständnis für das deutsche Recht BVerfGE 57, 295, 320 ff; Ehlers VVDStRL 51 (1992), 211, 225; Bethge VVDStRL 57 (1998), 7, 29 f. Zum Untermaßverbot vgl BVerfGE 39, 1, 42 ff; Scherzberg Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität“, 1989, S 208 ff. 239 BVerfGE 28, 243, 261; 67, 213, 228; 93, 1, 21.

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Schutzbereichsbegrenzung, im Wesentlichen aber als Grundrechtsschranke fungiert und dann einer konkretisierenden gesetzlichen Grundlage bedarf.240 Entsprechendes dürfte für die EMRK gelten.241 Eine einschlägige Rspr gibt es hierzu – soweit ersichtlich – nicht. Auch dürfte sich sich das Problem wegen des eingeschränkteren vorbehaltslosen Schutzes von Rechten und des Fehlens staatsorganisatorischer Regelungen selten stellen.242 So ist davon auszugehen, dass das Verbot der Folter oder Sklaverei (Art 3, Art 4 I EMRK) keinerlei Beschränkungen zugänglich ist (→ § 3 Rn 45). Verschiedentlich hat die Rspr aber immanente, implizite oder stillschweigende Grundrechtsschranken anerkannt, um Bagatellfälle auszuklammern243 oder den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu geben, die Bedingungen der Rechtsausübung (zB des Wahlrechts244 oder des Rechts auf Zugang zu einem Gericht245) zu regeln246. In Wahrheit liegt in solchen Fällen in aller Regel kein Eingriff vor, weil es um die Auslegung von Tatbestandsmerkmalen, die Anerkennung eines staatlichen Gestaltungsauftrags oder die Bestimmung der für die Annahme eines Eingriffs notwendigen Beeinträchtigungsschwelle geht. ZB schließt das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art 3 EMRK) nicht jede Gewaltanwendung aus. Ist die Gewaltanwendung wegen des Verhaltens eines Gefangenen „unbedingt erforderlich“247, fehlt es an der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.248 Der Sache nach bedeutet dies, dass die notwendigen Abwägungen in nicht wenigen Fällen auf der Tatbestands- oder Eingriffs-, statt auf der Rechtfertigungsebene vorgenommen werden müssen. Sieht man von dem (seltenen) Fall eines kollidierenden Konventionsrechts ab, dürfen die Konventionsrechte nur nach Maßgabe der vorgesehenen Schranken geschmälert werden. Zu unterscheiden ist zwischen allgemeinen und speziellen Schrankenregelungen. b) Allgemeine Schrankenregelungen 73

Allgemeine Schrankenregelungen enthalten die Art 15–17 EMRK. Nach Art 15 I EMRK darf von den Konventionsrechten im Falle des Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstandes abgewichen werden, soweit die Maßnahmen unbedingt erforderlich sind und nicht im Widerspruch zu sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen. Es handelt

240 Vgl Sachs in: ders (Fn 45) Vor Art 1 Rn 120 ff. 241 Aus dem Umstand, dass die Abs 2 der Art 8–11 EMRK ausdrücklich eine Beschränkung „zum Schutz der Rechte (und Freiheiten) anderer“ zulassen, wird man nicht den Gegenschluss ziehen können, dass kollidierende Konventionsrechte im Übrigen unbeachtlich sind. 242 Gegen die Begrenzung vorbehaltslos gewährleisteter Konventionsrechte durch kollidierende Konventionsrechte Marauhn/Merhof in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, VII Rn 19. Für eine Anerkennung impliziter Schranken (zB der Staatenimunität als impliziter Schranke des Rechts auf Zugang zum gerichtlichen Rechtsschutz, Art 6 I EMRK) dagegen Peters/Altwicker EMRK, § 3 Rn 20. 243 Vgl hierzu Wildhaber/Breitenmoser in: Karl, Int EMRK, Art 8 Rn 579 f. 244 EGMR v 2.9.1998, 25964/94, Rn 75 – Ahmed; Series A 113, Rn 52 – Mathieu-Mohin. 245 EGMR v 21.11.2001, 37112/97, Rn 33 – Fogarty. 246 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 20 Rn 32. 247 Vgl EGMR, Rep 1998-IV, 1504, Rn 52 f – Tekin. 248 Der Rechtfertigungsebene ordnen diesen Fall dagegen Peters/Altwicker EMRK, § 6 Rn 3, zu. Vgl auch EGMR, NJW 2010, 3145 ff – Gäfgen = JK 2009, EMRK Art 3/3, wonach Art 3 EMRK zwar ein absolutes Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung enthält, eine Mißhandlung aber ein Mindestmaß an Schwere erreichen muss, um in den Anwendungsbereich des Art 3 EMRK zu fallen.

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sich um eine auch ansonsten in internationalen Menschenrechtsabkommen geläufige249 Derogationsklausel, die als Schrankenregelung im weiteren Sinne angesehen werden kann, weil sie Rechtseingriffe unter Überschreibung der in den speziellen Schrankenregelungen gezogenen Grenzen erlaubt.250 Das Vorliegen eines Notstandes setzt voraus, dass dieser besteht oder unmittelbar bevorsteht, die Krisen- oder Gefahrensituation die Gesamtheit der Bevölkerung berührt und das Zusammenleben der Gemeinschaft bedroht sowie durch normale Maßnahmen oder Einschränkungen nicht bekämpft werden kann.251 Den nationalen Organen wird ein Beurteilungsspielraum (Ermessensspielraum) zugestanden.252 Das Abweichen von den Konventionsverpflichtungen muss aber dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen.253 Wegen des Günstigkeitsprinzips des Art 53 EMRK (Rn 10) darf das Verfassungsrecht des Konventionsstaates nicht verletzt werden. Notstandsfest sind die in Art 15 II EMRK genannten Rechte. Nach Absatz 3 der Vorschrift muss der Generalsekretär des Europarats umfassend unterrichtet werden. Außerdem bedarf es einer amtlichen Verlautbarung.254 Die Klausel des Art 15 EMRK hat in einer beachtlichen Anzahl von (nicht die Bundesrepublik Deutschland betreffenden) Fällen eine Rolle gespielt (Griechenland, Zypern, Türkei, Nordirland, Albanien, Frankreich, Vereinigtes Königreich).255 Im Falle der Inhaftierung terrorverdächtiger, nicht in ihr Heimatland abschiebbarer Ausländer durch das Vereinigte Königreich nach dem 11.2.2001, hat der EGMR das Bestehen einer Notstandslage bejaht, die sich über Art 5 EMRK hinwegsetzende Maßnahmen aber als unverhältnismäßig angesehen.256 Art 16 EMRK erlaubt den Konventionsstaaten, die politische Tätigkeit von Ausländern in Bezug auf die Freiheit der Meinungsäußerung sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ohne Rücksicht auf das Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK einzuschränken. Die „antiquierte, in den sonstigen Menschenrechtspakten nicht enthaltene und eng auszulegende“257 Vorschrift ist auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU nicht anwendbar.258 Art 17 EMRK will dem Missbrauch vorbeugen (vgl auch Rn 109) und lässt einerseits die Berufung von „Freiheitsfeinden“ auf die Konventionsrechte bei der Ausübung von Tätigkeiten oder der Vornahme von Handlungen nicht zu. Dies bedeutet, dass der Staat die Grundrechtsausübung 249 Vgl Art 4 IPbürgR. 250 Näher dazu Johann in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 15 Rn 1. Gegen die Einordnung des Art 15 EMRK als Grundrechtsschranke Marauhn/Merhof in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, VII Rn 20. 251 Vgl EGMR (GK), NJOZ 2010, 1903, Rn 176 – A ua/Vereinigtes Königreich; Meyer-Ladewig EMRK, Art 15 Rn 4 m w Rspr-Nachw. 252 EGMR, EuGRZ 1979, 149, Rn 207 – Irland; (GK), NJOZ 2010, 1903, Rn 173 – A ua/Vereinigtes Königreich. 253 Vgl EGMR, ÖJZ 1994, 64, Rn 454 f – Brannigan u McBride; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 2 Rn 11. 254 Vgl dazu Johann in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 15 Rn 7. 255 Vgl Vollner Geltung der Menschenrechte im Staatsnotstand, 2010, S 33 ff. 256 EGMR (GK), NJOZ 2010, 1903, Rn 181, 190 – A ua/Vereinigtes Königreich. 257 Vgl Walter VVDStRL 72 (2013), 7 (mit Hinweis darauf, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarates schon 1977 die Abschaffung der Vorschrift verlangt hat), zugleich mit der Feststellung einer „Entbündelung“ des Bürgerstatus durch die nationale und internationale Menschenrechtsentwicklung (18). 258 Vgl EGMR, Series A, Vol 314, Rn 64 – Piermont; Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 16 Rn 1; Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 333; Mensching in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 16 Rn 4 f.

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verbieten und bestrafen darf. Gleichzeitig werden andererseits aber auch dem Staat weitergehende Beschränkungen der Rechte und Freiheiten als in der Konvention vorgesehen untersagt. Soweit sich das Missbrauchsverbot an Gruppen oder Einzelpersonen richtet, kommt es idR bereits als Schutzbereichsbegrenzung und nicht erst als Abwägungsbelang bei der Rechtfertigungsprüfung zum Zuge (Rn 69). c) Spezielle Schrankenregelungen 74

Daneben gibt es spezielle Schrankenregelungen, die jeweils nur die Einschränkung desjenigen Konventionsrechts erlauben, für das sie formuliert sind. Auch diese speziellen Regelungen weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf. aa) Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung

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Fall 10: (EGMR, NVwZ 2010, 177 ff – Leela Förderkreis eV ua = JK 2010, EMRK Art 6 I/3) Die Bf sind religiöse Vereine, die sich nach Erschöpfung des Rechtsweges (BVerfGE 105, 279 = JK 2002, GG Art 4 I, II/23a) b) vor dem EGMR dagegen wehren, dass die deutsche Bundesregierung vor ihnen gewarnt hat.

Die Beeinträchtigung nicht vorbehaltlos gewährleisteter Konventionsrechte ist nur durch oder aufgrund Gesetzes (law/loi) zulässig (vgl zB Art 5 I, 6 I,259 7 260, 8–11 EMRK, Art 1 1. ZP EMRK, Art 2 III 4. ZP EMRK, Art 2 7. ZP EMRK). Anders als die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art 52 I 1 → § 14 Rn 104) enthält die EMRK somit keinen allgemeinen Gesetzesvorbehalt, sondern spezifische Vorbehalte, denen allerdings kein unterschiedliches Gesetzverständnis zugrunde liegt. Welche Anforderungen die EMRK an ein Gesetz stellt, ist nicht in jeder Hinsicht vollständig geklärt.261 Wie der EGMR festgestellt hat, kann ungeschriebenes Recht (Richterrecht, Gewohnheitsrecht) als Gesetz iSd Konvention angesehen werden, weil nicht angenommen werden könne, dass die Grundrechtsvorbehalte der EMRK eine Grundlage der Rechtsordnung der Staaten des Common Law verändern wollten.262 Hieraus ergibt sich zugleich, dass nur ein Gesetz im materiellen Sinne (also eine – regelmäßig – abstrakt-generelle Regelung263 im Außenrechtskreis), nicht dagegen ein Gesetz im formellen Sinne (dh iS eines Parlamentsgesetzes) erforderlich ist.264 Die Abgrenzung der Wirkungsbereiche von Legislative und Exekutive ist somit nicht Aufgabe der Gesetzesvorbehalte iSd EMRK.265 Allerdings wird vielfach die Auffassung vertreten, dass auch die EMRK die demokratische Dimension des Gesetzesvorbehalts anerkennt und deshalb erforderlich ist, dass ein Eingriff in ein Konventions259 Established by law, établi par la loi. 260 Under national or international law/D’après le droit national ou international. 261 Vgl auch Weiß Das Gesetz im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1996, S 69 f; Rieckhoff Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007, S 144 ff. 262 Grundlegend EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 47 ff – Sunday Times; vgl auch EGMR, EuGRZ 1984, 147, Rn 85 – Silver; EuGRZ 1985, 17, Rn 66 – Malone; ferner EKMR, EuGRZ 1977, 419, Rn 63 ff – Klass; EGMR, ÖJZ 1994, 636 – Casado Coca. 263 Ausnahmsweise kann es sich auch um einen Einzelfallgesetz handeln. Vgl Fassbender in: Klein (Hrsg) Gewaltenteilung und Menschenrechte, 2006, S 73, 86. 264 EGMR, NVwZ 2010, 177, Rn 87 – Leela Förderkreis eV ua = JK 2010, EMRK Art 6 I/3 (→ Fall 10). 265 In diesem Sinne auch Fassbender in: Klein (Fn 263) S 106.

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recht auf ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zurückgeführt werden kann.266 Dies würde dann aber doch auf einen – mit dem Common Law System und auch den Rechtstraditionen in Frankreich nicht zu vereinbarenden – Vorbehalt des formellen Gesetzes hinauslaufen, mag die geforderte Regelungsdichte des Parlamentsgesetzes auch gering zu veranschlagen sein. Nach der hier vertretenen, im Einklang mit der Rspr des EGMR stehenden Auffassung verlangt der Gesetzesvorbehalt der EMRK zwingend nur, dass das geschriebene oder ungeschriebene materielle Recht zugänglich267 und so bestimmt ist, dass die Konsequenzen – notfalls mit sachkundiger Hilfe – für den Rechtsunterworfenen vorhersehbar ist, so dass dieser sein Verhalten darauf ausrichten kann.268 Zugänglichkeit bedeutet, dass der Rechtsunterworfene die Möglichkeit haben muss, Kenntnis von dem Gesetz zu erlangen. Die Vorhersehbarkeit hängt vom Inhalt der fraglichen Vorschrift, dem Anwendungsbereich sowie der Zahl und Rechtsstellung der Adressaten ab.269 Auslegungsspielräume sind dem (Gesetzes-)Recht immanent und dementsprechend hinzunehmen, so dass auch unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln und Ermessensspielräume zulässig sind. Jedoch muss ein Schutz gegen willkürliche Eingriffe gewährleistet sein.270 So kann das Erfordernis eines Verstoßes gegen die „guten Sitten“ gegebenenfalls als Eingriffsgrundlage nicht ausreichen.271 In „grundrechtssensiblen Bereichen“ sind strengere Anforderungen zu stellen.272 Umgekehrt entspricht es einem weiten Eingriffsbegriff, an faktische Eingriffe geringere Anforderungen zu stellen.273 Des Weiteren hängt es von den Rechtsordnungen der Konventionsstaaten ab, welche Anforderungen an die gesetzlichen Grundlagen zu stellen sind.274 In Deutschland bedürfen Grundrechtseingriffe (oder ein staatliches Handeln in grundrechtssensiblen Bereichen) der Grundlage in einem Parlamentsgesetz.275 Dementsprechend ist es der Verwaltung nicht gestattet, ohne ein solches Gesetz die Konventionsrechte einzuschränken. Eine derartige Einschränkung wäre zudem ohnehin nicht mit den konventionskonform auszulegenden nationalen Grundrechten vereinbar. Somit muss die zur Abgrenzung der legislativen und exekutiven Rechtsetzung entwickelte Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG276 beachtet werden. Bedarf das Tätigwerden der Verwaltung nach den in Deutschland geltenden Regelungen der Ermächtigung in einem Parlamentsgesetz, ist es der Verwaltung nicht gestattet, ohne ein solches Gesetz die Konventionsrechte einzuschränken.

266 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Vorb zu Art 8–11 Rn 2; Weiß (Fn 261) S 153 f; Rieckhoff (Fn 261) S 144, 147. 267 EGMR, EuGRZ 1979, 389, Rn 47 ff – Sunday Times; EuGRZ 1999, 193, Rn 35 – Cantoni. 268 Vgl EGMR EuGRZ 1979, 389, Rn 46 ff – Sunday Times; EGMR Series A 260 Rn 40 – Kokkinakis; EGMR, ÖJZ 1990, 564, Rn 30 – Kruslin; EuGRZ 1992, 535, Rn 88, 91 – Herczegfalvy; NVwZ 2000, 421, Rn 34 ff – Rekvényi; NVwZ 2010, 177, Rn 86 – Leela Förderkreis eV ua = JK 2010, EMRK Art 6 I/3 (Fall 10). 269 EGMR, NVwZ 2010, 177, Rn 88 – Leela Förderkreis eV ua = JK 2010, EMRK Art 6 I/3 (Fall 10). 270 Vgl auch Peters/Altwicker EMRK, § 3 Rn 10. 271 Vgl EGMR v 17.4.2006, 51431/99, Rn 79 – Aristimuño Mendizabal. 272 Vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 11. 273 Mensching in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 10, Rn 46; → § 4 Rn 26, 32. 274 Vgl auch EGMR v 25.5.1993, 14307/88, Rn 37 ff – Kokkinakis. Ferner Rieckhoff (Fn 261) S 146, 148; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 8. 275 Vgl statt vieler Ehlers in: Erichsen/ders (Fn 165), § 2 Rn 41 ff. 276 Vgl BVerfGE 40, 237, 249; 49, 89, 126; 108, 282, 311.

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Lösung Fall 10: Der Schutzbereich des Art 9 I EMRK ist eröffnet (Religionsfreiheit). Obwohl die Maßnahmen der Bundesregierung keinem Verbot gleichkommen, haben sie sich negativ auf die Tätigkeit der Bf ausgewirkt und greifen daher in deren Recht aus Art 9 I EMRK ein. Gem Art 9 II EMRK müssen Einschränkungen der Religionsfreiheit gesetzlich vorgesehen sein. Der Begriff „Gesetz“ erfasst sowohl Gesetzes- als auch Richterrecht. Das BVerfG hat – nicht überzeugend – festgestellt, dass sich die rechtliche Grundlage des Eingriffs aus dem Grundgesetz ergibt. Die Pflicht zur Information über Fragen des öffentlichen Interesses sei eine staatliche Aufgabe, die der Regierung durch das Grundgesetz unmittelbar zugewiesen werde. Angesichts der durch technischen Wandel bedingten Schwierigkeiten, Gesetze über Informationspflichten bestimmt zu fassen, erkennt der EGMR an, dass die Aufgabe der Bundesregierung zu informieren, keiner weiteren gesetzlichen Konkretisierung bedurfte, auch weil das Grundgesetz kein uneingeschränktes Ermessen einräumt. Der Eingriff war somit „gesetzlich vorgesehen“. Ferner hat er nach Auffassung des EGMR ein berechtigtes Ziel verfolgt und war auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. Dementsprechend ist Art 9 I EMRK nicht als verletzt angesehen worden.

bb) Verfolgung zulässiger Ziele 78

Die Schrankenbestimmungen der EMRK enthalten eine Aufzählung von bestimmten Eingriffs- und Beeinträchtigungszielen. ZB muss eine Einschränkung der Religionsfreiheit dem Schutz der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit oder Moral oder dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer dienen (Art 9 II EMRK). Die Garantie der freien Meinungsäußerung (Art 10 EMRK) lässt weitere Zielsetzungen zu (zB Schutz der territorialen Unversehrtheit, Schutz des guten Rufes, Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen usw). Wie Art 18 EMRK (nochmals) ausdrücklich klarstellt, dürfen die Rechte und Freiheiten nur zu den vorgesehenen Zwecken eingeschränkt werden. Art 1 1. ZP EMRK erlaubt zwar eine Entziehung des Eigentums zu den durch Gesetz vorgesehenen Bedingungen, nennt diese aber nicht. Notwendig sein dürften hinreichende Gemeinwohlerfordernisse. Die Ziele werden weit interpretiert, um den Hohen Vertragsparteien Spielräume zu belassen. Oft verzichtet der EGMR regelmäßig auf eine genaue Subsumption unter eines der genannten Eingriffsziele.277 cc) Verhältnismäßigkeit der Beschränkung

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Fall 11: (EGMR (GK), NVwZ 2011, 737 – Lautsi = JK 2011 EMRKZusProt Art 2/2) Die italienische Staatsangehörige Lautsi wendet sich vor dem EGMR dagegen, dass ihre minderjährigen Söhne in Klassenzimmern der staatlichen Schule unterrichtet werden, an denen ein Kruzifix an der Wand hängt.

Viele Einschränkungsklauseln der Konvention enthalten die Formel, dass die betreffende Beschränkung für die verfolgten Ziele „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein muss (Abs 2 der Art 8–11 EMRK). In anderen Bestimmungen ist von unbedingter Erforderlichkeit die Rede (Art 2 II, 6, I, S 2 EMRK). Nach und nach hat der EGMR herausgearbeitet, dass diese Termini nicht eng zu verstehen, sondern mit Verhältnismäßig-

277 So zutreffend v Arnauld VR, Rn 642.

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keit gleichzusetzen sind.278 Darüber hinaus hat der EGMR auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz „als Strukturprinzip eines von der Konvention geforderten Interessenausgleichs zwischen Allgemeininteresse und Individualinteresse“279 auch dann zurückgegriffen, wenn sich aus dem Normtext kein ausdrücklicher Anhaltspunkt dafür ergibt.280 Die Verhältnismäßigkeit wird tendenziell im Sinne des deutschen Rechts verstanden.281 Ebenso wie die deutschen Gerichte und seit längerem auch der EuGH (→ § 7 Rn 130; § 14 Rn 112) unterscheidet der EGMR der Sache nach zwischen Geeignetheit282 (Möglichkeit der Zielerreichung), Erforderlichkeit283 (mildestes Mittel) und Angemessenheit 284 (keine Nachteilzufügung, die zu dem erstrebten Erfolg außer Verhältnis steht, Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) der staatlichen Maßnahmen, auch wenn die verschiedenen Stufen oftmals nicht strikt auseinander gehalten werden.285 Anders als im europäischen Unionsrecht kommt es idR auf die Angemessenheitsprüfung an, dh auf die Gegenüberstellung und Bewertung der Belange der Konventionsstaaten einerseits und der durch die Konventionsrechte geschützten Interessen der Berechtigten andererseits. In der Anlehnung an diese zunächst in Deutschland entwickelten Vorstellungen286 dürfte einer der wichtigsten Beiträge der jüngeren deutschen Rechtskultur für die europäische Rechtsordnung liegen. Allerdings wird den Konventionsstaaten vielfach ein relativ weiter Beurteilungsspielraum (margin of appreciation/marge d’appréciation) eingeräumt, so dass die Kontrolldichte tendenziell niedriger als in Deutschland liegt (näher dazu Rn 120). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es keine gemeineuropäischen Wertvorstellungen gibt (wie nicht selten zB in Bezug auf Leben, Tod oder Religion). Teilweise ähnelt die Überprüfung dem sehr restriktiven (unreasonableness) Test des (früheren) englischen Rechts.287 Im Einzelfall können andere Maßstäbe gelten, insbesondere „where a particularly important facet of an individual’s existence or identity is at stake“288. Auch legt sich der Gerichtshof nicht darauf fest, nur die von den nationalen Gerichten angeführten Gründe zu überprüfen, sondern stellt bei Bedarf selbstständige (weitere) Erwägungen an.289 Die Verhältnismäßigkeit wirkt auch dann als Schranken-Schranke, wenn die EMRK und die Zusatzprotokolle nicht ausdrücklich auf die „Notwendigkeit“ der Einschränkung verweisen. Auf eine Wesensgehaltsgarantie (iSd Art 52 I 1 GRCh, 19 II GG) hat die EMRK zu Recht verzichtet, weil sich diese jedenfalls idR nicht von der Bindung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterscheiden dürfte.

278 Vgl EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 48 – Handyside; Series A 256, Rn 55 ff – Funke. 279 Nußberger NVwZ – Beilage 2013, 36, 40. 280 Vgl zu Art 3 EMRK, EGMR, EuGRZ 1996, 50, Rn 38 – Ribitsch; zu Art 6 EMRK, EGMR, EuGRZ 1986, 8, Rn 57 – Ashingdane. 281 Vgl Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 308. Näher dazu → § 14 Rn 110 ff. 282 Vgl EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 70 – Groppera Radio AG. 283 EGMR, EuGRZ 1985, 170, Rn 52 ff – Barthold. Vgl auch EGMR, EuGRZ 1983, 488, Rn 58 – Dudgeon. 284 Vgl EGMR, EuGRZ 1993, 552, Rn 46 – Moustaquim. 285 Vgl EGMR, EuGRZ 1977, 38 – Handyside. 286 Zur Geschichte vgl Remmert Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen des Übermaßverbotes, 1995. 287 Vgl Associated Provincial Picture Houses Ltd. v. Wednesbury Cooperation 1948, 1K.B.223 (CA). 288 EGMR, NJW 2009, 971, Rn 77 – Dickson. 289 EGMR, NJW – RR 2008, 1141, Rn 101 – Stoll.

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Lösung Fall 11: Nachdem der EGMR in einer Kammerentscheidung einstimmig festgestellt hat, dass die Präsenz des Kruzifixes in den Klassen staatlicher Schulen das Erziehungsrecht der Eltern (Art 2 S 2 1.ZP EMRK) und die negative Religionsfreiheit der Kinder (Art 9 I EMRK) verletzt, kam die Große Kammer mit 15:2 Stimmen zu dem Ergebnis, dass eine solche Verletzung nicht gegeben ist. Hierbei dringt die Große Kammer zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht vor. Vielmehr verweist sie darauf, dass das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern in Italien einer Tradition entspricht, deren Beibehaltung dem Ermessensspielraum der Konventionsstaaten unterfällt. Der EGMR sei verpflichtet, dies zu respektieren, solange keine Indoktrination ausgeübt wird. Letzteres hat die Große Kammer verneint.290

6. Schematische Zusammenfassung 82

Zusammenfassend wird empfohlen, die Verletzung von Konventionsrechten (jedenfalls im Falle des Vorliegens von Freiheitsrechten) wie folgt zu prüfen: I. Anwendbarkeit der Konvention 1. Inkrafttreten der Konventionsbestimmung 2. Ratifizierung der Konventionsbestimmung durch den Konventionsstaat 3. Nichteingreifen eines Vorbehalts (Art 57 EMRK) II. Schutzbereich (Gewährleistungsgehalt) des Konventionsrechts 1. Sachlicher Schutzbereich 2. Persönlicher Schutzbereich Konventionsberechtigung Konventionsverpflichtung 3. Räumlicher Schutzbereich Ggf. extraterritoriale Wirkung 4. Zeitlicher Schutzbereich (ab Beitritt) III. Eingriff bzw Beeinträchtigung des Konventionsrechts UU Ausklammerung von entfernten oder geringen Beeinträchtigungen, wenn die Nachteilszufügung nicht final, rechtlich und/oder unmittelbar erfolgt ist IV. Rechtfertigung des Eingriffs 1. Kollidierendes Konventionsrecht (zweifelhaft) 2. Allgemeine Schrankenregelungen a) Art 15 EMRK b) Art 16 EMRK c) Art 17 EMRK 3. Spezielle Schrankenregelungen a) Notwendigkeit einer materiell-gesetzlichen Regelung, Zugänglichkeit und Bestimmtheit, ggf Erfüllung der weiteren Anforderungen des konventionsstaatlichen Gesetzesvorbehalts b) Vorliegen zulässiger Zwecke c) Verhältnismäßigkeit der Einschränkung Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit

290 Näher zum ganzen de Wall JURA 2012, 69 ff.

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IX. Rechtsschutz 1. Rechtsschutz durch den EGMR Wirkkraft können Grundrechte erst dann entfalten, wenn ihre Einhaltung von einer unabhängigen Gerichtsbarkeit durchgesetzt werden kann. Ansonsten bleiben sie bloße Verheißungen. Geht es um die Einhaltung völkerrechtlicher Gewährleistungen, bedarf es einer internationalen Gerichtsbarkeit. Durch das am 1.11.1998 in Kraft getretene 11. ZP EMRK291 ist der – zuvor sehr kompliziert gestaltete und bei Individualbeschwerden eine Unterwerfungserklärung des verklagten Staates voraussetzende – Menschenrechtsschutz der EMRK grundlegend reformiert und vereinfacht worden.292 Während früher die Europäische Kommission für Menschenrechte, das Ministerkomitee und der EGMR zusammenwirken mussten, wird heute im Wesentlichen nur noch der EGMR als Kontrollinstanz tätig. Die Europäische Kommission für Menschenrechte wurde aufgelöst, das Ministerkomitee293 überwacht nur noch die Durchführung der Urteile des EGMR (Art 46 II–IV EMRK) oder holt Gutachten ein (Art 47 EMRK). Um die langfristige Wirksamkeit des Kontrollsystems in Anbetracht der stetigen Zunahme der Arbeitslast des EGMR und des Ministerkomitees zu wahren und zu verbessern (und den Beitritt der EU zu ermöglichen, Rn 9, 21 f) sind durch das am 1.6.2010 in Kraft getretene 14. ZP EMRK bedeutsame Änderungen des Rechtsschutzes vorgenommen worden. Der EGMR nimmt seine Aufgaben als „ständiger Gerichtshof“ wahr (Art 19 S 2 EMRK) und verfügt über hauptamtlich tätige (Art 21 III EMRK), für die Dauer von neun Jahren294 von der Parlamentarischen Versammlung (Art 22 EMRK) auf der Grundlage eines Listenvorschlags der jeweiligen Hohen Vertragspartei gewählte, nicht wieder wählbare Richter (Art 23 EMRK). Der Entwurf des Beitrittsabkommens der EU zur EMRK sieht für den Fall eines Beitritts vor, dass eine Delegation des Europäischen Parlaments berechtigt ist, sich an der Wahl der Richter zu beteiligen (Art 6 I E-ÜB). Die Richter müssen hohes sittliches Ansehen genießen und entweder die für die Ausübung richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Rechtsgelehrte von anerkanntem Ruf sein (Art 21 I EMRK). Tritt das 15. ZP EMRK in Kraft (Rn 9) dürfen die Kandidaten nicht älter als 65 Jahre alt sein (Art 2 I 15. ZP EMRK). Ihre Anzahl entspricht derjenigen der Hohen Vertragsparteien (Art 20 EMRK), wozu nach Beitritt auch die EU gehört. Der EGMR gliedert sich in vier Spruchkörper, nämlich in Einzelrichter, Ausschüsse mit drei Richtern, Kammern mit sieben Richtern und eine Große Kammer mit 17 Richtern (Art 26 I EMRK).295 Der Kammer und Großen Kammer gehören von Amts wegen die Richter der beteiligten Hohen Vertragsparteien an, der Großen Kammer ferner der Präsident des EGMR, die Vizepräsidenten und Präsidenten der Kammern (Art 26 V 1 EMRK). Das Plenum, dem alle Richter angehören, nimmt nur organisatori-

291 BGBl II 1995, 578. 292 Vgl dazu Meyer-Ladewig/Petzold NJW 1999, 1165 f; Schlette JZ 1999, 219 ff; Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg) VwGO, 2012, Einl Rn 145 ff; → § 1 Rn 11. 293 Art 13 ff Satzung des Europarates = Sart II Nr 110. 294 Die Amtszeit von 9 Jahren wurde durch das 14. ZP EMRK eingeführt. Zuvor betrug die Amtszeit nur 6 Jahre mit der Möglichkeit der Wiederwahl. 295 Näher zur Bildung dieser Spruchkörper, deren Einteilung auf Sektionen beruht, Art 24 ff VerfO EGMR. Vgl dazu auch Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 19 ff. Die Anzahl der Richter je Kammer kann auf fünf herabgesetzt werden (Art 26 II EMRK).

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sche Aufgaben wahr (Art 25 EMRK). Zum Beispiel wählt es den Präsidenten des EGMR, die Vizepräsidenten, die Präsidenten der Kammern, den Kanzler, und die stellvertretenden Kanzler. Unterstützt wird der Gerichtshof von der Kanzlei (Art 24 EMRK). Die Kanzlei besteht derzeit aus kanpp 300 Juristen und zahlreichen sonstigen Mitarbeitern.296 Der Kanzlei gehören auch die richterlichen Berichterstatter an, welche die Einzelrichter zu unterstützen haben (Art 24 II EMRK). Die Organisation und das Verfahren im Einzelnen richten sich nach der vom EGMR erlassenen Verfahrensordnung in der Fassung vom 1.9.2012.297 Die Gerichtsbarkeit ist für alle Konventionsstaaten obligatorisch (also eines Vorbehalts nicht zugänglich).298 Anders als im europäischen Unionsrecht (252 AEUV) wird die Arbeit des Gerichtshofs nicht durch Generalanwälte unterstützt. Die EMRK sieht vier Formen des Rechtsschutzes vor. In der Hauptsache geht es um Staatenbeschwerden (Art 33) und Individualbeschwerden (Art 34). Daneben kann das Ministerkomitee den Gerichtshof anrufen (Rn 130). Nach dem noch nicht in Kraft getretenen 16. ZP-EMRK sollen auch die innerstaatlichen Höchstgerichte die Möglichkeit erhalten, sich an den EGMR zwecks Erstattung eines Gutachtens zu wenden (Rn 131). a) Staatenbeschwerde

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Die „Staatenbeschwerde“ ermöglicht es jeder Hohen Vertragspartei (und damit nach dem Beitritt der EU zur EMRK auch dieser), den EGMR wegen jeder behaupteten Verletzung der Konvention und der Protokolle durch einen anderen Konventionsstaat anzurufen.299 Der beschwerdeführende Staat macht keine eigenen Rechte geltend und braucht auch kein irgendwie geartetes Interesse am Ausgang des Verfahrens deutlich zu machen. Die Zahl der Staatenbeschwerden ist gering300, dennoch wird die Staatenbeschwerde als ein wirksames Mittel zur Sicherung eines Mindeststandards des Menschenrechtsschutzes in allen Konventionsstaaten angesehen.301 Tritt die EU der EMRK bei, ist damit zu rechnen, dass die Staatenbeschwerde im Verhältnis der EU-Staaten zueinander ausgeschlossen wird (Rn 22). b) Individualbeschwerde

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Sehr viel bedeutsamer ist die Individualbeschwerde (Art 34 EMRK), die als ein der Verfassungsbeschwerde vergleichbarer außerordentlicher Rechtsbehelf anzusehen ist.302 Sie hat dem EGMR seine überragende Bedeutung als letztverbindlich entscheidendes Grundrechtegericht in Europa verschafft. Die Individualbeschwerde hat keine aufschiebende Wirkung, jedoch kann der EGMR den Parteien vorläufige Maßnahmen empfehlen (Art 39 VerfO EGMR).303 Nach der neueren Rspr des EGMR sind die Empfehlungen verbindlich. Ihre Nichtbeachtung zieht eine Verletzung des Art 34 (Verbot der Behinderung)

296 Vgl Schaffrin in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 24 Rn 1. Zur Einstellung vgl Art 18 III VerfO EMRK, Art 26 II lit a Anhang II des Status der Bediensteten des Europarats. 297 Sart II Nr 137. 298 Die früheren Fakultativklauseln sind weggefallen. 299 Zum Inhalt vgl Art 46 VerfO EGMR. 300 Vgl die Zahlenangaben von Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 24. 301 Vgl Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 33 Rn 4. 302 Vgl Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 6; Rogge in: Karl, Int EMRK, Art 34 Rn 82. 303 Die VerfO EGMR ist vom Gerichtshof gem Art 25 lit d EMRK erlassen worden.

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nach sich.304 Vorläufige Maßnahmen werden idR nur ergriffen, wenn irreparable Schäden zu befürchten sind, insbesondere Verletzungen der Art 2 oder 3 EMRK drohen.305 aa) Zulässigkeit der Beschwerde306 (1) Form, Sprache Die Beschwerde ist schriftlich zu erheben und vom Bf oder dessen Vertreter zu unterzeichnen (Art 45 VerfO EGMR). Die Beschwerdeschrift muss nicht in einer offiziellen Sprache (Englisch oder Französisch), sondern kann auch in einer anderen Amtssprache der Konventionsstaaten (bei Beschwerden aus Deutschland also in Deutsch) eingereicht werden (Art 34 II VerfO EGMR).307 Hierbei hat sich der Bf des von der Kanzlei zur Verfügung gestellten (und auch auf der Internetseite des Gerichtshofs herunterzuladenden) Beschwerdeformulars zu bedienen (Art 47 VerfO EGMR). Um eine Vorprüfung zu ermöglichen ist neben den persönlichen Angaben ua eine kurze Darstellung des Sachverhalts, der behaupteten Verletzung der Konvention mit Begründung sowie des Gegenstands der Beschwerde erforderlich. Außerdem sind die einschlägigen Unterlagen beizufügen. Gerichtskosten werden bisher mangels einer von Art 50 EMRK abweichenden Rechtsvorschrift nicht erhoben.308

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(2) Vereinbarkeit mit der EMRK oder den Protokollen Gem Art 35 III lit a EMRK erklärt der Gerichtshof Individualbeschwerden ua dann für unzulässig, wenn er sie für unvereinbar mit der Konvention oder den Protokollen hält. Damit werden zugleich die Grenzen umschrieben, innerhalb derer der Gerichtshof tätig werden darf. Erforderlich sind vier Sachentscheidungsvoraussetzungen, die sich auf die Personen (ratione personae) sowie den räumlichen (ratione loci), zeitlichen (ratione temporis) und sachlichen (ratione materiae) Geltungsbereich der Konvention und ihrer ZP beziehen. Es wäre auch möglich, alle Anforderungen der Beschwerdebefugnis zuzuordnen309, die nach der hier vertretenen (von der hM abweichenden) Ansicht aber als zusätzliche Sachentscheidungsvoraussetzung gesondert zu prüfen ist.

304 EGMR, EuGRZ 2003, 704; (GK), EuGRZ 2005, 357 – Mamatkulov u Askarov, anders noch in EuGRZ 1991, 203, Rn 53 – Cruz Varas. Vgl auch EGMR v 10.8.2006, Nr 24668/03 – Olaechea Cahuas; v 15.1.2008, Nr 16348/05 – Mostafa ua; Keller/Marti ZaöRV 2013, 325 ff. 305 Vgl EGMR, EuGRZ 1991, 203, Rn 53 – Cruz Varas; NJW 1999, 1167 f – Öcalan. Auch im Rahmen einer Staatenbeschwerde können vorläufige Maßnahmen getroffen werden, vgl jüngst im Fall Ukraine – Russland, Nr 20958/14, Pressemitteilung ECHR 073 (2014) v 13.3.2014, in dem auf Antrag der Ukraine gegenüber beiden Staaten vorläufig angeordnet wurde, Handlungen zu unterlassen, die Art 2 oder 3 der Charta verletzen könnten. 306 Vgl auch Kunig/Uerpmann Übungen, S 189; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 26 ff; Peters/ Altwicker EMRK, § 35; Rogge in: Karl, Int EMRK, Art 34 Rn 1 ff; Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 37 ff. 307 Zur weiteren Kommunikation vgl Art 34 III – VI VerfO EGMR. 308 Vgl zu den Kosten für Übersetzungen und für Heranziehung von Dolmetschern aber auch Art 34 III lit c, IV lit b VerfO EMRK. 309 Vgl zur Abgrenzung von Beschwerdebefugnis und ratione personae auch Rn 97 f.

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(a) Ratione personae

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Fall 12: (EGMR, NVwZ 2011, 479 – Dösemealti Beldiyesi = JK 2011, EMRK Art 34/1) Die Bf, eine türkische Gemeinde, wandte sich nach langwierigen Streitigkeiten mit dem zuständigen türkischen Ministerium nach Erschöpfung des Rechtswegs an den EGMR und rügte die Verletzung ihres Rechts auf gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Frist (Art 6 I EMRK).

((1)) Partei-, Prozess- und Postulationsfähigkeit des Bf 91

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Zunächst ist erforderlich, dass der Bf parteifähig ist. Gem Art 34 S 1 EMRK darf die Individualbeschwerde nur von natürlichen Personen, nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen (auch nichtrechtsfähiger Art) eingelegt werden. Zur Abgrenzungen des Personenkreises kann auf die Rn 42 ff verwiesen werden, zur Opfereigenschaft auf Rn 97. Die Prozessfähigkeit ist nicht näher geregelt. Es ist daher davon auszugehen, dass die EMRK und die VerfO EGMR keine besonderen Anforderungen stellen, so dass jeder zugelassen wird, der faktisch in der Lage ist, Prozesshandlungen vorzunehmen.310 Dies kann auch ein Minderjähriger oder uU sogar ein Geschäftsunfähiger sein. Eine Vertretung (zB minderjähriger Bf durch die Eltern) ist zulässig. Verstirbt der Bf, dürfen bei berechtigtem Interesse (etwa wenn es um die Wahrung höchstpersönlicher Rechte geht) die Erben oder sonstigen Verwandten das Verfahren fortsetzen.311 Ab Zustellung der Beschwerde besteht grundsätzlich Postulationszwang, dh die Notwendigkeit, sich durch einen Anwalt oder eine andere vom Kammerpräsidenten zugelassene Person vertreten zu lassen (Art 36 II, IV VerfO EGMR). Ab diesem Zeitpunkt müssen auch die schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen grundsätzlich in einer der Amtssprachen des Gerichtshofs (also englisch oder fanzösisch) abgefasst werden (Art 34 III VerfO EGMR). Lösung Fall 12: Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn die Bf parteifähig ist, dh das Recht, Individualbeschwerde nach Art 34 EMRK zu erheben. Dazu müsste es sich bei der Bf um eine nichtstaatliche Organisation oder Personengruppe handeln. Die beurteilt sich unabhängig von der Rechtstellung, welche das staatliche Recht der jeweiligen Organisation einräumt. So können öffentlich-rechtlich organisierte Religionsgemeinschaften und Rundfunkanstalten als nichtstaatliche Organisationen einzustufen sein. Dagegen üben Gemeinden als dezentralisierte Träger von Staatsgewalt öffentliche Gewalt aus. Daher war die Beschwerde ratione personae mit der Konvention unvereinbar und ist demgemäß vom EGMR nach Art 35 III, IV EMRK als unzulässig zurückgewiesen worden.

((2)) Parteifähigkeit des Beschwerdegegners 93

Gegenstand der Beschwerde muss ein Verhalten sein, das einem Verpflichtungsadressaten der Konventionsrechte zuzurechnen ist. Wegen der Einzelheiten kann auf Rn 46 ff verwiesen werden. Rechtsakte Dritter können den Vertragsparteien ausnahmsweise konventionsrechtlich zuzurechnen sein.312 Gem Art 35 VerfO EGMR werden die Vertragsparteien 310 Vgl Murswiek JuS 1986, 8, 9; Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 41. 311 Vgl EKMR, EuGRZ 1978, 314, Rn 1 – Ensslin, Baader u Raspe; EGMR, ECHR 2000–IX, 237, Rn 41– Jecius. 312 Vgl Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 35 Rn 97.

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durch Prozessbevollmächtigte vertreten, die zu ihrer Unterstützung Rechtsbeistände oder Berater hinzuziehen können. (b) Ratione loci Hinsichtlich des räumlichen Anwendungsbereichs der EMRK kann auf Rn 59 ff verwiesen werden.

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(c) Ratione temporis Die zeitliche Geltung der Konvention richtet sich nach den allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen (Rn 66).

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(d) Ratione materiae In sachlicher Hinsicht ist Voraussetzung, dass die EMRK oder Protokolle auf den Streitfall anwendbar sind. Alle weiteren Zulässigkeitsprüfungen sollten im Rahmen der Erörterung, ob ein Verpflichteter in Anspruch genommen wurde (Rn 46 ff), oder der Beschwerdebefugnis (Rn 97 ff) angestellt werden. (3) Beschwerdebefugnis Nach Art 34 EMRK muss der Bf ferner behaupten, durch eine der Hohen Vertragsparteien in einem in der Konvention oder den Protokollen anerkannten Recht verletzt zu sein. Wie sich aus der englischen und französischen Sprachfassung („claiming to be the victim of a violation/qui se prétend victime d’une violation“) ergibt, muss der Bf nachweisen, Opfer einer Konventionsrechtsverletzung zu sein. Fehlt eine Opfereigenschaft, weist der Gerichtshof die Beschwerde ratione personae als unzulässig zurück.313 Doch empfiehlt es sich, die Beschwerdebefugnis gesondert zu prüfen. Es besteht Einigkeit darüber, dass der Bf die Verletzung eigener Rechte geltend machen muss.314 Eine Popularklage ist nach der Konvention unzulässig.315 Eine Verletzung der Konventionsrechte anderer, kann zugleich eigene Rechte verletzen (wie dies insbesondere auf die Tötung oder schwere Mißhandlung von Angehörigen iSv Art 2 u 3 EMRK zutrifft).316 Die Geltendmachung soll nach Literaturansichten in einem substantiierten und schlüssigen Vortrag bestehen, durch den angegriffenen Hoheitsakt oder das unterlassene Hoheitshandeln in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt und dadurch direkt betroffen zu sein.317 Doch dürften im Wesentlichen dieselben Anforderungen wie nach der für die §§ 90 BVerfGG, 42 II VwGO entwickelten sog Möglichkeitstheorie318 zu stellen

313 Meyer-Ladewig EMRK, Art 34 Rn 14; Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 35 Rn 93. 314 Unter victim bzw victime wird eine direkt betroffene Person verstanden, EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 47 – Groppera Radio AG. Vgl auch Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schneider/Bier (Fn 292) Einl Rn 147. 315 EGMR, v 12.2.2004, 47287/99 Rn 70 – Perez; v 16.12.2008, 55185/08 – Ada Rossi ua; NVwZ 2013, 415, Rn 80 – Di Sarno ua. 316 Vgl EGMR (GK), NVwZ-RR 2011, 251, Rn 111 f – Varnava ua; Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 45. 317 Vgl Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 22. Vgl auch Rogge in: Karl, Int EMRK, Art 34 Rn 262 ff. 318 Vgl zB Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn 109) Rn 1235; Wahl/Schütz in: Schoch/Schneider/ Bier (Fn 292) § 42 II Rn 64 ff.

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sein. Die Möglichkeit einer Verletzung scheidet danach aus, wenn offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die vom Bf behaupteten Rechte bestehen, ihm zustehen oder verletzt sein können. Für die Annahme einer relativ geringen Substantiierungslast spricht auch der Umstand, dass der EGMR eine Beschwerde nur für unzulässig erklären darf, wenn sie „offensichtlich“ unbegründet ist (Art 35 III lit a EMRK). Erforderlich ist grundsätzlich eine bereits eingetretene, unmittelbare Betroffenheit in einem Konventionsrecht. Dies ist etwa der Fall, wenn der Bf Verpflichtungsadressat eines Verwaltungsaktes oder einer Sachentscheidung eines Gerichts ist (mögen die Entscheidungen auch noch nicht vollstreckt worden sein).319 Die Maßnahme muss Rechtswirkungen entfalten.320 Der Eintritt eines Schadens ist nicht erforderlich.321 Sind schwerwiegende und irreparable Konventionsverletzungen zu befürchten (wie im Falle einer bevorstehenden Auslieferung an einen Staat, in dem die Todesstrafe droht), reicht eine bevorstehende Verletzung aus.322 Richtet sich die Beschwerde gegen gesetzliche Bestimmungen, ohne dass der Vollziehungsakt angegriffen wird, muss der Bf unmittelbar (selbst und gegenwärtig) durch das Gesetz (und nicht erst die Vollziehung des Gesetzes) beeinträchtigt werden. Dies trifft etwa auf Strafrechtsnormen zu.323 Entfällt die Beschwerde nachträglich, steht dies der Sachprüfung nicht entgegen, es sei denn, der Konventionsstaat hat die Konventionsverletzung anerkannt und ggf Entschädigung geleistet.324 Vgl zur Verfahrensbeendigung auch Rn 113. (4) Rechtswegerschöpfung

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Fall 13 (EGMR, NJW 1999, 775 ff – K-F = JK 99, EMRK Art 5 I/1) Der Bf (ein deutscher Staatsangehöriger) war von deutschen Polizeibeamten wegen des dringenden Tatverdachts eines Einmietbetruges und wegen Fluchtgefahr zur Identitätsfeststellung auf eine Polizeidienststelle verbracht und dort bis zum nächsten Morgen festgehalten worden. Die Zeitspanne betrug 12 Stunden und 45 Minuten. Das anschließende Ermittlungsverfahren stellte die Staatsanwaltschaft ein, weil dem Bf ein Mietbetrug nicht nachgewiesen werden konnte. Daraufhin erstattete der Bf Strafanzeige gegen die an den Geschehnissen beteiligten Polizeibeamten wegen Verdachts der Freiheitsberaubung, der versuchten Nötigung und der Beleidigung. Auch dieses Verfahren wurde eingestellt. In dem vom Bf angestrengten Klageerzwingungsverfahren stellte das OLG fest, dass die Einstellung gerechtfertigt sei. Das BVerfG nahm eine gegen diese Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Daraufhin erhob der Bf eine Beschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem EGMR. Ist die Beschwerde zulässig und begründet?

Art 35 I EMRK verlangt, dass der EGMR erst „nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe“ angerufen wird. Damit wird bezweckt, den Vertragsparteien Gelegenheit zu geben, die behaupteten Verstöße gegen die Konvention mit den Mitteln ihrer eigenen Rechtsordnung abzuhelfen oder sie wieder gut zu machen, bevor der EGMR angerufen

319 Vgl Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 43. 320 EGMR, NVwZ 2008, 979, Rn 92 – Sisojeva. 321 Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 34 Rn 65. 322 Vgl EGMR, EuGRZ 1989, 314 – Soering; NJW 2004, 3617, 3618 – Senator Lines GmbH. 323 Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 43. 324 Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 32; Villiger EMRK, § 9 Rn 149 f.

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wird.325 Unterschieden wird zwischen vertikaler Rechtswegerschöpfung (Ausnutzung der innerstaatlich gegebenen Rechtsbehelfsmöglichkeiten vor den in Betracht kommenden Instanzen) und horizontaler Rechtswegerschöpfung (Bezug der Rechtsbehelfe auf die geltend gemachte Konventionsverletzung).326 Die Beweislast für die Rechtswegerschöpfung liegt zunächst beim Bf (Art 47 I 2 lit f, II lit a VerfO EGMR), die Beweislast für die Zugänglichkeit des innerstaatlichen Rechtsschutzes beim verklagten Staat. Beruft sich der Konventionsstaat nicht auf die Nichterschöpfung des Rechtswegs, wirkt sich dies nach dem Estoppel-Prinzip des englischen Rechts wie ein Verzicht (Art 55 VerfO EGMR) aus.327 (a) Vertikale Rechtswegerschöpfung Zu den Rechtsbehelfen sind sowohl förmliche (einschließlich des Widerspruchs) als auch formlose zu zählen, sofern letztere hinreichend zur Abhilfe geeignet sind.328 Rügt der Bf eine überlange Verfahrensdauer (Art 6 I 1 EMRK), kommt es darauf an, ob er das Verfahren beschleunigen oder ggf auch Entschädigung wegen der überlangen Verfahrensdauer erlangen konnte.329 In Deutschland muss von dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Rn 37) Gebrauch gemacht werden (Rn 39). Der Geltendmachung von Staatshaftungsansprüchen bedarf es nicht, wenn dem Rechtsschutzziel des Bf damit nicht Genüge getan wird.330 Nicht zu den Rechtsbehelfen gehört (wegen seines außerordentlichen Charakters) das Wiederaufnahmeverfahren.331 Der Bf muss vor Anrufung des EGMR alle innerstaatlichen Gerichtsbehelfe ausgeschöpft haben. UU reicht es aus, dass die Entscheidung der letzten innerstaatlichen Instanz erst nach Anrufung (aber vor Entscheidung des EGMR über die Zulässigkeit) ergangen ist.332 Falls der Bf die Möglichkeit dazu hatte, ist der Rechtsweg erst erschöpft, wenn das höchste zuständige Gericht erfolglos angerufen wurde. Auch eine nach innerstaatlichem Recht zulässige Verfassungsbeschwerde soll grundsätzlich zur Erschöpfung des Rechtsweges gehören, sofern die Konventionsverletzung damit beseitigt werden kann.333 Eine Erschöpfung des Rechtsweges hat der EGMR verschiedentlich auch dann angenommen, wenn das BVerfG eine VB mangels Substantiierung nicht zur Entscheidung angenommen hat.334 Nach der Rspr des EGMR sind ferner die aus den von den Konventionsstaaten geschlossenen internationalen Verträgen resultierenden Strukturveränderungen bei der Auslegung der Konvention zu berücksichtigen.335 Daher können auch

325 EGMR, NVwZ 2013, 47 Rn 34 – Taron = JK 2013, EMRK Art 35 I/1 (vgl Abwandlung Fall 5 Rn 36). 326 Vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 23 ff; Kadelbach in Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 47 ff. 327 Vgl Villiger EMRK, § 7 Rn 114; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 24. 328 Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schneider/Bier (Fn 292) Einl Rn 148. 329 EGMR, NJW 2001, 2692, 2693 – Tomé Mota. 330 EGMR, Rep 1997-II, Rn 37 – Hornsby; EuGRZ 1999, 317 – Iatridis. 331 Peters/Altwicker EMRK, § 35 Rn 38. 332 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 25. 333 Vgl EGMR, NJW 2004, 2209 ff – Herz; Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 35 Rn 24; Wittinger NJW 2001, 1238, 1239. Die meisten Konventionsstaaten kennen keine Verfassungsgerichtsbarkeit, die mittels einer Urteilsverfassungsbeschwerde angerufen werden kann. 334 Papier VVDStRL 66 (2007), 425, 426. 335 EGMR, EuGRZ 1999, 200, Rn 39 – Matthews.

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Rechtsbehelfe nach Maßgabe des europäischen Unionsrechts als „innerstaatlich“ iSd Art 35 I EMRK anzusehen sein.336 Tritt die EU der EMRK bei (Rn 21 ff), versteht sich von selbst, dass der unionsrechtliche Rechtsschutz zuvor ausgeschöpft worden sein muss. Das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung ist mit einem gewissen Grad an Flexibilität und ohne übertriebene Förmlichkeit anzuwenden.337 Für die Erschöpfung des Rechtswegs ist normalerweise das Datum der Einlegung der Beschwerde beim Gerichtshof entscheidend. Doch können besondere Umstände eine Ausnahme rechtfertigen (Rn 39). Stets müssen die innerstaatlichen Rechtsbehelfe für den Bf zugänglich und geeignet gewesen sein, der behaupteten Rechtsverletzung abzuhelfen. Unzugänglich ist ein Rechtsmittel auch, wenn es für den Bf mangels finanzieller Mittel und ohne Prozess- bzw Beratungskostenhilfe faktisch unerreichbar bleibt.338 Die Zugänglichkeit bedarf insbesondere bei Strafgefangenen oder Mittellosen und nicht der Sprache des Konventionsstaates mächtigen Bf besonderer Prüfung. Nicht erforderlich ist die Einlegung eines Rechtsbehelfs des Weiteren, wenn sie zwar formal möglich, aber ohne jede Erfolgschance war (zB wegen einer feststehenden entgegenstehenden Rspr).339 Bloße Zweifel an den Erfolgsaussichten eines bestimmten Rechtsbehelfs reichen aber nicht aus.340 Unterbleibt die Einlegung eines Rechtsbehelfs, der nur eine rechtliche Überprüfung, nicht aber eine Sachverhaltsermittlung ermöglicht hätte, ist maßgebend, ob es einer Tatsachenüberprüfung zwingend bedurfte.341 Führt der innerstaatliche Rechtsschutz deshalb nicht zum Ziel, weil der Bf die Formerfordernisse, Kostenvorschriften oder Fristen missachtet hat, muss er sich dies zurechnen lassen.342 (b) Horizontale Rechtswegerschöpfung

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Da dem Staat die Möglichkeit gegeben werden soll, Konventionsverletzungen zu beheben, und der EMRK-Rechtsschutz nur subsidiär ist, verlangt das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung in horizontaler Hinsicht, dass die geltend gemachte Menschenrechtsverletzung „in substance“ vor den innerstaatlichen Instanzen vorgebracht worden ist (ohne dass es einer ausdrücklichen Berufung auf die EMRK bedarf).343 In Zweifelsfällen neigt der EGMR zu einer rechtsschutzfreundlichen Betrachtungsweise. (5) Beschwerdefrist

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Die Beschwerde kann nur innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung eingelegt werden (Art 35 I EMRK). Das noch nicht in Kraft getretene 15. ZP EMRK sieht eine Verkürzung der Beschwerdefrist auf vier Monate vor (Art 4). Die Frist beginnt mit der Kenntnisnahme. Muss die Entscheidung zugestellt werden (wie bei gerichtlichen Urteilen), beginnt die Frist erst mit der Zustellung und nicht

336 Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 335. 337 EGMR, NJW 2012, 2093, Rn 36 – Mork. 338 EGMR, EuGRZ 1979, 626 – Airey; Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 48. 339 Vgl Murswiek JuS 1986, 8, 10; Peters/Altwicker EMRK, § 35 Rn 44. 340 EGMR, NVwZ 2013, 47, Rn 35 – Taron/Deutschland = JK 2013, EMRK Art 35 I/1 (vgl Abwandlung Fall 5). 341 Vgl EGMR, NJW 2001, 54, Rn 43 ff – Civet. 342 Vgl EGMR, NJW 2004, 3401 ff – Haase; NJW 2012, 2093, Rn 38 ff – Mork. 343 Vgl Villiger EMRK, § 7 Rn 133 f; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 34 ff.

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bereits mit der Verkündung zu laufen.344 Hat der Bf einen Prozessvertreter, kommt es auf die Zustellung an diesen an.345 Der Eingangsstempel des Anwalts ist zur Glaubhaftmachung grundsätzlich ausreichend.346 Als Datum der Beschwerdeerhebung dient idR das Datum der ersten Mitteilung des Bf, nicht der Zugang bei Gericht (Art 47 V VerfO EGMR). Der EGMR kann aber ein anderes Datum für maßgeblich erklären (zB wenn das Beschwerdeschreiben offensichtlich zurückdatiert worden ist).347 Handelt es sich um eine fortdauernde Verletzung und ist ein effektiver Rechtsbehelf nicht vorhanden, beginnt die Frist an jedem Tag erneut, und erst wenn die zugrunde liegende Verletzung beendet ist.348 Doch kann Verwirkung eingreifen. Vor Ablauf der Frist muss mindestens der wesentliche Gegenstand der Beschwerde mitgeteilt worden sein. Eine Hemmung der Frist kommt grundsätzlich nicht in Betracht, es sei denn, der Bf war tatsächlich (zB wegen einer Isolierhaft) verhindert, die Frist einzuhalten. Die Frist endet an dem Tag des sechsten Monats, der durch seine Zahl dem Anfangstag der Frist entspricht. Handelt es sich um einen Feiertag, ist der folgende Werktag ausschlaggebend.349 Ist sich der Bf unsicher, ob der Rechtsweg bereits erschöpft wurde, empfiehlt es sich, sowohl den möglicherweise geeigneten innerstaatlichen Rechtsbehelf als auch die Beschwerde beim EGMR einzulegen.350 (6) Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen Art 34 u 35 EMRK statuieren eine Reihe weiterer Sachentscheidungsvoraussetzungen, die sich zT mit den bereits genannten überschneiden.

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(a) Keine Anonymität So darf die Beschwerde nicht anonym eingelegt werden (Art 35 II lit a EMRK). Zumeist fehlt es in solchen Fällen bereits an einem vollständigen ausgefüllten Beschwerdeformular (Rn 88)351 Anonymität schließt bei berechtigtem Interesse Vertraulichkeit nicht aus (Art 40 EMRK; 33 II, III, 47 III VerfO EGMR). In der Praxis spielt das Kriterium der Anonymität kaum eine Rolle.

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(b) Keine res judicata und Litispendenz Ferner darf die Beschwerde gem Art 35 II lit b EMRK nicht im Wesentlichen mit einer schon vorher vom Gerichtshof geprüften Beschwerde übereinstimmen (res judicata) oder schon einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet worden sein (Litispendenz), vorausgesetzt, sie enthält keine neuen Tatsachen. Unzulässig

344 Vgl EGMR, Rep 1997-V, 1535, Rn 31 f – Worm; Meyer-Ladewig EMRK, Art 35 Rn 29 f. 345 EGMR, v 12.9.2006, 25694/03 u 28338/03 – Andorka u Vavra. 346 EGMR, NVwZ 2011, 1503, Rn 38 f – Wasmuth. 347 In der Praxis wird deshalb regelmäßig vom Datum des Poststempels ausgegangen. 348 EGMR (GK), NVwZ-RR 2011, 251, Rn 159 – Varnava ua. In dem Fall haben die Bf in zulässiger Weise ihre Beschwerden, mit der sie Aufklärung über das Schicksal verschwundener Personen nach der türkischen Invasion Zyperns 1974 verlangten, 15 Jahre nach der türkischen Invasion Zyperns erhoben. 349 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 38. 350 Vgl Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 53. 351 Vgl Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 35 Rn 67.

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ist die Beschwerde, wenn der Bf, der Sachverhalt und der Beschwerdegegenstand identisch sind. Für die Bf reicht materielle Identität aus.352 Zulässig ist eine Beschwerde, wenn sie neue Tatsachen enthält. Keine neuen Tatsachen sind solche, die zwar erstmalig erwähnt werden, aber schon im Rahmen einer früheren Beschwerde hätten vorgebracht werden können. War eine Tatsache zum Zeitpunkt des früheren Urteils des EGMR unbekannt und konnte sie der Partei nach menschlichem Ermessen nicht bekannt sein, kann Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt werden (Art 80 VerfO EGMR). Internationale Rechtshängigkeit ist vor allem anzunehmen, wenn die Streitsache dem UN-Menschenrechtsrat oder einem Kontrollorgan des IPbürgR unterbreitet worden ist (Rn 6).353 Gleiches soll für die Kontrollorgane der internationalen Arbeitsorganisation gelten.354 (c) Keine offensichtliche Unbegründetheit 108

Als Fall der Unzulässigkeit einer Beschwerde sieht die EMRK (verwirrender Weise) auch die offensichtliche Unbegründetheit an (Art 35 III lit a EMRK). In solchen Fällen dürfte aber bereits die Beschwerdebefugnis (Rn 97) fehlen. Eine Beschwerde ist offensichtlich unbegründet, wenn evident keine Verletzung der Konvention vorliegt, es an einer ausreichenden Begründung oder Substantiierung fehlt, vorgetragene Sachverhalte offensichtlich unzutreffend oder nicht beweisbar sind, der EGMR nur als Superrevisionsinstanz in Anspruch genommen wird, die Opfereigenschaft des Bf nachträglich weggefallen ist oder die Beschwerde als konfus oder völlig abwegig anzusehen ist.355 (d) Kein Missbrauch

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Zur Unzulässigkeit bzw Unbegründetheit356 der Beschwerde führt nach Art 35 III lit a EMRK auch ein Missbrauch des Beschwerderechts (vgl auch Rn 69). Ein Rechtsmissbrauch liegt vor, wenn von der Beschwerde in rechtwiriger und schädigender Weise Gebrauch gemacht wurde.357 Als Missbrauch wird es zB angesehen, wenn bewusst falsche Tatsachen vorgetragen werden358 oder gefälschte Unterlagen vorgelegt werden. Ebenso begründen anstößige und beleidigende Eingaben sowie die Verletzung der Vertraulichkeit von Vergleichsverhandlungen (Art 39 II EMRK, 62 II VerfO EMRK) einen Missbrauch.359 Weitere Fälle des Missbrauchs regelt Art 44 A ff VerfO EGMR (insbesondere

352 Vgl EKMR, EuGRZ 1982, 15, Rn 2 – Rudolf Hess (Wiederholung der Beschwerde des Opfers durch Verwandte); EKMR, DR 73, 120 – Cereceda Martin (Beschwerde von Mitgliedern in einer Vereinigung, die als Bf vor einem anderen Verfahren auftraten). In beiden Fällen sind die Beschwerden als unzulässig erachtet worden. 353 Krit Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 59. 354 EKMR, DR 50, 228, 237 – Council of Civil Service Unions; krit Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 60. 355 So die Zusammenfassung der Gründe bei Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 35 Rn 114 mwN. 356 Die Frage des Missbrauchs kann so eng mit derjenigen des Gewährleistungsgehalts der jeweiligen Konventionsnorm verbunden sein, dass der Gerichtshof sie erst in der Begründetheit prüft. Vgl EGMR, NJW 2006, 197, 198 – Bosphorus. 357 EGMR, NVwZ 2010, 1541, Rn 62 – Mirolubovs ua. 358 Vgl EGMR, NJW 2007, 2097 ff – Hüttner. 359 Vgl Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 35 Rn 136 ff.

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Nichtbefolgung einer Anordnung des Gerichtshofs, fehlende Mitwirkung, unangemessene Stellungnahmen). (e) Erheblicher Nachteil Mit dem 14. ZP EMRK wurde in Art 35 III lit b EMRK ferner das Zulässigkeitskriterium eines erheblichen Nachteils eingeführt. Danach kann der EGMR die Individualbeschwerde für unzulässig zu erklären, wenn er der Ansicht ist, das dem Bf kein erheblicher Nachteil entstanden ist, es sei denn, die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der EMRK und den Protokollen anerkannt sind, erfordert eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde. Jedoch darf keine Rechtssache zurückgewiesen werden, die noch von keinem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist (Art 35 III lit b EMRK). Mit Inkrafttreten des 15. ZP EMRK wird es nicht mehr erforderlich sein, dass die Rechtssache von einem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist (Art 5). Damit soll erreicht werden, dass der Gerichtshof mehr Zeit auf Fälle verwendet, die eine Prüfung in der Sache verlangen (gem dem Grundsatz des de minimis non curat praetor). Die Verletzung des Rechts muss ein Minimum an Schwere erreichen, um die gerichtliche Prüfung zu rechtfertigen. Ob eine Verletzung schwerwiegend ist, muss unter Berücksichtigung sowohl der subjektiven Auffassung des Bf als auch dessen geprüft werden, was objektiv in seinem Fall auf dem Spiel stand.360 So hat der EGMR eine Beschwerde, in der es um eine Beitreibung von mehr als einem Euro ging, als unerheblichen Nachteil eingestuft.361

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(f) Rechtsschutzbedürfnis Schließlich muss der Bf wie jeder Rechtsschutzsuchende ein Rechtsschutzbedürfnis besitzen.362 IdR kommt es darauf nicht mehr an, auch weil die zuvor erwähnten Sachentscheidungsvoraussetzungen bereits die wesentlichen Fallgestaltungen fehlenden Rechtsschutzbedüfnisses gesondert geregelt haben. Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt nicht deshalb, weil bereits eine Staatenbeschwerde erhoben worden ist.363

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(7) Schematische Zusammenfassung Zusammenfassend wird empfohlen, die Zulässigkeit von Individualbeschwerden wie folgt zu prüfen: 1. Ordnungsgemäße Form und Sprache 2. Vereinbarkeit der Beschwerde mit der Konvention a) Ratione personae (1) Parteifähigkeit, Prozessfähigkeit, Postulationsfähigkeit des Bf (2) Parteifähigkeit des Beschwerdegegners b) Ratione loci c) Ratione temporis d) Ratione materiae 3. Beschwerdebefugnis 4. Rechtswegserschöpfung

360 EGMR, NJW 2010, 3081, 3082 – Korolev. 361 Vgl die zuvor genannte Entscheidung. 362 Vgl Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 43 ff. 363 EGMR (GK), NVwZ-RR 2011, 251, Rn 118 – Varnava ua.

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a) Vertikale Rechtswegerschöpfung b) Horizontale Rechtswegerschöpfung 5. Beschwerdefrist 6. Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen a) Keine Anonymität b) Keine res judicata und keine Litispendenz c) Keine offensichtliche Unbegründetheit d) Kein Missbrauch e) Erheblicher Nachteil f) Rechtsschutzbedürfnis bb) Verfahren 113

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Das Verfahren des EGMR nach Einlegung einer Individualbeschwerde (Rn 87) ist mehrstufig ausgestaltet. Wird schon bei der Einlegung der Beschwerde deutlich, dass diese unzulässig ist oder im Register gestrichen werden sollte, wird sie grundsätzlich in Einzelrichterbesetzung geprüft (Art 49 VerfO EMRK). Ansonsten bestimmt der Präsident der Kammer (in der VerfO als Sektion bezeichnet364), der die Beschwerde zugewiesen wird, einen berichterstattenden Richter (§ 49 II VerfO EMRK), der darüber entscheidet, ob die Beschwerde in Einzelrichterbesetzung, einem Ausschuss oder einer Kammer geprüft wird (sofern der Präsident nichts anderes angeordnet hat). Kommt der Einzelrichter zu der Entscheidung, dass die Beschwerde unzulässig oder im Register zu streichen ist (Art 37 EMRK), trifft er eine endgültige Entscheidung (Art 52 A VerfO EMRK). Ansonsten übermittelt er die Beschwerde zur weiteren Prüfung an den Ausschuss oder die Kammer (Art 52 A VerfO EMRK). Auch diese können endgültig über die Unzulässigkeit oder Streichung im Register entscheiden (Art 53 I, 54 I VerfO EMRK). Rund 90 % aller Beschwerden finden so ihren Abschluss.365 Ergeht keine negative Entscheidung, ist über die Zulässigkeit und Begründetheit zu entscheiden (Art 28 I lit b, 29 I EMRK). Der Ausschuss kann die Beschwerde für zulässig erklären und zugleich ein Urteil über die Begründetheit fällen, sofern die der Rechtssache zugrunde liegende Frage der Auslegung und Anwendung dieser Konvention oder der Protokolle dazu Gegenstand einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist (Art 28 I lit b EMRK). Trifft der Ausschuss keine Entscheidung oder erlässt er kein Urteil, übermittelt er die Beschwerde der Kammer (Art 53 VI VerfO EMRK). Nach Art 29 II 2 EMRK soll die Entscheidung der Kammer über die Zulässigkeit grundsätzlich gesondert ergehen. In der Praxis werden Zulässigkeit und Begründetheit zumeist gleichzeitig geprüft (Art 54 A I VerfO EGMR). Ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine sofortige Unzulässigkeit oder Streichung, bringt die Kammer (respektive ihr Präsident) die Beschwerde dem Beschwerdegegner zur Kenntnis (Art 54 II lit b VerfO EGMR), setzt die Prüfung fort, nimmt die erforderlichen Ermittlungen auf und bemüht sich um eine gütliche Einigung (Art 39 EMRK). Nach Zustellung gilt grundsätzlich Anwaltszwang (Art 36 II VerfO EGMR) sowie die Verpflichtung, die englische oder französische Sprache zu verwenden (Rn 88). Die jederzeit möglichen Verhandlungen (Art 54 III, 58 II VerfO EGMR) sind grundsätzlich öffentlich (Art 40 I EMRK). 364 Vgl Art 25 I VerfO EMRK. 365 Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 20 (noch ohne Berücksichtigung der Einzelrichterentscheidungen).

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Dem Bemühen des EGMR, eine gütliche Einigung zu erzielen (friendly settlement), kommt heute eine ganz erhebliche Rolle zu. Erkennt die Regierung im Laufe des Verfahrens an, dass eine Konventionsverletzung erfolgte, und erklärt sie, in welcher Form sie deshalb Wiedergutmachung leisten will (unilateral declaration), kann dies auch dann zu einer Streichung der Beschwerde aus der Liste gem Art 37 I lit c EMRK führen, wenn der Bf die Fortführung des Verfahrens wünscht.366 Die Streichung einer für zulässig erklärten Beschwerde ergeht durch Urteil mit einer Kostenregelung und unterliegt wegen der völkerrechtlichen Bindungswirkung der Überwachung durch das Ministerkomitee (Art 43 III, IV VerfO EGMR). Wird eine Rechtssache in dem Register gestrichen, unterbleibt eine Feststellung über die Konventionsverletzung. Im Interesse der Rechtspflege können von Amts wegen oder auf Antrag Dritte an dem Verfahren beteiligt werden. Als Dritte sind jedenfalls die anderen Konventionsstaaten, internationale Organisationen, der Kommissar für Menschenrechte des Europarats367, Nichtregierungsorganisationen368 sowie Private und Verbände anzusehen. Bei den Dritten kann es sich um direkt betroffene Personen bzw Organisationen oder nicht direkt Betroffene (welche die Rolle eines amicus curiae annehmen) handeln. So sind an den Gerichtsverfahren vor dem EGMR im Falle von Streitigkeiten, die auf nationaler Ebene zwischen Privatpersonen geführt wurden, grundsätzlich nur der unterlegene Bf sowie der Konventionsstaat beteiligt, obwohl die Entscheidung des EGMR sich zu Lasten der im Ausgangsprozess obsiegenden Partei auswirken kann.369 Daher ist gerade in solchen Fällen eine Drittbeteiligung dringend angezeigt.370 Falls die EU der EMRK beitritt (Rn 21 f), muss sichergestellt werden, dass sowohl die Mitgliedstaaten als auch die EU an Gerichtsverfahren vor dem EGMR beteiligt werden, wenn die beiderseitigen Interessen berührt werden. Daher sieht der Abkommensentwurf über den Beitritt der EU zur EMRK (Rn 22) eine Corespondent-Stellung vor. Damit soll gewährleistet werden, dass im Falle von Beschwerden gegen EU-Mitgliedstaaten die EU zu Verfahren herangezogen werden kann, wenn sich herausstellt, dass die behauptete Konventionsverletzung auf EU-Recht beruht (weil der Mitgliedstaat keinen Umsetzungsspielraum hatte).371 Umgekehrt sollen im Falle von Beschwerden gegen die EU deren Mitgliedstaaten Co-respondents werden, wenn die EU die dem behaupteten Verstoß zugrunde liegende Handlung oder Unterlassung nur durch Nichtbeachtung der Verpflichtung gegenüber den Mitgliedstaaten hätte vermeiden können (Art 3 III E-ÜB). Schließlich soll die Beteiligung als Mitbeschwerdegegner auch zum Zuge kommen, wenn sich die Beschwerde sowohl gegen die EU als auch gegen einen Mitgliedstaat richtet.372 Schließlich soll der EuGH vor Entscheidung des EGMR die Möglichkeit erhalten, die Vereinbarkeit einer Handlung mit der Union mit der EMRK in einem Vorabbefassungsverfahren zu prüfen.373

366 Vgl Keller EuGRZ 2008, 359, 365. 367 Vgl Art 36 III EMRK. 368 Wie zB amnesty international, oder die OSZE (vgl dazu EGMR, NJW 2007, 347, Rn 10 – Blecˇ ic´ ). 369 Vgl Meyer-Ladewig EMRK, Art 37 Rn 3. 370 Vgl zu der Problemstellung auch BVerfGE 111, 307, Rn 71 ff – Görgülü. 371 Vgl Art 3 II E-ÜB. 372 Vgl Art 3 IV E-ÜB. Näher dazu Polakiewicz EuGRZ 2013, 472, 475 f. 373 Art 3 Abs 6 E-ÜB.

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Nur in Ausnahmefällen (wenn die Sache besondere Schwierigkeiten aufweist oder die Kammer von einer früheren Entscheidung einer anderen Kammer abweichen will) legt die Kammer – bevor sie selbst eine Entscheidung getroffen hat – die Rechtssache von Amts wegen der Großen Kammer vor, sofern nicht eine Partei widerspricht (Art 30 EMRK). Nicht verständlich ist, warum den Parteien ein Widerspruchsrecht eingeräumt wurde. Mit Inkrafttreten des 15. ZP EMRK enfällt dieses Recht (Art 3). Eine Befassung der Großen Kammer mit einer Beschwerde kommt ferner dann in Betracht, wenn eine Partei „in Ausnahmefällen“ innerhalb von drei Monaten nach Erlass des Urteils der Kammer die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer beantragt (Art 43 I EMRK). In diesem Falle bedarf es zunächst einer Annahme des Antrags durch einen Fünferausschuss der Großen Kammer, wobei es um schwerwiegende Fragen gehen muss (Art 43 II EMRK). Nimmt der Ausschuss den Antrag an, entscheidet die Große Kammer die Sache endgültig durch Urteil (Art 43 III EMRK). Kommt es zum Verfahren des Art 43 EMRK, entscheidet die Große Kammer als gerichtsinterne Rechtsmittelinstanz.374 cc) Begründetheit der Beschwerde

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Begründet ist eine Individualbeschwerde, wenn der Bf in einem Konventionsrecht verletzt worden ist. Die Entscheidung ergeht – anders als Entscheidungen über die Zulässigkeit einer Beschwerde („decisions/décision“) – in Form eines Urteils („judgements/ jugements“). Die Abfassung des Urteils folgt den Vorgaben des Art 74 VerfO EGMR. Insbesondere wird zwischen der Darstellung des Prozessverlaufs, dem Sachverhalt, der Zusammenfassung des Vorbringens der Parteien, den Entscheidungsgründen und dem Urteilstenor unterschieden. Sondervoten sind zulässig und sehr häufig üblich (Art 45 II EMRK; 74 VerfO EMRK). Sie müssen nicht zwingend begründet werden. Die Urteile werden nur in englischer oder französischer Sprache respektive in beiden Sprachen erlassen (Art 76 VerfO EGMR). Übersetzungen haben keinen amtlichen Charakter. Eine Kostenentscheidung ergeht nur, wenn Kosten auferlegt werden. Das Verfahren vor dem EGMR ist grundsätzlich375 kostenfrei (Rn 88). Die Kosten – insbesondere für die Inanspruchnahme anwaltlichen Beistands – können aber gegebenenfalls bei der Zusprechung einer gerechten Entschädigung (Art 41 EMRK) berücksichtigt werden. Die gerichtliche Kontrolldichte ist geringer als in Deutschland, weil der EGMR den Konventionsstaaten in großzügigerer Weise Beurteilungs-/Ermessens- oder Einschätzungsspielräume (margins of appreciation/marges d’appréciation) zugesteht (Rn 80).376 Anders als im deutschen Rechtskreis wird nicht kategorisch zwischen unbestimmten Rechtsbegriffen mit Beurteilungsspielräumen, Ermessensspielräumen und sonstigen Rechtsbindungen unterschieden, selbst wenn die Begriffe gelegentlich genannt werden. Daher ist die Reichweite der gerichtlichen Kontrolle schwer vorherzusagen. Auf den Wortlaut der Konventionsbestimmungen wird zumeist nicht maßgeblich abgestellt. Zu unterscheiden ist, ob sich die Freiräume auf die Tatsachenfeststellung, die Tatsachenwürdigung, die Aus-

374 Krit zur Regelung des Art 26 V 2 EMRK, wonach der Großen Kammer mit dem Präsidenten der Kammer und dem Richter, welcher der Kammer für die als Partei beteiligten Hohe Vertragspartei mitgewirkt hat, zwei Richter angehören, die bereits beim Erlass des zur Überprüfung stehenden Urteils mitgewirkt haben Schlette JZ 1999, 219, 225 f. 375 Zu den Kosten für das Erscheinen von Zeugen, Sachverständigen oder sonstigen Personen auf Antrag oder auf Seiten einer der Parteien vgl Art A5 VI Anhang zur VerfO. 376 EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 48 – Handyside; NJW 2009, 971, Rn 77 – Dickson.

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wahl der Maßnahmen zur Einschränkung der Konventionsrechte oder auf die Schutzpflichten beziehen sollen. Bei der Erfüllung ihrer Schutzpflichten wird den Konventionsstaaten ein weiter Spielraum zugestanden. Ferner kommt es ua darauf an, wie gewichtig die verfolgten Zielsetzungen sind, und welche Eindringtiefe einem Eingriff zukommt377. Gibt es keinen gemeineuropäischen Standard (vgl Rn 80), dh keinen Konsens zwischen den Konventionsstaaten, wird diesen zumeist ein Beurteilungsspielraum zugestanden.378 Dies ist nicht unbedenklich, weil die Konventionsrechte gerade auch Minderheitenpositionen schützen sollen.379 Für eine Abschwächung der Kontrolldichte können ferner auch länderspezifische Besonderheiten380, die Komplexität einer Materie381, die Berührung von (einem starken gesellschaftlichen Wandel unterliegenden) Moralvorstellungen382 oder die staatlichen Souveränitätsverluste (etwa im Hinblick auf die Sicherheitsinteressen383) sprechen.384 Die Gewährung materiell-rechtlicher Entscheidungsspielräume zu Lasten der Konventionsberechtigten wird eher hingenommen, wenn es verfahrensrechtliche oder organisatorische Vorkehrungen zum Schutz der Rechte der Einzelnen gibt.385 Schließlich ist die gerichtliche Kontrolldichte gemindert, wenn die Konventionsstaaten in eine internationale oder supranationale Organisation eingebunden und in Erfüllung diesbezüglicher Verpflichtungen tätig geworden sind (Rn 53) bzw die EU (nach Beitritt zur EMRK) selbst gehandelt hat. Dazu soll das vorgesehene Vorabbefassungsverfahren vor dem EuGH beitragen (Rn 22, 55).Tritt das 15. ZP EMRK in Kraft (Rn 9), wird in die Präambel der EMRK ein Satz eingefügt, der allgemein die Subsidiarität und geminderte Kontrolldichte zum Ausdruck bringt (Rn 55)386 Umgekehrt nimmt der EGMR etwa an, dass im Falle einer Beeinträchtigung der Pressefreiheit immer eine besonders sorgfältige Überprüfung stattfinden muss (most careful scrutiny on the part of the court/ la Cour doit faire preuve de la plus grande prudence), wenn die Maßnahme dazu führen könnte, dass die Presse davon abgehalten wird, an der öffentlichen Debatte zu Themen von legitimen öffent-

377 Vgl auch EMRK, EuGRZ 2006, 389, Rn 77 – Evans. 378 Vgl zB EGMR, NJW 2005, 727, Rn 82 ff – Vo = JK 2005, EMRK Art 2 I 1/1; NJW 2006, 3263, Rn 25 – I.A. 379 Vgl Letsas A theory of interpretation of the European Convention on Human Rights, S 120 ff; Mayer in: Karpenstein/ders, EMRK, Einleitung Rn 67. 380 Vgl zB EGMR, HRLJ 1994, 371, Rn 56 – Otto-Preminger-Institut. 381 Vgl Grabenwarter EuGRZ 2009, 487, 489; Hoffmann-Riem EuGRZ 2006, 492, 498. 382 Vgl EGMR, NJW 2008, 2013, Rn 77 – Evans. 383 Vgl Gerards Judicial Review in equal treatment cases, 2005, S 182 ff. 384 Vgl auch EGMR, NVwZ 2003, 1489, Rn 40 f – Refah Partisi; Peters/Altwicker EMRK, § 3 Rn 18; Altwicker Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, 2011, S 240 ff; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 20 ff. 385 Vgl beispielhaft EGMR v 26.2.2002, 29271/95, Rn 28 ff – Dichand. Näher zum Ganzen Yourow The Margin of Appreciation Doctrin in the Dynamics of the European Human Rights Jurisprudence, 1996; Rupp-Swienty Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1999; Arai-Takahashi The Margin of Appreciation Doctrin and the Principle of Proportionality in the Jurisprudence of the ECHR, 2002; Rubel Die Gewährung von Entscheidungsfreiräumen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs, 2005; König/Peters in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, XXII, Rn 231 ff. 386 Vgl Art 1.

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lichem Interesse teilzunehmen.387 Überprüft wird unter anderem auch, ob ein Risiko falsch abgeschätzt wurde, historische Umstände unzutreffend berücksichtigt worden sind, der maßgeblichen Regelung die Konsistenz fehlt oder eine Beschränkung zu undifferenziert ist.388 dd) Wirkungen der Urteile des EGMR (1) Allgemeines 121

Die endgültigen Urteile des EGMR sind für die am Verfahren beteiligten Personen (also nicht erga omnes) in Bezug auf den entschiedenen Einzelfall verbindlich. Verbindlichkeit bedeutet, dass die Urteile sowohl formell als auch materiell rechtskräftig werden. Zum einen sind sie nicht mehr angreifbar, zum anderen erzeugen sie inhaltliche Bindungswirkungen.389 Die Hohen Vertragsparteien sind nach Art 46 I EMRK verpflichtet, das Urteil zu befolgen. Hierbei handelt es sich um eine völkerrechtliche Inpflichtnahme, deren Einzelheiten in der EMRK nicht näher umschrieben worden sind. Nach den gewohnheitsrechtlich geltenden allgemeinen Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit390 müssen die (fortdauernden) Rechtsverletzungen beendet werden. Außerdem ist Wiedergutmachung zu leisten391 und gleichartige Verletzungen sind in Zukunft zu unterbinden. Bei Unklarheiten können die Parteien die Auslegung des Urteils beantragen (Art 79 VerfO EMRK). Die Überwachung der Durchführung des Urteils erfolgt durch das Ministerkomitee (Rn 83, 115, 130). Die Urteile wirken sich auch auf Parallelfälle (der beteiligten Hohen Vertragspartei) aus (jedenfalls wenn der Konventionsverstoß eine Gesetzesbestimmung betrifft). Sie entfalten ferner eine Präjudizwirkung für die am Verfahren nicht beteiligten Hohen Vertragsparteien iSe Orientierungswirkung.392 Inhaltlich handelt es sich bei den Urteilen des EGMR um Feststellungsurteile (wie sich ua aus Art 41 EMRK ergibt). Dagegen vermag der Gerichtshof nicht selbst die konventionsverletzenden Maßnahmen (zB die nationalen Gerichtsentscheidungen) aufzuheben oder die Konventionsstaaten (abgesehen von der Auferlegung einer Entschädigung nach Art 41 EMRK) zu Leistungen zu verurteilen.393 Ungeachtet dessen ist der EGMR gestützt auf die Art 41 und 46 EMRK verstärkt dazu übergegangen, den Konventionsstaaten positive Maßnahmen aufzuerlegen. So hat er die Rückgabe konventionswidrig erlangter Grundstücke394, die Freilassung konventionswidrig inhaftierter Beschwerdeführer395 und die Einführung eines wirksamen

387 Vgl EGMR, EuGRZ 1999, 453, Rn 64 – Bladet Tromsö; Series A Vol 298, Rn 35 – Jersild; RJD 1996-II, Rn 39 f – Goodwin; v 14.4.2009, 37374/05, Rn 26 – Társaság a Szabadságjogokért; v 16.7.2013, 73469/10, Rn 95 – Nagla; v 28.11.2013, 39534/07, Rn 33 – Österreichische Vereinigung. 388 Nußberger NVwZ – Beilage 2013, 36, 43 (mit Rechtsprechungshinweisen). 389 Zum Wiederaufgreifen des Verfahrens und zur Berichtigung von Fehlern vgl die Art 80 f VerfO EMRK. 390 Vgl Breuer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 46 Rn 2. 391 Vgl auch Art 41 EMRK sowie Rn 129. 392 Vgl Peters/Altwicker EMRK, § 37 Rn 18; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 16 Rn 8 f. 393 Ganz hM, vgl BVerfG, NJW 1986, 1425 ff; BVerfGE 111, 307, 320 f = JK 2005, GG Art 20 III/39 (Fall 2); Uerpmann (Fn 41) 172 ff. 394 EGMR, Series A 330-B, Rn 40 – Papamichalopoulos. 395 EGMR, NJW 2005, 2207 – Assanidzé.

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innerstaatlichen Rechtsbehelfs gegen eine überlange gerichtliche Verfahrensdauer396 verlangt. In dem Urteil Assanidzé397 (Freilassung eines konventionswidrig inhaftierten Bf) vertrat der EGMR die Auffassung, dass es angesichts der Art der festgestellten Verletzung keine wirkliche Wahl unter verschiedenen Abhilfemaßnahmen geben kann. In anderen Urteilen sind Abhilfemaßnahmen in den Gründen bezeichnet398 oder empfohlen399 worden. Ferner hatte der Gerichtshof beginnend mit der Rechtssache Broniowski den Konventionsstaaten unter Hinweis auf seine Arbeitsbelastung in sog Piloturteilen zwecks Vermeidung massenhafter Parallelverfahren mehr oder weniger klar bestimmte Handlungspflichten auferlegt.400 Das Verfahren betraf unzureichende Enteignungsentschädigungen des polnischen Staates. Zum Zeitpunkt der Entscheidung waren bereits 167 gleichartige Fälle beim EGMR anhängig und nahezu 80 000 polnische Staatsangehörige nicht angemessen entschädigt worden.401 Gegen Deutschland hat es bisher ein Piloturteil gegeben (Rumpf, Rn 36 ff). Mittlerweile ist das Piloturteil-Verfahren in der Verfahrensordnung geregelt worden. Danach kann der Gerichtshof von Amts wegen oder auf Antrag einer Partei oder beider Parteien ein Piloturteil-Verfahren beschließen (Art 61 II 2 VerfO EMRK), wenn sich aus dem Sachverhalt, der einer vor dem Gerichtshof erhobenen Beschwerde zugrunde liegt, ergibt, dass in dem betroffenen Vertragsstaat ein strukturelles oder systembedingtes Problem oder ein vergleichbarer sonstiger Mangel besteht, das bzw der zur entsprechenden weiteren Beschwerden weiteren Anlass gegeben hat oder zu geben geeignet ist (Art 61 I VerfO EMRK). Der Gerichtshof kann dann in dem Piloturteil die Art des von ihm festgestellten strukturellen oder systembedingten Problems oder sonstigen Missbrauchs sowie die Art der Abhilfemaßnahmen treffen, die der betroffene Vertragsstaat aufgrund des Urteilstenors auf innerstaatlicher Ebene zu treffen hat (Art 61 III VerfO EMRK). Die Prüfung vergleichbarer Beschwerden darf dann ggf zurückgestellt werden, bis die im Tenor des Piloturteils bezeichneten Abhilfemaßnahmen getroffen worden sind (Art 61 VI VerfO EMRK). Die Anordnung eindeutiger Maßnahmen dürfte nur dann zulässig sein, wenn der Sachverhalt nicht abgeschlossen ist und eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt.402 (2) Urteilswirkungen in Deutschland Keine Aussage trifft die EMRK darüber, welche Rechtswirkungen den Entscheidungen des EGMR in der innerstaatlichen Rechtsordnung403 zukommen. Dies bestimmt sich nach nationalem Recht, in Deutschland nach dem Zustimmungsgesetz, durch welches der deut-

396 EGMR, NJW 2001, 2694, Rn 152 ff – Kudla. 397 EGMR, NJW 2005, 2207, 2212 f – Assanidzé. 398 Vgl EGMR, NJW 2004, 3397, Rn 64 – Görgülü; v 20.11.2007, 39462/03, Rn 27 ff – Karanovic´ ; v 25.6.2013, 48135/06, Rn 31 – Youth Initiative for Human Rights. 399 Vgl EGMR, NVwZ 2006, 1267, Rn 210 – Öcalan. 400 Vgl EGMR, EuGRZ 2004, 472 – Broniowski. Vgl allg auch Haider The Pilot-Judgment Procedure of the European Court of Human Rights, 2013. 401 Zu den Auswirkungen der Entscheidung und dem auf seiner Grundlage ergangenen „friendly settlement“ vgl EGMR, EuGRZ 2008, 126. Näher zu dieser und auch der folgenden Rspr Schmahl EuGRZ 2008, 369 ff. 402 Näher dazu Rohleder Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, 2009, S 122 ff. 403 Zusammenfassend zur innerstaatlichen Bindungswirkung der Urteile des EGMR s Rohleder (Fn 402) S 459 ff, 461 ff.

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sche Gesetzgeber die EMRK und ihre Zusatzprotokolle in das deutsche Recht überführt hat. Infolgedessen entfalten die Deutschland betreffenden Entscheidungen des EGMR grundsätzlich Bindungswirkungen gegenüber allen Trägern von Staatsgewalt.404 Grenzen folgen aus der Bindung der Staatsorgane an Recht und Gesetz (Art 20 III GG), da die EMRK nur als einfaches Bundesgesetz gilt (Rn 13) und daher auch den zu ihrer Auslegung ergangenen Urteilen des EGMR keine gesetzesverdrängende Wirkung zukommen kann. Der verurteilte Konventionsstaat ist völkerrechtlich verpflichtet, das Urteil zu befolgen (Art 46 EMRK), dh sicherzustellen, dass die innerstaatliche Rechtsordnung mit der Konvention übereinstimmt. Folglich ist es Sache des beklagten Staates, jedes Hindernis im innerstaatlichen Recht zu beseitigen, das einer Beendigung der Rechtsverletzung, Wiedergutmachung und Unterbindung für die Zukunft entgegensteht.405 Hierbei ist danach zu unterscheiden, welche Staatsgewalt betroffen ist.406 (a) Wirkung in Bezug auf konventionswidrige Gesetze 123

Konventionswidrige untergesetzliche Bestimmungen (Verordnungen oder Satzung) und Landesgesetze sind nichtig, konventionswidrige Bundesgesetze zu ändern respektive aufzuheben (zu dem Beispielsfall der Sicherungsverwahrung vgl Fall 3). Ist dies noch nicht geschehen, ist ein angerufenes Fachgericht wegen der Ausstrahlung der Konventionsrechte auf die Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes zur Vorlage nach Art 100 I GG zum BVerfG verpflichtet. Ferner kann Verfassungsbeschwerde erhoben werden.407 Hat der EGMR die Konventionsrechtswidrigkeit festgestellt, gilt dies auch dann, wenn das BVerfG zuvor das Gesetz für verfassungskonform erklärt hatte, weil die neuere Entscheidung des EGMR als rechtserhebliche Änderung anzusehen ist (vgl auch Rn 19). De lege ferenda sollte eine Änderung des § 31 BVerfGG zwecks Berücksichtigung dieser Fallgestaltung in Betracht gezogen werden. Ebenso obliegt die Feststellung der Nichtigkeit von Landesgesetzen gem Art 100 I 2 GG der Verfassungsgerichtsbarkeit. Dagegen dürften die Verwaltungsbehörden keine Normaussetzungs- bzw -verwerfungskompetenz haben.408 (b) Wirkungen in Bezug auf konventionswidrige Gerichtsentscheidungen

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Mehr Probleme bereiten konventionswidrige nationale Gerichtsentscheidungen. Da zur Bindung an Gesetz und Recht (Art 20 III GG) die Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EGMR gehört, trifft die deutschen Gerichte, wenn das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, die Pflicht, im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben (vgl Fall 2). Relativierend hat das BVerfG darauf hingewiesen, dass sich im Falle mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse409 (wenn nur der Bf, nicht aber der andere Grundrechts-

404 BVerfGE 111, 307, 316 = JK 2005, GG Art 20 III/39 (Fall 2). 405 Vgl auch EGMR, NJW 2005, 2207, 2212 – Assanidzé; BVerfGE 111, 307, 316, 321 = JK 2005, GG Art 20 III/39 (Fall 2). 406 Näher dazu Cremer in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, XXXII Rn 86 ff. 407 Vgl zum Ganzen auch Payandeh DÖV 2011, 382 ff. 408 Näher zum Ganzen Schmalz Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention für die Bundesrepublik Deutschland, 2007, S 41 ff. 409 Zur Kontrolldichte bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen auch Grabenwarter FS Tomuschat, 2006, S 193 ff.

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träger an dem Verfahren vor dem EGMR beteiligt wird410) oder bei geändertem Sachverhalt anderes ergeben könnte.411 Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass der EGMR auch Dritte beteiligen kann oder gegebenenfalls sogar muss (Art 36 EMRK, 44 VerfO EMRK, Rn 116). Ob die nationalen Gesetzgeber verpflichtet sind, die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Gerichtsverfahrens zuzulassen, wenn der EGMR festgestellt hat, dass die betroffene Gerichtsentscheidung die Konvention verletzt, ist umstritten. Die hM lehnt dies ab.412 Für die gegenteilige Auffassung413 sprechen gute Gründe. Für den EGMR stellt bei einer konventionswidrigen Gerichtsentscheidung im Prinzip die Durchführung eines neuen Verfahrens oder eine Wiederaufnahme auf Antrag des Betroffenen die angemessene Art der Wiedergutmachung dar.414 Das Ministerkomitee415 und die Parlamentarische Versammlung haben empfohlen, ein Wiederaufnahmeverfahren einzuführen. Nachdem Deutschland einen entsprechenden Wiederaufnahmetatbestand schon seit dem Jahre 1998 in das Strafverfahrensrecht eingeführt hat (§ 359 Nr 6 StPO416), ist ein solcher mit Wirkung zum 1.1.2007 auch in das Zivilprozessrecht aufgenommen worden (§ 580 Nr 8 ZPO). Kraft Verweisung gilt die zivilprozessuale Norm auch für die anderen gerichtlichen Verfahrensordnungen (§§ 79 ArbGG, 153 VwGO, 176 SGG, 134 FGO). Ist die Entscheidung eines nationalen Gerichts noch nicht vollstreckt worden, steht nach Feststellung der Konventionswidrigkeit durch den EGMR Art 46 EMRK einer Vollstreckung zugunsten des Konventionsstaates entgegen.417 Hat der EGMR in Parallelverfahren entschieden, sind die innerstaatlichen Gerichte und Verwaltungen im Falle einer gefestigten Rspr vorbehaltlich eindeutiger entgegenstehender nationaler Gesetze oder Verfassungsbestimmungen gehalten, diese zu berücksichtigen (Rn 122), bei Fehlen einer gefestigten Rechtsprechung sich an dieser zu orientieren.418 Von einer gefestigten Rspr ist 410 ZB im Falle eines Verfahrens über das elterliche Sorgerecht nur der Vater, nicht aber die Mutter (vgl Fall 2). 411 BVerfGE 111, 307, 329 (Fall 2). Krit Meyer-Ladewig/Petzold NJW 2005, 15, 17. Vgl auch Kadelbach JURA 2005, 480 ff. 412 Vgl BVerfG (Vorprüfungsausschuss), NJW 1986, 1425 ff; BVerfGE 111, 307, 325 ff = JK 2005, GG Art 20 III/39 (Fall 2); BVerfG, EuGRZ 2005, 426, 429; DVBl 2005, 761; BVerwG, NJW 1999, 1645, 1651; Polakiewicz Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S 128 ff; Pache EuR 2004, 393, 404; Breuer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 46 Rn 40. Vgl auch EGMR, EuGRZ 2004, 777, 778 – Lyons ua. 413 Vgl Ress EuGRZ 1996, 350, 351 f; Walter in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, XXXI Rn 54 ff; Schmalz (Fn 408) S 62 ff; Csaki Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der deutschen Rechtsordnung, 2007, S 48 ff. 414 Vgl EGMR, NVwZ 2006, 1267, Rn 210 – Öcalan, wonach zwar eine grds freie Mittelwahl beim bekl Staat besteht auf eine Konventionsverletzung zu reagieren, als angemessenste Form einer Wiedergutmachung aber ein neues Verfahren propagiert wird. Krit zum zweiten Öcalan-Urteil Kühne JZ 2005, 653, 654 f. 415 Vgl EuGRZ 2004, 808. 416 Die Vorschrift lautet, dass die Wiederaufnahme eines durch rechtskräfiges Urteil abgeschlossenes Verfahrens zu Gunsten des Verurteilten zulässig ist, wenn der EGMR „eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht“. 417 Vgl auch Frowein JuS 1986, 845, 850. In Betracht kommt auch eine analoge Anwendung des § 79 II 2 BVerfGG. 418 Vgl Rohleder (Fn 402) S 230 ff, 461 f.

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insbesondere auszugehen, wenn die Entscheidung des EGMR im Piloturteil-Verfahren (Rn 121) ergangen ist. (c) Wirkungen in Bezug auf konventionswidrige Verwaltungsentscheidungen 127

Konventionswidrige Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig oder ggf nichtig. Ist ein belastender Verwaltungsakt noch nicht bestandskräftig, kann er von der Behörde nach § 48 VwVfG zurückgenommen werden. IdR ist von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen. Falls Bestandskraft eingetreten ist, hat der Betroffene im Hinblick auf den konkret enschiedenen Fall gem § 51 I Nr 3 VwVfG iVm § 580 Nr 8 ZPO den Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens419. Die Entscheidung bestimmt sich dann nach der materiellen (konventionskonformen) Rechtslage.420 Wird kein Antrag iSd § 51 I VwVfG gestellt, ist die Behörde im Falle des Eintritts der Bestandskraft durch Ablauf der Anfechtungsfrist mit Kenntniserlangung der EGMR-Entscheidung wegen Ermessensreduzierung auf Null von Amts wegen verpflichtet, das Verfahren nach § 51 V VwVfG wieder aufzugreifen und eine Entscheidung nach § 48 VwVfG zu treffen. Der Vertrauensschutz eines Dritten kann dann aber der Rücknahme des Verwaltungsaktes entgegenstehen. Ist der VA gerichtlich angefochten, aber durch rechtskräftiges Urteil bestätigt worden, wird die Ablehnung eines Wiederaufgreifens erst dann als ermessensfehlerhaft angesehen, wenn die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Verwaltungsaktes schlechthin unerträglich wäre.421 In Betracht kommt in solchen Fällen aber auch die Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens (Rn 125). Ist ein (öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher) Verwaltungsvertrag abgeschlossen worden, bleibt dieser auch im Falle der Konventionswidrigkeit grundsätzlich bestehen, es sei denn, es liegt ein Nichtigkeitsgrund (§ 59 VwVfG, § 134 BGB) vor. Für die Vollstreckung konventionswidriger Verwaltungsentscheidungen dürften dieselben Grundsätze wie für das gerichtliche Verfahren gelten (Rn 126). (3) Entschädigung

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Gestattet das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Konventionsverletzung, spricht der EGMR der verletzten Partei422 eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist (Art 41 EMRK).423 Der Anspruch muss ausdrücklich geltend gemacht werden (Art 60 VerfO EGMR). Der Bf ist gehalten, seinen Schaden und die Kausalität der Konventionsverletzung darzulegen.424 Neben materiellen sind immaterielle Schäden ersatzfähig425 – selbst wenn es sich um juristische Personen handelt426. Anträge auf Strafschadensersatz (punitive damages) lehnt der Gerichtshof ab.427 Die Bemessung erfolgt nach billigem Ermessen. Berücksichtigungsfähig sind auch 419 Vgl auch Empfehlung des Ministerkomitees Nr R (2000) 2 v 19.1.2000. 420 Vgl Ehlers Die Verwaltung 37 (2004), 255 (283 f). 421 Vgl BVerwGE 135, 137, 146; Breuer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 46 Rn 68. 422 Verstirbt der Bf und wird das Verfahren fortgeführt, kann dessen Rechtsnachfolgern eine Entschädigung zugesprochen werden. Vgl EGMR, EuGRZ 1985, 631, Rn 38. 423 Vgl dazu Dannemann Schadensersatz bei Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1994; Dörr in: ders/Grote/Marauhn, KK, XXXIII Rn 44 ff; zur Höhe der Entschädigung bei verbundenen Beschwerden EGMR, NJW 2009, 655, 656 – Kakamoukas ua. 424 Vgl dazu EGMR, NVwZ-RR 2006, 513, 517 – Dzelili. 425 Vgl zB EGMR, NJW 2000, 2089, Rn 12 f – Smith und Grady. 426 Vgl EGMR, ECHR 2000-IV, Rn 35 – Comingersoll. 427 EGMR (GK), NVwZ-RR 2011, 251, Rn 223 – Varnava.

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die Kosten und Auslagen im EMRK-Verfahren. Bei der Bemessung des Schadensersatzes sind unionsrechtliche Schadensersatzansprüche anzurechnen.428 Die Höhe der Entschädigung ist im Allgemeinen moderat und hat in den deutschen Fällen idR zwischen 2000 und 5000 Euro betragen.429 Der EGMR sieht eine Wiedergutmachung nach innerstaatlichem Recht auch dann als unvollkommen an, wenn zwar ein Schadensersatzanspruch besteht, der Bf aber zu dessen Realisierung auf das erneute Beschreiten des innerstaatlichen Rechtsweges angewiesen ist.430 Die innerstaatliche Schadensverteilung bestimmt sich in Deutschland nach dem auf der Grundlage des Art 104a VI 1 GG erlassenen Lastentragungsgesetz des Bundes.431 Nach § 4 des Lastentragungsgesetzes ist für die Lastenzuordnung bei Konventionsverletzungen von Gerichten das Gericht der Instanz maßgeblich, das die beanstandete Entscheidung getroffen hat. Hat ein Gericht des Bundes die Entscheidung des Gerichts eines Landes bestätigt, tragen der Bund und das betroffene Land die Lasten je zur Hälfte. Für Klagen auf Gewährung der zugesprochenen Entschädigung ist in Deutschland der Rechtsweg nach § 40 II 1 3. Alt VwGO gegeben.432 Lösung Fall 13: Bedenken gegen die Zulässigkeit der Individualbeschwerde zum EGMR könnten nur deshalb bestehen, weil der Bf nicht alle Möglichkeiten des innerstaatlichen Rechtsweges ausgeschöpft hat. So ist er weder gegen seine Festnahme noch das Festhalten vorgegangen, sondern hat vielmehr nur ein Klageerzwingungsverfahren im Hinblick darauf angestrengt, ob sich die Polizeibeamten strafbar gemacht haben. Nach der Rspr des EGMR dient das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung (Art 34 EMRK) dem Zweck, den Vertragsstaaten Gelegenheit zu geben, die ihnen vorgeworfenen Konventionsverletzungen zu verhindern oder ihnen abzuhelfen. Es müssten aber nur die Rechtsbehelfe erschöpft werden, die effektiv und geeignet sind, der behaupteten Verletzung abzuhelfen433 (Rn 102). Zudem sei das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung mit einem gewissen Maß an Flexibilität anzuwenden. Nach der Entscheidung des EGMR hat der Bf diesen Anforderungen hier genügt, indem er Anzeige gegen die an der Festnahme und dem Festhalten beteiligten Polizeibeamten erstattet und anschließend ein Klageerzwingungsverfahren unter Berufung darauf betrieben habe, dass seine Festnahme und die Entziehung seiner Freiheit rechtswidrig gewesen seien. Das Klageerzwingungsverfahren stelle einen effektiven und geeigneten Rechtsbehelf dar, da das OLG die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung zumindest teilweise geprüft habe. Vom Bf könne nicht verlangt werden, weitere Rechtsbehelfe in Anspruch zu nehmen. Begründet ist die Beschwerde, wenn Art 5 I lit c EMRK verletzt worden ist. Ein hinreichender Tatverdacht bestand. Die Festnahme oder das Festhalten müsste aber rechtmäßig gewesen sein. Gem § 163c III StPO darf eine Freiheitsentziehung zum Zwecke der Feststellung der Identität die Dauer von insgesamt 12 Stunden nicht überschreiten. Hier lag eine Überschreitung um 45 Minuten vor. Daher hat der EGMR eine Verletzung des Art 5 I lit c EMRK angenommen und dem Bf eine Entschädigung in Höhe von 10.000,– DM zu Lasten der Bundesrepublik Deutschland zugebilligt.

428 EGMR, Rep 1998-II, Rn 18 – Hornsby; Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 335 f. 429 Vgl Wenzel in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 41 Rn 52, ferner die Auflistung der gewährten Entschädigungen in Rn 30 ff. 430 EGMR, Series A 330-B, Rn 40 – Papamichalopoulos; Series A 315-C, Rn 50 – Scollo; Series A 285-C, Rn 17 – Barberà; Series A 17, Rn 30 – Neumeister. 431 Vgl Art 15 des Föderalismus-Begleitgesetzes v 5.9.2006 (BGBl I 2089). 432 BGH, WM 2011, 756, 757. 433 Vgl EGMR, Rep 1996-II, 559, Rn 33 – Remli.

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§ 2 IX 2

Dirk Ehlers

c) Anrufung des EGMR durch das Ministerkomitee 130

Neben den Hohen Vertragsparteien (Konventionsstaaten und EU, vgl Rn 86) und den natürlichen Personen, nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen (Rn 91) kann auch das Ministerkomitee (Art 13 EURat) den EGMR anrufen. Zum einen kann sich das Ministerkomitee an den Gerichtshof wenden, um Gutachten über Rechtsfragen erstatten zu lassen, welche die Auslegung der Konvention und der Protokolle betreffen (Art 47 I EMRK). Da die Anfragen keine gutachterliche Stellungnahmen zum materiellen Recht zum Gegenstand haben dürfen (Art 47 II, 48 EMRK), spielt dieses Verfahren in der Praxis eine sehr geringe Rolle. Viel wichtiger ist, dass zum anderen das Ministerkomitee mit Zweidrittelmehrheit den EGMR anrufen kann, um die Überwachung des Vollzugs des endgültigen Urteils des Gerichtshofs und dessen ordnungsgemäße Befolgung klären zu lassen (Art 46 III, IV EMRK, 91 ff VerfO EMRK). Nach Beitritt (Rn 21 f) wird auch die EU am Ministerrat beteiligt sein. Damit die Überwachung (Art 46 II EMRK), die Urteilsauslegung (§ 46 III EMRK) sowie die Überprüfung der Urteilsbefolgung (Art 46 IV, V EMRK) von der EU und deren Mitgliedstaaten nicht blockiert werden können, sind gesonderte Abstimmungsmodalitäten vorgesehen.434 d) Anrufung des EGMR durch die Höchstgerichte der Hohen Vertragsparteien

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Schließlich sieht das noch nicht in Kraft getretene 16. ZP-EMRK (Rn 9) vor, dass die Höchstgerichte der Hohen Vertragsparteien die Möglichkeit erhalten sollen, in konkreten Verfahren das Risiko einer späteren Verurteilung durch den EGMR zu vermeiden, indem sie relevante Grundsatzfragen zur Auslegung der EMRK und ihrer Protokolle in einem Zwischenverfahren an den EGMR richten. Die Große Kammer des EGMR soll hierüber in einem ausführlich zu begründenden Gutachten entscheiden, die Annahme der Gutachtenfrage einem mit fünf Richtern besetzten Ausschuss obliegen. Das vorliegende innerstaatliche Gericht ist an das Gutachten des EGMR nicht gebunden. Das Protokoll Nr. 16 wird bereits nach Ratifizierung durch zehn EMRK-Vertragsstaaten in Kraft treten.

2. Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte

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Fall 14: (BVerfG-K, DVBl 2007, 248 = JK 2007, GG Art 14 I, 20a/50; EGMR (GK), NJW 2012, 3629 – Hermann = JK 2013, EMRK Art 1 1. ZP/5) Der die Jagd aus Gewissensgründen ablehnende Bf ist Eigentümer von Grundflächen, die zu einem gemeinschaftlichen Jagdbezirk gehören und gem §§ 8 I, 9 I BJagdG Zwangsmitglied in einer Jagdgenossenschaft. Der Genossenschaft ist kraft Gesetzes das Jagdausübungsrecht übertragen worden. Nachdem eine verwaltungsgerichtliche Klage auf Feststellung des Nichtbestehens der Mitgliedschaft in der Jagdgenossenschaft in allen Instanzen erfolglos blieb435, hat der Bf VB beim BVerfG eingelegt und sich unter anderem darauf berufen, dass die Verwaltungsgerichte die Rspr des EGMR nicht berücksichtigt hätten.

434 Vgl Anhang III des Final report to the CDH Dokument 47+1(2013)008rev2. Näher dazu Polakiewicz EuGRZ 2013, 472, 480 f. 435 Vgl BVerwG, NVwZ 2006, 92 ff.

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Allgemeine Lehren der EMRK

§ 2 IX 2

Weil die EMRK und ihre Zusatzprotokolle in Deutschland im Rang eines einfachen Bundesgesetzes gelten (vgl Rn 13) und den geschützten Personen subjektive Rechte vermittelt werden, können (und müssen) diese (vorrangig) auch vor deutschen Gerichten eingeklagt werden. Da es sich bei EMRK-Bestimmungen wegen der hoheitlichen Inpflichtnahme der Staaten um Vorschriften des öffentlichen Rechts oder gleichgeartete Normierungen handelt, ist vorbehaltlich abweichender Rechtswegzuweisungen der Verwaltungsrechtsweg gegeben. Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt (vgl Rn 15 und Fall 2), sind die nationalen Gerichte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zur Berücksichtigung der Konventionsrechte und Entscheidungen des EGMR verpflichtet. Lösung Fall 14: Die zulässige VB ist begründet, wenn die gesetzlich angeordnete und von den VGen bestätigte Zwangsmitgliedschaft in Jagdgenossenschaften oder die Übertragung des Jagdausübungsrechts auf die Genossenschaften ein Grundrecht des Bf aus Art 2, 3, 4, 9 oder 14 GG verletzt. Das BVerfG hat eine Verletzung der Grundrechte aus der Sicht der nationalen Rechtsordnung verneint. Soweit der Bf eine Verletzung der EMRK rügt, sieht das BVerfG dies als unzulässig an, weil die EMRK kein unmittelbar verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab nach Art 93 I Nr 4 lit a GG ist. Allerdings könne der Bf gestützt auf ein nationales Grundrecht mit der VB rügen, dass ein staatliches Organ eine Konventionsbestimmung oder eine Entscheidung des EGMR missachtet oder nicht berücksichtigt hat. Der EGMR hat es als eine Verletzung von Art 1 1. ZP EMRK angesehen, wenn Eigentümer kleinerer Grundstücke in Frankreich, welche die Jagd ablehnen, das Jagdrecht auf ihrem Land auf einen kommunalen Verband übertragen müssen, damit Dritte davon Gebrauch machen können. Zudem verstoße es gegen Art 1 1. ZP EMRK (Schutz des Eigentums) und gegen Art 11 EMRK (Vereinigungsfreiheit) iVm Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), wenn nur Eigentümer größerer Grundstücke das Recht gegeben werde, ihr Land in Übereinstimmung mit ihren Gewissensüberzeugungen zu nutzen. Schließlich werde Art 11 EMRK verletzt, wenn ein Grundstückseigentümer dazu gezwungen wird, einem Jagdverband beizutreten und ihm sein Jagdrecht zu übertragen, obwohl er die Jagd aus ethischen Gründen ablehnt.436 Die Entscheidung hat nur inter partes Wirkung. Doch muss die ratio decidendi auch in anderen gerichtlichen Verfahren mit anderen Beteiligten beachtet werden. Da die Fachgerichte, insbesondere das BVerwG, die Entscheidung des EGMR in den Blick genommen und hierbei die Unterschiede der rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse nach deutschem Jagdrecht gegenüber denjenigen nach französischem Recht herausgearbeitet haben, sind die angegriffenen Gerichtsentscheidungen nach Auffassung des BVerfG dem verfassungsrechtlich maßgeblichen völkerrechtlichen Berücksichtigungsgebot gerecht geworden. Demgemäß wurde die VB abgewiesen. Nach Einlegung einer Beschwerde bei dem EGMR hat die Große Kammer aber entschieden, dass sich die Rechtslage in Deutschland nicht wesentlich von derjenigen in Frankreich und Luxemburg437 unterscheidet. Die Verpflichtung, die Jagd auf ihren Grundstücken zu erlauben, stelle für Eigentümer, welche die Jagd aus ethischen Gründen ablehnen, eine unverhältnismäßige Belastung dar und verstoße gegen Art 1 1. ZPEMRK. Gem Art 41 EMRK wurde Deutschland verurteilt, 5000 € als Ersatz für Nichtvermögensschäden und 3861,91 € als Ersatz für Kosten und Auslagen zu zahlen. Das BVerfG wird nicht umhinkommen, seine Rspr auf eine erneute VB hin an diejenige des EGMR anzupassen.

436 EGMR, NJW 1999, 3695 ff – Chassagnou. 437 Vgl EGMR, NuR 2008, 849, Rn 44 – Schneider.

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§3 Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot Robert Uerpmann-Wittzack 1

Der folgende Abschnitt behandelt einige der materiellen Kernbestimmungen der EMRK, namentlich den Schutz des Privatlebens, den Schutz der persönlichen Integrität und das Diskriminierungsverbot. Er soll kein Detailwissen zu diesen Garantien vermitteln, sondern er will Verständnis für die Grundstrukturen wecken und so ein eigenständiges Arbeiten mit den Garantien ermöglichen. Die EMRK ist ebenso wie das deutsche Grundgesetz Teil einer gemeinsamen europäischen Grundrechtskultur.1 Ihre Garantien weisen daher trotz signifikanter Unterschiede auch starke Parallelen auf. An diesen Parallelen und Unterschieden orientiert sich die folgende Darstellung. Sind die Grundstrukturen bekannt, ist es relativ einfach, aus der deutschen Grundrechtsdiskussion bekannte Streitstände auf die EMRK zu übertragen. Besonderes Augenmerk soll solchen Bereichen gelten, in denen die EGMR-Rspr Impulse für die deutsche Rechtsentwicklung gegeben hat, wie es bspw beim Schutz vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen und bei der Stellung nichtehelicher Väter der Fall war.

I. Schutz der Privatsphäre 1. Privat- und Familienleben, Wohnung und Korrespondenz (Art 8 EMRK) Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1985, 297 – X u Y; NJW 1993, 718 ff – Niemitz = JK 93, EMRK Art 8/1; NVwZ 1999, 57 ff – Guerra = JK 99, EMRK Art 8/3; (GK), NJW 2012, 1053 – von Hannover Nr. 2. Schrifttum: Coester-Waltjen Grundgesetz und EMRK im deutschen Familienrecht, JURA 2007, 914 ff; Graf Kielmansegg Jenseits von Karlsruhe – Das deutsche Familienrecht in der Straßburger Rechtsprechung, AVR 46 (2008), 273 ff; Heselhaus/Marauhn Straßburger Springprozession z Schutz der Umwelt EuGRZ 2005, 549 ff; Kugelmann Individualkommunikation, EuGRZ 2003, 16 ff; MeyerLadewig Das Umweltrecht in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, NVwZ 2007, 25–30; Schmidt-Radefeldt Ökologische Menschenrechte, 2000, 55–200; Uerpmann-Wittzack/Jankowska-Gilberg Die Europäische Menschenrechtskonvention als Ordnungsrahmen für das Internet, MMR 2008, 83–89.

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Fall 1: Der türkische Staatsangehörige M ist in München geboren worden und wächst dort bei seinen Eltern auf. Die Türkei kennt er nur von Ferienaufenthalten. Türkisch spricht er kaum. Schon vor Vollendung des vierzehnten Lebensjahres tritt er wiederholt strafrechtlich in Erscheinung. Nach seinem vierzehnten Geburtstag begeht er weitere Straftaten wie Laden- und Einbruchsdiebstähle, Raubtaten, gefährliche Körperverletzungen, Nötigungen und Hausfriedensbrüche. Er wird innerhalb von vier Jahren zu Jugendstrafen von insg mehr als drei Jahren verurteilt und nach § 56 II 2 AufenthG ausgewiesen. Ist die Ausweisung konventionsgemäß?

1 Uerpmann Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, 117–130.

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Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot

§3 I1

a) Schutzbereiche aa) Privatleben Mit dem Schutz des Privatlebens, des Familienlebens, der Wohnung und der Korrespondenz enthält Art 8 I EMRK vier verschiedene Schutzbereiche. Das Privatleben ist der weiteste von ihnen. Die übrigen Schutzbereiche sind weitgehend besondere Ausprägungen des Schutzes des Privatlebens. Dem Schutz des Privatlebens kommt eine gewisse Auffangfunktion zu. Art 8 I EMRK zeigt insofern Parallelen zu Art 2 I GG. Anders als das Grundgesetz kennt die EMRK zwar kein allgem Freiheitsrecht, das lückenlosen Schutz gegen staatliche Eingriffe vermitteln würde. Der Schutz des Privatlebens nach Art 8 I EMRK übernimmt aber Funktionen, die in Deutschland Art 2 I GG und namentlich das allgem Persönlichkeitsrecht nach Art 2 I iVm Art 1 I GG erfüllen. Bspw schützen sowohl das Grundgesetz als auch die EMRK das Privatleben Prominenter vor dem aufdringlichen Zugriff der Presse. Unter dem Grundgesetz übernimmt das allgem Persönlichkeitsrecht diesen Schutz,2 während konventionsrechtlich Art 8 EMRK eingreift.3 Ebenso lässt sich für den Datenschutz, der grundgesetzlich als Recht auf informationelle Selbstbestimmung im allgem Persönlichkeitsrecht verankert ist,4 unter der EMRK das Recht auf Achtung des Privatlebens heranziehen.5 In Hinblick auf das Internet hat das BVerfG den Schutz weiter ausdifferenziert und ein „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ entwickelt.6 Konventionsrechtlich ist auch hier Art 8 EMRK einschlägig. Eine Online-Durchsuchung berührt das Privatleben ebenso wie die Überwachung der privaten Internetnutzung am Arbeitsplatz.7 Der EGMR hat außerdem hervorgehoben, dass den Garantien des Art 8 EMRK das Prinzip persönlicher Selbstbestimmung zu Grunde liege.8 Auch darin zeigt sich die Nähe zu Art 2 I GG. Eine Auffangfunktion kommt Art 8 EMRK zudem in Hinblick auf die körperliche Unversehrtheit zu. In der EMRK ist dieses Recht, anders als in Art 2 II 1 GG und im Gegensatz zum Recht auf Leben nach Art 2 EMRK, nicht eigens garantiert. Teilbereiche des Rechts auf körperliche Unversehrtheit werden durch das Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung gemäß Art 3 EMRK abgedeckt (u Rn 39). Im Übrigen zählt der EGMR die körperliche und psychische Unversehrtheit zum Privatleben.9 Auf eine Definition des Privatlebens hat der EGMR ausdrücklich verzichtet.10 Er folgt einem kasuistischen Ansatz, wie er für die Konventionspraxis typisch ist. Verlässliche Be-

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BVerfGE 73, 118, 201; 97, 125, 146; 101, 361, 379 ff. EGMR (GK), NJW 2012, 1053, Rn 95 ff – von Hannover Nr 2. BVerfGE 65, 1, 41 ff – Volkszählungsurteil; dazu Kunig JURA 1993, 595 ff. EGMR, HRLJ 21 (2000), 221, Rn 65 – Amann; Mock RUDH 1998, 237, 241; z Schutz von Steuerdaten zweif Schweizerisches Bundesgericht, EuGRZ 1999, 53 f; zur Verwendung von Informationen aus Stasi-Akten EGMR, NJW 2003, 3041, 3042 – Knauth = JK 2004, EMRK Art 8 I/1. BVerfG, NJW 2008, 822, Rn 166 ff; dazu Hoffmann-Riem JZ 2008, 1009 ff. Zu letzterem EGMR, EuGRZ 2007, 415, Rn 41– 44 – Copland; allgem Uerpmann-Wittzack/Jankowska-Gilberg MMR 2008, 83, 86 f. EGMR, NJW 2002, 2851, Rn 61 – Pretty = JK 2003, StGB § 216/5; dazu Fassbender JURA 2004, 115 ff; EGMR, NJW 2004, 2505, Rn 69 – Van Kück. EGMR, NJW-RR 2006, 308, Rn 143 – Storck; NJOZ 2009, 3499, Rn 107 – Tysiac; Meyer-Ladewig NJW 2007, 25, 26. EGMR, NJW 1993, 718, Rn 29 – Niemietz = JK 93, EMRK Art 8/1; NZA 2011, 277, Rn 39 – Obst = JK 2011, EMRK Art 8/7; s a Mock RUDH 1998, 237, 239.

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griffsdefinitionen, wie sie Rechtsprechung und Lehre unter dem Grundgesetz entwickelt haben, fehlen für die EMRK weitgehend. Daher soll auch hier auf einen Definitionsversuch verzichtet werden. Statt dessen möchte der Beitrag Leitlinien vermitteln, die bei einer kasuistischen Argumentation helfen können. Der Begriff des Privatlebens ist weit zu verstehen. Er umfasst nicht nur einen inneren Bereich menschlichen Daseins, sondern auch die sozialen Beziehungen, also den Kontakt zur Außenwelt. Abzugrenzen ist das Privatleben vom öffentlich-staatlichen Bereich. Die Wahrnehmung eines öffentlichen Amtes gehört nicht zum Privatleben. Außerhalb des staatlichen Bereichs kann aber auch eine berufliche Tätigkeit unter Art 8 I EMRK fallen. Gerade im beruflichen Bereich nehmen viele Menschen Kontakte zur Außenwelt auf. Zudem lässt sich zwischen Privatleben und Beruf zumindest bei manchen Berufsgruppen kaum ein sinnvoller Trennstrich ziehen. So hat der EGMR im Fall Niemietz den staatlichen Zugriff auf Anwaltsakten als Eingriff in das Privatleben gewertet.11 Nach deutschem Verfassungsrecht wäre insoweit am ehesten Art 12 I GG einschlägig. Obwohl die EMRK die Berufsfreiheit als solche nicht garantiert, kann sie über Art 8 I EMRK Schutz vor bestimmten Eingriffen in die Berufsausübung gewähren. Für diese weite Auslegung spricht auch der systematische Zusammenhang mit dem Schutz der Korrespondenz. Dort wird nicht zwischen privater und geschäftlicher Korrespondenz unterschieden. Begreift man den Schutz der Korrespondenz als besondere Ausprägung des Schutzes des Privatlebens, liegt es nahe, das Privatleben ebenfalls entspr weit zu fassen. Das Privatleben umfasst auch die Kommunikation mit anderen Menschen.12 Hier stellen sich allerdings Abgrenzungsprobleme zum spezielleren Schutzbereich der Korrespondenz.13 Was als Korrespondenz von Art 8 I EMRK geschützt wird, muss nicht mehr dem Auffangschutzbereich des Privatlebens zugeordnet werden. Die traditionelle briefliche Kommunikation wird damit ausschließlich vom Schutzbereich der Korrespondenz erfasst. Bei Telefongesprächen erscheint die Zuordnung hingegen zweifelhaft. Legt man den Begriff der Korrespondenz weit aus, lassen sie sich unter diesen spezielleren Schutzbereich fassen. Anderenfalls werden sie als Teil des Privatlebens geschützt. Der EGMR hat sich insoweit nicht festgelegt. In den einschlägigen Entscheidungen führt er sowohl das Privatleben als auch die Korrespondenz an.14 Dogmatisch kann diese Unentschlossenheit nicht ganz befriedigen. Andererseits kommt es auf die Unterscheidung tatsächlich nicht an, weil Privatleben und Korrespondenz beide derselben Schrankenregelung unterliegen. Damit ist es auch weitgehend gleichgültig, wie man neue Kommunikationsformen qualifiziert. Es liegt nahe, die Übertragung von E-Mails mit dem Schutz der Korrespondenz zu versehen.15 Anderenfalls würden sie aber jedenfalls als Teil des Privatlebens geschützt.16 In Abgrenzung zur Meinungsfreiheit (→ § 4 Rn 4 ff) schützt Art 8 EMRK die Vertraulichkeit der Individualkommunikation, während Kommunikationsinhalte ansonsten durch

11 EGMR, NJW 1993, 718, Rn 29 ff – Niemietz = JK 93, EMRK Art 8/1; dazu a Kunig/Uerpmann Übungen, 210 f. 12 Kugelmann EuGRZ 2003, 16, 21 f. 13 Zur Korrespondenz s noch u Rn 14. 14 EGMR, EuGRZ 1979, 278, Rn 41 – Klass; EuGRZ 1985, 17, Rn 64 – Malone; EuGRZ 1992, 300, Rn 39 – Lüdi; HRLJ 21 (2000), 221, Rn 44 – Amann. 15 Mock RUDH 1998, 237, 243. 16 So a EGMR, EuGRZ 2007, 415, Rn 41, 44 – Copland ohne Abgrenzung zwischen Privatleben und Korrespondenz.

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Art 10 EMRK geschützt werden (→ § 4 Rn 22).17 Art 8 EMRK schützt dabei nicht nur die Vertraulichkeit der Inhalte. Auch sog Verbindungsdaten, also Informationen, welche Personen wann miteinander kommunizieren, werden geschützt.18 Es versteht sich fast von selbst, dass Standortdaten bei der Mobilfunkkommunikation ebenfalls in den Schutzbereich von Art 8 EMRK fallen. Zum Privatleben gehören des Weiteren die physischen Lebensbedingungen an einem Ort. Sind die Bewohner eines Gebietes giftigen Abgasen einer Fabrik ausgesetzt, berührt dies ihr Privatleben (→ § 2 Rn 26).19 Damit enthält Art 8 I EMRK Elemente eines Grundrechts auf Umweltschutz.20 Ebenso ist das Privatleben betroffen, wenn eine Person etwa durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen wird.21 Art 8 I EMRK ist daher insb auch als Grenze für Ausweisung und Abschiebung im Ausländerrecht relevant. Zwar garantiert die EMRK Ausländern weder ein Recht auf Einreise noch ein Recht auf Aufenthalt. Art 3 4. ZP EMRK verbietet lediglich die Verbannung eigener Staatsangehöriger und Art 4 4. ZP EMRK schützt allein vor Kollektivausweisungen. Art 1 7. ZP EMRK, das für Deutschland nicht in Kraft ist, beschränkt sich auf Verfahrensgarantien für den Fall der Ausweisung. Diese punktuellen Regelungen schließen es aber nicht aus, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zusätzlich an allgem Garantien der EMRK wie denen aus Art 8 EMRK zu messen. Das Privatleben hat somit eine starke soziale Komponente. Geschützt wird die Person in ihrem jeweiligen räumlich-gesellschaftlichen Umfeld. Wie weit der Schutz geht, zeigt sich etwa, wenn der EGMR erklärt, arbeitsrechtliche Streitigkeiten würden „im Allgemeinen“ Rechte des Arbeitnehmers aus Art 8 EMRK berühren.22 Der Schutz erstreckt sich aber auch auf den inneren Bereich der Persönlichkeitssphäre bis hin zur geschlechtlichen Identität und zur sexuellen Selbstbestimmung. Weigert sich der Staat bei Transsexualität, eine erfolgte Geschlechtsumwandlung namens- und personenstandsrechtlich anzuerkennen, ist der Schutzbereich des Privatlebens berührt.23 Auch Homosexualität fällt in den Schutzbereich des Privatlebens.24 Vorschriften, die die Vergewaltigung und andere Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung unter Strafe stellen, dienen ebenfalls dem Schutz des Privatlebens.25 Zur persönlichen Identität, die als Teil des Privatlebens geschützt ist, gehört darüber hinaus die Kenntnis der eigenen Abstammung.26 Das Recht der Mutter,

17 Kugelmann EuGRZ 2003, 16, 24. 18 EGMR, EuGRZ 2007, 415, Rn 43 – Copland. 19 EGMR, NVwZ 1999, 57, Rn 57 – Guerra = JK 99, EMRK Art 8/3; s a schon EGMR, EuGRZ 1995, 530 ff – López Ostra = JK 96, EMRK Art 8/2 und nun EGMR, NVwZ 2013, 415, Rn 104 ff – Di Sarno. 20 Ausf Schmidt-Radefeldt Ökologische Menschenrechte, 2000, S 105 ff; ferner Heselhaus/Marauhn EuGRZ 2005, 546 ff; Meyer-Ladewig NJW 2007, 15 ff. 21 Mock RUDH 1998, 237, 241; im Grundsatz ebenso ohne Unterscheidung zwischen Privat- und Familienleben EGMR, NVwZ 1998, 164, Rn 23 ff – Mehemi; NVwZ 2000, 1401, Rn 32 ff – Baghli. 22 EGMR, NZA 2011, 277, Rn 45 – Obst = JK 2011, EMRK Art 8/7. 23 EGMR, HRLJ 13 (1992), 358, Rn 44–63 – B/Frankreich; NJW-RR 2004, 289, Rn 71 ff – Goodwin. 24 EGMR, EuGRZ 1983, 488, Rn 37 ff – Dudgeon; EuGRZ 1992, 477, Rn 38 – Norris; NJW 2000, 2089, Rn 70 f – Smith und Grady. 25 EGMR, EuGRZ 1985, 297, Rn 22 – X u Y; dazu noch u Rn 26. 26 EGMR, FamRZ 2006, 1354, Rn 28 ff – Jäggi; s a EuGRZ 2006, 129, Rn 102 f – Mizzi, zur Anfechtung der Vaterschaft.

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anonym zu bleiben, wird allerdings ebenso durch Art 8 I EMRK geschützt. Bei der Frage, ob der Staat Babyklappen und anonyme Geburten gestatten darf, stehen sich also Rechte des Kindes und der Mutter aus Art 8 I EMRK gegenüber. Zudem ist das öffentliche Interesse, Abtreibungen und das unkontrollierte Aussetzen von Kindern zu verhindern, zu berücksichtigen. Der EGMR hat daher die französische Regelung zur anonymen Geburt an Art 8 EMRK gemessen, befand aber letztlich, dass sie sich innerhalb des nationalen Beurteilungsspielraums bewege.27 bb) Familienleben 9

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Das Familienleben ist gleichfalls weit zu verstehen.28 Eine eheliche Verbindung ist nicht erforderlich.29 Auch die Beziehung eines einzelnen Elternteils zu seinem Kind wird als Familienband erfasst. Geschützt wird der tatsächliche soziale Kontakt unabhängig von seiner rechtlichen Anerkennung. Damit fällt die Beziehung eines nichtehelichen Kindes zu seinem Vater schon vor der Feststellung der Vaterschaft ebenso in den Schutzbereich des Familienlebens wie die Beziehung eines Kindes zu Adoptiv- oder Pflegeeltern.30 Auch lässt die Trennung der Eltern bei einem Kind, das bei einem Elternteil lebt, das Familienband zum anderen Elternteil nicht abreißen, soweit beide in Kontakt bleiben.31 Nicht ausreichend ist allerdings die bloße Abstammung. Wichtig ist, dass tatsächlicher Kontakt vorhanden oder zumindest gewollt ist.32 Unter diesen Voraussetzungen werden auch die Beziehungen zu entfernteren Familienangehörigen wie Großeltern oder Tanten geschützt.33 Im Vergleich zum Schutz der Familie nach Art 6 I GG fällt auf, dass sich der EGMR stärker an der faktischen Familie orientiert als das BVerfG.34 Familienleben setzt voraus, dass bereits Familienbande bestehen, doch wird der Kinderwunsch als Teil des Privatlebens durch Art 8 EMRK geschützt.35 Lebensgemeinschaften werden auch dann als Familienleben geschützt, wenn in ihnen keine Kinder aufwachsen. Das gilt nicht nur für die Ehe, sondern auch für nichteheliche Lebensgemeinschaften. 2010 hat der EGMR gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in diesen Schutz einbezogen.36 Der Schutzbereich des Familienlebens ist damit zweigeteilt. Erfasst werden einerseits Paarbeziehungen als Lebens-, Einstands- und Verantwortungsgemeinschaften sowie andererseits Haushalte, in denen Kinder aufwachsen. In der traditionellen ehebasierten Kleinfamilie fällt beides zusammen. Paarbeziehungen werden jedoch unabhängig vom Reproduktionszweck geschützt. Ebenso werden Haushalte, in denen Kinder aufwachsen, auch dann geschützt, wenn sie keinem traditionellen Familienbild entsprechen.

27 EGMR, NJW 2003, 2145, Rn 28 f, 40 ff – Odièvre; dazu Lux-Wesener EuGRZ 2003, 555 ff; Wittinger NJW 2003, 2138 ff. 28 Ausf Fahrenhorst Familienrecht und Europäische Menschenrechtskonvention, 1994, 94 ff; s a Graf Kielmansegg AVR 46 (2008), 273, 298 ff. 29 BGH, NJW 2001, 2472, 2475 = JK 2001, BGB § 1626a/1. 30 Mock RUDH 1998, 237, 241; s a Coester-Waltjen JURA 2007, 914, 918. 31 EGMR, NVwZ 2001, 547, Rn 59 – Ciliz; NJW 2001, 2315, Rn 43 f – Elsholz. 32 EGMR, EuGRZ 2011, 124, Rn 56–62 – Anayo. 33 Mock RUDH 1998, 237, 241 f. 34 S Graf Kielmansegg AVR 46 (2008), 273, 307 f; ferner Coester-Waltjen JURA 2007, 914, 918. 35 EGMR, NJW 2008, 2013, Rn 71 – Evans. 36 EGMR, NJW 2011, 1421, Rn 90–95 – Schalk u Kopf; dazu Wiemann, EuGRZ 2010, 408, 410 ff.

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Eine Gleichstellung nichtehelicher und namentlich gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften mit der traditionellen Ehe fordert die Konvention freilich nicht. Das ergibt sich schon aus Art 12 EMRK, der das Recht zur Eheschließung gewährleistet und der Ehe damit einen besonderen Platz zuweist. Dabei geht der EGMR bisher im Einklang mit dem Wortlaut vom klassischen Bild der Ehe als Lebensgemeinschaft zwischen Partnern unterschiedlichen Geschlechts aus.37 Allerdings äußert er Zweifel, ob sich das Geschlecht stets allein biologisch bestimmen lasse.38 Im konkreten Fall wurde einer Transsexuellen auch nach ihrer Geschlechtsumwandlung zur Frau verwehrt, einen Mann zu heiraten. Darin sah der EGMR einen Verstoß gegen das Recht zur Eheschließung nach Art 12 EMRK.39 Im Übrigen kommt der Vorschrift neben dem Schutz des Familienlebens nach Art 8 I EMRK keine große Bedeutung zu. In der Praxis spielt der Schutz des Familienlebens nicht nur im Ehe- und Kindschaftsrecht40 eine wichtige Rolle, sondern auch im Ausländerrecht,41 wenn es um aufenthaltsbeendende Maßnahmen42 oder Familiennachzug43 geht. Die Weite des Schutzes zeigt sich darin, dass der EGMR sogar das Erbrecht zwischen nahen Verwandten dem Familienleben zuordnet.44

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cc) Wohnung Mit der Wohnung schützt Art 8 EMRK den räumlich-gegenständlichen Bereich der Individualsphäre. Zur Wohnung gehören auch die Geschäftsräume. Dies hat der EGMR im Fall Niemietz klar gestellt.45 Für die weite Auslegung spricht das oben zum Privatleben Gesagte. Wenn das Berufsleben zum Privatleben zählt, liegt es nahe, den räumlichen Bereich, in dem sich das Berufsleben vollzieht, ebenso zu schützen wie die Wohnung ieS. Der Wohnungsbegriff wird damit ähnlich weit ausgelegt wie bei Art 13 GG.46 Geschützt werden die Räume vor jeder Form des Eindringens. Auch „Lauschangriffe“ berühren den Schutzbereich.47 Die Abgrenzung zum Privatleben mag im Einzelnen schwierig sein, ist aber angesichts der Parallelität der Garantien nicht ergebnisrelevant.

37 EGMR, Series A, Vol 106, Rn 49 – Rees; entwicklungsoffen nun allerdings NJW 2011, 1421, Rn 60 f – Schalk u Kopf. 38 EGMR, NJW-RR 2004, 289, Rn 100 – Goodwin. 39 EGMR, NJW-RR 2004, 289, Rn 101–104 – Goodwin; dazu Henrich FamRZ 2004, 173 f; zust EuGH, Slg 2004, I-541, Rn 33 – K.B. 40 S zB die in Fn 31 f sowie in Rn 28 genannten Entscheidungen; allgem Fahrenhorst (Fn 28) S 191 ff; Brötel Der Anspruch auf Achtung des Familienlebens, 1991, 175 ff. 41 Dazu allgem Sander, Der Schutz des Aufenthalts durch Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2008. 42 ZB EGMR, DVBl 2007, 689 ff – Üner; allgem Deibel ZAR 2009, 121 ff; Fritzsch ZAR 2011, 297 ff. 43 Im Überbl EuGH, Slg 2006, I-5769, Rn 52 ff – Parlament/Rat = JK 2007, EUV Art 6 II/1. 44 EGMR, ZEV 2005, 162, Rn 26 – Pla u Puncerau; dazu Staudinger ZEV 2005, 140 ff. 45 EGMR, EuGRZ 93, 65, Rn 30–33 – Niemietz; ebenso NJW 2006, 1495, Rn 31 – Buck = JK 2006, EMRK Art 8/6. 46 Dazu BVerfGE 32, 54, 69 ff. 47 EGMR, JZ 2000, 993, Rn 25 – Khan.

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dd) Korrespondenz 14

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Schließlich schützt Art 8 I EMRK das Postgeheimnis. Unter Korrespondenz sind schriftliche Mitteilungen48 zu verstehen, die auf einem anerkannten Beförderungsweg von einer Person zu einer anderen übermittelt werden.49 Unerheblich ist, ob die Dokumente durch eine staatliche Postverwaltung oder durch private Anbieter befördert werden. Mit der Korrespondenz ist der Vorgang der Nachrichtenübermittlung geschützt, also die Phase, in der Dritte bes leicht auf die Dokumente zugreifen können. Ist eine Mitteilung noch nicht abgesandt worden, oder ist sie bereits beim Empfänger angekommen, handelt es sich nicht mehr um Korrespondenz.50 Dann greift allerdings der allgem Schutz des Privatlebens ein. Die Konventionsrechte gelten auch in sog besonderen Gewaltverhältnissen51 wie Militär, Schule oder Gefängnis. So erstreckt sich der Schutz auf die Korrespondenz von Strafgefangenen.52 Damit garantiert Art 8 I EMRK namentlich die ungehinderte Korrespondenz eines Gefangenen mit dem EGMR.53 b) Beeinträchtigung

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Was die Rechtsbeeinträchtigung angeht, gelten zunächst allgemeine Grundsätze (→ § 2 Rn 70). Das Durchsuchen einer Wohnung ist ebenso eine Beeinträchtigung wie die Beschlagnahme persönlicher Dokumente oder das Abhören eines Telefongesprächs. Umgekehrt fehlt es an einer Beeinträchtigung, wenn ein Presseorgan ohne Einwilligung der Betroffenen Fotos aus dem Privatleben einer Prominenten veröffentlicht. Mangels konventionsrechtlicher Bindung kann das Presseorgan nicht in Art 8 EMRK eingreifen (→ zu den Konventionsverpflichteten § 2 Rn 46 ff). Verlangt die Betroffene gerichtlichen Rechtsschutz, ist die Schutzpflichtdimension (→ § 2 Rn 31) des Konventionsrechts angesprochen. Auch aufenthaltsbeendende Maßnahmen haben Eingriffscharakter, da sie darauf angelegt sind, dem Betroffenen das Weiterleben in seinem aktuellen privaten Umfeld unmöglich zu machen. Hat die Person am Aufenthaltsort familiäre Bindungen, ist das Familienleben beeinträchtigt. Was für Art 8 EMRK weitgehend klar erscheint, ist im Parallelfall des Art 6 I GG umstritten. Die deutsche Rechtsprechung neigt dazu, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auf Schutzpflichten aus Art 6 I GG abzustellen.54 Diese dogmatische Unstimmigkeit dürfte sich aus der unzulänglichen Schrankensystematik des Grundgesetzes erklären. Art 6 I GG ist vorbehaltlos gewährleistet. Nähme man einen Eingriff an, ließe sich dieser nur in engen Grenzen über verfassungsimmanente Schranken rechtfertigen. Diese Konsequenz wird über eine Reduktion des Eingriffstatbestandes umgangen. Bei Art 8 EMRK bedarf es angesichts angemessener Schranken in Abs 2 keiner Korrektur auf der Eingriffsebene.

48 49 50 51

Zu Telefongesprächen schon o Rn 6. Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 8 Rn 34. Mock RUDH 1998, 237, 243. Z Begriff v Münch/Kunig in: dies (Hrsg) Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl 2012, Bd I, Vorbem Art 1–19 Rn 20, 43. 52 Ovey/White EMRK, 250, 278–281. 53 EGMR, REP 1998-VII, Rn 35 ff – Petra; Mock RUDH 1998, 237, 243 f. 54 BVerfGE 51, 386, 396 f; offen BVerfGE 76, 1, 46; s a Pieroth/Schlink Grundrechte, Staatsrecht II, 28. Aufl 2012, Rn 705.

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Bei ehe- und kindschaftsrechtlichen Entscheidungen ist zu differenzieren.55 Entzieht das Gericht einem geschiedenen Elternteil das Sorgerecht, wird man von einem Eingriff ausgehen können. Versagt hingegen ein Elternteil dem anderen den Umgang mit dem gemeinsamen Kind und wendet sich der andere Hilfe suchend an das Gericht, so fehlt es an einem staatlichen Eingriff. Art 8 EMRK ist in seiner Schutzpflichtdimension angesprochen.56 Schwierig ist die Abgrenzung auch in Umweltschutzfällen. Ein Eingriff liegt vor, wenn die Umweltbelastung unmittelbar von Hoheitsträgern verursacht wird. Das gilt etwa für Belastungen, die von einem Truppenübungsplatz ausgehen. Umweltgefährdendes Verhalten Privater lässt sich dem Staat hingegen grundsätzlich nicht zurechnen. Vielfach wird das private Verhalten allerdings staatlich genehmigt sein. Indem der Staat potenziell umweltgefährdendes Verhalten einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterwirft, kommt er seiner Schutzpflicht nach. Hebt der Staat das präventive Verbot im Einzelfall durch eine Genehmigung wieder auf, unterschreitet er möglicherweise seine Schutzpflicht. Darin allein liegt aber noch kein Eingriff.57 Eingriffscharakter hat die Genehmigung nur, wenn und soweit sie betroffenen Dritten Duldungspflichten auferlegt, wie es etwa bei der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung nach § 14 BImSchG der Fall ist. Dieser Bereich ist auch in der deutschen Grundrechtsdogmatik umstritten. Die Konventionsdogmatik ist insoweit noch weniger entwickelt, weist aber in dieselbe Richtung. In der Sache Hatton musste der EGMR nächtlichen Fluglärm bewerten, der im Rahmen staatlich reglementierter Nachtflüge am Londoner Flughafen Heathrow entstand. Nach dem oben Gesagten lässt sich die schlichte staatliche Erlaubnis privater Nachtflüge nicht als Eingriff werten. Dementsprechend sah die Kammer in der Nachtflugreglementierung keinen Eingriff. Vielmehr prüfte sie, ob das Vereinigte Königreich mit dieser Reglementierung seiner Schutzpflicht aus Art 8 I EMRK ausreichend Rechnung getragen hatte.58 Im Fall López Ostra hatte der EGMR eine schwierige Gemengelage unterschiedlichen staatlichen Verhaltens zu beurteilen.59 Eine umweltverschmutzende Entsorgungsanlage für Gerbereiabfälle war mit staatlichen Subventionen auf einem städtischen Grundstück errichtet worden. Ohne die erforderliche Zulassung ging sie in Betrieb. Verschiedene behördliche Abhilfemaßnahmen hatten nur einen eingeschränkten Erfolg. Da eine Genehmigung gerade nicht erteilt worden war, kam ein Eingriff insoweit nicht in Betracht. Bei den behördlichen Abhilfemaßnahmen handelt es sich um möglicherweise unzureichende Schutzmaßnahmen. Solange sie die Beeinträchtigung nicht verstärken, haben sie ebenfalls keinen Eingriffscharakter. Am ehesten könnte die staatliche Förderung des Anlagenbaus als Eingriff qualifiziert werden, doch müsste man dazu Subventionszweck und Subventionsbedingungen näher beleuchten. Der EGMR ging diesen Fragen nicht nach. Vielmehr ließ er die Frage, ob ein Eingriff vorliege, schlicht offen und begnügte sich mit einer Abwägung, wie sie sowohl bei der Eingriffsrechtfertigung als auch

55 56 57 58

EGMR, NVwZ 2001, 547, Rn 62 – Ciliz. ZB EGMR, RUDH 2000, 93, Rn 94 – Ignaccolo-Zenide. Jaeckel Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001, 150. EGMR, ÖJZ 2003, 72, Rn 95 – Hatton; dazu Kukk NVwZ 2002, 307 ff; die Große Kammer maß der Unterscheidung in ihrem nachfolgenden Urt NVwZ 2004, 1465, Rn 98, 119, demgegenüber kaum Bedeutung bei; deutlich differenzierend dagegen wiederum EGMR, NJW 2005, 3767, Rn 55 ff – Moreno Gómez = JK 2006, EMRK Art 8/5 zu Diskolärm. 59 EGMR, EuGRZ 1995, 530, Rn 51 ff – López Ostra = JK 96, EMRK Art 8/2.

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bei der Schutzpflichtprüfung durchzuführen ist (Rn 27). Nachdem er die Schutzmaßnahmen für unzureichend erklärt hatte, kam es auf die Frage, ob sogar ein Eingriff vorlag, nicht mehr an. c) Rechtfertigung 20

Eine Beeinträchtigung der Schutzbereiche des Art 8 I EMRK kann nach Maßgabe von Art 8 II EMRK gerechtfertigt sein. Die Schrankenbestimmung stimmt in ihrer Struktur weitgehend mit derjenigen der Art 9 bis 11 EMRK überein. Die Rechtfertigung wird vom EGMR sauber in drei Stufen geprüft (→ § 2 Rn 72 ff). Die Beeinträchtigung muss (aa) gesetzlich vorgesehen sein, (bb) ein legitimes Ziel verfolgen und (cc) in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, also verhältnismäßig sein. aa) Gesetzesvorbehalt

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Die deutsche Übersetzung verlangt in Einklang mit der französischen Fassung, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen sein müsse („prévu par la loi“). Das entspr „prescribed by law“ findet sich in der ebenfalls authentischen englischen Fassung hingegen lediglich in Art 9 bis 11 EMRK. In Art 8 II EMRK heißt es statt dessen „in accordance with the law“. Die englische Fassung könnte dafür sprechen, dass bei Art 8 EMRK, anders als bei Art 9 bis 11 EMRK, lediglich der Vorrang des Gesetzes gelten soll, nicht aber der Vorbehalt des Gesetzes. Diese Auslegung ist allerdings mit der gleichermaßen verbindlichen französischen Fassung nicht vereinbar. Sie entspricht auch nicht der Rechtsprechung des EGMR.60 Zu den Vertragsstaaten der EMRK gehören auch Common-law-Systeme. Der Gesetzesbegriff der Konvention, im Englischen: „law“, ist daher weiter als der kontinentaleuropäische Gesetzesbegriff. Er umfasst auch ungeschriebenes Recht.61 Erforderlich ist in jedem Fall, dass die Normen hinreichend zugänglich und vorhersehbar sind.62 Angesichts der Veröffentlichungsvorschriften, denen deutsche Parlamentsgesetze, Verordnungen und Satzungen unterliegen, wird die Zugänglichkeit regelmäßig unproblematisch sein. Mit dem Kriterium der Vorhersehbarkeit führt der EGMR ein Bestimmtheitserfordernis ein, das grds nicht über das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes hinausgeht.63 Jede Beeinträchtigung, die von der innerstaatlichen Rechtsgrundlage nicht gedeckt ist, verstößt zugleich gegen das Konventionsrecht. Die Prüfungskompetenz des EGMR ist insoweit allerdings eingeschränkt. Die Auslegung und Anwendung nationalen Rechts ist vorrangig Aufgabe der nationalen Stellen.64 Die europäische Instanz wird erst dort einschreiten, wo nationale Stellen eine Rechtsgrundlage willkürlich heranziehen.65 Das Verhältnis des EGMR zu den nationalen Instanzen ähnelt damit demjenigen des BVerfG zu den Fachgerichten. Das europäische Verfassungsgericht beschränkt sich wie das deutsche darauf, Entscheidungen auf spezifische Verfassungsrechtsverstöße zu überprüfen.

60 61 62 63

S zB EGMR, REP 1998-VII, Rn 36–39 – Petra. EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 47 – Sunday Times; s a JK 93, EMRK Art 1/1. EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 49 – Sunday Times. S aber EGMR, NJW 2007, 1433, Rn 93 ff – Weber u Saravia, wo der EGMR bei geheimen Überwachungsmaßnahmen detaillierte Regelungen fordert, die behördliche Willkür ausschließen. 64 Schokkenbroek HRLJ 19 (1998), 30, 33; s a EGMR, EuGRZ 1985, 297, Rn 29 – X u Y. 65 S a JK 93, EMRK Art 1/1.

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bb) Legitimes Ziel Beeinträchtigungen des Art 8 I EMRK sind nur gerechtfertigt, wenn sie eines der in Art 8 II EMRK abschließend aufgezählten Ziele verfolgen. In grundgesetzlichen Kategorien formuliert, liegt ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt vor. Bei der Auflistung handelt es sich um autonome, gemeineuropäische Begriffe, die nicht unter Rückgriff auf spezifisch nationale Begriffsbildungen definiert werden können. So wird man die Begriffe der „nationalen oder öffentlichen Sicherheit“ einerseits und der „Ordnung“ andererseits nicht im Lichte der polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklausel auslegen können. Allerdings sind die Ziele, die Art 8 II EMRK aufführt, sehr weit. In der Rechtsprechung des EGMR haben sie kaum Konturen erlangt. Meist begnügt sich der Gerichtshof mit der Feststellung, dass ein Eingriff ein oder mehrere legitime Ziele verfolge.66 Die Rechtfertigung wird fast nie an diesem Prüfungspunkt scheitern.67

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cc) Verhältnismäßigkeit Schließlich muss die Beeinträchtigung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein. Der EGMR verlangt ein „dringendes soziales Bedürfnis“68 und führt eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch.69 Diese Prüfung entspricht strukturell dem in Deutschland üblichen dreistufigen Vorgehen: Die Beeinträchtigung muss in Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel geeignet, erforderlich und im engeren Sinn verhältnismäßig sein (→ § 2 Rn 79 ff). Bei der Beurteilung, welche Maßnahmen erforderlich und angemessen sind, kommt den nationalen Stellen ein Beurteilungsspielraum70 zu. Die nationalen Stellen sind am ehesten in der Lage, die jeweilige Situation vor Ort differenziert zu beurteilen. Die nationale Entscheidung unterliegt daher nur einer eingeschränkten Überprüfung durch den EGMR. Die Kontrolldichte des Gerichtshofs ist allerdings flexibel und hängt vom Einzelfall ab.71 Man wird hier Argumentationsmuster des BVerfG übernehmen können. So ist der Kontrollmaßstab strenger, je schwerer die Beeinträchtigung wiegt.72 Es ist keine Seltenheit, dass der EGMR Beeinträchtigungen als unverhältnismäßig ansieht.73

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d) Schutzpflichtdimension Art 8 EMRK ist die Konventionsnorm mit der am stärksten entwickelten Schutzpflichtdimension. Der Konventionstext, der in Art 8 I EMRK anders als in Art 9 bis 12 EMRK nicht nur vom Recht auf die Schutzgüter spricht, sondern vom „Recht auf Achtung“ 74

66 ZB EGMR, NJW 1993, 718, Rn 36 – Niemietz = JK 93, EMRK Art 8/1; NVwZ 2001, 547, Rn 65 – Ciliz; NJW 2001, 2315, Rn 47 – Elsholz. 67 Mock RUDH 1998, 237, 244; s aber EGMR v 3.12.2002, 30218/96, Rn 75 – Nowicka, wo im konkreten Fall kein legitimes Ziel erkennbar war, eine Gefangene auf einen einzigen Familienbesuch pro Monat zu beschränken. 68 „Pressing social need“/„besoin social impérieux“. 69 ZB EGMR, NVwZ 2000, 1401, Rn 45 – Baghli. 70 „Margin of appreciation“/„marge d’appréciation“; dazu Bakircioglu GLJ 8 (2007), 711 ff; Grabenwarter EuGRZ 2011, 229, 230 ff; Pellonpää EuGRZ 2006, 483 ff. 71 Mock RUDH 1998, 237, 245 f. 72 EGMR, EuGRZ 2002, 244, Rn 67 – Kutzner. 73 S zB EGMR, NJW 1993, 718, Rn 37 – Niemietz = JK 93, EMRK Art 8/1. 74 „Right to respect for“/„droit au respect de“.

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der Schutzgüter, bringt die Schutzpflicht in dieser Norm bes deutlich zum Ausdruck. Die Leitentscheidung des EGMR im Fall X und Y erging 1985.75 Sie betraf den strafrechtlichen Schutz einer geistig behinderten Frau vor sexuellem Missbrauch. Das niederländische Recht verlangte seinerzeit einen persönlichen Strafantrag der Betroffenen, den diese aber wegen ihrer geistigen Behinderung nicht rechtswirksam stellen konnte. Da das niederländische Recht eine Vertretung ausschloss, konnte der massive Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung nicht strafrechtlich geahndet werden. Der EGMR sah darin eine konventionswidrige Schutzlücke. Mittlerweile hat die Schutzpflichtdimension namentlich beim Umweltschutz erhebliche Bedeutung erlangt.76 Die Prüfung einer Schutzpflichtverletzung ist schwierig. Der Schrankenvorbehalt des Art 8 II EMRK bezieht sich ausdrücklich nur auf Eingriffe und ist daher nicht anwendbar. Insb passt der Gesetzesvorbehalt nicht, wenn positive Maßnahmen des Staates verlangt werden. Erforderlich ist vielmehr eine Abwägung zwischen dem Schutzinteresse einerseits und sonstigen legitimen staatlichen Interessen andererseits. In dieser Abwägung treffen sich Eingriffsrechtfertigung und Schutzpflichtprüfung.77 Dabei wird man sagen können, dass auch in der Schutzpflichtdimension insb die in Art 8 II EMRK genannten Ziele legitim sind,78 doch wird man daneben andere Ziele ins Auge fassen können. Wenn Medien über das Privatleben Prominenter berichten, steht bspw dem Schutz aus Art 8 EMRK die nicht zuletzt in Art 10 EMRK verankerte Presse- und Medienfreiheit (→ § 4 Rn 17) gegenüber. Bei der Abwägung kommt den innerstaatlichen Stellen ein weiter Beurteilungsspielraum zu, der jedoch durch die europäische Kontrolle begrenzt wird (Rn 25). Im Aufsehen erregenden Fall Caroline von Hannover hat eine Kammer des EGMR dem Schutz der Prominenten vor der Veröffentlichung von Fotos aus ihrem Privatleben im Jahr 2004 einen höheren Stellenwert eingeräumt als das BVerfG.79 Freilich deutet sich in jüngster Zeit größere Zurückhaltung an. So hat die Große Kammer in der Sache von Hannover Nr. 2 im Jahr 2012 ein Modell skizziert, demzufolge der EGMR nur noch prüft, ob die nationalen Instanzen die widerstreitenden Grundrechtspositionen richtig erkannt und sorgfältig abgewogen haben. Ist dies geschehen, braucht der EGMR „gewichtige Gründe …, um seine Auffassung an die Stelle der staatlichen Gerichte zu setzen.“80 Das KammerUrteil von 2004 wäre nach diesem Maßstab kaum noch zu rechtfertigen. In der inkonsistenten Rechtsprechung zum Beurteilungsspielraum zeigt sich das Ringen um den richtigen Ausgleich von Einheit und Vielfalt im europäischen Grundrechtsschutz. Eine vollständige Vereinheitlichung würde den ohnehin überlasteten EGMR überfordern. Sie würde die kulturelle Vielfalt Europas ignorieren und eigenständige Entwicklungen im nationalen Grundrechtsschutz unmöglich machen. Nationale Verfassungsgerichte wie das BVerfG würden zu Grundrechtsgerichten erster Instanz degradiert, die die europäische Grundrechtsentwicklung kaum mehr durch eigene Impulse bereichern könnten. 75 EGMR, EuGRZ 1985, 297, Rn 23–30 – X u Y. 76 Zu den Leitentscheidungen o 19 und Rn 19; s a Brötel RabelsZ 63 (1999), 580, 591–593 z Kindschaftsrecht sowie Uerpmann-Wittzack/Jankowska-Gilberg MMR 2008, 83, 88 f z Schutz vor Gefahren aus dem Internet. 77 Die Parallele betont EGMR, EuGRZ 1995, 530, Rn 51 – López Ostra = JK 96, EMRK Art 8/2; NJW 2003, 2145, Rn 40 – Odièvre; NJW 2011, 2107, Rn 247 – A, B u C. 78 EGMR, NJW 2011, 2107, Rn 247 – A, B u C. 79 EGMR, NJW 2004, 2647, Rn 56 ff – von Hannover Nr.1 = JK 2005, EMRK Art 8/4; gegen BVerfGE 101, 361, 379 ff; dazu Heldrich NJW 2004, 2634 ff; Klass AfP 2007, 517. 80 EGMR (GK), NJW 2012, 1053, Rn 107 – von Hannover Nr. 2.

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e) Verfahrensdimension In den Entscheidungen des EGMR zum Ehe- und Kindschaftsrecht wird zudem eine Verfahrensdimension von Art 8 EMRK erkennbar.81 Zum Schutz des Familienlebens gehört es auch, dass der Staat familiäre Beziehungen nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg regelt und sie auf diese Weise bevormundet. An Verfahren, in denen der Staat im Einzelfall regelnd in das Familienleben eingreift, sind daher alle Betroffenen hinreichend zu beteiligen.82 Da kindliche Aussagen in ihrer Bedeutung häufig nur schwer zu würdigen sind, kann es sogar geboten sein, psychologischen Sachverstand hinzuzuziehen.83 Zudem kann gerade bei Sorge- und Umgangsrechtsstreitigkeiten der bloße Zeitablauf zu einer Entfremdung zwischen Kind und Elternteil führen, die vollendete Tatsachen schafft. Daher folgt aus Art 8 EMRK insoweit auch ein Anspruch auf eine zügige Entscheidung.84 Verfahrensgarantien hat der EGMR zudem dort angenommen, wo die inhaltliche Überprüfung durch einen Beurteilungsspielraum der nationalen Instanzen eingeschränkt ist. Ein Beispiel ist der Schutz vor Fluglärm.85 Die Kontrolle des behördlichen und ggf gerichtlichen Verfahrens soll hier Defizite in der inhaltlichen Überprüfung kompensieren. In ähnlicher Weise fordert der EGMR in Abhörfällen Verfahrensgarantien zur Kompensation der Rechtsschutzdefizite, die aus der Heimlichkeit der Maßnahme resultieren.86 Der Gedanke, dass Grundrechte zu ihrer Verwirklichung und Sicherung auch Verfahrensgarantien umfassen, ist aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannt.87 Die Konvention enthält allerdings mit Art 6 I EMRK auch spezielle, weit reichende Verfahrensgarantien (→ dazu § 6 Rn 35 ff). Systematische Argumente sprechen dafür, Verfahrensgarantien vorrangig aus Art 6 EMRK abzuleiten. Die Annahme eigener, ungeschriebener Verfahrensgarantien aus Art 8 EMRK ist insoweit weitgehend überflüssig. Der EGMR geht jedoch eher den umgekehrten Weg. Zunächst wird ein Verstoß gegen Art 8 EMRK vor allem mit einem unzulänglichen Verfahren begründet.88 Anschließend wird knapp dargelegt, dass dieselben Umstände auch einen Verstoß gegen Art 6 I EMRK begründen,89 oder diese Vorschrift wird überhaupt nicht mehr geprüft.90 Art 6 I EMRK verliert damit seine eigenständige Bedeutung. Keine Konkurrenzprobleme stellen sich dort, wo der EGMR aus Art 8 EMRK Anforderungen an das Verwaltungsverfahren ableitet, wie im Fall Hatton hinsichtlich des Lärmschutzes am Flughafen Heathrow.91

81 Dazu allgem Brötel DEuFamR 1999, 143 ff. 82 EGMR, Series A, Vol 121, Rn 62 ff – W; NVwZ 2001, 547, Rn 66–71 – Ciliz; EuGRZ 2004, 669, Rn 52 f – Görgülü; Wittinger Familien und Frauen im regionalen Menschenrechtsschutz, 1999, 282. 83 EGMR, NJW 2001, 2315, Rn 52 – Elsholz; (GK) EuGRZ 2004, 711, Rn 68 ff – Sommerfeld. 84 EGMR v 24.4.2003, 36812/97, Rn 60 – Sylvester. 85 EGMR (GK), NVwZ 2004, 1465, Rn 103 f, 128 – Hatton. 86 EGMR, EuGRZ 1979, 278, Rn 54 ff – Klass; NJW 2007, 1433, Rn 106, 115 ff – Weber u Saravia. 87 V Münch/Kunig (Fn 51) Rn 25 f. 88 EGMR, NJW 2001, 2315, Rn 52 f – Elsholz. 89 EGMR, NJW 2001, 2315, Rn 66 – Elsholz. 90 EGMR, NJW 2004, 3401, Rn 108 – Haase; EuGRZ 2012, 616, Rn 84 – Koch; dahin gehend a Brötel RabelsZ 63 (1999), 580 (593): Spezialität von Art 8 EMRK. 91 S o Fn 85.

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Lösung Fall 1: Da M bei seinen Eltern lebt, wird er vom Recht auf Achtung seines Familienlebens nach Art 8 I EMRK geschützt. Soweit sein sonstiges Lebensumfeld in München betroffen ist, kann er den Schutz seines Privatlebens geltend machen.92 Da die behördliche Ausweisung darauf abzielt, ihm die Fortsetzung des Familien- und Privatlebens in München unmöglich zu machen, greift sie in beide Schutzbereiche ein. Die Rechtfertigung bestimmt sich nach Art 8 II EMRK. § 56 II 2 AufenthG genügt den konventionsrechtlichen Anforderungen an ein Gesetz. Als legitimes Ziel kommt vor allem die Verhütung von Straftaten in Betracht. Man mag auch an die Aufrechterhaltung der Ordnung oder an den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer denken. Zweifelhaft ist, ob die Ausweisung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Die Frage nach einem dringenden sozialen Bedürfnis führt zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Hier muss sich die Prüfung auf die knappen Angaben des Sachverhalts beschränken. Angesichts der bish Straftaten erscheint es wahrscheinlich, dass M auch in Zukunft Straftaten begehen würde. Die Ausweisung ist ein geeignetes Mittel, weitere Straftaten in Deutschland zu verhindern. Angesichts der langen Liste von Vortaten ist kaum anzunehmen, dass es ein milderes, gleich geeignetes Mittel gibt. Fallentscheidend ist damit die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, bei der das konventionsrechtlich geschützte Bleibeinteresse des M gegen das öffentliche Ausweisungsinteresse abzuwägen ist. Die ungewöhnliche Häufung von teilweise schwerwiegenden Straftaten spricht für die Ausweisung. Andererseits ist M trotz seiner fremden Staatsangehörigkeit materiell Inländer. Er hat nur in Deutschland gelebt und spricht kaum Türkisch, so dass offenbar Deutsch seine Muttersprache ist.93 Eine Ausweisung würde ihn vergleichbar treffen wie einen Deutschen. Wäre er Deutscher, könnte ihn Deutschland trotz seiner Straftaten nach Art 3 I 4. ZP EMRK nicht ausweisen. Deutsche Staatsgewalt müsste dem Problem dann allein mit den Mitteln des Strafrechts einerseits und der Jugendhilfe andererseits begegnen. Allein die fehlende deutsche Staatsangehörigkeit rechtfertigt es nicht, M als materiellen Inländer anders zu behandeln. Der Fall weist Parallelen zur Sache Mehemi auf, in der der EGMR die Abschiebung eines straffälligen Ausländers der zweiten Einwanderergeneration als unverhältnismäßig ansah.94 Freilich betont der EGMR, dass auch die Ausweisung eines Einwanderers der zweiten Generation nicht von vornherein unzulässig sei.95

2. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art 9 EMRK) Leitentscheidung: EGMR (GK), NVwZ 2011, 737 – Lautsi = JK 2011, EMRKZusProt Art 2/2. Schrifttum: Finke Warum das „Burka-Verbot“ gegen die EMRK verstößt, NVwZ 2010, 1127 ff; Schöbener Die „Lehrerin mit Kopftuch“ – europäisch gewendet!, JURA 2003, 186 ff.

a) Schutzbereich 31

Art 9 EMRK ist die Parallelbestimmung zu Art 4 I, II GG. Geschützt werden Gedanken, Gewissen, Religion und Weltanschauung. Allgem anerkannte Definitionen, wie es sie für 92 S a EGMR, DVBl 2007, 689, Rn 59 – Üner. 93 Zur Relevanz dieser Kriterien EGMR, InfAuslR 2007, 325, Rn 64 f – Kaya z angemessenen Schutz von Ausländern, die im Inland und im fremden Staat gleichermaßen verwurzelt sind, Farahat ZAR 2014, 60, 65 f. 94 EGMR, NVwZ 1998, 164, Rn 35–37 – Mehemi. 95 EGMR, DVBl 2007, 689, Rn 55 – Üner; FamRZ 2006, 1351, Rn 56–58 – Keles; s a die Analyse der einschlägigen EGMR-Rspr in BVerfG (Kammer), NVwZ 2004, 852, 853 f.

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die Parallelbegriffe des Grundgesetzes gibt,96 haben sich für Art 9 EMRK noch nicht herausgebildet.97 Es zeigen sich jedoch erhebliche inhaltliche Übereinstimmungen. Wie bei Art 4 GG wird nicht nur die innere Überzeugung einer Person geschützt (sog forum internum), sondern auch das Bekenntnis nach außen (sog forum externum). Art 4 I, II GG gewährleistet nach Ansicht des BVerfG98 bekanntlich nicht nur das Bekenntnis ieS, sondern auch das Recht, sein ganzes Leben an den Regeln seines Glaubens oder seiner Weltanschauung auszurichten. Art 9 I EMRK ist insoweit noch deutlicher, indem er das Praktizieren von Bräuchen und Riten ausdrücklich in den Schutzbereich aufnimmt. Will bspw eine Lehrerin aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, so fällt dies ohne weiteres in den Schutzbereich von Art 9 I EMRK.99 Dasselbe gilt für das religiös motivierte Schächten.100 Das Recht der Eltern, die Erziehung ihrer Kinder nach eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zu gestalten, wird zusätzlich durch Art 2 S 2 1. ZP EMRK abgesichert.101 Ebenso wie Art 4 GG schützt Art 9 I EMRK neben der positiven Freiheit auch die negative Freiheit, keinen Glauben und keine Weltanschauung zu haben.102 Geschützt werden, wie es der EGMR formuliert, auch Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige.103 Auch das Recht, seine Religion nicht zu offenbaren, wird grundsätzlich geschützt.104 Im Übrigen kann die Religionsfreiheit nicht nur von einzelnen Gläubigen geltend gemacht werden, sondern auch von einer Religionsgemeinschaft.105 Insoweit schützt Art 9 EMRK insb die freie innere Organisation einer Religionsgemeinschaft und deren Autonomie.106 Art 9 EMRK nimmt damit Elemente der Vereinigungsfreiheit (→ § 4 Rn 75 ff) in sich auf.107 Die Versagung des Körperschaftsstatus nach Art 140 GG iVm Art 137 V 2 Weimarer Reichsverfassung108 fällt daher ebenso in den Anwendungsbereich der Religionsfreiheit wie die Frage eines muslimischen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach nach Art 7 III GG.109 Schlechterstellungen gegenüber den christlichen Kirchen sind am Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK (Rn 67 ff) zu messen.

96 Dazu Mager in: v Münch/Kunig (Fn 51) Art 4 Rn 12 ff. 97 Zur konventionsrechtlichen Kasuistik s schon o Rn 4. 98 BVerfGE 32, 98, 106 f; krit Mager in: v Münch/Kunig (Fn 51) Art 4 Rn 17. 99 S EGMR, NJW 2001, 2871, 2872 – Dahlab = JK 2002, EMRK Art 9/1; dazu Schöbener JURA 2003, 186 ff; VG Stuttgart, NVwZ 2000, 959, 960 = JK 2001, GG Art 4 I, II/18; ebenso Finke NVwZ 2010, 1127, 1128 f zur Vollverschleierung. 100 EGMR, RUDH 2000, 247, Rn 73 f – Cha’are Shalom Ve Tsedek; dazu rechtsvergleichend Pabel EuGRZ 2002, 220 ff. 101 Dazu EGMR, NVwZ 2011, 737, Rn 59 ff – Lautsi = JK 2011, EMRKZusProt Art. 2/2; Dujmovitis in: Grabenwarter/Thienel (Hrsg) Kontinuität und Wandel in der EMRK, 1998, 139, 153 f. 102 Grabenwarter in: IntEMRK, Art 9 Rn 55. 103 EGMR, NJW 2001, 2871, 2872 – Dahlab = JK 2002, EMRK Art 9/1. 104 EGMR, NVwZ 2011, 863, Rn 78 – Dimitras ua. 105 EGMR, RUDH 2000, 247, Rn 72 – Cha’are Shalom Ve Tsedek; Grabenwarter in: IntEMRK, Art 9 Rn 43, 61; Walter in: Grote/Marauhn, KK, 17. Kap Rn 92. 106 EGMR, NVwZ 2010, 1541, Rn 80 – Mirolubovs ua; Muckel DÖV 2005, 191, 195. 107 EGMR, EuGRZ 2007, 24, Rn 58 – Moskauer Untergrundorganisation der Heilsarmee; NVwZ 2009, 509, Rn 60 f – Zeugen Jehovas ua; s a EGMR, NZA 2011, 277, Rn. 44 – Obst = JK 2011, EMRK Art 8/7: Auslegung im Lichte von Art 11 EMRK. 108 S EGMR, NVwZ 2009, 509, Rn 61 ff – Zeugen Jehovas ua zu einem österreichischen Parallelfall. 109 S a EGMR, NVwZ 2010, 1353 – Appel-Irrgang ua z staatlichen Ethikunterricht und seinem Verhältnis z Religionsunterricht.

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b) Beeinträchtigung 32

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Die Feststellung einer Beeinträchtigung kann schwierig sein. Es ergeben sich aber kaum Besonderheiten gegenüber anderen Menschen- und Grundrechten. Parallelen zum GG zeigen sich auch hier. Bspw sah der EGMR in der Versagung einer Schächtgenehmigung keinen Eingriff, weil die Gläubigen ausreichend Möglichkeiten hatten, sich aus anderen Quellen mit koscherem Fleisch zu versorgen.110 Das BVerwG argumentierte in Hinblick auf Art 4 I, II GG ähnlich, wenngleich strenger und dogmatisch konsequenter. Es stellte darauf ab, dass kein religiöses Gebot den Verzehr von koscherem Fleisch vorschreibe. Wenn der Staat das Schächten verbiete, bleibe den Gläubigen die Möglichkeit, auf Fleischimporte zurückzugreifen oder auf Fleisch ganz zu verzichten.111 Das BVerfG hat diesen restriktiven Eingriffsbegriff allerdings relativiert. Es stellt darauf ab, dass der erzwungene Verzicht auf Fleisch kaum zumutbar und dass bei Fleischimporten die Unsicherheit größer sei, ob das Fleisch tatsächlich den Glaubensgeboten entspreche.112 Damit nähert es sich der Position des EGMR an. Zweifelhaft ist der Eingriffscharakter einer Abschiebung, wenn die Religions-, Gewissens- oder Gedankenfreiheit des Betroffenen in dem anderen Staat nicht gewährleistet ist. Als belastendem Staatsakt kann einer Abschiebung durchaus Eingriffsqualität zukommen, wie sich schon bei Art 8 EMRK gezeigt hat (Rn 17). Der Akt der Abschiebung selbst verhält sich allerdings in Hinblick auf den Schutzbereich von Art 9 EMRK neutral. Dessen Schutzgüter werden erst in dem anderen Staat beeinträchtigt, ohne dass der abschiebende Staat dies beabsichtigen würde. Das spricht dafür, aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht als Eingriff in Art 9 EMRK zu qualifizieren, selbst wenn dem Betroffenen im Ausland eine Beeinträchtigung der Schutzgüter des Art 9 EMRK droht. Das bedeutet nicht, dass solche Fälle konventionsrechtlich irrelevant wären. Der EGMR prüft vielmehr, ob eine Abschiebung, die den Betroffenen massiven Beschränkungen seiner Religionsfreiheit aussetzt, als unmenschlich im Sinne von Art 3 EMRK zu qualifizieren ist und gelangt ggf so zu einem Abschiebungsschutz (Rn 41 ff).113 Alternativ ließe sich daran denken, Art 9 EMRK in seiner Schutzpflichtdimension heranzuziehen, wenn die Religionsfreiheit im Ausland gravierend beeinträchtigt wird.114 c) Rechtfertigung

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Die Rechte des Art 9 I EMRK sind nur zT einschränkbar. Art 9 II EMRK unterwirft die Bekenntnisfreiheit einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt. Beschränkbar ist also nur das forum externum, während das forum internum vorbehalt- und schrankenlos gewährleistet wird.115 Diese Differenzierung ist sinnvoll. Sie trägt der Unantastbarkeit innerer Überzeugungen ebenso Rechnung wie dem Bedürfnis, menschliches Verhalten, das sich auf andere Menschen auswirkt, rechtlichen Regelungen zu unterwerfen. Die Schrankensystematik

110 EGMR, RUDH 2000, 247, Rn 80–83 – Cha’are Shalom Ve Tsedek; krit dazu Grabenwarter in: IntEMRK, Art 9 Rn 75. 111 BVerwGE 99, 1, 7 f; zust Trute JURA 1996, 462, 465 f. 112 BVerfGE 104, 337, 350 f = JK 2002, GG Art 4 I/20. 113 EGMR NJOZ 2012, 950, Rn 46 ff, 51 ff – Samina. 114 So iE a BVerwGE 111, 223, 229 f. 115 Dujmovitis in: Grabenwarter/Thienel (Fn 101) S 141, 152; Walter in: Grote/Marauhn, KK, 17. Kap Rn 109; aA Grabenwarter in: IntEMRK, Art 9 Rn 80.

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der Konvention ist der grundgesetzlichen in diesem Punkt überlegen. Art 4 I, II GG wird zwar weitgehend als vorbehaltloses Grundrecht verstanden, dann aber durch verfassungsimmanente Schranken relativiert.116 Art 9 II EMRK gleicht strukturell dem oben (Rn 20 ff) besprochenen Art 8 II EMRK. Die Beschränkung muss gesetzlich vorgesehen sein, und sie muss zum Schutz eines der aufgelisteten legitimen Ziele „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein. Im Fall einer muslimischen Lehrerin, die nur mit Kopftuch unterrichten wollte, hat das BVerfG entschieden, dass es Aufgabe der parlamentarischen Gesetzgebung sei, den grundlegenden Konflikt zwischen Kopftuchgegnern und -befürwortern im demokratischen Willensbildungsprozess zu entscheiden.117 Das BVerfG bringt damit vor allem den Demokratie schützenden Aspekt des Gesetzesvorbehalts zum Tragen. In der EMRK steht weniger die Demokratie im Vordergrund als vielmehr der Schutz individueller Freiheit und damit die rechtsstaatliche, Freiheit sichernde Dimension des Gesetzesvorbehalts.118 Man wird daher die Strenge, mit der das BVerfG die wesentliche Grundentscheidung dem Parlament vorbehält, nicht auf den Gesetzesvorbehalt der EMRK übertragen können. Dem besonderen Stellenwert der Religionsfreiheit entspricht es, dass der Katalog legitimer Ziele kürzer ist als bei Art 8 II EMRK, doch dürfte diese Begrenzung angesichts der Weite der verbleibenden Rechtfertigungsgründe kaum praktische Bedeutung erlangen.119 Geht es darum, eine muslimische Lehrerin daran zu hindern, mit Kopftuch vor der Klasse aufzutreten, lässt sich bspw an den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer denken. Will der Staat Schülerinnen und Schüler vor einer religiösen Beeinflussung schützen, verfolgt er ein legitimes Ziel. Der EGMR120 führt daneben den Schutz der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung an und zeigt damit, wie wenig der Katalog legitimer Ziele als Rechtfertigungsfilter dient. Es folgt die Abwägung, in der das konventionsrechtliche Schutzgut und das legitime Beschränkungsziel zum Ausgleich zu bringen sind,121 wobei den staatlichen Stellen ein Beurteilungsspielraum zukommt. Dabei wird sich in religionsbezogenen Fragen vielfach kein gemeineuropäischer Konsens feststellen lassen. Vielmehr stehen in Europa eher säkularisierte Gesellschaften solchen gegenüber, die stark katholisch, orthodox oder islamisch geprägt sind. Die Vielfalt europäischer Wertvorstellungen spricht für einen weiten Beurteilungsspielraum, wie ihn die Große Kammer bspw im Fall Lautsi bei der Zulässigkeit von Kruzifixen im Klassenzimmer angenommen hat.122 Vergleicht man die Entscheidung der Großen Kammer mit dem vorangehenden Kammerurteil, das das Anbringen von Kruzifixen für unzulässig gehalten hatte,123 zeigt sich wiederum das oben (Rn 27) diagnostizierte Ringen um Einheit und Vielfalt im europäischen Grundrechtsschutz. In einem streng laizistischen Staat wie der Türkei hat der EGMR ein Kopftuchverbot für Studentinnen an 116 Krit dazu Mager in: v Münch/Kunig (Fn 51) Art 4 Rn 93. 117 BVerfGE 108, 282, 310 ff = JK 2004, GG Art 4 I, II/29; dazu Baer/Wrase JuS 2003, 1162. 118 Uerpmann-Wittzack AVR 49 (2011), 103, 110. 119 S a Grabenwarter in: IntEMRK, Art 9 Rn 82. 120 EGMR, NJW 2001, 2871 – Dahlab = JK 2002, EMRK Art 9/1; dazu Schöbener JURA 2003, 186 ff. 121 Zur Praxis des EGMR Dujmovitis in: Grabenwarter/Thienel (Fn 101) S 141 ff. 122 EGMR (GK), NVwZ 2011, 737, Rn 67 ff – Lautsi = JK 2011, EMRKZusProt Art 2/2; dazu de Wall JURA 2012, 960 ff; Walter EuGRZ 2011, 673 ff; s nun a EGMR (GK) v 1.7.2014, 43835/11, Rn 129, 154 ff z problematischen französischen Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit. 123 EGMR v 3.11.2009, 30814/06, Rn 47 ff – Lautsi; dazu Michl JURA 2010, 690 ff.

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Universitäten als gerechtfertigt erachtet.124 Auf Deutschland wird sich diese Entscheidung freilich nicht ohne weiteres übertragen lassen. Zum einen sind Staat und Religion in Deutschland weniger konsequent getrennt. Zum anderen trifft ein Kopftuchverbot in Deutschland eine religiös-kulturelle Minderheit, sodass Menschenrechte ihre Minderheiten schützende Funktion entfalten müssen. Andererseits werden Bekleidungsvorschriften für Lehrkräfte, die den Staat repräsentieren, leichter zu rechtfertigen sein als solche für Studierende.

II. Schutz der persönlichen Integrität 1. Verbot von Folter sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Bestrafung (Art 3 EMRK) Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1989, 314 ff – Soering = JK 90, EMRK Art 3/1; (GK), EuGRZ 2010, 417 – Gäfgen = JK 2011, EMRK Art 3/1. Schrifttum: Lorz/Sauer Wann genau steht Art 3 EMRK einer Auslieferung oder Ausweisung entgegen?, EuGRZ 2010, 389 ff.

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Fall 2: (EGMR, NVwZ 1998, 161, Rn 50–53 – D/Vereinigtes Königreich) Der AIDS-kranke Drogenkurier D verbüßt eine Haftstrafe im Vereinigten Königreich. Dort wird seine Krankheit gut behandelt. Nach Ende seiner Haft soll D in seinen karibischen Heimatstaat St. Christopher und Nevis abgeschoben werden. Dort ließe sich seine AIDSTherapie und Pflege nicht fortsetzen. Der Abbruch würde seine Lebenserwartung drastisch verringern. Darf D abgeschoben werden?

a) Schutzbereiche 39

Art 3 EMRK verbietet Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Im Grundgesetz findet diese Vorschrift keine unmittelbare Entsprechung. Sie weist sowohl Bezüge zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit iSv Art 2 II 1 GG als auch einen besonderen Menschenwürdegehalt125 auf. Einerseits erfasst Art 3 EMRK nicht jede Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit. So wird die Anordnung und Durchführung einer Blutprobe bei Verdacht auf Trunkenheit am Steuer schon vom Schutzbereich nicht erfasst. Insoweit kann freilich der oben (Rn 3 ff) behandelte, sehr weite Schutz des Privatlebens nach Art 8 I EMRK eingreifen.126 Andererseits kann eine Behandlung erniedrigend sein, selbst wenn sie die körperliche Unversehrtheit nicht beeinträchtigt. So würde etwa ein rassendiskriminierendes Gesetz, das Angehörige einer bestimmten Volksgruppe zwingt, in der Öffentlichkeit ein Erkennungszeichen zu tragen, von Art 3 EMRK erfasst.127 Unter dem Grundgesetz wäre insoweit neben Art 3 III 1 GG das allgem Persönlichkeitsrecht nach Art 2 I iVm Art 1 I GG einschlägig.

124 EGMR (GK), NVwZ 2006, 1389, Rn 112 ff – Sahin; dazu Pabel EuGRZ 2006, 3, 4 f; s a EGMR, NJOZ 2010, 1193, Rn 61 ff – Dogru, z französischen Gebot, ohne Kopftuch am Schulsport teilzunehmen. 125 Meyer-Ladewig NJW 2004, 981, 982; s a die ausf rechtsvergleichende Analyse z Konzept der Menschenwürde in Schlussanträge GA Stix-Hackl, Slg 2004, I-9609, Rn 74 ff – Omega. 126 Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 8 Rn 14. 127 S a Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 3 Rn 9.

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Eine Definition der Folter findet sich in Art 1 I 1 des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984.128 Folter ist danach „jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zB um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigenden Einverständnis verursacht werden“. Die Definition des UN-Übereinkommens ist für die Auslegung der EMRK nicht verbindlich. Dennoch wird man sie grundsätzlich als gelungene Begriffsbestimmung übernehmen können. Auch der EGMR bezieht sich auf sie.129 Drei Kriterien sind hervorzuheben: (1) Eine Beeinträchtigung muss eine hohe Intensität erreichen, um als Folter qualifiziert werden zu können. (2) Hinzu kommen muss ein finales Element. Wer foltert, will auf den Willen des Gefolterten oder eines Dritten einwirken, sei es, um ein Geständnis zu erpressen, sei es, um andere zu terrorisieren, zu verschrecken oder zu verunsichern. (3) Schließlich muss das Verhalten zumindest mittelbar einem Staat zugerechnet werden können. Folter in diesem engen Sinn ist in EMRK-Staaten selten. Immerhin kann es auch hier insb im Polizeigewahrsam zu Übergriffen kommen, die als Folter zu qualifizieren sind.130 Unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen müssen ebenfalls eine gewisse Schwere erreichen, bleiben aber unterhalb der Schwelle der Folter. So kann die bloße Drohung mit Folter als unmenschliche Behandlung gegen Art 3 EMRK verstoßen.131 Während sich eine unmenschliche Behandlung durch die Zufügung von Schmerz und Leid auszeichnet, steht bei der erniedrigenden Behandlung die Einschüchterung im Vordergrund.132 Eine klare Abgrenzung zwischen den Alternativen der Unmenschlichkeit und der Erniedrigung ist aber weder erforderlich noch möglich. Das Feststellen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung verlangt eine Einzelfallwertung. Wichtige Kriterien sind die Intensität und die Dauer der Beeinträchtigung.133 Im Laufe der Zeit haben sich Fallgruppen herausgebildet. Schon 1978 wurde die staatliche Prügelstrafe auf der Isle of Man im Fall Tyrer als erniedrigend qualifiziert.134 Im Fall Soering entschied der EGMR 1989, dass die langjährige Haft in einer Todeszelle angesichts der Haftbedingungen im Widerspruch zu Art 3 EMRK stehen könne.135 2006 verurteilte der EGMR die Praxis einiger deutscher Länder, Drogenkurieren, die bei der Festnahme Drogenpäckchen verschluckten, zu Be-

128 BGBl II 1990, 246. 129 EGMR, NJW 2001, 2001, Rn 114 – Salman; (GK), EuGRZ 2010, 417, Rn 90 – Gäfgen = JK 2011, EMRK Art 3/1. 130 S zB EGMR, NJW 2001, 56, Rn 96–105 – Selmouni; NJW 2001, 2001, Rn 114 f – Salman. 131 EGMR (GK), EuGRZ 2010, 417, Rn 91 – Gäfgen = JK 2011, EMRK Art 3/1. 132 EGMR (GK), EuGRZ 2010, 417 Rn 87 – Gäfgen = JK 2011, EMRK Art 3/1; s a (GK), NVwZ 2011, 413, Rn 220 – M.S.S. 133 S EGMR, NJW 2006, 3117, Rn 67 – Jalloh; EuGRZ 2008, 21, Rn 43 – Testa; Bank in: Grote/ Marauhn, KK, 11. Kap Rn 16 f. 134 EGMR, EuGRZ 1979, 163, Rn 29–35 – Tyrer. 135 EGMR, EuGRZ 1989, 314, Rn 105–111 – Soering = JK 90, EMRK Art 3/1; s a EGMR, EuGRZ 2007, 141, Rn 120 ff – Ramirez Sanchez; Irmscher EuGRZ 2007, 135 ff zur Einzelhaft.

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weiszwecken zwangsweise ein Brechmittel zu verabreichen.136 Art 3 EMRK ist zudem in Abschiebungsfällen relevant. Eine Abschiebung kann namentlich dann konventionswidrig sein, wenn dem Abzuschiebenden im Heimatstaat staatliche oder nichtstaatliche Verfolgung droht.137 Voraussetzung ist freilich das Vorliegen „stichhaltiger Gründe“, die eine „tatsächliches Risiko“ darlegen.138 Die Begriffe des Art 3 EMRK unterliegen dabei einer dynamischen Auslegung.139 Sie bringen einen gemeineuropäischen Wertmaßstab zum Ausdruck, der sich fortentwickelt. Was, wie die Prügelstrafe auf der Isle of Man, bei der Schaffung der EMRK 1950 vielleicht noch zulässig war, konnte bereits 1978 als erniedrigend erscheinen.140 Gerade bei Übergriffen in Polizeigewahrsam stellen sich häufig Beweisfragen. An sich ist das relevante staatliche Verhalten positiv festzustellen. Bei Misshandlungen in Polizeigewahrsam ist die Sicherung der nötigen Beweise allerdings vielfach fast nur dem beschuldigten Staat möglich. Daher arbeitet der EGMR mit einer Beweiserleichterung. Ist eine Person bei der Ingewahrsamnahme guter Gesundheit und verlässt sie den Gewahrsam mit Verletzungen, so obliegt es dem Staat, dafür eine plausible Erklärung zu liefern.141 Vermag er das nicht, stellt der EGMR eine Verletzung von Art 3 EMRK fest. Der Sache nach handelt es sich um einen Anscheinsbeweis.142 Den Staaten wird damit die Obliegenheit auferlegt, Verletzungen während der Haft und ihre Ursachen zu dokumentieren, um einer Verurteilung wegen Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu entgehen. b) Beeinträchtigung

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Folter liegt schon begrifflich nur vor, wenn staatliche Organe Schmerzen oder Leiden zufügen. Auch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe muss vom Staat ausgehen, damit eine Beeinträchtigung vorliegt. Umstritten ist, ob und wann aufenthaltsbeendende Maßnahmen als Eingriff gewertet werden können. Auf das Verhalten des Drittstaats wird man entgegen der früheren Auffassung des 9. Senats des BVerwG143 kaum abstellen können. Dieser ist häufig nicht einmal Vertragsstaat der EMRK. Außerdem geht es nicht um sein konventionswidriges Verhalten, sondern um die Konventionswidrigkeit der Auslieferung oder Abschiebung.144 Maßgebend ist, ob die Auslieferung oder Abschiebung in Anbetracht ihrer Folgen un-

136 EGMR, NJW 2006, 3117, Rn 67 ff – Jalloh; dazu Safferling JURA 2008, 100 ff; Schuhr NJW 2006, 3538 ff; ausf Pollähne/Kemper Kriminologisches Journal 2007, 185 ff. 137 Kälin in: Hailbronner/Klein (Hrsg) Einwanderungskontrolle und Menschenrechte, 1999, 49, 54 f. 138 EGMR, NVwZ 1998, 163, Rn 34 – H. L. R.; ausf zu den Beweisanforderungen Lorz/Sauer EuGRZ 2010, 389 ff. 139 Kälin in: Hailbronner/Klein (Fn 137) S 57 ff; dagegen im ausländerrechtlichen Zusammenhang krit Hailbronner DÖV 1999, 617, 620 f. 140 EGMR, EuGRZ 1979, 163, Rn 31 – Tyrer. 141 EGMR, EuGRZ 1996, 504, Rn 34 – Ribitsch; NJW 2001, 56, Rn 87 – Selmouni; dazu Rudolf EuGRZ 1996, 497 ff. 142 Rudolf EuGRZ 1996, 497, 500 f. 143 BVerwGE 99, 331, 334 f; 105, 187, 188 ff; 111, 223, 227; überholt durch Art 6 lit c RL 2004/83; dazu Hruschka/Lindner NVwZ 2007, 645 ff. 144 Trechsel in: Barwig/Brinkmann (Fn 138) S 234.

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menschlich oder erniedrigend ist.145 Gegen eine solche Qualifizierung mag man einwenden, dass der ausliefernde oder abschiebende Staat die Bedrohung in dem anderen Staat nicht zu verantworten habe. Dann ließe sich der Schutz vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen nicht über die Eingriffsabwehrfunktion des Art 3 EMRK begründen, sondern nur über eine Schutzpflichtdimension.146 Auch dieser Weg scheint aber nicht richtig. Für eine Schutzpflicht wäre das Vorverhalten des Konventionsstaates in Form der aufenthaltsbeendenden Maßnahme unerheblich. Was die Konvention ächtet, ist aber gerade die aufenthaltsbeendende Maßnahme, die den Betroffenen unmenschlichen oder erniedrigenden Bedingungen aussetzt. Dieses staatliche Tun ist daher als Beeinträchtigung zu werten. Stellt man in dieser Weise auf das Verhalten des Konventionsstaates ab, ist es unerheblich, von wem die Gefahr im Drittstaat ausgeht.147 Verfolgung durch den Drittstaat macht die Auslieferung oder Abschiebung durch den Konventionsstaat ebenso konventionswidrig wie die Verfolgung durch andere Personen oder sonstige unmenschliche Lebensbedingungen. c) Rechtfertigung Die Garantie des Art 3 EMRK ist vorbehaltlos und ausweislich Art 15 II EMRK auch notstandsfest. Gibt es einen hinreichenden Grund, in die körperliche Unversehrtheit einzugreifen, wird der Eingriff regelmäßig schon nicht als unmenschlich, als erniedrigend oder gar als Folter zu qualifizieren sein. Fällt eine Behandlung dagegen in den Schutzbereich des Art 3 EMRK, steht zugleich ihre Konventionswidrigkeit fest. Art 3 EMRK hat in diesem Sinne einen absoluten Charakter.148 Eine Parallele zur deutschen Figur verfassungsimmanenter Schranken kennt die EMRK nicht.149 Diese Figur ist Ausdruck einer unzulänglichen Schrankensystematik des Grundgesetzes. Dieses enthält mehrere vorbehaltlose Grundrechte, die offenkundig gewissen Schranken unterliegen müssen. Demgegenüber weisen die Garantien der EMRK wesentlich weiter gehende Schrankenvorbehalte auf, die immanente Schranken überflüssig machen. Art 3 EMRK ist dagegen ein Recht, das nicht nur vorbehaltlos garantiert ist, sondern auch schrankenlos. Einschränkungen werden für seltene Ausnahmefälle diskutiert. Ein realer Fall hat sich 2002 in Frankfurt/Main ereignet.150 Der dortige Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner drohte dem Entführer von Jakob v. Metzler, Magnus Gäfgen, Folter an, damit dieser das Versteck des entführten Jungen preisgab. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass der Junge längst getötet worden war. Andere Szenarien betreffen Terroranschläge. In Hinblick auf Art 1 I GG wird erwogen, in solchen Fällen die staatliche Verpflichtung zum Schutz der Würde der Opfer gegen die Menschenwürde des Täters abzuwägen.151 Dieser Vorschlag rührt am Dogma der Absolutheit und Unabwägbarkeit der Menschenwürde. Auf die EMRK lässt er sich schon deshalb nicht übertragen, weil eine Dogmatik konventionsimmanenter

145 Bank in: Grote/Marauhn, KK, 11. Kap Rn 106; Kälin in: Hailbronner/Klein (Fn 137) S 63–67. 146 Zu diesem Ansatz Jaeckel (Fn 57) S 162 f. 147 Gusy ZAR 1993, 63, 66; s a Alleweldt Schutz vor Abschiebung bei drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, 1996, 15, 26. 148 EGMR, NJW 2001, 56, Rn 95 – Selmouni. 149 Jacobs/White The European Convention on Human Rights, 2. Aufl 1996, 299; zu immanenten Schranken des Justizgewährleistungsanspruchs nach Art 6 I EMRK allerdings → § 6 Rn 41 f. 150 Z Sachverhalt Schmahl/Steiger AVR 43 (2005), 358; Welsch BayVBl 2003, 481, 482. 151 Wittreck DÖV 2003, 873, 879 ff.

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Schranken angesichts der weitgehend stimmigen Schrankensystematik der EMRK mit gutem Grund nicht entwickelt worden ist. Zudem spricht die Missbrauchsgefahr gegen jeden Versuch, Folter auch nur in Ausnahmesituationen zu legalisieren. Jedenfalls kann es nicht angehen, bspw zur Abwehr möglicher Terroranschläge gleichsam auf Verdacht zu foltern. Es ist bezeichnend, dass Folter letztlich auch im Frankfurter Fall ein objektiv untaugliches Mittel zur Rettung des Entführten war. Eher ist zu erwägen, in extremen Ausnahmefällen auf eine strafrechtliche Ahndung zu verzichten.152 Im Fall Gäfgen hat der EGMR den absoluten Charakter von Art 3 EMRK bekräftigt und die Notwendigkeit eines ausreichenden straf- und zivilrechtlichen Ausgleichs betont.153 d) Schutzpflichtdimension und Schutzmechanismen 46

Über die Eingriffsabwehrfunktion hinaus weist Art 3 auch eine Schutzpflichtdimension auf. Sie greift bspw ein, wenn Kinder von ihren Eltern missbraucht oder vernachlässigt werden. Hier muss der Staat tätig werden.154 Allgem können Konventionsverletzungen nach Art 33 ff EMRK mit der Beschwerde vor dem EGMR gerügt werden (→ § 2 Rn 29 ff). Für Art 3 EMRK gilt insoweit nichts Besonderes. Dieser Schutz greift allerdings nur ein, wenn eine individuelle Verletzung festgestellt werden kann. Erfahrungsgemäß drohen Verletzungen von Art 3 EMRK bes dort, wo staatliche Stellen Personen in Gewahrsam halten. Gerade in diesen Situationen ist der Nachweis von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bes schwierig. Zudem werden eingeschüchterte Betroffene sich häufig scheuen, die Angelegenheit vor Gericht zu bringen.155 Auf die Beweisprobleme hat der EGMR mit der oben (Rn 42) beschriebenen Beweiserleichterung reagiert. Unabhängig davon erschien es sinnvoll, den Schutz von Personen in staatlichem Gewahrsam durch ein zusätzliches, präventives Verfahren zu sichern. Zu diesem Zweck wurde am 26.11.1987 das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe abgeschlossen.156 Materiellrechtlich knüpft das Übereinkommen in seiner Präambel und mit seiner Wortwahl an das Verbot des Art 3 EMRK an.157 Verfahrensrechtlich schafft es einen Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe.158 Der Ausschuss ist mit unabhängigen Mitgliedern aus allen Vertragsstaaten besetzt.159 Seine Aufgabe ist es, Gefängnisse und andere Haftorte zu besuchen und darüber Berichte anzufertigen.160 Dabei hat er zT alarmierende Zustände aufgedeckt, aber auch Verbesserungen

152 Dahingehend Wittreck DÖV 2003, 873, 876; eher ablehnend Hilgendorf JZ 2004, 331, 338 f; s a Art 4 ff der UN-Folterkonvention (Fn 128), die den Staat verpflichten, Folter als Straftat zu verfolgen. 153 EGMR (GK), EuGRZ 2010, 417, Rn 87 ff, 115 ff – Gäfgen = JK 2011, EMRK Art 3/1; zu einem möglichen Schadensersatzanspruch des mit Folter bedrohten Entführers Gäfgen s a BVerfG (Kammer), NJW 2008, 1060, 1062. 154 EGMR (GK), ECHR 2001-V, Rn 73–75 – Z ua/Vereinigtes Königreich; dazu Schmahl/Winkler AVR 48 (2010), 405, 422 f. 155 Alleweldt EuGRZ 1998, 245, 246. 156 BGBl II 1989, 946; geänd durch zwei Zusatzprotokolle v 4.11.1993, BGBl II 1996, 1114. 157 Alleweldt EuGRZ 1998, 245, 248. 158 Art 1 des Übereinkommens. 159 Art 4 f des Übereinkommens. 160 Art 7 ff des Übereinkommens.

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bewirken können.161 Die Schutzmechanismen der EMRK werden durch das Übereinkommen von 1987 nur ergänzt, nicht geschmälert.162 Lösung Fall 2: Die Abschiebung des D könnte als unmenschliche Behandlung gegen Art 3 EMRK verstoßen. Entgegen der früheren Auffassung des BVerwG163 kommt es dabei nicht darauf an, ob dem Betroffenen eine unmenschliche Behandlung durch seinen Heimatstaat droht. Maßgeblich ist allein, ob das Verhalten britischer Staatsgewalt als unmenschlich zu qualifizieren ist. Eine Abschiebung des D hätte konkret vorhersehbare, gravierende Folgen. Eine Abschiebung ist zwar nicht schon dann unmenschlich, wenn eine Krankheit im Inland besser behandelt werden kann als in dem anderen Staat.164 Hier würde D aber mit Sicherheit einem nahen Tod ausgesetzt. Unter heutigen Bedingungen wird man davon ausgehen können, dass ein staatlicher Akt, der die Fortsetzung einer lfd, lebensnotwendigen medizinischen Behandlung unmöglich macht, grundsätzlich unmenschlich ist.165 Die Abschiebung beeinträchtigt damit Art 3 EMRK. Da eine Beeinträchtigung dieser Garantie nicht zu rechtfertigen ist, darf D nicht abgeschoben werden. Für Deutschland stellt § 60 V AufenthG klar,166 dass ein entspr Abschiebungshindernis auch innerstaatlich zu beachten ist.

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2. Verbot von Sklaverei, Zwangsarbeit und Menschenhandel (Art 4 EMRK) Art 4 EMRK teilt mit Art 3 EMRK den starken Menschenwürdebezug. Mit dem Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit klingt Art 4 EMRK altmodisch und hat lange Zeit ein Schattendasein geführt. An einen modernen Missstand wie den Menschenhandel lässt Art 4 EMRK zunächst nicht denken. Der Bekämpfung des Menschenhandels sind mittlerweile Spezialkonventionen gewidmet, namentlich das Palermo-Protokoll der Vereinten Nationen zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels vom 5.11. 2000167 und das Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 17.11.2005.168 Art 5 GRC hat dies nachvollzogen, indem er in seinem 3. Absatz über die Verbote des Art 4 EMRK hinaus eigens den Menschenhandel anspricht. Der EGMR hat diese Entwicklung im Fall Rantsev zum Anlass genommen, Menschenhandel unter Art 4 EMRK zu subsumieren und eine ganze Reihe staatlicher Verpflichtungen abzuleiten, von eine Verhütungs- und Bestrafungspflicht über Ermittlungspflichten bis hin zu einer Verpflichtung zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit.169 Hier zeigt sich besonders deutlich, wie die EMRK als „lebendiges Instrument“ in der dynamischen Auslegung durch den EGMR (→ § 2 Rn 41) trotz ihres alten Wortlauts in der Lage ist, moderne Standards in sich aufzunehmen, sobald ein internationaler, europäischer Konsens erkennbar ist.

161 S die Würdigung von Alleweldt EuGRZ 1998, 245, 249 ff; speziell zur Türkei ders EuGRZ 2000, 193 f. 162 Art 17 II des Übereinkommens. 163 O Fn 143. 164 EGMR, NVwZ 2005, 1043, 1044 f – Dragan; NJOZ 2012, 950, Rn 60 – Samina. 165 Dies bestätigend, zugleich jedoch den Ausnahmecharakter des Abschiebungsverbots betonend EGMR (GK), NVwZ 2008, 1334, Rn 32 ff – N/Vereinigtes Königreich. 166 Z rein deklaratorischen Charakter der Vorschrift BVerwGE 99, 331, 333. 167 BGBl 2005 II, 995. 168 CETS Nr. 197 = BGBl 2012 II, 1108. 169 EGMR, NJW 2010, 3003, Rn 253–289 – Rantsev; s a Lindner ZAR 2010, 137 ff.

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3. Recht auf Leben (Art 2 EMRK) Leitentscheidungen: EGMR, NJW 2002, 2851 – Pretty = JK 2003, StGB § 216/5; NJW 2005, 727 – Vo = JK 2005, EMRK Art 2 I 1/1. Schrifttum: Arzt Europäische Menschenrechtskonvention und polizeilicher Todesschuss, DÖV 2007, 230 ff.

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Fall 3: Terroristen haben sich in einer Wohnung verschanzt. Die Polizei sperrt den Bürgersteig vor dem Wohnhaus, bevor ein Sondereinsatzkommando das Gebäude stürmt. Dabei kommt es zu einem Schusswechsel, in dessen Verlauf eine unbeteiligte Passantin auf der gegenüberliegenden Straßenseite tödlich getroffen wird, bevor die Terroristen den Tod finden. Ermittlungen wegen des Todes der Passantin werden innerhalb kurzer Zeit mit der Begr eingestellt, dass der tödliche Schuss von den Terroristen abgegeben worden sei. Die tödliche Kugel wird nicht gefunden. Tatzeugen und namentlich die beteiligten Polizisten werden nicht vernommen. Alle Versuche des Ehemanns der getöteten Passantin, eine gerichtliche Klärung des Vorfalls zu erreichen, bleiben erfolglos. Als er Beschwerde zum EGMR erhebt, erklärt die Reg, dass die Umstände des Todes der Passantin nicht mehr aufklärbar seien. Wie wird der EGMR entscheiden?

a) Schutzbereich 49

Art 2 I 1 EMRK schützt menschliches Leben. Der Schutz besteht bis zum Tod. Es erscheint sachgerecht, dabei auf den Hirntod abzustellen. Schwieriger ist der Beginn des Schutzes zu bestimmen. Geschützt werden jedenfalls geborene Menschen. Der Schutz des ungeborenen Lebens ist umstritten. Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat einen Schutz unter Hinweis auf die Schranken abgelehnt.170 Es wäre unverständlich, so der Verfassungsgerichtshof, wenn zwar sogar geborene Menschen unter Umständen getötet werden dürften, die Tötung ungeborenen Lebens hingegen selbst im Falle besonderer Indikation ausgeschlossen sei. Gegen diese Argumentation spricht, dass die Schrankenbestimmungen nur im Falle staatlicher Eingriffe Anwendung finden (Rn 27).171 Nimmt ein privater Arzt auf Wunsch der Schwangeren einen Schwangerschaftsabbruch vor, liegt kein Eingriff vor. Art 2 I 2, II EMRK stünden einer Abtreibung durch Private also nicht entgegen. Damit gibt es keinen durchgreifenden Grund, ungeborenes menschliches Leben aus dem Schutzbereich auszuklammern.172 Dennoch hat sich die Große Kammer des EGMR im Fall Vo gegen Frankreich der restriktiven Position iE angeschlossen. Solange ein gemeineuropäischer Konsens fehle, falle es in den Beurteilungsspielraum der einzelnen Staaten, den Beginn des Lebens zu bestimmen.173 Wenn angesichts neuer medizinischtechnischer Entwicklungen wie der Stammzellenforschung gemeinsame Standards der europäischen Staaten nicht einmal ansatzweise erkennbar sind, kann es in der Tat nicht

170 Österreichischer VerfGH, EuGRZ 1975, 74, 78. 171 Kneihs in: Grabenwarter/Thienel (Fn 101) S 21, 37 f. 172 Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 2 Rn 3; anders allerdings Kneihs in: Grabenwarter/ Thienel (Fn 101) S 40 f. 173 EGMR, NJW 2005, 727, Rn 81 ff – Vo; bestätigt durch EGMR, EuGRZ 2006, 389, Rn 46 – Evans; krit Groh/Lange-Bertalot NJW 2005, 713 ff; Lux-Wesener EuGRZ 2005, 558 ff; Pichon GLJ 7 (2006), 433, 439 f.

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Aufgabe des EGMR sein, in diesem Bereich eine Vorreiterrolle zu übernehmen.174 Gleichwohl begegnet die Lösung des EGMR Bedenken. Die Figur des Beurteilungsspielraums hat ihre Berechtigung auf der Rechtfertigungsebene.175 Hier wird jedoch der Schutzbereich zur Disposition der Mitgliedstaaten gestellt, obwohl Einigkeit bestehen dürfte, dass auch ungeborenes Leben nicht völlig schutzlos sein darf. Im Gegensatz zu anderen Freiheitsrechten umschließt Art 2 I 1 EMRK nicht die negative Freiheit, nicht zu leben.176 Ebenso wenig wie unter dem Grundgesetz177 umfasst das Recht auf Leben unter der EMRK ein Recht auf Selbstmord oder auf aktive Sterbehilfe. Das schließt nicht aus, dass die Selbstbestimmung über das eigene Leben in den Schutzbereich von Art 8 I EMRK fällt.178 Ein Staat kann jedoch die Sterbehilfe nach Art 8 II EMRK zum Schutz des Lebensrechts der anderen Person beschränken.179 Da das Lebensrecht nach Art 2 I 1 EMRK unverzichtbar ist, darf sich der Staat beim Verbot der Sterbehilfe auch über den Willen des Sterbewilligen hinwegsetzen. Dabei kann vor allem die Missbrauchsgefahr ein Grund dafür sein, Sterbehilfe zu verbieten. Eine räumliche Einschränkung erfährt der Schutzbereich wie bei jedem Konventionsrecht durch Art 1 EMRK (→ dazu § 2 Rn 59 ff). Diese Einschränkung ratione loci wird vor allem bei Militäreinsätzen im Ausland relevant. Der EGMR hat sich in Zusammenhang mit den NATO-Angriffen auf Belgrad im Zuge des Kosovo-Konflikts im Fall Bankovic´ grundsätzlich zu der Frage geäußert.180 Art 1 EMRK beschränkt den Anwendungsbereich der Konvention auf solche Personen, die der Hoheitsgewalt der Konventionsstaaten unterstehen. Die deutsche Übersetzung ließe sich vom Wortlaut her dahin verstehen, dass jede faktische Auswirkung mitgliedstaatlicher Hoheitsgewalt der Konvention unterfällt. Dann wäre allerdings die ausdrückliche Anknüpfung an die Hoheitsgewalt in Art 1 EMRK überflüssig. Der Zusatz würde nur besagen, dass die Verantwortlichkeit stets bei einem staatlichen Verhalten ansetzt. Das versteht sich von selbst.181 Im Übrigen ist allein der Originaltext maßgeblich. Im Englischen heißt es „jurisdiction“, im Französischen „juridiction“. Diese Begriffe bezeichnen eher die staatliche Regelungskompetenz. Da die Hoheitsgewalt eines Staates rechtlich vor allem territorial begrenzt wird, fallen extraterritoriale Akte danach nur ausnahmsweise in den Schutzbereich der Konventionsrechte.182 Die Konvention soll damit nach Ansicht des EGMR vorrangig solche Personen schützen, die sich in den europäischen Konventionsstaaten aufhalten, nicht aber das Handeln der Konventionsstaaten weltweit begrenzen. Ein Militäreinsatz im Ausland begründet noch keine Hoheitsgewalt über die dort lebenden Menschen, die den Anwendungsbereich der Konvention nach Art 1 EMRK eröffnen würde. Angriffe im Ausland, die dort

174 Zur Zurückhaltung der Konventionsorgane Trechsel in: Benedek/Isak/Kicker (Hrsg) Development and Developing International and European Law, 1999, 671, 672 f. 175 Peters/Altwicker EMRK, § 18 Rn 20 ff. 176 EGMR, NJW 2002, 2851 – Pretty = JK 2003, StGB § 216/5, Rn 39 f; dazu Fassbender JURA 2004, 115 ff. 177 Dazu Kunig in: v Münch/Kunig (Fn 51) Art 2 Rn 50. 178 Zur Weite dieses Schutzbereichs schon o Rn 3 ff. 179 EGMR, NJW 2002, 2851 – Pretty = JK 2003, StGB § 216/5, Rn 68 ff. 180 EGMR, NJW 2003, 413, Rn 54 ff – Bankoviç; dazu grundlegend Jankowska-Gilberg Extraterritorialität der Menschenrechte, 2008, S 42 ff. 181 S Schröder in: Graf Vitzthum, VR, 7. Abschn Rn 13. 182 Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 1 Rn 4.

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Menschen töten, fallen also nicht in den Schutzbereich von Art 2 EMRK.183 Allerdings wird man die gezielte Tötung im Ausland von dieser Regel ausnehmen müssen. Greift ein Staat gezielt auf eine Person zu, beansprucht er Hoheitsgewalt über sie.184 Eröffnet ist der Anwendungsbereich der Konvention auch im Falle der militärischen Besetzung, dh wenn ein Konventionsstaat die Staatsgewalt in einem fremden Gebiet effektiv kontrolliert.185 So hatte der EGMR keine Bedenken, die Türkei für eine Verletzung von Art 2 EMRK in Nordzypern verantwortlich zu machen.186 Die Bankovic´ -Rspr hat also Ausnahmecharakter. Sie wird verständlich, wenn man bedenkt, wie schnell der EGMR überfordert wäre, sollte er Militäroperationen außerhalb des Konventionsraumes durchleuchten.187 b) Beeinträchtigung 52

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In der Eingriffsabwehrfunktion verbietet Art 2 EMRK Tötungen, die dem Staat zuzurechnen sind. Ein Tötungsvorsatz ist nicht erforderlich.188 Eine Beeinträchtigung liegt insb dann vor, wenn staatlicher Schusswaffengebrauch zum Tode führt, gleichviel ob der Tod beabsichtigt war oder lediglich eine ungewollte Folge ist. Beruht der Tod auf privatem Verhalten oder auf Naturereignissen, liegt kein Eingriff vor. Das gilt etwa in dem oben angesprochenen Fall des Schwangerschaftsabbruchs. Auch wenn ein Privater in Notwehr nach § 32 StGB einen Menschen tötet, liegt kein Eingriff vor.189 Art 2 I 1 EMRK kommt dann nur in seiner Schutzpflichtdimension zum Tragen (dazu u Rn 62 ff). Bleibt unklar, ob eine Tötung von staatlichen Stellen ausgegangen ist, kann eine Beeinträchtigung und damit eine Verletzung von Art 2 EMRK in der Eingriffsabwehrdimension nicht festgestellt werden. Der EGMR verlangt vielmehr, dass die Tötung ohne vernünftigen Zweifel dem Staat zugeordnet werden kann.190 An sich sind die Umstände, die die staatliche Verantwortlichkeit für den Tod begründen, positiv festzustellen. Stirbt eine Person in polizeilichem Gewahrsam, wird ein solcher Nachweis häufig allerdings ähnlich schwer zu führen sein wie in den oben (Rn 42) angesprochenen Fällen von Folter oder unmenschlicher Behandlung. Daher arbeitet der EGMR hier mit einer Beweislastumkehr.191 Ist eine Person bei der Ingewahrsamnahme guter Gesundheit und weist der Leichnam später Verletzungen auf, so ist es Sache des Staates, dies zu erklären. Vermag er angesichts dieser Indizien nicht nachzuweisen, dass der Tod ohne staatliche Einwirkung eingetreten ist, wird ein Eingriff festgestellt. Fraglich ist, ob die Auslieferung bei drohender Todesstrafe in das Recht auf Leben eingreift. Begnügt man sich damit, dass der ausliefernde Staat eine notwendige Bedingung

183 Krit Breuer EuGRZ 2003, 449, 450 f; Rüth/Trilsch AJIL 97 (2003), 168, 171. 184 Jankowska-Gilberg (Fn 180) S 165 ff. 185 EGMR (GK), NJW 2012, 283, Rn 138 – Al-Skeini ua; dazu Jankowska-Gilberg AVR 50 (2012), 61 ff; s a Krieger ZaöRV 62 (2002), 669, 673 ff in Hinblick auf Auslandseinsätze der Bundeswehr. 186 EGMR, ECHR 2001-IV, Rn 75 ff, 131 ff – Zypern; in Anknüpfung an EGMR, EuGRZ 1997, 555, Rn 52 ff – Loizidou. 187 Verständnis zeigt daher Shelton Duke Journal of Comparative and International Law 13 (2003), 95, 128. 188 EGMR, NJW 2001, 1991, Rn 78 – Og˘ur; NJW 2001, 2001, Rn 98 – Salman. 189 AA Alleweldt in: Grote/Marauhn, KK, 10. Kap Rn 67, der von einer staatlichen Tötungsermächtigung ausgeht. 190 EGMR v 28.7.1998, 23818/94, Rn 78 – Ergi. 191 EGMR, NJW 2001, 2001, Rn 100–103 – Salman.

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für eine spätere Verurteilung und Hinrichtung setzt, lässt sich ein Eingriff annehmen. Dafür spricht auch, dass die Auslieferung gerade zum Zwecke der Strafverfolgung und -vollstreckung erfolgt. Liefert der Staat trotz drohender Todesstrafe aus, nimmt er diese Folge zumindest billigend in Kauf. Lässt man den indirekten Zurechnungszusammenhang für eine Tötungshandlung nicht ausreichen, wäre Art 2 EMRK in seiner Schutzpflichtdimension angesprochen. Außerdem wäre dann eine Lösung über Art 3 EMRK zu erwägen. Es lässt sich ohne weiteres annehmen, dass eine Auslieferung bei drohender Todesstrafe eine unmenschliche Behandlung darstellt. Der EGMR entschied 1989 im Fall Soering anders.192 Damals hatte aber das Vereinigte Königreich als Beschwerdegegner das 6. Zusatzprotokoll, das die Todesstrafe verbietet, noch nicht ratifiziert. Unter Geltung des 6. Zusatzprotokolls ist anders zu entscheiden.193 c) Rechtfertigung Art 2 EMRK enthält keine einheitliche Schrankenbestimmung, sondern mehrere Ausnahmen und Schranken, die auf Abs 1 S 2 und Abs 2 verteilt sind. Die beiden Sätze sind in der sprachlichen Konstruktion nicht gut aufeinander abgestimmt, was die Auslegung erschwert. Ergänzt werden die Schrankenbestimmungen durch das Verbot der Todesstrafe im 6. und 13. Zusatzprotokoll.

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aa) Einschränkung und Verbot der Todesstrafe 1950 wurde die Todesstrafe konventionsrechtlich noch nicht verboten. Art 2 I 2 EMRK stellt lediglich besondere Rechtfertigungsanforderungen. Die Verhängung der Todesstrafe steht danach unter Gesetzes- und Gerichtsvorbehalt. Außerdem wird die Verhängung auf Verbrechen, also auf bes schwere Straftaten begrenzt. Das 6. Zusatzprotokoll vom 28.4.1983 schafft die Todesstrafe in Art 1 ab. Verhängung und Vollstreckung sind verboten. Lediglich in Kriegszeiten sind nach Art 2 6. ZP EMRK Ausnahmen zulässig. Ansonsten ist das Verbot nach Art 3 notstands- und nach Art 4 6. ZP EMRK vorbehaltsfest. Das 13. Zusatzprotokoll vom 3.5.2002 lässt auch die Ausnahmen für Kriegszeiten entfallen, so dass das Verbot der Todesstrafe absolut gilt. Aufbauend auf dieser Entwicklung hat der EGMR im Fall Öcalan erwogen, die Konventionsstaaten könnten Art 2 I 2 EMRK zumindest hinsichtlich der Erlaubnis der Todesstrafe in Friedenszeiten unabhängig von der konkreten Geltung des 6. ZP EMRK konkludent abbedungen haben.194 Diese Überlegungen sind allerdings dogmatisch höchst problematisch und praktisch weitgehend irrelevant, nachdem nur Russland das 6. ZP EMRK noch nicht ratifiziert hat und auch dieser Staat die Todesstrafe nicht mehr anwendet.

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bb) Verteidigung von Personen Nach Art 2 II lit a EMRK ist eine Tötung gerechtfertigt, wenn sie aus einer Gewaltanwendung folgt, die zur Verteidigung einer Person gegen rechtswidrige Gewalt unbedingt erforderlich ist. Das betrifft vor allem den polizeilichen Schusswaffengebrauch. Es fällt 192 EGMR, EuGRZ 1989, 314, Rn 101–103 – Soering = JK 90, EMRK Art 3/1. 193 S a Trechsel in: Benedek/Isak/Kicker (Fn 174), S 678. 194 EGMR, EuGRZ 2003, 472, Rn 189–198 – Öcalan; (GK), NVwZ 2006, 1267, Rn 162–165 – Öcalan; dazu Breuer EuGRZ 2003, 449, 453; Kühne JZ 2003, 670, 673 f; Künzli LJIL 17 (2004), 141, 152 ff.

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auf, dass die Vorschrift keinen Gesetzesvorbehalt enthält, sondern lediglich materielle Anforderungen normiert.195 Dennoch wird man mit dem EGMR196 davon ausgehen müssen, dass es einer gesetzlichen Regelung bedarf. In materieller Hinsicht stellt Art 2 II lit a EMRK allein auf den Schutz von Personen ab. Die Verteidigung von Sachwerten rechtfertigt tödliche Schüsse nach der Konvention nicht. Fraglich ist, ob Art 2 II EMRK auch einen sog finalen Todesschuss zu rechtfertigen vermag. Dagegen könnte Art 2 I 2 EMRK sprechen. Wird dort die absichtliche Tötung mit Ausnahme der Todesstrafe verboten, scheint Abs 2 nur unbeabsichtigte Tötungen zu erfassen. Es erscheint allerdings kaum stimmig, die rein repressive Tötung eines Menschen im Rahmen des Strafrechts zu erlauben, hingegen die gezielte Tötung zur Rettung anderer Menschenleben ausnahmslos auszuschließen. Abs 2 ist daher als gleichberechtigte Schranke neben Abs 1 S 2 zu lesen. Auch die gezielte Tötung eines Menschen kann durch Art 2 II lit a EMRK gerechtfertigt sein.197 Freilich setzt Art 2 II EMRK voraus, dass die Gewaltanwendung „unbedingt erforderlich“ ist. Im Vergleich zu Art 8 II EMRK, wo es heißt, dass der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein muss, stellt Art 2 II EMRK mit dem qualifizierenden „unbedingt“ gesteigerte Rechtfertigungsanforderungen.198 Der Gewalteinsatz unterliegt damit bes strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen. So wird bspw einem gezielten Schuss regelmäßig ein Warnschuss vorauszugehen haben, es sei denn, dass er ausnahmsweise den Verteidigungserfolg konterkarieren würde. Je höher das Risiko ist, dass der Angreifer getötet wird, desto größer muss die abzuwendende Gefahr sein. cc) Weitere Schranken

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Art 2 II EMRK kennt weitere Fälle, in denen staatliche Gewalt, die zum Tode führt, gerechtfertigt ist. Lit b nennt die Gewaltanwendung zur Festnahme oder zur Fluchtverhinderung, lit c die Gewaltanwendung, um Aufruhr oder Aufstand niederzuschlagen. In beiden Fällen gelten die strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen, die schon unter Rn 59 angesprochen wurden. Gezielte Todesschüsse werden hier kaum je zu rechtfertigen sein. Eine letzte Ausnahme sieht Art 15 EMRK vor. Die selten angewandte Vorschrift gestattet in ihren Abs 1, 2 unter engen Voraussetzungen die Einschränkung der Konvention im Kriegs- oder Notstandsfall.199 Nach Art 15 II EMRK sind unter diesen Voraussetzungen auch Tötungen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen zulässig. Die Konvention verweist damit auf die Rechtmäßigkeitsanforderungen des humanitären Völkerrechts, wie sie namentlich in den vier Genfer Rot-Kreuz-Konventionen von 1949 sowie im 1. Zusatzprotokoll zu diesen Konventionen von 1977 niedergelegt sind.200 Bei kriegerischen Auseinandersetzungen außerhalb des Konventionsgebietes bedarf es der speziellen Rechtfertigung über Art 15 EMRK nicht. Sie fallen nach dem oben (Rn 51) Gesagten von vornherein nicht in den Anwendungsbereich der Konvention.

195 Trechsel in: Benedek/Isak/Kicker (Fn 174) S 681. 196 EGMR, NJW 2005, 3405, Rn 58 – Makaratzis, und dazu Arzt DÖV 2007, 230, 232, 235–237. 197 EGMR, ÖJZ 1996, 233, Rn 148, 199 f – McCann; Arzt DÖV 2007, 230, 233; Kneihs in: Grabenwarter/Thienel (Fn 101) 33 f. 198 EGMR, NJW 2001, 1991, Rn 78 – Og˘ur; NJW 2001, 2001, Rn 98 – Salman; Kneihs in: Grabenwarter/Thienel (Fn 101), 31 ff. 199 Dazu Ashauer AVR 45 (2007), 400, 409 ff. 200 Dazu Bothe in: Graf Vitzthum, VR, 8. Abschn Rn 56 ff.

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d) Schutzpflichtdimension Geht der Tod nicht auf staatliches Verhalten zurück, sondern auf privates Verhalten oder auf ein Naturereignis201, so ist Art 2 I 1 EMRK in seiner Schutzpflichtdimension angesprochen. Dabei sind nicht nur präventive Maßnahmen z Schutz des Lebens geboten.202 Vielmehr muss der Staat das Leben auch dadurch schützen, dass Tötungen unter Strafe gestellt und verfolgt werden.203 Auf der Ebene des materiellen Strafrechts ist vor allem die Notwehrproblematik umstritten. Grundsätzlich hat der Staat das private Notwehrrecht so zu beschränken, dass das Leben des Angreifers ausreichend geschützt wird.204 Dabei gelten aber nicht die engen Schranken des Art 2 II lit a EMRK (Rn 58 f). So kann unter Umständen auch die Verteidigung von Sachwerten mit lebensgefährlicher Gewalt hingenommen werden, ohne dass der Staat seine Schutzpflicht verletzen würde. Bei einem extremen Missverhältnis zwischen dem verteidigten Rechtsgut und der Lebensbedrohung wird der Staat aber einschreiten müssen. Bei der notwendigen Abwägung kann man sich auch an den Wertungen des Art 2 II EMRK orientieren,205 wenn man berücksichtigt, dass diese Schranken gerade nicht unmittelbar anwendbar sind (Rn 27). In der Gerichtspraxis spielt die konventionsrechtliche Notwehrproblematik nahezu keine Rolle.206 Das mag allerdings auch daran liegen, dass entspr Fälle von vornherein nicht zur Anklage gebracht werden. Der strafrechtliche Schutz darf nicht nur auf dem Papier stehen, sondern er muss effektiv durchgesetzt werden. Das bedeutet insb, dass der Staat dort, wo die Todesursache nicht von vornherein klar ist, eine Untersuchung mit den Ziel einzuleiten hat, die Todesursache zu klären und Beweise zu sichern.207 Die Ermittlungen müssen geeignet sein, zur Identifizierung und Bestrafung etwaiger Verantwortlicher zu führen.208 Das setzt namentlich voraus, dass die Untersuchungsbehörde hinreichend unabhängig ist.209 Staatlicher Ermittlungen bedarf es insb auch dann, wenn eine Person in staatlichem Gewahrsam zu Tode kommt.210 Der EGMR hat damit aus der Schutzpflicht eine Verfahrensdimension abgeleitet,211 die der des Art 8 EMRK (Rn 28) ähnelt.

201 Beispielhaft EGMR, HRLJ 32 (2012), 122 – Kemalog˘lu, Rn 40 ff z Kältetod eines Kindes auf dem Schulheimweg im Schneesturm. 202 Zur Versagung medizinischer Versorgung EGMR, ECHR 2001-IV, Rn 219 – Zypern; zur Überwachung von Industrieanlagen EGMR (GK), ECHR 2004-XII, Rn 69 ff – Öneryildiz; Xenos German Law Journal 8 (2007), 231 ff. 203 Trechsel in: Benedek/Isak/Kicker (Fn 174) S 673 ff. 204 Das deutsche strafrechtliche Schrifttum nimmt diese Schutzpflichtdimension kaum zur Kenntnis; s Fischer Strafgesetzbuch, 61. Aufl 2014, § 32 Rn 40; sowie Meyer-Goßner/Schmitt Strafprozessordnung, 57. Aufl 2014, Anh 4 MRK, Art 2 Rn 3; jew mwN; nuancierter nun Perron in: Schönke/ Schröder (Hrsg) Strafgesetzbuch, 29. Aufl 2014, § 32 Rn 62. 205 So Kneihs in: Grabenwarter/Thienel (Fn 101) S 38 f; ähnlich Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 2 Rn 2, 11. 206 Uerpmann (Fn 1) S 25 f. 207 EGMR, NJW 2001, 2001, Rn 104 f – Salman; NVwZ 2012, 1017, Rn 88 – Trévalec. 208 EGMR, NJW 2001, 1991, Rn 88 – Og˘ur; NJW 2001, 1989 – Grams. 209 EGMR, NJW 2001, 1991, Rn 91 – Og˘ur. 210 EGMR, NJW 2001, 2001, Rn 105 – Salman. 211 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 5 Rn 10–13.

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Lösung Fall 3: Man könnte an der Zulässigkeit der Beschwerde zweifeln, weil der Ehemann nicht in seinem eigenen Recht auf Leben verletzt ist. Im Interesse eines effektiven Konventionsrechtsschutzes müssen jedoch auch Verstöße gegen Art 2 EMRK vom EGMR überprüft werden können. Daher sind im Falle der Tötung einer Person nahe Angehörige wie der Ehemann als Opfer im Sinne von Art 34 S 1 EMRK beschwerdebefugt.212 Mit der Tötung der Passantin ist der Schutzbereich nach Art 2 I 1 EMRK eröffnet. Allerdings lässt sich nicht ohne jeden vernünftigen Zweifel feststellen, dass der tödliche Schuss von einem Polizisten abgegeben wurde. Damit fehlt es an einer Beeinträchtigung, die dem Staat zuzurechnen wäre (Rn 52). Art 2 EMRK greift in seiner Eingriffsabwehrfunktion nicht ein. Aus der Konventionsgarantie ergibt sich jedoch auch eine Schutzpflicht (Rn 62). Es liegt nicht fern, dass bei einem Einsatz der vorliegenden Art Querschläger die gegenüberliegende Straßenseite erreichen. Daher hätte die Polizei die Umgebung zum Schutz unbeteiligter Passanten weiträumig absperren müssen. Es sind keine Gründe ersichtlich, die das polizeiliche Unterlassen rechtfertigen könnten. Art 2 EMRK ist somit in seiner Schutzpflichtdimension verletzt. Zudem ergibt sich aus Art 2 EMRK die staatliche Verpflichtung, bei unklaren Todesfällen hinreichende Anstrengung zu unternehmen, um mögliche Täter zu ermitteln (Rn 64). Diese Verpflichtung bestand hier umso mehr, als der tödliche Schuss möglicherweise von staatlichen Organen abgegeben worden war. Dieser Pflicht sind die Strafverfolgungsbehörden, die nicht einmal die beteiligten Polizisten vernommen haben, nicht nachgekommen. Auch unter diesem Gesichtspunkt wird der EGMR einen Verstoß gegen Art 2 EMRK feststellen.213

III. Diskriminierungsverbot Schrifttum: Altwicker Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, 2011, 121 ff; Wolfrum (Hrsg) Gleichheit und Nichtdiskriminierung im nationalen und internationalen Menschenrechtsschutz, 2003.

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Fall 4: (EGMR, EuGRZ 1995, 392 ff – Schmidt = JK 95, EMRK Art 14/1) In Baden-Württemberg und Bayern bestand bis Mitte der 1990er Jahre eine Feuerwehrdienstpflicht für Männer. Männer, die keinen Dienst leisteten, mussten stattdessen eine Abgabe zahlen. Tatsächlich wurde niemand gegen seinen Willen zum Dienst in der Freiwilligen Feuerwehr verpflichtet, doch war die Feuerwehrabgabe ein wichtiges Finanzierungsinstrument. Frauen unterlagen keiner Dienst- und damit auch keiner Abgabenpflicht. Ein Mann aus Baden-Württemberg griff die ihn treffende Abgabenpflicht mit der Beschwerde in Straßburg an.

1. Das akzessorische Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK a) Akzessorietät 67

Art 14 EMRK ist ein akzessorischer Gleichheitssatz. Er knüpft an den „Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten“ an und greift daher nur ein, wenn ein anderes Recht der Konvention zumindest vom Schutzbereich her einschlägig ist.214 Auf

212 Meyer-Ladewig EMRK, Art 34 Rn 23. 213 S a in einem von der rechtlichen Würdigung her ähnlichen Fall EGMR v 28.7.1998, 23818/94, Rn 77 ff – Ergi. 214 EGMR, NJW 2003, 2145, Rn 54 – Odièvre.

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eine Verletzung des anderen Rechts kommt es nicht an. Nicht einmal ein Eingriff in das andere Recht muss festgestellt werden.215 Zu den Konventionsrechten, an die Art 14 EMRK anknüpft, zählen auch die Garantien der Zusatzprotokolle. Die Vorschrift spricht zwar nur von Konventionsrechten, doch sind ihnen die Rechte der Zusatzprotokolle durch entspr Vorschriften in den Zusatzprotokollen216 gleichgestellt. Die Akzessorietät führt dazu, dass der EGMR staatliches Verhalten in Sachbereichen, die die EMRK thematisch nicht erfasst, auch nicht auf Gleichheitsverstöße überprüfen kann. Das gilt namentlich im Bereich sozialer Rechte. Die EMRK unterscheidet sich insoweit vom Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966. Dessen Art 26 ist vom Wortlaut her nicht akzessorisch. Dementsprechend wendet ihn der UN-Menschenrechtsausschuss auch im Bereich sozialer Rechte an.217 Die Akzessorietät mag früher sinnvoll gewesen sein. Heute wirkt sie zunehmend anachronistisch. Daher wurde am 4.11.2000 ein 12. Zusatzprotokoll zur EMRK abgeschlossen.218 Sein Art 1 greift den Wortlaut von Art 14 EMRK auf, formt das Recht aber zu einem allgem Diskriminierungsverbot aus.219 Das Protokoll ist seit 2005 in Kraft, gilt aber bislang nicht für Deutschland. Der EGMR kompensiert die Akzessorietät zT durch eine großzügige Anknüpfung an andere Rechte. So hat er bspw über den Schutz des Familienlebens nach Art 8 EMRK eine Sozialleistung wie das Kindergeld in den Anwendungsbereich der Konvention gebracht und die Anspruchsvoraussetzungen dann an Art 14 EMRK gemessen.220 Die Akzessorietät führt dazu, dass Art 14 EMRK vergleichsweise geringe Bedeutung hat. Ist bereits ein Freiheitsrecht verletzt, verzichtet der EGMR häufig darauf, zusätzlich einen Gleichheitsverstoß zu prüfen.221 Ist der Eingriff in ein Freiheitsrecht gerechtfertigt, wird in den meisten Fällen auch keine sachwidrige Ungleichbehandlung vorliegen.

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b) Ungleichbehandlung Art 14 EMRK verbietet Diskriminierungen, also sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen. Die Vorschrift führt eine Reihe von Merkmalen auf, die als Anknüpfungspunkt für Ungleichbehandlungen grundsätzlich unzulässig sind. Sie ähnelt insoweit dem speziellen Gleichheitssatz des Art 3 III GG. Die Aufzählung ist jedoch ausweislich des Wortes „insbesondere“ nur beispielhaft, so dass auch andere personenbezogene Merkmale erfasst werden. Geht man vom authentischen französischen Text aus, der nicht von status-, sondern von situationsbezogenen Unterscheidungen spricht, ließe sich Art 14 EMRK ohne weiteres als allgem Gleichheitssatz verstehen.222 Dementsprechend hat der EGMR bspw mögliche Unterscheidungen zwischen Hochsee- und Küstenfischerei an Art 14 EMRK gemessen.223 Überwiegend knüpft der EGMR jedoch an die gleichfalls authentische englischen Fassung an, die ebenso wie die deutsche Übersetzung speziell auf Unter-

215 EGMR, RUDH 2000, 247, Rn 86 f – Cha’are Shalom Ve Tsedek. 216 Art 5 1. ZP, Art 6 4. ZP, Art 6 6. ZP, Art 7 7. ZP. 217 Zu den damit verbundenen Problemen Kunig/Uerpmann Übungen, S 237 f. 218 ETS Nr. 177; abrufbar unter http://conventions.coe.int/. 219 Trechsel in: Wolfrum (Hrsg) Gleichheit und Nichtdiskriminierung im nationalen und internationalen Menschenrechtsschutz, 2003, 119, 122–124. 220 EGMR, NVwZ 2006, 917, Rn 32 – Okpisz. 221 ZB EGMR, EuGRZ 1985, 297, Rn 32 – X u Y; NJW 2000, 2089, Rn 115 f – Smith u Grady. 222 So noch die Vorauflage. 223 EGMR v 24.9.2002, 27824/95, Rn 79 ff – Posti u Rahko.

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scheidungen wegen des „Status“ abstellt. So verlangt er nun in der Sache Kiyutin die Anknüpfung an einen „sonstigen Status“, wobei er dieses Merkmal immerhin weit interpretieren will.224 c) Rechtfertigung 70

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Eine verbotene Diskriminierung liegt nur vor, wenn die festgestellte Ungleichbehandlung nicht sachlich gerechtfertigt ist. Der EGMR fragt nach einem berechtigten Ziel, das die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag, wobei den Mitgliedstaaten ein Beurteilungsspielraum zukommt. Entspr variiert die Kontrolldichte. Dabei lassen sich Gedanken, die von Art 3 I GG her bekannt sind, ebenso bei Art 14 EMRK fruchtbar machen.225 So ist die vom BVerfG im Rahmen der sog neuen Formel formulierte Frage, ob Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen zu rechtfertigen vermögen,226 auch bei Art 14 EMRK sachgerecht. In diesem Sinne fragt der EGMR bei Art 14 EMRK danach, ob ein angemessenes Verhältnis zwischen den angewendeten Mitteln und dem verfolgten Ziel besteht.227 Man wird zudem davon ausgehen können, dass die Auflistung in Art 14 EMRK bes wichtige Differenzierungsverbote enthält.228 Je näher die Differenzierungsgründe im konkreten Fall den in Art 14 EMRK genannten stehen, desto höher sind die Rechtfertigungsanforderungen. Im Übrigen dürften die Rechtfertigungsanforderungen steigen, je mehr an unverfügbare, personenbezogene Merkmale angeknüpft wird.229 Wird bspw an die sexuelle Orientierung angeknüpft, verlangt der EGMR „besonders gewichtig[e] und überzeugend[e] Gründe“.230 Eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts kann nur ganz ausnahmsweise gerechtfertigt sein.231 Das schließt positive Fördermaßnahmen zum Ausgleich faktischer Benachteiligungen von Frauen nicht aus. Anders als Art 3 II GG232 enthält die EMRK zwar keinen Auftrag zur Verwirklichung der Gleichberechtigung auch im gesellschaftlichen Bereich und zur Bekämpfung faktischer Ungleichheiten. Setzt sich ein Mitgliedstaat die faktische Gleichheit zum Ziel, kann dies aber eine Ungleichbehandlung zu Lasten von Männern rechtfertigen.233 Traditionell sind die Lösungen des EGMR stark freiheitsrechtlich geprägt. Das zeigt die Transsexuellen-Rspr. In Deutschland steht Art 3 I GG234 im Vordergrund, unter der EMRK Art 8235. Hier zeigt sich auch, dass Freiheitsrechte und Gleichheitsrechte bis zu einem gewissen Grad funktional äquivalent sind. Seit einigen Jahren gewinnt die Gleich-

224 EGMR, NVwZ 2012, 221, Rn 56 f – Kiyutin; ausf Altwicker Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, 2011, 190 ff; im Überblick Peters/ders EMRK, § 26 Rn 7 f. 225 Zu den Parallelen Walter in: Wolfrum S 253, 255 ff. 226 BVerfGE 88, 87, 96 f = JK 93, GG Art 3 I/18 und dazu Bryde/Kleindiek JURA 1999, 36 ff. 227 EGMR, NJW 2001, 2871, 2873 – Dahlab = JK 2002, EMRK Art 9/1; EGMR, NVwZ 2006, 917, Rn 33 – Okpisz; NZA 2006, 1401, Rn 44 – Kosteski. 228 S Thürer/Dold EuGRZ 2005, 1, 6 f zur Rassendiskriminierung. 229 S a BVerfGE 88, 87, 96 = JK 93, GG Art 3 I/18. 230 EGMR, NJW 2009, 3637, Rn 91 – E. B. 231 Wittinger (Fn 82) S 163 f; z Ehenamen EGMR, FamRZ 2005, 427, Rn 58 ff – Tekeli. 232 Dazu BVerfGE 85, 191, 206 f = JK 92, GG Art 3 II/6; Osterloh in: Sachs (Hrsg) Grundgesetz, 6. Aufl 2011, Art 3 Rn 258 ff. 233 Wittinger (Fn 82) S 165 f; zur Bestätigung dieser Rechtslage durch das 12. Zusatzprotokoll Wittinger EuGRZ 2001, 272, 279. 234 BVerfGE 88, 87, 96 ff = JK 93, GG Art 3 I/18. 235 Bes deutlich EGMR, NJW 2004, 2505, Rn 91 f – Van Kück; s a Rn 8.

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heitsrechtsprechung des EGMR an Dynamik.236 Gestattet ein Staat bspw die Adoption durch eine einzelne Frau, verbietet ihm Art 14 iVm 8 EMRK eine Beschränkung auf heterosexuelle Frauen, weil er sonst homosexuelle Frauen wegen ihrer geschlechtlichen Orientierung diskriminiert.237 Mittlerweile lässt sich sogar diskutieren, ob Art 14 EMRK die Staaten jedenfalls bei bestimmten Diskriminierungsmerkmalen wie dem der Rasse über das Verbot staatlicher Diskriminierungen hinaus verpflichtet, Schutz vor Diskriminierungen durch Private zu gewähren.238 Insoweit gilt Ähnliches wie innerstaatlich zu den besonderen Diskriminierungeverboten des Art 3 III GG.239 Lösung Fall 4: In Fall 4 drängt sich die Gleichheitsproblematik auf. Da Deutschland das 12. ZP EMRK nicht ratifiziert hat, ist der akzessorische Art 14 EMRK heranzusiehen. Es ist zunächst zu prüfen, ob ein anderes Konventionsrecht einschlägig ist. Art 4 II EMRK verbietet Zwangsund Pflichtarbeit. Darunter könnte man auch die Feuerwehrdienstpflicht fassen. Allerdings nimmt Art 4 III lit d EMRK Arbeiten oder Dienstleistungen von dem Verbot aus, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehören. Diesen Ausnahmetatbestand sah der EGMR zu Recht als gegeben an, so dass Art 4 II EMRK nicht verletzt war. Fraglich ist, ob nun Art 14 EMRK iVm Art 4 EMRK geprüft werden kann. Geht man vom Wortlaut aus, werden Dienstpflichten nach Art 4 III EMRK nicht einmal vom Schutzbereich des Art 4 II EMRK erfasst. Dann wäre Art 14 EMRK unanwendbar. Der EGMR sah dies anders. Indem Art 4 III lit d EMRK diese Dienstpflicht regele, falle sie in den Anwendungsbereich der Konvention. Damit greife Art 14 EMRK ein. Dieses Verständnis erscheint sachgerecht. Es überspannt die Akzessorietätsanforderungen nicht und stellt doch sicher, dass nur solche Diskriminierungen erfasst werden, die im Zusammenhang mit den übrigen Gewährleistungen der Konvention stehen. Die Abgabenpflicht berührt für sich genommen weder Art 4 EMRK noch ein anderes Konventionsrecht. Wegen des engen Zusammenhangs mit der Dienstpflicht bezieht sie der EGMR dennoch in den Anwendungsbereich des Art 14 EMRK mit ein. Die Dienstpflicht, die an das Geschlecht anknüpft, stellt eine klare personenbezogene Ungleichbehandlung dar. Da die Abgabenpflicht über die Dienstpflicht mittelbar mit dem Geschlecht verknüpft ist, liegt auch hierin eine personenbezogene Ungleichbehandlung. Die Frage nach der Rechtfertigung stellt sich für die Dienstpflicht und für die Abgabenpflicht unterschiedlich. Der EGMR äußert zunächst Zweifel an der Rechtfertigung der Dienstpflicht. Er fordert insoweit objektive und vernünftige Gründe sowie ein angemessenes Verhältnis zwischen Mittel und Zweck. Dabei macht er deutlich, dass an eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechtes strenge Anforderungen zu stellen sind. Der Umstand, dass andere Bundesländer eine Feuerwehrdienstpflicht für Frauen kennen und dass auch in Süddeutschland Frauen freiwillig Dienst leisteten und leisten, spricht gegen eine Rechtfertigung. Der EGMR ließ dies offen, weil die Dienstpflicht ohnehin nur auf dem Papier bestand.240 Damit kam es allein auf die Rechtfertigung der Abgabenpflicht an. Da niemand 236 S Thürer/Dold EuGRZ 2005, 1, 6–9. 237 So in einer Einzelfallbetrachtung EGMR (GK), NJW 2009, 3637, Rn 71 ff – E B. 238 Dazu Staudinger ZEV 2005, 140, 142 f unter dem Gesichtspunkt einer mittelbaren Drittwirkung und in krit Auseinandersetzung mit EGMR, ZEV 2005, 162, Rn 44 ff – Pla Puncerau; krit a Heyden/v Ungern-Sternberg EuGRZ 2009, 81 ff; allgem König/Peters in: Grote/Marauhn, KK, 21. Kap Rn 72. 239 Dazu Uerpmann-Wittzack ZaöRV 68 (2008), 359 ff. 240 Zur Rechtfertigung einer auf Männer beschränkten Wehrpflicht am Maßstab v Art 4 iVm Art 14 EMRK BVerwG, NJW 2006, 2871, 2872 f; Hahn JR 2007, 45, 49 f.

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zwangsverpflichtet wurde, kam ihr keine Ausgleichs-, sondern eine reine Finanzierungsfunktion zu. Für die Entscheidung, nur den männlichen Teil der Bevölkerung zur Finanzierung der Freiwilligen Feuerwehr heranzuziehen, war kein hinreichender Grund ersichtlich. Damit war die Abgabenpflicht konventionswidrig. Das BVerfG hat die Entscheidung des EGMR zum Anlass genommen, die Feuerwehrabgabe, die bis dahin als verfassungskonform galt,241 kurz darauf auch am Grundgesetz scheitern zu lassen.242 Dabei ist das Ergebnis grundgesetzlich viel einfacher zu begründen als konventionsrechtlich. Art 3 III 1 GG ist offenkundig beeinträchtigt und mangels Rechtfertigung ohne weiteres verletzt.

2. Spezielle Gleichheitsaspekte 73

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Punktuell finden sich Gleichheitsaspekte auch außerhalb von Art 14 EMRK. Mit der Gleichberechtigung der Ehegatten enthält Art 5 7. ZP EMRK einen speziellen Gleichheitssatz. Die Vorschrift hat noch keine bedeutende Rolle gespielt.243 Sie ergänzt die Konventionsgarantien kaum, schränkt sie aber auch nicht ein.244 Für Deutschland ist das ganze Protokoll nicht in Kraft. In der Konvention selbst werden Gleichheitsmomente vor allem in den Justizgarantien des Art 6 EMRK (→ § 6 Rn 36 ff) erkennbar. Das wichtigste Beispiel ist Art 6 III lit e EMRK mit dem Recht auf einen unentgeltlichen Dolmetscher im Strafverfahren. Vom Wortlaut her handelt es sich um eine verfahrensrechtliche Garantie, die einen fairen Prozess gewährleisten soll, ohne eine Gleichheitskomponente aufzuweisen. Zunächst ging man jedenfalls in Deutschland davon aus, dass die Unentgeltlichkeit nur bis zum Abschluss des Verfahrens gelten sollte. Man hielt es für zulässig, den Verurteilten im Rahmen der Gerichtskosten auch mit den Dolmetscherkosten zu belasten. Zur Sicherung eines fairen Verfahrens reicht es in der Tat grundsätzlich aus, wenn der Dolmetscher zunächst aus der Staatskasse bezahlt wird, so dass seine Beiziehung nicht an der Kostenfrage scheitern kann. Im Fall Luedicke entschied der EGMR jedoch, dass auch der Verurteilte nicht mit angefallenen Dolmetscherkosten belastet werden dürfe.245 Diese Entscheidung ist schlüssig, wenn man Art 6 III lit e EMRK als speziellen Gleichheitssatz interpretiert. Über seine Primärfunktion, eine effektive Verteidigung zu sichern, hinaus soll er den Angeklagten, der der Gerichtssprache nicht mächtig ist, von allen sich daraus ergebenden zusätzlichen finanziellen Lasten freistellen und den Sprachunkundigen so mit dem Sprachkundigen gleichstellen.246 Der Grundsatz des fairen Verfahrens weist ebenfalls Aspekte eines speziellen Gleichheitssatzes auf. Das gilt namentlich für das Prinzip der Waffengleichheit, das der EGMR als Ausprägung des fair-trial-Gedankens ansieht und an dem er die Stellung der Verfahrensbeteiligten misst.247

241 S BVerwG, BayVBl 1994, 315 ff sowie die krit Bestandsaufnahme v Rozek BayVBl 1993, 646 ff. 242 BVerfGE 92, 91 ff. 243 Dazu Wittinger (Fn 82) S 177–179. 244 EGMR, RUDH 1994, 27, Rn 22 f – Burghartz. 245 EGMR, EuGRZ 1979, 34, Rn 38 ff – Luedicke. 246 Das Argument klingt in den Gründen der Luedicke-Entscheidung, EuGRZ 1979, 34 ff, vor allem in Rn 42 an. 247 EGMR, EuGRZ 1991, 519, Rn 24 – Borgers.

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§4 Kommunikationsgrundrechte Thilo Marauhn I. Die besondere Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte im System der EMRK Kommunikationsgrundrechte leisten einen wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsentfaltung des Menschen, indem sie dessen Bedürfnis nach Mitteilung und Auseinandersetzung mit anderen schützen. Die freie Kommunikation ist aber auch von erheblicher gesellschaftlicher und politischer Bedeutung, denn ohne sie ist Demokratie nicht denkbar. Mit seiner Rechtsprechung trägt der EGMR beiden Funktionen gleichermaßen Rechnung und hebt hervor, dass die Gewährleistung einer offenen geistigen Auseinandersetzung den Kern freiheitlicher zwischenmenschlicher Kommunikation bildet.1 Die EMRK enthält kein umfassendes Kommunikationsgrundrecht, sondern garantiert in den Art 92, 10 und 11 EMRK mehrere nebeneinander stehende Freiheiten, die erst in ihrer wechselseitigen Verschränkung und Bedingtheit die vielfältigen Kommunikationsvorgänge der Lebenswirklichkeit erfassen. Die zentrale Vorschrift des Art 10 EMRK gewährleistet eine Vielzahl von Grundrechten: die Meinungsbildungsfreiheit, die Meinungsäußerungsfreiheit, die Freiheit, Mitteilungen zu empfangen, die Pressefreiheit sowie die Freiheit von Rundfunk, Fernsehen und Film3. In der Kombination von Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit kommt zum Ausdruck, dass menschliche Kommunikation kein einseitiger, sondern ein gegenseitiger Prozess ist, auch wenn die Gegenseitigkeit echter Dialoge rechtlich ansonsten kaum fassbar ist.4 Art 10 EMRK erfährt eine spezifische Ergänzung durch die in Art 11 EMRK gewährleisteten Grundfreiheiten: die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit und die Koalitionsfreiheit. Ähnlich wie der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, der die in der US-amerikanischen Verfassung nicht ausdrücklich garantierte Vereinigungsfreiheit aus der im Ersten Zusatzartikel enthaltenen Meinungsfreiheit abgeleitet hat,5 betont der EGMR den systematischen Zusammenhang zwischen Art 10 und Art 11 EMRK. Nach seiner Auffassung handelt es sich bei den Garantien des Art 11 EMRK um leges speciales im Verhältnis zu denen des Art 10 EMRK.6 Dieses Spezialitätsverhältnis wirkt

1 EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 49 – Handyside; EuGRZ 1986, 424, Rn 41 – Lingens; EuGRZ 1991, 216, Rn 58 – Oberschlick; EuGRZ 1995, 16, Rn 59 – Observer und Guardian; ÖJZ 2002, 814, Rn 83 – Feldek. 2 Zu Art 9 EMRK, der in diesem Kapitel nicht näher erläutert wird, s Frowein in: Grote/Marauhn (Hrsg) Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht, 2001, 73 ff. Eingehend auch Weber ZevKR 2002, 265 ff; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 82 ff; Sahlfeld Aspekte der Religionsfreiheit, 2004; Walter in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 17. 3 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 2 ff; Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 28 ff. 4 Müller Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl 1999, 184 f. 5 US Supreme Court, NAACP/Alabama ex rel Patterson, 357 US 449 (1958). 6 EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 62 – Ezelin; vgl jetzt auch EGMR, RJD 2005-I, 209, Rn 44 – Partidul Comunistilor. Dazu auch Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 144.

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sich nicht nur auf den Anwendungsbereich der beiden Vorschriften aus. Es führt auch zu einer parallelen Auslegung der Schutzbereiche und der Schranken.7 Neben den notstandsfesten Grundfreiheiten stehen die Kommunikationsgrundrechte an der Spitze aller weiteren Gewährleistungen der EMRK, denn ohne freie Kommunikation ist eine wirksame Verteidigung fundamentaler Rechte nicht möglich.8 Dem hat die Straßburger Spruchpraxis insoweit Rechnung getragen, als sie im Interesse von Pluralismus und Toleranz weite Schutzbereiche anerkannt und Eingriffe nur unter engen Voraussetzungen als gerechtfertigt angesehen hat. Eine konturenscharfe Abgrenzung der einzelnen in Art 10 und Art 11 EMRK enthaltenen Gewährleistungen ist weder durchgängig möglich noch unbedingt erforderlich, denn die beiden Vorschriften sollen die zwischenmenschliche Kommunikation umfassend schützen.9 Allerdings ist den Differenzierungen bei der Rechtfertigung staatlicher Eingriffe zumindest im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung zu tragen.10

II. Die Meinungs- und die Informationsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside; EuGRZ 1986, 424 ff – Lingens; EuGRZ 1988, 543 ff – Müller; EuGRZ 1990, 255 ff – Groppera Radio AG; EuGRZ 1991, 216 ff – Oberschlick; EuGRZ 1992, 484 ff – Open Door und Dublin Well Woman; EuGRZ 1994, 549 ff – Informationsverein Lentia; HRLJ 1994, 371 ff – Otto-Preminger-Institut; EuGRZ 1995, 590 ff – Vogt; EuGRZ 1995, 16 ff – Observer und Guardian; EuGRZ 1996, 302 ff – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; EuGRZ 1999, 8 ff – Janowski; EuGRZ 1999, 453 ff – Bladet Tromsø; RJD 2000-III, 1 ff – Özgür Gündem; ÖJZ 2002, 814 – Feldek; EuGRZ 2004, 404 ff – von Hannover (No. 1); NJW 2006, 1255 ff – Steel und Morris; ÖJZ 2008, 161 ff – Pfeifer; EuGRZ 2011, 555 ff – Heinisch; EuGRZ 2012, 278 ff – von Hannover (No. 2); EuGRZ 2012, 294 ff – Axel Springer. Schrifttum: Calliess Werbung, Moral und Europäische Menschenrechtskonvention, AfP 2000, 248 ff; Engel Einwirkungen des europäischen Menschenrechtsschutzes auf Meinungsäußerungsfreiheit und Pressefreiheit – insbesondere auf die Einführung von innerer Pressefreiheit, AfP 1994, 1 ff; Frowein AfP 1986, 197 ff; Frowein Meinungsfreiheit und Demokratie, EuGRZ 2008, 117 ff; Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, 3. Aufl 2009; Gornig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988; Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl 2008, 252 ff; Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2013, Kap 18; Hoffmeister Art 10 EMRK in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 1994 – 1999, EuGRZ 2000, 358 ff; Klein Einwirkungen des europäischen Menschenrechtsschutzes auf Meinungsäußerungsfreiheit und Pressefreiheit, AfP 1994, 9 ff; Kühling Zu den möglichen Grenzen der Kommunikationsfreiheit, AfP 1999, 214 ff; Malinverni Freedom of Information in the Convention on Human Rights and in the International Covenant on Civil and Political Rights, HRLJ 1983, 443 ff; Mowbray Cases and Materials, 2. Aufl 2007, 623 ff; Peters Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, §§ 9–14; Stürner Caroline-Urteil des EGMR – Rückkehr zum richtigen Maß, AfP 2005, 213 ff; Trenkelbach Internetfreiheit 2005; Uerpmann-Wittzack/Jankowska-Gilberg, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Ordnungsrahmen für das Internet, MMR 2008, 83 ff; Wittreck, Persönlichkeitsbild und Kunstfreiheit AfP 2009, 6 ff.

7 EGMR, RJD 1998-I, 3, Rn 42 – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei; Pabel ZaöRV 2003, 921, 930 ff eingehend zu den Prüfkriterien des EGMR bei Parteiverboten, insb im Vergleich zur Rechtsprechung des BVerfG. 8 Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 277 f. 9 EGMR, EuGRZ 1985, 150, Rn 42 – Barthold; explizit EGMR, RJD 2005-I, 209, Rn 44 – Partidul Comunistilor. 10 Villiger EMRK, 390.

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1. Schutzbereiche a) Die Meinungsfreiheit Die in Art 10 I 2 EMRK geschützte Meinungsfreiheit ist die Grundlage und der Oberbegriff der in Satz 1 gewährleisteten Meinungsäußerungsfreiheit.11 Die Meinungsfreiheit schützt – insoweit der in Art 9 EMRK gewährleisteten Gedankenfreiheit vergleichbar – das forum internum, die innere Meinungsbildung. In den 1970er Jahren entschied der EGMR, dass der Staat daran gehindert ist, den Bürgern Meinungen durch Indoktrinierung oder andere Mittel aufzudrängen.12 Ebenso dürften eine gezielt einseitige staatliche Informationspolitik wie auch eine gezielt einseitige Berichterstattung in staatlichen Massenmedien konventionswidrig sein.13 Das lässt sich zumindest aus dem vom EGMR betonten „Schutz der Meinungsvielfalt“, also des Pluralismus, ableiten.14 Anders als das Bundesverfassungsgericht, das – methodisch nicht überzeugend – den Begriff der „Meinung“ über vage Umschreibungen zu erschließen sucht,15 hat der EGMR den Begriff der „Meinung“ bislang nicht abstrakt definiert. Man mag diese Zurückhaltung des EGMR kritisieren, sollte aber bedenken, dass Synonyme und wenig präzise Umschreibungen, die das Schutzgut nicht hinreichend verdeutlichen, die Gefahr bergen, die Tatbestands- und die Eingriffsebene zu vermengen. Außerdem kann sich der EGMR auf den Wortlaut der Äußerungsfreiheit zurückziehen, der so weit gefasst ist, dass insbesondere keine Notwendigkeit besteht, zwischen „Meinungen“ und „Tatsachenmitteilungen“ zu unterscheiden.16

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b) Die Äußerungsfreiheit Die Äußerungsfreiheit schließt die Meinungsäußerungsfreiheit und die Freiheit zur Mitteilung von Informationen und Ideen (gelegentlich auch als aktive Informationsfreiheit bezeichnet17) ein. Unter Berücksichtigung der authentischen englischen („freedom of expressions“) und französischen („liberté d’expression“) Texte kommt daher eine Beschränkung auf „Meinungen“ nicht in Betracht. Dadurch erübrigt sich auch hier eine Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptung18 und Werturteil.19

11 Guradze Die Europäische Menschenrechtskonvention, 1968, 142. 12 EGMR, EuGRZ 1976, 478, Rn 53 – Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen (Indoktrinierungsverbot vom EGMR ausdrücklich formuliert für die Schule auf der Grundlage von Art 10 EMRK und Art 2 1. ZP EMRK). 13 So auch Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 4; vgl auch EGMR, ÖJZ 1998, 151 – Radio ABC. 14 EGMR, EuGRZ 1994, 549 – Informationsverein Lentia. 15 Vgl nur BVerfGE 61, 1, 8 f. 16 Insoweit krit zur Rspr des BVerfG, die den Unterschied zwischen „Meinungen“ und „Tatsachenmitteilungen“ schon im Schutzbereich für wesentlich erachtet, vgl Erichsen Jura 1996, 85 ff – Der EGMR unterscheidet zwischen „Meinungen“ und „Tatsachenmitteilungen“ allerdings im Rahmen der Rechtfertigung von Einschränkungen, so dass Werturteile wohl einen höheren Schutz genießen; so etwa EGMR, Urt v 6.12.2007, 19331/05 – Katrami. Vgl auch Peters EMRK, 2003, 59. 17 So Peters EMRK, 70 ff. 18 Zum Schutz von Tatsachenbehauptungen EGMR, NJW 1999, 1315 – Fressoz und Roire. 19 Zum Schutz von Werturteilen ggf auch ohne Tatsachenbasis vgl EGMR, Medien&Recht 2007, 71 – Nikowitz; zum besonderen Schutz von Werturteilen vgl auch EGMR, ÖJZ 2007, 836 Rn 41 ff – Standard Verlagsgesellschaft mbH.

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In einer jeweils am Einzelfall orientierten Spruchpraxis hat der EGMR alle Mitteilungen von Sinngehalten, wie Tatsachen, Meinungen und Unterhaltungsbeiträge,20 unter die Äußerungsfreiheit subsumiert. Der Schutz der Äußerungsfreiheit erstreckt sich insbesondere auch auf solche Inhalte, die den Staat oder einen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen.21 Es sind nicht nur unproblematische oder unkritische Inhalte geschützt. Dem EGMR geht es um den umfassenden Schutz einer offenen geistigen Auseinandersetzung als Kern der Meinungsäußerungsfreiheit. Dazu gehört auch die Aufrechterhaltung von Pluralität im Informationssektor. Neben politischen Äußerungen22 werden kommerzielle Meinungsäußerungen vom EGMR dem Schutzbereich von Art 10 I EMRK zugeordnet.23 Dazu gehören sowohl kritische Äußerungen über bestimmte Geschäftspraktiken24 als auch Werbemaßnahmen25. Kritik ließe sich gegenüber dieser weiten Auslegung allenfalls damit begründen, dass erfolgreiche Werbung darauf beruht, dem Verbraucher Kaufimpulse auf eine nicht notwendig bewusste Weise zu vermitteln. In diesen Fällen finde demnach keine offene geistige Auseinandersetzung statt, um die es doch bei Art 10 I EMRK eigentlich gehe.26 Weder der Wortlaut noch der systematische Zusammenhang legen aber eine restriktive Interpretation des Schutzbereichs nahe, die allein daraus abzuleiten sein soll, dass es keinen Grund gebe, die kommerzielle Meinungsäußerung gegenüber anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten zu privilegieren. Art 10 I EMRK schützt nicht nur Substanz und Inhalt der Mitteilung, sondern auch die Form und die Darstellung der Mitteilung.27 So sind Bilder und auch Realhandlungen, die das Missfallen an Tätigkeiten anderer ausdrücken, von Art 10 I EMRK geschützt.28

20 EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 54 f – Groppera Radio AG. 21 EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 49 – Handyside; bestätigend EGMR, Urt v 19.9.2006, 42435/02, Rn 21 – White und EGMR, ÖJZ 2007, 618 – Vereinigung bildender Künstler. Vgl auch EGMR, NJW 2010, 3699, Rn 5 – VgT (2007), wo die Intensivtierhaltung mit Konzentrationslagern verglichen wird. Dazu, dass politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger als auch Journalisten hinsichtlich der Wahrheit der verbreiteten Tatsachen einen vergleichbaren Schutz genießen, sofern sie gutgläubig sind, vgl EGMR, NJW 2006, 1255 ff – Steel und Morris einerseits und EGMR, EuGRZ 1999, 453 ff – Bladet Tromsø andererseits. 22 In einer Unzulässigkeitsentscheidung aus dem Jahre 2002 bringt der EGMR die besondere Bedeutung politischer Äußerungen in Wahlkampfsituationen zum Ausdruck; EGMR, ÖJZ 2005, 276 – Schüssel. 23 Eingehend dazu Nolte RabelsZ 1999, 507 ff; zum Schutz von außerhalb des Politischen getätigten Meinungsäußerungen vgl auch Bartnik AfP 2004, 489, 494. 24 EGMR, EuGRZ 1996, 302, Rn 35 – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann. 25 EGMR, EuGRZ 1985, 150, Rn 58 – Barthold; HRLJ 1994, 184, Rn 35 – Casado Coca (EGMR verneinte in diesem Fall eine Verletzung von Art 10 EMRK, weil es sich nicht um ein absolutes Werbeverbot für Anwälte handelte). Vgl auch EKMR, EuGRZ 1991, 525 – Hempfing (EKMR verneinte eine Verletzung von Art 10 EMRK in diesem Fall, wo der Beschwerdeführer, ein Anwalt, disziplinarisch verwarnt wurde, weil er in einem Rundschreiben die Kunden aufforderte, ihn zu „testen“). 26 Zu dieser Kritik vgl für das GG etwa Ipsen Staatsrecht II, Grundrechte, 15. Aufl 2012, Rn 421. 27 Zutreffend Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 5; deutlich EGMR, NStZ 1995, 237, Rn 31 – Jersild; zu Fotomontagen vgl EGMR, ÖJZ 2005, 276 – Schüssel. Zum Schutz des Mediums der Meinungsäußerung Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 40 ff. 28 EGMR, RJD 1998-VII, 2719, Rn 92 iVm Rn 7 – Steel; RUDH 1999, 331, Rn 28 – Hashman und Harrup.

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Bei Symbolen dürften Äußerung und Form wegen der Komplexität der Darstellung regelmäßig zusammenfallen; jedenfalls ist ihren Besonderheiten Rechnung zu tragen.29 Meinungsäußerungen bedürfen grundsätzlich weder hinsichtlich ihrer Form noch hinsichtlich ihrer Darstellung einer besonderen Zulassung. Die Grenze zieht Art 10 I 3 EMRK, der für bestimmte technische Medien einen Genehmigungsvorbehalt vorsieht. c) Die Informationsfreiheit Art 5 I 1 GG schützt die Freiheit, sich aus „allgemein zugänglichen Quellen“ zu informieren, während Art 10 I 1 EMRK ohne nähere Präzisierung der Quellen die „Freiheit zum Empfang … von Nachrichten oder Ideen“ gewährleistet. Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf Art 5 I 1 GG solche Informationsquellen als „allgemein zugänglich“ anerkannt, die technisch geeignet und bestimmt sind, der Allgemeinheit Informationen zu verschaffen. Insbesondere verlieren Quellen diesen Charakter nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht dadurch, dass gegen ihre Verbreitung Maßnahmen ergriffen werden.30 Damit hat das Gericht zwar – gemessen am Wortlaut – einen relativ weiten Schutzbereich eröffnet. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass die deutsche Rechts- und Verfassungstradition sich durch eine bemerkenswerte Zurückhaltung gegenüber an staatliche Stellen gerichteten Informationsansprüchen auszeichnet. Erst in jüngster Zeit wächst – auch in Anbetracht des so genannten Informationszeitalters – die Erkenntnis, dass die Informationsfreiheit im demokratischen Gemeinwesen Bedingung rationaler Meinungsbildung und Entscheidungsfindung ist.31 Es ist aber nicht allein die demokratisch-politische Funktion der Informationsfreiheit, die es in den Blick zu nehmen gilt. Die Möglichkeit, an Informationen teilzuhaben, ist nicht nur Voraussetzung sozialer Kompetenz. Sie ist auch unabdingbare Voraussetzung persönlicher Entfaltung. Auch kann die Informationsfreiheit einen Beitrag zur Effizienz des Gemeinwesens leisten, indem sie dessen Problemlösungskapazität und Innovationsfähigkeit erhöht.32 Bei der Informationsfreiheit handelt es sich nach Auffassung des EGMR um eine eigenständige Gewährleistung,33 die der Gerichtshof allerdings lange tendenziell restriktiv ausgelegt hat. Trotz des insoweit offenen Wortlauts der Konvention34 hat der EGMR zunächst eine positive Informationspflicht staatlicher Behörden verneint.35 Nach Auffas-

29 Vgl zu mehrdeutigen Symbolen nur die neuere Rechtsprechung, EGMR, Urt v 8.7.2008, 33629/ 06, Rn 56 – Vajnai („roter Stern“). 30 BVerfGE 27, 71, 83 f; 33, 52, 65; 90, 27, 32; 103, 44, 60 (stRspr). 31 In Deutschland sind in den letzten Jahren zahlreiche Informationsansprüche geschaffen worden, die über den grundgesetzlichen Mindeststandard hinausgehen. Zu diesen Entwicklungen Kugelmann NJW 2005, 3609; Fluck/Merenyi VerwArchiv 2006, 381; Schoch DÖV 2006, 1. 32 Müller (Fn 4) S 278 f. 33 EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 65, 66 – Sunday Times (Nr 1). 34 Das betonen auch Grote/Wenzel in: DörrGrote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 50. 35 EGMR, RJD 1998-I, 210, Rn 53 – Guerra. Der Spruchpraxis der Straßburger Organe lässt sich in Einzelfällen entnehmen, dass bei bestimmten Gefahren für die Schutzgüter des Art 8 EMRK eine Informationspflicht des Staates besteht; vgl dazu neben der Entscheidung im Fall Guerra auch EGMR, Ser A Nr 303-C, Rn 44–58 – López Ostra; EGMR, RJD 1998-III, 1334, Rn 96–104 – McGinley und Egan; EGMR, RJD 1998-III, 1390, Rn 35–41 – L.C.B. Auch ein (positives) Recht auf Empfang bestimmter Informationen seitens der Behörden kann aus der Informationsfreiheit nicht abgeleitet werden; vgl EGMR, Series A, Vol 160, Rn 52 – Gaskin; dazu auch EGMR, NJOZ 2007, 865 – Roche.

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sung des EGMR garantiert Art 10 I 1 EMRK nur den Empfang allgemein zugänglicher Informationen („general sources of information“)36 und deckt sich insoweit mit Art 5 I 1 GG.37 Seine Zurückhaltung gegenüber einer positiven Informationspflicht des Staates hat der EGMR zuletzt bereichsspezifisch dort gelockert, wo die Behörden über ein faktisches Informationsmonopol verfügen.38 Im Übrigen hat der EGMR betont, dass die Medien die Aufgabe haben, Informationen zu verbreiten,39 und die Öffentlichkeit das Recht hat, diese Informationen zu empfangen.40 Bedeutung entfaltet der ungehinderte Empfang von Meldungen, Nachrichten und Meinungen auch für den Quellen- und Informantenschutz.41 Des Weiteren stellt Art 10 I 1 EMRK – anders als Art 5 I 1 GG – ausdrücklich klar, dass die Informationsfreiheit ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen gewährleistet ist.42 In den Grenzen von Art 10 I 3 und Art 10 II EMRK schließt dies die Nutzung der erforderlichen Empfangsgeräte ein.43 Über das bloße (passive) Recht auf Informationsempfang hinaus ist umstritten, ob auch die (aktive) Freiheit zur Informationsbeschaffung vom Schutzbereich des Art 10 I 1 EMRK erfasst wird. Zwar unterscheidet sich der Wortlaut dieser Gewährleistung von den vergleichbaren Bestimmungen des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (Art 19 II) und der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (Art 13 I). Es ist jedoch vertretbar, diesen Wortlautunterschied als Redaktionsversehen zu qualifizieren, denn immerhin enthielt einer der EMRK-Entwürfe ein Recht auf Informationsbeschaffung.44 Da ohne Recherchen und aktive Informationsbeschaffung keine wirksame Mitteilungs- und Verbreitungsarbeit geleistet werden und eine Mitteilung nicht erfolgen kann, ist es vertretbar, die Freiheit zur Informationsbeschaffung im Wege der teleologischen Auslegung unter Art 10 I 1 EMRK zu subsumieren.45 Schließlich kann es nicht Sinn und Zweck der Konvention sein, die Äußerungsfreiheit dadurch auszuhebeln, dass die Freiheit zur Informationsbeschaffung schutzlos gestellt wird. Art 10 EMRK enthält kein ausdrückliches Zensurverbot. Beschränkungen der Gewährleistungen aus Art 10 I EMRK sind jedoch nur im Rahmen von Art 10 II EMRK

36 EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 41 – Lingens; Série A, Vol 116, Rn 74 – Leander. Ähnlich zuvor auch schon die Kommission; vgl EKMR, DR 17, 227, 230 – X. 37 Nach Auffassung des Gerichtshofs ist der Staat auf der Grundlage von Art 10 I EMRK nicht verpflichtet, Informationen herauszugeben, die sich in seiner Verfügungsgewalt befinden; er darf aber den Empfang von Informationen nicht verhindern, die Private weitergeben wollen; s dazu EGMR, Series A, Vol 160, Rn 52 – Gaskin. 38 EGMR, Urt v 10.7.2006, 19101/03 – Sdruzˇeni Jihocˇ eské Matky; Urt v 26.5.2009, 31475/05, Rn 33 – Kenedi. 39 EGMR, Urt v 14.12.2006, 76918/01, Rn 30 – Verlagsgruppe NEWS GmbH (Nr 1). 40 EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 65 – Sunday Times (Nr 1). 41 Mittlerweile gibt es mehrere Entscheidungen des EGMR zum Quellen- und Informantenschutz, vgl EGMR, Urt v 25.4.2006, 77551/01 – Dammann; NJW-RR 2008, 1141 – Stoll; NJW 2008, 2565 – Tillack. 42 Der EGMR hat entschieden, dass jeder damit auch auf Informationsquellen zurückgreifen darf, die sich außerhalb seines Heimatstaates befinden; EGMR, Urt v 16.12.2008, 23883/06, Rn 44 – Khurshid Mustafa u. Tarzibachi. 43 Vgl dazu Villiger EMRK, 413. 44 Vgl Gornig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988, 291. 45 Probst Art 10 EMRK – Bedeutung für den Rundfunk in Europa, 1996, 24 f.

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zulässig,46 so dass insbesondere aus dem in Art 10 I 3 EMRK vorgesehenen Zulassungsverfahren keine Rechtfertigung staatlicher Vorzensur für Programme und Sendungen abgeleitet werden kann.47 d) Die Kunstfreiheit Fall 1: (EGMR, EuGRZ 1988, 543 ff – Müller) Der Künstler M malte im Rahmen einer Ausstellung an Ort und Stelle drei große Gemälde mit dem Titel „Drei Tage, drei Nächte“. Die Bilder stellten ua homosexuelle Aktivitäten und Sodomie dar. Am Tage der Eröffnung beschwerte sich ein Vater über die Bilder, nachdem seine minderjährige Tochter heftig darauf reagiert hatte. In der Folge wurden die Bilder eingezogen. M wurde wegen unzüchtiger Veröffentlichungen bestraft. Außerdem wurde die Vernichtung der Bilder angeordnet.

Die Kunstfreiheit wird in Art 10 EMRK nicht ausdrücklich erwähnt. Auch künstlerische Aktivitäten sind jedoch Formen der Äußerung im Sinne von Art 10 I EMRK, denn der Künstler bringt durch sein schöpferisches Wirken seine persönliche Weltanschauung und seine Gedanken über die Gesellschaft zum Ausdruck.48 Es ist daher grundsätzlich anerkannt, dass Art 10 EMRK die Freiheit des Kunstschaffens in allen Ausprägungen erfasst. Sie schließt den Werk- und den Wirkbereich ein, erstreckt sich also auch auf Personen, die Kunstwerke interpretieren, verbreiten oder ausstellen.49 Lösung Fall 1: Die Aktivitäten des M, das Erstellen der Kunstwerke und deren Ausstellung, fallen in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit, denn diese ist nicht auf Äußerungen verbaler Art beschränkt. Auch Kunstwerke und Filme fallen in den Schutzbereich von Art 10 I EMRK. Die Verurteilung des M und die vorgesehene Vernichtung der Bilder stellen Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit des Künstlers dar. Ein solcher Eingriff muss, um konventionsrechtlich gerechtfertigt zu sein, auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen und einen nach Art 10 II EMRK zulässigen Eingriffszweck verfolgen. In Betracht zu ziehen ist der Schutz der öffentlichen Moral. Bei der Beurteilung, ob die Maßnahmen diesem Zweck dienen, kommt den zuständigen Organen der Konventionsstaaten ein Beurteilungsspielraum zu, der nur eingeschränkt überprüfbar ist. Die Verurteilung des M dürfte den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen, anders als die angedrohte Vernichtung der Bilder. Im Fall der Vernichtung könnte M seine Bilder auch dort nicht mehr ausstellen, wo sie willkommen sein mögen. Daraus dürfte die Unverhältnismäßigkeit der angedrohten Vernichtung resultieren. Auch eine Rückgabe der Bilder ändert nichts an der Unverhältnismäßigkeit der Androhung (anders aber der Straßburger Gerichtshof).

46 S dazu Meyer-Ladewig EMRK, Art 10 Rn 17a unter Hinweis auf EGMR, HRLJ 2001, 217 – Zypern/Türkei, wonach eine allgemeine Zensur für Schulbücher Art 10 EMRK verletzt; vgl auch Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 62. 47 Gornig (Fn 44) S 294. 48 EKMR, EuGRZ 1986, 702, Rn 70 – Müller. Vgl auch EGMR, RJD 1996-V, 1937 ff – Wingrove und HRLJ 1994, 371 ff – Otto-Preminger-Institut; Urt v 29.3.2005, 40287/98, – Alinak; ÖJZ 2007, 618 – Vereinigung bildender Künstler. 49 EGMR, HRLJ 1994, 371, Rn 56 – Otto-Preminger-Institut.

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e) Presse- und Medienfreiheit 17

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Die Pressefreiheit wird in Art 10 I EMRK nicht ausdrücklich, sondern als Bestandteil der allgemeinen Äußerungs- und Informationsfreiheit geschützt.50 Die EMRK folgt damit der Tradition anderer internationaler Menschenrechtsinstrumente, in denen die Pressefreiheit nicht ausdrücklich genannt, aber ohne Zweifel geschützt wird. Der EGMR hat die zentrale (demokratische) Funktion der Presse, die Öffentlichkeit über Fragen von allgemeinem Interesse zu informieren,51 stets betont und die ihr zukommende Wächterrolle („public watchdog“), die Öffentlichkeit auf Mängel, Fehler und rechtswidrige Machenschaften in Politik und Gesellschaft hinzuweisen,52 als Grundlage eines umfassenden Grundrechtsschutzes fruchtbar gemacht. Der funktionale Schutzbereich der Pressefreiheit schließt auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Geschäftsgebaren einzelner Unternehmen und Unternehmerpersönlichkeiten im Wirtschaftsleben ein.53 Dabei ist die Satire ein erlaubtes Mittel;54 der EGMR anerkennt Freiräume für Provokation und Übertreibung.55 Generell ist beim Schutz der Pressefreiheit zwischen drei Fallgruppen zu unterscheiden: der mit journalistischen Meinungen verbundenen Presseberichterstattung, der Wiedergabe fremder Meinungen56 (ohne dass sich die Presse von zitierten beleidigenden Äußerungen distanzieren muss)57 und der Wiedergabe fremder Tatsachenbehauptungen oder Materialien. Diese Differenzierungen wirken sich vor allem im Kontext der presserechtlichen Sorgfaltspflichten aus.58 Der Schutz der Pressefreiheit erstreckt sich auf alle Informationen und Ideen, die mittels Druckerpresse oder anderer Reproduktionsmethoden der Öffentlichkeit vermittelt werden.59 Ob und inwieweit auch inhaltsferne Hilfsfunktionen, die vom Bundesverfassungsgericht in den Schutzbereich der Pressefreiheit nach Art 5 I 2 GG einbezogen werden,60 und damit nicht zuletzt die gesamte Infrastruktur der Presse (also etwa der Zeitungsvertrieb) unter die Gewährleistung von Art 10 I EMRK fallen, ist noch nicht

50 Die Presse wird lediglich in Art 6 I 2 EMRK im Zusammenhang mit dem Ausschluss der Öffentlichkeit von mündlichen Gerichtsverhandlungen ausdrücklich erwähnt. 51 EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 65 – Sunday Times (Nr 1). 52 EGMR, HRLJ 1992, 30, Rn 50 – Sunday Times (Nr 2); HRLJ 1992, 440, Rn 63 – Thorgeirson; EuGRZ 1995, 16, Rn 59 – Observer und Guardian; jetzt auch EuGRZ 2004, 2647 – von Hannover. 53 EGMR, EuGRZ 1996, 302, Rn 35 – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; hierauf verweist der EGMR auch in NJW 2006, 1255 ff – Steel und Morris. Ähnlich gelagert sind die Urteile des EGMR in den Fällen Series A, Vol 177 – Weber; RJD 1998-VI, 2298 – Hertel und ÖJZ 2002, 855 – Verein gegen Tierfabriken (VGT). Zur Unternehmerpersönlichkeit vgl EGMR, 14.12.2006, 10520/02, Rn 36 – Verlagsgruppe NEWS GmbH (Nr 2). 54 EGMR, Medien&Recht 2007, 71 – Nikowitz (insbesondere die Sachverhaltsdarstellung in Rn 6 und die Verhältnismäßigkeitsprüfung in Rn 26 der Entscheidung). 55 EGMR, Urt v 6.12.2007, 19331/05 – Katrami. 56 Zur Haftung eines Forenbetreibers für beleidigende Nutzerkommentare EGMR, MMR 2014, 35 – Delfi AS. 57 EGMR, Urt v 14.12.2006, 76918/01, Rn 33 – Verlagsgruppe NEWS GmbH (Nr 1). 58 Eingehend zu dieser Differenzierung unter Aufarbeitung der neueren Rspr des EGMR Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 363 ff; zur Einordnung der presserechtlichen Sorgfaltspflichten vgl Rn 48 ff; nicht ganz unproblematisch EGMR, RJD 2000-III, 1, Rn 58 – Özgür Gündem. 59 Vgl Villiger EMRK, 405. 60 BVerfGE 77, 346, 353 f.

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abschließend geklärt. Berücksichtigt man aber, dass der EGMR auch die erforderlichen Übertragungs- und Empfangsmittel in den Schutzbereich der Gewährleistungen des Art 10 I EMRK einbezogen hat,61 und anerkennt man, dass es beim Schutz der Pressefreiheit nicht nur um den Schutz individueller Presseerzeugnisse geht, sondern gerade auch um den Schutz des Pressewesens als solchem, dann kann man nicht die Augen davor verschließen, dass Eingriffe in die Verteilung der Presseerzeugnisse die Presse als Institution sehr empfindlich treffen können. Im Wege der teleologischen Auslegung ist daher die Infrastruktur des Pressewesens in den Schutzbereich der (ungeschriebenen) Pressefreiheit einzubeziehen.62 Umstritten ist, ob Art 10 I EMRK zur Einführung eines Gegendarstellungsrechts verpflichtet. Obwohl das Gegendarstellungsrecht im Bewusstsein seiner Existenz nicht in die EMRK aufgenommen wurde, gibt es gute Gründe, in Verbindung mit Art 8 EMRK jedenfalls für die Fälle, „in denen das Persönlichkeitsrecht durch Presseveröffentlichungen verletzt worden ist“, ein konventionsrechtlich gewährleistetes Gegendarstellungsrecht anzunehmen.63 Es dürfte allerdings überzeugender sein, das Gegendarstellungsrecht allein in Art 8 I EMRK zu verankern64 und es als medienspezifische Form des Ehrschutzes den nach Art 10 II EMRK gerechtfertigten Eingriffen in die Pressefreiheit zuzuordnen.65 Art 10 I 3 EMRK bestätigt, dass die in Art 10 I EMRK garantierten Freiheiten der Äußerung und der Information auch die Freiheit von Rundfunk, Film und Fernsehen einschließen.66 Diese Freiheit umfasst die Herstellung, die Ausstrahlung und den Empfang von Sendungen und Programmen. Die Vorschrift unterscheidet nicht nach der Art der Übermittlung der Information, sondern schließt alle Übermittlungsarten (Äther, Kabel, Satelliten, etc) ein. Im Rahmen der Rundfunk-, Film- und Fernsehfreiheit ist besonders hervorzuheben, dass Art 10 I EMRK den freien internationalen Informationsfluss schützt, denn der Schutz wird „ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen“ (Art 10 I 2 EMRK) gewährleistet. Soweit es um Herstellung, Ausstrahlung und Empfang unabhängig vom organisationsrechtlichen Rahmen geht, ist der Schutzbereich dieser Teilgewährleistung allenfalls hinsichtlich der Berechtigung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten problematisch. Dass der persönliche Geltungsbereich von Art 10 I EMRK Personenvereinigungen und juristische Personen des Privatrechts erfasst, wirft keine besonderen Fragen auf.67 Es dürfte aber auch unzweifelhaft sein, dass ein staatliches Rundfunk- und Fernsehunternehmen gegenüber staatlichen Einflüssen eine ausreichende Freiheit haben muss.68 Anderenfalls würde die Freiheit im Falle staatlicher Monopole, die bis in die 1970er Jahre in Europa üblich waren, leer laufen.

61 EGMR, EuGRZ 1990, 261, Rn 47 – Autronic. 62 Zum Schutz des Verlegers einer Zeitschrift vgl EGMR, ÖJZ 2000, 394, Rn 39 – NEWS Verlags GmbH & Co KG; vgl jetzt auch EGMR, Urt v 10.1.2006, 50693/99 – Halis Dog˘an. 63 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 16. 64 Malinverni HRLJ 1983, 443, 448; in diese Richtung auch EGMR, ÖJZ 2008, 161 – Pfeifer; a.A. Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 46. 65 So das BVerfG zu Art 5 II GG, BVerfGE 63, 131, 142 f. 66 Vgl hierzu die nunmehr recht umfangreiche Spruchpraxis, EGMR, ÖJZ 1990, 482 – B.; EuGRZ 1990, 261 – Autronic; EuGRZ 1994, 549 – Informationsverein Lentia; ÖJZ 1998, 151 – Radio ABC; EuGRZ 2003, 488 – Demuth. 67 Vgl nur EGMR, EuGRZ 1990, 261, Rn 47 – Autronic AG; → § 2 Rn 26. 68 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 19.

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Es bleibt die Frage, welche Bedeutung der Schutzbereich des Art 10 I EMRK für die neuen Medien (Bildschirmtext, Pay-TV und Internet) entfaltet. Ähnlich wie das Grundgesetz unterscheidet die EMRK zwischen dem Schutz von Individual- (Art 8 EMRK) und Massenkommunikation (Art 10 EMRK). Es liegt daher nahe, hinsichtlich neuer Medien bei den Gewährleistungsgehalten eine Differenzierung in Anlehnung an die verschiedenen Kommunikationsformen vorzunehmen.69 Das Versenden und das Empfangen elektronischer Nachrichten (e-mail) fallen in den Schutzbereich von Art 8 EMRK, während die Präsentation von Informationen auf einer Internet-Seite (homepage) durch Art 10 EMRK geschützt wird. Schwierigkeiten ergeben sich allerdings bei Kommunikationsformen, die nicht eindeutig der Individual- oder der Massenkommunikation zuzuordnen sind. Lassen sich bei Diskussionsforen noch Differenzierungen danach vornehmen, ob es sich um moderierte oder offene Foren handelt, so dürfte die Grenze zwischen Individualund Massenkommunikation bei anderen interaktiven Medien zunehmend verschwimmen. Dies ist für die EMRK vor allem deshalb nicht ganz unproblematisch, weil es in der Konvention – anders als im deutschen Grundgesetz – kein Auffanggrundrecht gibt. Es dürfte deshalb kaum möglich sein, im Wege der Auslegung oder der lückenfüllenden Ergänzung der EMRK ein Recht der Internet-Freiheit70 zu begründen. Da aber andererseits auch nicht davon auszugehen ist, dass die Konvention bestimmte Kommunikationsformen schutzlos stellen will, sollte jeweils anhand der konkreten Einzelfälle einer den unterschiedlichen Schutzfunktionen der Art 8 und 10 EMRK entsprechende Zuordnung der einzelnen Handlungen erfolgen.71 Eine solche Lösung kann zudem den differenzierten Schranken der EMRK Rechnung tragen. f) Wissenschaftsfreiheit

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Ähnlich wie die Kunstfreiheit wird die Wissenschaftsfreiheit in der EMRK nicht ausdrücklich gewährleistet. Sie ist allerdings unstreitig Bestandteil der konventionsrechtlich geschützten Meinungsfreiheit.72 Sie erfasst Lehre und Forschung gleichermaßen und erstreckt sich auf den gesamten Prozess zur Erzielung wissenschaftlicher Ergebnisse, auch wenn dieser im Vorfeld des eigentlichen Kommunikationsvorgangs liegt.73 Zu beachten ist, dass es für die innerstaatlich so wichtige objektivrechtliche Dimension der Wissenschaftsfreiheit auf europäischer Ebene nach wie vor an einem sich auf die Organisation von Wissenschaft beziehenden Konsens fehlt,74 so dass einstweilen diesbezügliche Korrekturen nationaler Regelungen auf der Grundlage der EMRK die Ausnahme bleiben dürften.

69 Vgl dazu Grote KritV 1999, 27, 29 ff. 70 Für die Diskussion zum deutschen Recht vgl Mecklenburg ZUM 1997, 525 ff; jetzt auch insbesondere hinsichtlich des Zugangs zum Internet Trenkelbach Internetfreiheit 2005. 71 Zur Multimedia-Diskussion Dörr FS Kriele, 1997, S 1417 ff; vgl auch Bröhmer Europäisches Medienrecht 1998, 79 ff. 72 Vgl nur Grabenwarter/Pabel EMRK § 23 Rn 11. 73 EGMR RUDH 1999, 182, Rn 8 und 36 ff – Wille; ÖJZ 1999, 614, Rn 50 – Hertel. 74 So auch Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 32.

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2. Eingriff Fall 2: (EGMR, NJW 2001, 1195 – Wille) W, Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz des Staates L und ehemaliges Regierungsmitglied, hatte im Rahmen eines wissenschaftlichen Vortrags die Auffassung vertreten, dass dem Staatsgerichtshof des Landes bei einem Streit zwischen Regierung und Parlament über die Auslegung der Verfassung eine Entscheidungskompetenz zukomme. Nach Presseberichten über diesen Vortrag richtete das Staatsoberhaupt ein Schreiben an W, in dem ausgeführt wurde, dass W’s Aussagen gegen Sinn und Wortlaut der Verfassung verstießen und das Staatsoberhaupt, in Ausübung der ihm eingeräumten Rechte, W deshalb nicht mehr für ein öffentliches Amt ernennen werde, auch wenn das Parlament ihn dafür vorschlagen sollte. In einem sich anschließenden Briefwechsel legten der Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz und das Staatsoberhaupt ihre gegensätzlichen Standpunkte ohne Annäherung in der Sache erneut dar. W wurde dem Staatsoberhaupt später vom Parlament für eine weitere Amtszeit als Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz vorgeschlagen. Das Staatsoberhaupt lehnte die neuerliche Ernennung ab. W ist der Auffassung, die Entscheidung des Staatsoberhaupts, ihn für keine neue Amtszeit zu ernennen, sei eine Sanktion für seine bei einem akademischen Vortrag geäußerten Ansichten über die Verfassung und verletze Art 10 EMRK.

Art 10 II EMRK eröffnet Spielräume für staatliche Eingriffe in die Freiheiten des Art 10 I EMRK.75 Ausdrücklich genannt werden bestimmte Eingriffsmodalitäten: Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafandrohungen. Auf der Grundlage dieser Aufzählung lässt sich allerdings weder eine Eingriffstypologie entwickeln, wie schon der weite Begriff „Einschränkungen“ deutlich macht, noch lassen sich die Probleme des Eingriffsbegriffs umfassend erschließen. Ausgangspunkt ist vielmehr die allgemeine Überlegung, dass nicht jede Einschränkung der Grundfreiheiten des Art 10 I EMRK einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff im Sinne der Konvention darstellt.76 Herkömmlich muss der staatliche Hoheitsakt unmittelbar und wesentlich in das Recht der geschützten Person eingreifen. Dieser Eingriffsbegriff erfasst ohne Zweifel Veröffentlichungsverbote, wobei zu beachten ist, dass der EGMR eine Vorzensur im Regelfall nicht zulässt, weil sie das für den Schutzbereich und die Rechtfertigung von Eingriffen zentrale Verhältnis zwischen Regel und Ausnahme tendenziell verkehrt.77 Unter den „klassischen“ Eingriffsbegriff fallen aber auch Sanktionen disziplinar-, arbeits-, verwaltungs- oder gar strafrechtlicher Art, die an bestimmte Mitteilungen geknüpft werden.78 Der enge Begriff des „Grundrechtseingriffs“, der im Rahmen der Art 8 bis 11 EMRK grundsätzlich zur Anwendung kommt,79 wird in Bezug auf die Kommunikationsgrundrechte seit geraumer Zeit kritisch hinterfragt und weiterentwickelt. Dabei geht es etwa darum, indirekte Sanktionen wie etwa Berufsverbote und Schadensersatzrisiken zu erfas-

75 Zur Beschränkbarkeit von Art 10 EMRK erläuternd Grabenwarter/Pabel EMRK § 23 Rn 12. 76 Marauhn/Merhof in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 7 Rn 10. 77 Zwar hat der EGMR im Fall Observer und Guardian, EuGRZ 1995, 16, Rn 60, Verbotsanordnungen vor der Veröffentlichung nicht ausgeschlossen, hierfür aber einen strengen Prüfungsmaßstab verlangt. Zur Bewertung dieser Entscheidung Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 24; vgl auch Probst (Fn 45) S 25. 78 Villiger EMRK, 391 f.; Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 63. 79 Villiger EMRK, 344; vgl auch Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 5–6; → ausf dazu § 2 Rn 70 f.

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sen, denn auch durch diese können unerwünschte Meinungsäußerungen unter Umständen sehr wirksam beschränkt werden.80 Richtigerweise sind daher auch faktische Einschüchterungsversuche als Eingriff zu werten.81 Weitergehend beurteilte der EGMR die Weigerung deutscher Gerichte, einer Kündigungsschutzklage im Fall von „whistleblowing“ stattzugeben, als Eingriff in Art 10 EMRK.82 Dies berührt auch die im Schrifttum thematisierte Frage der so genannten Drittwirkung der Kommunikationsgrundrechte.83 In ähnlicher Weise ist, ausgehend von der Überlegung, dass „gezielt einseitige Berichterstattung und Beeinflussung im staatlichen Rundfunk und Fernsehen einen Verstoß gegen die Freiheit der Meinungsbildung“84 darstellen kann, zu diskutieren, ob die immer stärker anwachsende private Medienmacht und die private Medienkonzentration die Meinungsfreiheit in vergleichbarer Weise beeinträchtigen können. Zwar sind die Konventionsorgane in Sachen Drittwirkung zurückhaltend.85 Jedoch eröffnet das Konzept „positiver Pflichten“, das – weniger im Kontext von Art 10 EMRK86 als vielmehr anhand wichtiger Streitfälle im Rahmen von Art 8 EMRK (→ vgl dazu § 3 Rn 26 f) – von den Straßburger Organen anerkannt worden ist, Spielräume, den für die demokratische Gesellschaft im Sinne von Art 10 II EMRK so zentralen Pluralismus effektiv zu sichern.87 Im konkreten Fall ging es bei Schutzpflichten gleichwohl weniger um eine Rechtfertigung anhand von Art 10 II EMRK, sondern um eine Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit und den betroffenen Individualinteressen im Rahmen von Art 10 I EMRK.88 Mag man schon indirekte Sanktionen zu den subtileren Beeinträchtigungen der Meinungsfreiheit zählen, so gilt dies erst recht für die Androhung von Sanktionen, deren Ausführung selbst kein Konventionsrecht entgegensteht. Nach Auffassung des EGMR kommt es in einem solchen Fall weder darauf an, ob der Inhalt der Drohung konventionswidrig ist, noch darauf, ob die Drohung selbst unmittelbare Rechtswirkungen entfaltet. Maßgeblich ist allein, ob die Maßnahme bezweckt, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken.89 Ausgehend von vorsichtigen Modifikationen des Eingriffsbegriffs in Richtung auf eine Öffnung gegenüber anderen als gezielten Einwirkungen auf den Schutzbereich in früheren Entscheidungen90 und unter Berücksichtigung der Anerkennung faktischer Einschüchterungsversuche als Eingriff 91 spricht vieles dafür, bei der Prüfung einschlägiger

80 Näher dazu Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 36. 81 EGMR, NJW 2001, 1195 – Wille und die entsprechende Bewertung bei Grote/Wenzel in: Dörr/ Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 64. Zurückhaltend Grabenwarter/Pabel EMRK § 23 Rn 17. 82 EGMR EuGRZ 2011, 355 – Heinisch. 83 Probst (Fn 45) S 27 f; Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 285 f; Dröge Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2003, 38 f; → auch § 2 Rn 58. Vgl jetzt auch EGMR, RJD 2000-III, 1, Rn 43 – Özgür Gündem. 84 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 4. 85 Näher dazu Probst (Fn 45) S 27; vgl EKMR, DR 62, 151 ff – Rommelfanger. 86 Vgl aber EKMR, DR 49, 5 ff – X. 87 Zum Pluralismus als Grundlage der Meinungs- und Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft EGMR, EuGRZ 1994, 549, Rn 38 – Informationsverein Lentia. 88 So jedenfalls der Prüfungsansatz bei Art 8 EMRK: EGMR, Series A, Vol 160, Rn 42 – Gaskin; Series A, Vol 172, Rn 41 – Powell und Rayner. 89 Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 359. 90 Vgl etwa EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 44 – Lingens; Series A, Vol 149, Rn 29 – Barfod. 91 EGMR, NJW 2001, 1195, Rn 44 ff – Wille. Krit Grabenwarter/Pabel EMRK § 23 Rn 17; vgl auch Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 359.

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Sachverhalte zunächst vom klassischen Eingriffsbegriff auszugehen, dann aber im Hinblick auf Modifikationen, die sich angesichts spezifischer Grundrechtsgefährdungen kaum von der Hand weisen lassen, fallspezifische Weiterungen zuzulassen. Lösung Fall 2: Prima facie könnte man annehmen, es gehe in diesem Fall hauptsächlich um den Zugang zum öffentlichen Dienst. Ein solches Recht wurde nicht in die Konvention aufgenommen. Trotzdem können sich öffentliche Bedienstete gegen ihre Abberufung wehren, falls diese Abberufung ihre aus der Konvention erwachsenden Rechte verletzen würde. Hier kommt die Meinungsäußerungsfreiheit in Betracht, deren Schutzbereich im konkreten Fall eröffnet ist. Es ist dann zu prüfen, ob ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung in Form einer „Formalität, Bedingung, Beschränkung oder Strafe“ vorliegt oder ob die Maßnahme im Bereich des Zugangs zum öffentlichen Dienst lag, der nicht im Schutzbereich der Konvention liegt. Das Hauptaugenmerk bei Prüfung dieser Frage ist auf den Brief des Staatsoberhaupts an W zu richten. Diesen Brief erhielt W während seiner Amtszeit als Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz, ohne dass eine Neubesetzung dieser Position aktuell gewesen wäre. Aus dem Inhalt des Briefes geht hervor, wie sich das Staatsoberhaupt in Ausübung der ihm eingeräumten Rechte zukünftig gegenüber W zu verhalten gedenke. Zu prüfen ist also, ob bereits der bloßen Absichtserklärung Eingriffscharakter zuzumessen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ankündigung des Staatsoberhauptes, W nicht mehr für ein öffentliches Amt ernennen zu wollen, eine Rüge für die von W getätigten Äußerungen darstellte und diesen entmutigen sollte, sie in Zukunft zu wiederholen. Zwar ist die Nichternennung als solche nicht konventionswidrig. Die Androhung zielt aber darauf, die Meinungsäußerungsfreiheit des W zu unterdrücken. Sie stellt daher, obwohl sie selbst nicht unmittelbar rechtlich wirkt, einen Eingriff in das Recht des W auf Freiheit der Meinungsäußerung dar und lässt sich nicht als ein den späteren Rechtsakt lediglich vorbereitender Akt qualifizieren. Unter der Annahme, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war und einen legitimen Zweck verfolgte, ist weiter zu prüfen, ob dieser in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Dabei könnte der Stellung W’s als hochrangigem Richter besondere Bedeutung zukommen, denn bei der Freiheit der Meinungsäußerung solcher Personen bekommen die Pflichten und die Verantwortung in Art 10 II EMRK eine besondere Bedeutung. Insbesondere kann von W Zurückhaltung bei der Ausübung dieses Rechts erwartet werden, um nicht die Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung in Frage zu stellen. Der Vortrag war Teil einer Reihe akademischer Vorlesungen zum Thema Verfassungsrecht und hatte fast zwangsläufig auch politische Zusammenhänge. Allein wegen dieser Tatsache sollte W aber nicht davon abgehalten werden, sich zu solchen Themen äußern zu können. Die Ansichten waren auch nicht unhaltbar. Sie hatten zudem offensichtlich keinen Einfluss auf seine Amtsführung als Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz. Daher ist der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig. Es liegt eine Verletzung von Art 10 EMRK vor.

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3. Rechtfertigung Eingriffe in die durch Art 10 I EMRK geschützten Freiheiten sind gerechtfertigt und damit konventionsgemäß, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, einen der in Art 10 II EMRK abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind. Diese Bedingungen müssen kumulativ vor-

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liegen.92 Was die von Art 10 II EMRK zugelassenen Eingriffszwecke betrifft, so fällt auf, dass es sich im Vergleich mit den anderen Konventionsgewährleistungen um den umfangreichsten Beschränkungskatalog der Konvention handelt.93 Ungewöhnlich ist auch, dass Art 10 II EMRK der Aufzählung der zugelassenen Eingriffszwecke eine Begründung voranstellt: dass die Ausübung der gewährleisteten Kommunikationsgrundrechte Pflichten und Verantwortung mit sich bringt. Nachdem der EGMR in einer frühen Entscheidung noch betont hatte, dass derjenige, der die Kommunikationsfreiheiten des Art 10 I EMRK ausübt, Pflichten und Verantwortlichkeiten „übernimmt“,94 hat er später klar gestellt, dass aus dieser Eingangs- oder Begründungsformel keine eigene Grundlage für Einschränkungen folgt.95 Möglicherweise sollten mit der Formel eher die weitreichenden Beschränkungsmöglichkeiten mit dem spezifischen Gefahrenpotential von Massenmedien in Verbindung gebracht und damit legitimiert werden.96 Der EGMR ist allerdings offensichtlich der Auffassung, dass die Ausübung der Meinungsfreiheit „ein gewisses Verantwortungsbewußtsein“97 voraussetzt. Dies schlägt sich in drei unterschiedlichen Fallkonstellationen98 nieder, nämlich (1) in weitergehenden Beschränkungsmöglichkeiten bei Personen in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Status- oder Funktionsverhältnis,99 (2) bei mit der Meinungsäußerung möglicherweise verbundenen Verletzungen des sittlichen oder religiösen Empfindens anderer100 und (3) in Gestalt einer besonderen Inpflichtnahme der Presse101. a) Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage 31

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Fall 3: (EGMR, RJD 1998-VII, 2719 ff – Steel) A stellte sich bei einer Demonstration von Tierschützern gegen die Moorhuhnjagd vor einen Jäger und hinderte diesen so am Einsatz seiner Schusswaffe. Sie wurde wegen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung festgenommen und verurteilt. Das Gericht zweiter Instanz forderte A auf, einer Anordnung zuzustimmen, die sie verpflichtet hätte, für die nächsten zwölf Monate nicht gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu verstoßen, widrigenfalls eine zu hinterlegende Kaution verfiele. Da A dies ablehnte, wurden sie zu 28 Tagen Haft verurteilt. A behauptet eine Verletzung von Art 10 EMRK.

Vorausgesetzt wird in der Regel eine die Behörde zum Eingriff ermächtigende generellabstrakte Norm, der innerstaatlich Gesetzeskraft zukommt, auch wenn es sich um einen im Ausgangspunkt völkerrechtlichen Rechtsakt102 handelt. Dies schließt, in Abhängigkeit vom jeweiligen Rechtsquellensystem,103 auch ungeschriebenes Recht ein. Allerdings muss

92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103

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Zum Prüfungsaufbau vgl auch EGMR, 31.1.2006, Rn 38 – Giniewski. So auch Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 23. EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 49 – Handyside. EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 46 – Thorgeirson. Probst (Fn 45) S 28. So die Formulierung bei Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 71. Eingehend dazu Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn, KK Kap 18 Rn 72. Exemplarisch EGMR, EuGRZ 1995, 590, Rn 61 – Vogt. Vgl jüngst EGMR, Urt v 31.1.2006, 64016/00, Rn 43 – Giniewski. Hierzu schon EGMR, Series A, Vol 298, Rn 31 – Jersild. EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 68 – Groppera Radio AG. Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 20.

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die gesetzliche Grundlage hinreichend zugänglich und vorhersehbar104 sein (→ § 2 Rn 76). Ob hier mit dem EGMR auch auf besondere Kenntnisse des konkreten Normadressaten (etwa eines Rechtsanwalts) abgestellt werden kann,105 dürfte eher zweifelhaft sein.106 Probleme treten insbesondere im Zusammenhang mit der Verwendung eines erweiterten Eingriffsbegriffs auf. Werden nämlich faktische Einschüchterungsversuche als Eingriff qualifiziert,107 so wird es häufig schwierig sein, eine spezielle Rechtsgrundlage im Sinne von Art 10 II EMRK zu finden. Dies führt nicht per se zur Unzulässigkeit des Eingriffs, wenn man berücksichtigt, dass Art 10 II EMRK von seiner Struktur her eigentlich auf rechtliche Eingriffe zugeschnitten ist. Es dürfte bei faktischen Eingriffen daher zulässig sein, vom Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage abzusehen, soweit die Maßnahme im Übrigen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt.108 Lösung Fall 3: Zunächst ist zu klären, ob überhaupt der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit betroffen ist. A hat den Jäger physisch an der Ausübung der Jagd gehindert. Es handelt sich also um eine Realhandlung. Allerdings soll diese mit einem gewissen Störungspotential das Missfallen an der Mohrhuhnjagd zum Ausdruck bringen. Die Handlung lässt sich als solche also dem Schutzbereich von Art 10 I EMRK zuordnen. Fraglich ist allerdings, ob die Unfriedlichkeit dieser Handlung und die somit durch drittstörendes Tun vermittelte Meinungsäußerung der Einordnung in den Schutzbereich entgegensteht. Die Störung Dritter ist jedoch kein Problem des Schutzbereichs, sondern eines der konventionsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs. Der Eingriff liegt in der gerichtlichen Verurteilung und der Verhängung von Haft. Eine Rechtfertigung ist grundsätzlich nur möglich, wenn der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruht. Die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wurde in den letzten Jahrzehnten von der innerstaatlichen Rechtsprechung des betroffenen Landes so präzisiert, dass es nun hinlänglich klar ist, dass eine solche Störung nur vorliegt, wenn das Verhalten einer Person einen Schaden gegenüber einer anderen Person oder Sache verursacht oder verursachen könnte. Es ist ebenso ausreichend klar, dass eine solche Person deswegen festgenommen und angehalten werden kann. Das von der Konvention verlangte Mindestmaß an Deutlichkeit innerstaatlicher Rechtsnormen ist demnach gegeben. Die Festnahme von A verfolgte die legitimen Zwecke der Aufrechterhaltung der Ordnung und des Schutzes der Rechte anderer. Die verhängte Haft verfolgte überdies den Zweck, das Ansehen der Rechtsprechung im Sinne von Art 10 II EMRK zu gewährleisten. Die innerstaatlichen Gerichte konnten wegen der Weigerung der A, sich zu verpflichten, für die nächsten zwölf Monate nicht gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu verstoßen, begründeterweise annehmen, dass sie mit ihren Protestaktivitäten in dieser Art und Weise fortfahren würde. Wegen der großen Bedeutung, die der Rechtsstaatlichkeit und dem Ansehen der Rechtsprechung in einer demokratischen Gesellschaft zukommen, kann die Haft der A trotz der Dauer von 28 Tagen (noch) als verhältnismäßig angesehen werden.

104 Dazu, dass die Vorhersehbarkeit durch widersprüchliche gerichtliche Entscheidungen trotz an sich hinreichender Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage beeinträchtigt werden kann, vgl EGMR, Urt v 17.1.2006, 35083/97, Rn 54 – Goussev und Marenk. 105 EGMR, RJD 2004-III, 197, Rn 33 – Amihalachioacie. 106 Zu Recht kritisch Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 20. 107 → Vgl dazu o Rn 24 ff. 108 So auch Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 359.

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b) Die zulässigen Eingriffszwecke 34

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Im Rahmen der nach Art 10 II EMRK zulässigen Eingriffszwecke, die den Bezugspunkt für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit bilden, kommt dem Schutz des guten Rufes anderer zentrale Bedeutung zu.109 Da Beleidigungstatbestände je nach Fassung und Anwendung die Meinungsfreiheit erheblich einschränken können, ist in Anbetracht der Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie (auf die Art 10 II EMRK mit der typischen Formulierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes „in einer demokratischen Gesellschaft … notwendig“ hinweist) sowohl eine restriktive Auslegung des Eingriffszwecks als auch besondere Sorgfalt bei der Prüfung der Rechtfertigung hierauf beruhender Eingriffe geboten.110 Nur auf diese Weise lässt sich die vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten als „chilling effect“111 bezeichnete Gefahr in Grenzen halten, dass Menschen Äußerungen allein deshalb unterlassen, weil sie befürchten, dass ihnen aus der Meinungsäußerung Nachteile erwachsen. Andererseits hat der EGMR nie einen Zweifel daran gelassen, dass Beleidigungsvorschriften zum Schutz des Rechtsfriedens notwendig sind. Insbesondere gilt der Beleidigungsschutz auch für Politiker.112 Allerdings hat der Gerichtshof, insoweit einer demokratisch-funktionalen Auslegung folgend, die Grenzen einer Kritik an Politikern weiter gezogen als im Fall von Privatpersonen.113 Dies ist letztlich eine Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Ein besonderes Problem stellt der „Ehrschutz“ von staatlichen Institutionen dar. Nachdem der EGMR zunächst einen solchen Beleidigungsschutz anerkannt hatte,114 scheint er inzwischen davon abgerückt zu sein.115 So hat er die Bestrafung eines Wehrpflichtigen wegen Kollektivbeleidigung der griechischen Armee unter dem Gesichtspunkt der nationalen und öffentlichen Sicherheit als unverhältnismäßig angesehen.116 Indem der EGMR die Funktionsfähigkeit der Armee zum geschützten Rechtsgut erhob, dürfte er implizit nunmehr einen besonderen Ehrschutz von staatlichen Institutionen ablehnen.117 Eng verwandt mit dem Beleidigungsschutz ist der Schutz der Rechte anderer. Dieser Eingriffszweck überschneidet sich teilweise mit dem des Ehrschutzes. Allerdings lassen sich dem Schutz der Rechte anderer weitere Eingriffszwecke zuordnen. So hat der EGMR

109 Vgl jetzt EGMR, ÖJZ 2008, 161, Rn 35 – Pfeifer. 110 Differenzierend Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 294 ff; ähnlich Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 32. 111 Zum „chilling effect“ vgl US Supreme Court, NAACP/Alabama ex rel Patterson, 357 US 449 (1958); zu Lehre und Rspr in Deutschland s Grimm NJW 1995, 1703 ff; zur EMRK vgl insb EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 68 – Thorgeirson und Prepeluh ZaöRV 2001, 771, 819 f. 112 EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 36 – Lingens; hierzu auch EGMR, ÖJZ 2008, 161 – Pfeifer. 113 EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 42 – Lingens; EuGRZ 1991, 216, Rn 59 – Oberschlick; vgl dazu Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 294 ff. 114 EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 59 – Thorgeirson (Ehrschutz öffentlicher Einrichtungen); Series A, Vol 236, Rn 46 – Castells (Ehrschutz der Regierung). 115 Hierfür spricht auch EGMR, ÖJZ 2007, 618, Rn 34 – Vereinigung Bildender Künstler; vgl ferner EGMR, Urt v 6.12.2007, 19331/05, Rn 37 – Katrami. 116 EGMR, RJD 1997-VII, 2575, Rn 47 – Grigoriades; zur Geltung von Art 10 EMRK für Soldaten vgl EGMR, Series A, Vol 302, Rn 36 – Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs und Gubi. 117 So ausdrücklich Richter Jambrek in seinem Sondervotum: EGMR, RJD 1997-VII, 2595, Rn 3–4 – Grigoriades. Eingehend zur Beleidigungsfähigkeit von Streitkräften Nolte AfP 1996, 313 ff.

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anerkannt, dass der Schutz der religiösen Auffassungen anderer118 wie auch der Schutz der Privat- und Intimsphäre anderer119 Eingriffe in die Meinungs- und in die Informationsfreiheit rechtfertigt. In Erwägung zu ziehen ist der Schutz der Rechte anderer auch im Zusammenhang mit der Verbreitung kommerzieller Informationen. Eingriffe auf der Grundlage von Regelungen über den unlauteren Wettbewerb lassen sich diesem Eingriffszweck zuordnen.120 Auch das Recht auf effektive Demokratie qualifiziert der EGMR als „Recht anderer“.121 Es ist nicht zu verkennen, dass sich dieser Eingriffszweck damit zu einer Art Generalklausel entwickelt. Im Hinblick auf die Zulässigkeit und Notwendigkeit politischer Kritik erweisen sich auch die Eingriffszwecke der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit und der öffentlichen Sicherheit als ausgesprochen sensibel. Das Verteilen von Flugblättern, die eine Aufforderung zur Fahnenflucht verbunden mit konkreten Hinweisen auf Desertionsmöglichkeiten enthalten, lässt sich als Gefahr für die nationale Sicherheit werten.122 Nichts anderes gilt für das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen,123 wobei diesbezüglich auch der Schutz der Rechte anderer in Erwägung zu ziehen ist. Eher zweifelhaft ist es, die Veröffentlichung der Erinnerungen eines früheren Mitglieds des Geheimdienstes124 als solche dem Schutz der nationalen Sicherheit zuzuordnen, insbesondere wenn man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass es eher um den Schutz des Geheimdienstes als um den der nationalen Sicherheit geht.125 In einer Reihe von Fällen gegen die Türkei hat der EGMR ausdrücklich auf den Schutz der territorialen Unversehrtheit Bezug genommen und anerkannt, dass die Unterdrückung separatistischer prokurdischer Aussagen aus diesem Grund ebenso wie aus Gründen der nationalen Sicherheit erfolgen kann.126 118 EGMR, HRLJ 1994, 371, Rn 47 f – Otto-Preminger-Institut; RJD 1996-V, 1937, Rn 52 ff – Wingrove. 119 Dazu jetzt EGMR, RJD 2001-I, 263, Rn 68 f – Tammer; NJW 2004, 2647 Rn 63–66 – von Hannover (entgegen BVerfGE 101, 361, 390 f). Zuvor schon Frowein in: ders/Peukert Art 10 EMRK Rn 33, unter Bezugnahme auf Art 8 EMRK. 120 EGMR, EuGRZ 1985, 150 ff – Barthold; EuGRZ 1996, 302 ff – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; HRLJ 1994, 184 ff – Casado Coca. 121 EGMR, RJD 1998-VI, 2356, Rn 54 – Ahmed; zuvor schon angedeutet in EGMR, RJD 1998-I, 175, Rn 38 – Bowmann; näher dazu Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 360; Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 92. 122 EKMR, DR 19, 5, 38 f – Arrowsmith. 123 EKMR, DR 56, 205, 209 – Kühnen. 124 Hiervon zu unterscheiden sind die unzweifelhaft dem Schutz der nationalen Sicherheit zuzuordnenden Verbote der Veröffentlichung geheimdienstlicher Dokumente als solcher (EGMR, ÖJZ 1995, 469, Rn 36 – Weekblad Bluf!) oder militärischer Geheimnisse (EGMR, NJW 1993, 1697, Rn 43 – Hadjianastassiou). 125 So die zutr Kritik von Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 29 am EGMR im Fall Observer und Guardian, EuGRZ 1995, 16, Rn 56 und 69; vgl auch die Sondervoten der Richter Petitti (dem sich Richter Pinheiro Farinha anschloss) und Morenilla, zusammengefasst in EuGRZ 1995, 23 ff. 126 Vgl statt aller EGMR, RJD 2002-X, 301, Rn 40 und Rn 48–49 – Arslan (mit kritischen Anmerkungen des EGMR zum konkreten Fall). Wenn Äußerungen mit einem Aufruf zur Gewalt verknüpft sind, lässt der EGMR einen größeren Beurteilungsspielraum zu; kritisch dazu, dass der EGMR bislang noch keine klaren Kriterien dafür entwickelt hat, wann von einem Aufruf zur Gewalt auszugehen ist, Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 362; zahlreiche weitere Nachw aus der Rechtsprechung bei Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 88 (dort Fn 389).

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Der Eingriffszweck der Aufrechterhaltung der Ordnung (und der Verbrechensbekämpfung) schützt nicht nur die öffentliche Ordnung als solche,127 sondern ermöglicht auch den Schutz der Ordnung spezifischer sozialer Gruppen oder von Institutionen.128 Zu denken ist in diesem Kontext etwa an den Schutz der Streitkräfte,129 den Schutz von Strafanstalten,130 aber auch an Standesregeln,131 die im Zusammenhang mit der Verbreitung kommerzieller Informationen bemüht wurden. Soweit sich die Verbreitung rassistischer Äußerungen132 oder auch der Auschwitzlüge133 nicht oder nur teilweise anderen Eingriffszwecken zuordnen lassen, ist ein Rückgriff auf die Aufrechterhaltung der Ordnung (gegebenenfalls auch kumulativ) in Erwägung zu ziehen. Die Ausgestaltung der Rundfunkordnung, die schon Art 10 I 3 EMRK insoweit ermöglicht, als in diesem Bereich tätige Unternehmen einem Genehmigungsverfahren unterworfen werden können, lässt sich, soweit es dabei um wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen geht, nur dann zweifelsfrei Art 10 II EMRK zuordnen, wenn in diesem Zusammenhang der Eingriffszweck der Aufrechterhaltung der Ordnung bemüht wird.134 Zu beachten ist dabei allerdings, dass im Rahmen der Gewährleistungen der Art 8–11 EMRK allein Art 8 II EMRK ausdrücklich auf „das wirtschaftliche Wohl des Landes“ Bezug nimmt. Zu den eher problematischen Eingriffszwecken, die sich eigentlich nur durch eine strikte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf ein dem Schutz der Kommunikationsfreiheiten gerecht werdendes Maß reduzieren lassen, gehört der Schutz der Moral, der sich für staatliche Behörden als erheblich attraktiver erweist als der in unmittelbarem Zusammenhang damit genannte Schutz der Gesundheit. Der Schutz der Moral ist insbesondere im Zusammenhang mit pornographischen Schriften und Videofilmen bemüht worden. Gelegentlich tritt er gleichwertig neben den Schutz der Rechte anderer, etwa im Zusammenhang mit dem Schutz religiöser Überzeugungen. Die besondere Problematik beim Schutz der Moral liegt sicherlich darin, dass das Verständnis von „Moral“ stark von unterschiedlichen Vorstellungen geprägt ist, es keine europäische Konzeption davon gibt und der EGMR möglicherweise weniger zur Beurteilung der Lage geeignet ist als staatliche Behörden.135 Das Problem des an dieser Stelle in Gestalt eines den staatlichen Behörden und Gerichten verbleibenden Beurteilungsspielraums („margin of appreciation“/„marge d’appreciation“)136 ist im Kontext des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu diskutieren (→ Rn 41).

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Dazu EGMR, ÖJZ 1994, 173, Rn 28 – Chorherr. Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 30. EGMR, EuGRZ 1976, 221, Rn 98 – Engel. EGMR, EuGRZ 1975, 91, Rn 45 – Golder (zu Art 8 II EMRK). Vgl auch Laeuchli/Bosshard Die Meinungsfreiheit gem Art 10 EMRK unter Berücksichtigung der neueren Entscheidungen und der neuen Medien, 1990, 165 ff. EGMR, HRLJ 1994, 184 ff – Casado Coca. EGMR, Series A, Vol 298, Rn 33–35 – Jersild. EKMR, DR 29, 194 ff – X; DR 82, 117 ff – Remer. Der Gerichtshof hat in einem obiter dictum festgestellt, dass das Leugnen der geschichtlichen Tatsache des Holocausts kraft Art 17 EMRK nicht dem Schutz von Art 10 EMRK unterfalle; EGMR, RJD 1998-VII, 2864, Rn 47 – Lehideux und Isorni. Zum Verhältnis zwischen Art 10 I 3 und Art 10 II EMRK → vgl unten Rn 57. EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 48 – Handyside; EuGRZ 1988, 543, Rn 34 – Müller. Allgem zum Beurteilungsspielraum Brems ZaöRV 1996, 240ff; zum Beurteilungsspielraum im Kontext der Pressefreiheit Prepeluh ZaöRV 2001, 771 ff.

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Der Schutz der Verbreitung von vertraulichen Nachrichten hat bislang in der Spruchpraxis keine besondere Rolle gespielt. Bei staatlichen Nachrichten liegt hier ein Zusammenhang mit dem Schutz nationaler Sicherheit nahe.137 Ob und inwieweit dieser Eingriffszweck auch zum Schutz der Vertraulichkeit privater Nachrichten herangezogen werden kann, dürfte in Anbetracht neuerer technischer Entwicklungen noch zu klären sein. Immerhin sehen nationale telekommunikationsrechtliche Regelungen den Vertraulichkeitsschutz auch für private Nachrichten vor. Zwar schützt Art 8 EMRK die private Kommunikation vor dem Zugriff Privater allenfalls in engen Grenzen, so dass ein (positiver) Schutzanspruch aus der EMRK nur unter bestimmten, hier nicht näher zu diskutierenden Voraussetzungen in Betracht kommt.138 Werden aber private Nachrichten durch die staatliche Gesetzgebung geschützt,139 so können sich diese Schutzmaßnahmen durchaus als Eingriffe in den Schutzbereich von Art 10 I EMRK darstellen, deren Rechtmäßigkeit anhand von Art 10 II EMRK zu prüfen ist. Der Schutz des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung war aus der deutschen Perspektive lange von eher geringer Bedeutung, wurde dieser Grund doch in erster Linie zum Schutz des Rechtsinstituts des „contempt of court“, wie er in den Rechtsordnungen des common law bekannt ist, aufgenommen.140 Allerdings ist dieser Eingriffszweck (neben dem der Aufrechterhaltung der Ordnung) heute im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Gerichtsverfahren zu beachten.141

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c) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Wie bei den übrigen Einschränkungsklauseln der Art 8–11 EMRK ist auch bei der Rechtfertigung von Eingriffen in die Schutzbereiche von Art 10 I EMRK nicht nur zu prüfen, ob ein zulässiger Zweck verfolgt wird. Vielmehr müssen Eingriffe in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, um den Anforderungen von Art 10 II EMRK zu genügen.142 Ob dies der Fall ist, entscheiden die Konventionsorgane.143 In Anbetracht der besonderen Bedeutung der Kommunikationsfreiheiten des Art 10 I EMRK für demokratisch verfasste Gesellschaften kommt der Prüfung der Notwendigkeit eines Eingriffs und damit der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Art 10 II EMRK besondere Bedeutung zu (allgem zur Verhältnismäßigkeitsprüfung → § 2 Rn 80).144 Nicht nur müssen die oben genannten Eingriffszwecke als Ausnahmen eng interpretiert und ein Eingriff überzeugend begründet werden. Vielmehr besteht grundsätzlich sogar eine Vermutung für die Zulässigkeit einer

137 So Laeuchli/Bosshard (Fn 130) S 180. Vgl im Übrigen die Kommissionsentscheidungen: Yearbook of the European convention on human rights 13, 888 ff – X und DR 35, 224 ff – Z. 138 Zur Bedeutung von Art 8 EMRK für die Verwendung kryptographischer Verfahren vgl Diregger DuD 1998, 28 ff. 139 EGMR, NJW 1999, 1315, Rn 43 – Fressoz und Roire. 140 EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 56 f – Sunday Times (Nr 1). 141 So nunmehr EGMR, RJD 1997-V, 1534, Rn 49 – Worm. Vgl auch die rechtsvergleichende Perspektive bei Gehring ZRP 2000, 197 ff. 142 Trotz ausdifferenzierter Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt der EGMR regelmäßig ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis („pressing social need“), vgl statt aller EGMR, NJW-RR 2008, 1141, Rn 105 – Stoll. 143 So jüngst bspw EGMR,Urt v 8.7.2008, 33629/06 – Vajnai („roter Stern“). 144 So auch der EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 63 – Thorgeirson; Series A, Vol 236, Rn 42 – Castells.

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Meinungsäußerung.145 Dies ist auf den ersten Blick überzeugend, hat aber eine nicht unproblematische Differenzierung zur Folge, die sich gerade aus dem zwischen demokratischer Ordnung und Meinungsäußerungsfreiheit bestehenden Zusammenhang ergibt. Der EGMR privilegiert nämlich die politische Meinungsäußerung gegenüber anderen Meinungsäußerungen bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes146 und interpretiert Art 10 EMRK insoweit demokratisch-funktional.147 Auch wenn man die daraus resultierende Diskriminierung kommerzieller und anderer nicht-politischer Meinungsäußerungen nicht teilt, so wird man dem EGMR zumindest konzedieren müssen, dass die Differenzierung mit guten Gründen nicht schon am Schutzbereich ansetzt, sondern erst im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen zum Tragen kommt. Allein dieser Ansatz ist dogmatisch haltbar. Für eine Differenzierung des Schutzbereichs gibt Art 10 I EMRK insoweit nichts her. Auch wenn die Straßburger Spruchpraxis bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes regelmäßig nicht zwischen der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit eines Eingriffs unterscheidet, so lassen sich doch Anhaltspunkte für eine Struktur der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von Art 10 II EMRK ausmachen.148 Dabei ist es trotz der Zurückhaltung des EGMR zu empfehlen, zunächst die Geeignetheit eines Eingriffs und dessen Erforderlichkeit zu prüfen. Der Maßstab variiert nach Maßgabe des Eingriffsziels.149 Schon an der Geeignetheit eines Veröffentlichungsverbots dürfte es fehlen, wenn – wie im Fall der Erinnerungen eines früheren Mitgliedes des britischen Geheimdienstes – das betreffende Werk im Ausland (im konkreten Fall in den Vereinigten Staaten) schon veröffentlicht worden war.150 Auch das Verbot, in Irland über Abtreibungsmöglichkeiten in Großbritannien zu informieren, wirft Fragen der Geeignetheit auf, wenn interessierte Frauen die Auskünfte ohne großen Aufwand auch anderweitig (etwa über britische Telefonbücher oder Zeitschriften) einholen können.151

145 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 26. 146 So auch die Einschätzung von Villiger EMRK, 400 und Brems ZaöRV 1996, 240, 274 f. Dazu, dass der weite Beurteilungsspielraum nationaler Behörden im Bereich des wirtschaftlichen Lebens in bestimmten Fallkonstellationen Einschränkungen erfahren hat, vgl Prepeluh ZaöRV 2001, 771, 805 ff. Grabenwarter merkt hierzu an, dass in „jüngerer Zeit … Meinungsäußerungen von politischem oder allgemeinem Interesse der Presse gleichgestellt“ werden (Grabenwarter/ Pabel EMRK, § 23 Rn 25). Dabei verkennt der EGMR allerdings nicht die Unterscheidung zwischen politischer und persönlicher Debatte, dazu nur EGMR, ÖJZ 2001, 693, Rn 40 – Jerusalem. Zum fast uneingeschränkten Schutz einer künstlerischen Meinungsäußerung mit politischer Ausrichtung vgl EGMR, ÖJZ 2007, 618, Rn 26 ff – Vereinigung bildender Künstler. 147 Zum Zusammenhang zwischen Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation nach wie vor einschlägig: Böckenförde NJW 1974, 1529 ff. 148 Dazu Marauhn/Merhof in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 7 Rn 48 ff. 149 Eingehend Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 100 ff. 150 Wenig überzeugend insoweit EGMR, EuGRZ 1995, 16, Rn 66 ff – Observer und Guardian; vgl dazu die Kritik bei Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 27. 151 EGMR, EuGRZ 1992, 484, Rn 55 – Open Door and Dublin Well Woman; eingehend zu dieser Entscheidung Zimmermann NJW 1993, 2966 ff und Langenfeld/Zimmermann ZaöRV 1992, 259 ff (hier auch zur einschlägigen Rechtsprechung des EuGH in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit).

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Die Erforderlichkeit von Eingriffen ist insbesondere in den Fällen indirekter Sanktionen für Meinungsäußerungen ein Problem. In Betracht zu ziehen ist hier in erster Linie die Spruchpraxis zu den so genannten „Berufsverboten“. Wenig überzeugend hatte der EGMR zunächst in zwei Fällen die Auffassung vertreten, eine Verletzung von Art 10 EMRK liege deshalb nicht vor, weil es um den Zugang zum öffentlichen Dienst gehe, der von der Konvention nicht gewährleistet werde. Dabei übersah der Gerichtshof, dass es nicht um den Zugang zum öffentlichen Dienst ging (in einem Fall war die Ernennung einer Lehrerin auf Probe wegen Täuschung zurückgenommen,152 im anderen Fall ein Beamter wegen rechtsradikaler Äußerungen entlassen worden153), sondern um die Reichweite von an Beamte zu stellenden Loyalitätsanforderungen. Man wird annehmen müssen, dass der EGMR sich mit dem eigentlichen Problem in der Phase des Kalten Krieges nicht befassen wollte. Erst nach dem Ende des (ideologischen) Konflikts zwischen Ost und West setzte sich der EGMR kritisch mit den Loyalitätsanforderungen auseinander und entschied, dass die Festlegung einer Loyalitätspflicht zwar zulässig, ihre Anwendung aber ohne Berücksichtigung der vom Beamten ausgeübten Funktion und ohne Würdigung der Auswirkungen einer bloßen Parteimitgliedschaft auf die Erfüllung der Dienstpflichten unverhältnismäßig sei.154 Dem Erforderlichkeitsgrundsatz hätte im konkreten Fall allenfalls eine andere Maßnahme genügt. Als nicht erforderlich und deshalb unverhältnismäßig sind auch extrem hohe Schadensersatzsummen wegen Beleidigung anzusehen.155 Jenseits der Kriterien der Geeignetheit und der Erforderlichkeit sind im Rahmen von Art 10 II EMRK einige Differenzierungen entwickelt worden, die Auswirkungen auf die Kontrolldichte der Verhältnismäßigkeitsprüfung haben. Dabei geht es um die Privilegierung politischer Kommunikation, um Anforderungen an rufschädigende und ehrverletzende Äußerungen, um den staatlichen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum bei Eingriffen zum Schutz der Moral und um eigenständige Prüfungsmaßstäbe bei Eingriffen in die Rundfunk- und Fernsehfreiheit.

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d) Die Privilegierung politischer Kommunikation Die politische Kommunikation wird dadurch besonders geschützt, dass Eingriffe, die politische Kritik mehr oder weniger unmöglich machen, grundsätzlich als unverhältnismäßig und damit konventionswidrig angesehen werden müssen. So hat der EGMR in mehreren Entscheidungen das Erfordernis eines Wahrheitsbeweises bei Werturteilen im Rahmen politischer Auseinandersetzungen als unverhältnismäßig angesehen und gelegentlich Äußerungen, die von nationalen Gerichten als Tatsachenbehauptungen angesehen wurden, als Werturteile qualifiziert.156 Auch die Forderung, bei einem Bericht über Gerüchte 152 153 154 155

EGMR, EuGRZ 1986, 497 ff – Glasenapp. EGMR, EuGRZ 1986, 509 ff – Kosiek. EGMR, EuGRZ 1995, 590, Rn 59–61 – Vogt. EGMR, HRLJ 1995, 295 ff – Tolstoy Miloslavsky; dazu, dass die Höhe von Strafen oder Schadenersatzbeträgen eine zentrale Rolle spielen kann, vgl auch EGMR, RJD 2004-XI, 63, Rn 116 ff – Cumpa˘na˘ und Masa˘re. 156 Wird für Werturteile ein Wahrheitsbeweis verlangt, so liegt in aller Regel eine Verletzung von Art 10 EMRK vor; vgl EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 46 – Lingens; EuGRZ 1991, 216, Rn 63 – Oberschlick; Series A, Vol 242-B, Rn 34 – Schwabe; ÖJZ 2002, 468, Rn 45–46 – Unabhängige Initiative Informationsvielfalt. Anders dagegen die Entscheidung im Fall Castells, Series A, Vol 236, Rn 48, wo es um Tatsachen ging, die prinzipiell dem Beweis zugänglich waren, die im konkreten Fall aber nicht in das Verfahren eingebracht werden konnten.

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und Erzählungen anderer von Polizeibrutalität den Nachweis der Richtigkeit zu erbringen,157 und die Verurteilung eines dänischen Journalisten, der in einer Sendung rassistische Äußerungen von Interviewpartnern verbreitet, sich aber nach Auffassung des EGMR davon eindeutig distanziert hatte, ließ der EGMR am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz scheitern.158 Allerdings machte der EGMR auch deutlich, dass tatsächliche Äußerungen nicht ohne jede Grundlage oder gar böswillig gemacht werden dürfen.159 Steht eine Äußerung in einem wirtschaftlichen Kontext, findet ein weniger strenger Maßstab Anwendung;160 der staatliche Beurteilungsspielraum ist deutlich weiter. So können etwa die Verbreitung richtiger Tatsachenbehauptungen161 oder die Übersendung von Zeitungsartikeln162 durch Regelungen des unlauteren Wettbewerbs beschränkt werden, ohne dass allein dadurch schon der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt wäre. Dies gilt nur eingeschränkt für Standesregeln und darauf gestützte Werbeverbote. Eine extensive Interpretation und Anwendung standesrechtlicher Bestimmungen kommt in diesem Zusammenhang wohl eher nicht in Betracht. Der EGMR betont mit Recht die besondere Bedeutung der Beteiligung fachlich kompetenter Personen an einer öffentlichen Diskussion und macht die Zulässigkeit eines Eingriffs in die Rechte des Art 10 I EMRK davon abhängig, ob der an den Standesregeln zu messende Werbeeffekt eines Diskussionsbeitrages (einer Anwaltkanzlei oder einer Arztpraxis) primär oder bloß sekundär ist.163 e) Anforderungen an potentiell rufschädigende und ehrverletzende Äußerungen, insbesondere: Sorgfaltspflichten der Presse

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Fall 4: (EGMR, EuGRZ 1999, 453 – Bladet Tromsø) Die B-Zeitung hatte den Bericht eines vom zuständigen Ministerium ernannten Robbenfanginspektors über seine Jagd-Saison-Beobachtung auf einem namentlich genannten Schiff

157 EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 65 – Thorgeirson. 158 EGMR, Series A, Vol 298, Rn 33–36 – Jersild; bestätigend EGMR, ÖJZ 2003, 618, Rn 33 – Verlagsgruppe NEWS GmbH (Nr 2). 159 EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 63, 67 – Thorgeirson. 160 S Calliess AfP 2000, 248 ff und Grabenwarter ÖZW 2002, 1 ff; dies gilt jedenfalls für Fälle kommerzieller Werbung, nicht für wirtschaftliche Äußerungen, die eine gesellschaftspolitische Ausrichtung haben, vgl EGMR, NJW 2006, 1255 ff – Steel und Morris und zuvor schon EGMR, ÖJZ 1999, 614, Rn 50 – Hertel, wo allerdings auch die Wissenschaftsfreiheit zu berücksichtigen war. Zum Beurteilungsspielraum bei kommerziellen Interessen EGMR, EuGRZ 2003, 288, Rn 41 f – Demuth; krit dazu Scheyli EuGRZ 2003, 455, 458. 161 EGMR, EuGRZ 1996, 302, Rn 35–36 – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann. 162 EGMR, EuGRZ 1996, 306, Rn 26–30 – Jacubowski; krit dazu die Mindermeinung im Gericht; zur Kritik an dem den Staaten eingeräumten weiten Beurteilungsspielraum in der genannten Entscheidung sowie in EGMR, EuGRZ 1996, 302, Rn 35–36 – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; vgl auch Calliess EuGRZ 1996, 293, 295 ff. 163 So die zutreffende Würdigung durch Villiger EMRK, 404, unter Bezugnahme auf EGMR, EuGRZ 1985, 150, Rn 58 – Barthold; vgl aber auch EGMR, HRLJ 1994, 184, Rn 55–56 – Casado Coca, wo der EGMR angesichts der uneinheitlichen Situation in Europa eine weitere Lockerung der Standesregeln über Art 10 EMRK nicht durchsetzen wollte. In der Entscheidung EGMR, RJD 1998-III, 1042, Rn 30–34 – Schöpfer, akzeptierte der EGMR eine einem Anwalt auferlegte Buße als verhältnismäßig, weil dieser in einer Pressekonferenz die Justiz in unangemessener Form angegriffen hatte, statt zu Gunsten seines Klienten zunächst den ordentlichen Rechtsweg zu beschreiten.

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abgedruckt. Der Inspektor stellte in diesem Bericht die Behauptung auf, einige nicht namentlich genannte Mannschaftsmitglieder hätten Robben lebendig gehäutet und eine bestimmte Robbenart vorschriftswidrig gefangen. Der Bericht war im Kontext einer längeren öffentlichen Debatte über den Robbenfang erschienen, in der alle vertretenen Interessen in der B-Zeitung zu Wort kamen. Allerdings war der Zeitung im Zeitpunkt der Veröffentlichung bekannt, dass der in diesem Fall grundsätzlich gewährte Zugang der Öffentlichkeit zum Bericht vom Ministerium unterbunden worden war, weil die strafrechtlich relevanten Anschuldigungen gegen die Mannschaftsmitglieder geprüft werden sollten. Sowohl der Inspektor als auch die B-Zeitung wurden in der Folge zu Schadensersatzleistungen verurteilt, weil sie den Wahrheitsbeweis für die Tatsachenbehauptungen nicht führen konnten. Der Inspektor und die B-Zeitung behaupten eine Verletzung von Art 10 EMRK.

Der grundsätzliche Schutz auch heftiger Kritik an Politikern164 durch Art 10 I EMRK erfährt zu Gunsten des Ehrschutzes insoweit eine erhebliche Einschränkung, als es eine ständige Straßburger Spruchpraxis gibt, die in diesen Fällen die Meinungsäußerung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzieht.165 Dies ist auf den ersten Blick erstaunlich, denn es sollte eigentlich um die Verhältnismäßigkeit des zu rechtfertigenden staatlichen Eingriffs gehen und nicht um die Angemessenheit der Ausübung von Grundfreiheiten. Vor diesem Hintergrund ist die einschlägige Spruchpraxis insbesondere wegen der potentiellen Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses zwischen Grundfreiheit und zu rechtfertigendem Eingriff kritisch zu bewerten. Besondere Bedeutung kommt den Fällen zu, in denen die durch Art 10 I EMRK gewährleisteten Rechte in Konflikt mit dem über Art 8 EMRK geschützten Persönlichkeitsrecht geraten,166 insbesondere bei der Berichterstattung über das Privatleben von Prominenten.167 Der EGMR knüpft dabei nicht an gegenständliche, sondern an verhaltensbezogene Kriterien an168 und fragt etwa nach dem Beitrag der Berichterstattung zur Meinungsbildung, nach dem Zusammenhang mit der Wahrnehmung einer öffentlichen Funktion der betroffenen Person und nach deren Verhalten im Umgang mit Medien im Übrigen.169 Auch in zeitlicher Hinsicht differenziert der EGMR.170 Generell gilt, dass der Schutz der Meinungsfreiheit abnimmt, je stärker die private und nicht die gesellschaftliche oder politische Rolle der von der Meinungsäußerung betroffenen Person, aber auch der Diskussion insgesamt betroffen ist.171 Der EGMR unterstreicht aber im Grundsatz deutlich die Gleichrangigkeit des Schutzes der Meinungsfreiheit und des Persönlichkeitsschutzes.172

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EGMR, ÖJZ 2008, 161, Rn 35 – Pfeifer. St Rspr seit EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 46 – Lingens. Vgl hierzu auch Lenski NVwZ 2005, 50 ff. Dazu insbesondere EuGRZ 2004, 404 ff – von Hannover (No. 1); EuGRZ 2012, 278 ff – von Hannover (No. 2); EuGRZ 2012, 294 ff – Axel Springer. Das erläutern Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 111. EGMR, EuGRZ 2004, 404 ff, Rn 63–66 – von Hannover (No. 1) (entgegen BVerfGE 101, 361, 390 f). Hierzu mwNachw Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 111 ff. EGMR, NJW 1999, 1318, Rn 18 – Janowski; ÖJZ 2007, 472, Rn 68 und 71 – Österreichischer Rundfunk; vgl auch EGMR, Urt v 19.9.2006, 42435/02, Rn 20 und 29 – White. EGMR, EuGRZ 2012, 278 ff, Rn 106 – von Hannover (No. 2); ähnlich EGMR, EuGRZ 2012, 294 ff, Rn 87 – Axel Springer.

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Der EGMR prüft auch, ob die vom Grundrechtsträger geäußerte Meinung auf andere Weise mit gleicher Wirkung hätte vorgetragen werden können. Vor allem mit Blick auf die Art und Weise der Äußerung, insbesondere deren Schärfe, soll abgewogen werden, ob persönliche Angriffe unbedingt notwendig waren.173 Für den Gerichtshof sind unwahre Tatsachen, ehrenrührige Behauptungen, nicht notwendige Schärfen sowie Werturteile, denen jegliche Faktengrundlage fehlt, daher im Ergebnis nicht geschützt, weil Eingriffe auf dieser Grundlage regelmäßig verhältnismäßig sein dürften.174 Während die einzelnen Fallbeispiele aus der Rechtsprechung im Ergebnis durchaus zu überzeugen vermögen, ist das methodische Vorgehen des EGMR nicht durchgängig nachvollziehbar. Im Zusammenhang mit der Wiedergabe fremder Tatsachenbehauptungen oder Materialien hat der EGMR eine Reihe von Sorgfaltspflichten für die Presse entwickelt, die sich unmittelbar auf die Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe auswirken.175 Einerseits hat der EGMR anerkannt, dass für eine im Umlauf befindliche Information kein dringendes Geheimhaltungsinteresse mehr besteht.176 Bei anonymen Informanten dürfte das Quellenschutzinteresse jedenfalls dann überwiegen, wenn dem Betroffenen auf der anderen Seite nur ein geringer Schaden droht.177 Insoweit ist die Presse von Sorgfaltspflichten noch weitgehend freigestellt. Wird der Presse Material anonym zugesandt, so stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich der Journalist vergewissern muss, dass die Informationen zutreffend sind. Grundsätzlich können solche Informationen wohl nur veröffentlicht werden, wenn der Journalist deren Authentizität überprüft hat,178 es sei denn es gibt besondere Gründe, die Presse von dieser Verpflichtung zu entbinden, wie etwa die Vertrauenswürdigkeit der erlangten Informationen.179 Festzuhalten ist, dass der Abdruck ehrenrühriger Tatsachenbehauptungen selbst dann zulässig sein kann, wenn deren Wahrheitsgehalt auch nachträglich nicht bewiesen werden kann.180 Lösung Fall 4: Weitgehend unproblematisch zu bejahen sind die Einschlägigkeit des Schutzbereichs, das Vorhandensein eines Eingriffs sowie die Einschlägigkeit des Ehrschutzes als eines zulässigen Eingriffszwecks. Zu prüfen ist darüber hinaus, ob der Eingriff einem zwingenden sozialen Bedürfnis entsprach, ob er in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten legitimen Zweck stand und ob die Begründung der innerstaatlichen Behörden nach Art 10 II EMRK ausreichend war. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Zeitung nicht nur diesen einen Artikel über die Robbenjagd veröffentlicht hatte, sondern über einen längeren

173 EGMR, Series A, Vol 149, Rn 33–35 – Barfod; krit hierzu Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 25. 174 EGMR, ÖJZ 1997, 912, Rn 47 – De Haes und Gijsels; ÖJZ 2002, 468, Rn 47 – Unabhängige Initiative Informationsvielfalt. Im letzten Fall wurde eine hinreichende Basis für den Vorwurf „rassistischer Agitation“ gegenüber der FPÖ im Zusammenhang mit einem von ihr veranstalteten Volksbegehren zur Begrenzung der Immigration bejaht. 175 Ausführlich dazu EGMR, RJD 2004-II, 119, Rn 39 – Radio France und EGMR, Urt v 19.9.2006, 42435/02, Rn 21 – White. 176 EGMR, Series A, Vol 306-A, Rn 44 ff – Vereniging Weekblad Bluf!. 177 EGMR, RJD 1996-II, 483, Rn 42–45 – Goodwin; zum Informanten- und Quellenschutz vgl auch EGMR, NJW 2008, 2565 – Tillack; NJW-RR 2008, 1141 – Stoll. 178 EGMR, EuGRZ 1999, 5, Rn 53–55 – Fressoz und Roire. 179 EGMR, EuGRZ 1999, 453, Rn 66 – Bladet Tromsø. 180 Prepeluh ZaöRV 2001, 771, 801; Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 366.

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Zeitraum alle unterschiedlichen Standpunkte zu Wort kommen ließ. Die umstrittenen Artikel sollten demnach nicht einzelne Personen diffamieren, sondern eine ausgewogene Berichterstattung gewährleisten. Das Recht der Journalisten, Informationen zu Fragen von allgemeinem Interesse zu verbreiten, wird von Art 10 EMRK jedoch nur insoweit geschützt, als sie sich im guten Glauben und auf Grundlage exakter Tatsachen äußern, die journalistische Berufsethik gewahrt ist, sowie zuverlässige und sachliche Informationen liefern. Zu prüfen ist, ob im vorliegenden Fall besondere Gründe vorlagen, die die Zeitung von der Verpflichtung, Tatsachenbehauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, entbunden hätten. Diese Frage hängt etwa auch von der Art und Intensität der gemachten Äußerungen ab. Obwohl manche Anschuldigungen schwerwiegend waren, wurde deren potentielle nachteilige Wirkung auf Ruf und Rechte jedes einzelnen Robbenjägers dadurch abgeschwächt, dass die Kritik nicht gegen die gesamte Besatzung oder einzelne namentlich genannte Besatzungsmitglieder gerichtet war. Zudem konnte die B-Zeitung zum damaligen Zeitpunkt dem Bericht des Inspektors vernünftigerweise vertrauen, handelte es sich doch um einen offiziellen Bericht, hinsichtlich dessen im Übrigen auch nicht absehbar war, dass die Veröffentlichung eventuell rechtswidrig wäre. Würde man der Presse hier noch die Pflicht zu eigenen Recherchen auferlegen, könnte sie ihre „Kontroll“-Funktion in öffentlichen Angelegenheiten nicht mehr ohne weiteres erfüllen. Wägt man den vergleichsweise geringen Schaden für die einzelnen Besatzungsmitglieder und den Kenntnisstand der B-Zeitung ab, so kann man nicht daran zweifeln, dass diese in gutem Glauben handelte. Der Eingriff stellt sich damit als unverhältnismäßig dar.

f) Der staatliche Beurteilungsspielraum bei Eingriffen zum Schutz der Moral und zum Schutz religiöser Überzeugungen Der EGMR hat stets betont, dass es keine europäische Konzeption von Moral gibt und dass die staatlichen Behörden grundsätzlich in der Lage seien, die Angemessenheit von diesen Zwecken dienenden Eingriffen in die von Art 10 I EMRK gewährleisteten Rechte zu beurteilen. So hielt er die englischen Gerichte für berechtigt, schädliche Wirkungen für die Moral von Kindern und Heranwachsenden bei der Beurteilung eines umstrittenen Buches zu bejahen.181 In ähnlicher Weise hat der EGMR religiösen Vorstellungen Raum gelassen. Ausdrücklich stellte er fest, dass es nicht möglich sei, in Europa Einvernehmen über den Stellenwert bestimmter religiöser Überzeugungen in der Gesellschaft zu erzielen.182 Obwohl für Beschränkungen der Meinungsfreiheit im Rahmen politischer und sonstiger öffentlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich wenig Raum bleibt, ist es zum Schutz religiöser Überzeugungen vor allem auch in Ermangelung europaweit einheitlicher Wertvorstellungen in erster Linie Sache staatlicher Behörden, die Verhältnismäßigkeit von Eingriffen zu beurteilen. Der EGMR begründet dies auch damit, dass die staatlichen Behörden direkten und ständigen Kontakt mit den gesellschaftlichen Kräften ihrer Länder haben.183 Illustrativ für die Zurückhaltung der Straßburger Organe ist der Fall eines Bel-

181 EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 52 – Handyside. 182 EGMR, HRLJ 1994, 371, Rn 50 – Otto-Preminger-Institut. Vgl auch Grabenwarter ZaöRV 1995, 128 ff. 183 EGMR, RJD 1996-V, 1937, Rn 58 – Wingrove; vgl dazu auch Kolonovits in: Grabenwarter/ Thienel (Hrsg) Kontinuität und Wandel der EMRK, 1998, 169 ff.

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giers, der für die Verteilung einer in den Niederlanden frei erhältlichen Zeitschrift verurteilt wurde. Die Kommission hielt selbst diesen Eingriff für verhältnismäßig.184 Nicht überzeugend ist die Entscheidung des EGMR im Fall eines Künstlers, der Bilder pornographischen Inhalts gemalt und ausgestellt hatte. Der Künstler sollte nicht nur bestraft werden, sondern es sollten auch seine Bilder vernichtet werden. Während die Kommission nur die Verurteilung für verhältnismäßig hielt, erachtete der EGMR sowohl diese als auch die angedrohte Vernichtung als verhältnismäßig.185 Obwohl die Bilder tatsächlich noch nicht vernichtet und dem Beschwerdeführer dann in der Tat wenige Monate vor dem Urteil des Gerichtshofs zurückgegeben worden waren, hat es der EGMR in diesem Fall versäumt, eine umfassende Angemessenheitsprüfung in Anbetracht des von den Maßnahmen verfolgten Zieles vorzunehmen. Begründen lässt sich diese Entscheidung nur damit, dass der EGMR überfordert wäre, wenn er einheitliche Moralvorstellungen für alle Vertragsstaaten herbeiführen müsste. Immer dann, wenn es um Eingriffe geht, die dem Schutz der Moral oder der Religion dienen, greift der vom EGMR stets betonte staatliche Beurteilungsspielraum, der die Kontrolldichte bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung erheblich lockert. g) Der Prüfungsmaßstab bei Eingriffen in die Rundfunk- und Fernsehfreiheit

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Für die Rundfunk- und Fernsehfreiheit kommt es im Wesentlichen darauf an, welche Vorgaben Art 10 I 3 EMRK für die Regelung der Rundfunkorganisation macht. Ohne Zweifel verbleibt den Mitgliedstaaten eine gewisse Freiheit, die technischen Aspekte von Radio und Fernsehen zu regeln. In diesem Zusammenhang bietet Satz 3 die Grundlage für die Durchsetzung völkerrechtlicher Bestimmungen des Telekommunikationsrechts.186 Dabei ist allerdings der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. So hielt der EGMR die Verweigerung einer behördlichen Genehmigung durch schweizerische Behörden zum Empfang eines Rundfunkprogramms für unverhältnismäßig, weil – abgesehen von einer fehlenden Einwilligung in den Empfang eines sowjetischen Rundfunkprogramms seitens der damaligen UdSSR – keine Gründe ersichtlich waren, den Empfang eines unverschlüsselten, für die Allgemeinheit in der UdSSR bestimmten Programms zu verbieten.187 In ähnlicher Weise dürfte die Beschränkung der Errichtung individueller Empfangsanlagen auf der Grundlage denkmalschutzrechtlicher und baurechtlicher Vorschriften jedenfalls dann einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegen, wenn eine Kollektivantenne kein gleichwertiges Empfangsangebot ermöglicht.188 Ein unverhältnismäßiger Eingriff liegt vor, wenn die Informationsfreiheit in ihrem Kern getroffen wird.189 Soweit die Bestimmung nicht nur technische Aspekte regelt, hat der Gerichtshof das Lizenzierungsverfahren den Bedingungen von Art 10 II EMRK unterstellt. Mit dieser – dogmatisch nicht ohne weiteres nachvollziehbaren, teleologisch aber überzeugenden, weil

184 185 186 187 188

EKMR, DR 9, 13 ff X, Y und Z. EGMR, EuGRZ 1988, 543, Rn 35–36 und 43 – Müller. EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 60 f – Groppera Radio AG. EGMR, EuGRZ 1990, 261, Rn 63 – Autronic. EGMR, EuGRZ 1990, 261, Rn 47 – Autronic. Vgl außerdem die nachfolgenden Kommissionsentscheidungen Radio X/Schweiz, DR 37, 236; A/Schweiz, DR 41, 141; Autronic/Schweiz (Kommissionsbericht), Rn 49; Ebner/Schweiz, Beschwerde Nr 13253/87 (Zulässigkeitsentscheidung der Kommission), Rn 3. 189 Vgl dazu Laeuchli-Bosshard (Fn 130) S 31 ff; Villiger EMRK, 413.

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dem technischen Fortschritt und den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragenden – Interpretation von Art 10 I 3 EMRK gehört die Freiheit des Privatrundfunks und Privatfernsehens190 nicht nur zum Schutzbereich des Grundrechts, sondern ein staatliches Radio- und Fernsehmonopol erscheint auch als unverhältnismäßig.191 Jedenfalls dann, wenn ein an die EMRK gebundener Staat das (überkommene) Radio- oder Fernsehmonopol gelockert und Genehmigungen für private Sender eingeführt hat, ist die Erteilung und die Verteilung der Genehmigungen an Art 10 II EMRK zu messen. Dies hindert die Staaten nicht daran, andere als technische Aspekte bei der Erteilung einer Genehmigung zu berücksichtigen, wie beispielsweise Natur und Ziele einer Station, den kulturellen Pluralismus,192 Besonderheiten der staatlichen Organisation (wie zB bundesstaatliche Eigenheiten) oder auch nicht-technische Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen.193 Soweit damit Einschränkungsziele verfolgt werden, die nicht nach Art 10 II EMRK gerechtfertigt sind, hält der Gerichtshof dies grundsätzlich für unschädlich und für durch Art 10 I 3 EMRK gedeckt,194 verlangt jedoch die Beachtung der anderen Voraussetzungen von Art 10 II EMRK, insbesondere das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage sowie die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.195 Weitere Vorgaben für die Regelung der Rundfunkorganisation ergeben sich nicht ausdrücklich aus dem Wortlaut der Vorschrift, lassen sich aber in der Spruchpraxis der Konventionsorgane ausmachen. Insbesondere hat der EGMR das Gebot des Medienpluralismus anerkannt und dieses im Zusammenhang mit Art 10 II EMRK und dem „Schutz der Rechte anderer“ berücksichtigt.196 Allerdings haben die Konventionsorgane – anders als die nicht immer überzeugenden „Fernsehurteile“ des Bundesverfassungsgerichts197 – eine begrüßenswerte Zurückhaltung insoweit geübt, als sie der Versuchung widerstanden haben, auf der Grundlage der Rundfunk- und Fernsehfreiheit eine umfassende Rechtsordnung für die Massenmedien zu entwickeln. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass der EGMR der Rundfunk- und Fernsehfreiheit gar einen Gestaltungsauftrag für den Gesetzgeber entnehmen würde. Damit besteht für Straßburg auch keine Gefahr, dass grundrechtsdogmatisch eine Metamorphose der Medienfreiheit hin zur Pflicht stattfindet.198

190 Vgl allgem Engel Privater Rundfunk vor der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1993. 191 EGMR, EuGRZ 1994, 549, Rn 39 und 41–43 – Informationsverein Lentia; vgl auch die friedliche Streitbeilegung im Fall Telesystem Tirol Kabeltelevision, RJD 1997-III, 970, sowie die Entscheidung EGMR, RJD 1997-VI, 2188, Rn 31–33 – Radio ABC. Der EGMR (ÖJZ 2001, 156 ff – Tele 1 Privatfernsehgesellschaft MBH) hielt ein Monopol für terrestrisches Fernsehen bei gleichzeitig vorhandener Möglichkeit der Verbreitung von Fernsehprogrammen über Kabel allerdings nicht für unverhältnismäßig und damit nicht für konventionswidrig. 192 Der EGMR hat es sogar nicht beanstandet, dass ein Konventionsstaat einseitige kommerzielle Spartenprogramme verhindert, EGMR, EuGRZ 2003, 488 – Demuth. 193 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 19. 194 EGMR, EuGRZ 1994, 549, Rn 32 – Informationsverein Lentia. 195 EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 61 – Groppera Radio AG; EuGRZ 1994, 549, Rn 32 f – Informationsverein Lentia. 196 EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 69 und 70 – Groppera Radio AG; zustimmend Probst (Fn 45) S 26. 197 Vgl dazu Stock JZ 1997, 583 ff. 198 Vgl die Kritik an der Rspr des BVerfG bei Engel AfP 1994, 185 ff.

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III. Versammlungsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1989, 522 ff – Plattform „Ärzte für das Leben“; HRLJ 1991, 185 – Ezelin; RJD 2001-IX, 273 – Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden; RJD 2002-III, 1 – Cisse; ÖJZ 2007, 79 – Öllinger; EKMR, EuGRZ 1980, 36 ff – Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. Schrifttum: Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2013, Kap 19; Fitzpatrick/Taylor Trespassers Might be Prosecuted: The European Convention and Restrictions on the Right to Assemble, EHRLR 1998, 292 ff; Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, 296 ff; Peters Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, § 15.

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Ebenso wie das Recht der Meinungsfreiheit gehört das Recht der Versammlungsfreiheit, das in Art 11 I EMRK gewährleistet wird, zu den für ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen grundlegenden Freiheiten. Die Versammlung ist nicht nur eine besondere Form der Meinungsäußerung. Sie löst Isolierung auf, vermittelt ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und ermöglicht die Bildung und Äußerung individueller wie auch kollektiver Meinungen. Damit trägt die Versammlungsfreiheit zur Gewährleistung der Meinungsäußerungsfreiheit bei und sichert als bedeutender Faktor im Vorfeld institutionalisierter politischer Entscheidung die Demokratie.199 Der EGMR betont, dass die Versammlungsfreiheit von grundlegender Bedeutung für Toleranz und Pluralismus ist.200 Geschützt sind sowohl die Organisatoren von Versammlungen als auch deren Teilnehmer. Fall 5: (EGMR, RJD 2001-IX, 273 ff – Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden) S war Vorsitzender einer Organisation, die mit dem Ziel gegründet worden war, eine spezifische ethnische Minderheit auf einer religiösen und kulturellen Basis zu einigen und deren Anerkennung als Minderheit in B zu erreichen. Nachdem der Organisation die Eintragung als Vereinigung von den Gerichten mit der Begründung verweigert worden war, dass ihre Ziele in Wahrheit gegen die Einheit der Nation und auf die Förderung von ethnischem Hass gerichtet wären und sie eine Gefahr für die territoriale Integrität des Staates darstellen würde, wurde dem S und seiner Organisation über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg wiederholt die Abhaltung von Versammlungen oder Gedenkfeiern an historischen Plätzen behördlich untersagt. Die dagegen angerufenen Gerichte wiesen die Rechtsmittel jeweils mit der Begründung ab, dass aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Organisation um eine verbotene Vereinigung handle, begründete Bedenken bestanden hätten, dass die Versammlungen oder Gedenkfeiern die öffentliche Ordnung und die Rechte und Freiheiten anderer gefährden würden. S und die Organisation sehen sich in ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit nach Art 11 EMRK verletzt.

1. Schutzbereich 61

Der Begriff der Versammlung wird in Art 11 I EMRK nicht definiert. In Übereinstimmung mit Rechtsprechung und Literatur ist darunter das Zusammenkommen von Menschen mit dem Zweck, untereinander oder gegenüber Dritten Meinungen mitzuteilen, zu

199 EGMR, EuGRZ 1981, 559, Rn 57 – Young, James und Webster; HRLJ 1991, 185, Rn 37 – Ezelin. 200 EGMR, 3.5.2007, Rn 62 – Ba˛czkowski.

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diskutieren oder ihnen symbolischen Ausdruck zu geben, zu verstehen.201 Fehlt einer Gruppe von Menschen das Bewusstsein, der gemeinsame Zweck oder ein Mindestmaß an Organisation, so kann man kaum von einer Versammlung sprechen. Ein Menschenauflauf ist keine Versammlung. Trotz des Beitrags, den die Versammlungsfreiheit zur Demokratie leistet, sollte der Schutzbereich nicht auf politische Zusammenkünfte beschränkt werden. Es ist nicht ersichtlich, warum Versammlungen zu gesellschaftlichen Zwecken nur den Schutz von Art 8 EMRK genießen sollen,202 obwohl sie im Einzelfall durchaus meinungsbildende Funktion aufweisen können.203 Art 11 I EMRK schützt unterschiedliche Erscheinungsformen von Versammlungen, deren Vorbereitung und deren Durchführung: Zusammenkünfte mit öffentlichem oder privatem Charakter, Versammlungen unter freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen, ortsgebundene Veranstaltungen und Umzüge sowie Veranstaltungen von kurzer oder unbegrenzter Dauer. Die Versammlungsfreiheit ist nicht nur in privaten Räumen oder auf privaten Grundstücken geschützt. Vielmehr sind im Besonderen auch öffentliche Plätze für die Realisierung der Versammlungsfreiheit von Bedeutung, kann doch gerade dort die kollektive Meinungsäußerung ihre Wirkung entfalten.204 Art 11 I EMRK gewährleistet daher nicht nur die (engere) Versammlungsfreiheit, sondern auch die (weitere) Demonstrationsfreiheit, in deren Schutzbereich beispielsweise auch „sit-ins“ fallen.205 So ist auch die von der Kirchenleitung geduldete Besetzung einer Kirche durch eine Gruppe von Ausländern ohne Aufenthaltsgenehmigung als Versammlung angesehen worden.206 Im Gegensatz zu Art 8 GG, der die Versammlungsfreiheit „ohne Anmeldung oder Erlaubnis“ garantiert, stellen bloße Anmelde- und formelle Genehmigungserfordernisse in Bezug auf die Nutzung der öffentlichen Straße allerdings keine Einschränkungen des Rechts der Versammlungsfreiheit dar.207 Schon von ihrer Funktion als unentbehrlicher Bestandteil einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung her ist allein die gewaltfreie Kommunikation in einer demokratischen Gesellschaft geschützt. Der Wortlaut von Art 11 I EMRK bezieht ausdrücklich nur friedliche Versammlungen in den Schutzbereich ein. Da insbesondere bei Demonstrationen auch die gezielte Provokation ein wesentliches Ausdrucksmittel ist, dürfen lediglich krasse Fälle der Gewalttätigkeit dazu führen, Versammlungen a priori vom Schutzbereich des Art 11 I EMRK auszunehmen. Unfriedlich sind in erster Linie solche Versammlungen, die von Anfang an von den Veranstaltern zur gewaltsamen Durchsetzung von Zielen geplant sind. Nicht ausreichend sind unfriedliche Ereignisse am Rande einer Demonstration oder der Versuch von Extremisten, Versammlungen zu unterlaufen.208 In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass Art 11 I EMRK den Staaten auch die positive Verpflichtung auferlegt, für den Schutz von Demonstrationen zu sorgen.209

201 EGMR, EuGRZ 1989, 522, Rn 12 – Plattform „Ärzte für das Leben“. 202 So aber Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 2 und Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 62. 203 Müller (Fn 4) S 327 f. 204 EKMR, EuGRZ 1980, 36, Rn 3 – Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. 205 EKMR, DR 60, 256, Rn 2 – X. 206 EGMR, RJD 2002-III, 1, Rn 35–39 – Cisse. 207 EKMR, EuGRZ 1980, 36, Rn 3 – Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. 208 EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 39 – Ezelin; EKMR, EuGRZ 1981, 216, Rn 4 – Christians against Racism and Facism. 209 Dazu Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 19 Rn 42 ff.

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Sonst könnte aus Furcht vor gewaltsamen Gegendemonstrationen die Ausübung des Rechtes aus Art 11 I EMRK praktisch verhindert werden.210 Dabei obliegt dem Staat allerdings die Wahl der Mittel. Diese positive Schutzpflicht hat auch Auswirkungen auf die Zulässigkeit von Gegendemonstrationen. Es ist durchaus vertretbar, diese jedenfalls dann nicht mehr dem Schutzbereich von Art 11 I EMRK zuzuordnen, wenn sie ausschließlich darauf abzielen, eine andere Demonstration zu stören. Vorzugswürdig dürfte allerdings eine Bewertung von Gegendemonstrationen anhand von Art 11 II EMRK sein.

2. Eingriff 65

Während ein Genehmigungserfordernis für die Durchführung von Veranstaltungen auf öffentlichen Plätzen nicht als Eingriff zu werten ist, stellt ein Versammlungsverbot ohne Zweifel einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar. Auch andere Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, die sich auf die Vorbereitung, Organisation und Durchführung von Versammlungen beziehen, lassen sich ohne Probleme als Eingriff qualifizieren. Ebenso stellen spätere disziplinarische oder strafrechtliche Sanktionen wegen der Teilnahme an einer Demonstration einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar.211

3. Rechtfertigung 66

Art 11 II 1 EMRK folgt dem Muster der Eingriffsrechtfertigungen der Art 8 bis 10 EMRK.212 Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind danach gerechtfertigt, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, einen der in Art 11 II 1 EMRK abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind. Diese Bedingungen müssen kumulativ vorliegen. a) Zulässige Eingriffszwecke

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Unter den in Art 11 II 1 EMRK genannten Zwecken, die der Rechtfertigung von Eingriffen in die Versammlungs-, die Vereinigungs- und die Koalitionsfreiheit dienen, kommen Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit und zur Aufrechterhaltung der Ordnung für die Versammlungsfreiheit besondere Bedeutung zu. Die übrigen Eingriffszwecke (nationale Sicherheit,213 Verbrechensverhütung, Schutz der Gesundheit und der Moral, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) haben in der Praxis bislang allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt. b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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Der Prüfung der Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen kommt im Rahmen von Art 11 II 1 EMRK entscheidende Bedeutung zu.214 Dabei ist zwischen direkten und in210 EGMR, EuGRZ 1989, 522, Rn 32 – Plattform „Ärzte für das Leben“. 211 EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 39 – Ezelin. In einem anderen Fall wurden die Teilnehmer eines Kirchenasyls in Folge der Räumung teilweise festgenommen, abgeschoben oder ausgewiesen. Auch darin sah der EGMR einen Eingriff in das Recht aus Art 11 EMRK; EGMR, RJD 2002III, 1, Rn 40 – Cisse. 212 EGMR, EuGRZ 2007, 24, Rn 60 – Moskauer Zweig der Heilsarmee. 213 Vgl auch EKMR, DR 36, 187 ff – Vereinigung X und Y; EGMR, RJD 2001-IX, 273 – Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden. 214 Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 19 Rn 72.

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direkten Eingriffen sowie zwischen Versammlungsverboten und milderen Eingriffen zu unterscheiden. Indirekte Eingriffe unterliegen insofern einer strengen Prüfung, als disziplinarische und strafrechtliche Sanktionen nur unter engen Voraussetzungen und nur in Bezug auf die Personen angewendet werden dürfen, die selbst vorwerfbare Akte begehen. Für andere Personen darf das Recht zur friedlichen Versammlung in Anbetracht seiner Bedeutung nicht auf diesem Wege eingeschränkt werden.215 Direkte Eingriffe sind in der Gestalt von Versammlungsverboten nur ausnahmsweise zulässig. Ein allgemeines Veranstaltungsverbot über einen Zeitraum von zwei Tagen im Zusammenhang mit den teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Bildung des Kantons Jura wurde von der früheren Kommission als verhältnismäßig angesehen.216 Auch ein sehr viel weiter gehendes, für zwei Monate geltendes Demonstrationsverbot in der Londoner Innenstadt wurde als verhältnismäßig angesehen. Allerdings betonte die frühere Kommission in diesem Fall den Ausnahmecharakter eines solchen generellen Verbots.217 Unterhalb der Schwelle von Versammlungsverboten ist die Verhältnismäßigkeit direkter Eingriffe anhand einer Abwägung zwischen privaten und öffentlichen Interessen zu beurteilen, bei der die mit der Durchführung der Veranstaltung verbundenen Beeinträchtigungen der in Art 11 II 1 EMRK genannten Schutzgüter, das Ausmaß des Eingriffs und die Möglichkeit weniger weitgehender Maßnahmen in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen sind. In Anbetracht erheblicher Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung ist es etwa zulässig, die Wahl des Ortes einer Versammlung218 oder der Route einer Demonstration zu beschränken.219 Als unverhältnismäßig stufte der EGMR dagegen die präventive mehrtägige Ingewahrsamnahme von Personen ein, die an einer Demonstration während des G8-Gipfels teilnehmen wollten und von denen die Polizei Gewaltanwendungen befürchtete.220

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c) Besondere Einschränkungen für staatliche Bedienstete Die besonderen Einschränkungen für staatliche Bedienstete, die in Art 11 II 2 EMRK vorgesehen sind, haben bislang nur geringe praktische Bedeutung erlangt – und dies auch eher im Kontext der Vereinigungsfreiheit, wo sie näher behandelt werden (→ Rn 80 f), als bei der Prüfung von Eingriffen in die Versammlungsfreiheit. In einem Verfahren, bei dem es um die Verhältnismäßigkeit disziplinarischer Maßnahmen gegenüber niederländischen Soldaten ging, konnte der EGMR sich darauf zurückziehen, dass die Betroffenen nicht wegen ihrer Teilnahme an einer Versammlung bestraft worden waren.221

215 216 217 218

EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 53 – Ezelin; vgl auch EKMR, DR 29, 194, Rn 2 – X. EKMR, EuGRZ 1980, 36, Rn 11 – Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. EKMR, EuGRZ 1981, 216, Rn 5 – Christians against Racism and Facism. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung EGMR, RJD 2003-VI, 185 Rn 25 ff – Appleby, die zwar zu Art 10 EMRK ergangen ist, deren Grundsätze aber auf Art 11 EMRK übertragbar sind. Der EGMR hat dort betont, dass aus der Meinungsäußerungsfreiheit keine Freiheit der Wahl des Ortes, an dem die Meinungsäußerung erfolgen soll, folgt. Eingehend dazu Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 19 Rn 42 ff. 219 Zum Verbot einer Demonstration auf dem Trafalgar Square in London vgl EKMR, DR 81-A, 146 ff – „Negotiate Now“. 220 EGMR, EuGRZ 2012, 141 ff – Schwabe und M.G. 221 EGMR, EuGRZ 1976, 221, Rn 108 – Engel.

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Lösung Fall 5: Da nicht ersichtlich ist, dass die Organisatoren der Versammlungen oder Gedenkfeiern gewalttätige Absichten gehabt hätten, ist der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit eröffnet. In Gestalt der Versammlungsverbote liegt ein Eingriff in das Recht auf Versammlungsfreiheit vor. Eine gesetzliche Grundlage unterstellt, verfolgte der Eingriff das legitime Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Fraglich ist, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Ausgehend von dem engen Zusammenhang zwischen Art 10 EMRK und Art 11 EMRK ist es in diesem Fall besonders problematisch, dass die Eingriffe in die Versammlungsfreiheit zumindest teilweise in Reaktion auf die von den Teilnehmern vertretenen Ansichten erfolgten. Es besteht kein Zweifel, dass die Einwohner einer Region eines Landes berechtigt sind, Vereinigungen zur Förderung der speziellen regionalen Charakteristika zu bilden. Insbesondere ist die Tatsache, dass eine solche Vereinigung ein „Minderheitenbewusstsein“ geltend macht, für sich allein noch kein Grund für einen Eingriff in die Rechte des Art 11 EMRK. Auch die Verweigerung der Eintragung genügt nicht, um eine Praxis von systematischen Verboten bezüglich der Abhaltung von Versammlungen zu rechtfertigen. Weder der behauptete Einsatz von Waffen noch eine Gefahr für die öffentliche Ordnung ließen sich hinreichend belegen. Allenfalls die Verbreitung separatistischer Ideen ließ sich im konkreten Fall nachweisen. Dies reicht aber nicht aus, um ein Versammlungsverbot zu rechtfertigen. In einer demokratischen Gesellschaft, die auf dem Rechtsstaatsprinzip beruht, muss politischen Ideen, welche die bestehende Ordnung angreifen und deren Verwirklichung durch friedliche Mittel angestrebt wird, angemessene Gelegenheit zur Verbreitung, wie etwa durch Versammlungen oder andere gesetzliche Mittel, gegeben werden. Insgesamt stellt sich der Eingriff daher als in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig dar. Art 11 EMRK ist verletzt.

IV. Vereinigungsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1981, 551 ff – Le Compte, Van Leuven and De Meyere; RJD 1998-I, 1 ff – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei; NJW 1999, 3695 ff – Chassagnou; NuR 2008, 489 ff – Schneider; EuGRZ 2003, 206 ff – Refah Partisi, Erbakan, Kazan und Tekdal. Schrifttum: Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2013, Kap 19; Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, 305 ff; Klein Parteiverbotsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, ZRP 2001, 397 ff; Koch Parteiverbote, Verhältnismäßigkeitsprinzip und EMRK, DVBl 2002, 1388 ff; Pabel Parteiverbote auf dem europäischen Prüfstand, ZaöRV 2003, 921 ff; Tomuschat in: MacDonald ua (Hrsg) The European System for the Protection of Human Rights, 1993, 493 f; Wildhaber Politische Parteien, Demokratie und Art 11. EMRK, FS Schefold, 2001, S 257 ff.

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Fall 6: (EGMR, EuGRZ 2003, 206 ff – Refah Partisi, Erbakan, Kazan und Tekdal) Die W wurde 1983 als politische Partei in der Türkei gegründet. Nachdem sie in den Parlamentswahlen 1995 mit ca. 22 % der Stimmen zur stärksten Partei im türkischen Parlament wurde, war sie an einer Koalitionsregierung beteiligt. Anfang 1998 wurde die W vom türkischen Verfassungsgerichtshof aufgelöst, da die Partei ein „Zentrum von Aktivitäten gegen das Prinzip des Säkularismus“ sei. In seiner Urteilsbegründung betonte der Verfassungsgerichtshof das Prinzip des Säkularismus als unverzichtbare Voraussetzung der Demokratie. Vertreter der Partei hätten in öffentlichen Reden wiederholt die Trennung von Staat und Religion in Frage gestellt. Zudem hätten Parlamentsabgeordnete der Partei zu einem „heiligen Krieg“ gegen ihre politischen Gegner und zur Einführung der Scharia aufgerufen. Zu-

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sätzlich entzog der Verfassungsgerichtshof den Parlamentsabgeordneten der W das Mandat und verbot ihnen, für die Dauer von fünf Jahren irgendeine Funktion in einer anderen Partei zu übernehmen.

1. Schutzbereich Die Vereinigungsfreiheit schützt den freien Zusammenschluss von Personen zu rechtmäßigen Zwecken. Der Staat muss also in seiner Rechtsordnung Möglichkeiten zum Zusammenschluss vorsehen, ohne dass daraus ein Anspruch auf bestimmte Rechtsformen resultieren würde.222 Grundsätzlich steht es den Staaten frei, die Voraussetzungen für die Gründung juristischer Personen zu regeln. Insbesondere schützt Art 11 I EMRK nicht die Gründung öffentlich-rechtlicher Institutionen. Selbst wenn es sich dabei um Zwangskörperschaften handeln sollte, liegt ein Eingriff in den Schutzbereich nach Auffassung des EGMR nur vor, wenn gleichzeitig die Bildung freier einschlägiger Vereinigungen ausgeschlossen ist.223 Ob und inwieweit die Vereinigungsfreiheit Auswirkungen auf das Gesellschaftsrecht – etwa im Sinne einer Einführung neuer Organisationsformen – hat, ist im Einzelnen umstritten.224 Dagegen hat die Vereinigungsfreiheit in den letzten Jahren als Parteienfreiheit zunehmend Bedeutung für das Parteienrecht erlangt.225 Parteien sind vom Schutzbereich des Art 11 I EMRK auch dann erfasst, wenn sie nach nationalem Recht einem Sonderregime unterstehen. Restriktive staatliche Maßnahmen gegen aus Sicht des betroffenen Staates als verfassungsrechtlich eingestufte Parteien entziehen diesen nicht den Schutz der Vereinigungsfreiheit.226 In den Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit fällt neben dem Zusammenschluss auch die Tätigkeit der Vereinigung, soweit sich dies aus der Konkretisierung in Gestalt der Koalitionsfreiheit ergibt.227 Nicht gewährleistet ist damit allerdings auch schon die Erreichung des Zwecks, für den die Vereinigung gegründet wurde.228 Obwohl Art 11 I EMRK (anders als Art 20 II der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) keine allgemeine Aussage über die so genannte negative Vereinigungsfreiheit, also die Freiheit, aus einer Vereinigung auszutreten oder ihr fernzubleiben, enthält, geht der EGMR davon aus, dass diese Freiheit Bestandteil von Art 11 I EMRK ist.229 Diese Freiheit ist vor allem für die so genannte negative Koalitionsfreiheit, auf die noch zurückzukommen ist, von Bedeutung.

222 223 224 225 226

227 228 229

Hierzu EGMR, EuGRZ 2007, 24, Rn 60 – Moskauer Zweig der Heilsarmee. EGMR, EuGRZ 1981, 551, Rn 65 – Le Compte, Van Leuven and De Meyere. Vgl dazu Marauhn RabelsZ 1999, 537, 550 ff. Der EGMR betont hier gelegentlich die Bedeutung von Art 10 EMRK für die Auslegung von Art 11 EMRK, vgl EGMR, RJD 2005-I, 209, Rn 44 – Partidul Comunistilor. Grabenwarter/Pabel EMRK § 23 Rn 76 unter Bezugnahme auf EGMR, RJD 1998-I, 1, Rn 27 – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei. Vgl auch EGMR, RJD 1998-III, 1233, Rn 29 – Sozialistische Partei ua. EGMR, EuGRZ 1975, 562, Rn 38–39 – Nationale Belgische Polizeigewerkschaft. EKMR, DR 9, 5, Rn 52 – Vereinigung X. EGMR, Series A, Vol 264, Rn 35 – Sigurdur Sigurjónsson; vgl auch NJW 1999, 3695, Rn 103 – Chassagnou und die Folgeentscheidung NuR 2008, 489 – Schneider; ÖJZ 2006, 550, Rn 54 – Sørensen und Rasmussen.

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2. Eingriff 79

Eingriffe können sowohl eine breite Vielfalt von Adressaten betreffen als auch sehr unterschiedliche Formen annehmen. Das Verbot von Vereinigungen und die Unterbindung bestimmter Aktivitäten dieser Vereinigungen lassen sich unproblematisch als Eingriffe qualifizieren. Ebenfalls als Eingriff zu werten ist darüber hinaus nationales Recht, das an die Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft in Vereinigungen Sanktionen knüpft. Dies gilt sowohl für gewerkschaftliche Beschäftigungsmonopole („closed shop“)230, auf die im Zusammenhang mit der Koalitionsfreiheit näher einzugehen ist (→ Rn 87), als auch für die Nicht-Beschäftigung im oder Entlassung aus dem Staatsdienst wegen Mitgliedschaft in einer (nicht verbotenen) politischen Partei.231 Ohne eine Aussage zur möglichen Drittwirkung zu treffen, hat der EGMR jüngst klargestellt, dass die Vereinigungsfreiheit den Staaten auch positive Pflichten auferlegt.232

3. Rechtfertigung 80

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Wie im Fall der Versammlungsfreiheit sind Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit dann gerechtfertigt, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen,233 einen der in Art 11 II 1 EMRK abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind.234 Nicht unproblematisch ist die Bezugnahme auf „die nationale oder öffentliche Sicherheit“ im Zusammenhang mit der Verteidigung nationaler kultureller Traditionen und nationaler historischer und kultureller Symbole. Dies dürfte grundsätzlich unzulässig sein, auch wenn der EGMR in einer Griechenland betreffenden Entscheidung das Vereinsverbot erst am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz scheitern ließ.235 Im Übrigen kann hinsichtlich der zulässigen Eingriffszwecke auf die Ausführungen zur Versammlungsfreiheit verwiesen werden. Besondere Bedeutung hat die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Bildung und dem Fortbestand politischer Parteien erlangt. Weder kann eine Partei allein aufgrund ihres Namens236 noch allein aufgrund ihres regierungskritischen Engagements für die Rechte von Minderheiten verboten werden.237 Etwas anderes kann freilich dann gelten, wenn eine Partei verfassungsfeindliche,

230 EGMR, EuGRZ 1981, 559, Rn 49 und 51–53 – Young, James und Webster; jetzt auch EGMR, ÖJZ 2006, 550 ff – Sørensen und Rasmussen. 231 EGMR, EuGRZ 1995, 590, Rn 44 – Vogt. Ein Eingriff liegt auch in dem Verbot für Parteivorsitzende, in Zukunft kein ähnliches Amt in einer anderen Partei zu bekleiden; EGMR, RJD 1999VIII, 293, Rn 27 – ÖZDEP. 232 EGMR, Urt v 20.10.2005, 74989/01, Rn 37 und 43–44 – Ouranio Toxo. 233 EGMR, RJD 2001-IX, 1, Rn 26, 31 f – N.F. In diesem Fall hielt der EGMR ein Gesetz, auf dessen Grundlage der Beitritt eines Richters zu einer Freimaurerloge sanktioniert wurde, für so vage und damit für den Betroffenen nicht vorhersehbar, dass letztlich vom Fehlen einer gesetzlichen Grundlage auszugehen war. Vgl auch die ähnlich gelagerte Entscheidung des EGMR, Urt v 17.02.2004, Rn 42 – Maestri. 234 Ausführlich zu dieser Voraussetzung EGMR, Urt v 11.10.2011, 48848/07, Rn 81 ff – Verein Rhino u. a. 235 EGMR, RJD 1998-IV, 1595, Rn 47 – Sidiropoulos. 236 EGMR, RJD 1998-I, 1, Rn 54 – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei. 237 EGMR, RJD 2002-II, 369, Rn 56–57 und 60 – Yazar, Karatas¸, Aksoy und Arbeitspartei des Volkes (HEP).

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insbesondere anti-demokratische und menschenrechtswidrige Ziele verfolgt und dabei gewaltsame Mittel zur Erreichung dieser Ziele nicht ausschließt. Dann kommt dem Staat ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu, innerhalb dessen der EGMR die Rechtfertigung von Eingriffen nicht im Einzelnen überprüft.238 Im Fall Vogt stellte der EGMR eine Verletzung der Vereinigungsfreiheit fest, weil die Beschwerdeführerin wegen ihrer Mitgliedschaft in der Deutschen Kommunistischen Partei aus dem Staatsdienst entlassen worden war, das Bundesverfassungsgericht diese Partei jedoch nicht verboten hatte.239 Zwar hat der EGMR ausdrücklich offen gelassen, ob Art 11 I 2 EMRK auch auf deutsche Lehrer im Beamtenverhältnis Anwendung findet. Ein aus der Treuepflicht staatlicher Bediensteter (soweit der personelle Anwendungsbereich dieser Vorschrift reicht) resultierendes Verbot, einer bestimmten Vereinigung beizutreten, dürfte aber in Ausnahmefällen jedenfalls dann von der besonderen Einschränkung gedeckt sein, wenn das Verbot auf gesetzlicher Grundlage beruht und ohne Willkür angewendet wird.240 Lösung Fall 6: Unstreitig ist der Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit eröffnet. Auch ist unproblematisch, dass die Auflösung der W und die damit einhergehenden Maßnahmen einen Eingriff darstellen. Ein solcher Eingriff ist dann gerechtfertigt, wenn er gesetzlich vorgesehen ist, eines der in Art 11 II EMRK genannten legitimen Ziele verfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft zur Durchsetzung dieser Ziele notwendig (also verhältnismäßig) ist. Der türkische Verfassungsgerichtshof ist gesetzlich befugt, eine Partei aufzulösen, die gegen Verfassungsprinzipien verstößt. Zu den Verfassungsprinzipien gehören auch der Gleichheitssatz und der Grundsatz einer demokratischen und säkularen Republik. Der Eingriff ist daher gesetzlich vorgesehen. Auch verfolgt der Eingriff mehrere der in Art 11 II EMRK genannten legitimen Ziele, nämlich den Schutz der nationalen und öffentlichen Sicherheit, die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten und den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Nach stRspr müssen ausreichende Beweise für eine Gefährdung der Demokratie vorliegen. Die Handlungen der Funktionäre der Partei sind dieser zurechenbar, soweit sich aus ihnen ein Gesamtbild des von der Partei angestrebten Gesellschaftsmodells ergibt. Der türkische Verfassungsgerichtshof begründete die Verfassungswidrigkeit der W in diesem Zusammenhang vor allem mit der angestrebten Einführung verschiedener Rechtssysteme für die Angehörigen unterschiedlicher Religionen sowie der damit verbundenen Anwendung der Scharia und dem möglichen Rückgriff auf Gewalt als politischem Mittel. In der Tat kann die Einführung verschiedener Rechtssysteme nicht als vereinbar mit der EMRK betrachtet werden. Ein solches System würde die Rolle des Staates als Garant individueller Rechte und Freiheiten weitgehend abschaffen. Überdies würde es dem Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK widersprechen. Auch ist die Scharia unvereinbar mit den grundlegenden Prinzipien der Demokratie, die in der Konvention festgeschrieben sind. Die Feststellung der Unvereinbarkeit der von der W angestrebten Einführung der Scharia mit der Demokratie durch den Verfassungsgerichtshof war daher gerechtfertigt. In Anbetracht der Unverein-

238 EGMR, EuGRZ 2003, 206, Rn 80–83 – Refah Partisi (Nr 2); dazu näher Bröhmer in: Dörr/ Grote/Marauhn, KK, Kap 19 Rn 99. 239 EGMR, EuGRZ 1995, 590, Rn 60 f und 66 ff – Vogt; diese Entscheidung ist zu unterscheiden von EGMR, RJD 1998-VI, 2356 – Ahmed. 240 EKMR, DR 50, 228, 240 – Council of Civil Service Unions.

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barkeit ihrer Ziele mit der Demokratie und der Tatsache, dass sie auch die Anwendung von Gewalt zum Erreichen dieser Ziele nicht ausgeschlossen hat, entspricht die Auflösung der W und der vorübergehende Entzug bestimmter politischer Rechte einzelner Funktionäre einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis und ist verhältnismäßig zum verfolgten Ziel. Der Eingriff ist daher notwendig in einer demokratischen Gesellschaft.

V. Koalitionsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1975, 562 ff – Nationale Belgische Polizeigewerkschaft; EuGRZ 1976, 62 ff – Schwedischer Lokomotivführerverband; EuGRZ 1981, 559 ff – Young, James u Webster; HRLJ 1996, 118 ff – Gustafsson; ÖJZ 2006, 550 ff – Sørensen und Rasmussen; NZA 2010, 1425 ff – Demir und Baykara; EKMR, DR 50, 228 ff – Council of Civil Service Unions. Schrifttum: Hendy The Human Rights Act, Article 11 and the right to strike, EHRLR 1998, 582 ff; Marauhn Die wirtschaftliche Vereinigungsfreiheit zwischen menschenrechtlicher Gewährleistung und privatrechtlicher Ausgestaltung. Zur Bedeutung von Art 11 EMRK für das kollektive Arbeitsrecht und das Gesellschaftsrecht, RabelsZ 1999, 537 ff; Wildhaber FS Vischer, 1983, S 349 ff; ders GYIL, 1976, 239 ff; Fütterer, Das Koalitions- und Streikrecht im EU-Recht nach dem Wandel der Rechtsprechung des EGMR zur Koalitionsfreiheit gemäß Art 11 EMRK (Demir und Baykara und andere), EuZA 2011 505 ff.

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Neben der Versammlungs- und der Vereinigungsfreiheit gewährleistet Art 11 I EMRK in Anlehnung an Art 20 und Art 23 Nr 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Recht, Gewerkschaften zum Schutz ihrer Mitglieder zu bilden und diesen beizutreten. Die ausdrückliche Gewährleistung der Koalitionsfreiheit ist keine Privilegierung dieses wichtigen Bestandteils des allgemeinen Rechts der Vereinigungsfreiheit gegenüber anderen Teilgewährleistungen.241 Vielmehr handelt es sich dabei um eine Klarstellung mit dem Ziel, die Gewerkschaftsfreiheit unabhängig davon zu gewährleisten, ob Koalitionen nach nationalem Recht als Vereinigungen anzusehen sind.242 Fall 7: (EGMR, HRLJ 1996, 118 ff – Gustafsson) G war Inhaber eines Restaurants. Er verweigerte die Mitgliedschaft im Hotel- und Gaststättenverband, so dass die Arbeitsverträge seiner Angestellten nicht den Kollektivverträgen unterlagen. Die Unterzeichnung eines entsprechenden Zusatzabkommens lehnte G ebenfalls ab. Daraufhin boykottierten ihn die Gewerkschaften, ua durch die Einstellung von Lieferungen an sein Restaurant. G ersuchte daraufhin die Regierung darum, auf die Gewerkschaften zwecks Einstellung der Boykottmaßnahmen einzuwirken. Diese verwies ihn auf die Zuständigkeit ordentlicher Gerichte. Rechtsmittel gegen die Untätigkeit der Regierung blieben erfolglos. Aufgrund von durch den Boykott verursachten finanziellen Schwierigkeiten musste G schließlich sein Restaurant verkaufen. G sieht sich durch die Untätigkeit der Regierung in seinen Rechten aus Art 11 EMRK verletzt.

241 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 9. 242 van Dijk/van Hoof Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl 2006, 834 f; Tomuschat in: MacDonald ua (Hrsg) The European System for the Protection of Human Rights, 1993, 493, 494.

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1. Schutzbereich Die in Art 11 I EMRK gewährleistete Koalitionsfreiheit schützt sowohl den einzelnen Staatsbürger als auch die Vereinigung selbst und ist daher ein Doppelgrundrecht. Speziell für die Tätigkeit der Gewerkschaften ergibt sich darüber hinaus unmittelbar aus der Formulierung „zum Schutze ihrer Interessen“ eine Gewährleistung für die Ausübung ihrer Tätigkeit. Verpflichtungsadressat ist der Staat. Art 11 I EMRK entfaltet keine unmittelbare Drittwirkung. Allerdings kann man von einer mittelbaren Drittwirkung in dem Sinne sprechen, dass eine staatliche Schutzverpflichtung gegenüber Beeinträchtigungen durch Dritte besteht.243 Ist der Staat selbst Arbeitgeber, so greift Art 11 EMRK unmittelbar.244

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a) Individuelle Koalitionsfreiheit Zur individuellen Koalitionsfreiheit des Art 11 I EMRK gehört zunächst das Recht, eine Gewerkschaft zu gründen und ihr beizutreten. Arbeitgebervereinigungen werden nicht ausdrücklich benannt. Es ist aber unstreitig, dass deren Bildung durch die allgemeine Vereinigungsfreiheit geschützt wird.245 Der EGMR billigte auch freien Ärztevereinigungen den Schutz des Art 11 I EMRK zu.246 Öffentlich-rechtliche Zwangszusammenschlüsse fallen dagegen – wie schon dargelegt – nicht unter Art 11 EMRK.247 Das Recht, einer Koalition beizutreten, besteht nur im Rahmen der Statuten dieser Koalition, die insoweit aufgrund von Art 11 I EMRK Autonomie genießt.248 Die eigentliche Bedeutung der Straßburger Spruchpraxis zur individuellen Koalitionsfreiheit liegt in der Anerkennung der negativen Koalitionsfreiheit.249 Diese Spruchpraxis wurde zunächst in der Auseinandersetzung mit so genannten „closed shop“-Regelungen entwickelt. Zwar ist der Abschluss einer Vereinbarung zwischen einem privaten Arbeitgeber und einer Gewerkschaft, wonach nur Arbeitnehmer mit einer bestimmten Gewerkschaftszugehörigkeit bei dem betreffenden Arbeitgeber beschäftigt werden dürfen, grundsätzlich von der Vertragsfreiheit beider Seiten gedeckt und fällt mangels unmittelbarer Drittwirkung des Art 11 I EMRK nicht in dessen Schutzbereich. Sanktioniert der Staat jedoch dieses System, indem er Entlassungen durch private Arbeitgeber wegen fehlender Gewerkschaftszugehörigkeit zulässt und in diesen Fällen keinen oder nur eingeschränkten Kündigungsschutz gewährt, so stellt sich unmittelbar die Frage nach der negativen Koalitionsfreiheit des betroffenen Arbeitnehmers.250 In ihrer Spruchpraxis betonten die Straß-

243 Vgl dazu eingehend Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 15; Tomuschat (Fn 242) S 504 f; van Dijk/van Hoof (Fn 242) S 435, 437 f; EGMR, EuGRZ 1981, 559, Rn 49 – Young, James u Webster. Vgl hierzu auch Wildhaber FS Vischer, 1983, S 349, 358 f. 244 EGMR, EuGRZ 1976, 62, Rn 37 – Schwedischer Lokomotivführerverband; EuGRZ 1976, 68, Rn 33 – Schmidt und Dahlström. 245 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 1; Tomuschat (Fn 242) S 494. 246 EGMR, EuGRZ 1981, 551, Rn 65 – Le Compte, Van Leuven and De Meyere. 247 EGMR, EuGRZ 1981, 551, Rn 62 ff – Le Compte, Van Leuven and De Meyere; EuGRZ 1983, 190, Rn 43 f – Albert und Le Compte. 248 EKMR, DR 42, 178, 185 f – Ernest Dennis Cheall. 249 Vgl dazu auch die wichtige Entscheidung zur Zwangsmitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft, EGMR, NJW 1999, 3695, Rn 103 – Chassagnou und die Folgeentscheidung NuR 2008, 489 – Schneider. Dazu Dietlein, Agrarrecht 2000, 76 ff. 250 So zutreffend dargelegt bei Tomuschat (Fn 242) S 502 f.

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burger Instanzen, sie hätten nicht zur Konventionskonformität des „closed shop“ als solchem Stellung genommen.251 Keine Verletzung von Art 11 I EMRK sah der Gerichtshof in einem Fall, in dem der Arbeitnehmer an einem ihm von seinem Arbeitgeber angebotenen anderen Arbeitsplatz hätte weiterarbeiten können.252 Art 11 I EMRK ist nach Auffassung des Gerichtshofs auch auf Boykottmaßnahmen von Gewerkschaften anwendbar, die das Ziel verfolgen, einen Arbeitgeber zur Mitgliedschaft in einem Berufsverband oder zur Teilnahme an einem Kollektivvertragssystem zu zwingen.253 Derartige Maßnahmen berühren den Schutzbereich der negativen Vereinigungsfreiheit. Allerdings soll der Staat nur dann zum Eingreifen verpflichtet sein, wenn die Boykottmaßnahmen tatsächliche Auswirkungen auf die Vereinigungsfreiheit zeigten. b) Kollektive Koalitionsfreiheit, insbesondere Tarifautonomie und Arbeitskampffreiheit 88

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Art 11 EMRK schützt nicht nur die individuelle, sondern auch die kollektive Koalitionsfreiheit. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Norm. Die kollektive Koalitionsfreiheit wurde von den Konventionsorganen erstmals in den 1970er Jahren ausdifferenziert.254 Dabei vertrat der Gerichtshof lange die Auffassung, Art 11 I EMRK gewährleiste weder ein spezifisches Konsultationsrecht der Gewerkschaften gegenüber privaten oder staatlichen Arbeitgebern in Berufsangelegenheiten noch einen Anspruch auf den Abschluss bestimmter Tarifverträge.255 Erst 2008 hat er ausdrücklich entschieden, dass das Recht auf kollektive Vertragsverhandlungen mit den Arbeitgebern und damit auch das Recht auf Abschluss von Tarifverträgen ein wesentliches Element der von Art 11 I EMRK gewährleisteten Koalitionsfreiheit ist.256 Der Gerichtshof begründet dies mit völker- und europarechtlichen Weiterentwicklungen und verweist zudem auf das innerstaatliche Recht der Vertragsstaaten.257 Schon deutlich früher hatte der Gerichtshof dagegen das Streikrecht als eine der wichtigsten Kollektivmaßnahmen bezeichnet; er verwies dabei allerdings auf die Einschränkungsmöglichkeiten, die auch in der Europäischen Sozialcharta vorgesehen sind, und betonte, dass dem Staat ein weiter Spielraum hinsichtlich der Zulässigkeit einzelner Eingriffe verbleibe.258 Danach schien es zulässig zu sein, den Gewerkschaften an Stelle eines Streikrechts andere angemessene Mittel zum Schutz der Interessen ihrer Mitglieder zur Verfügung zu stellen.259 Zwar hat der EGMR auch in seiner neueren Rechtsprechung ein generelles Streikrecht (noch) nicht anerkannt, jedoch entschieden, dass ein Streikverbot einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Rechte der Gewerkschaften darstellen könne.260 Damit berücksichtigt der EGMR nunmehr, dass Art 11 EMRK den typischen

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EGMR, EuGRZ 1981, 559, Rn 61 – Young, James u Webster. EGMR, Series A, Vol 258-A, Rn 29 – Sibson. EGMR, HRLJ 1996, 118 ff – Gustafsson. Eingehend Wildhaber GYIL 1976, 238 ff. EGMR, EuGRZ 1975, 562, Rn 38 – Nationale Belgische Polizeigewerkschaft; EuGRZ 1976, 62, Rn 39 – Schwedischer Lokomotivführerverband. EGMR, NZA 2010, 1425, Rn 154 – Demir und Baykara. EGMR, NZA 2010, 1425, Rn 147 ff – Demir und Baykara. EGMR, EuGRZ 1976, 68, Rn 68 ff – Schmidt und Dahlström; zum Streikrecht Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 19 Rn 102. So die Einschätzung von Villiger EMRK 417 f. EGMR, ÖJZ 2003, 276, Rn 1 – Unison.

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Zweck gewerkschaftlicher Organisation schützt. Neben einer grundsätzlichen Gleichbehandlung von Gewerkschaften mit dem Einzelnen hinsichtlich der Wahrnehmung ihrer Interessen in Berufsangelegenheiten bringt er den Schutzbereich von Art 11 EMRK jedenfalls dann zur Anwendung, wenn Gewerkschaften eine Funktion wahrnehmen, die ein Einzelner gerade nicht wahrnehmen kann.261 Schon aufgrund der Rechtsprechung der späten 1990er Jahre konnte man schlussfolgern, dass jedenfalls der völlige Ausschluss des Streikrechts nicht mit Art 11 EMRK vereinbar ist.262

2. Eingriff In die Koalitionsfreiheit kann auf unterschiedliche Art und Weise eingegriffen werden. In der Spruchpraxis der Straßburger Organe hat neben direkten Eingriffen, wie einem Gewerkschaftsverbot, in erster Linie die staatliche Sanktionierung der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses wegen fehlender Gewerkschaftszugehörigkeit eine Rolle gespielt. Auch die Zwangsmitgliedschaft in einer privatrechtlichen Vereinigung für Selbstständige wurde im Fall eines Taxifahrers, dem in der Folge seines Austritts aus einer Berufsvereinigung seine Taxikonzession entzogen worden war, als Eingriff angesehen.263 Darüber hinaus sind – wie schon dargelegt – auch gewerkschaftliche Boykottmaßnahmen, die einen Arbeitgeber zur Teilnahme an einem Kollektivvertragsystem veranlassen sollen, als Eingriffe zu werten.264

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3. Rechtfertigung Weder die individuelle noch die kollektive Koalitionsfreiheit werden von Art 11 EMRK unbegrenzt gewährleistet. Eingriffe sind gerechtfertigt, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, einen der in Art 11 II 1 EMRK abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind. Hinsichtlich der zulässigen Eingriffszwecke kann auf die Ausführungen zur Versammlungsfreiheit verwiesen werden (→ Rn 76). Besondere Bedeutung kommt bei der Koalitionsfreiheit der Beschränkungsklausel des Art 11 II 2 EMRK zu. Diese Bestimmung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zunächst stellt sich die Frage, wer zu den Mitgliedern der Staatsverwaltung zu rechnen ist, die neben denen der Streitkräfte und der Polizei genannt werden. Die offene Formulierung birgt Unsicherheiten hinsichtlich des Anwendungsbereichs. Die frühere Kommission stellte darauf ab, dass es sich um Personen handeln muss, die lebensnotwendige Funktionen zum Schutz der nationalen Sicherheit wahrnehmen265 und nahm damit eine funktionale Betrachtung vor.266 Dementsprechend wurde das Gewerkschaftsverbot für Angehörige eines britischen Telekommunikationszentrums für militärische und andere amtliche Nachrichtensendungen unter Bezugnahme auf Art 11 II 2 EMRK für konven-

261 In diese Richtung argumentierte früher schon Tomuschat (Fn 242) 500 f. 262 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 13; Frowein in: Vassilouni (Hrsg) Aspects of the protection of individual and social rights, 1995, 203, 213. Ebenso Hendy EHRLR 1998, 582, 587 und 608 ff. 263 EGMR, Series A, Vol 264, Rn 35 – Sigurdur Sigurjónsson. 264 EGMR, HRLJ 1996, 118, Rn 44–45 – Gustafsson. 265 EKMR, DR 50, 228, 239 – Council of Civil Service Unions. 266 Tomuschat (Fn 242) S 511.

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tionsgemäß gehalten.267 In Bezug auf verbeamtete deutsche Lehrer ließ der Gerichtshof zunächst ausdrücklich offen, ob sie unter die besondere Einschränkung fallen.268 Allerdings sah der EGMR zuletzt in disziplinarrechtlichen Sanktionen gegen Mitglieder einer Gewerkschaft von Staatsbediensteten wegen der Teilnahme an einem Streik eine unverhältnismäßige Beschränkung der Koalitionsfreiheit, weil das Streikverbot im konkreten Fall alle Mitglieder des öffentlichen Dienstes betraf.269 Die Auswirkungen dieser Rechtsprechung auf das deutsche Beamtenrecht sind noch nicht ausdiskutiert;270 allerdings ist der deutsche Beamtenstatus rechtlich enger gefasst als der Begriff „civil servant“.271 Der Wortlaut der Vorschrift legt es nahe, zwischen der Ausübung der Rechte und ihrer Inhaberschaft zu unterscheiden: In einer frühen unveröffentlichten Kommissions-Entscheidung wurde offensichtlich das gegenüber einem belgischen Polizeibeamten verhängte Koalitionsverbot unter Bezugnahme auf Art 11 II 2 EMRK für konventionsgemäß gehalten. Diese Entscheidung ist deshalb kritisiert worden, weil sie den betroffenen Personen die Koalitionsfreiheit vorenthält, obwohl es eigentlich ausreichen sollte, die Modalitäten der Ausübung dieser Freiheit zu beschränken.272 Nur ein Anknüpfen der staatlichen Beschränkung an die Ausübung ermöglicht eine differenzierte Lösung.273 Eine vollständige Untersagung der Ausübung kann dann im konkreten Fall gerechtfertigt werden, sofern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt bleibt;274 andererseits dürfte aber ein Entzug des Rechts als solches kaum zulässig sein. Schließlich stellt sich mit Blick auf Satz 2 noch die Frage, ob für derartige staatliche Beschränkungen der Koalitionsfreiheit eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist. Nicht zu überzeugen vermag eine von der früheren Kommission geäußerte Auffassung, diese Beschränkungen müssten lediglich den allgemeinen Rechtsmäßigkeitsanforderungen genügen.275 Art 11 I 2 EMRK ersetzt nämlich lediglich die Zweckbestimmung der Beschränkungsklausel des Satzes 1, nicht aber die übrigen Anforderungen an staatliche Beschränkungen.276 Dies gilt in jedem Fall für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.277 Darüber hinaus wird man trotz des unterschiedlichen Wortlauts im Vergleich zu den in Art 8 bis 10 und Art 11 I 1 EMRK verwendeten Beschränkungsklauseln für Art 11 I 2 EMRK auch eine ähnlich klare Rechtsgrundlage fordern müssen,278 wenn man nicht den grundsätzlich auch diesen Trägern staatlicher Funktionen zustehenden Schutz der Versammlungs-, Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit erheblich relativieren will.

267 Zu den in diesem Zusammenhang bei der Internationalen Arbeitsorganisation eingelegten Beschwerden vgl Mills EHRLR 1997, 35, 41 ff. 268 EGMR, EuGRZ 1995, 590, Rn 68 – Vogt. 269 EGMR, NZA 2010, 1423, Rn 24 und 32 – Enerji Yapı-Yol Sen. 270 Statt aller dazu Lindner DÖV 2011, 305 ff. 271 Zutreffender Hinweis bei Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 19 Rn 109. 272 van Dijk/van Hoof (Fn 242) 439 (dort ist auch die Kommissionsentscheidung nachgewiesen). 273 Velu/Ergec La convention européenne des droits de l’homme, 1990, 659. 274 So wohl Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 18. 275 EKMR, DR 50, 228, 240 – Council of Civil Service Unions. 276 So überzeugend Tomuschat (Fn 242) S 512. 277 Ausdrücklich van Dijk/van Hoof (Fn 242) S 439. 278 Davon geht offensichtlich auch Villiger EMRK, 419 aus.

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Kommunikationsgrundrechte

§ 4 VI

Lösung Fall 7: Zunächst ist zu prüfen, ob der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit überhaupt betroffen ist. Die Boykottmaßnahmen der Gewerkschaften zielten darauf ab, G zur Teilnahme am Kollektivvertragssystem zu zwingen. G standen dafür zwei Möglichkeiten offen: entweder die Mitgliedschaft im Hotel- und Restaurantverband oder die Unterzeichnung eines Zusatzabkommens. Darin liegt eine Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit des G, die in den Schutzbereich von Art 11 EMRK fällt. Ein Eingriff liegt nur vor, wenn der Staat zum Handeln verpflichtet ist. Eine solche positive Pflicht gemäß Art 11 EMRK ist dann gegeben, wenn die gerügten Handlungen tatsächliche Auswirkungen auf die Vereinigungsfreiheit zeigen. Die Ausübung von Zwang allein – auch wenn dies wie hier wirtschaftliche Schäden verursachte – bedingt diese Pflicht noch nicht. Auch wenn man die Bedeutung der Kollektivverträge im Arbeitsrecht berücksichtigt und somit der Auffassung ist, dass die umstrittenen Boykottmaßnahmen der Gewerkschaften einen legitimen Zweck verfolgten, bestehen doch erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit. In der Untätigkeit der Regierung kann man eine Verletzung des Untermaßverbotes sehen.279

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VI. Zusammenfassung Die hohe Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte im System der EMRK kommt in dem umfassenden Schutz, der durch differenzierte Teilgewährleistungen sichergestellt werden soll, zum Ausdruck. Das Nebeneinander vieler Teilfreiheiten in Art 10 und 11 EMRK soll Schutzlücken verhindern. Dabei geht der Gerichtshof davon aus, dass die Gewährleistungen des Art 11 I EMRK gegenüber denen aus Art 10 I EMRK die spezielleren sind und deshalb vorrangig zu prüfen sind, weil die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit besondere Formen der Meinungsäußerung schützen.280 Innerhalb der Freiheiten des Art 11 I EMRK ist die Koalitionsfreiheit ein besonderer Fall der Vereinigungsfreiheit. Abgesehen von der Koalitionsfreiheit, bei der sich eine Reihe von Besonderheiten aus dem Verhältnis zur Europäischen Sozialcharta und zu anderen völkerrechtlichen Gewährleistungen gewerkschaftlicher Aktivitäten ergeben, sind die Schutzbereiche der Kommunikationsgrundrechte grundsätzlich weit auszulegen. Nur so lässt sich der demokratischen Funktion dieser Grundrechte Rechnung tragen, obwohl Art 10 und 11 EMRK nicht auf diese Funktion beschränkt sind. Eingriffe in die Kommunikationsgrundrechte können auch indirekt erfolgen. Zu differenzieren ist dann bei der Prüfung der Rechtfertigung, bei der regelmäßig strenge Maßstäbe sowohl an die Eingriffszwecke als auch an die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anzulegen sind. Ob und inwieweit beide Grundrechte auf wirtschaftliche Sachverhalte angewendet werden können, ist nach wie vor in der Diskussion. Trotz des offenen Wortlauts vertritt eine Reihe von Autoren die Auffassung, dass die Kommunikationsgrundrechte wirtschaftliche Freiheiten eher nicht gewährleisten. Nicht nur habe die Konvention ursprünglich keine erwerbswirtschaftlichen Freiheitsrechte gewährleistet, auch schützten die Kommunikationsgrundrechte nicht bestimmte Inhalte, sondern in erster Linie bestimmte Kommunikationsformen. Beide Argumente vermögen nicht zu überzeugen, zumal sich Art 11 I

279 Der EGMR hat im konkreten Fall allerdings keine Verletzung festgestellt, vgl EGMR, HRLJ 1996, 118, Rn 54–55 – Gustafsson. 280 EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 35 – Ezelin.

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§ 4 VI

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EMRK sowohl der Kategorie der politischen als auch dem Bereich der wirtschaftlichen Rechte zuordnen lässt. Zur wirtschaftlichen Dimension der in Art 10 I EMRK gewährleisteten Rechte liegt nunmehr in ausreichendem Maße Rechtsprechung vor, die klarstellt, dass Art 10 EMRK auch Informationen wirtschaftlicher Natur schützt.281 Die Kommunikationsgrundrechte lassen sich eben nicht auf bloße Ausübungsrechte reduzieren, auch wenn etwa im Rahmen der Vereinigungsfreiheit die Erreichung des Vereinigungszwecks nicht gewährleistet wird.282 Letztlich vermag keines der Argumente für eine restriktive, auf nicht-wirtschaftliche beschränkte Interpretation der Kommunikationsgrundrechte zu überzeugen. So ist davon auszugehen, dass Art 10 und 11 EMRK mit ihrem offenen Wortlaut auch die wirtschaftliche Dimension der Kommunikation schützen.

281 EGMR, EuGRZ 1996, 302, Rn 26 – markt intern Verlag GmbH Klaus Beermann; vgl auch HRLJ 1994, 184, Rn 35 – Casado Coca. 282 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 7 mwN – Interessant ist die verfassungsrechtliche Parallele: Nach Auffassung des BVerfGs schützt Art 9 I GG auch die werbewirksame Selbstdarstellung eines Vereins (BVerfGE 84, 372 ff).

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§5 Wirtschaftsgrundrechte Bernhard W. Wegener Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside; EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong u Lönnroth; EuGRZ 1988, 341 ff – James; EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow; EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI; RUDH 1989, 578 ff – Tre Traktörer AB; HRLJ 1992, 36 ff – Pine Valley; EuGRZ 2004, 57 ff; (GK) NJW 2005, 2907 ff – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2. Schrifttum: Condorelli in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg) La Convention Européenne des droits de l’homme, 1999, S 971 ff; Cremer in: Grote/Marauhn (Hrsg) EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap 22, S 1222–1345; v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 215 ff; Fiedler Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Schutz des Eigentums, EuGRZ 1996, S 354 ff; Fischborn Enteignung ohne Entschädigung nach der EMRK?, 2010; Frowein Der Eigentumsschutz in der Europäischen Menschenrechtskonvention in: FS Rowedder, 1994, S 49 ff; Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996; Grabenwarter/Pabel Europäische Menschenrechtskonvention, 5 Aufl 2012, S 495–516; Hartwig Der Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, RabelsZ 63 (1999), S 561 ff; Harris/O’Boyle/Warbrick Law of the European convention on human rights, 1995, S 516 ff; Kaiser in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 1 ZP I; Mahlzahn Bedeutung und Reichweite des Eigentumsschutzes in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2007; Meyer-Ladewig Europäische Menschenrechtskonvention, 2011; Mittelberger Der Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK im Lichte der Rechtsprechung der Straßburger Organe, 2000; ders Die Rechtsprechung des ständigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Eigentumsschutz, EuGRZ 2001, 364 ff; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S 62 ff; Peters Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, S 193–201; Peukert Der Schutz des Eigentums nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, EuGRZ 1981, 97 ff; Peukert in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention 2009, Art 1 des 1. ZP; Reininghaus Eingriffe in das Eigentumsrecht nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 2002.

I. Einführung Der internationalrechtliche Schutz der Wirtschaftsgrundrechte ist keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil verzichten völkerrechtliche Regelungen des Grundrechtsschutzes nicht selten auf die Normierung entsprechender Garantien. Zwar normierte schon die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 in Art 17 eine Gewährleistung des Eigentums.1 Anlässlich der Verhandlungen über die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) konnte man sich aber zunächst nicht auf einen Schutz der Eigentumsfreiheit verständigen, so dass diese 1950 ohne eine entsprechende Garantie verabschiedet wurde. Bereits zwei Jahre später einigte man sich dann aber auf ihre Aufnahme in das am

1 „1. Jeder hat das Recht, sowohl allein als auch in Gemeinschaft mit anderen Eigentum innezuhaben. 2. Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt werden.“ Zur ursprünglichen Absicht des Rechtsausschusses der Beratenden Versammlung des Europarates, eine Eigentumsgarantie der EMRK in Form der Bezugnahme auf Art 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorzuschlagen und zu weiteren Einzelheiten der Vorgeschichte von Art 1 1. ZP EMRK: Peukert EuGRZ 1981, 97 f mwN.

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§ 5 II

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Bernhard W. Wegener

20. März 1952 unterzeichnete 1. Zusatzprotokoll zur EMRK.2 Jenseits der Eigentumsgarantie fehlt es der EMRK bis heute nahezu völlig an weitergehenden Gewährleistungen wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte.3 Insbesondere verzichtet sie auf eine eigenständige Normierung der Garantie der Berufsfreiheit.4 Motive dieser Zurückhaltung waren – neben dem historisch überwundenen Systemgegensatz – vor allem die Unterschiede in den nationalen Vorstellungen über die Ausgestaltung der eigenen Wirtschaftsordnung sowie die Sorge vor ihrer zu weitgehenden völkerrechtlichen Überformung und vor einem Verlust einzelstaatlicher Gestaltungsfreiheit zugunsten eines grundrechtlich angeleiteten „gouvernement des juges“ im Bereich der Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftspolitik.5 Angesichts der im europäischen und globalen Maßstab wachsenden Angleichung der Wirtschafts- und Sozialordnungen haben sich diese Motive in den letzten Jahrzehnten sicherlich relativiert. In der Vergangenheit aber prägte die Zurückhaltung bei der Normierung internationaler Garantien der Wirtschaftsfreiheit, die ihren Niederschlag auch in einer betont eingeschränkten Formulierung der entsprechenden Garantien gefunden hat,6 die eher vorsichtige und tastende Entwicklung der Spruchpraxis des EGMR.7 In jüngster Zeit nimmt die Zahl der festgestellten Grundrechtsverstöße jedoch deutlich zu.8

II. Schutz des Eigentums 3

Art 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK, das bislang von 45 der 47 Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert wurde,9 garantiert den „Schutz des Eigentums“10 wie folgt:

2 Zur Entstehungsgeschichte von EMRK und 1. ZP EMRK vgl Robertson Human Rights in Europe, 1977, S 5 ff; v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 220 ff. 3 Frowein The Protection of Property in: MacDonald/Matscher/Petzold (Hrsg) The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S 515; Kaiser in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 1 ZP I Rn 1. 4 Näher dazu u Rn 12 und 61. 5 Vgl dazu mit Blick auf die Garantie der Eigentumsfreiheit: Fiedler EuGRZ 1996, 354: „rechtspolitisch delikat“, „ureigene Dispositionsbereich des Staates“, „existentiellen Lebensnerv“. 6 Vgl die entsprechende Bewertung der Garantie des Eigentumsrechts in Art 1 1. ZP EMRK durch Harris/O’Boyle/Warbrick Law of the ECHR, 1995, S 516: „a much qualified right, allowing the state a wide power to interfere with property“. 7 Kritischer noch spricht Mittelberger EuGRZ 2001, 364, 366 mit Blick auf die Rspr zu Art 1 1. ZP EMRK von einer „Phase …, während welcher der Gerichtshof größtenteils zu Ergebnissen kam, die dem Eigentumsschutz in Europa nicht unbedingt dienlich waren“; vgl zur Kritik im Übrigen: Fromont GS Geck, 1990, S 213 f; Dolzer FS Zeidler, 1987, S 1679. 8 Kritisch zur älteren Rspr zu Art 1 1. ZP EMRK: Clements European Human Rights – Taking A Case Under The Convention, 1994, S 201: „Article 1 of the First Protocol is frequently invoked, but violations are seldom found“. Tendenziell aA Frowein FS Rowedder, 1994, S 49, wonach die Rspr seit den achtziger Jahren stärkere Konturen gewonnen habe. 9 Die zwei Staaten, die bis zum 28.01.2014 das 1. Zusatzprotokoll nicht ratifiziert haben, sind die Schweiz (Mitglied seit 1963) und Monaco (Mitglied seit 2004), vgl auch EuGRZ 2008, 439. In Deutschland wurde das 1. Zusatzprotokoll 1957 ratifiziert, vgl BGBl II 1956, 1880. 10 Überschrift des Art 1 1. ZP EMRK.

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Wirtschaftsgrundrechte

§ 5 II 1

„Jede natürliche oder juristische Person hat ein Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. Die vorstehenden Bedingungen beeinträchtigen jedoch in keiner Weise das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums in Übereinstimmung mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern, sonstiger Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.“11

4

Das hier gewährleistete Grundrecht unterscheidet sich von den entsprechenden Garantien des nationalen Verfassungsrechts vor allem durch seine fehlende Anbindung an eine konkrete rechtlich konstituierte Eigentums- und Wirtschaftsordnung. Es ist daher weniger „normgeprägt“ als die Garantien des nationalen Rechts.12 Daraus folgt allerdings – entgegen einer gelegentlich vertretenen Meinung13 – nicht, dass Art 1 1. ZP EMRK zugleich der Charakter einer Institutsgarantie abzusprechen wäre. Ein weiterer, wesentlicher Unterschied liegt darin, dass in der Eigentumsgarantie der EMRK keine Junktimklausel wie in Art 14 III GG enthalten ist, sondern die Frage nach dem Ob und Wie der Entschädigung in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einfließt.14 Die Prüfung einer Verletzung des hier gewährleisteten Grundrechts kann grundsätzlich entsprechend dem aus dem deutschen Recht vertrauten Dreischritts von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung erfolgen.15

5

6

1. Schutzbereich der Eigentumsgarantie Fall 1: (nach EGMR, JZ 1997, 405 ff – Gaygusuz) G ist türkischer Staatsangehöriger und arbeitete als sozialversicherter Arbeitnehmer elf Jahre in Österreich. Nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes bezog er Arbeitslosenunterstützung. Nach deren Auslaufen beantragt er die Gewährung der sich anschließenden sog „Not-

11 Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20. März 1952, BGBl II 1956, 1879. Die authentische englische Fassung lautet: “Every natural or legal person is entitled to the peaceful enjoyment of his possessions. No one shall be deprived of his possessions except in the public interest and subject to the conditions provided for by law. The preceding provisions shall not, however, in any way impair the right of a State to enforce such laws as it deems necessary to control the use of property in accordance with the general interest or to secure the payment of taxes or other contributions or penalties.” Mit der vielfach kritisierten Verwendung der unterschiedlichen Begriffe „possessions / property“ bzw „propriété / biens“ in den engl bzw franz Originalfassungen verbindet sich kein unterschiedlicher Sinngehalt. Schon in seiner ersten Entscheidung zum Eigentumsrecht betonte der EGMR, dass jeweils das Eigentum in einem einheitlichen Sinne gemeint sei, vgl dazu EGMR, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside sowie später EuGRZ 1979, 454 ff – Marckx; näher dazu Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 4 ff. 12 Ähnlich Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 2; zur Eigenständigkeit des Eigentumsbegriffs der EMRK gegenüber dem der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten des Europarates: EKMR, EuGRZ 1993, 607, 609 – Heilige Klöster. 13 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 2. 14 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 2. 15 Zur Möglichkeit einer solchen Übertragung, ihren Funktionen und ihren Grenzen → § 2 Rn 67.

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§ 5 II 1

Bernhard W. Wegener

standshilfe“, die nach österreichischem Recht zeitlich unbefristet an diejenigen gezahlt wird, die keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung mehr haben. Sein Antrag wird mit dem Hinweis darauf abgewiesen, Notstandshilfe werde nach der gesetzlichen Regelung allein österreichischen Staatsangehörigen gewährt.

a) Allgemeines 8

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Eigentum im Sinne des Art 1 1. ZP EMRK meint nicht allein das Eigentum an beweglichen und unbeweglichen Sachen. Erfasst werden vielmehr grundsätzlich alle wohlerworbenen vermögenswerten Rechte (acquired rights, droits acquis).16 Der EGMR legt den Begriff des Eigentums nicht allein rechtsvergleichend, sondern grundsätzlich autonom17 aus. Der Schutz nach Art 1 1. ZP EMRK muss deshalb nicht mit dem nationalen Standard eines Konventionsstaats übereinstimmen.18 Zu den vermögenswerten Rechten zählen etwa auch Anteile an Handelsgesellschaften19, Anteile an einer Erbengemeinschaft20 und ähnliche geldwerte Vermögenspositionen21. Auch ein Erstattungsanspruch, der auf Grund der unmittelbaren Anwendbarkeit einer EG-Richtlinie besteht, kann unter die Eigentumsgarantie fallen.22 Die Rechtsprechung der Konventionsorgane bezieht in ihre weite und autonom konventionsrechtliche Auslegung auch solche Rechte mit ein, die nach der Rechtsordnung des Staates, gegen den Beschwerde geführt wird, nicht geschützt sind.23 Träger des Eigentumsrechts sind nach der ausdrücklichen Formulierung des Art 1 I 1. ZP EMRK nicht allein natürliche, sondern auch juristische24 Personen.25 Ob angesichts dieses Umstandes die Interpretation des Eigentumsrechts der EMRK allein an seinem Charakter als einem „Menschenrecht“ orientiert werden kann,26 erscheint zumindest zweifelhaft.27

16 Frowein (Fn 8) S 49, 50; Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 2; vgl auch umfassend zum Schutzbereich Fischborn Enteignung ohne Entschädigung nach der EMRK?, 2010, S 5 ff. 17 Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 2; EGMR v 14.05.2013, 66529/11, Rn 33 – N.K.M. 18 Meyer-Ladewig EMRK, Art 1 1. ZP, Rn 9; Kaiser in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 1 ZP I, Rn 2; EGMR v 14.05.2013, 66529/11, Rn 33 – N.K.M. 19 Vgl dazu EGMR, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow. 20 EGMR, NJOZ 2012, 2235, Rn 37 – Göbel. 21 Zur Frage, ob auch das Vermögen als solches in den Anwendungsbereich des Art 1 1. ZP EMRK fällt, s Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S 69; aA v Danwitz (Fn 2) S 233 f. 22 EGMR, EuGRZ 2007, 671 ff – S. A. Dangeville; Cremer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 41, 45. 23 EGMR, EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong u Lönnroth; RUDH 1989, 578 ff – Tre Traktörer AB; EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König; Harris/O’Boyle/Warbrick (Fn 6) S 516, 517 f; Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 200. 24 Zum Schutz des Eigentums juristischer Personen des Öffentlichen Rechts s Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 7 sowie § 13 Rn 10; Müller-Michaels (Fn 21) S 70. 25 Zur (zweifelhaften) Bedeutung der Bestimmung für die kollisionsrechtliche Frage nach Sitz- oder Gründungstheorie des internationalen Gesellschaftsrechts: Engel ZEuP 1993, 150 ff. 26 So aber Gelinsky (Fn 23) 1996, S 36 ff; zu diesem Ansatz im Übrigen: Riedel Theorie des Menschenrechtsstandards, 1986, 65 ff, 118 f. 27 Ähnlich Frowein (Fn 8) S 49; van Dijk/van Hoof Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 2006, 864.

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Wirtschaftsgrundrechte

§ 5 II 1

In zeitlicher Hinsicht ist zu beachten, dass Art 1 1. ZP EMRK erst ab dem Tag der Ratifikation des 1. ZP durch einen Konventionsstaat gilt.28 Vor diesem Zeitpunkt erlassene Maßnahmen können nur dann an den Vorgaben von Art 1 1. ZP EMRK gemessen werden, wenn sich diese fortdauernd auswirken.29 Daher schützt Art 1 1. ZP EMRK nicht vor Enteignungen, die vor der Ratifikation des 1. ZP erfolgten, weil Enteignungen einen einmaligen Eingriff darstellen und keinen fortdauernden Zustand begründen.30 Überdies verpflichtet Art 1 1. ZP EMRK einen Staat nicht dazu, Unrecht wieder gut zu machen, das vor der Ratifikation des ZP bzw. der Konvention als solcher geschehen ist.31

9a

b) Schutz des Bestandes, nicht des Erwerbs Vom Begriff des Eigentums nicht umfasst werden bloße Erwartungen und Chancen, die sich noch nicht zu einer vermögenswerten und rechtlich gesicherten Position verfestigt haben.32 Gewissermaßen spiegelbildlich stellt auch die bloße Hoffnung, ein ehemals bestehendes und in den Zeitläufen entwertetes und bestrittenes Eigentumsrecht werde wieder erstarken, oder ein bedingter Anspruch, der infolge des Nichteintritts der Bedingung erloschen ist, als solche kein Eigentum dar.33 Insoweit kann in Übereinstimmung mit der Spruchpraxis der Kommission34 davon gesprochen werden, ein Recht zum Eigentumserwerb werde nicht geschützt.35 Vom Schutzbereich umfasst sind grundsätzlich alle erworbenen Rechte mit Vermögenswert.36 Geschützt sind jedenfalls privatrechtliche Vermögenspositionen. Dazu gehören bestehende Eigentumsrechte nach nationalem Recht und unbedingt entstandene Ansprüche37 auf vermögenswerte Leistungen bzw Forderungen, sofern diese durchsetzbar sind („sufficiently established to be enforceable“).38 Dies sind Forderungen, die bereits durch eine endgültige und verbindliche gerichtliche Entscheidung anerkannt wurden.39 Auch „berechtigte Erwartungen“ („legitimate expectations“) können schutzwürdige Positionen darstellen, wenn der Inhaber einer Forderung auf deren Erfüllung legitimerweise vertrauen kann40. Der EGMR bejaht dies, wenn die Forderung auf einer ausreichenden Grundlage im innerstaatlichen Recht beruht. Das ist zum Beispiel

28 EGMR, NJW 2009, 3775, Rn 55 – Preußische Treuhand-GmbH u Co KG. 29 Kaiser in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 1 ZP I Rn 26. 30 EGMR, NJW 2007, 347, Rn 86 – Blecic; NJW 2009, 3775 Rn 57 – Preußische Treuhand-GmbH u Co KG. 31 Meyer-Ladewig EMRK, Art 1 1. ZP, Rn 55 f; EGMR, NJW 2009, 3775, Rn 64 – Preußische Treuhand-GmbH u Co KG. 32 Harris/O’Boyle/Warbrick (Fn 6) S 517. 33 EGMR, EuGRZ 2001, 466 ff – Fürst Hans-Adam II. von u zu Liechtenstein; NJOZ 2005, 2912 ff – Kopecky. 34 Vgl dazu die Nachw bei Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Fn 11. 35 So Villiger EMRK, Rn 669; Cremer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 31; Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 3. 36 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 3. 37 EGMR, ÖJZ 2011, 188 ff – 92.9 Hit FM Radio GmbH; Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 4. 38 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 3. 39 Cremer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 43; Meyer-Ladewig EMRK, Art 1 Rn 12 f. 40 Cremer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 43; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 3; EGMR, NVwZ 2012, 1455, Rn 39 – Althoff; EuGRZ 2011, 477, Rn 77 – Sfountouris = JK 2012, EMRK Art 1 1. ZP/4; v 14.05.2013, 66529/11, Rn 34 f – N.K.M.

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dann der Fall, wenn sie durch eine gefestigte Rechtsprechung der zuständigen Gerichte bestätigt wird.41 Geschützt sind also verfestigte schuldrechtliche Positionen,42 da diese als vermögenswerte Rechte Eigentum iSd Art 1 1. ZP EMRK sind. c) Goodwill 11

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Vom Schutzbereich des Eigentums nach Art 1 1. ZP EMRK werden auch die geschäftlichen Beziehungen erfasst, die sich ein Unternehmen oder ein Unternehmer in der Vergangenheit erarbeitet hat und die den Vermögenswert des Geschäfts über den reinen Substanzwert hinaus beeinflussen.43 Bedeutung hat der Schutz dieses sogenannten „goodwill“44 vor allem für die wenig durchsichtige Entscheidungspraxis der Konventionsorgane hinsichtlich der Entziehung von Gewerbeerlaubnissen gewonnen. Danach kann eine solche Entziehung jedenfalls dann, wenn die Erteilung der Erlaubnis von Anfang an an zwischenzeitlich entfallene Bedingungen geknüpft war, keine Eigentumsverletzung darstellen. Ein eigentumsrechtlicher Schutz gegenüber den entsprechenden Maßnahmen soll sich aber aus einer mit der Entziehung einhergehenden Beeinträchtigung des dem Erlaubnisinhaber entgegengebrachten „goodwill“ ergeben können.45 Auch das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb wird wie jede durch legalen Einsatz persönlicher Mittel und Fähigkeiten unter Übernahme persönlicher Risiken im Wirtschaftsleben geschaffene vermögenswerte Position als schutzfähig nach Art 1 1. ZP EMRK angesehen.46 In dieser eigentümlich weiten Interpretation des als Eigentum geschützten „goodwill“ manifestiert sich das Bemühen des EGMR, im Sinne eines möglichst umfassenden und effektiven Grundrechtsschutzes den sehr begrenzten Katalog der durch die EMRK geschützten Wirtschaftsgrundrechte ausgreifend zu verstehen. So werden Schutzbereiche dem Eigentumsschutz zugeschlagen, die nach herkömmlichem nationalem Verständnis eher den – von der Konvention nicht gewährleisteten – Garantien der Berufsfreiheit oder der allgemeinen wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit zuzuordnen wären.

41 EGMR, NJOZ 2005, 2912 ff – Kopecky; NVwZ 2012, 1455, Rn 39 – Althoff; EuGRZ 2011, 477, Rn 77 – Sfountouris = JK 2012, EMRK Art 1 1. ZP/4. 42 Dazu v Danwitz (Fn 2) S 227 f; s auch Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 3; Rebhahn AcP Bd 210 (2010), 489, 526; EGMR v 14.05.2013, 66529/11, Rn 35 – N.K.M. 43 Nach Gelinsky (Fn 23) S 28 findet sich eine Anerkennung dieser Rechtsfigur der Sache nach erstmals in EGMR, EuGRZ 1988, 35 ff – van Marle; zum eigentumsrechtlichen Schutz der „Kundenstämme“ eines Rechtsanwalts und eines Steuerberaters, vgl NJW 2001, 1556 – Döring und NJW 2001, 1558 – Olbertz; vgl umfassend zum Goodwill als Schutzgut iSd Art 1 1. ZP EMRK Kriebaum Eigentumsschutz im Völkerrecht, 2008, 152 ff. 44 Kritisch zur Anerkennung des „goodwill“ als geschütztes Eigentum: Hartwig RabelsZ 63 (1999), 566, der eine Transformierung der Eigentumsgarantie zu einer Absicherung künftiger Gewinnerwartungen befürchtet. S dazu auch v Danwitz (Fn 2) S 233. 45 EGMR, RUDH 1989, 578 ff – Tre Traktörer AB; vgl auch HRLJ 1991, 93 ff – Fredin (Nr 1); zum Ganzen eingehender Gelinsky Schutz des Eigentums, S 27 ff. 46 Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 7; EGMR, EuGRZ 1988, 35, 38 – van Marle.

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d) Öffentlich-rechtliche Ansprüche Von besonderer praktischer Bedeutung – aber auch in besonderer Weise umstritten – ist die Einbeziehung öffentlich-rechtlicher Ansprüche in den Schutzbereich des Eigentumsrechts. Zu diesen Ansprüchen zählen etwa Ansprüche aus der Sozialversicherung, besoldungsrechtliche Ansprüche der Beamten oder Ansprüche auf Rückerstattung zu Unrecht bezahlter Abgaben. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erkennt einen Schutz sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche dann an, wenn diese „nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet“ sind, „auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten“ beruhen und „der Sicherung seiner Existenz“ dienen.47 Die Spruchpraxis der EKMR zeigte sich dagegen gegenüber einer Einbeziehung öffentlich-rechtlich begründeter vermögenswerter Positionen in den Schutzbereich des Eigentumsrechts eher zurückhaltend.48 Auch solche Ansprüche, die – wie etwa Pensionsansprüche – wenigstens zum Teil aus einer eigenen Leistung der Anspruchsinhaber resultierten, sollten danach grundsätzlich keinen Schutz genießen.49 Eine Ausnahme sollte nur insoweit gelten, als zwischen der Höhe der geleisteten Beiträge und der Höhe der Pensions- oder Rentenansprüche eine unmittelbare Verbindung dergestalt bestand, dass dem Berechtigten ein „identifizierbarer Anspruch auf einen Anteil am Versicherungsfonds“ zustand. Daran sollte es fehlen, wenn das Versicherungssystem dem Gedanken einer generationenübergreifenden Solidargemeinschaft verpflichtet sei.50 Auch ein nach diesen Kriterien dem Grunde nach in den Schutzbereich des Eigentumsrechts fallender öffentlich-rechtlicher Anspruch ist nach der Spruchpraxis der Kommission aber nicht unbedingt geschützt. Vielmehr soll mit Rücksicht auf haushaltspolitische Erfordernisse allein eine erhebliche nachträgliche Reduktion der einmal erworbenen Ansprüche als vom Schutzbereich der Eigentumsfreiheit umfasst angesehen werden können.51 Wenn der Spruchpraxis der EKMR dennoch schon in der Vergangenheit zumindest eine Tendenz zu einer weitergehenden Einbeziehung öffentlich-rechtlicher Ansprüche in den Schutzbereich des Eigentumsrechts entnommen worden ist,52 so wird diese Auffassung ua53 durch das in seiner Interpretation wie in seinem Ergebnis allerdings umstrittene Urteil des EGMR in der Sache Gaygusuz bestätigt.54 In jüngster Vergangenheit hat der 47 BVerfGE 69, 272, 300; vgl auch BVerfGE 53, 257; 72, 9, 18; 75, 78; 76, 220, 235; zur traditionell weitaus zurückhaltenderen Rspr des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs: Pech in: Grabenwarter/Thienel (Hrsg) Kontinuität und Wandel der EMRK, 1998, 233 f. 48 Kritisch dazu Gelinsky (Fn 23) S 29 ff, 36 ff; Pech (Fn 47) S 233 ff. 49 Zur abweichenden Sicht vgl van Dijk/van Hoof (Fn 27) S 867 f. 50 EKMR, CD 38 (1972), 9 ff – X/Niederlande; bestätigt in: DR 43 (1985), 190, 191 f – Vos; DR 42 (1985), 162, 166 – Kleine Staarmann; zu Recht kritisch zu der dem zugrunde liegenden und zu formal anmutenden Unterscheidung zwischen Kapitalhäufungs- und intergenerationellem Umlageverfahren: v Danwitz (Fn 2) S 235. 51 EKMR, DR 3 (1976), 31, 32 – Müller. 52 Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 11 f. 53 Vgl im Übrigen die Nachw bei v Danwitz (Fn 2) S 236, Fn 100. 54 IdS Pech (Fn 47) S 233, 241, wonach angesichts dieser Entscheidung „überhaupt keine Zweifel“ mehr bestehen, „dass die zentralen Ansprüche aus dem Sozialversicherungssystem, also Pensionsansprüche und Ansprüche aus der Kranken- oder Unfallversicherung, nunmehr in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie des Art 1 ZP 1 EMRK fallen“.

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EGMR in weiteren Urteilen ausgesprochen, dass auf Zahlung von staatlichen Pensionen und sonstigen Sozialleistungen gerichtete Ansprüche von Art 1 1. ZP geschützt werden, wenn Beiträge in eine Versicherungskasse eingezahlt wurden.55 Auch wenn man davon ausgehe, dass Art 1 1. ZP Sozialleistungen schütze, die aufgrund vorheriger Beitragszahlung zahlbar seien, soll sich die Höhe des zu zahlenden Betrags nach Auffassung des EGMR grundsätzlich nicht durch Heranziehung der Vorschrift ermitteln lassen. Es könne jedoch erheblich sein, ob ein sozialversicherungsrechtlicher Rentenanspruch in seinem Wesen beeinträchtigt werde.56 Insbesondere, wenn sozialversicherungsrechtliche Ansprüche in einem vollstreckbaren Titel festgestellt worden sind, genießen sie konventionsrechtlichen Eigentumsschutz.57 17

Lösung Fall 1: Einen Anspruch aus Art 1 1. ZP EMRK (iVm dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK58) kann G nur dann erfolgreich geltend machen, wenn es sich bei der beantragten „Notstandshilfe“ um Eigentum im Sinne dieser Bestimmung handelt. Öffentlich-rechtliche Ansprüche können aber wenigstens nach der älteren Rechtsprechung der Konventionsorgane nur dann als Eigentum angesehen werden, wenn sie zumindest auch auf einer eigenen Leistung des Versicherten beruhen und diesem insoweit ein identifizierbarer Teilanspruch zusteht. Auch wenn dies im Fall der Notstandshilfe nach österreichischem Recht durchaus als fraglich angesehen werden kann,59 hat der EGMR im konkreten Fall – wohl mit Rücksicht auf die in der Verweigerung liegende Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit – eine Verletzung des Eigentumsrechts bejaht.60

e) Geistiges Eigentum 18

Die allgemein zum geistigen Eigentum gezählten Immaterialgüterrechte wie Urheber-, Patent-, Verlags-, Marken- und andere Schutzrechte dienen der wirtschaftlichen Nutzung unter Ausschluss von Dritten und können veräußert werden. Auch diese Rechte unterfallen daher nach allgemeiner Meinung dem Eigentumsbegriff des Art 1 1. ZP EMRK.61 Die Kommission hat dementsprechend den Eigentumscharakter eines nach niederländischem Recht begründeten Patents bejaht.62 In einer jüngeren Entscheidung hat der EGMR ausdrücklich festgestellt, dass geistiges Eigentum von Art 1 1. ZP EMRK

55 Cremer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 45; EGMR No. 60669/00 (2004) – Asmundsson, abrufbar unter www.echr.coe.int; NJW 2003, 2441 ff – Lenz. 56 Cremer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 45; EGMR No. 60669/00 (2004) – Asmundsson. 57 Cremer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 45; EGMR No. 11931/03 (2005) – Teteriny, abrufbar unter www.echr.coe.int. 58 Zur rechtlichen Konstruktion und Funktion dieser Verbindung, s u Rn 57. 59 Vgl Hailbronner JZ 1997, 397, 398, der die Leistung mit Rücksicht auf ihre teilweise Finanzierung nicht allein aus Versicherungsbeiträgen, sondern auch aus staatlichen Mitteln als Element der Sozialfürsorge begreift. (Nur) insoweit erscheint – wie Hailbronner zu Recht ausführt – eine Einordnung als eigentumsrechtlich geschützte Forderung kaum gerechtfertigt. Für eine Einbeziehung von Ansprüchen auf Arbeitslosengeld in den Schutzbereich des Eigentumsrechts nach Art 14 GG vgl etwa BVerfGE 72, 9, 18; 74, 203, 213. 60 EGMR, JZ 1997, 405 ff – Gaygusuz. 61 Peukert EuGRZ 1981, 97, 103; Gelinsky (Fn 23) S 32; Riedel (Fn 26) S 69; Seiler KuR 2012, 104, 105. 62 EKMR, DR 66 (1990), 70, 79 – Smith Kline.

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geschützt ist. Das gilt auch für eine eingetragene Marke. Bereits die Antragstellung, die auf Eintragung einer Marke gerichtet ist, kann Gegenstand entgeltlicher Rechtsgeschäfte sein, hat deshalb wirtschaftlichen Wert und vermittelt folglich eine Rechtsposition. Das genügt nach Ansicht der Großen Kammer des EGMR, um Art 1 1. ZP EMRK anzuwenden.63 Selbst das Nutzungsrecht an einer Internetdomainadresse, das an Firmen verkauft werden kann und somit kommerziellen Wert hat, unterfällt dem Schutzbereich von Art 1 1. ZP EMRK.64 f) Erbrecht Anders als Art 14 GG nimmt Art 1 1. ZP EMRK das Erbrecht nicht ausdrücklich in Bezug. Dennoch sieht der EGMR das Recht des Eigentümers, über sein Vermögen von Todes wegen zu verfügen, als vom Schutzbereich des Art 1 1 ZP EMRK umfasst an.65 Er hat es aber ausdrücklich abgelehnt, eine gesetzliche Regelung der Erbfolge auf Antrag des potentiellen Erben am Eigentumsrecht zu messen. Art 1 1. ZP EMRK schütze allein das aktuelle Eigentum lebender Personen, nicht aber bloße Erbanwartschaften.66 Abzugrenzen ist diese Konstellation von dem Fall, in welchem die Anteile an einer Erbengemeinschaft schon erworben wurden. Bereits erworbene Anteile fallen unstreitig unter Art 1 1. ZP EMRK.67

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2. Beeinträchtigungen des Eigentumsrechts Fall 2: (nach EGMR, EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong u Lönnroth) Für Grundstücke der S besteht eine staatliche Enteignungsgenehmigung zugunsten der Kommune. Die Enteignungsgenehmigung ist mit einem Bauverbot verknüpft, das Neubauten auf den Grundstücken untersagt. Eine Entschädigung für zwischenzeitlich getätigte Renovierungen der vorhandenen Bebauung oder für Vermögenseinbußen, die aus der ungewissen Lage hinsichtlich der betroffenen Grundstücke resultieren, wird in den einschlägigen nationalen Vorschriften ausgeschlossen. Die zunächst auf drei Jahre befristete Enteignungsgenehmigung wird von der Kommune nicht in Anspruch genommen, aber auf ihr Drängen sukzessive verlängert. Erst nach einem Zeitraum von über zwanzig Jahren werden die Genehmigung und das Bauverbot aufgehoben, weil sich die ursprünglich verfolgten Stadtentwicklungspläne zwischenzeitlich verändert haben. S, die zwischenzeitlich mehrfach vergeblich versucht hat ihre Grundstücke zu verkaufen, die notwendige Renovierungen zurückgestellt hat und Mietausfälle beklagt, sieht sich in ihrem Eigentumsrecht verletzt.

Zumindest die ältere Spruchpraxis der Konventionsorgane EGMR und EKMR unterscheidet zwischen drei verschiedenen Eingriffsformen: Enteignungen, nutzungsregelnden Maßnahmen und sonstigen Eingriffen.68 Maßgeblich für die Unterscheidung sind die Ziel-

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EGMR, GRUR 2007, 696 ff – Anheuser-Busch Inc. EGMR, MMR 2008, 29 ff – Paeffgen GmbH. EGMR, EuGRZ 1979, 454 ff – Marckx. EGMR, EuGRZ 1979, 454 ff – Marckx. EGMR, NJOZ 2012, 2235, Rn 37 – Göbel. Zur älteren Entscheidungspraxis, die von einer eigenständigen Kategorie „sonstiger Eingriffe“ ausgeht, zu der an ihr geäußerten Kritik und zu neueren Tendenzen in der Rspr des EGMR sogleich u Rn 32 ff, vgl umfassend zum Eingriffsbegriff Fischborn (Fn 16) S 24 ff und Kriebaum (Fn 43) S 190 ff.

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richtung der jeweiligen Maßnahme und die Eingriffsintensität. Ohne Bedeutung ist, ob der Eingriff gezielt erfolgte oder sich als unbeabsichtigte Nebenfolge staatlichen Handelns darstellt. Auch seine Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit nach nationalem Recht spielt für die Einordnung keine Rolle.69

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Fall 3: (nach EGMR, EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI) Die deutsche Goldhandelsfirma A verkauft dem britischen Staatsbürger X im Jahre 1975 Krügerrand-Goldmünzen im Wert von 120000 £. Das Eigentum bleibt bis zur Bezahlung vorbehalten. Weil die Bezahlung nicht erfolgt und A den Kaufvertrag später erfolgreich anficht, bleiben die Münzen Eigentum der A. X transportiert die Münzen ohne Wissen der A nach Großbritannien. Bei der nach britischem Recht illegalen Einfuhr werden die Münzen vom Zoll beschlagnahmt. Ein Herausgabeverlangen der A wird von den britischen Behörden abgelehnt. Die Münzen seien rechtmäßig beschlagnahmt worden und das Eigentum an ihnen nach den einschlägigen Vorschriften verfallen.

a) Enteignungen 23

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Während das BVerfG den Begriff der Enteignung nach Art 14 III GG tendenziell eng versteht,70 neigt der EGMR dazu, die Position des Eigentümers gegenüber staatlichen Eingriffen zu stärken,71 indem er den Anwendungsbereich des Art 1 I 2 1. ZP EMRK großzügig auslegt. Der Gerichtshof kleidet dies in die Formulierung, die Konvention solle „konkrete und wirksame“ Rechte schützen.72 Die Prüfung einer nationalen Maßnahme am Maßstab der Enteignungsnorm des Art 1 I 2 1. ZP EMRK setzt nicht voraus, dass ein formeller Eigentumstransfer stattgefunden hat. Zur Sicherung eines effektiven Eigentumsschutzes werden vielmehr auch faktische Eigentumsentziehungen einbezogen.73 Für die Abgrenzung zu Nutzungsregelungen nach Art 1 II 1. ZP EMRK kommt es vor allem darauf an, ob von den betroffenen Vermögenswerten weiterhin in wirtschaftlich sinnvoller Weise Gebrauch gemacht werden kann.74 Darüber hinaus können auch nutzungsregelnde nationale Maßnahmen an der Enteignungsnorm des Art 1 I 2 1. ZP EMRK zu messen sein, wenn die Maßnahmen der Vorbereitung einer Enteignung dienen und es deshalb an einer bloß nutzungsregelnden Intention des nationalen Hoheitsträgers fehlt.75 In jüngster Zeit beschäftigt den EGMR vermehrt die Rechtmäßigkeit von Enteignungen im Rahmen der europäischen Nachkriegsordnung. Das Ende des Kalten Krieges und

69 Gelinsky (Fn 23) S 200. 70 Vgl etwa BVerfG, Beschluss v 6.10.2000, WM 2001, 775 ff. 71 Zu sonstigen Unterschieden zwischen der Garantie des Art 14 GG und der des Art 1 1. ZP EMRK vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 2, die zu Recht auch auf Momente eines schwächeren Eigentumsschutzes nach Art 1 1. ZP EMRK aufmerksam machen. 72 EGMR, EuGRZ 2004, 57 ff – Jahn. 73 Vgl etwa EGMR, EuGRZ 2004, 57 ff – Jahn; zur Unterscheidung zwischen formellen und de facto – Eingriffen s Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 9 ff. 74 Zur Abgrenzung der formellen Enteignung von der Nutzungsregelung s auch Mittelberger Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 2000, 92 ff; zur Abgrenzung der de facto-Enteignung von der Nutzungsregelung s ders, 86 ff; Müller-Michaels (Fn 21) S 74 f. 75 Allgemein zur Enteignung nach Art 1 I 2 1. ZP EMRK: Peukert EuGRZ 1988, 510 ff; Gelinsky (Fn 23) S 42 ff.

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der Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa stellen die Staaten vor erhebliche Probleme bei der Bewältigung des hier geübten (Un-)Rechts. Fall 4: (nach EGMR, EuGRZ 2004, 57 ff; (GK) NJW 2005, 2907 ff – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2)76 A hatte noch vor der Wende 1989 nach dem Recht der DDR kraft Erbfolge Eigentum an einem Grundstück aus der sog Bodenreform erlangt. Die Bodenreform hatte von 1945 bis 1949 in der sowjetischen Besatzungszone stattgefunden. Dabei waren Großgrundstücke enteignet und in einen Bodenfonds übergeführt worden, aus dem anschließend kleine Parzellen landlosen oder landarmen Bauern sog „Neubauern“ zugeteilt worden waren. Das „Eigentum“ an diesen Grundstücken war nach dem Recht der DDR zwar grundsätzlich vererblich, im Übrigen jedoch in vielfacher Hinsicht beschränkt. Über die Grundstücke durfte nicht frei verfügt werden. Zur Zeit der DDR erlassene Besitzwechselverordnungen regelten die Fälle der Rückführung der Grundstücke in den Bodenfonds und erlaubten die Zuteilung an Dritte nur unter der Voraussetzung, dass diese sich verpflichteten, die Grundstücke landwirtschaftlich zu nutzen. Das am 16. März 1990 in Kraft getretene Modrow-Gesetz hob sämtliche Verfügungsbeschränkungen für die Grundstücke aus der Bodenreform auf und machte deren Besitzer zu vollwertigen Eigentümern. Die ersten freien Wahlen fanden in der DDR am 18. März 1990 statt. Am 22. Juli 1992 trat das vom bundesdeutschen Gesetzgeber verabschiedete Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz über die Abwicklung der Bodenreform in den Ländern im Gebiet der ehemaligen DDR in Kraft. Nach den danach in Art 233 EGBGB eingefügten §§ 11 ff geht das Eigentum an Bodenreformgrundstücken kraft Gesetzes grds auf die Person über, die bei Ablauf des 15.3.1990 im Grundbuch als Eigentümer eingetragen war, oder an deren Erben. Letzteres allerdings nur dann, wenn es keine „besserberechtigte“ Person gibt, die einen Anspruch auf unentgeltliche Auflassung des Grundstücks hat und diesen auch erhebt. War der im Grundbuch eingetragene Eigentümer bereits bei Inkrafttreten des Modrow-Gesetzes verstorben, gilt der Fiskus des Landes, in dem das Grundstück liegt, als besserberechtigt, wenn nicht der Erbe bei Ablauf des 15.3.1990 in der Land- oder Forstwirtschaft tätig war. 1994 ließ A, der zu keinem Zeitpunkt in der Landoder Forstwirtschaft tätig war, sich in das Grundbuch eintragen. 1996 wurde A dazu verurteilt, sein Grundstück an das Land L unentgeltlich aufzulassen.

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b) Nutzungsregelnde Maßnahmen Grundsätzlich werden als Nutzungsregelung Maßnahmen angesehen, die zwar in die Eigentümerposition eingreifen, dieser jedoch noch eine „Substanz“ lassen.77 So hat der EGMR etwa den gesetzlichen Ausschluss polizeilicher Mithilfe bei der Räumung einer zu Recht gekündigten Wohnung als Art 1 II 1. ZP EMRK verletzende Nutzungsregel beurteilt.78 In einem anderen Verfahren entschied der EGMR, dass es sich bei der Aufnahme eines Grundstücks in das Verzeichnis historischer Denkmäler mit der Folge, dass eine Bebauung des Grundstücks nur mit behördlicher Genehmigung möglich sei, nicht um 76 Das „Jahn-Urteil“ wird in der deutschen Literatur kontrovers diskutiert, s etwa Cremer EuGRZ 2004, 134 ff; Kämmerer DVBl 2004, 995 ff; Hornickel NVwZ 2004, 567 ff; Nußberger DÖV 2006, 454 ff; Fischborn (Fn 16) S 98 ff. 77 Zum Begriff und den Voraussetzungen für die Nutzungsregelung s auch Hartwig RabelsZ 63 (1999), S 569 f; v Danwitz (Fn 2) S 243 ff; Mittelberger Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, S 66, 69 f, der auch zahlreiche Beispiele für typische Anwendungsfälle der Nutzungsänderung erwähnt, S 66 ff. 78 EGMR, ECHR 1999-V, 73 ff – Immobilare Saffi, vgl dazu näher Peters EMRK, 197.

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eine Enteignung, sondern lediglich um eine nutzungsregelnde Maßnahme iSd Art 1 II 1. ZP EMRK handelt.79 Allerdings hat der EGMR auch solche Maßnahmen als Nutzungsregelung nach Art 1 II 1. ZP EMRK begriffen, die eine vollständige Entziehung des Eigentums zur Folge hatten. Dafür soll es ausreichen, wenn die entziehenden Maßnahmen sich als Sanktion der Verletzung einer Nutzungsregelung darstellen.80 Art 1 II 1. ZP EMRK enthält neben den Nutzungsregelungen als weitere Untergruppe Ermächtigungen zur Auferlegung von Abgaben, insbesondere Steuern, und von Geldstrafen.81 Nach der Rechtsprechung der Konventionsorgane sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht zur Entschädigung für nutzungsregelnde Eingriffe in das Eigentum gemäß Art 1 II 1. ZP EMRK verpflichtet. Hierin konkretisiert sich die auch aus dem deutschen Recht vertraute Sozialbindung des Eigentums.82 Wie nach Art 14 I 2 GG können aber auch unter der Geltung der EMRK zulässige Inhaltsbestimmungen ausnahmsweise entschädigungspflichtig sein, sofern unbillige Härten anders nicht vermieden werden können. Dies legt schon die Herleitung der Entschädigungspflicht aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nahe.83 Lösung Fall 3: Der Verfall der Krügerrand-Goldmünzen stellt einen Eingriff in das von Art 1 I 1. ZP EMRK geschützte Eigentum dar. Obwohl der Verfall der Münzen diese der Eigentümerin dauerhaft entzieht, sieht der EGMR darin keine Enteignung, sondern nur die rechtliche Folge des Verbots der Einfuhr. Weil letzteres lediglich eine Nutzungsregelung darstelle, sei auch der Verfall als „Nutzungsregel“ gemäß Art 1 II 1. ZP EMRK zu beurteilen.84

c) „Sonstige“ Beeinträchtigungen 32

Die Anerkennung einer eigenständigen Kategorie sonstiger Eingriffe nach Art 1 I 1 des 1. ZP EMRK durch den EGMR85 wird in der Literatur vielfach abgelehnt. Der Eingangssatz des Art 1 1. ZP EMRK beschreibe allein den Schutzbereich der Eigentumsgarantie und mache die nachfolgend eröffneten Eingriffsmöglichkeiten rechtfertigungspflichtig. Er habe insoweit eingriffsbeschränkende, nicht aber eingriffsermöglichende Funktion.86 In 79 EGMR, NVwZ 2012, 353 Rn 63 – Potomska u Potomski. 80 Vgl dazu das – im Übrigen viel kritisierte – Urteil in der Sache EGMR, EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI. Hinsichtlich der Einordnung solcher „Konfiskationen“ in die Kategorie der Nutzungsregelung zustimmend Gelinsky (Fn 23), S 47 f, 54. 81 Dazu v Danwitz (Fn 2) S 246; Mittelberger Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, S 71; Müller-Michaels (Fn 21) S 73; EGMR, NJW-RR 2009, 1606, Rn 59 – Burden. 82 Zu dieser Parallele Frowein (Fn 8), S 49, 50. 83 Vgl dazu u Rn 45 ff. 84 EGMR, EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI. Nach Auskunft von Frowein (Fn 8) S 49, 65 bekam die Firma im Anschluss an das Urteil die Hälfte des Wertes der Münzen erstattet. 85 Vgl dazu EGMR, EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong u Lönnroth; vgl aber auch die schon zu diesem Urteil insoweit geäußerte abweichende Ansicht von acht Richtern. Vgl aus jüngerer Zeit: EGMR, NJW 2003, 654 ff – Beyerle. Zur Unterscheidung auch Mittelberger EuGRZ 2001, 364, 366. 86 Gelinsky (Fn 23), S 86 ff; aA Peters EMRK, 198, die dem Grundgedanken der Schaffung eines Auffangtatbestandes grundsätzlich positiv gegenübersteht.

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seiner jüngeren Rechtsprechung scheint sich der EGMR dieser Auffassung zumindest insoweit anzunähern, als er eine explizite Unterscheidung zwischen einzelnen Eingriffsarten jedenfalls in komplexen Sachverhalten als entbehrlich ansieht und den Eingriff an der die Eigentumsfreiheit begründenden Grundnorm des Art 1 I 1 1. ZP EMRK misst.87 In jüngeren Entscheidungen ist außerdem nunmehr von drei in Art 1 1. ZP EMRK enthaltenen „Regeln“ die Rede88, von denen sich die zweite (enteignende Eingriffe gem Art 1 I 2 1. ZP EMRK) und die dritte (nutzungsregelnde Eingriffe gem Art 1 II 1. ZP EMRK) mit spezifischen Begrenzungen des Rechts auf Achtung des Eigentums beschäftigten, die im Lichte des allgemeinen Grundsatzes der ersten Regel (Art 1 I 1 1. ZP EMRK) auszulegen seien.89 Auch soll eine Prüfung „sonstiger Eingriffe“ allein anhand der ersten Regel nur dann in Frage kommen, wenn für eine Anwendung der Eingriffsnormen der zweiten und dritten Regel kein Raum ist.90 Soweit der EGMR sonstige Eigentumsbeeinträchtigungen für zulässig erachtet, gelten diese nur dann als mit Art 1 I 1 1. ZP EMRK vereinbar, sofern eine Entschädigungsregelung existiert oder aber das nationale Recht anderweitige Vorkehrungen zum Ausgleich der erlittenen Nachteile vorsieht. An die Rechtfertigung sonstiger Eingriffe werden damit höhere Anforderungen gestellt als an die nutzungsregelnder Maßnahmen.91 Lösung Fall 2: Die Enteignungsgenehmigung stellt keine Enteignung iSv Art 1 I 2 1. ZP EMRK dar. Eine solche hat zu keinem Zeitpunkt stattgefunden und ist nach Aufhebung der Genehmigung auch nicht mehr zu erwarten. Die Beschränkung der Eigentumsrechte der S erreichte auch während der Gültigkeit der Enteignungsgenehmigung nicht ein solches Ausmaß, dass sie in ihren Wirkungen einer Enteignung gleichzusetzen gewesen wäre. Der EGMR sieht sich allerdings auch gehindert, die Enteignungsgenehmigung nach ihren Wirkungen als eine Regelung der „Nutzung des Eigentums“ iSv Art 1 II 1. ZP EMRK einzuordnen. Die Genehmigung habe zu keinem Zeitpunkt darauf abgezielt, die Nutzung zu beschränken oder zu kontrollieren. Als (später nicht verwirklichte) Anfangsstufe einer Enteignung könne sie als „sonstige Beschränkung“ allein an Art 1 I 1 1. ZP EMRK gemessen werden.92 In der Sache erweist sich die Enteignungsgenehmigung wegen ihrer unangemessen langen Dauer und wegen des Ausschlusses eines Ersatzes der aus ihr resultierenden Vermögensschäden als Verletzung des Eigentumsrechts der EMRK.93

87 EGMR, RJD 2000-I, Ziff 106 – Beyeler; späte Ausübung eines Vorkaufsrechts für ein Gemälde von Vincent van Gogh; s auch EGMR, EuGRZ 2004, 472 ff – Broniowski. 88 EGMR, NVwZ 2012, 353 Rn 61 – Potomska u Potomski; Meyer-Ladewig EMRK, Art 1 1. ZP Rn 2; Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 19; EGMR v 14.05.2013, 66529/11, Rn 42 – N.K.M. 89 Vgl dazu etwa EGMR, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König; NJW 2012, 3629, Rn 74 – Herrmann; NVwZ 2012, 1455, Rn 50 – Althoff; NJOZ 2012, 2000, Rn 554 – OAO Neftyanaya Kompaniya Yukos; NJW 2012, 743, Rn 25 – Ruspoli Morenes. 90 EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 91 Gelinsky (Fn 23) S 203. 92 Zur Kritik an dieser dogmatischen Einordnung bereits soeben Rn 32 f. 93 EGMR, EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong u Lönnroth. Dazu, dass die unangemessen lange Dauer eines Flurbereinigungsverfahrens sich als eine neben einer Verletzung von Art 6 I EMRK selbständige Verletzung auch des Art 1 I 1. ZP EMRK erweisen kann: NJW 1989, 650 ff – Poiss; zu einer Verneinung einer überlangen Verfahrensdauer hinsichtlich eines eigentumsrechtlichen Entschädigungsverfahrens: EuGRZ 1999, 319 – Papachelas.

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3. Rechtfertigung von Eigentumsbeeinträchtigungen 35

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Nach dem Text des Art 1 1. ZP EMRK und der Rechtsprechung der Konventionsorgane bemisst sich die Rechtfertigung von Eingriffen in das Eigentumsrecht an drei kumulativen Voraussetzungen. Die entsprechenden staatlichen Maßnahmen müssen gesetzmäßig erfolgen, dem öffentlichen Interesse dienen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.94 Fall 5: (nach EGMR, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside) Der britische Verleger H will die englische Fassung eines dänischen Buches mit dem Titel „The little Red Schoolbook“ auf den Markt bringen. Das Buch behandelt als Nachschlagewerk für Schüler allgemeine Fragen von Erziehung und Unterricht und thematisiert in einem Umfang von etwa 10 % seines Inhalts Fragen der Sexualkunde. Das Buch wird von der britischen Polizei beschlagnahmt. In den nachfolgenden Verfahren vor britischen Gerichten wird H wegen Verstoßes gegen den Obscene Publications Act zu einer Geldstrafe verurteilt. Zudem wird die Einziehung und Vernichtung der beschlagnahmten Bücher angeordnet.

a) Gesetzmäßigkeit der Beeinträchtigung 37

Nach Art 1 I 2 1. ZP EMRK ist eine Enteignung nur unter den durch Gesetz und durch die Allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts95 vorgesehenen Bedingungen zulässig. Auch Art 1 II 1. ZP EMRK erlaubt nur eine gesetzmäßige Regelung der Nutzung des Eigentums. Der Entzug oder die Ausgestaltung des Inhalts des Eigentums verlangt dabei nach einer hinreichend bestimmten rechtlichen Grundlage, die insb eine hinreichende Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit der staatlichen Eingriffe ermöglichen muss.96 Nach der jüngeren Rechtsprechungspraxis des EGMR ist die Gesetzmäßigkeit des Eigentumseingriffes die erste und bedeutendste Voraussetzung zu seiner Rechtfertigung.97 So hat der EGMR

94 Ob diese Voraussetzungen allerdings einheitlich auf alle drei Eigentumseingriffe angewendet werden können, wird unterschiedlich beurteilt. Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 15 ff sowie Müller-Michaels (Fn 21) S 78 ff differenzieren bei der Rechtfertigung von Eigentumsbeeinträchtigungen nochmals zwischen den einzelnen Eigentumseingriffen. Dem Erfordernis der Einhaltung der „durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen“ bei Enteignungen, s Art 1 I 1. ZP EMRK, kommt jedoch keine besondere Bedeutung zu, so dass sich die Voraussetzungen der Rechtfertigung von Nutzungsregelungen und Enteignungen insofern gleichen. Ob allerdings an die Voraussetzungen teilweise unterschiedliche Anforderungen zu stellen sind, ist ebenfalls str. S dazu und insb zu dem Streit, ob das „Öffentliche Interesse“ (Abs 1) mit dem „Allgemeininteresse“ (Abs 2) gleichzusetzen ist, Mittelberger Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, S 115 ff. Ähnlich wie hier: v Danwitz (Fn 2) S 250 ff; im Übrigen vgl umfassend zur Rechtfertigung Fischborn (Fn 16) S 54 ff und Kriebaum (Fn 43) S 430 ff. 95 Diesem Merkmal kommt in der Entscheidungspraxis des EGMR allerdings schon deshalb eine vergleichsweise geringe Bedeutung zu, weil das Völkerrecht Regeln für die Enteignung nur hinsichtlich des Eigentums von Ausländern kennt. Eine einfache Übertragung der im Völkerrecht anerkannten und mit der Formulierung des Art 1 I 2 1. ZP EMRK in Bezug genommenen (vgl dazu Weiß Die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1954, 20) Beschränkungen und Kompensationserfordernisse auf die Enteignung der eigenen Staatsangehörigen lehnt der EGMR aus teleologischen Gründen ab, vgl EuGRZ 1988, 341 ff – James. 96 Mittelberger EuGRZ 2001, 364, 367. 97 EGMR, EuGRZ 1999, 317 ff – Iatridis; EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König; NJW 2012, 743, Rn 32 – Ruspoli Morenes.

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entschieden, dass eine fortdauernde Entziehung von Eigentum konventionswidrig sei, wenn diese im Widerspruch zu Normen des nationalen Rechts erfolgt sei oder aufrechterhalten werde.98 Allerdings reklamiert der Gerichtshof angesichts der Besonderheiten des jeweiligen nationalen Rechts insoweit nur eine begrenzte eigene Prüfungskompetenz.99 In erster Linie sei es Aufgabe der innerstaatlichen Behörden und Gerichte, das nationale Recht auszulegen und anzuwenden und ggf über seine Verfassungsmäßigkeit zu entscheiden.100 Der Gerichtshof beschränkt seine Prüfung der Gesetzmäßigkeit deshalb auf die Frage, ob die Auslegung der anwendbaren Normen „willkürlich“ sei.101 Der EGMR übt mithin nur eine Missbrauchskontrolle aus und prüft lediglich, ob die Art und Weise, in der das innerstaatliche Recht interpretiert und angewendet wurde, mit den Konventionsprinzipien vereinbar ist.102 Unklarheiten des anwendbaren nationalen Rechts müssen dabei dennoch nicht zwangsläufig zu Lasten des jeweiligen Beschwerdeführers gehen. Im Gegenteil verlangt gerade das Kriterium der Gesetzmäßigkeit des Eingriffs nach einer für den Betroffenen hinreichend zugänglichen, präzisen und vorhersehbaren Ausgestaltung des nationalen Rechts.103 b) Schutz des öffentlichen Interesses Art 1 I 2 1. ZP EMRK erlaubt Enteignungen im „öffentlichen Interesse“. Art 1 II des 1. ZP EMRK spricht von der Möglichkeit der Rechtfertigung von nutzungsregelnden Eigentumsbeschränkungen durch das „Allgemeininteresse“. Beide Begriffe werden in Rechtsprechung und Literatur als deckungsgleich verstanden.104 Auch für „sonstige Eingriffe“ verlangt der EGMR eine Legitimation durch ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel der jeweiligen Maßnahme.105 Dabei formuliert der EGMR zurückhaltend, die innerstaatlichen Stellen verfügten aufgrund ihrer „unmittelbaren Kenntnis“ der lokalen Situation oder der „jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse“ über einen weiten Einschätzungsspielraum bei der Bestimmung des Allgemeininteresses an einer Beschränkung des Eigentums.106 Die gerichtliche Prüfung durch den EGMR beschränkt sich allein darauf, zu prüfen, ob die entsprechenden Motive des Gesetzgebers sich als „offensichtlich unbegründet“ darstel-

98 EGMR, EuGRZ 1999, 317 ff – Iatridis, Aufrechterhaltung der Wirkungen einer Zwangsräumung trotz gegenteiliger Entscheidungen der nationalen Gerichtsbarkeit. 99 EGMR, EuGRZ 1992, 5 ff – Håkansson u Sturesson; NJW 2012, 743, Rn 32 – Ruspoli Morenes. 100 EGMR, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König; NJW 2012, 743, Rn 32 – Ruspoli Morenes. 101 EGMR, EuGRZ 2004, 57 ff, (GK) NJW 2005, 2907 ff – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2; im Urt v 14.05.2013, 66529/11, Rn 46 ff – N.K.M. bejahte der Gerichtshof zwar zunächst die Gesetzmäßigkeit einer Steuer von maximal 98 % auf Abfindungszahlungen an entlassene öffentliche Bedienstete, hielt die Ausgestaltung der Steuer dann aber im konkreten Fall für unverhältnismäßig. 102 Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 49. 103 EGMR, EuGRZ 1996, 593 ff – Hentrich; EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow; RJD 2000-I, Ziff 109 – Beyeler. 104 Dazu EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James; Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 42; Mittelberger EuGRZ 2001, 364, 367. 105 EGMR, RJD 2000-I, Ziff 111 – Beyeler. 106 Vgl etwa EGMR, RUDH 1991, 551 ff – Wiesinger, unter Hinweis auf HRLJ 1991, 93 ff – Fredin (Nr 1); sowie RUDH 1994, 21 ff – Raimondo; NVwZ 2012, 1455, Rn 60 – Althoff; NJOZ 2012, 2000, Rn 566 – OAO Neftyanaya Kompaniya Yukos; v 14.05.2013, 66529/11, Rn 55 – N.K.M.

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len.107 So hat der EGMR im Bereich des Steuerrechts die Umsetzung einer EG-Richtlinie an sich, ohne Berücksichtigung des Inhalts, als legitimes Ziel angesehen.108 Genauso stellt das kulturelle Erbe, nämlich die Erhaltung der historischen, kulturellen und künstlerischen Wurzeln eines Gebiets und seiner Einwohner, ein öffentliches Interesse iSd Art 1 I 2 1. ZP EMRK dar.109 In einer neueren Entscheidung erkannte der EGMR zudem den gesellschaftlichen Gerechtigkeitssinn („ sense of social justice of the population“) und das Interesse, die öffentliche Last zu verteilen, als schützenswertes Interesse an110. Bezüglich der Beschlagnahme eines Flugzeugs, die auf einer EG-Verordnung beruhte, hat der EGMR entschieden, dass die Beachtung des Gemeinschaftsrechts einem öffentlichen Interesse von erheblichem Gewicht dient.111 Damit ist nach dem EGMR allerdings in Einklang zu bringen, dass jeder Vertragsstaat nach Art 1 EMRK für alle Handlungen und Unterlassungen seiner Organe verantwortlich bleibt, auch wenn er Hoheitsbefugnisse auf eine internationale Organisation übertragen hat.112 Wenn die internationale Organisation gleichwertigen Grundrechtsschutz bietet, gilt aber die Vermutung, dass sich ein Staat den Anforderungen der Konvention nicht entzogen hat, wenn er rechtlichen Verpflichtungen nachkommt, die sich aus seiner Mitgliedschaft in der Organisation ergeben. Der EGMR erachtet den im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Grundrechtsschutz als gleichwertig und deshalb die Beschlagnahme als konventionsgemäß.113 Ferner kann auch die Begünstigung privater Dritter im „öffentlichen Interesse“ liegen. Unzulässig ist eine solche Begünstigung allerdings dann, wenn sie den alleinigen Zweck der hoheitlichen Maßnahme darstellt und eine Förderung sonstiger öffentlicher Interessen nicht erkennbar ist.114 Verlangt wird im Übrigen keine Übertragung des Eigentums in den Gemeingebrauch. Vielmehr können sozial- oder wirtschaftspolitische Erwägungen den Gesetzgeber auch zu einer Umverteilung von Eigentum zugunsten bestimmter Bevölkerungsgruppen berechtigen.115 Soweit erkennbar, ist in Anwendung dieser Maßstäbe erst in einer Entscheidung des EGMR ein öffentliches Interesse hinsichtlich einer Eigentumsbeeinträchtigung verneint worden.116 Lösung Fall 5: Die Beschlagnahme der Bücher wie die Anordnung ihrer Einziehung und Vernichtung greifen in das in Art 1 1. ZP EMRK geschützte Eigentumsrecht des H ein. Weil die Beschlagnahme, Einziehung und Vernichtung sich als konfiskatorische Konsequenz eines Publikationsverbots für obszöne Schriften darstellen, werden sie vom EGMR einheitlich als Ergeb-

107 108 109 110 111 112 113 114

EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James; NVwZ 2012, 1455, Rn 60 – Althoff. Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 16; EGMR, EuGRZ 2007, 671 ff – S. A. Dangeville. EGMR, NVwZ 2012, 353 Rn 64 – Potomska u Potomski. EGMR v 14.05.2013, 66529/11, Rn 59 – N.K.M. EGMR, NJW 2006, 197 Rn 150 – Bosphorus = JK 2006, EMRK Art 1/3. EGMR, NJW 2006, 197 Rn 153 f – Bosphorus = JK 2006, EMRK Art 1/3. EGMR, NJW 2006, 197 Rn 165 – Bosphorus = JK 2006, EMRK Art 1/3. Vgl dazu VerfGH Wien, EuGRZ 1990, 425 ff, wonach die Verweigerung einer Ausfuhrbewilligung für Kupferdrahtabfälle nicht allein damit begründet werden kann, durch sie ginge einem inländischen Produzenten eine vergleichsweise günstige inländische Bezugsquelle für Kupfer verloren, das er deshalb auf dem Weltmarkt zu deutlichen höheren Preisen beschaffen müsse. 115 EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 116 EGMR, RUDH 1994, 21 ff – Raimondo, kein öffentliches Interesse an der Verzögerung einer gerichtlich angeordneten Restitution zuvor zu Unrecht konfiszierten Eigentums.

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nis der Anwendung einer nationalen Vorschrift begriffen, die nicht der Entziehung, sondern lediglich der Regelung der Benutzung des Eigentums iSv Art 1 II 1. ZP EMRK dient.117 Nach Auffassung des EGMR setzt dieser zweite Absatz aber „die Vertragsstaaten als alleinige Richter über die ‚Notwendigkeit‘ eines Eingriffs ein“ und eröffnet ihnen einen besonders weiten Beurteilungsspielraum. An einer von der der nationalen Instanzen abweichenden Beurteilung der moralischen Verwerflichkeit des Schulbuches sieht sich der Gerichtshof deshalb gehindert.118

c) Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung Wesentlichste119 Frage und damit zentrales richterliches Instrument bei der Beurteilung von staatlichen Eigentumsbeeinträchtigungen ist auch für den Grundrechtsschutz nach der EMRK die allgemeine Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.120 Der EGMR begreift das Verhältnismäßigkeitserfordernis in ständiger Rechtsprechung als ungeschriebene Rechtfertigungsvoraussetzung des Art 1 1. ZP EMRK.121

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aa) Legitimer Zweck Nach der Rechtsprechung des EGMR muss jede eigentumsbeeinträchtigende Maßnahme einen berechtigten Zweck verfolgen.122 Die Prüfung dieses Punktes deckt sich inhaltlich mit der Frage nach dem die Maßnahme rechtfertigenden „öffentlichen Interesse“ iSv Art 1 I 2 1. ZP EMRK.123

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bb) Erforderlichkeit Dem Kriterium der Erforderlichkeit einer eigentumsbeschränkenden staatlichen Maßnahme ist in der Spruchpraxis der Konventionsorgane wegen des den Mitgliedstaaten insoweit zugebilligten weiten Prognosespielraums124 bislang noch keine besondere Bedeutung zugewachsen.125 Die Kommission hat kurz vor Ende ihrer Tätigkeit sogar noch festgestellt, Art 1 1. ZP EMRK enthalte überhaupt kein Erforderlichkeitskriterium.126 Auch dem EGMR ist der Vorwurf gemacht worden, er berücksichtige in seiner Rechtsprechung nicht hinreichend, ob die konkret gerügten Eigentumsbeeinträchtigungen nicht durch

117 Vgl dazu schon Rn 28, insb Fn 69. 118 EGMR, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside. 119 Vgl v Danwitz (Fn 2) S 252, zur insoweit wachsenden Bedeutung des Gesetzmäßigkeitsprinzips. Auch dieser betont aber die ganz wesentliche Bedeutung, die dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit als Abwägungskriterium zukommt, S 253. 120 Dazu Cremona FS Bernhardt, 1995, S 323; Eissen in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg) La Convention Européenne des droits de l’homme, 1999, 65 ff; Fiedler EuGRZ 1996, 354, 355; → § 2 Rn 79; EGMR, NJW 2012, 3629, Rn 74 – Herrmann; NJW 2012, 743, Rn 26 – Ruspoli Morenes. 121 Mittelberger EuGRZ 2001, 364, 368 f. 122 EGMR, RJD 2000-I, Ziff 111 – Beyeler; NJW 2012, 743, Rn 34 – Ruspoli Morenes. 123 Vgl dazu schon o Rn 38. 124 Vgl dazu insb EGMR, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside; NVwZ 2012, 1455, Rn 62 – Althoff; NJW 2012, 743, Rn 26, 39 – Ruspoli Morenes; NVwZ 2012, 353 Rn 67 – Potomska u Potomski. 125 Mittelberger EuGRZ 2001, 364, 368 spricht gar davon, das Kriterium der Erforderlichkeit sei „nicht von Bedeutung“; ebenso Malzahn Bedeutung und Reichweite des Eigentumsschutzes in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2007, 192, 255. 126 Vgl EGMR, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König.

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eingriffsmildernde Maßnahmen hätten vermieden werden können.127 In der Tat hat der EGMR ausdrücklich festgestellt, in Art 1 1. ZP EMRK könne kein „Erfordernis einer strikten Notwendigkeit“ hineingelesen werden. Die bloße Möglichkeit alternativer Verfahrensweisen mache für sich genommen eine nationale Maßnahme noch nicht ungerechtfertigt. Sie biete lediglich „einen Gesichtspunkt unter anderen“, der berücksichtigt werden müsse, um festzustellen, ob die gewählten Mittel als vernünftig und angemessen zur Erzielung des legitimen Zwecks erachtet werden könnten. Innerhalb dieser Grenzen sei es dem Gerichtshof „verwehrt festzustellen“, ob eine Maßnahme „die beste Lösung des Problems“ darstelle oder ob das den nationalen Stellen einzuräumende Ermessen anders hätte ausgeübt werden müssen.128 cc) Gerechter Ausgleich der Interessen 44

Zum zentralen Argumentationstopos avanciert dabei in der Rechtsprechung der Konventionsorgane die Frage, ob zwischen den Forderungen des Allgemeininteresses und den Erfordernissen eines effektiven Individualrechtsschutzes ein „gerechter Ausgleich“ oder auch ein „Gleichgewicht“ besteht.129 Die Rechtsprechung erstreckt die eigene Prüfung nationaler Maßnahmen, die der Sache nach einer Prüfung ihrer Angemessenheit oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nach deutschem Rechtsverständnis weithin entspricht, mit Hilfe dieses Abwägungstopos auch auf die tatsächlichen Einzelheiten des konkret zu beurteilenden Einzelfalles.130 Bei der Entscheidung darüber, ob bei einer Benutzungsregelung iSd Art 1 II 1. ZP EMRK der notwendige gerechte Ausgleich zwischen dem Allgemeininteresse und dem Schutz der Grundrechte des Einzelnen hergestellt worden ist, muss vor allem berücksichtigt werden, ob der Eigentümer beim Erwerb der Sache bestehende oder mögliche spätere Einschränkungen kannte oder hätte kennen müssen.131 Berücksichtigung findet auch, ob der Erwerber hinsichtlich der Benutzung des Eigentums berechtigte Erwartungen hatte oder im Gegenteil beim Erwerb ein Risiko in Kauf genommen hat. Zu berücksichtigen ist weiterhin, in welchem Ausmaß und wie lange die staatlichen Beschränkungen die Benutzung des Eigentums verhindern und welche Ausgleichsmaßnahmen der Staat getroffen hat.132

127 Gelinsky (Fn 23) S 203 unter Hinweis auf die Entscheidung in der Sache EGMR, EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI. 128 EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 129 Engl/franz: „proper balance“/„juste équilibre“, vgl etwa EGMR, RUDH 1991, 551 ff – Wiesinger; ähnlich für die Beurteilung des Verhältnisses von Enteignung und Kompensation HRLJ 1995, 30 ff – Heilige Klöster: „fair balance“. Zu den aus der Verwendung dieses Begriffs drohenden „Gefahren beliebig steuerbarer Ergebnisse“ Fiedler EuGRZ 1996, 354, 355; EGMR, NJW 2012, 3629, Rn 74 – Herrmann; NVwZ 2012, 353 Rn 65 – Potomska u Potomski. 130 Vgl dafür EGMR, EuGRZ 1996, 593 ff – Hentrich. In einer Gesamtbetrachtung aber dennoch kritisch gegenüber der in der Rspr (nicht) erreichten Kontrollintensität: Gelinsky (Fn 23) S 202 f. 131 So auch EGMR, NJOZ 2012, 2235 Rn 49, 51 – Göbel. 132 EGMR, NVwZ 2012, 353, Rn 67 – Potomska u Potomski.

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dd) Kompensationserfordernis Fall 6: (nach EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James) Durch Gesetz werden sog „Langzeitpächter“ berechtigt, die von ihnen bewohnten und instand gehaltenen Häuser zu gesetzlich festgelegten Konditionen zu erwerben und so den vertraglich vereinbarten „Heimfall“ an den Verpächter zu verhindern. Die den ehemaligen Verpächtern zu zahlenden Kaufpreise liegen dabei deutlich unter den am Markt zu erzielenden Preisen.

Art 1 1. ZP EMRK enthält – anders als Art 14 GG – keine ausdrückliche Bestimmung zur Notwendigkeit einer Entschädigung. Die „durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen“, auf die die Norm verweist, beinhalten eine Entschädigungspflicht nur für solche staatlichen Maßnahmen, die sich gegen das Eigentum von Ausländern richten.133 Dennoch hält der EGMR seit der Entscheidung in der Sache James die Enteignung oder die sonstige (faktische) vollständige Wegnahme des Eigentums auch von Inländern ohne Entschädigung unter Hinweis auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit134 für nur in Ausnahmefällen rechtfertigungsfähig.135 Sei der Eigentumseingriff gesetzmäßig erfolgt und nicht willkürlich gewesen, mache das Fehlen einer Entschädigung nicht eo ipso und stets den Eigentumsentzug unzulässig.136 Es bleibe zu ermitteln, ob die Beschwerdeführer im Rahmen einer gesetzmäßigen Eigentumsentziehung eine unverhältnismäßige und übermäßige Last zu tragen hatten. Umgekehrt kann eine gesetzlich vorgesehene Entschädigung die Härten eines Eigentumsentzugs oder einer Eigentumsbeschränkung so weit abmildern, dass sich die Maßnahmen insgesamt als verhältnismäßig erweisen.137 Voraussetzung ist allerdings, dass die vorgesehene Kompensation den betroffenen Eigentümern auch tatsächlich zukommt und für sie der Sache nach nicht völlig ohne Wert ist. So hat der EGMR die Berechtigung zur Jagd auf fremden Grundstücken als untaugliche Kompensation der gesetzlich auferlegten Pflicht zur Duldung der Jagd durch Dritte auf dem eigenen Grundstück angesehen. Wer – wie die Beschwerdeführer – die Jagd aus ethischen Gründen ablehne, für den sei die Einräumung eines solchen kompensatorischen Rechts ohne Wert.138

133 Zu den dogmatischen Schwächen dieser Argumentation v Danwitz (Fn 2) S 221, 255 mwN; vgl umfassend zur Entschädigungspflicht Fischborn (Fn 16) S 140 ff. 134 v Danwitz (Fn 2), S 256. 135 EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James: „the protection of the right of property … would be largely illusionary and ineffective in the absence of any equivalent principle“; vgl auch EGMR, HRLJ 1995, 30 ff – Heilige Klöster; EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König. Näher zur Bedeutung des Kompensationserfordernisses auch für die Fälle der de-facto-Enteignung: Frowein (Fn 8), S 49, 58 ff; Fiedler EuGRZ 1996, 354, 355 f; EGMR, NVwZ 2012, 1455, Rn 63 – Althoff; NJOZ 2012, 2235, Rn 45 – Göbel. 136 EGMR, EuGRZ 2004, 57, Rn 83 – Jahn; (GK) NJW 2005, 2907, Rn 95 – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2. 137 EGMR, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König. 138 EGMR, NJW 1999, 3695 ff – Chassagnou; vgl auch das Urt v 26.06.2012, 9300/07 – Herrmann. Der EGMR stellte eine Verletzung der EMRK durch § 3 I BJagdG fest, soweit Grundstückseigentümer verpflichtend Mitglieder in der Jagdgenossenschaft sind und deshalb die Jagd auf ihrem Grundstück auch gegen ihr Gewissen dulden müssen, vgl Ziebarth NuR 2012, 693 ff; Maierhöfer NVwZ 2012, 1521 ff.

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Die Entschädigungspflicht139 gilt gegenüber Inländern wie gegenüber Ausländern.140 Auch für die Ermittlung der Höhe der damit notwendigen Kompensation ziehen EGMR und Kommission das Kriterium des gerechten Ausgleichs heran. Dabei muss nicht in jedem Fall der volle Verkehrswert des entzogenen Eigentums gezahlt werden.141 So kann unter Umständen auf einen Ausgleich für inflationsbedingte Vermögenseinbußen verzichtet werden, die sich bis zum Zeitpunkt der Auszahlung der Entschädigung ergeben.142 Insgesamt begründet sich nach der Rechtsprechung des EGMR allein eine Pflicht zur „angemessenen“ Entschädigung.143 Ablehnend steht der Gerichtshof allerdings solchen rechtlichen Regelungen gegenüber, die die zu leistende Entschädigung unter Hinweis auf unwiderlegliche gesetzliche Fiktionen pauschal mindern. Verworfen wurde deshalb eine griechische Entschädigungsregelung, nach der der Bau einer Nationalstraße für die betroffenen Anwohner stets als eine Wertsteigerung anzusehen sei, die bei der Berechnung der Entschädigung für die teilenteigneten Grundstücke pauschal in Anrechung zu stellen sei. Auch Argumente der Verwaltungspraktikabilität sollen ein solches System wegen seiner „exzessiven Starrheit“ nicht rechtfertigen können.144 Im Übrigen verlangt der EGMR lediglich, dass die Höhe der Entschädigung in einem „vernünftigen Zusammenhang“ zum Wert des enteigneten Objekts steht.145 Dabei billigt der EGMR den Mitgliedstaaten einen weiten Ermessensspielraum bei der Festsetzung der Entschädigung zu. So soll insbesondere auch der „soziale“ oder auch „sozialisierende“ Charakter146 der staatlichen Maßnahme Berücksichtigung finden können, sofern er den Grundsätzen einer „demokratischen Gesellschaft“ noch entspricht.147 Enteignende Maßnahmen zum Zwecke der Durchsetzung von Wirtschafts- und Agrarreformen können demnach auch bei geringer oder fehlender Kompensation eher auf Akzeptanz stoßen als sonstige, eher im Einzelfall veranlasste Enteignungen. Eine jüngere Entscheidung148 nimmt Bezug auf die Entscheidungen James und Broniowski, wonach bei berechtigten Zielen „öffentlichen Interesses“, wie Maßnahmen bei einer Wirtschaftsreform oder zur Herbeiführung größerer sozialer Gerechtigkeit, eine Entschädigung unter dem vollen

139 Zu ihr eingehend Riedel EuGRZ 1988, 333 ff. 140 Allerdings lehnt der EGMR eine Übertragung der für die Enteignung von Ausländern geltenden strengen kompensationsrechtlichen Regeln, wie sie sich aus den in Art 1 I 1 1. ZP EMRK in Bezug genommenen „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ ergeben, auf die Enteignung von Inländern ab. Eine „Inländerdiskriminierung“ im Bereich der Enteignungsentschädigung ist deshalb zulässig; vgl dazu EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 141 EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 142 EGMR, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow; näher dazu Gelinsky (Fn 23) S 144 ff. 143 Wie hier: Peters EMRK, 195 f. 144 EGMR, EuGRZ 1999, 319 ff mwN – Papachelas. 145 EGMR, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow: „an amount reasonably related to its value“/„raisonnablement en rapport avec la valeur du bien“; für eine weitere Ausdifferenzierung der angewandten Kriterien vgl Condorelli in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg) La Convention Européenne des droits de l’homme, 1999, S 990 ff. 146 Vgl dafür schon EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James: „greater social justice“/„justice social“. 147 Für diese Formeln vgl EGMR, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow; unter Berufung darauf ablehnend zu einer „klassenspezifisch orientierten Kollektivierung“ und zur Perpetuierung der Wirkungen der kommunistischen Bodenreform zwischen 1945 und 1949 in Ostdeutschland: Fiedler EuGRZ 1996, 354, 356. 148 EGMR, NJW 2007, 1259 ff – Scordino Nr 1 = JK 2007, EMRK Art 1 1. ZP/1.

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Marktwert ausreichend sein kann.149 Jedoch verletzt eine Enteignung, die nicht im Rahmen einer wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Reform stattfindet oder durch sonstige besondere Umstände veranlasst ist, Art 1 1. ZP, wenn die Entschädigung unter dem Marktwerkt liegt.150 Lösung Fall 6: Der durch Gesetz begründete Zwang zum Verkauf der ursprünglich bloß verpachteten Häuser stellt sich als Eigentumsentziehung nach Art 1 I 2 1. ZP EMRK dar. Diese Enteignung liegt, auch wenn sie private Dritte begünstigt, im von der Vorschrift vorausgesetzten „öffentlichen Interesse“. Die Enteignungen werden auch nicht dadurch konventionswidrig, dass sie keine vollständige Entschädigung der betroffenen Alteigentümer vorsehen. Zwar hält der EGMR eine Entschädigung für grundsätzlich geboten. In ihrer Höhe müsse sie jedoch nicht dem Marktpreis entsprechen. Insbesondere sind die Härten, die sich aus der Anwendung einer allgemeinen Enteignungsmaßnahme im Einzelfall ergeben können, im Interesse der Gleichförmigkeit, Rechtssicherheit und Schnelligkeit der Enteignung insgesamt grundsätzlich hinzunehmen.151

Die Herleitung der Entschädigungspflicht aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit macht die Anerkennung einer Fallgruppe der entschädigungspflichtigen Nutzungsbestimmung wahrscheinlich. Noch hat der EGMR dazu aber – soweit erkennbar – noch nicht entschieden.152 Wenn der EGMR auch durchaus gewillt ist, nationale Besonderheiten wie etwa die deutsche Wiedervereinigung mit ihren Schwierigkeiten zu berücksichtigen,153 so stellt er doch hohe Anforderungen an einen Eingriff in das Eigentumsrecht, die allerdings in dem Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 30. Juni 2005 etwas gesenkt wurden.154 In der vorherigen Entscheidung155 hatte die dritte Sektion des EGMR nicht nach der Art und Weise differenziert, auf die das Eigentum erworben wurde, sondern nur danach gefragt, ob überhaupt Eigentum zu dem Zeitpunkt vorgelegen hat, in dem die EMRK Geltung erlangt hat. Dies führte zu Differenzen zwischen der Rechtsprechung des BVerfG zu Art 14 GG und der des EGMR zu Art 1 1. ZP EMRK.156 In dem Urteil vom 30. Juni 149 EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James; EuGRZ 2004, 772 ff – Broniowski. 150 EGMR, NZW 2007, 1259 ff – Scordino Nr 1 = JK 2007, EMRK Art 1 1. ZP/1. 151 EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James; vgl auch EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow, für die Beschränkung des Maßes der Entschädigung in Fällen der Verstaatlichung bestimmter Industriezweige. 152 Ähnlich wie hier: Weber Anrechnung von (mittelbaren) Enteignungsvorteilen? in: Bröhmer (Hrsg) Der Grundrechtsschutz in Europa, 2002, S 115. Einstweilen hält Weber aber wie Peters EMRK, 194 an der gerade durch die Entschädigungspflicht konstituierten Unterscheidung von Enteignung und Nutzungsbeschränkung fest. 153 EGMR, EuGRZ 2004, 57, Rn 89 – Jahn. 154 EGMR (GK), NJW 2005, 2907 ff – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2. 155 EGMR, EuGRZ 2004, 57 – Jahn. 156 Anders als der EGMR, der eine Entziehung des Eigentums nach Art 1 I 2 1. ZP bejaht, hatte das BVerfG eine Enteignung im Sinne des Art 14 III GG im vorliegenden Fall verneint (BVerfG, Beschluss v 6.10.2000, WM 2001, 775 ff). Das BVerfG sieht in Art 233 §§ 11 III, 12 II, III EGBGB eine Regelung über die Bestimmung von Inhalt und Schranken des (Grundstücks-) Eigentums im Sinne von Art 14 I 2 GG. Enteignung sei der staatliche Zugriff auf das Eigentum des Einzelnen. Ihrem Zweck nach sei sie auf die vollständige oder partielle Entziehung konkreter subjektiver, durch Art 14 I 1 GG geschützter Positionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher

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2005157 hingegen stellt die Große Kammer darauf ab, dass die Beschwerdeführer unter den von tiefgreifenden Veränderungen und Ungewissheiten gekennzeichneten Umständen, unter denen das Modrow-Gesetz verabschiedet wurde, nicht sicher sein konnten, ihre formale Rechtsposition zu behalten. 54

Lösung Fall 4: Bei der Verpflichtung zur unentgeltlichen Auflassung des Grundstücks durch A an das Land L handelt es sich um eine Entziehung des Eigentums gemäß Art 1 I 2 1. ZP EMRK. A ist nach dem Wegfall der Beschränkungen hinsichtlich der Bodenreformgrundstücke durch das Modrow-Gesetz rechtmäßig vollwertiger Eigentümer geworden. Dieses Eigentumsrecht ist durch die deutsche Wiedervereinigung Bestandteil des Rechts der Bundesrepublik Deutschland geworden, wodurch es in den Geltungsbereich der EMRK gelangte. Die Rechtmäßigkeit des auf diese Weise erworbenen vollwertigen Eigentums kann nicht dadurch in Zweifel gezogen werden, dass die Bundesregierung anschließend dieses Eigentum als unrechtmäßig erworben beurteilt. Allein entscheidend ist, dass A nach der deutschen Wiedervereinigung in das Grundbuch eingetragen worden war und zunächst frei über sein Eigentum verfügen konnte. Der so festgestellte Eigentumsentzug ist gesetzmäßig. Auch sind mit der gesetzlichen Regelung die Kriterien der Zugänglichkeit, Genauigkeit und Vorhersehbarkeit gewahrt; die Auslegung der einschlägigen Normen durch die deutschen Gerichte und die Bejahung der Verfassungsmäßigkeit durch das BVerfG ist nicht willkürlich. Außerdem hegt der EGMR keinen Zweifel daran, dass der Wille des Gesetzgebers, die Eigentumsfragen im Zusammenhang mit der Bodenreform zu klären und die Auswirkungen des Modrow-Gesetzes zu korrigieren, dem öffentlichen Interesse dient. Insoweit stimmen das Urteil der dritten Sektion des EGMR vom 22. Januar 2004158 und das Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 30. Juni 2005159 überein. Die Große Kammer sieht jedoch abweichend von der dritten Sektion die Verhältnismäßigkeit als gewahrt an.

Aufgaben gerichtet. Demgegenüber gehe es bei Art 233 §§ 11 bis 16 EGBGB um die nachträgliche Korrektur der durch das Modrow-Gesetz erfolgten ersatzlosen Aufhebung der Besitzwechselvorschriften und um die Schaffung klarer Eigentumsverhältnisse an den aus der Bodenreform stammenden Grundstücken. Der Gesetzgeber dürfe im Rahmen seiner Regelungsbefugnis nach Art 14 I 2 GG bei der generellen Neugestaltung eines Rechtsgebietes unter bestimmten Voraussetzungen auch bestehende, durch die Eigentumsgarantie geschützte Rechtspositionen beseitigen. Die Verhältnismäßigkeit der Inhalts- und Schrankenbestimmung sieht das BVerfG hauptsächlich deswegen gewahrt an, da A nicht in schützenswerter Weise darauf vertrauen konnte, das Eigentum an dem nur wegen der unterbliebenen Umsetzung der Besitzwechselverordnungen der DDR erlangten Grundstück behalten zu dürfen. Vertrauen in den Fortbestand von Rechtsvorschriften der DDR habe sich in der Zeit nach der Wende mit Blick auf eine mögliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nicht allgemein bilden können, sondern nur dort, wo besonderer Anlass für die Erwartung bestand, dass das Recht der DDR ausnahmsweise in Kraft bleiben werde. Das Vertrauen in die grundsätzliche Anerkennung von vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet erworbenen Grundrechtspositionen könne nicht denselben weitgehenden Schutz beanspruchen wie das Vertrauen in den Fortbestand von Rechten, die unter der Geltung des Grundgesetzes erlangt worden seien. 157 EGMR (GK), NJW 2005, 2907 ff – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2. 158 EGMR, EuGRZ 2004, 57 ff – Jahn. 159 EGMR (GK), NJW 2005, 2907 ff – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2.

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Die dritte Sektion hatte entschieden, der Eingriff sei nicht verhältnismäßig, da A kein Anspruch auf Entschädigung zustehe. Zwar erklärte sie, sie sei sich der „unendlich großen Aufgabe“, die der deutsche Gesetzgeber hinsichtlich des Eigentums beim Übergang von einem sozialistischen Eigentumssystem zu einem Marktwirtschaftssystem zu bewältigen hatte, bewusst. Dennoch hielt die Sektion es nicht für gerechtfertigt, das Eigentum des A als „illegitim“ zu betrachten. Nach ihrer Ansicht hatte A mit Inkrafttreten des Modrow-Gesetzes rechtmäßig vollwertiges Eigentum an dem Grundstück erlangt. Der deutsche Gesetzgeber durfte das Modrow-Gesetz zwar noch zwei Jahre später korrigieren. Er durfte aber eine solche Eigentumsentziehung zu Gunsten des Staates nicht vornehmen, ohne eine angemessene Entschädigung für die Betroffenen vorzusehen. Im Gegensatz zu dem Urteil der dritten Sektion erachtet die Große Kammer den Eingriffs trotz des Fehlens jeglicher Entschädigung als verhältnismäßig.160 Eine Enteignung unter Ausschluss jeglicher Entschädigung ließe sich zwar nur unter außergewöhnlichen Umständen rechtfertigen. Diese sieht die Große Kammer hier aber als gegeben an, wobei drei Faktoren entscheidend seien. Erstens, dass das Modrow-Gesetz in einer Zeit des Regimewechsels verabschiedet wurde, die durch tiefgreifende Veränderungen und Ungewissheiten gekennzeichnet war.161 Unter diesen Umständen konnten die Beschwerdeführer, auch wenn sie eine formale Eigentumsposition erworben hatten, nicht sicher sein, diese zu behalten. Zweitens der kurze Zeitraum zwischen dem Wirksamwerden der deutschen Wiedervereinigung und der Verabschiedung des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes.

160 EGMR (GK), NJW 2005, 2907 ff Rn 116 f – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2; vgl aber anders den polnischen Fall EuGRZ 2004, 472 ff – Broniowski. Die Große Kammer des EGMR hatte bereits zuvor die Beschwerden der ehemaligen Eigentümer, die zwischen 1945 und 1949 in der sowjetischen Besatzungszone oder nach 1949 in der DDR enteignet wurden, in einer Entscheidung vom 02.03.2005 (EGMR – von Maltzan ua) für unzulässig erklärt. Diese Eigentümer sahen sich durch das Entschädigungs- und Ausgleichsgesetz von 1994 und ein bereits ergangenes Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22.11.2000 (BVerfGE 102, 254) in ihrem Recht auf Eigentum gemäß Art 1 1. ZP verletzt, da sie der Meinung waren, dass die Ausgleichsbeträge, die sie erhalten hatten, weit unter dem tatsächlichen Wert ihrer unrechtmäßig enteigneten Güter lagen. Der EGMR verneint eine berechtigte Erwartung der Beschwerdeführer auf einen gegenwärtigen und einklagbaren Anspruch auf Rückgabe der Güter oder auf Ausgleichsleistungen für Enteignungen zwischen 1945 und 1949 bzw Entschädigungszahlungen für die Enteignungen nach 1949 in einer bestimmten, in einem angemessenen Bezug zum tatsächlichen Grundstückswert stehenden Höhe. Eine berechtigte Erwartung, die konkret und auf eine gesetzliche Grundlage gestützt werden oder eine solide Grundlage in der Rspr haben muss, habe nicht vorgelegen. Die Beschwerdeführer hätten nicht dargelegt, dass sie Inhaber von hinreichend nachgewiesenen und mithin klagbaren Ansprüchen waren. Der EGMR verneint seine Zuständigkeit, die Umstände der Enteignungen oder ihre bis heute fortwirkenden Folgen zu untersuchen. Denn die Bundesrepublik sei weder für die von der sowjetischen Besatzungsmacht veranlassten Handlungen noch für die der DDR verantwortlich, auch wenn sie später die Rechtsnachfolge der DDR angetreten habe. Im Übrigen billigt der EGMR der Bundesrepublik auch hier einen weiten Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung der Entschädigungsregelungen zu. 161 Kritisch zu diesem Argument Nußberger DÖV 2006, 454, 460: Zu bedenken sei, dass dieses Argument für alle ehemals sozialistischen Konventionsstaaten gelte. Verallgemeinere man diese Sichtweise, würde dies den eigentumsrechtlichen Schutz in diesen Ländern „grundsätzlich unterminieren“. Auch Richter Ress bezeichnet in seinem Sondervotum die Anerkennung außergewöhnlicher Umstände als gefährlichen Schritt in der Entwicklung der Auslegung der Konvention. Das Sondervotum ist – im Anschluss an das Urteil – abrufbar unter www.echr.coe.int. Dem zustimmend Malzahn (Fn 125) S 386 ff.

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Drittens dessen Begründung: Unter Berücksichtigung des „glücklichen Zufallls“ („windfall“), der den Beschwerdeführern dank des Modrow-Gesetzes zugute gekommen ist, war der Umstand, dass die Korrektur ohne Entschädigung erfolgte, nach Ansicht der Großen Kammer nicht unverhältnismäßig. Angesichts all dessen, insbesondere der Unsicherheit der Rechtslage der Erben und der von den deutschen Behörden angeführten Gründe der sozialen Gerechtigkeit, kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass in dem einzigartigen Zusammenhang der deutschen Wiedervereinigung der Ausschluss jeglicher Entschädigung Art 1 1. ZP nicht verletzt hat.162

4. Eigentumsrecht und andere Garantien der EMRK 55

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Fall 7: (nach EGMR, HRLJ 1992, 36 ff – Pine Valley) Die Firma H erwirbt ein Gelände, das außerhalb der normalen Bauzonen liegt, für das aber eine besondere Planungsgenehmigung zum Bau eines Kaufhauses existiert. Die Planungsgenehmigung ist in ein öffentliches Register eingetragen. Nach Erwerb des Grundstückes wird die Planungsgenehmigung in einem Musterprozess vom Obersten Gerichtshof des Landes für nichtig erklärt. Während für eine Vielzahl vergleichbarer anderer Fälle ein Gesetz die Nichtigkeit nachträglich beseitigt und die Wirkung der ursprünglich rechtswidrig erteilten besonderen Planungsgenehmigungen wiederherstellt, unterbleibt dies für das Grundstück der H.

Der durch Art 1 1. ZP EMRK garantierte Schutz des Eigentums erfährt in besonderen Fällen eine Verstärkung durch weitere Garantien der EMRK. Eine solche Funktion hat etwa das Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK (→ allgem § 3 Rn 66 ff).163 Zwar soll der Bestimmung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „keine eigenständige Bedeutung“ zukommen. Sie soll vielmehr den Einzelnen nur vor einer unberechtigten Ungleichbehandlung hinsichtlich des Gebrauchs seiner in anderen Vorschriften der Konvention und der ergänzenden Protokolle normierten Freiheiten schützen.164 Soweit der Gerichtshof bereits auf eine Verletzung der in Art 1 1. ZP EMRK garantierten Eigentumsfreiheit erkennt, hält er es deshalb regelmäßig für entbehrlich, auch noch eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes zu prüfen. Anderes soll nur gelten, wenn eine klare Ungleichbehandlung bei der Ausübung des Eigentumsrechts einen wesentlichen Aspekt des Streitfalles darstellt. Als einen solchen gerade in der Ungleichbehandlung sich manifestierenden Verstoß gegen Art 1 I 1. ZP EMRK iVm Art 14 EMRK hat der Gerichtshof eine französische Gesetzgebung gewertet, die lediglich die Eigentümer kleiner Grundstücke verpflichtete, den Zutritt Dritter zum Zwecke der Jagd zu dulden, Eigentümer größerer Grundstücke aber von dieser Verpflichtung ausnahm.165 Ein Konkurrenzverhältnis kann auch zu Art 8, 9 und 11 EMRK entstehen.166

162 Die Richter Barreto und Pavlovschi weichen teilweise, die Richter Costa, Borrego Borrego, Botoucharova und Ress vollständig ab. Die Sondervoten sind – im Anschluss an das Urteil – abrufbar unter www.echr.coe.int. 163 EGMR, NJOZ 2005, 1048, Rn 43 – Mazurek. 164 EGMR, NJOZ 2012, 1897, Rn 81 – Stummer; NJOZ 2012, 2238, Rn 81 – Zammit Maempel; EuGRZ 2011, 477, Rn 89 – Sfountouris = JK 2012, EMRK Art 1 1. ZP/4. 165 Vgl EGMR, NJW 1999, 3695 ff – Chassagnou. 166 Kaiser in: Karpenstein/Mayer EMRK, Art 1 ZP 1 Rn 53 mwN.

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§ 5 III

Eine den Eigentumsschutz verstärkende Funktion kann daneben vor allem der Bestimmung über das faire Verfahren in Art 6 EMRK zukommen.167 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn bestehende Eigentumspositionen in einem Konventionsstaat gerichtlich anerkannt wurden, diese jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt durchgesetzt oder Enteignungsentschädigungen erst später ausgezahlt wurden.168 Lösung Fall 7: Obwohl die Planungsgenehmigung von Anfang an nichtig war, sieht der EGMR in der dies feststellenden gerichtlichen Entscheidung einen Eingriff in das Eigentum der H. Mit Rücksicht auf die Rechtswidrigkeit der Genehmigung und auf die Kenntnis der H von den insoweit bestehenden rechtlichen Zweifeln hält der Gerichtshof die Nichtigerklärung allerdings für verhältnismäßig und als solche für nicht entschädigungspflichtig. Eine Entschädigungspflicht ergibt sich allerdings angesichts der nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung aus Art 1 I 1, II 1. ZP EMRK iVm dem Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK.169

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III. Sonstige wirtschaftsrechtliche Garantien Neben dem Eigentumsrecht kennt die EMRK im Unterschied zur Universellen Erklärung der Menschenrechte der UN keine weiteren Wirtschaftsgrundrechte. Lediglich einen eher unbedeutenden Sonderfall normiert Art 1 des 4. ZP: Danach darf „niemandem … die Freiheit allein deshalb entzogen werden, weil er nicht in der Lage ist, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen.“ Die Regelung, nach der das Instrument des „Schuldturms“170 konventionswidrig ist, macht die Beugehaft, die Art 5 I lit b EMRK ausdrücklich anerkennt, nicht unzulässig.171 Die Anordnung der Haft zur Erzwingung einer eidesstattlichen Versicherung gemäß § 802g ZPO und ähnliche Vorschriften werden durch Art 1 des 4. ZP nicht berührt.172 Im Übrigen fehlt es an der Gewährleistung wichtigerer Wirtschaftsgrundrechte, etwa der Berufs- oder Gewerbefreiheit.173 Letztere soll sich auch nicht im Wege der Ableitung einer allgemeinen Handlungsfreiheit ergeben können. Auch für sie findet sich jedenfalls nach herrschender Meinung in der Konvention kein hinreichender Anhaltspunkt.174 Bislang haben die Konventionsorgane den gelegentlichen Bemühungen um eine Erweiterung

167 Zu Art 6 EMRK → § 6 Rn 35. Zur Bedeutung des Art 6 I EMRK für eigentumsrelevante Verfahren, vgl o in Fn 86. Speziell zur Funktion des Art 6 EMRK im EG-Kartellrecht: Weiß EWS 1997, 253, 255 f; dort auch zum Schutz von Geschäftsräumen durch Art 8 EMRK. 168 Kaiser in: Karpenstein/Mayer EMRK, Art 1 ZP 1 Rn 52; Meyer-Ladewig EMRK, Art 1 1. ZP, Rn 63. 169 EGMR, HRLJ 1992, 36 ff – Pine Valley. 170 Der entsprechende Sinn der Bestimmung ergibt sich nicht zuletzt aus dem 1. ZP, das für sie die Überschrift: „Verbot der Freiheitsentziehung wegen Schulden“ eingeführt hat. 171 Villiger EMRK, Rn 682. 172 EKMR, YB 14, 692, 697 f – X/Deutschland; hier zit nach Frowein/Peukert in: dies EMRK, Art 1 4. ZP. 173 Frowein in: Frowein/Peukert EMRK, Art 4 Rn 1. 174 Laule EuGRZ 1996, 357, 362; Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 5 Rn 9 f; → vgl § 2 Rn 28, § 3 Rn 3.

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des Kreises der Wirtschaftsgrundrechte weithin widerstanden.175 Dagegen enthält die GRC in Art 17 eine Eigentumsgarantie, welche im Wesentlichen Art 1 1. ZP EMRK entspricht.176

IV. Einfluss der Europäischen Sozialcharta 62

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Fall 8: (nach BVerwGE 91, 327 ff – Landeserziehungsgeld) Die T, eine türkische Staatsangehörige, wohnt seit mehreren Jahren zusammen mit ihrem türkischen Ehemann, der als Arbeitnehmer tätig ist, in Baden-Württemberg. Sie beantragt für das gemeinsame Kind Landeserziehungsgeld. Ihr Antrag wird von der zuständigen Behörde abgelehnt, weil die einschlägigen Richtlinien des Landesministeriums eine Auszahlung des Erziehungsgelds nur für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der EU vorsehen.

Die EMRK verzichtet nach dem Gesagten weithin auf den Schutz anderer als der klassischen wirtschaftlichen Freiheitsgrundrechte. Insb enthält sie keine sozialen Leistungsrechte (→ vgl § 2 Rn 28). Solche enthält auch die vom Europarat als „sozialrechtliches Pendant zur EMRK“177 beschlossene Europäische Sozialcharta (ESC)178 von 1961 nur in einer strukturell abgeschwächten Variante.179 Die Rechte der Sozialcharta, wie etwa das Recht auf Arbeit (Art 1 ESC), auf ein gerechtes Arbeitsentgelt (Art 4 ESC), auf soziale Sicherheit (Art 12 ESC) und auf Fürsorge (Art 13 ESC) oder das Vereinigungs- (Art 5 ESC) und Streikrecht (Art 6 IV ESC) sind lediglich als Programmbestimmungen ausgestaltet, die von den Vertragsstaaten in ihr nationales Recht umgesetzt werden müssen. Dies folgt aus Teil III des Anhangs zur ESC.180 Danach enthält die Charta „rechtliche Verpflichtungen internationalen Charakters …, deren Durchführung ausschließlich der in ihrem Teil IV vorgesehenen Überwachung unterliegt.“ Die in Art 21 bis 29 ESC geregelte „Überwachung“ sieht aber – anders als die EMRK – weder behördliche noch gerichtliche Kontrollen innerhalb der einzelnen Vertragsstaaten, sondern lediglich ein Berichts-, Prüfungs- und Empfehlungsverfahren auf zwischenstaatlicher Ebene vor. Die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates angeregte Schaffung eines Europäischen Sozialgerichtshofs oder einer für die Kontrolle der Einhaltung der in der ESC enthaltenen Bestimmungen zuständigen Kammer des EGMR ist auch im Rahmen der unlängst erfolgten Revision der ESC nicht umgesetzt worden.181 Unmittelbar aus den Bestimmungen

175 Vgl dazu insb Melchior Rights Not Covered by the Convention in: MacDonald/Matscher/Petzold (Hrsg) The European System for the Protection of Human Rights, 1993, 593, 599 f. 176 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 2. 177 Hailbronner JZ 1997, 397, 398. 178 Vgl BGBl II 1964, 1262, Sartorius II Nr 115. 179 Allgemein zur ESC vgl Agnelli/Berenstein ua Die Europäische Sozialcharta – Wege zu einer europäischen Sozialordnung, 1978. Zur gewerkschaftlichen Kritik an der rechtlichen Schwäche der ESC vgl Gabaglio/Fonteneau/Lörcher ArbuR 1997, 345 ff. 180 Der Anhang ist nach Art 38 ESC verbindlicher Bestandteil der Charta selbst. 181 Dazu und zu den Veränderungen durch die am 1.7.1999 in Kraft getretene, von Deutschland am 29.6.2007 unterzeichnete, aber noch nicht ratifizierte „Revidierte Europäische Sozialcharta“ vgl Dötsch AuA 2001, 27 ff.

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§ 5 IV

der ESC lassen sich nach herrschender Meinung deshalb keine individuellen Rechte ableiten.182 Nicht nur ihrer gerichtlichen Durchsetzungsschwäche wegen, sondern auch inhaltlich wird die Wirkkraft der in der ESC normierten Rechte wenigstens zum Teil als stark beschränkt angesehen. Die ESC umschreibe „primär und wesentlich den bereits als vorhanden vorausgesetzten Mindeststandard von Rechtsinstitutionen sozialer Sicherheit“ und ziele anders als das Sozialrecht der EG nicht auf die Veränderung des Rechts der Mitgliedstaaten.183 Ob sich diese Bewertung angesichts der umfangreichen Verpflichtungstatbestände der ESC und der Vorbehalte, die selbst Vertragsstaaten wie die Bundesrepublik für erforderlich hielten184, aufrechterhalten lässt, mag allerdings bezweifelt werden.185 Lösung Fall 8: Die T hat keinen Anspruch auf die Zahlung des Landeserziehungsgeldes. Ein solcher Anspruch ergibt sich insbesondere nicht aus Art 16 ESC. Zwar verpflichtet die Bestimmung die Vertragsstaaten, den wirtschaftlichen, gesetzlichen und sozialen Schutz des Familienlebens, insbesondere durch Sozial- und Familienleistungen zu fördern. Einen individuell einklagbaren Anspruch auf konkrete Fördermittel begründet die Vorschrift aber angesichts des bloß völkerrechtlichen Charakters der ESC nicht. Der Umstand, dass sowohl die Türkei als auch Deutschland als Signatarstaaten der ESC die entsprechende Verpflichtung als für sich verbindlich anerkannt haben, verpflichtet die Landesbehörden auch in Verbindung mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art 3 I GG nicht, die Regelungen über das von ihr auf freiwilliger haushaltsrechtlicher Basis gewährte Landeserziehungsgeld so auszugestalten, dass sie auch türkische Staatsangehörige erfassen.186

182 Vgl dazu BVerwGE 65, 188, 196; 66, 268, 274; BAG, JZ 1985, 445 ff mit ablehnender Besprechung Konzen JZ 1986, 157 ff; VGH Mannheim, DÖV 2000, 874; Wengler Die Unanwendbarkeit der Europäischen Sozialcharta im Staat, 1969, 11 f; Pischel Die Bedeutung der europäischen Sozialcharta für das Recht in der Bundesrepublik Deutschland, 1966; Harris The European Social Charter, 2001, 290 f, 404; Zuleeg ZaöRV 35 (1975) 341, 352; Swiatkowski Charter of Social Rights of the Council of Europe, 2007, 42. Für den tastenden Versuch der Begründung einer abweichenden Ansicht vgl Lörcher EuZW 1991, 395 f. 183 So Eichenhofer in: Oetker/Preis (Hrsg) EAS, B 1200, 1995, Rn 4; konsequent wird in dieser Darstellung des Europäischen Sozialrechts denn auch auf Ausführungen zur ESC weitestgehend verzichtet. 184 Die Bundesrepublik hat von der in Art 20 ESC vorgesehenen Möglichkeit einer nur eingeschränkten Ratifikation der Charta Gebrauch gemacht und den Art 4 IV (Recht auf angemessene Kündigungsfrist), Art 7 I (Mindestbeschäftigungsalter 15 Jahre), Art 8 II (Verbot der Kündigung während Mutterschaftsurlaubs) und Art 8 IV (Sonderregelungen für Nachtarbeit und gefährliche Arbeiten von Arbeitnehmerinnen) sowie Art 10 IV (finanzielle Unterstützung der beruflichen Bildung) ESC nicht zugestimmt; vgl dazu Art 1 des Zustimmungsgesetzes zur ESC: BGBl II 1964, 1262, Sartorius II Nr 115. 185 Für eine positivere, allerdings auch schon ältere, Einschätzung der „praktischen Auswirkungen der Europäischen Sozialcharta“ vgl Fuchs in: Agnelli/Berenstein ua (Fn 179) S 289 ff mwN. 186 So BVerwGE 91, 327, 330 mwN; anders noch die Vorinstanz: VGH BW, NVwZ-RR 1993, 83 ff.

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§6 Justiz- und Verfahrensgrundrechte Christoph Grabenwarter/Katharina Struth Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1996, 577 ff – Amuur; NJW 2001, 3035 – Kreuz; NVwZ 2009, 375 – Saadi; Urt v 10.2.2009 (GK) – Sergey Zolotukhin; EuGRZ 2010, 25 – M/Deutschland.1 Schrifttum: Frowein Article 13 as a growing pillar of Convention law; GS Ryssdal, 2000, S 545 ff; Grabenwarter Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1997; Murdoch Safeguarding the liberty of the person: recent Strasbourg Jurisprudence, ICLQ 42 (1993), 494 ff; Murphy The Principle of Legality in Criminal Law under the ECHR, EHRLR 15 (2010), 192 ff; Grabenwarter, Wirkungen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte am Beispiel des Falls M. gegen Deutschland, JZ 2010, 857 ff.

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Im folgenden Abschnitt werden jene Garantien der EMRK behandelt, die Verfahrensrechte in einem weiteren Sinn zum Gegenstand haben. Verglichen mit den Grundrechten des GG enthält die EMRK eine weit größere Zahl von Verfahrensgrundrechten. Sie sind – beeinflusst vom anglo-amerikanischen Recht – um einiges detaillierter gefasst und überwiegen auch quantitativ in der Rspr die klassischen Freiheitsrechte. Demgemäß überrascht es nicht, dass die Verfassungsordnungen zahlreicher Mitgliedstaaten gerade in diesem Bereich maßgeblichen Einfluss erfahren haben.2 Nicht zufällig definierte das BVerfG die Bedeutung der EMRK im deutschen Recht aus Anlass der zwar nach der EMRK, nicht aber nach dem GG explizit grundrechtlich verankerten Unschuldsvermutung.3 Unter Justiz- und Verfahrensgrundrechten werden durchaus unterschiedliche Rechtspositionen zusammengefasst, die jedoch ihrerseits einen gemeinsamen Bezugspunkt haben, nämlich den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes als Ausdruck eines europäischen Verfassungsprinzips der Rechtsstaatlichkeit.4

I. Der Schutz der persönlichen Freiheit (Art 5 EMRK) 3

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Der Inhalt des Art 5 EMRK lässt sich geleitet von der Regelungsstruktur des GG in drei Teile teilen. Art 5 I 1 EMRK enthält die allgemeine Garantie der Freiheit der Person (vergleichbar Art 2 II 2 GG), Satz 2 enthält die Zulässigkeitsbedingungen für bestimmte Eingriffstatbestände (vergleichbar Art 104 I GG), Art 5 II bis V EMRK enthalten schließlich besondere Verfahrensgarantien im Zusammenhang mit Freiheitsentziehungen (vgl Art 104 II und III GG). Die Grundrechte-Charta der EU enthält in Art 6 das Recht auf Freiheit und Sicherheit.5 Fall 1: (EGMR, NVwZ 2009, 375 – Saadi) Ein irakischer Staatsangehöriger landete am 30.12.2000 am Flughafen London Heathrow, nachdem er aus seinem Heimatland geflohen war. Bei seiner Ankunft stellte er bei der Einwanderungsbehörde einen Asylantrag. Die Behörde gewährte ihm eine vorläufige Aufent-

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Aktuelle Urt des EGMR können im Internet unter http://www.echr.coe.int/abgerufen werden. Für Bsp vgl Grabenwarter FS Steinberger, 2002, S 1129, 1130 f. BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 115. Grabenwarter, S 696 ff. Zum Gewährleistungsumfang vgl Grabenwarter DVBl 2001, 1, 4; Jarass GRCh Art 6 Rn 1 ff.

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haltsberechtigung. Als er sich am 2.1.2001 wiederum zur Stelle meldete, wurde er festgenommen und in das Aufnahmezentrum Oakington6 gebracht. Am 4.1.2001 wurde ihm die Möglichkeit gewährt, sich mit einem Rechtsvertreter zu beraten. Aufgrund einer telefonischen Nachfrage wurde diesem am nächsten Tag mitgeteilt, dass der Flüchtling angehalten werde, weil er aus dem Irak stamme und die Voraussetzungen für eine Anhaltung in Oakington erfülle. Nach Durchführung des erstinstanzlichen Asylverfahrens, wurde er schließlich am 9.1.2001 aus dem Aufnahmezentrum entlassen. Vor dem EGMR macht der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art 5 I (Recht auf persönliche Freiheit) und Art 5 II EMRK (Recht auf Information über die Gründe der Festnahme) geltend. Zu Recht?

1. Das Recht auf Freiheit und Sicherheit Der sachliche Schutzbereich des Art 5 EMRK umfasst neben dem Verbot der willkürlichen Festnahme und Freiheitsentziehung (Abs 1)7 die Garantie der richterlichen Kontrolle des Freiheitsentzugs. Art 5 EMRK ist auch bei kurzzeitiger Freiheitsentziehung anwendbar.8 Bei der Beurteilung, ob eine Freiheitsentziehung iSd Art 5 EMRK vorliegt, ist von der konkreten Situation des Betroffenen auszugehen.9 Kriterien wie Dauer, Folgen und Art und Weise der Beeinträchtigung müssen berücksichtigt werden.10 Vor diesem Hintergrund entschied der EGMR, es stelle keine Freiheitsentzieheung und damit keinen Eingriff in Art 5 I dar, wenn einer Person verboten wird, in ein Land einzureisen bzw. dieses zu durchqueren und zwar selbst dann nicht, wenn die Person in einer Enklave lebt und das genannte Verbot sie daran hindert, die Enklave zu verlassen.11 Die Maßnahme hindere den Betroffenen nicht an seiner Bewegungsfreiheit in dem Land, welches er als Wohnort frei gewählt hat, er sei lediglich daran gehindert, einen anderen Staat zu betreten und in der Folge sei es ihm nicht möglich die Enklave zu verlassen, eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art 5 I liege darin nicht.12 Fraglich ist, ob kurzfristige Beeinträchtigungen der Bewegungsfreiheit (etwa zum Zwecke polizeilicher Maßnahmen wie Identitätsfeststellungen oder Befragungen) eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art 5 darstellen können, wenn die Durchführung der polizeilichen Maßnahme vorrangiger Zweck der Freiheitsentziehung ist. Die Frage ist von besonderer Bedeutung, da häufig die Voraussetzungen nach Art 5 in diesen Konstellationen nicht vorliegen. Trotz einer kurzfristigen Dauer der Freiheitsentziehung kann eine solche vorliegen, wenn etwa ein starkes Zwangselement in der

6 Das Anhaltelager Oakington dient der Unterbringung von Asylwerbern, bei denen Grund zur Annahme besteht, dass ihr Antrag in einem Schnellverfahren erledigt werden kann. Zur Vereinfachung der Entscheidung wurden Listen mit Ländern erstellt, deren Angehörige in der Regel für das Schnellverfahren in Oakington in Frage kommen. Personen, deren Fälle komplizierter sind oder bei denen die Gefahr der Flucht aus dem Anhaltezentrum besteht, werden als ungeeignet für die Anhaltung in Oakington betrachtet. 7 EGMR, EuGRZ 1996, 577, Rn 42 – Amuur; EuGRZ 1979, 650, Rn 37 – Winterwerp; Series A, Vol 3, Rn 14 – Lawless; Rep 1997-II, Rn 41 – Lokanov. 8 Villiger EMRK, 494 ff. 9 EGMR, EuGRZ 1976, 221, Rn 59 – Engel; EuGRZ 1983, 633, Rn 92 – Guzzardi; NJW-RR 2013, 785, Rn 57 – Austin; NJOZ 2013, 1183, Rn 225 – Nada. 10 EGMR, NJOZ 2013, 1183, Rn 225 – Nada. 11 EGMR, NJOZ 2013, 1183, Rn 229 ff – Nada. 12 EGMR, NJOZ 2013, 1183, Rn 230, 233 – Nada.

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Maßnahme der Polizei zu finden ist.13 Eine Beurteilung hat nach Auffassung des EGMR danach zu erfolgen, welches Ziel die Maßnahme schwerpunktmäßig verfolgt. Liegt dieser vorrangige Zweck nicht in einer Beeinträchtigung der körperlichen Bewegungsfreiheit, sondern handelt es sich lediglich um eine Nebenfolge, so ist der Schutzbereich des Art 5 nicht berührt.14 Der Gerichtshof geht davon aus, dass in den Fällen, in denen kurzfristige Beeinträchtigungen der Bewegungsfreiheit in Form von alltäglichen Bewegungseinschränkungen unvermeidbare Nebenfolgen notwendiger und im Rahmen der Gefahrenabwehr erforderlicher polizeilicher Maßnahmen sind, keine Freiheitsentziehungen im Sinne des Art 5 vorliegen.15 Vor diesem Hintergrund sah der Gerichtshof im Fall der Einkesselung von Demonstranten für etwa 7 Stunden den Schutzbereich des Art 5 nicht eröffnet. Es muss aber nach hier vertretener Auffassung davon ausgegangen werden, dass es entscheidend und vorrangig auf die Schwere des Zwangselements, nicht auf die Dauer der Freiheitsentziehung ankommt. Eine Freiheitsentziehung mit gravierenden Zwangshandlungen, die schwerpunktmäßig darauf abzielt, durch gravierenden staatlichen Eingriff eine Person in ihrer körperlichen Bewegungsfreiheit zu beeinträchtigen, muss den Tatbestand des Art 5 ungeachtet ihrer zeitlichen Dauer erfüllen. Obwohl die Begriffe „Freiheit und Sicherheit“ in Art 5 I EMRK getrennt aufgeführt sind, hatte das „Recht auf Sicherheit“ lange Zeit nur geringe eigenständige Bedeutung.16 Die aktuelle Rechtsprechung des EGMR macht das Recht auf Sicherheit aber heute zur Grundlage des generellen Gebots rechtsstaatlichen Vorgehens bei Freiheitsentziehungen, insbesondere in Bezug auf Aspekte der Rechtssicherheit.17 Das Recht auf Sicherheit kann einen gewissen Schutz vor staatlichen Maßnahmen außerhalb des Hoheitsgebietes eines Mitgliedstaates gewähren, es verpflichtet aber keineswegs die Konventionsstaaten, Personen, deren Sicherheit im Herkunftsland bedroht ist, ein Einreiserecht, einen Anspruch auf Nicht-Ausweisung oder ein allgem Asylrecht zu gewähren. Art 5 EMRK umfasst kein Recht auf Sicherheit der Person („security of person“).18 Hinsichtlich des Schutzgutes von Art 5 EMRK bestehen Abgrenzungsschwierigkeiten mit der Freizügigkeitsgarantie des Art 2 4. ZP EMRK, der die Bewegungs-, Niederlassungs- und Ausreisefreiheit schützt. Nach der Rspr des EGMR sind in diesen Fällen die konkreten Umstände des Einzelfalls, wie sie sich durch Art und Weise der Beschränkung, ihre Dauer sowie ihre Auswirkungen ergeben, zu berücksichtigen.19 Des Weiteren erfasst der Schutzbereich des

13 EGMR v 24.6.2008, 28940/95, Rn 74 ff – Foka; v 12.1.2010, 4158/05, Rn 57 – Gillan; v 21.6.2011, 30194/09 – Shimovolos. 14 EGMR, NJW-RR 2013, 785, Rn 58 ff – Austin. 15 EGMR, NJW-RR 2013, 785, Rn 59 – Austin: „commonly occuring restrictions on movement“; „in the common good“; „necessary to avert a real risk of serious injury or damage“; bestätigt in NJOZ 2013, 1183, Rn 226 – Nada. 16 Im Urt EGMR, EuGRZ 1987, 101, Rn 54, 60 – Bozano wird das „Recht auf Sicherheit“ erwähnt, ohne dass Konsequenzen daraus gezogen werden; Bleichrodt in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/ Zwaak (Hrsg) Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl 2006, 455 ff; Trechsel EuGRZ 1980, 514, 518; ders S 282 f. Im Urt EGMR, EuGRZ 2003, 472, Rn 88 – Öcalan sah der EGMR das Recht auf Sicherheit als betroffen an, wenn eine Verhaftung durch Organe eines Konventionsstaates auf dem Territorium eines anderen Staates erfolgt. 17 EGMR v 13.1.2009, 37048/04, Rn 53 – Giorgi Nikolaishvili. 18 EGMR v 30.11.2010, 2660/03, Rn 55 – Hajduová. 19 EGMR, EuGRZ 1996, 577, Rn 42 – Amuur; EuGRZ 1983, 633, Rn 92 – Guzzardi; EuGRZ 1976, 221, Rn 59 – Engel.

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Art 5 I EMRK auch nicht die Bedingungen der Haft.20 Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Rechtsfragen sind in erster Linie im Lichte des Art 3 EMRK zu prüfen (zur Problematik der Haftbedingungen Suchtmittel- und Geisteskranker, Rn 17). Die betroffene Person muss gegen oder zumindest ohne ihren Willen festgehalten werden. Eine wirksame Einwilligung schließt einen Eingriff in den Schutzbereich aus.21 Die Wirksamkeit der Einwilligung setzt jedoch voraus, dass die einwilligende Person einwilligungsfähig ist und die Konsequenzen ihrer Einwiligung durch Bereitstellung aller notwendigen Informationen in einem fairen Verfahren einschätzen kann.22

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2. Die Eingriffstatbestände Ein Eingriff in Art 5 I EMRK liegt bei jeder Freiheitsentziehung durch staatliche Organe vor, wobei Art 5 I lit a bis f EMRK einen abschließenden Katalog zulässiger Beschränkungen der persönlichen Freiheit enthält. Die entsprechenden Tatbestände sind restriktiv auszulegen.23 Die Kontrolle der Eingriffsvoraussetzungen erfolgt in erster Linie durch die nationalen Gerichte. Der EGMR überprüft nur den betreffenden Einzelakt, nicht auch das zugrunde liegende anwendbare nationale Recht. Eine Ausnahme besteht jedoch dann, wenn die EMRK selbst – wie in Art 5 I EMRK – auf das innerstaatliche Recht verweist.24 Damit ein Eingriff gerechtfertigt ist, muss er auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, in Übereinstimmung mit dem gesetzlich vorgeschriebenen innerstaatlichen Verfahren und unter Beachtung des (ungeschriebenen) Willkürverbots erfolgen sowie durch das Vorliegen eines Haftgrundes der abschließenden Aufzählung in Art 5 I lit a bis f EMRK materiell gerechtfertigt sein. Völkerrechtliche Verträge, die noch nicht in Kraft getreten sind, genügen den Anforderungen des Art 5 an das Vorliegen einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage nicht.25 Ad hoc Vereinbarungen zwischen zwei Staaten sind ebenso keine taugliche Eingriffsermächtigung, es genügen hier Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit den Vorgaben der EMRK nicht.26 Das innerstaatliche geschriebene oder ungeschriebene Recht muss hinreichend präzise sein, um es dem Betroffenen zu ermöglichen – auch unter Einholung von Rechtsrat – die Folgen seines Handelns vorauszusehen.27 Eine gesetzliche Grundlage einer Haftentziehung genügt den Anforderungen des Art 5 I nicht, wenn und soweit eine betroffene Person eine Verlängerung ihrer Haft auf Grundlage dieses Gesetzes nicht hinreichend klar voraussehen konnte.28 Die gesetzliche Grundlage einer Freiheitsentziehung muss die zuständige staatliche Stelle nennen und das anwendbare Verfahren beschreiben

20 EGMR, ECHR 2001-IX, Rn 16 – Vittorio. 21 EGMR, EuGRZ 2008, 582, Rn 74 – Storck. 22 EGMR v 19.4.2012, 2452/04, Rn 75 ff – M/Ukraine.; vgl dazu: NJOZ 2013, 1190, Rn 130 ff – Stanev. 23 EGMR, Rep 1997-II, Rn 41 – Loukanov; Series A, Vol 311, Rn 42 – Quinn; Series A, Vol 148, Rn 41 – Ciulla; Series A, Vol 129, Rn 43 – Bouamar. 24 EGMR, EuGRZ 1979, 650, Rn 46 – Winterwerp; grds and vgl Series A, Vol 13, Rn 97 – Ringeisen. 25 EGMR v 7.10.2009, 25336/04, Rn 158 ff – Grori. 26 EGMR (GK) v 20.03.2010, 3394/03, Rn 99 f – Medvedyev. 27 EGMR, Rep 1998-VII, Rn 54 – Steel. 28 EGMR v 21.10.2013, 42750/09, Rn 130 ff – Del Río Prada.

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sowie im Falle eines Haftgrundes nach Art 5 I lit e) die Hinzuziehung eines medizinischen Gutachters zwingend vorschreiben.29 Eine diesen Anforderungen nicht entsprechende gesetzliche Grundlage bzw. eine insgesamt unklare Rechtslage, unter der eine Freiheitsentziehung durchgeführt wird, stellt einen Verstoß gegen Art 5 dar.30 Ausreichend für die Rechtmäßigkeit ist jedoch eine gefestigte Rspr zur Auslegung verfahrensrechtlicher Normen.31 Die gesetzliche Grundlage einer Eingriffshandlung muss das Verfahren, nach dem die Haft angeordnet oder verlängert wird und eine zeitliche Haftbegrenzung regeln.32 Hinsichtlich der Übereinstimmung mit dem nationalen Verfahren verlangt der EGMR, dass das innerstaatliche Recht konventionskonform ist und im Einzelfall tatsächlich eingehalten wird.33 Ein Haftbefehl etwa ist von vorneherein umwirksam, wenn er „offensichtlich grob fehlerhaft“ im Sinne der Rspr des EGMR ist.34 Solche Fälle liegen etwa dann vor, wenn innerstaatliche Gerichte ihre Zuständigkeit überschreiten oder Anhörungen nicht ordnungsgemäß erfolgen. Allerdings ist eine Freiheitsentziehung nach der Rspr des EMGR willkürlich, wenn sie zwar mit dem Gesetzeswortlaut im Einklang steht, aber nicht in gutem Glauben erfolgt. Um dem Willkürverbot zu entsprechen, müssen ferner sowohl die Anordnung der Haft als auch ihre Vollstreckung insgesamt („genuinely“) mit dem Zweck der Beschränkungen des jeweiligen Tatbestandes in Art 5 I lit a bis lit f im Einklang stehen. Schließlich muss eine gewisse Beziehung zwischen dem jeweiligen Haftgrund einerseits und dem Ort und den Bedingungen der Freiheitsentziehung bestehen.35 Es muss ein innerer Zusammenhang zwischen dem Eingriffsziel und der Freiheitsentziehung als solcher bestehen.36 Eine geheime Anhaltung von Personen an einem unbekannten Ort („unacknowledged detention“) ist wegen Missachtung des Willkürverbotes als grobe Verletzung von Art 5 zu qualifizieren.37 Ein entscheidender Aspekt zur Beurteilung der Willkürlichkeit einer Freiheitsentziehung ist die zeitliche Dauer, die ein Gericht benötigt, um einen ausgelaufenen durch einen neuen Haftbefehl im Wege einer Überprüfung des Haftgrundes zu ersetzen sowie die Existenz hinreichender Maßnahmen zur Vermeidung unnötiger Verzögerungen.38 Die Beurteilung als willkürlich hängt dabei von den Umständen des Einzelfalles ab wie etwa der Komplexität des Falles und der Kooperationsbereitschaft durch die betroffene Person.39 Darüber hinaus gebietet das Willkürverbot dem EGMR zufolge die Einhaltung einzelner Aspekte des Grundsatzes des Verhältnismäßigkeit iSd deutschen Grundrechtsdogmatik, wobei die Anforderungen je nach Haftgrund erheblich differieren.40

29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

EGMR v 3.9.2013, 22398/05, Rn 99 – Ümit. EGMR v 5.11.2009, 1108/02 , Rn 178 – Kolevi. EGMR, Rep 2001-XI, Rn 51 – Laumont; v 29.11.2011, 51776/08, Rn 68 – A ua/Bulgarien. EGMR, InfAuslR 2010, 47, Rn 133 – Abdolkhani u.Karminia; v 13.4.2010, 32940/08, Rn 70 – Tehrani; v 10.2.2011, 40107/02, Rn 74 – Kharchenko. EGMR, Series A, Vol 296-C, Rn 37 – Kemmache (Nr 3). EGMR, EuGRZ 2009, 566, Rn 75 – Mooren. EGMR, NVwZ 2009, 375, Rn 69 – Saadi, mwN auf die Rspr. EGMR v 18.9.2012, 25119/09, Rn 204 – James. EGMR v 5.2.2009, 21519/02, Rn 138 – Khadisov; v 17.9.2009, 15569/06, Rn 120 – Asadulayeva. EGMR, Series A no. 185-B; Urt v 24.11.2011, Rn 85 – Schönbrod; v 19.9.2013, 17167/11, Rn 68, 82 – H.W. Vgl hierzu: EGMR v 19.9.2013, 17167/11, Rn 83 ff – H.W. EGMR, NVwZ 2009, 375, Rn 70–72 – Saadi; vgl hierzu auch Grabenwarter/Pabel EMRK, § 21 Rn 10.

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– Für die Haftgründe der lit b, lit d und lit e impliziert das Willkürverbot den Grundsatz der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit ieS, mithin das Gebot des Einsatzes des gelindesten Mittels (Prüfung des Ausreichens weniger strenger Maßnahmen) und der Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Erfüllung einer Verpflichtung und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person, wobei die Dauer der Freiheitsentziehung eine maßgebliche Rolle für das Ergebnis der Abwägung spielt. – Für die Strafhaft nach lit a reicht es aus, wenn die allgem Bedingungen des Willkürverbots erfüllt sind, insbesondere wird die Länge der Haft nicht in einer Abwägung durch den EGMR nachgeprüft; dies ist vielmehr Sache der innerstaatlichen Gerichte. – Für die Haft nach lit f hat zwar keine Prüfung der Erforderlichkeit, wohl aber eine (zurückgenommene) Prüfung der Angemessenheit der Haftdauer insoweit stattzufinden, sodass die Haft nur solange angemessen ist, als das in lit f Bezug genommene Verfahren Fortschritte macht und mit angemessener Sorgfalt geführt wird („with due diligence“). Allerdings muss hier beachtet werden, dass nach der Rspr des EGMR die Haft nach lit f nur dann im Einklang mit dem Willkürverbot steht, wenn und soweit andere gelindere Mittel in Betracht gezogen und als nicht hinreichend verworfen wurden.41 Die materielle Rechtmäßigkeit der Haft richtet sich, wie bereits erwähnt, nach der abschließenden Aufzählung des Art 5 I lit a bis f EMRK: a) Verurteilung Verurteilungen iSv Art 5 I lit a EMRK umfassen straf- oder disziplinarrechtliche Tatbestände und setzen die Feststellung einer Schuld voraus.42 Das „Gericht“ iSd Art 5 I lit a EMRK muss von der Exekutive unabhängig sein.43 Ein zuständiges Gericht im Sinne des Art 5 setzt die rechtsstaatliche Zusammensetzung des Gerichtes voraus.44 Entscheidend ist, dass die Haft der Verurteilung nicht nur zeitlich nachfolgt, sondern kausal von ihr abhängt, also die Freiheitsentziehung gerade durch die Verurteilung bedingt ist.45 Das Fehlen eines Kausalzusammenhanges zwischen der Verurteilung und der Freiheitsentziehung führte zu einer Verletzung des Art 5 I lit a im Fall der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach deutschem Strafrecht. Der EGMR ging davon aus, dass zwar die ursprünglich verhängte Sicherungsverwahrung mit dem Höchstmaß von 10 Jahren im Einklang mit Art 5 I stand, dass aber die durch eine zwischenzeitliche gesetzliche Änderung im Recht der Sicherungsverwahrung des deutschen StGB ermöglichte über den Zeitraum von 10 Jahren hinausgehende Sicherungsverwahrung keine Kausalbeziehung mehr zur ursprünglichen Verurteilung aufwies.46 Die Erneuerung einer Entscheidung über eine Frei41 EGMR, ÖJZ 2009, 426, Rn 58 – Rusu. 42 EGMR, RUDH 1990, 158, Rn 38 – B/Österreich; Villiger EMRK, Rn 330; Kopetzki in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg) Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd III, 1997, S 323; Trechsel, 297; ders EuGRZ 1980, 518, 523 ff. 43 EGMR, EuGRZ 1976, 221, Rn 68 – Engel. 44 EGMR v 12.2.2013, 152/04, Rn 108 ff – Yefimenko. 45 EGMR, RUDH 1990, 158, Rn 38 – B/Österreich; Series A, Vol 115, Rn 40 – Monnell; EuGRZ 1988, 316, Rn 42 – Weeks; EuGRZ 1987, 101, Rn 53 – Bozano; EuGRZ 2010, 25, Rn 96 ff – M/Deutschland; NJW 2011, 3423, Rn 85 ff – Haidn; NJW 2011, 3427 – Kallweit; vgl auch Urt v 19.9.2013, 17167/11, Rn 103 ff – H.W. 46 EGMR, EuGRZ 2010, 25, Rn 96 ff; EuGRZ 2011, 20, Rn 45 ff – Grosskopf; vgl zur nachträglichen Sicherungsverwahrung Kinzig NStZ 2010, 233 ff; Grabenwarter JZ 2010, 857 ff, Greve DÖV 2012, 97; Schmaltz EuGRZ 2012, 606; Anders JZ 2012, 498.

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heitsentziehung basierend auf einem ausgelaufenen medizinischen Gutachten über die Gefährlichkeit einer psychisch erkrankten Person kann eine Verletzung von Art 5 I lit a darstellen, wenn und soweit aufgrund eines Mangels an neuen Untersuchungen hinsichtlich der Gefährlichkeit einer Person eine Kausalbeziehung zwischen der ursprünglichen Entscheidung zur Freiheitsentziehung und der nunmehr angeordneten Haft nicht angenommen werden kann.47 Eine Rechtfertigung kann an dieser Stelle nicht unter Rückgriff auf die staatliche Schutzpflicht gegenüber Dritten erreicht werden.48 Eine Haftverlängerung, die bereits in der ursprünglichen Verurteilung in Aussicht genommen wurde, stellt keine Verletzung des Art 5 I dar.49 Im Anschluss an die Rspr des EGMR zur nachträglichen Sicherungsverwahrung stellt das BVerfG die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung über die Zehnjahreshöchstfrist hinaus wegen einer Verletzung des Art 2 II 2 GG fest, wobei es die Nichtbeachtung des Abstandsgebotes zwischen Freiheitsentziehung im Strafvollzug und Freiheitsentziehung im Maßregelvollzug als Begründung anführt.50 Im Rahmen der strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung im Fall eines Eingriffes in Art 2 II 2 GG statuiert das BVerfG die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Wertungen der Art 5 I und Art 7 I EMRK, das Gewicht der Vertrauensschutzbelange, die hier betroffen waren, wird nach Auffassung des BVerfG im Wege der völkerrechtskonformen Auslegung des GG durch die Wertungen der EMRK verstärkt.51 Zu beachten ist, dass in diesem Zusammenhang die Haft ab der erstinstanzlichen Verurteilung, nicht erst ab Rechtskraft des Urt gemeint ist.52 Aus Art 5 I lit a EMRK lässt sich kein Recht auf Aussetzung der Haft ableiten, zB bei einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe nach Ermessen.53 b) Nichtbefolgung von Gerichtsbeschlüssen oder einer durch Gesetz vorgesehenen Verpflichtung 11

Bei dem Haftgrund der „Nichtbefolgung eines rechtmäßigen Gerichtsbeschlusses oder … einer durch Gesetz vorgesehenen Verpflichtung“ gem Art 5 I lit b EMRK entspricht der Begriff des „Gerichts“ dem des Art 5 I lit a (Rn 9). Ein „Gerichtsbeschluss“ kann auch bei Handeln einer Verwaltungsbehörde ohne erneuten gerichtlichen Beschluss gegeben sein, wenn und soweit die Verwaltungsbehörde durch einen Gerichtsbeschluss zur Ahndung eines Verstoßes gegen die gerichtliche Entscheidung ermächtigt ist.54 Während die auf die Nichtbefolgung eines gerichtlichen Beschlusses hin angeordnete Haft repressiven

47 48 49 50 51

EGMR v 22.1.2013, 2894/08, Rn 107 – Dörr; v 19.9.2013, 17167/11 – H.W. EGMR v 14.4.2011, 30060/04, Rn 37 – Jendrowiak, vgl Möllers ZRP 2010, 153, 154. EGMR v 13.10.2009, 27428/07, Rn 42 – De Schepper. BVerfGE 128, 326, Rn 100 ff. BVerfGE 128, 326, Rn 87 ff, 145 ff vgl zur nachträglichen Sicherungsverwahrung Grabenwarter EuGRZ 2012, 507, Barczak JuS 2012, 156. 52 EGMR, RUDH 1990, 158, Rn 36 – B/Österreich; Series A, Vol 7, Rn 9 – Wemhoff; aA Reindl in: Grabenwarter, Kontinuität, 45, 48: Bis Rechtskraft des erstinstanzlichen Urt Untersuchungshaft iSd Art 5 I lit c EMRK. 53 Villiger EMRK, Rn 332 mwN; vgl zur Zulässigkeit des Wiederauflebens von Haftstrafen von zu lebenslanger Haft Verurteilten auch EGMR, Series A, Vol 114, Rn 42, 50 ff – Weeks; ECHR 2002-IV, Rn 81 – Stafford. 54 Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 5 EMRK Rn 54.

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Charakter hat,55 weist die Haft aufgrund der Nichtbefolgung des Zwangs, eine Verpflichtung zu erfüllen (zB den Pass bei sich zu tragen56), keinen punitiven Charakter auf, da der Haftgrund wegfällt, sobald der Betroffene die ihm obliegende Verpflichtung erfüllt hat.57 Um einer allzu extensiven Interpretation von Art 5 I lit b EMRK entgegenzutreten, verlangt die Rspr, dass eine Freiheitsentziehung nach Art 5 I lit b EMRK nur dann zulässig ist, wenn das nationale Recht die Inhaftnahme einer Person zu dem Zweck erlaubt, sie zur Erfüllung einer konkreten und spezifischen Pflicht, der sie bislang nicht nachgekommen ist, zu zwingen.58 c) Präventiv- und Untersuchungshaft Die Präventiv- und Untersuchungshaft gem Art 5 I lit c EMRK dient der Sicherung der strafrechtlichen Untersuchung und steht stets in einem strafrechtlichen Kontext.59 Die Untersuchungshaft beginnt mit der Inhaftnahme und endet mit dem Urt erster Instanz.60 Ihr Zweck muss die Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde sein.61 Der Begriff der Gerichtsbehörde entspricht dem „Richter“ bzw dem „richterlichen Beamten“ in Art 5 III EMRK. Die EMRK verlangt nur die unverzügliche Vorführung vor den Richter (Art 5 III EMRK), nicht jedoch die Anordnung der Untersuchungshaft selbst durch einen Richter.62 Der Inhalt der strafbaren Handlung bestimmt sich nach dem innerstaatlichen Recht.63 Art 5 I lit c EMRK nennt als kumulative Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Haft den Zweck der richterlichen Vorführung sowie den Tatverdacht oder die Ausführungsoder Fluchtgefahr. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist Art 5 I lit c EMRK verletzt.64 Grundvoraussetzung für die Untersuchungshaft ist der hinreichende Tatverdacht.65 Bei der Inhaftnahme genügt er als ausschließlicher Haftgrund, nicht aber bei der Fortdauer der Untersuchungshaft,66 für die wiederum Art 5 III EMRK maßgeblich ist (Rn 24 ff). Sieht das innerstaatliche Recht eine höhere Eingriffsschwelle vor, so ist diese entscheidend,67 mit der Folge, dass neben dem in Art 5 I lit c EMRK ausdrücklich genannten hinreichenden Tatverdacht und der Fluchtgefahr auch die klassischen Haftgründe der Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr konventionsrechtlich erheblich sind, soweit sie nach

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Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 5 EMRK Rn 51; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 21 Rn 13. EKMR, DR 52, 111, 118. EKMR, DR 25, 15, 81; Kopetzki (Fn 42) S 330. EGMR, EuGRZ 1976, 221, Rn 69 – Engel; v 25.9.2003, 52792/99, Rn 36 – Vasileva; v 27.3.2012, 17835/07, Rn 29 – Lolova-Karadzhova. EGMR, Series A, Vol 148, Rn 38 – Ciulla. S Meyer-Ladewig EMRK, Art 5 Rn 33; aA Reindl in: Grabenwarter, Kontinuität, 46 ff; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21 Rn 15 ff. EGMR, HRLJ 1994, 331, Rn 68 – Murray; Series A, Vol 25, Rn 199 – Irland; Series A, Vol 3, Rn 13 f – Lawless. EKMR, DR 9, 210, 212. Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 5 EMRK Rn 59, zu der Frage, ob darunter auch bloßes Ordnungsunrecht fällt. Vgl EGMR, HRLJ 1994, 331, Rn 55 – Murray; RUDH 1990, 418, Rn 32 – Fox; EuGRZ 1983, 633, Rn 102 – Guzzardi. Ausf dazu Grabenwarter/Pabel EMRK, § 21 Rn 17. EGMR, Series A, Vol 7, Rn 4 – Stögmüller; EuGRZ 1985, 700, Rn 44 – De Jong. Villiger EMRK, Rn 346.

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dem innerstaatlichen Recht Voraussetzung für die Untersuchungshaft sind.68 Das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts ist zu bejahen, wenn genügend Tatsachen vorliegen, die objektiv darauf schließen lassen, dass der Betroffene die strafbare Handlung begangen haben könnte.69 Nicht erforderlich ist eine bereits vollständig erfolgte Sachverhaltsaufklärung. Die Nachprüfung dieser Voraussetzungen durch den EGMR beschränkt sich auf eine Willkürkontrolle.70 Des Weiteren ist die Festnahme einer Person zwecks Vorführung vor das zuständige Gericht rechtmäßig, wenn dies notwendig erscheint um den Betreffenden an der Begehung einer Straftat zu hindern. Gem Art 5 I lit c EMRK muss nicht notwendig die Wiederholungsgefahr gegeben sein, sondern es genügt bereits die bloße Ausführungsgefahr. Voraussetzung für die Haft ist in diesem Fall das Vorliegen konkreter Gründe, die auf die Begehung einer bestimmten künftigen strafbaren Handlung schließen lassen.71 Schließlich bildet auch die Fluchtgefahr nach Begehung einer Straftat einen zulässigen Haftgrund. Da jedoch gem Art 5 I lit c EMRK bei hinreichendem Tatverdacht eine Inhaftierung auch ohne weitere Haftgründe zulässig ist, findet diese Alternative nur dann Anwendung, wenn es um die Frage der Zulässigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft geht.72 d) Inhaftnahme Minderjähriger

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Die Inhaftnahme Minderjähriger (lit d) umfasst Maßnahmen der Fürsorge und des Jugendstrafrechts,73 so dass auch die vorübergehende Inhaftnahme bis zur Entscheidung über eventuelle Erziehungsmaßnahmen zulässig ist.74 Die Frage der Definition der Minderjährigkeit unterliegt einer autonomen Bestimmung durch den EGMR.75 Eine elterliche Entscheidung für ein psychiatrisches Kinderkrankenhaus fällt hingegen nicht in den Anwendungsbereich des Art 5 EMRK.76 Die Freiheitsentziehung nach lit d kann auch von einer Verwaltungsbehörde angeordnet werden.77 e) Unterbringung Kranker und Landstreicher

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Bei der Unterbringung Kranker oder Landstreicher nach Art 5 I lit e EMRK liegt der Beurteilungsspielraum in erster Linie bei den nationalen Behörden,78 da Art 5 I lit e EMRK selbst keine inhaltliche Begrenzung enthält. Art 5 I lit e EMRK lässt eine Inhaftnahme bei Vorliegen ansteckender Krankheiten zu, die zwingend durch ein objektives

68 EGMR, Series A, Vol 296-C, Rn 42 – Kemmache (Nr 3); EKMR, DR 34, 119, 124. 69 Z Sonderfall der Terrorismusbekämpfung vgl EGMR, RUDH 1990, 418, Rn 32 – Fox, HRLJ 1994, 331, Rn 50 ff – Murray; ECHR 2001-X, Rn 34 – O’Hara. 70 EGMR, Rep 1997-VI, Rn 51 f – Erdagöz; RUDH 1990, 418, Rn 34 – Fox; EKMR, DR 88-B, 94, 113; DR 16, 111, 118; DR 54, 35, 38; Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 5 EMRK Rn 63 ff. 71 EGMR, EuGRZ 1983, 633, Rn 102 f – Guzzardi. 72 Ausf dazu Reindl Untersuchungshaft und Menschenrechtskonvention, 1997, 65 ff. 73 EGMR, Series A, Vol 129, Rn 50, 52 – Bouamar. 74 EGMR, Series A, Vol 129, Rn 50 – Bouamar. 75 Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 5 EMRK Rn 73 76 EGMR, Series A, Vol 144, Rn 72 – Nielsen. 77 Villiger EMRK, Rn 335. 78 EGMR, EuGRZ 1992, 535, Rn 63 – Herczegfalvy; EuGRZ 1982, 101, Rn 43 – X/Vereinigtes Königreich; EuGRZ 1979, 650, Rn 40 – Winterwerp.

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ärztliches Attest festzustellen sind,79 ferner bei Alkohol- oder Rauschgiftsucht sowie bei Geisteskrankheit. Die die Haft rechtfertigende Gefährlichkeit der betreffenden Person kann für die Allgemeinheit oder für die in Haft genommene Person selbst bestehen.80 Eine entsprechende Gefahr kann in der Ausbreitung ansteckender Krankheiten liegen.81 Die im deutschen Recht existierende Sicherungsverwahrung kann unter bestimmten Voraussetzungen auf Art 5 I lit e gestützt werden. Die gesetzlichen Vorschriften dürfen die Freiheitsentziehung im Maßregelvollzug nicht von der begangenen Straftat und der anschließenden Verurteilung abhängig machen, sondern Grundlage der Freiheitsentziehung muss der gegenwärtige Zustand aufgrund der psychischen Situation der betroffenen Person sein und des Weiteren muss ein Zusammenhang zwischen dem Zweck der Freiheitsentziehung und der Art der Unterbringung, d.h. dem Ort der Freiheitsentziehungsmaßnahme bestehen.82 Eine rückwirkend angeordnete bzw. verlängerte Freiheitsentziehung durch Sicherungsverwahrung ist dem BVerfG zufolge nur dann verhältnismäßig, wenn das „Abstandsgebot“ im Verhältnis zur Strafe gewahrt wird, eine starke Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte aus den konkreten Umständen ableitbar ist und die Voraussetzungen des Art 5 I 2 lit e EMRK erfüllt sind.83 Das BVerfG nimmt in seiner Entscheidung die Rechtsprechung des EGMR in Bezug und entwickelt auf dieser Grundlage das sog „Abstandsgebot“.84 Das Vertrauensschutzgebot aus Art 2 II 2 iVm Art 20 III GG ist dabei nach Auffassung des BVerfG von besonders großer Bedeutung und es muss im Wege völkerrechtsfreundlicher Auslegung der Art 2 II 2 GG sowie Art 20 III GG eine Orientierung an den Wertungen des Art 5 EMRK erfolgen, die zu einer Verstärkung der Vertrauensschutzbelange führt.85 Art 5 I EMRK verlangt aber auch, dass zwischen dem Grund für eine gerechtfertigte Freiheitsentziehung und den Bedingungen der Haft ein angemessenes Verhältnis bestehen muss.86 Folglich kann den Konventionsstaaten aus Art 5 I lit e EMRK auch die Pflicht erwachsen, in hinreichendem Umfang Plätze in derartigen Einrichtungen bereitzustellen.87 Die Zulässigkeit einer fortdauernden Anhaltung und damit Freiheitsentziehung ist da-

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85 86 87

EGMR, EuGRZ 1986, 8, Rn 37 – Ashingdane; EuGRZ 1979, 650, Rn 39 – Winterwerp. EGMR, EuGRZ 1983, 633, Rn 98 – Guzzardi. Kopetzki (Fn 42) S 333. BVerfGE 128, 326, Rn 154 f; im Gefolge von EGMR, EuGRZ 2010, 25 – M/Deutschland; zum Verhältnis der beiden Entscheidungen Grabenwarter EuGRZ 2012, 507. BVerfGE 128, 326, Rn 156. BVerfGE 128, 326, Rn 104 ff, 111 ff; vgl hierzu auch die Folgeentscheidungen BVerfG, EuGRZ 2012, 338 (keine Anrechnung verfahrensfremder Freiheitsstrafen auf die Zeit des Vollzugs einer freiheitsentziehenden Maßregel); EuGRZ 2012, 458 (vorbehaltene Sicherungsverwahrung wird ebenso beurteilt wie die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung). BVerfGE 128, 326, Rn 137. EGMR, ECHR 2003-IV, Rn 48 – Hutchison Reid; v 10.1.2013, 43418/09, Rn 114 – Claes; v 3.9.2013, 22398/05, Rn 106 – Ümit. EGMR v 11.5.2004, 49902/99, Rn 65 f – Brand; v 11.5.2004, 48865/99, Rn 48 f – Morsink; v 5.4.2011, 6051/07, Rn 59 ff – Nelissen. In seiner älteren Rspr, Rep 1996-V, Rn 32 ff – Bizzotto, hatte der EGMR noch eine Verletzung von Art 5 I EMRK verneint, da seiner damaligen Meinung nach die nicht gesetzeskonforme Unterbringung von drogenabhängigen Straftätern nichts an der Konventionsmäßigkeit der Haft an sich ändere. Vgl hierzu auch Grabenwarter/Pabel EMRK, § 21 Rn 23.

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durch bedingt, ob die Störung andauert.88 In dringenden Fällen kann es ausnahmsweise zulässig sein, die Expertenmeinung erst nach der Festnahme der betroffenen Person einzuholen.89 f) Verhinderung des unberechtigten Eindringens in das Staatsgebiet, Abschiebungs- und Auslieferungshaft 21

Art 5 I lit f EMRK sieht zwei Haftgründe vor: Einerseits die Verhinderung des unberechtigten Eindringens in das Staatsgebiet, andererseits die geplante Abschiebung oder Auslieferung. Die Rechtmäßigkeit dieser Inhaftierungen erfordert über die Einhaltung der verfahrens- und materiellrechtlichen Vorschriften hinaus auch die Beachtung des Gesamtziels des Art 5 EMRK.90 Die Maßnahme muss staatlichem und internationalem Recht entsprechen.91 Der Haftgrund des unberechtigten Eindringens in das Staatsgebiet gilt so lange als gegeben, bis die betroffene Person eine offizielle Bewilligung zum Verbleib in dem Staat – etwa durch eine Aufenthaltsbewilligung oder durch positive Erledigung eines Asylantrages – erhalten hat.92 Im Fall von Art 5 I lit f EMRK kann mit Blick auf das differenzierte Willkürverbot (Rn 8) eine Haft allein aus Gründen der erleichterten Durchführung der notwendigen Administrativverfahren zulässig sein, sofern Ort und Bedingungen der Internierung angemessen sind.93 Um eine Verfälschung des Haftgrundes zu vermeiden, darf die Festnahme in Fällen der Auslieferung oder Abschiebung ausschließlich zu diesem Zweck erfolgen.94 Anders als bei Art 5 I lit c EMRK kommt es bei Art 5 I lit f EMRK alleine darauf an, ob ein schwebendes Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren besteht. Ob die Auslieferung selbst rechtmäßig ist, ist für Art 5 EMRK irrelevant.95 Eine Höchstdauer des Verfahrens muss das nationale Recht nicht zwingend vorsehen, allerdings muss beachtet werden, dass die Rechtfertigung über Art 5 I lit f möglicherweise ab einem gewissen Punkt entfällt, wenn das Verfahren nicht mehr mit der notwendigen Sorgfalt durchgeführt wird.96 Eine vernünftige Dauer eines Verfahrens ist durch die Bedingungen im jeweiligen Einzelfall bestimmt und kann nicht generell festgelegt werden, eine Dauer von 3 Monaten wurde jedoch bereits für unzulässig erachtet, wenn die Bedingungen der Haft den Anforderungen des Art 5 I nicht entsprachen.97 Weitere vom innerstaatlichen Recht vorgesehene Voraussetzungen sind vom EGMR auch zu beachten.98 Verletzung von Art 5 I lit f ist im Fall von Asylbewerbern gegeben, die sich im Transitbereich eines internationalen Flug-

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EGMR, EuGRZ 1979, 650 Rn 39 – Winterwerp; Urt v 17.1.2012, Rn 145 – Stanev. EGMRv 20.4.2010, 21207/03, Rn 48 – C.B./Rumänien. EGMR, RUDH 1997, 365, Rn 129 – Chahal; EuGRZ 2006, 560, Rn 147 – Slivenko. EKMR, DR 12, 14, 27. EGMR, NVwZ 2009, 375, Rn 65 f – Saadi; der EGMR stellt klar, dass ein Asylwerber nicht allein aufgrund der Tatsache, dass er sich bei der Einreise an die Einwanderungsbehörden gewandt hat, einen „rechtmäßigen“ (iSd Art 5 lit f) – und eben keinen „unrechtmäßigen“ – Eintritt in den Staat sucht; vgl hierzu: Carlier RTDH 2009, 79. EGMR, NVwZ 2009, 375, Rn 74 – Saadi. EGMR, RUDH 1997, 365, Rn 112 – Chahal. Die Rechtmäßigkeit des Ausweisungs- und Auslieferungsverfahrens richtet sich nach Art 1 7. ZP EMRK, dazu u Rn 69. EGMR v 8.1.2009, 13476/04, Rn 59 – Khudyakova. EGMR v 13.12.2012, 15297/09, Rn 94 f – Kanagaratnam; v 23.7.2013, 42337/12, Rn 102 f – Suso Musa. EGMR, ECHR 2003-X, Rn 151 – Slivenko.

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hafens aufhalten, deren Aufenthaltsbedingungen aber keiner gerichtlichen Kontrolle unterliegen und denen keinerlei Zugang zu rechtlicher, humanitärer oder sozialer Betreuung gewährt wird.99 Der EGMR beurteilte in mehreren Fällen die russischen Auslieferungsbestimmungen als widersprüchlich und sah darin eine Verletzung von Art 5 I lit f, da diese keinen adäquaten Schutz gegen willkürliche Eingriffe des Staates gewährleisteten und die Bestimmungen weder vorhersehbar noch präzise formuliert waren.100 Werden Kinder in Auslieferungshaft genommen, so gelten sie auch dann als besonders schützbedürftig („position of extreme vulnerability“), wenn sie von einem Elternteil begleitet werden.101 Lösung Fall 1: Die von 2.1. bis 9.1.2001 dauernde Anhaltung des Beschwerdeführers im Aufnahmezentrum Oakington ist eine Freiheitsentziehung, die in das Grundrecht auf persönliche Freiheit eingreift; der Schutzbereich des Art 5 I ist folglich eröffnet. Fraglich ist, ob der Eingriff in den Schutzbereich einen der Rechtfertigungstatbestände des Art 5 I erfüllt. Der Haftgrund des Art 5 I lit f gestattet die rechtmäßige Festnahme und Anhaltung einer Person in zwei Fällen: erstens zur Verhinderung einer unberechtigten Einreise in das Staatsgebiet und zweitens bei einer Person, die von einem gegen sie anhängigen Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren betroffen ist. Zu prüfen gilt es also, ob die Haft des Beschwerdeführers unter die erste Fallgestaltung fällt? Solange einem potentiellen Einwanderer kein Recht eingeräumt wurde, in dem Land zu bleiben, ist er nicht rechtmäßig eingereist und daher wird angenommen, dass die Anhaltung der Verhinderung der unerlaubten Einreise dient und somit materiell gerechtfertigt ist.Mithin liegt der Tatbestand des Art 5 I lit f. vor, damit ist ein Haftgrund gegeben. Da eine hinreichende gesetzliche Grundlage besteht und das innerstaatliche Recht tatsächlich eingehalten wurde, bleibt zu klären, ob auch dem Willkürverbot entsprochen wurde? Eine willkürliche Freiheitsentziehung liegt vor, wenn sie zwar mit den Buchstaben des Gesetzes im Einklang steht, aber das Handeln der Behörden ein Element der Arglist und Täuschung enthält. Die Anordnung der Haft sowie ihre Vollstreckung müssen insgesamt tatsächlich mit dem Zweck der Beschränkungen des jeweiligen Tatbestandes in Art 5 I lit a bis lit f vereinbar sein und es muss eine gewisse Beziehung zwischen Haftgrund und Ort und Bedingungen der Haft bestehen. Zweck der Inhaftierung war die Durchführung eines Schnellverfahrens zur Verhinderung der unrechtmäßigen Einreise. Für die Haft nach Art 5 lit f hat zwar keine Prüfung der Erforderlichkeit stattzufinden, wohl aber eine Prüfung der Angemessenheit der Haftdauer. Notwendig ist somit lediglich, dass die Freiheitsentziehung Teil des Prozesses zur Feststellung ist, ob der Person Asyl bzw eine Einreiseerlaubnis gewährt werden sollte, und dass sie nicht aus anderen Gründen – etwa aufgrund ihrer Dauer – willkürlich erfolgt.

99 EGMR, EuGRZ 1996, 577, Rn 48, 53 – Amuur, dazu Kriebaum in: Grabenwarter, Kontinuität, 71 ff; EGMR v 24.1.2008, 29787/03, Rn 78 ff – Riad u Idiab. 100 Aus der Judikatur: EGMR v 11.10.2007, 656/06, Rn 76 ff – Nasrulloyev; v 19.6.2008, 8320/04, Rn 129 f – Ryabikin, der EGMR sieht vor allem in der Tatsache, dass die russische Strafverfolgungsbehörde außerstande war, die zuständige Behörde zu bestimmen, auf die anwendbaren gesetzlichen Vorschriften hinzuweisen und die Haftfristen festzusetzen, eine Verletzung des Art 5 I lit f. 101 EGMR, NVwZ-RR 2008, 573, Rn 103 – Mubilanzila Mayeka u Kaniki Mitunga; v 19.1.2010, 41442/07, Rn 74 f – Muskhadzhiyeva; v 19.2.2012, 39472/07, Rn 119 – Popov.

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Der EGMR kam zu dem Schluss, dass es angesichts der schwierigen Verwaltungsprobleme # 2 2 (stark ansteigende Zahl von Asylbewerbern) nicht unvereinbar mit Art 5 I lit f war, den Beschwerdeführer sieben Tage lang unter angemessenen Bedingungen anzuhalten, um die rasche Behandlung seines Asylantrags zu ermöglichen.102 Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt nicht vor. Die Voraussetzungen einer Rechtfertigung der Freiheitsentziehung sind gegeben, weshalb keine Verletzung von Art 5 stattgefunden hat.

3. Rechte der festgenommenen Person a) Informationsrecht 23

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Gem Art 5 II EMRK muss jeder Festgenommene in möglichst kurzer Frist über die Gründe seiner Festnahme informiert werden. Nach dem Wortlaut bezieht sich die Informationspflicht des Staates nur auf die „Festnahme“. Diese Garantie gilt jedoch für alle in Art 5 I EMRK vorgesehenen Formen der Freiheitsentziehung.103 Art und Umfang der Unterrichtung richten sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Unterrichtung muss jedenfalls in einer dem Festgenommenen verständlichen Sprache erfolgen und die tatsächlichen und juristischen Gründe der Freiheitsentziehung darlegen.104 Mit der Information soll dem Festgehaltenen die Möglichkeit gegeben werden, effektiven Rechtsschutz gem Art 5 IV EMRK zu erlangen. Die Fristen, innerhalb derer die Unterrichtung erfolgen soll, müssen „möglichst kurz“ („dans le plus court délai“/ „promptly“)105 sein und sollten in der Regel 24 Stunden nicht überschreiten, wobei die Umstände des Einzelfalls stets zu berücksichtigen sind.106 b) Angemessene Haftdauer und richterliche Vorführung gem Art 5 III EMRK

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Art 5 III EMRK ergänzt Art 5 I lit c EMRK, der die Untersuchungshaft regelt, und enthält zwei Garantien: Die Vorführung vor einem Richter und bei Aufrechterhaltung der vorläufigen Festnahme die Durchführung eines zügigen Verfahrens verbunden mit der raschen Erlangung eines Urt. Die Vorführung muss vor einen Richter oder richterlichen Beamten erfolgen. Sie hat von Amts wegen zu erfolgen.107 Die Zuständigkeit können die Staaten wahlweise einem Gericht oder einer Behörde übertragen.108 Erforderlich ist jedoch die Unabhängigkeit des Richters oder richterlichen Beamten gegenüber der Exekutive109 sowie das Recht bindende

102 EGMR, NVwZ 2009, 375 , Rn 80 – Saadi. 103 EGMR, RUDH 1990, 60, Rn 27 f – Van der Leer; EuGRZ 1982, 101, Rn 66 – X/Vereinigtes Königreich; EKMR, DR 16, 111, 117; DR 34, 119, 124; und EGMR, RUDH 1990, 466, Rn 22 – Keus. 104 EGMR, RUDH 1990, 418, Rn 40 – Fox; NJW 2013, 2409, Rn 77 – Lutsenko. 105 EGMR, RUDH 1990, 418, Rn 40 – Fox. 106 Villiger EMRK, Rn 351; EGMR, HRLJ 1994, 331, Rn 78 – Murray (3 Stunden); RUDH 1990, 60, Rn 31 – Van der Leer (zufällige Kenntnisnahme der Haftgründe genügt nicht); RUDH 1990, 418, Rn 42 – Fox (7 Stunden); EKMR, DR 21, 250, 253 f; DR 30, 93, 95; Dörr in: Dörr/Grote/ Marauhn, KK, Kap. 13 Rn 38. 107 EGMR v 18. 3. 2008, 11036/03, Rn 77 – Ladent. 108 EGMR, EuGRZ 1980, 202, Rn 27 – Schiesser. 109 EGMR, EuGRZ 1980, 202, Rn 31 – Schiesser.

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Entscheidungen treffen zu können110. Der EGMR verlangt, dass die Behörde bei Feststellung der Haftgründe „besondere Sorgfalt“ im Verfahren walten lässt.111 Eine Vorführung ist „unverzüglich“ („promptly“, „aussitôt“), wenn eine Frist von 24 bis 48 Stunden112, in besonderen Fällen von bis zu vier Tagen113, nicht überschritten wird. Die zulässige Dauer der Untersuchungshaft ist abhängig vom Einzelfall, sie kann für Verdächtige terroristischer Straftaten länger sein,114 aber schon sechs Tage ohne richterliche Überprüfung wurden als zu lang angesehen.115 Eine Verletzung des Art 5 I lit c EMRK stellte der EGMR in der Rückführung der Beschwerdeführer in Polizeigewahrsam zur Befragung nach bereits verhängter Untersuchungshaft fest, da diese Maßnahme das Ziel verfolgte, die gesetzliche Befristung der Dauer des Polizeigewahrsams zu umgehen.116 Die Beurteilung, ob eine „angemessene Frist“ für die Dauer der Untersuchungshaft eingehalten wurde, unterliegt in erster Linie der Beurteilung durch die nationalen Gerichte.117 Diese sind im Zuge ihrer Überprüfung aber verpflichtet, alternative Maßnahmen zur Erreichung des Haftzwecks zu berücksichtigen.118 Es handelt sich hierbei um eine Einzelfallentscheidung, der eine Abwägung zwischen den Allgemeininteressen einerseits und den Interessen des Betroffenen andererseits zugrunde liegt.119 Im Falle einer Untersuchungshaft, die in mehrere nicht aufeinanderfolgende Abschnitte unterbrochen wird, ist jeder der einzelnen Abschnitte separat hinsichtlich der zulässigen Dauer zu prüfen.120 Zunächst ist das Fortbestehen eines hinreichenden Tatverdachts conditio sine qua non für die Rechtmäßigkeit der Aufrechterhaltung der Haft,121 aber nach einiger Zeit genügt dieser alleine als Begründung nicht mehr. Vielmehr muss dann überprüft werden, ob andere Motive wie Schwere der Tat, Störung der öffentlichen Ordnung, Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr, Wiederholungsgefahr oder die Ermöglichung einer ordentlichen Verfahrensführung ebenfalls fortbestehen.122 Die besondere persönliche Situation einer Per110 EGMR, ECHR 2003-XII, Rn 166 – Yankov; ECHR1999-II, Rn 51 – Nikolova. 111 EGMR v 8.4.2004, 39270/98, Rn 74 – Belchev; v 6.4.2004, 36258/97, Rn 51 – J.G./Polen; ECHR 2000-IV, Rn 152 f – Labita. 112 So Villiger EMRK, Rn 358; Dörr in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap. 13 Rn 51. 113 EGMR, HRLJ 1988, 293, Rn 62 – Brogan. 114 EGMR, HRLJ 1988, 293, Rn 61 – Brogan; v 22.7.2003, 29422/95, Rn 52 – Ays¸ e Tepe. 115 EGMR v 16.10.2001, 37555/97, Rn 46 – O’Hara (6 Tage); HRLJ 1997, 221, Rn 78 – Aksoy (14 Tage); Rep 1998-VI, Rn 40 – Demir (16 und 23 Tage); Rep 1997-VII, Rn 45 – Sakik (12 und 14 Tage). 116 EGMR v 17.6.2008, 34503/97, Rn 89, 93 – Karaduman. 117 EGMR, Series A, Vol 321, Rn 55 – Van der Tang; HRLJ 1992, 112, Rn 67 – Toth; HRLJ 1992, 42, Rn 45 – Kemmache (Nr 1 & 2); Series A, Vol 8, Rn 5 – Neumeister; Series A, Vol 7, Rn 12 – Wemhoff; z insoweit bestehenden Unterschied zu Art 6 EMRK: EGMR, Series A, Vol 9, Rn 5 – Stögmüller. 118 So EGMR v 20.1.2004, 38816/97, Rn 84 – G.K./Polen; oder auch EGMR v 4.7.2006, 77832/01, Rn 41 – Dzyruk, hinsichtlich der Sicherstellung des Erscheinens vor Gericht. 119 EGMR v 4.10.2001, 27504/95, Rn 58 – Ilowiecki; Rep 1996-VI, Rn 74 – Scott; Series A, Vol 321, Rn 55 – Van der Tang; EuGRZ 1993, 384, Rn 30 – W/Schweiz; vgl Series A, Vol 7, Rn 10 – Wemhoff. 120 EGMR (GK) v 22.5.2012, 5826/03, Rn 129 – Idalov. 121 EGMR, RUDH 1990, 158, Rn 42 – B/Österreich; Series A, Vol 9, Rn 4 – Stögmüller; NJW 2010, 213, Rn 64 – Bykov; (GK) v 22.5.2012, 5826/03, Rn 140 – Idalov. 122 EGMR, HRLJ 1991, 302, Rn 35 – Letellier; HRLJ 1992, 112, Rn 67 – Toth; HRLJ 1992, 42, Rn 45 – Kemmache (Nr 1 & 2); EuGRZ 1994, 101, Rn 84 – Tomasi; (BK) v 22.5.2012, 5826/03, Rn 140, 144 – Idalov.

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son, etwa die Tatsache, dass die betreffende Person politisch einflussreich und reich ist, vermag eine Freiheitsentziehung über eine gewisse Dauer ebenso zu rechtfertigen.123 Auch der illegale Aufenthalt in einem Staat kann hinreichender Grund für eine fortdauernde Freiheitsentziehung sein.124 Hat die Flucht bereits stattgefunden und hält sich die Person in einem anderen Staat verborgen so können die Schwere der begangenen Straftat und das Fehlen eines festen Wohnsitzes im betroffenen Mitgliedstaat ausreichend zur Begründung einer Freiheitsentziehung über einen gewissen Zeitraum sein.125 Letztlich ist eine Einzelfallbetrachtung notwendig,126 eine bloße Aufzählung der Haftgründe ohne weitere relevante und hinreichende Gründe reicht allerdings nicht aus.127 Liegen ausreichende Haftgründe vor, überprüft der EGMR in einem zweiten Schritt, ob die nationalen Behörden das Verfahren mit der erforderlichen Sorgfalt betrieben haben,128 insb ob sie die Ermittlungstätigkeiten zügig vorangebracht und das Verfahren nicht durch behördeninterne Schwierigkeiten verzögert haben.129 c) Recht auf richterliche Haftprüfung gem Art 5 IV EMRK 30

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Das in Art 5 IV EMRK garantierte Recht auf richterliche Haftprüfung spiegelt die angelsächsische „Habeas corpus-Doktrin“ wider. Die Garantie des Art 5 IV EMRK gilt für alle in Art 5 I EMRK vorgesehenen Formen der Haft. Die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Inhaftnahme („lawfulness“) erfolgt am Maßstab des internen Rechts und des VR.130 Die Haftprüfung muss beantragt werden.131 Der Anspruch entsteht immer dann, wenn eine Verwaltungsbehörde die Inhaftnahme verfügt hat.132 Hat hingegen ein Gericht die Haft angeordnet, so ist zu differenzieren zwischen der Haft im Anschluss an die Verurteilung und der Untersuchungshaft. In dem Urt des zuständigen Gerichts findet grundsätzlich die Überprüfung der Haft im Sinne des Art 5 IV EMRK statt.133 Bei Fortdauer der Haft besteht ein Anspruch auf Haftprüfung nur dann, wenn neue Umstände die Rechtmäßigkeit der Haft nachträglich in Frage stellen können.134 Die gerichtliche Entscheidung muss innerhalb kurzer Frist, d.h. in angemessener Zeit erfolgen.135 Die zügige Durchführung des Verfahrens ist mit Blick auf das grundrechtliche

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EGMR, NJOZ 2012, 1902, Rn 189 – Khodorkovskiy. EGMR v 24.11.2009, 6563/03, Rn 58 – Shannon. EGMR v 20.12.2011, 71092/01, Rn 72 – Zandbergs. EGMR, ECHR 2000-IV, Rn 152 ff – Labita; (GK) v 22.5.2012, 5826/03, Rn 139 – Idalov. EGMR, NJW 2010, 213, Rn 65 – Bykov. EGMR v 31.7.2001, 42211/98, Rn 46 – Zannouti; v 26.7.2001, 34097/96, Rn 42 ff – Kreps; v 5.11.2009, 29044/06, Rn 64 ff – Shabani. EGMR v 2.12.2003, 37641/97, Rn 85 – Matwiejczuk; Series A, Vol 224, Rn 76 f – Toth; v 8.11.2007, 11287/03, Rn 107 f – Lelièvre (Zeitspanne von zwei Jahren zwischen Übermittlung der Untersuchungsakte und Eröffnung des Verfahrens) vgl hierzu: Krenc RTDH 2008, 857. EGMR, RUDH 1997, 365, Rn 127 – Chahal; EuGRZ 1988, 316, Rn 57 – Weeks. EGMR, Series A, Vol 12, Rn 82 f – De Wilde; Series A, Vol 129, Rn 55 – Bouamar; Villiger EMRK, Rn 366. EGMR, EuGRZ 1985, 642, Rn 31 – Luberti; EuGRZ 1976, 221, Rn 77 – Engel; Series A, Vol 12, Rn 76 f – De Wilde. EGMR v 20.1.2004, 39753/98, Rn 19 – König; Series A, Vol 325-C, Rn 30 – Pérez. EGMR, EuGRZ 1979, 650, Rn 55 – Winterwerp; EuGRZ 1984, 6, Rn 45 ff – Van Droogenbroeck; Series A, Vol 325-C, Rn 30 – Pérez; Villiger EMRK, Rn 368. EGMR, EuGRZ 2009, 566, Rn 106 – Mooren.

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Schutzgut Freiheit eines Individuums zwingende Voraussetzung für die Einhaltung der Anforderungen des Art 5 IV und unterliegt strengeren zeitlichen Anforderungen als Art 6 I.136 Die Angemessenheit der Dauer kann nicht abstrakt festgelegt werden, sondern ist im Einzelfall unter Heranziehung aller Umstände des konkreten Sachverhaltes zu bestimmen.137 Die Haftprüfung muss „in angemessenen Abständen“ während der fortdauernden Haft erneut erfolgen.138 Die überprüfende Behörde muss gerichtlichen Charakter aufweisen.139 Sie darf nicht nur beratend tätig werden, sondern muss verbindliche Entscheidungen treffen können. Im Haftprüfungsverfahren müssen nicht alle Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK erfüllt werden.140 Grundlegende Garantien wie der Grundsatz der Waffengleichheit141 sind jedoch zu gewährleisten. Im Einzelnen verlangt die Rspr die persönliche Anhörung142, den Anspruch auf Rechtsvertretung143, die Angabe einer Begründung für die Inhaftierung sowie das Recht auf umfassende Akteneinsicht,144 die über einen angemessen Zeitraum hinweg gestattet wird, sodass die Vorbereitung einer effektiven Verteidigung möglich ist.145 Die verweigerte Akteneinsicht muss sich auf jene Teile der Akten beziehen, welche die Verdächtigung in Frage stellen würde und für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eine Rolle gespielt hätte.146 Hat ein Staat eine zweite Instanz zur Untersuchung der Rechtmäßigkeit der Haft eingerichtet, so müssen die Verfahrensgarantien auch hier beachtet werden.147 Art 5 IV sieht der EGMR als verletzt an, wenn die Entscheidung der Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung in entscheidendem Ausmaß auf geheimes Material gestützt wird.148 d) Das Recht auf Haftentschädigung Art 5 V EMRK sieht eine Entschädigung für EMRK-widrige Haft vor. Die Vorschrift begründet direkte Ansprüche für Privatpersonen.149 Die Voraussetzungen für einen Scha-

136 EGMR, NJW 2012, 2331, Rn 48 – S.T.S. 137 EGMR, ECHR 2003-VI, Rn 253 – Pantea; EuGRZ 2009, 566, Rn 103 ff – Mooren; NJW 2012, 2331, Rn 43 – S.T.S. 138 EGMR, EuGRZ 1979, 650, Rn 55 – Winterwerp; dazu auchv 24.7.2001, 74025/01, Rn 37 ff – Hirst. 139 EGMR, HRLJ 1993, 184, Rn 58 – Brannigan. 140 Vgl statt vieler: EGMR v 22.5.2012, 5826/03 – Idalov. 141 EGMR v 21.7.2003, 36794/03, Rn 118 – Hristov; NJW 2002, 2015, Rn 44 – Schöps. 142 EGMR v 20.1.2004, 38816/97, Rn 93 f – G. K./Polen; (GK) ECHR 1999-II, Rn 58 – Nikolova; EuGRZ 1979, 650, Rn 60 – Winterwerp. 143 Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 5 EMRK Rn 137 f; EGMR v 25.10.2007, 4493/04, Rn 87 – Lebedev, wonach den Staat zwar keine positive Pflicht trifft, Rechtsbeistand zu gewähren, aber doch die negative Verpflichtung besteht, die effektive Unterstützung nicht zu behindern. 144 EGMR, NJW 2002, 2018, Rn 42 – Garcia Alva; NJW 2002, 2013, Rn 47 – Lietzow; NJW 2002, 2015, Rn 44 – Schöps. Dazu Kieschke/Osterwald NJW 2002, 2003 ff. 145 EGMR, NJW 2013, 2409, Rn 90, 96 – Lutsenko. 146 EGMR, NStZ 2009, 164 – Falk (Unzulässigkeitsentscheidung); NJOZ 2012, 1902, Rn 159 – Khodorkovskiy. 147 EGMR v 30.3.2010, 18837/06, Rn 39 – Allen; NJW 2012, 2331, Rn 43 – S.T.S. 148 EGMR, NJOZ 2010, 1903, Rn 220 – A ua/Vereinigtes Königreich; v 14.4.2012, 38857/97, Rn 203 – Piechowicz. 149 Dörr in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap. 13 Rn 103.

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densersatzanspruch sind, dass der Betroffene unter Verletzung der Art 5 I bis IV in Haft genommen wurde und er infolgedessen einen materiellen oder immateriellen Schaden erlitten hat.150 Für die Anwendbarkeit von Art 5 V ist es jedoch unerheblich, ob die Konventionswidrigkeit der Haft durch ein nationales Gericht festgestellt worden ist.151 Nach st Rspr des EGMR ist Art 5 V dann verletzt, wenn der Geschädigte weder vor noch nach der Feststellung der Konventionswidrigkeit einen durchsetzbaren Anspruch auf Entschädigung hat.152 Für die Bemessung des immateriellen Schadens gelten die Grundsätze des Art 41 EMRK.153

4. Gewährleistungspflichten 34

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Aus dem ersten Satz des Art 5 I EMRK werden in Anlehnung an die Rspr des EGMR zu den Art 2, 3 und 8 und unter Berufung auf die Bedeutung der persönlichen Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft Gewährleistungspflichten („positive obligations“) des Staates abgeleitet. Der Staat ist verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die einen effektiven Schutz der persönlichen Freiheit besonders schutzbedürftiger Personen sicherstellen, einschließlich angemessener Schritte, die Freiheitsentziehungen verhindern, von denen die Behörden Kenntnis haben oder haben sollten.154 Strafrechtliche Sanktionen (selbst mit hohen Freiheitsstrafdrohungen) und zivilrechtliche Schadensersatzansprüche lässt der EGMR im Gegensatz zur (oder wenigstens in Fortentwicklung der) Judikatur zu anderen Konventionsrechten nicht genügen. Lösung Fall 1: Der wirkliche Grund für die Festnahme des Beschwerdeführers wurde erstmals genannt, als seinem Vertreter am 5.1.2001 mitgeteilt wurde, dass der Asylwerber die Voraussetzungen für das in Oakington eingerichtete Eilverfahren erfülle. Zu dieser Zeit befand er sich bereits seit rund 76 Stunden in Haft. Unter der Annahme, dass die mündliche Mitteilung der Gründe gegenüber dem Vertreter des Beschwerdeführers den Anforderungen des Art 5 II EMRK entsprach, erachtet der EGMR eine Verzögerung von 76 Stunden als unvereinbar mit dem Erfordernis, dass solche Gründe innerhalb möglichst kurzer Frist mitgeteilt werden müssen. Daher liegt eine Verletzung von Art 5 II EMRK vor.155

150 EGMR, Series A, Vol 145-B, Rn 67 – Brogan; RUDH 1990, 425, Rn 38 – Wassink; RUDH 1990, 466, Rn 29 – Keus; Rep 1997-III, Rn 64 ff – Tsirlis; EKMR, DR 19, 213, 219; DR 42, 127, 131; DR 52, 236, 242; DR 77-A, 98, 107; DR 81-B, 130, 133. 151 EGMR, Series A, Vol 190-A, Rn 82 – Thynne, Wilson u Gunnel; Urt v 16.10.2003, Rn 31 – Wynne. 152 EGMR, Series A, Vol 182, Rn 46 – Fox, Campbell u Hartley; Series A, Vol 145-B, Rn 67 – Brogan; NJOZ 2013, 1190, Rn 183 ff – Stanev. 153 EGMR v 7.6.2011, 39446/06, Rn 49 – Hadzic. 154 EGMR, ECHR 2005-V , Rn 98, 102, 105 – Storck, der Staat unterliege insb der Pflicht, Aufsicht und Kontrolle über private psychiatrische Einrichtungen auszuüben; s dazu: Cremer EuGRZ 2008, 562. 155 EGMR, NVwZ 2009, 375, Rn 81 ff – Saadi.

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II. Justizgrundrechte im Zusammenhang mit Verfahren vor Gerichten 1. Das Recht des fair trial gem Art 6 I EMRK Art 6 I EMRK bildet das Kernstück der Justizgrundrechte der EMRK. Die in ihm enthaltene Gerichtsgarantie lässt sich in Organisationsgarantien und in Verfahrensgarantien aufgliedern. Zu den Organisationsgarantien gehört das Recht auf Zugang zu einer mit gewissen Mindestgarantien ausgestatteten Spruchinstanz (b). Die Verfahrensgarantien umfassen neben der allgem Garantie des fairen Verfahrens einschließlich besonderer Verfahrensrechte im Strafprozess (c) das Gebot der Verfahrensöffentlichkeit (d) sowie das Gebot der angemessenen Verfahrensdauer (e). Art 47 und Art 48 GRCh enthalten ebenfalls entsprechende Rechtsgarantien, ohne jedoch die Beschränkungen des Schutzbereichs des Art 6 EMRK aufzuweisen.156

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a) Der Schutzbereich des Art 6 I EMRK Wie bei keinem anderen Grundrecht der EMRK hat die Umschreibung des Schutzbereichs Aufmerksamkeit in Judikatur und Lehre erfahren. Art 6 I EMRK garantiert die Verfahrensgrundrechte für alle Verfahren, in denen entweder über zivilrechtliche Streitigkeiten („civil rights“) oder über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage („criminal charge“) entschieden wird. Zum Inhalt des Begriffs „civil rights“ gelangt man auf der Grundlage einer rechtsinhaltsbezogenen Unterscheidung von Zivilrecht und öffentlichem Recht auf der Basis der Rechtsvergleichung, wobei die klassische kontinental-europäische Begriffsbildung maßgeblich ist. Der Begriff umfasst nicht nur zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen Privaten ieS, sondern auch bestimmte öffentlich-rechtliche Verfahren, welche Auswirkungen auf Vertragsbeziehungen157 oder auf vermögenswerte Positionen158 („Auswirkungsjudikatur“) haben. In Verfahren über sozialversicherungsrechtliche Ansprüche und Abgaben wird eine Abwägung zwischen privat- und öffentlich-rechtlichen Aspekten der Streitigkeit vorgenommen („Abwägungsjudikatur“).159 Auch Streitigkeiten über die Berechtigung einer Person, Leistungen der öffentlichen Hand in Anspruch zu nehmen, können zivilrechtlicher Natur sein.160 Für die Frage der Anwendbarkeit auf beamtenrechtliche Streitigkeiten kam es nach der jüngeren Judikatur des EGMR für die Eröffnung des Schutzbereichs darauf an, welche Funktion der Beamte bekleidet. War der Beamte zur Ausübung von hoheitlichen Befugnissen ermächtigt, so war die Streitigkeit regelmäßig nicht vom Grundrecht erfasst.161 Von dieser Position ist der EGMR nunmehr explizit abgerückt, indem er von der Vermutung der Anwendbarkeit des Art 6 ausgeht.162 Ein Ausschluss der Anwendbarkeit des Schutzes von Art 6 kann nach Auffassung des EGMR jedoch unter zwei

156 157 158 159

Jarras GRCh, Art 47 Rn 1 ff, Art 48 Rn 1 ff. EGMR, EuGRZ 1978, 406, Rn 90 – König. EGMR, HRLJ 1992, 419, Rn 40 – Editions Périscope. EGMR, Series A, Vol 304, Rn 51 – Schouten; NJW 1989, 652, Rn 60 ff – Deumeland = JK 89, EMRK Art 6 I/1. 160 EGMR, ÖJZ 2009, 93, Rn 22 f – Emine Araç. 161 EGMR, NVwZ 2000, 661, Rn 64 ff – Pellegrin. Der EGMR verweist für die Abgrenzung dabei hilfsweise auf die Ausnahme des Art 39 IV EGV; zu dieser Problematik umfassend Widmaier ZBR 2002, 244, 252 ff. 162 EGMR, NJOZ 2008, 1188, Rn 62 – Eskelinen; krit Grabenwarter/Pabel EMRK, § 24 Rn 11.

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Bedingungen gerechtfertigt werden. Die betreffende Stelle oder Beamtenkategorie muss im innerstaatlichen Recht ausdrücklich vom Zugang zu Gericht ausgeschlossen sein.163 Der Ausschluss des Rechtsschutzes muss durch im staatlichen Interesse gelegene vernünftige Gründe gerechtfertigt sein.164 Schließlich fallen auch Verfahren, die einen vermögenswerten Gegenstand haben oder sich auf behauptete Verletzungen gründen, die ihrerseits vermögenswerte Rechte betreffen, ungeachtet verwaltungsbehördlicher Zuständigkeiten in den Schutzbereich des Art 6 EMRK.165 Hierzu gehört auch das verfahrensgegenständliche Recht selbst, und nicht nur die Auswirkungen auf ein vermögenswertes Recht.166 So bilden Ansprüche aus Ehrverletzungen zivilrechtliche Ansprüche.167 Auch Ansprüche auf Wiedergutmachung, etwa für Opfer des Nationalsozialismus aufgrund von Vereinbarungen zwischen Staaten, können „Rechte“ iSd Art 6 I bilden. Zwar sind die Staaten frei darin, solche Ansprüche zu gewährleisten und ihren Umfang festzulegen, werden jedoch Bedingungen für Wiedergutmachungszahlungen festgelegt und erfüllt ein Antragsteller diese, so besteht für diesen ein „Recht“ iSv. Art 6 I.168 Es kann auch ein verfassungsgerichtliches Verfahren, in dem über die Verfassungsmäßigkeit einer Verordnung zu entscheiden ist, in den Anwendungsbereich des Art 6 fallen, wenn das Verfahren einen starken Bezug zu einem zivilgerichtlichen Verfahren hat. Dieser kann sich daraus ergeben, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichts auf „civil rights“ des Bf. Auswirkungen hat oder dass das Verfahren vor dem Verfassungsgericht auf Antrag eines zuständigen Zivilgerichts durchgeführt wurde.169 Nicht in den Schutzbereich fallen von vornherein Streitigkeiten aus dem Kernbereich des öffentlichen Rechts. Dazu gehören staatsbürgerschaftliche Angelegenheiten, Asylverfahren, Verfahren über das Aufenthaltsrecht von Ausländern, Verfahren über das Wahlrecht sowie abgabenrechtliche Verfahren, welche den Umfang der Verpflichtung zur Zahlung von Steuern betreffen.170 Auch die Abgrenzung der strafrechtlichen Streitigkeiten ist letzten Endes rechtsinhaltsbezogen. Denn der EGMR wählt das nationale Recht als Ausgangspunkt und ordnet alle strafrechtlichen Verfahren nach nationalem Recht dem Schutzbereich zu. Darüber hinausgehend sind aber alle Verfahren von Art 6 EMRK erfasst, bei denen eine Zuordnung nach der Natur der Zuwiderhandlung sowie der Art und Schwere der Sanktion

163 Kein Ausschluss wird angenommen, wenn eine Beschwerde an das Verfassungsgericht zulässig ist oder eine unabhängige Behörde entschieden hat, die die Kriterien des Art 6 erfüllt, EGMR v 5.2.2009, 22330/05, Rn 35 ff – Olujic´ (Anwendbarkeit des Art 6 wird trotz des gesetzlichen Ausschlusses des Zugangs zu den ordentlichen Gerichten angenommen); v 14. 1. 2010, 29889/04, Rn 31 f – Vanjak (Entlassung aus dem Polizeidienst); v. 1.4.2010, 34821/06, Rn 25 – Gabriel; v 20.11.2012, Rn 123, 58688/11 – Harabin. 164 EGMR, NJOZ 2008, 1188, Rn 62 – Eskelinen; bekräftigt in: Urtv 30.9.2008, 37829/05, Rn 19 – Melek (Anwendung des Art 6 auf ein Disziplinarverfahren gegen eine türkische Lehrerin). 165 EGMR, Rep 1997-II, Rn 30 – Paskhalidis ua; Series A, Vol 234-B, Rn 40 – Editions Périscope; vgl dazu Grabenwarter, S 44 ff. 166 EGMR, EuGRZ 1988, 452 Rn 32 – Bodén. 167 EGMR (GK) v 20.3.2009, 12686/03, Rn 26 – Gorou. 168 EGMR v 19.5.2010, 41285/02, Rn 34 – Szal. 169 EGMR v 7.7.2009, 12278/03, Rn 47 – Padalevicˇ ius. 170 Aus der Judikatur EGMR, RUDH 1997, 73, Rn 45 ff – Pierre-Bloch; (GK) v 17.9.2009, 74912/01, Rn 103 ff – Enea; sowie die Nachw bei Grabenwarter/Pabel I EMRK, § 24 Rn 13.

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sinnvoll erscheint, wobei von diesen drei Kriterien jeweils nur eines vorliegen muss.171 Auf der Tatbestandsseite ist hierbei entscheidend, dass der sachliche und persönliche Anwendungsbereich der Norm nicht von vornherein auf spezifische Personengruppen beschränkt ist. Auf der Rechtsfolgenseite ist entscheidend, dass Sanktionen mit präventivem und repressivem Charakter drohen. Nach diesem Kriterium fällt etwa das Ordnungswidrigkeitenrecht unter Art 6 EMRK,172 nicht aber das Disziplinarrecht. Das Disziplinarrecht ist nur dann von Art 6 umfasst, wenn das dritte Kriterium einer gewichtigen Strafdrohung erfüllt ist. Dies ist dann der Fall, wenn das Gewicht der insgesamt zu erwartenden negativen Konsequenzen, die für den Beschuldigten auf dem Spiel stehen, hinreichend ist.173 Das wird in der Rspr jedenfalls für mehr als nur geringfügige Haftstrafen sowie für Geldstrafen angenommen, wenn ersatzweise eine Freiheitsstrafe verhängt wird oder droht.174 Auch der Entzug der Berufsberechtigung als typische schwerste Sanktion des Disziplinarrechts freier Berufe begründet die Anwendbarkeit des Art 6 unter strafrechtlichen Gesichtspunkten.175 Schließlich unterliegt auch der Begriff der Anklage („charge“) einer autonomen Interpretation im Sinne der Konvention, wobei der EGMR davon ausgeht, dass eine „criminal charge“ ab dem Zeitpunkt vorliegt, in dem der Betreffende offiziell von der zuständigen Behörde darüber informiert wird, dass ihm die Begehung einer Straftat vorgeworfen wird.176 Auf Verfahren, die die Überstellung von Verurteilten in ihr Heimatland zum dortigen Strafvollzug zum Gegenstand haben, ist Art 6 grundsätzlich nicht anwendbar. Eine Ausnahme besteht jedoch dann, wenn zwischen dem Überstellungsverfahren und dem Strafverfahren ein so enger Zusammenhang besteht, dass das Überstellungsverfahren als integraler Bestandteil des Strafverfahrens anzusehen ist.177 b) Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht Das Recht auf Zugang zu einem auf Gesetz beruhenden, unabhängigen und unparteiischen Gericht („tribunal“) bildet eine Organisationsgarantie. Mit dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage sollen ad hoc-Zugriffe auf die Gerichtsorganisation durch die Exekutive vermieden werden, es dient mittelbar auch der Unabhängigkeit. Innerhalb des vorgesehenen Rahmens kann die Exekutive dazu ermächtigt werden, Detailfragen selbst in Verordnungen zu regeln.178 Dieser Gesetzesvorbehalt umfasst vor allem die Zusammensetzung des Gerichts, seine Organisation im Übrigen sowie seine Zuständigkeit.179 Die

171 EGMR, EuGRZ 1976, 221, Rn 83 ff – Engel.; hierzu näher vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 24 Rn 17 ff. 172 EGMR, EuGRZ 1985, 62, Rn 47 ff – Öztürk. 173 EGMR, ECHR 2003-X, Rn 130 – Ezeh u Connors. 174 EGMR, Series A, Vol 177, Rn 22, 34 – Weber. 175 Grabenwarter, S 100 f; österreichischer Verfassungsgerichtshof Slg 11506/1987; die Rspr des EGMR lässt die Frage offen, ob Berufsverbote eine ausreichend schwere Strafe bilden, bejaht aber die Anwendbarkeit von Art 6 EMRK, da er in der Verhängung eines Berufsverbots eine Entscheidung über ein „civil right“ sieht; zB EGMR, Series A, Vol 325-A, Rn 28 – Diennet; EuGRZ 1981, 551, Rn 53 – Le Compte ua. 176 EGMR, EuGRZ 1980, 667, Rn 46 – Deweer. 177 EGMR, StV 2011, 430, Rn 42 – Buijen; Urt v 1.4.2010, Rn 41 – Smith. 178 EGMR v 5.10.2010, 19334/03, Rn 60 – DMD Group, A.S. 179 EGMR v 10. 6. 2010, 1555/04, Rn 146 – Zakharkin; ausf dazu Grabenwarter/Pabel EMRK, § 24 Rn 30 f.

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Unabhängigkeit des Gerichts setzt die (grundsätzliche) Unabsetzbarkeit der Mitglieder, ihre Unversetzbarkeit, ihre Weisungsfreiheit und eine bestimmte Mindestamtsdauer voraus. Während der Dauer ihrer Amtszeit dürfen die Richter nur ausnahmsweise und aufgrund besonderer Umstände, die in genau definierten Tatbeständen festgelegt sind, absetzbar sein.180 Die Unabhängigkeit ist zugleich auch eine Voraussetzung der Unparteilichkeit eines Gerichts.181 Unparteiisch ist ein Gericht nur dann, wenn weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht eine Befangenheit der Richter des betreffenden Gerichts gegeben ist. Die subjektive Prüfung stellt auf die persönliche Beziehung zwischen dem konkreten Richter und der Partei des Verfahrens ab; die Unparteilichkeit wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet. Der Betroffene kann auf die Unparteilichkeit des Gerichts verzichten.182 Eine rassistische Bemerkung eines Mitglieds des Gerichts in einem Verfahren gegen einen afrikanischen Einwanderer kann die Unparteilichkeit in dieser Hinsicht vernichten.183 Die objektive Prüfung abstrahiert von den Einzelpersonen und fragt abstrakt, ob nach den Organisations- und Verfahrensvorschriften, insb nach der Reichweite und Natur der von einem Richter im Vorfeld des Verfahrens gesetzten Maßnahmen, eine Befangenheit angenommen werden muss.184 Es verstößt gegen das Gebot eines unabhängigen und unparteilichen Gerichts, wenn für bestimmte Fälle bereits zuständige Richter ohne gesetzliche Grundlage und ohne verfahrensrechtliche Sicherung ersetzt werden.185 Es liegt etwa eine solche Verletzung vor, wenn das nationale Recht enge Verwandtschaftsverhältnisse wie zwischen Geschwistern generell nicht als Fall der Parteilichkeit einordnet.186 Zweifel an der Unparteilichkeit eines Gerichts in Strafverfahren bestehen auch dann, wenn die Funktionen der Anklage und des Richters nicht klar zugeordnet sind, wenn etwa der Staatsanwalt als Vertreter der Anklage am Hauptverfahren nicht teilnimmt und der Richter dessen Aufgaben wahrnimmt.187 Schließlich muss das Gericht über hinreichende Entscheidungsbefugnisse in Rechts- und Tatsachenfragen verfügen.188 Zur Beurteilung der hinreichenden Kontrollbefugnis müssen neben den gesetzlich normierten Befugnissen v a folgende Punkte überprüft werden können: der Gegenstand der Verwaltungsentscheidung, die Verfahrensgarantien im Verfahren zum Erlass des Verwaltungsakts sowie der Gegenstand der Auseinandersetzung einschließlich der konkreten Rechtsmittelgründe.189 Das Recht auf Zugang zu Gericht ist nicht absolut gewährleistet, sondern unterliegt Beschränkungen, die zulässig sind, wenn und soweit sie ein legitimes Ziel verfolgen und ein vernünftiges Verhältnis im Sinne einer Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und den damit angestrebten Zielen besteht. Die Schranken dürfen den Gerichts-

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EGMR v 21.7.2009, 34197/02, Rn 44 – Luka; v 30.11.2010, 23614/08, Rn 53 – Henryk Urban. Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 6 EMRK Rn 213. Näheres dazu bei Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 32 f. EGMR, Rep 1996-II, Rn 47 f – Remli. EGMR, EuGRZ 1985, 407, Rn 26 – De Cubber; ECHR 2000-VI, Rn 45 – Morel; s dazu auch Urt v 10.8.2006, 75737/01, Rn 43 ff – Schwarzenberger; v 15.10.2009, 17056/06, Rn 98 – Micallef. EGMR, Urt v 9.10.2008, 62936/00, Rn 177 ff – Moiseyev. EGMR, Urt v 15.10.2009, 17056/06, Rn 100 – Micallef. EGMR v 18.5.2010, 64962/01, Rn 50, 54 – Ozerov. Vgl EGMR, RUDH 1993, 399, Rn 29 – Zumtobel. EGMR v 21.7.2011, 32181/04, Rn 154 – Sigma Radio Television Ltd; v 27.9.2011, 43509/08, Rn 64 ff – Menarini Diagnostics S.r.l.

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zugang nicht so erschweren, dass der Wesensgehalt („very essence“) des Rechts verletzt wird.190 Für die Frage nach dem legitimen Ziel und den in der Abwägung zu berücksichtigenden Mitteln finden sich mehrfach Hinweise in der Rspr des EGMR. Beginnend mit dem Fall Golder führt der EGMR in stRspr aus, dass das Recht auf Zugang zu Gericht schon seiner Natur nach nach einer Regelung durch den Staat verlange, die nach Ort und Zeit wechseln könne, abhängig von den Bedürfnissen und den Mitteln der Gemeinschaft und der Einzelpersonen.191 Beschränkungen des Zugangs zu Gericht können Ziele verfolgen, die sich je nach Art der Beschränkung, je nach Art des Gerichts und je nach der betroffenen Rechtsordnung unterscheiden können. Sie können im Schutz vor missbräuchlichen und wiederholten Klagen192 oder einer Überbelastung des Gerichts193 ebenso liegen wie in der Vermeidung eines Durcheinanders von Rechtsbehelfen einer Vielzahl von Aktionären im Falle einer weitreichenden Verstaatlichungsmaßnahme194 oder in der Sicherung der Unabhängigkeit des Berichtswesens von Kontrollorganen über die Geschäftsführung von bestimmten Kapitalgesellschaften195. Eine weitere Gruppe möglicher Beschränkungen bilden die Bedingungen, die das nationale Verfahrensrecht für die Zulässigkeit von Klagen oder Rechtsmitteln,196 wie Fristen,197 (absoluter oder relativer) Anwaltszwang, Formvorschriften,198 Genehmigung der Prozessführung199, Sicherheiten für Kosten oder Klageerhebungsgebühren200 aufstellt. Ferner können auch völkerrechtliche Immunitäten201 und die parlamentarische Immunität eine angemessene Beschränkung des Zugangs zu Gericht bil-

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EGMR, EuGRZ 1986, 8, Rn 57 – Ashingdane; EuGRZ 1991, 335, Rn 59 – Philis. EGMR, EuGRZ 1975, 91, Rn 38 – Golder. EGMR, EuGRZ 1986, 8, Rn 58 – Ashingdane. EGMR v 27.11.2012, 37569/06, Rn 43 – Bayar. EGMR, EuGRZ, 1988, 350, Rn 197 – Lithgow. EGMR, HRLJ 1994, 344, Rn 70 – Fayed. EGMR v. 7.4.2009, 28426/06, Rn 77 ff – Mendel (Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt es nicht, wenn Behörden ohne Rechtsmittelbelehrung und ohne Hinweis auf zulässige Rechtsbehelfe handeln, insbesondere dann, wenn sich der Betroffene nach solchen erkundigt); v 30.6.2009, 17080/07, – Schneider; v 9.12.2010, 35123/05, Rn 55 ff – Urbanek (Eine Verpflichtung, die die Hinterlegung einer bereits verhängten Geldbuße als Voraussetzung für das Einbringen eines Rechtsmittels gegen die Buße erfordert, stellt keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Zugang zu einem Gericht dar). EGMR v 10.7.2001, 40472/98, Rn 29 ff – Tricard; v 16.3.2010, 25083/05, Rn 27 ff – Mamikonyan; v 12.10.2010, 35836/05, Rn 58 – Adamicek (Zu kurz bemessene Rechtsmittelfristen für die Einlegung einer Revision stellen eine Verletzung von Art 6 dar); v 22.11.2011, 48132/07, Rn 65 ff – Andreyev (Verletzung von Art 6, wenn ein Rechtsanwalt ein Fristversäumnis verschuldet und das nationale Recht für diese Fälle keinerlei Möglichkeit der Wiedereinsetzung sieht). EGMR (GK) v 29.3.2011, 50084/06, Rn 71 ff – RTBF (Verletzung von Art 6, wenn ein streng formalistisches Verfahren zu einer Unzulässigkeit einer Klage führt, obwohl der Beschwerdeführer für die Nichteinhaltung der Formvorschriften nicht verantwortlich ist). EGMR, Series A, Vol 93, Rn 59 – Ashingdane. EGMR, ECHR 2001-VI, Rn 61 ff – Kreuz (Einhebung einer Klageerhebungsgebühr in der Höhe eines durchschnittlichen Jahresgehalts als unverhältnismäßige Erschwerung des Zugangs zu Gericht). EGMR, NJW 1999, 1173, Rn 59 ff – Waite = JK 99, EMRK Art 6/2; s hierzu auch: v 11.6.2013, 65542/12, Rn 164 – Stichting Mothers of Srebrenica.

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den.202 Die Förderung des Handels und der wirtschaftlichen Entwicklung eines Mitgliedstaates kann ein legitimes Ziel zur Beschränkung des Gerichtszugangs darstellen.203 Die Verhängung einer Missbrauchsgebühr führt grundsätzlich nicht zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in Art 6.204 Eine Missbrauchsgebühr kann dem legitimen Ziel der Sicherung einer funktionsfähigen Justiz und der Rechte anderer dienen, sie darf jedoch im Einzelfall hinsichtlich ihrer Höhe nicht außer Verhältnis zum verfolgten legitimen Ziel stehen.205 Ein Recht auf einen Instanzenzug wird nicht gewährleistet, wenn ein Staat aber einen solchen einrichtet, dann muss vor jedem der beteiligten Gerichte ein Verfahren stattfinden, welches den Anforderungen des Art 6 genügt.206 Das Recht auf Zugang zu einem Gericht läuft leer, wenn nationales Recht die Möglichkeit zulässt, dass ein endgültiges und verbindliches Urteil zum Nachteil einer Partei unwirksam bleibt und eine Bindungswirkung nicht eintritt, die Umsetzung eines Urteils ist mithin wesentlicher Bestandteil des Verfahrens im Sinne des Art 6 und eröffnet dessen Anwendungsbereich.207 Jede Einschränkung in der Umsetzung eines Urteils bzw. einer Entscheidung muss daher dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. c) Der Grundsatz des fairen Verfahrens 44

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Das Recht, „in billiger Weise“ gehört zu werden, bringt den Grundsatz des fairen Verfahrens („fair hearing“) zum Ausdruck. Es beinhaltet eine Vielzahl von Teilgarantien, die alle auf das Ziel eines Verfahrensablaufs gerichtet sind, in dem die Parteien unter im Wesentlichen gleichartigen Bedingungen ihren Prozessstandpunkt vertreten können.208 Dieser Anspruch verlangt insb, dass der Betroffene seine Rechtsposition effektiv vertreten kann. Zum Fairnessgrundsatz gehören zunächst Teilgewährleistungen, wie der Grundsatz der Waffengleichheit, das Recht auf Akteneinsicht, der Anspruch auf rechtliches Gehör sowie das Recht auf Begründung von Entscheidungen. Daneben werden Rechte des Angeklagten als Ausdruck des Fairnessgebots angesehen, die einerseits in Art 6 III und II EMRK verankert sind und andererseits in der Rspr entwickelt wurden, wie zB der Grundsatz des nemo tenetur. In manchen Fällen begnügt sich der Gerichtshof auch mit der Feststellung, dass das betreffende Verfahren insgesamt nicht den Erfordernissen eines fairen Verfahrens genügt, ohne eine der Teilgarantien speziell als verletzt zu erachten.209 In anderen Fällen zieht der EGMR den Grundsatz des fairen Verfahrens in Zusammenschau mit einer der in Art 6 I ausdrücklich gewährleisteten Garantien als Prüfungsmaßstab heran.210 Mitunter prüft der Gerichtshof einzelne Teilaspekte des Art 6 EMRK, nachdem er bereits die Feststellung getroffen hat, dass ein Verfahren in seiner Gesamtheit einen nicht fairen Charak-

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Dazu näher Grabenwarter/Pabel EMRK, § 24 Rn 52 ff. EGMR v 15.10.2009, 32921/03, Rn 98 – Kohlhofer. Missbrauchsgebühr des BVerfG in Höhe von 250; EGMR, Urt v 13. 10. 2009 – Matterne. EGMR v 22.10.2013, 20577/05, Rn 30 ff – Sace Elektrik. EGMR, Series A no. 11, Rn 25 ff – Delcourt; s hierzu EGMR, NJW 2012, 3419, Rn 37 ff – Litwin (Eine unzulässige Beeinflussung einer Person von Seiten eines Gerichts bei einem Rechtsmittelverzicht stellt eine Verletzung des Art 6 dar.) EGMR v 24.9.2013, 43870/04, Rn 66 – De Luca. Kühne in: Int EMRK, Art 6 Rn 357. So etwa in EGMR, NJW 2004, 2505, Rn 55 ff, 62 ff – Van Kück; vgl auch v 8.1.2009, 29002/06, Rn 57 – Schlumpf. So etwa EGMR v 20.10.2005, 69889/01, Rn 29 – Groshev.

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ter aufweist.211 Die Verwertung von Geständnissen oder Sachbeweisen, die unter Verletzung von Art 3 erlangt wurden, macht ein Verfahren in jedem Fall zu einem unfairen Verfahren. Wenn und soweit es sich um Beweise handelt, die nur indirekt unter Verletzung von Art 3 erlangt wurden, so ist eine Verwertung im Strafverfahren ebenfalls ausgeschlossen. Die Fairness des Verfahrens nach Art 6 ist jedoch nur dann betroffen, wenn diese Beweise konkret Einfluss auf die Verurteilung oder das Strafmaß haben. Es bedarf einer im konkreten Fall bestehenden kausalen Verbindung zwischen den verbotenen Beweiserhebungsmethoden und der Verurteilung und Strafmaßfestsetzung. Es muss ein Einfluss der verbotenen Methoden auf ein erneutes Geständnis vorliegen, damit auch dieses einem Beweisverwertungsverbot wegen Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens unterliegt.212 aa) Der Grundsatz der Waffengleichheit Der Grundsatz der Waffengleichheit ist Bestandteil des Fairnessgebots des Art 6 I EMRK und bildet gleichzeitig eine besondere Ausprägung des Gleichheitssatzes.213 Danach muss jede Partei Gelegenheit haben, ihren Fall einschließlich ihrer Beweise zu präsentieren, und zwar unter Bedingungen, die keinen wesentlichen Nachteil gegenüber ihrem Gegner darstellen.214 Das bedeutet, dass die einander gegenüberstehenden Parteien verfahrensrechtlich grundsätzlich gleichgestellt werden müssen.215 Es kommt nicht darauf an, ob die Gegenpartei den Vorteil tatsächlich ausgenutzt hat, sondern ob ein solcher abstrakt besteht, und ob dieser von der Partei ausgenutzt werden könnte.216

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bb) Anspruch auf rechtliches Gehör Aus Art 6 EMRK folgt auch eine dem Art 103 I GG korrespondierende Garantie. Voraussetzung für die effektive Ausübung des rechtlichen Gehörs ist es, dass die Parteien Kenntnis vom Akteninhalt, insb von den von der gegnerischen Partei vorgebrachten Stellungnahmen und Beweismitteln haben.217 Wesentlich ist in diesem Zusammenhang unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit auch, über welche Möglichkeiten der Stellungnahme die Gegenseite verfügte. Gab es hier einen Wissensvorsprung einer Partei gegenüber den anderen Parteien und konnte diese folglich weitergehende Stellungnahmerechte ausüben, so bedeutet das regelmäßig eine Verletzung des Art 6 EMRK.218 Unerheblich ist, ob die Beweismittel für den Angeklagten günstig oder ungünstig erscheinen; es ist Sache

211 EGMR, EuGRZ 2007, 150, Rn 109 ff – Jalloh; z Verhältnis zwischen allgem Grundsatz und den Teilgarantien s a Trechsel Human Rights, 2005, 86 ff; Gaede FS Fezer, 2008, S 21, 35. 212 EGMR, EuGRZ 2010, 417, Rn 166, 173, 178 – Gäfgen; Grabenwarter NJW 2010, 3128, 3131 f; Lubig/Sprenger ZIS 2008, 433, 438; Beernaert RTDH 2007, 81, 90; vgl hierzu aus der neueren Rechtsprechung EGMR v 24.1.2012, 15197/02, Rn 142 ff – Petrov; v. 25.9.2012, 649/08, Rn 88 – El Haski. 213 Vgl Grabenwarter, S 596 f. 214 EGMR, RUDH 1993, 426, Rn 33 – Dombo Beheer; Rep 1996-V, Rn 38 – Ankerl. 215 EGMR v 4.5.2010, 11603/06, – Massmann. 216 EGMR, EuGRZ 1991, 519, Rn 27 f – Borgers; vgl aber Urt v 4.10.2007, Rn 32 ff – Corcuff. 217 EGMR, EuGRZ 1992, 190, Rn 66 f – Brandstetter; EuGRZ 1993, 453, Rn 63 – Ruiz-Mateos. 218 EGMR, EuGRZ 1993, 453, Rn 67 – Ruiz-Mateos.

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der Verteidigung zu entscheiden, ob auf diese reagiert wird oder nicht.219 Werden dem Angeklagten bestimmte Beweismittel wegen des Schutzes widerstreitender Interessen, wie etwa jenen der öffentlichen Sicherheit oder des Schutzes von Zeugen, nicht offengelegt, so muss durch die Einhaltung verfahrensrechtlicher Garantien insgesamt sichergestellt werden, dass dem Angeklagten ein faires Verfahren zuteil geworden ist.220 Die Zurückhaltung bestimmter Beweismittel aus den genannten Gründen ist nur unter der Voraussetzung zwingender Notwendigkeit möglich.221 Ebenso muss es dem Betroffenen möglich sein, die Authentizität und die Verwendung von Beweismitteln, die unter Bruch eines anderen Konventionsrechts erlangt worden sind, in allen Verfahrensstadien in Frage zu stellen.222 Mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör ist auch der Anspruch auf Begründung der Entscheidungen verbunden. Das Ausmaß der Begründungspflicht hängt dabei entscheidend von der konkreten Verfahrenssituation und dem Rechtssystem ab. So hängt es von der jeweiligen nationalen Rechtsstaatsvorstellung ab, wie groß das Ausmaß der Begründung sein muss.223 Bei gefestigter Rechtsprechung zu einer bestimmten Frage sind die Anforderungen an die Begründung für ein etwaiges Abweichen höher.224 Aus der Perspektive der Verfahrenssituation ist maßgeblich, welches Parteivorbringen im Verfahren erfolgte, ob es sich um eine Entscheidung erster Instanz oder höherer Instanz handelte und schließlich von welcher Präzision die angewendeten gesetzlichen Bestimmungen sind. Bei Ermessensentscheidungen ist die Begründungspflicht regelmäßig höher.225 Das nationale Recht muss Regelungen vorsehen, die in Situationen, in denen Auslegungsschwierigkeiten bestehen, eine Klärung herbeiführen können.226 Aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens sowie aus dem Gebot der Rechtssicherheit folgt ein Schutz vor widersprüchlicher Gesetzesinterpretation.227 cc) Besondere Rechte des Angeklagten 48

Art 6 III EMRK enthält eine demonstrative Aufzählung von Rechten des Angeklagten.228 In der Rspr des EGMR ist klargestellt, dass diese ihrerseits Bestandteile des Konzepts des fairen Verfahrens nach Art 6 I EMRK sind. Alle diese Garantien sind vom Gedanken der Effektivität der Verteidigung geprägt, sei es, dass ein bestimmtes Zeitmoment normiert ist,229 sei es, dass Nachteile aus Sprachproblemen des Angeklagten hintangehalten wer-

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EGMR v 15.9.2009, 8927/02, Rn 44 – Sharomov. EGMR v 19.6.2001, 36533/97, Rn 40 f – Atlan; ECHR 2000-II, Rn 61 – Rowe u Davis. EGMR (GK) v 16.2.2000, 27052/95, Rn 52 – Jasper; v 6.7.2010, 35601/04, Rn 52 – Pocius. EGMR, ECHR 2000-V, Rn 38 ff – Khan. EGMR, Series A, Vol 303-B, Rn 27 – Hiro Balani. EGMR v 14.1.2010, Rn 3 – Atanasovski. EGMR, RUDH 1994, 401, Rn 55 – De Moor; Series A, Vol 127-B, Rn 53 – H/Belgien. EGMR, ECHR 2007-V, Rn 33 ff – Beian. EGMR, ECHR 2007-V, Rn 33 ff – Beian; Urt v 2.11.2010, Rn 34 ff – Stefanica. (vgl zu den Grenzen der Klärungspflicht: EGMR (GK) v 20.10.2011, 13279/05, Rn 88 ff – Nedjet Sahin; v 10.5.2012, 34796/09, Rn 34 – Albu). 228 Ein systematischer Vergleich zwischen den Verfahrensgarantien im dt Strafprozess und den Gewährleistungen der EMRK findet sich bei Eisele JR 2004, 12 ff. 229 Möglichst kurze Frist der Information über Art und Grund der Beschuldigung – Art 6 III lit a EMRK; ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung – lit b.

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den,230 sei es, dass der Kontakt mit dem Verteidiger sichergestellt wird,231 sei es, dass ökonomische Nachteile für die Verteidigung ausgeglichen werden232 oder sei es, dass die Effektivität und die Waffengleichheit in der Hauptverhandlung sichergestellt werden.233 Insb zum Zeugen- und Sachverständigenbeweis hat sich eine umfangreiche Judikatur des EGMR herausgebildet. Nach Art 6 III lit d EMRK hat der Angeklagte das Recht, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Bei der Ermittlung der Pflichten des Gerichts zur Ladung von Zeugen und Sachverständigen ist nach der Judikatur des EGMR zu fragen, ob die Nichtladung oder Nichtzulassung von Fragerechten durch legitime Gründe gerechtfertigt werden kann. Dabei ist zwischen dem Gewicht dieser Gründe und den Nachteilen für den Angeklagten abzuwägen.234 Zu den Rechten des Angeklagten gehört auch das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst zu beschuldigen („nemo tenetur“), das im dt Recht in § 136 I 2 StPO positiviert ist und in der Menschenwürde nach Art 1 I GG wurzelt.235 Der „nemo tenetur“-Grundsatz ist in Art 6 EMRK nicht ausdrücklich erwähnt, wird vom Gerichtshof aber zum Kernbereich eines fairen Verfahrens gerechnet, wobei dieser stets auf den engen Zusammenhang mit der Unschuldversmutung gem Art 6 II EMRK hinweist.236 Es obliegt der Strafverfolgungsbehörde, den Beschuldigten zu überführen, ohne hierfür auf Beweismittel zurückzugreifen, die durch Zwangs- oder Druckmittel ohne den Willen des Beschuldigten erlangt wurden.237 Die Ausforschung eines Häftlings durch einen verdeckten Ermittler oder einen V-Mann der Polizei, der Zellengenosse des Auszuforschenden ist oder sich als solcher ausgibt, stellt eine Verletzung des „nemo tenetur“ Grundsatzes dar, wenn eine vernehmungsähnliche Situation erzeugt wird und der Beschuldigte wegen und in dieser Situation aussagt.238 Die Garantie ist nicht lediglich auf Aussagen beschränkt,239 sondern umfasst auch

230 „Verständliche Sprache“ der Information über die Anklage – Art 6 III lit a EMRK;unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers – lit e. 231 Art 6 III lit c EMRK. 232 Unentgeltlicher Pflichtverteidiger – Art 6 III lit c EMRK; unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers – lit e. 233 Recht auf Anwesenheit und eigene Verteidigung – lit c; Waffengleichheit beim Zeugenbeweis – lit d. 234 Für Einzelheiten vgl Grabenwarter, S 636 ff mit umfangreichen Nachw aus der Rspr des EGMR. 235 BVerfGE 38, 105, 114 f; 55, 144, 150; 56, 37, 43. Ausf z Ganzen Müller EuGRZ 2001, 546 ff. 236 EGMR, ECHR 2000-XII, Rn 40 – Heany; Rep 1996-VI, Rn 68 – Saunders; EuGRZ 1996, 587, Rn 46, 58 – Murray. 237 EGMR, ECHR 2000-XII, Rn 40 – Heany; Rep 1997-VI, Rn 46 – Serves; Rep 1996-VI, Rn 68 – Saunders. 238 EGMR, StV 2003, 257, Rn 50ff – Allan; NJW 2010, 213, Rn 102 – Bykov (keine Annahme einer Drucksituation, die eine Verletzung des „nemo tenetur“ – Grundsatzes darstellt, weil der Inhaftierte hier nicht glaubte, sich in einer Vernehmungssituation vor einer amtlichen Vernehmungsperson zu befinden, sondern einen Bekannten freiwillig empfing und freiwillig Angaben machte); hierzu: Kenes RDTH 2010, 383 239 Das Recht zu schweigen ist nicht auf unmittelbar selbstbelastende Aussagen beschränkt, sondern umfasst auch Aussagen, die auf den ersten Blick nicht belastend erscheinen. Entscheidend ist, welche Verwendung die unter Zwang erlangten Aussagen im Verlauf eines Strafverfahrens finden (EGMR, Rep 1996-VI, Rn 71 – Saunders).

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den Zwang zur eigenhändigen Herausgabe von Beweismaterial.240 Nicht geschützt sind Ergebnisse von Atem-, Blut-, Urin- oder Körpergewebeproben, die unter Zwang erreicht wurden, deren Existenz jedoch nicht vom Willen des Beschuldigten abhängen.241 Es handelt sich weiterhin nicht um ein absolutes Recht,242 vielmehr kann es Beschränkungen unterworfen werden, solange dadurch nicht der Wesensgehalt der Garantie ausgehöhlt wird. Für die Beurteilung dieser Frage werden in der Rspr nach der Art eines beweglichen Systems folgende Gesichtspunkte als maßgeblich erachtet: die Art und Schwere des Zwangs zur Beweiserlangung, das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Verfolgung der Straftat und der Bestrafung des Täters, die Existenz angemessener Verfahrensgarantien und die Verwertung der somit erlangten Beweismittel.243 So ist etwa das Ziehen nachteiliger Schlüsse aus dem Schweigen des Beschuldigten unter bestimmten Voraussetzungen vereinbar mit der Garantie.244 Der EGMR verneint beispielsweise eine Verletzung von Art 6 I EMRK, wenn ein Strafverfahren zum Zeitpunkt der Aussageverweigerung noch gegen unbekannt und nicht gegen den Auskunftspflichtigen geführt wird und allenfalls als Folge der (verweigerten) Aussage gegen diesen eingeleitet wird, sofern der Zusammenhang mit den Strafverfahren lose und hypothetisch bleibt.245 Hingegen vermag die Verabreichung eines Brechmittels in Form von chemischen Substanzen über eine mit Zwang gelegte Magen-Darm-Sonde durch öffentliche Interessen an der Verfolgung eines Straßendealers nicht gerechtfertigt zu werden, wenn die zur Verfügung stehenden Verfahrensrechte nicht genutzt werden konnten und der erlangte Beweis später verwertet wird.246 Schließlich gehört das Prinzip der Unschuldsvermutung zu den Rechten des Angeklagten, wenngleich es neben der Garantie des fair trial selbständig geregelt ist. Das BVerfG hat unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Art 6 II EMRK ein entspr rechtsstaatliches Gebot nach dem GG angenommen.247 Das Gebot der Unschuldsvermutung hat mehrere Dimensionen. Im Vorfeld und während eines Strafverfahrens verbietet es Äußerungen staatlicher Behörden und Gerichte, wonach eine bestimmte Person eine strafbare Handlung begangen habe, noch bevor sie gerichtlich verurteilt wurde.248 So stellt es eine Verletzung der Unschuldsvermutung dar, einen vorläufig Festgenommenen in Kleidung eines Inhaftierten in der Öffentlichkeit zu zeigen.249 Daneben verbietet es Art 6 II EMRK, wenn

240 EGMR, RUDH 1993, 232, Rn 44 – Funke (anders als etwa Art 14 § 3g IPBPR). 241 EGMR, ECHR 2000-XII, Rn 40 – Heany; EGMR, Rep 1996-VI, Rn 69 – Saunders; Villiger EMRK, Rn 502. 242 EGMR, ECHR 2000-XII, Rn 47 – Heany; EuGRZ 1996, 587, Rn 47 – Murray; s a EGMR, ZulE v 21.4.2009, Rn 75 – Martinnen. 243 S zB EGMR, ECHR 2000-XII, Rn 51–55 – Heany; EGMR, ECHR 2002-IX, Rn 44 – Allan; EuGRZ 2007, 150, Rn 118 ff – Jalloh. 244 EGMR v 8.10.2002, 44652/98, Rn 53 ff – Beckles; vgl hierzu Ashworth/Strange EHRLR 2004, 121, 134 ff; ECHR 2000-V, Rn 61 f – Condron; EuGRZ 1996, 587, Rn 50 f, 54 – Murray; s a EGMR, ZulE v 5.12.2000, Rn 2 – Randall. Hierzu auch Kühne EuGRZ 1996, 571 ff. Im Zusammenhang mit dem Recht auf den Beistand eines Verteidigers EGMR, ECHR 2000-VI, Rn 43 – Magee. 245 EGMR, ÖJZ 2004, 853, Rn 53 ff – Weh (Verweigerung der Aussage über den Fahrzeuglenker seitens des Halters des Fahrzeuges – Zulassungsbesitzer – nach österreichischem Recht). 246 EGMR, EuGRZ 2007, 150, Rn 118 ff – Jalloh. 247 BVerfGE 74, 358, 370. 248 EGMR, EuGRZ 1988, 390, Rn 51 – Schenk; Urt v 29.5.2012, Rn 75 – Shuvalov. 249 EGMR, Urt v 16.3.2010 – Jiga.

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ein Angeklagter trotz Einstellung des Verfahrens und daher mangels Feststellung seiner Schuld dennoch zur Tragung der Verfahrenskosten verpflichtet wird, weil hieraus Schuldannahmen abgeleitet werden können.250 Selbst wenn Zweifel an der Unschuld bereits im Freispruch ausgedrückt werden oder wenn dieser nur aus Mangel an Beweisen erfolgt, ist jeder Ausdruck eines Schuldverdachts nach einem rechtskräftigen Freispruch mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung unvereinbar.251 Schließlich hat der Staat auch eine Schutzpflicht gegenüber vorverurteilender Medienberichterstattung.252 d) Die Öffentlichkeit des Verfahrens Art 6 EMRK schreibt die Öffentlichkeit des Verfahrens in zweierlei Hinsicht vor: Zum einen gebietet er mündliche Verhandlungen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind, zum anderen wird die Öffentlichkeit der verfahrensbeendenden Entscheidungen gefordert. Explizit wird die Medienöffentlichkeit im Rahmen der Ausschlusstatbestände erwähnt. Journalisten erfüllen in qualifizierter Weise den Begriff der Öffentlichkeit iSv Art 6 I EMRK, da sie durch ihre Berichterstattung den Hauptanteil an der Veröffentlichung des Verfahrens tragen. Davon zu unterscheiden ist jedoch die Frage der Zulässigkeit von Tonoder Bildaufzeichnungen während der Verhandlung. Während die Öffentlichkeit der Entscheidungen vorbehaltlos gewährleistet wird, steht die Öffentlichkeit von Verhandlungen unter einem unmittelbar anwendbaren Eingriffsvorbehalt: Die Öffentlichkeit kann während der gesamten Verhandlung oder eines Teiles derselben im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft ausgeschlossen werden, ferner wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder unter besonderen Umständen, wenn die Öffentlichkeit die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde (in diesem Fall jedoch nur in dem nach Auffassung des Gerichts erforderlichen Umfang). Dieser Vorbehalt weist inhaltlich große Parallelen zu den Gesetzesvorbehalten der Art 8 bis 11 EMRK auf.253 Daneben hat die Rspr weitere Gründe entwickelt, aus denen eine öffentliche Verhandlung oder die öffentliche Verkündung eines Urt unterbleiben kann. Für die öffentliche Verhandlung geht die stRspr davon aus, dass keine Verletzung des Grundrechts vorliegt, wenn die betroffene Prozesspartei auf das Recht verzichtet hat. Ein solcher Verzicht wird angenommen, wenn er freiwillig und unzweideutig erfolgt ist. Das Kriterium der Unzweideutigkeit des Verzichts kann nach der Rspr des EGMR nicht nur bei einer ausdrücklichen Erklärung vorliegen, sondern auch dann, wenn diese durch eine konkludente Handlung erfolgt.254 Für strafrechtliche Verfahren gelten jedoch strengere Anforderungen hinsichtlich der Eindeutigkeit eines Verzichts, als dies bei zivilrechtlichen Verfahren der Fall ist, da

250 Beginnend mit EGMR, RUDH 1993, 358, Rn 29 ff – Sekanina; dazu Pilnacek ÖJZ 2001, 546 ff; aus jüngerer Zeit EGMR v 21.3.2000, 28389/95, Rn 31 f – Rushiti. 251 EGMR v 21.3.2000, 28389/95, Rn 31 f – Rushiti; anders hingegen, wenn das Verfahren ohne Endurteil über Schuld oder Unschuld eingestellt worden ist (vgl hierzu auch ZulE v 1.4.2004 – Reinmüller). 252 EKMR, DR 14, 112 f; EGMR v 28.10.2004, 48173/99, Rn 48 – Y.B.; v 12.7.2013, 25424/09, Rn 94, 98, 120 ff – Allen; Peukert EuGRZ 1980, 260. 253 Für Einzelheiten und Abweichungen vgl ausf Grabenwarter, S 481 ff. 254 EGMR, Series A, Vol 263, Rn 58 – Schuler-Zgraggen; EGMR, EuGRZ 1992, 5, Rn 66 – Håkansson u Sturesson; EuGRZ 1981, 551, Rn 59 – Le Compte ua.

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bei ersteren ein Verzicht grundsätzlich ausdrücklich erklärt werden muss.255 Lediglich wenn es sich um Verfahren außerhalb des Kriminalstrafrechts handelt, in denen nur eine geringe Strafe droht, kann ein ausdrücklicher Verzicht unterbleiben.256 In zivilrechtlichen Verfahren hingegen liegt ein antragsbedürftiges Recht auf Abhaltung einer öffentlichen Verhandlung vor, wenn die Anberaumung einer solchen vom nationalen Gesetz nicht zwingend vorgesehen, sondern in das Ermessen des Gerichts gestellt ist. Ein stillschweigender Verzicht wird folglich nur dann ausgeschlossen, wenn das Gesetz ausdrücklich vorsieht, dass keine mündliche Verhandlung stattfindet, ein Antrag daher mit Sicherheit erfolglos bliebe,257 sowie in Fällen, in denen das innerstaatliche Recht keine Regelungen betreffend die Durchführung einer mündlichen öffentlichen Verhandlung enthält und es der Praxis der nationalen Gerichte entspricht, nicht öffentlich zu verhandeln.258 In Fällen, in denen eine Verhandlung ausschließlich auf Antrag oder entweder auf Antrag oder von Amts wegen anberaumt wird, verlangt der EGMR einen Antrag des Betroffenen, insb dann, wenn in der Praxis dieses Gerichts und vergleichbarer Gerichte entsprechende Verfahren regelmäßig ohne Verhandlung stattfinden.259 Ausnahmsweise ist ein Verzicht zur Rechtfertigung des Unterbleibens der Verhandlung aber dann nicht hinreichend, wenn dieser einem wichtigen öffentlichen Interesse zuwiderlaufen würde.260 In Rechtsmittelverfahren kann die Verhandlung auch ohne Verzicht unterbleiben, es sei denn, die Bedeutung und Notwendigkeit einer Verhandlung für die Beweiserhebung und -würdigung sowie für die Lösung von Rechtsfragen oder die Bedeutung des Verfahrensausgangs für den Betroffenen machen sie erforderlich.261 Das Recht auf öffentliche Verkündung der Entscheidungen nach Art 6 I EMRK hat der EGMR in einer teleologischen Reduktion auf einen Anspruch auf Veröffentlichung des Urt beschränkt, um dem Standard der Urteilsveröffentlichung in den Vertragsstaaten zu entsprechen. Dabei reicht es aus, wenn der Kontrollzweck der Veröffentlichung durch eine andere Art und Weise, in der das Urt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, ebenso gut wie bei öffentlicher Verkündung erfüllt wird.262 Das Recht erstreckt sich sowohl auf den Urteilsspruch als auch auf dessen Begründung.263 Die Beschränkungstatbestände für Verhandlungen sind auf die Urteilsveröffentlichung nicht anwendbar. Dem Gebot des Schutzes der Privatsphäre nach Art 8 EMRK kann durch Anonymisierungen von Entscheidungen Rechnung getragen werden. e) Das Gebot angemessener Verfahrensdauer

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Nach Art 6 I EMRK hat das Gericht „innerhalb einer angemessenen Frist“ zu entscheiden. Diese Garantie ist einerseits Bestandteil des Gebots effizienten gerichtlichen Rechtsschutzes, steht andererseits aber in einem Spannungsverhältnis zu den einzelnen Gewähr-

255 256 257 258 259 260 261 262 263

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EGMR v 20.12.2001, 32381/96, Rn 26 – Baischer. EGMR, ECHR 2006-XIV, Rn 48 – Jussila. EGMR, Series A, Vol 325-A, Rn 31 – Diennet; Series A, Vol 127-B, Rn 54 – H/Belgien. EGMR v 21.9.2006, 12643/02, Rn 96 – Moser (z österreichischen Außerstreitgesetz 1854). EGMR, RUDH 1994, 25, Rn 22 – Fredin (Nr 2); Series A, Vol 312-A, Rn 44 – Fischer; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 24 Rn 91. EGMR, EuGRZ 1992, 5, Rn 66 – Håkansson u Sturesson; Rep 1997-III, Rn 62 – Pauger. Vgl Grabenwarter, S 526 mwN. EGMR, EuGRZ 1985, 548, Rn 27 – Pretto. EGMR, NJW 2009, 2873, Rn 45 f – Ryakib Biryukov.

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leistungen des fairen Verfahrens, da ein Mehr an Verfahrensrechten regelmäßig das Verfahren verlängert.264 Insb im Strafverfahren geht es darum, die Ungewissheit über den Ausgang eines Strafverfahrens möglichst kurz zu halten. Die Berechnung der für das Grundrecht maßgeblichen Zeitspanne beginnt in Zivilverfahren mit der Erhebung der Klage,265 im Strafverfahren bereits vor Beginn des Hauptverfahrens in dem Zeitpunkt, in dem erste Schritte der Strafuntersuchung nach außen hin gesetzt werden.266 Bei verwaltungsgerichtlichen Verfahren kann auch die Dauer des vorangehenden Verwaltungsverfahrens zu berücksichtigen sein. Das Ende des Verfahrens bildet regelmäßig die abschließende Entscheidung der letzten Instanz sowie eines nachfolgenden verfassungsgerichtlichen Verfahrens.267 Der EGMR berücksichtigt dabei die besondere Stellung der Verfassungsgerichte und deren spezielle Rolle im Rahmen der Rechtsgewährung.268 Die Untätigkeit eines Gerichtes kann angemessen sein, wenn ein dem Beschwerdeführer dienendes Verfahren vor dem BVerfG abgewartet wird269 oder eine vom BVerfG an den Gesetzgeber gesetzte Frist zu gesetzlichen Neuregelung einer im Verfahren bedeutsamen verfassungswidrigen Norm läuft270. Ein Strafverfahren endet auch durch die formelle Einstellung des Verfahrens, wobei der Angeklagte davon Kenntnis erlangen muss.271 Auch die vorläufige Einstellung des Verfahrens nach § 154 II d StPO ist Ende des Verfahrens im Sinne des Art 6.272 Für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer stellt die Judikatur auf eine Einzelfallbetrachtung ab, in der vier Kriterien zur Anwendung gelangen.273 Diese Kriterien sind diejenigen Faktoren, die der EGMR bei einer Entscheidung im konkreten Einzelfall heranzieht, sie entbinden jedoch nicht vor einer Betrachtung der konkreten Konstellation des zu beurteilenden Sachverhaltes und deren Besonderheiten; letztlich ist diese ausschlaggebend. Zu beachten ist, dass in einem Verfahren, welches in erster Instanz bereits einen sehr langen Zeitraum in Anspruch genommen hat, in zweiter Instanz eine besondere Pflicht zur Beschleunigung bestehen kann. Maßnahmen, die eine solche Verfahrensbeschleunigung zu begünstigen vermögen, sind etwa die Einhaltung eines strengen Zeitplans oder Festlegung unbedingter einzuhaltender Fristen.274 Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer: Wenn der Ausgang des Verfahrens für den Betroffenen von besonderer Bedeutung ist, so führt regelmäßig bereits eine kürzere Zeitspanne zu einer Verletzung. Besondere Bedeutung wird in Strafverfahren bei Inhaftie-

264 EGMR, EuGRZ 1978, 406, Rn 100 – König. 265 EGMR, HRLJ 1992, 419, Rn 43 – Editions Périscope. 266 EGMR v 2.10.2003, 41444/98, Rn 32 – Hennig; Series A, Vol 195-B, Rn 16 – Manzoni; Series A, Vol 57, Rn 34 – Corigliano; Series A, Vol 51, Rn 73 – Eckle; vgl hierzu auch Leigh in: Weissbrodt/Wolfrum (Hrsg) The Right to a Fair Trial, 1997, 653. 267 EGMR, NJW 2001, 213, Rn 29 – Klein. Krit dazu Breuer Sonderheft Weber, Beilage zur NJW 2002, 6 ff. 268 EGMR, EuGRZ 1996, 514, Rn 57 ff – Süßmann; NJW 2001, 213, Rn 39 ff – Klein; v 10.12. 2009, 13471/06, Rn 26 – Almesberger. 269 EGMR v 16.09.2010, 16386/07, Rn 31 – Breiler. 270 EGMR v 10.02.2009, 12852/08 – Niedzwiecki (II). 271 EGMR v 4.4.2006, 7324/02, Rn 58 ff – Kobtsev. 272 EGMR v 3.2.2009, 37972/05 – Niedermeier. 273 Vgl hierzu exemplarisch EGMR, NJW 1989, 652, Rn 78 ff – Deumeland = JK 89, EMRK Art 6 I/1. 274 EGMR v 25.2.2010, 10737/84, Rn 44 – Müller.

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rung des Beschwerdeführers, im Zivilverfahren bei familienrechtlichen Angelegenheiten oder bei Verfahren mit Auswirkungen auf den Lebensunterhalt des Betroffenen, wie etwa bei arbeitsrechtlichen275 und schadensersatzrechtlichen276 Verfahren oder Entscheidungen über Rentenansprüche,277 angenommen. Verfahren über die Verletzung eines Konventionsrechts aufgrund diskriminierender Behandlung wertet der EGMR ebenfalls als besonders bedeutend.278 Komplexität des Falles: Wenn ein Verfahren im Hinblick auf Sach- oder Rechtsfragen besondere Komplexität aufweist, kann eine vergleichsweise längere Verfahrensdauer gerechtfertigt sein (zB komplexe Wirtschafts-279 und Umweltstrafsachen280). Ein hohes Maß an Komplexität kann auch dann bestehen, wenn eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit durch Umstände des konkreten Falles notwendig wird.281 Verhalten des Beschwerdeführers: Wenn der Beschwerdeführer durch sein Verhalten das Verfahren verzögert hat, so ist das bei der Beurteilung der Verfahrensdauer zu berücksichtigen. Nicht zum Nachteil des Betroffenen darf berücksichtigt werden, wenn dieser alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ergreift.282 Vor allem im Strafverfahren ist nicht gefordert, dass der Angeklagte mit den Strafverfolgungsbehörden aktiv zusammenarbeitet.283 Verhalten der Behörden: Maßgeblich ist schließlich, ob die Behörden und Gerichte des Staates das Verfahren zügig betrieben haben oder aber längere Phasen der Inaktivität gezeigt haben. Aus Art 6 folgt ein Recht auf Verfahrensbeschleunigung.284 Auch punktuelle oder länger andauernde Überlastungen von Gerichten können zu Lasten des Staates gehen. Nach der Rspr hat der Staat sein Gerichtssystem so einzurichten, dass er den Anforderungen des Art 6 EMRK gerecht werden kann.285 Folglich kann auch die Nichtabberufung eines säumigen gerichtlich bestellten Sachverständigen seitens des Gerichts286 sowie die Bestellung von Sachverständigen, die für eine mündliche Verhandlung nicht zur Verfügung stehen287 zu Lasten der Behörden gehen. Das Nichtergreifen adäquater Mittel gegen das wiederholte Nichterscheinen von Zeugen und Beschuldigten vor Gericht 288 kann als eine staatlich verschuldete Verfahrensverzögerung angesehen werden. In diesem

275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288

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EGMR v 29.1.2004, 53084/99, Rn 56 – Kormacheva. EGMR v 30.9.2004, 50222/99, Rn 70 – Krastanov. EGMR, Rep 1996-IV, Rn 61 – Süßmann. EGMR v 17.7.2008, 15766/03, Rn 48 – Orsˇ usˇ , wo der EGMR die Bedeutung des Rechts auf Bildung als Verfahrensgegenstand betont. Vgl EGMR v 13.7.2004, 37761/97, Rn 47 – Lislawska. EGMR, EuGRZ 2001, 299, Rn 40 – Metzger; v 24.7.2003, 46133/99, Rn 86 – Smirnova; vgl Roxin, StV 2001, 489, 491; Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 6 Rn 252 mwN. EGMR v 17.2.2009, 28514/04, Rn 54 – Ancel; v 13.10.2009, 2422/06, Rn 30 – Tunce. EGMR v 11.12.2003, 50064/99, Rn 56 – Girardi; Series A, Vol 117, Rn 57 – Poiss; EuGRZ 1985, 548, Rn 34 – Pretto; vgl aber andererseits EGMR, ECHR 2003-IX, Z. 86 – Smirnova. EGMR, EuGRZ 1983, 371, Rn 82 – Eckle. Gaede wistra 2004, 166, 168; Krehl NStZ 2006, 1, 4 f. EGMR, Rep 1997-IV, Rn 40 – Philis (Nr 2); Rep 1998-VIII, Rn 38 – Podbielski. Vgl EGMR v 23.9.2004, 47877/99, Rn 90 – Rachevi; v 8.7.2004, 20077/02, Rn 52 – Wohlmeyer Bau GmbH. EGMR, NJW 2011, 1055, Rn 28 – Grumann. EGMR v 21.9.2004, 10675/02, Rn 65 – Kus´ mierek; dazu auch EGMR v 13.7.2006, 38033/02, Rn 43 f – Stork.

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Zusammenhang ist zu beachten, dass den Konventionsstaaten auch aus Art 13 EMRK die Pflicht erwächst, ein effektives Rechtsmittel gegen eine unangemessen lange Verfahrensdauer bereitzustellen (Rn 71). Es liegt nicht bei jeder Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer eine Verletzung von Art 6 vor. Es können kompensatorische Maßnahmen ergriffen werden, die einen Verstoß gegen die Garantie aus Art 6 verhindern.289 Wenn Entschädigungszahlungen vorgesehen sind, diese jedoch faktisch nicht in einem angemessenen Zeitraum an die betroffenen Personen ausgezahlt werden, liegt darin dennoch eine Verletzung des Art 6.290

2. Nulla poena sine lege (Art 7 EMRK) Fall 2: (EGMR, NJW 2001, 3042 ff – W/Deutschland) Der 50-jährige W hatte sich von 1970 bis 1973 zum Wehrdienst der Nationalen Volksarmee der ehemaligen DDR verpflichtet. Am 15.2.1972 tötete er mit fünf kurzen Feuerstößen von je zwei Schüssen einen Flüchtling, der versucht hatte, von Ost-Berlin durch die Spree schwimmend nach West-Berlin zu gelangen. Er wurde beglückwünscht, erhielt das Leistungsabzeichen der Grenztruppen der DDR und eine Geldprämie in Höhe von 150 Mark. Am 17.6.1993 verurteilte ihn die Jugendkammer des LG Berlin nach dem zur Tatzeit geltenden Recht der DDR (§ 113 StGB-DDR), wandte jedoch dann das mildere Strafgesetz der Bundesrepublik an und bestrafte ihn nach §§ 212, 213 StGB und §§ 1, 105 I Nr 1 JGG. Ist diese Verurteilung konventionskonform?

Der Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz) in Art 7 EMRK enthält ein Rückwirkungsverbot und ein Klarheitsgebot für den Gesetzgeber. Art 7 ist gem Art 15 ein absolutes, notstandsfest garantiertes Recht. Es ist daher auch im Hinblick auf die Schutzpflichten der Staaten aus anderen Konventionsgarantien einer Abwägung nicht zugänglich.291 Der Anwendungsbereich dieser Garantie entspricht dem des Art 6 EMRK, umfasst also neben dem Strafrecht auch das Ordnungswidrigkeitenrecht und Teile des Disziplinarrechts. Das Bonner GG enthält ein dem Art 7 EMRK entsprechendes Grundrecht in Art 103 II.292 Art 49 GRCh geht über Art 7 EMRK hinaus, indem es einerseits normiert, dass eine mildere Strafe zu verhängen ist, wenn der Gesetzgeber nach der Begehung der Tat eine mildere eingeführt hat (Art 49 I Satz 3 GRCh) und andererseits in Art 49 III ein Gebot der Verhältnismäßigkeit des Strafmaßes enthält.293 Das Rückwirkungsverbot ergibt sich aus dem Wortlaut des Art 7 EMRK. Danach darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Bei der Beurteilung der Frage, ob Handlungen eines Beschwerdeführers zur Tatzeit bereits Straftaten waren, genießen die innerstaatlichen Gerichte einen Spielraum. Es ist vorrangig deren Aufgabe,

289 EGMR v 12.2.2009, 2027/06 – Mitterbauer; v 7.7.2009, 12895/05 – Stein; StV 2009, 519 Rn 68 f – Ommer. 290 EGMR v 21.12.2010, 45867/07, Rn 32, 36 – Gaglione. 291 EGMR v 14.4.2011, 30060/04, Rn 48 – Jendrowiak; v 24.11.2011, 4646/08, Rn 107 – O.H. 292 Näheres z unterschiedlichen Umfang von Art 103 II GG und Art 7 EMRK bei Kadelbach in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 15 Rn 6 ff. 293 Ausf etwa Jarass, GRCh Art 49 Rn 1 ff; Alber in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 49 Rn 1 ff.

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das staatliche Recht auszulegen und anzuwenden.294 Art 7 ist auf Verurteilungen und die Verhängung von Strafen anwendbar. Die Frage danach, wann innerstaatliche Maßnahmen unter diesen Gewährleistungsumfang fallen, unterliegt einer autonomen Interpretation des Gerichtshofes.295 Die Einordnung der Maßnahme der Sicherungsverwahrung als Maßregel der Besserung und Sicherung nach deutschem Strafrecht beeinflusst die Zuordnung durch den EGMR unter Art 7 und damit die Qualifizierung als Strafe im Sinne der EMRK durch den EGMR nicht.296 Nach Auffassung des Gerichtshofes gab es keinen maßgeblichen Unterschied zwischen dem Vollzug einer Strafe und dem einer Maßregel im Jahre 2009, sodass eine autonome Interpretation durch den EGMR die Anwendbarkeit des Art 7 ergab.297 Das BVerfG entschied in der Folge jedoch, dass die Auslegung des Begriffes der Strafe nach Art 103 II GG nicht an Art 7 orientiert werden könne, es sei an dem in der Auslegung des GG gewachsenen Begriffes der Strafe festzuhalten.298 Das BVerfG nimmt eine völkerrechtsfreundliche Auslegung nach den Garantien der EMRK nur in den Grenzen der Auslegung des GG vor und hält daher hier an dem für das GG geltenden Begriff der Strafe fest. Nach diesem Begriffsverständnis fällt die Sicherungsverwahrung als Maßregel der Besserung und Sicherung, aufgrund der Existenz des zweispurigen Sanktionensystems nach deutschem Recht, gerade nicht unter dem Begriff der Strafe. Speziell für das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen nach innerstaatlichem Recht berücksichtigt der EGMR, ob ein Beschwerdeführer selbst an der Begründung einer Staatspraxis mitgewirkt hat, welche die Strafbarkeit beseitigen soll. Ein Angeklagter könne – so der EGMR – sein zunächst rechtswidriges Verhalten, das zu seiner Verurteilung geführt habe, nicht mit der einfachen Feststellung rechtfertigen, dass es dieses Verhalten tatsächlich gab und in der Praxis ein dieses Verhalten legitimierender Rechtfertigungsgrund vorhanden war.299 Der Hinweis auf das internationale Recht in Art 7 II EMRK nimmt Bezug auf Tatbestände des Völkerstrafrechts wie Kriegsverbrechen, Völkermord uä.300 Im Rahmen von Art 7 ist nicht nur das Gesetz an sich von Bedeutung. Es sind auch die Rechtsprechung und Auslegungspraxis zu den im konkreten Fall anwendbaren Vorschriften, die als ständige Rechtsprechung und Auslegung qualifiziert werden können und die Strafe an sich und nicht bloß die Bedingungen der Vollstreckung betreffen, im Licht des Rückwirkungsverbotes zu betrachten.301 Es stellt ebenfalls eine Verlet-

294 EGMR, NJW 2001, 3035, Rn 49, 51, 66 – Krenz; Unionsrecht gehört im Hinblick auf dessen Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit aus der Perspektive der EMRK insoweit zum innerstaatlichen Recht, näher dazu Kadelbach in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 15 Rn 21. 295 EGMR, NJOZ 2010, 2726, Rn 110 f – Scoppola (Nr 2). 296 EGMR, NJW 2010, 2495, Rn 126 – M/Deutschland. 297 EGMR, NJW 2010, 2495, Rn 126 ff – M/Deutschland; Grabenwarter JZ 2010, 857, 858; Müller StV 2010, 207, 208 f; Pösl ZJS 2011, 132, 134 f; Grabenwarter EuGRZ 2012, 507. 298 BVerfGE 128, 326, Rn 142. 299 EGMR, NJW 2001, 3035, Rn 74 – Krenz. 300 Strafbarkeit nach Völkerrecht bejaht in EGMR v 17.1.2006, 23052/04 – Kolk (Verurteilung der Bf wegen der Beteiligung an Deportationen estnischer Zivilisten in die Sowjetunion im Jahr 1949); v 17.3.2009, 13113/03 – Ould Dah (Verurteilung in Frankreich wegen Folter in Mauretanien); NJOZ 2011, 226 – Kononov; s hierzu auch: Urt v 21.6.2011, 2615/10 – Polednová; v 18.7.2013, 2312/08, Rn 70 ff – Maktouf; Harris/O’Boyle/Warbrick Law of the European Convention on Human Rights, 1995, 277; Kreicker Art 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, 2002, 81 f; Satzger JuS 2004, 943. 301 EGMR v 21.10.2013, 42750/09, Rn 98, 105 – Del Río Prada.

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zung von Art 7 dar, wenn eine ständige höchstrichterliche Rechtsprechung geändert wird und die betroffene Person im Moment ihrer Verurteilung weder die Änderung der Rechtsprechung noch deren Anwendbarkeit auf ihren Fall und eine dadurch bedingte Verlängerung der Haftdauer voraussehen konnte.302 Neben dem Rückwirkungsverbot enthält Art 7 auch ein Gesetzmäßigkeits- und Klarheitsgebot. Nur ein Gesetz darf einen Straftatbestand bestimmen und eine Strafe androhen. Das Gesetz darf nicht zu Lasten eines Angeklagten extensiv ausgelegt werden, etwa durch Analogie. Art 7 steht steht damit auch einer extensiven Anwendung des Strafrechts im Allgemeinen etwa in Form von Analogien zu Lasten betroffener Personen entgegen.303 Daraus folgt, dass ein Straftatbestand eindeutig vom Gesetz festgelegt sein muss und die aus der Verletzung des Tatbestandes folgende Strafe im Gesetz definiert sein muss. Diesem Erfordernis wird dann Genüge getan, wenn dem Wortlaut der jeweiligen Vorschrift, soweit erforderlich mit Hilfe der Auslegung durch die Gerichte, zu entnehmen ist, für welche Handlungen und Unterlassungen der Einzelne strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.304 Art 7 EMRK enthält daher kein Verbot einer schrittweisen Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch richterliche Auslegung, vorausgesetzt, die Rspr ist in sich widerspruchsfrei305 und ihre Entwicklung ist iE mit dem Wesen des Straftatbestandes vereinbar und ausreichend vorhersehbar.306 Entscheidender Aspekt ist mithin, dass der Adressat einer Norm die Folgen seines Verhaltens präzise vorhersehen kann.307 Der EGMR bejaht die Vorhersehbarkeit einer Verurteilung selbst dort, wo die staatliche Praxis für die Dauer der Effektivität der maßgeblichen Rechtsordnung nicht nur jede Strafbarkeit des späteren Angeklagten ausschloss, sondern den Betroffenen vielmehr bei Unterlassen des später mit Strafe belegten Verhaltens sogar mit negativen Konsequenzen belegt hatte. Lösung Fall 2: Da W wegen einer Handlung oder Unterlassung strafrechtlich verurteilt worden ist, kommt Art 7 EMRK zur Anwendung. Fraglich ist, ob die Tötung an der Berliner Mauer zum Zeitpunkt ihrer Begehung strafbar war. Kein Zweifel besteht daran, dass die Tötung den Tatbestand des § 113 StGB-DDR (Totschlag) erfüllte. Fraglich ist, ob Rechtfertigungsgründe vorliegen. Bei richtiger Sicht wurden solche durch die – wenngleich rechtsstaatlichen Standards nicht entsprechende – Staatspraxis in der DDR begründet, wonach die diensttuenden Grenzsoldaten im Fall einer geglückten Flucht mit strafrechtlichen Ermittlungen durch die Militärstaatsanwaltschaft zu rechnen hatten. Der EGMR ist anderer Ansicht. Er räumt zwar ein, dass es eine solche Staatspraxis gegeben habe. Die dieser Staatspraxis zu Grunde

302 EGMR v 21.10.2013, 42750/09, Rn 117 – Del Río Prada; vgl hierzu das Sondervotum des Richters Nicolaou, der im hier genannten Aspekt eine Verletzung von Art 5 I sieht, eine Verletzung von Art 7 jedoch verneint. 303 Vgl statt vieler zuletzt: EGMR v 21.10.2013, 42750/09, Rn 78 – Del Río Prada. 304 EGMR, RJD 1996-V, Rn 28 – Cantoni. 305 Kadelbach in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 15 Rn 25 mwN. 306 EGMR, Series A, Vol 335-B, Rn 34 ff – S.W./Vereinigtes Königreich; v 13.12.2005, 7485/03 – Witzsch (ausreichende Vorhersehbarkeit der Verurteilung wegen der Leugnung der Verantwortung von Hitler und der NSDAP für den Holocaust in einem privaten Brief gem § 289 StGB); v 29.4.2008, 33290/07 – Garagin. 307 EGMR v 25.6.2009, 12157/05, Rn 93, 100 – Liivik; vgl Urt v 10.2.2009, 40384/04 – Streicher; v 21.10.2013, 42750/09, Rn 79 – Del Río Prada.

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liegende Staatsräson müsse jedoch ihre Grenzen in der Verfassung und in der Gesetzgebung der DDR selbst finden, wobei zu berücksichtigen sei, dass das Recht auf Leben zur Tatzeit bereits international den obersten Rang in der Wertehierarchie der Menschenrechte einnahm.308 Die Praxis habe offensichtlich gegen die in der DDR-Verfassung verankerten Grundrechte sowie gegen die völkerrechtliche Verpflichtung zur Wahrung von Menschenrechten verstoßen, die unter anderem durch die Ratifikation des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte begründet wurde. Mit dieser Ansicht verkennt der EGMR – wie schon zuvor das Bundesverfassungsgericht – dass der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte nicht in innerstaatliches DDR-Recht transformiert wurde und so jedenfalls für den Grenzsoldaten keine Wirkung entfalten konnte.309 Der EGMR bejaht im Übrigen auch die Vorhersehbarkeit der Verurteilung. Zwar sei W als junger Soldat der Indoktrinierung der jungen Rekruten der Volksarmee ausgesetzt gewesen und riskierte die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen bei geglücktem Grenzübertritt eines Flüchtlings. Doch handelte es sich bei der Verfassung und dem StGB der DDR nicht um obskure Verordnungen, weshalb der Grundsatz „Niemand kann sich auf Unkenntnis des Gesetzes berufen“ auch für W gelte. Außerdem habe sich W freiwillig auf drei Jahre verpflichtet, und er kannte wie jeder Bürger der DDR die Art des Grenzregimes. Er musste also wissen, dass die Verpflichtung zum Wehrdienst die Möglichkeit einschloss, an die Grenze abkommandiert zu werden und auf unbewaffnete Flüchtlinge schießen zu müssen. Ein einfacher Soldat könne sich überdies „nicht voll und blindlings“ auf Befehle berufen, die offensichtlich nicht nur die ureigenen Rechtsgrundsätze der DDR, sondern auch die völkerrechtlich geschützten Menschenrechte verletzten, insb das Recht auf Leben, das den obersten Rang in der Wertehierarchie der Menschenrechte einnehme. Die Verurteilung verstoße daher iE nicht gegen Art 7 EMRK. Mit dieser Argumentation bemüht der EGMR wie schon vor ihm das Bundesverfassungsgericht die Radbruch’sche Formel, indem er sie völkerrechtlich variiert und reformuliert. Eine rechtsdogmatische Begründung beinhaltet sie nicht.310

3. Das Verbot der Doppelbestrafung und -verfolgung 66

Art 4 7. ZP EMRK beinhaltet das Verbot der Doppelbestrafung („ne bis in idem“). Deutschland hat das 7. Zusatzprotokoll zwar unterzeichnet, bisher allerdings nicht ratifiziert. Im GG findet sich die Gewährleistung als eines der sog grundrechtsgleichen Rechte in Art 103 III GG.311 Art 50 GRCh enthält ein Art 4 7. ZP EMRK entsprechendes Recht, nach dem niemand wegen einer Straftat, deretwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden darf.312 Art 4 7. ZP EMRK besagt, dass niemand „wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz oder dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden“ darf. Art 4 7. ZP EMRK entfaltet keine zwischenstaatliche Geltung, sondern schützt nur vor einer

308 309 310 311 312

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EGMR, NJW 2001, 3035, Rn 72 – Krenz. Vgl bereits Dreier JZ 1997, 421, 425. Krit z Urt Rau NJW 2001, 3008 ff, sowie Roellecke NJW 2001, 3024 f. S hierzu BVerfGE 3, 248, 250 ff; 75, 1, 8 ff. Jarass GRCh Art 50 Rn 1 ff; s z Art 50 GRCh EuGH, EuZW 2013, 302, Rn 32 ff – Fransson.

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erneuten Bestrafung oder Verhandlung der Sache durch „denselben“ Staat.313 Voraussetzung für die „Sperrwirkung“ der Norm ist ein durch rechtskräftiges Urt oder Freispruch endgültig abgeschlossenes strafrechtliches Verfahren.314 Der Gerichtshof hat die Frage offen gelassen, ob eine Gnadenentscheidung einen endgültigen Abschluss eines strafrechtlichen Verfahrens im Sinne des Art 4 7. ZP darstellt.315 Anwendbar ist die Garantie nur, soweit es sich um (zwei) strafrechtliche Sanktionen iSd EMRK handelt. Von der „Sperrwirkung“ des Art 4 7. ZP EMRK nicht erfasst sind daher erneute Sanktionierungen anderer Art (zB disziplinarrechtliche Maßnahmen).316 Der Begriff „strafrechtlich“ entspricht dem Strafrechtsbegriff der Art 6 und 7 EMRK.317 Liegen zwei strafrechtliche Sanktionen vor, so stellt sich die Frage, ob diese wegen derselben „strafbaren Handlung“ („offence/ infraction“) verhängt wurden.318 In der Entscheidung Zolotukhin319 wich der Gerichtshof von seiner bisherigen Rechtsprechung ab. Wurde bis dahin das Vorliegen eines Verstoßes nur dann bejaht, wenn jemand wegen derselben tatsächlichen Handlung aufgrund derselben Vorschrift oder aufgrund unterschiedlicher, materiell jedoch mindestens teilweise identischer Vorschriften bestraft wurde,320 so hängt das Vorliegen einer „strafbaren Handlung“ im Sinne des Art 4 I 7. ZP EMRK nach dieser Auslegung davon ab, ob Gegenstand der Strafverfahren derselbe oder der im Wesentlichen selbe Sachverhalt ist, dh entscheidend ist, ob mehrere Handlungen aus identischen oder jedenfalls zu wesentlichen Teilen vergleichbaren Tatsachen resultieren.321 Damit wäre die mehrfache Verfolgung eines Beschuldigten wegen einer Tat durch unterschiedliche Gerichte oder Behörden auch dann unzulässig, wenn es sich um „echte“ Konkurrenzen iSv Idealkonkurrenzen handelt. Dieses Ergebnis lässt sich nicht mit den Auslegungsgrundsätzen der WVK begründen.322 In Art 4 II 7. ZP EMRK ist klargestellt, dass der Grundsatz des ne bis in idem nicht die Wiederaufnahme eines Verfahrens ausschließt, soweit neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das frühere Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel323 aufweist.324

313 Z zwischenstaatlichen Geltung des Grundsatzes im übrigen Völker- und Europarecht, insb nach Art 54 Schengener Durchführungsübereinkommen vgl Kadelbach in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 29 Rn 24 ff. 314 JBl 1995, 577, Rn 53 – Gradinger (m Anm Grabenwarter); ECHR 2003-VI, Rn 22 – Fischer; EGMR, ECHR 2004-VIII, Rn 37 – Nikitin. 315 EGMR v 13.11.2012, 4455/10, Rn 66 – Margusˇ . 316 Europarat, Explanatory Report relating to Protocol N° 7, HRLJ 1985, 82, Rn 32. 317 Bleichrodt (Fn 16) S 979 f. 318 Hierzu EGMR, NJOZ 2010, 2630, Rn 58 ff – Zolotukhin. 319 EGMR, NJOZ 2010, 2630, Rn 58 ff – Zolotukhin. 320 EGMR, ECHR 2003-VI, Rn 25, 29 – Fischer. 321 EGMR, NJOZ 2010, 2630, Rn 82 – Zolotukhin; der EGMR folgt dieser Rechtsprechung in weiteren Entscheidungen: Urt v 16.6.2009, 13079/03, Rn 56 – Ruotsalainen; v 25.6.2009, 55759/07, Rn 63 – Maresti; v 14.1.2010, 45963/99, Rn 52 – Tsonev; vgl auch: Mock RTDH 2009, 867 ff. 322 vgl Öst. Verfassungsgerichtshof, EuGRZ 2010, 631, der explizit die Übernahme der Zolotukhin Rechtsprechung ablehnt. 323 Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 4 7. ZP EMRK Rn 10. 324 EGMR, ECHR 2004-VIII, Rn 37, Rn 45 ff – Nikitin; v 29.7.2008, 37959/02, Rn 74 – Xheraj.

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4. Recht auf Nachprüfung einer gerichtlichen Verurteilung 68

Nach Art 2 7. ZP EMRK hat jeder, der von einem Gericht wegen einer strafbaren Handlung verurteilt wurde, das Recht, das Urt von einem übergeordneten Gericht nachprüfen zu lassen. Der Anwendungsbereich ist nur dann eröffnet, wenn eine Verurteilung „wegen einer strafbaren Handlung“ vorliegt, wenn eine Person aus Mangel an Beweisen oder mangels Nachweis der Schuld nicht verurteilt wird, ist Art 2 7. ZP nicht anwendbar.325 Wenn zunächst eine (weisungsgebundene) Verwaltungsbehörde über eine strafrechtliche Verurteilung entschieden hat, müssen danach noch zwei Gerichtsinstanzen mit dem Fall befasst werden können.326 Das nachprüfende Gericht muss nicht dieselben Kompetenzen haben wie ein Gericht im Sinn des Art 6 EMRK. Auch bloße Revisionsinstanzen oder Gerichte, die über die Annahme oder Zulassung eines Rechtsmittels entscheiden, erfüllen dieses Merkmal.327 Darüber hinaus kann der Gesetzgeber Ausnahmen vorsehen für Bagatellsachen in Fällen, in denen ein Höchstgericht das Verfahren in erster Instanz geführt hat, und schließlich wenn die Verurteilung erst in zweiter Instanz auf Grund eines Rechtsmittels gegen den Freispruch der ersten Instanz erfolgte (Art 2 II 7. ZP EMRK).

5. Das Recht auf Entschädigung für Fehlurteile (Art 3 7. ZP EMRK) 69

Bei rechtskräftiger Verurteilung und nachfolgender Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem Ergebnis der Unschuld des Verurteilten sieht Art 3 7. ZP EMRK eine Entschädigungspflicht des Staates für den bereits verbüßten Teil der ungerechtfertigten Strafe vor. Art 3 7. ZP ist nicht lex specialis zu Art 6 II, die Bestimmungen betreffen unterschiedliche Teilbereiche des Strafprozesses und haben daher keinen identischen Anwendungsbereich, Art 4 7. ZP schließt die Anwendbarkeit des Art 6 II nicht aus.328 Der Betroffene ist nach nationalem Recht zu entschädigen, es ist unerheblich, ob im Recht des betroffenen Mitgliedstaates eine Regelung bezüglich der Entschädigung vorhanden ist oder nicht.329 Zweifelhaft ist, ob dem Betroffenen jegliche Entschädigung zu versagen ist, wenn die Zurückhaltung der entsprechenden Tatsachen auch anderen Personen zuzuschreiben ist.330 Die Entschädigungspflicht entfällt, wenn der Betroffene die Schuld daran trägt, dass die neu auftretenden Tatsachen nicht rechtzeitig bekannt geworden sind. Art 3 7. ZP EMRK ist folglich nicht anwendbar, wenn die Anklage abgewiesen wurde oder der Angeklagte durch das erstinstanzliche Gericht oder nach der Einlegung von Rechtsmitteln durch ein höheres Gericht freigesprochen wurde.331 Eine Anwendbarkeit ist ebenfalls ausgeschlossen, wenn ein Urteil auf Grund einer anderen Würdigung solcher Tatsachen erfolgte, die bereits im Ausgangsverfahren bekannt waren.332 Des Weiteren muss die Unschuld des Betroffenen

325 EGMR v 8.1.2009, 44062/05, Rn 35 ff – Patsouris; v 8.1.2009, 44058/05, Rn 30 ff – Panou. 326 EGMR v 30.11.2006, 75101/01, Rn 83 ff – Grecu (Bekämpfung einer Anordnung der Generalstaatsanwaltschaft); Flinterman in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak (Hrsg) Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl 2006, 974 (allerdings eingeschränkt auf Art 2 II 3. Fall). 327 EGMR, ZulE v 31.8.1999 – Hubner. 328 EGMR v 12.7.2013, 48539/99, Rn 105 – Allen. 329 EGMR v 12.6.2012, 22999/06, Rn 51 – Poghosyan. 330 Flinterman (Fn 326) S 976 schlägt in solchen Fällen eine teilweise Entschädigung vor. 331 Explanatory Report, HRLJ 5 (1985), 85. 332 EGMR v 3.7.2008, 14797/02, Rn 41 ff – Matveyev.

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§ 6 IV

im Nachhinein eindeutig durch das die rechtskräftige Verurteilung aufhebende Urt bzw den das Urt aufhebenden Gnadenakt anerkannt werden.333

III. Verfahrensgarantien bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Art 1 7. ZP EMRK enthält einige Verfahrensgarantien in Bezug auf die Ausweisung von Ausländern. Als rechtsstaatliches Mindesterfordernis wird vorgeschrieben, dass ein Ausländer, der zuvor seinen rechtmäßigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Staates hat, nur auf Grund einer rechtmäßig ergangenen Entscheidung ausgewiesen werden darf.334 Darüber hinaus werden als Mindestverfahrensgarantien bestimmte Rechte normiert, die in ausgebauter Form in Art 6 I und III EMRK enthalten sind. Die Aushändigung einer aufenthaltsbeendenden Anordnung ohne Bezugnahme auf das Verhalten, welches dem Adressaten vorgeworfen wird, verletzt Art 1 7. ZP.335 Der Ausländer muss die Möglichkeit haben, Gründe vorzubringen, die gegen seine Ausweisung sprechen, ferner seinen Fall prüfen lassen können und schließlich drittens sich zu diesem Zweck vor der zuständigen Behörde vertreten lassen können.336 Ausnahmsweise kann gem Art 1 II 7. ZP EMRK ein Ausländer ohne Gewährung dieser Rechte ausgewiesen werden, wenn die Ausweisung im Interesse der öffentlichen Ordnung erforderlich ist oder aus Gründen der nationalen Sicherheit erfolgt.337

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IV. Das Recht auf wirksame Beschwerde Nach Art 13 EMRK hat jedermann, der eine Verletzung seiner durch die Konvention geschützten Rechte behauptet, das Recht einer „wirksamen Beschwerde“ bei einer nationalen Instanz. Art 13 EMRK kann nur iVm einer anderen Bestimmung der EMRK oder eines ZP gerügt werden. Wie bei Art 19 IV GG ist nicht die Rechtsverletzung selbst Voraussetzung, es genügt vielmehr, dass der Beschwerdeführer die Möglichkeit der Verletzung in einem subjektiven Recht geltend macht.338 Voraussetzung ist jedoch, dass die Möglichkeit der Verletzung in vertretbarer Weise angenommen werden kann.339 Art 47 GRCh enthält eine vergleichbare Garantie, ihr Anwendungsbereich ist jedoch weiter, da er sich allgem auf die durch das Recht der Union garantierten Rechte und Freiheiten erstreckt.340 Die nationale Instanz kann in einem Gericht, insb in einem Verfassungsgericht bestehen. Sie muss jedoch nicht notwendigerweise gerichtlich organisiert sein, entscheidend

333 Frowein in: Frowein/Peukert EMRK, Art 3 7. ZP EMRK Rn 1. 334 Die Rechtmäßigkeit der Entscheidung ist nach den nationalen Vorschriften zu beurteilen, s EGMR, ECHR 2006-XI, Rn 81 f – Bolat. 335 EGMR v. 13.7.2010, 25964/94, Rn 53 ff – Ahmed. 336 Für Einzelheiten vgl Wiederin Aufenthaltsbeendende Maßnahmen im Fremdenpolizeirecht, 1993, 85 ff. 337 EGMR v 12.10.2006, 31753/02, Rn 55 – Kaya (Ausweisung aus Gründen der nationalen Sicherheit auf Grundlage einer Notstandsverordnung). 338 EGMR, EuGRZ 1979, 278, Rn 64 – Klaas; Grabenwarter/Pabel in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 14 Rn 34. 339 EGMR, Series A, Vol 131, Rn 52 – Boyle. 340 Jarass GRCh Art 47 Rn 1 ff.

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Christoph Grabenwarter/Katharina Struth

ist, dass die Befugnisse und Verfahrensgarantien vor der Instanz wirksam sind.341 Auch verpflichtet Art 13 EMRK die Mitgliedstaaten nicht zur Einführung eines Normenkontrollverfahrens.342 Voraussetzung ist lediglich, dass es einen Rechtsanspruch auf Zugang und Entscheidung gibt und dass die Entscheidung eine adäquate Abhilfemöglichkeit im Falle einer Rechtsverletzung bietet. Diese kann in der Aufhebung der angefochtenen Maßnahme, aber auch in einer Entschädigung bestehen.343 Entscheidend ist, dass der Rechtsbehelf effektiv ausgestaltet ist.344 Die Reichweite der Verpflichtungen aus Art 13 EMRK hängt von dem jeweiligen Konventionsrecht ab, in dessen Verbindung es geltend gemacht wird. So gewährleistet zB Art 13 iVm Art 3 EMRK bei Verdacht der Misshandlung von Inhaftierten neben der dem Staat aus Art 3 EMRK obliegenden Pflicht, eine sorgfältige und effektive Untersuchung der Vorfälle durchzuführen, ein subjektives Recht des Betroffenen auf Zugang zu einem wirksamen Untersuchungsverfahren und unter Umständen auch auf Zahlung einer Entschädigung.345 Bei behaupteten Verletzungen von Art 3 durch Isolationshaft gebietet Art 13 nach der Rspr des EGMR jedenfalls die Möglichkeit der Beschwerde an eine gerichtliche Instanz („judicial body“).346 Für die Anwendbarkeit der Garantie des Art 13 EMRK ist es nicht erforderlich, dass die Verletzung einer in der Konvention gewährleisteten materiellen Garantie tatsächlich feststeht. Art 13 EMRK muss dahingehend interpretiert werden, dass jedem, der mit einer gewissen Plausibilität die Möglichkeit darlegt, in einem Konventionsrecht verletzt worden zu sein, die Berufung auf das Recht auf wirksame Beschwerde zustehen muss.347 Ist diese Voraussetzung erfüllt, so untersucht der EGMR eine mögliche Verletzung des Art 13 EMRK auch dann, wenn ein Verstoß gegen das andere angerufene Konventionsrecht verneint wird,348 sofern eine Verletzung eines anderen Konventionsrechts in vertretbarer Weise angenommen werden konnte.349 Im Verhältnis zu Art 13 sind die Verfahrensgarantien des Art 5 IV, V leges speciales, so dass der EGMR diesbezüglich regelmäßig keine gesonderte Prüfung vornimmt.350 Jedoch ist es nunmehr entgegen der früheren Rspr des EGMR351 nicht ausgeschlossen, dass Art 13 EMRK auch mit der behaupteten Verletzung einer der in Art 6 I EMRK gewährleisteten Verfahrensgarantien Anwendung findet. Etwa auch im Zusammenhang mit dem aus Art 6 I folgenden Recht auf Vollstreckung eines Gerichtsurteils binnen angemessener Frist ist eine Verletzung des Art 13 EMRK zu prüfen.352 Mit der Heranziehung des Art 13 macht der Gerichtshof vor allem in Fällen, in denen sehr viele Verfahren vor dem EGMR

341 EGMR, EuGRZ 1979, 278, Rn 57 – Klass; EuGRZ 1984, 147, Rn 113 – Silver; (GK) v 13.12. 2012, 22689/07, Rn 78 – De Souza. 342 EGMR, Series A, Vol 98, Rn 85 – James; v 23.6.2011, 20493/07, Rn 83 – Diallo. 343 EGMR, ECHR 2006-V, Rn 186 – Scordino, einige Staaten hätten laut EGMR die Situation „perfekt erfasst“, indem sie beide Arten von Rechtsmitteln kombiniert hätten. 344 EGMR, ECHR 2000-XI, Rn 157 – Kudla; (GK) v 13.12.2012, 22689/07, Rn 78 – De Souza. 345 EGMR Rep 1996-VI; Rn 98 – Aksoy; v 12.6.2012, 22999/06, Rn 46 – Baghdasaryan. 346 EGMR, ECHR 2006-IX, Rn 165 – Sanchez. 347 EGMR, NJW 1979, 1755, Rn 64 – Klass. 348 EGMR, Series A, Vol 247-C, Rn 59 – Costello-Roberts. 349 EGMR, Series A, Vol 172, Rn 33 – Powell.; Series A, Vol 131, Rn 52 – Boyle.; Series A, Vol 116, Rn 77 – Leander. 350 EGMR v 5.2.2009, 21519/02, Rn 162 – Khadisov. 351 EGMR, EuGRZ 1979, 626, Rn 35 – Airey; Series A, Vol 52, Rn 88 – Sporrong. 352 EGMR v 15.1.2009, 33509/04, Rn 98 ff – Burdov; v 15.10.2009, 46336/99, Rn 65 ff – Ivanov. /

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geführt werden, auf die Subsidiarität des Rechtsschutzsystems der EMRK aufmerksam und erinnert an die Verpflichtung der Staaten, effektive Mechanismen zur Vermeidung bzw. Ahndung von Konventionsverletzungen einzuführen.353 Hinsichtlich einer behaupteten Verletzung des Rechts auf Leben, wie es in Art 2 EMRK normiert ist, nimmt der Gerichtshof auch eine aus Art 13 EMRK resultierende Verpflichtung der Konventionsstaaten an, ein Verfahren vorzusehen, mit dem die mögliche Verantwortlichkeit der staatlichen Stellen geklärt werden kann.354 Darüber hinaus muss der Betroffene die Möglichkeit haben, für die durch die Konventionsverletzung erlittenen materiellen und immateriellen Schäden Schadensersatz zu erhalten.355 Der EGMR stellt in solchen Fällen nunmehr sowohl eine Verletzung von Art 2 EMRK als auch eine von Art 13 EMRK fest.356

353 Vgl EGMR, StV 2009, 561, Rn 87 – Kaemena; v 19.6.2012, 29400/05, Rn 82 – Communist Party of Russia. 354 EGMR, Rep 1998-I, Rn 107 – Kaya; v 20.4.2004, 28298/95, Rn 103 ff – Buldan; v 15.1.2004, 27699/95, Rn 96 – Tekdag˘ ; v 1.7.2010, 17674/02, Rn 308 ff – Davydov; vgl auch: Urt v 13.3.2012, 2694/08, Rn 61 – Reynolds (Gewährleistungspflicht aus Art 13 in Verbindung mit Art 2 effektive Maßnahmen zu ergreifen, um psychisch kranke Menschen vor einem Suizid zu bewahren). 355 EGMR, ECHR 2002-II, Rn 97 – Edwards; ECHR 2001-V, Rn 109 – Z ua/Vereinigtes Königreich; Rep 1998-I, Rn 107 – Kaya. 356 Vgl EGMR v 15.1.2004, 27699/95, Rn 95 ff – Tekdag˘; v. 13.7.2010, 45661/99, Rn 166 – Carabulea; vgl Irmscher EuGRZ 2006, 11, 15.

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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union §7 Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten Dirk Ehlers Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1963, 3 ff – van Gend & Loos; Slg 1964, 1251 ff – Costa/ENEL; Slg 1974, 837 ff – Dassonville; Slg 1974, 1299 ff – van Binsbergen; Slg 1974, 1405 ff – Walrave; Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon; Slg 1991, I-2357 ff – Vlassopoulou; Slg 1993, I-6097 ff – Keck; Slg 1995, I-1141 ff – Alpine Investments; Slg 1995, I-4165 ff – Gebhard; Slg 1995, I-4921 ff – Bosman, Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1; Slg 1997, I-6959 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2; Slg 2000, I-4139 ff – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1; Slg 2002, I-4781 ff – Elf-Aquitaine; Slg 2002, I-6279 ff – Carpenter = JK 2002, EGV Art 49/6; Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3; Slg 2003, I-14887 ff – DocMorris = JK 2004, EGV Art 28/4; Slg 2004, I-9609 ff – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13; Slg 2009, I-4273 ff – Mickelsson u Roos; EuZW 2012, 797 – Fra.bo = JK 2013, AEUV Art 34/46. Schrifttum: Jarass Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten, EuR 1995, 202; ders Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten II, EuR 2000, 705; Ruffert Die Grundfreiheiten im Recht der Europäischen Union, JuS 2009, 97; Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; ders Grundfreiheiten in: v Bogdandy/Bast, EuropVfR, S 705 ff; Frenz GF Teil I; Valta Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013.

I. Eigenart und Stellung der Grundfreiheiten im Gefüge des Unionsrechts 1. Bedeutung der Grundfreiheiten Die Europäische Union (EU) ist zwar nicht nur, aber auch und gerade eine Wirtschaftsund Währungsunion mit einem Binnenmarkt (Art 3 III UA 1, IV EUV). Der Binnenmarkt umfasst einen Raum, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist (Art 26 II AEUV). Die angesprochenen Freiheiten stellen zugleich Stützpfeiler der unionsrechtlichen Wirtschaftsverfassung dar.1 Sie gelangen vor allem zur Anwendung, wenn mitgliedstaatliche Regelungen den europäischen (grenzüberschreitenden) Wirtschaftsverkehr behindern. So sind Importverbote für nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraute Biere2 oder Tabakwaren aus dem EU-Ausland,3 Einreiseverbote von Arbeitssuchenden aus anderen Mitgliedstaaten,4 Niederlassungsverbote für im EU-Ausland gegründete Gesellschaften mit ausschließlich inländischer Geschäfts-

1 Vgl auch Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 13; zur Diskussion ferner Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 18 Rn 1 ff. 2 EuGH, Slg 1987, 1227, Rn 25 – Kommission/Deutschland. Vergleichbar zB EuGH, Slg 1988, 4233 ff – Drei Glocken (Zulässigkeit einer Einführung von Teigwaren nach Italien mit anderen Bestandteilen als in Italien vorgeschrieben). 3 EuGH, EuZW 2012, 508 – ANETT = JK 2013, AEUV Art 34/3. 4 EuGH, Slg 1988, 3161, Rn 32 – Lair.

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§7 I2

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tätigkeit,5 Ablehnungen der Kostenerstattung für ärztliche Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat,6 bestimmte staatliche Glücksspielmonopole7 sowie Genehmigungsvorbehalte für den Grundstückserwerb durch Ausländer oder für den Verkauf von Gesellschaftsanteilen8 für unvereinbar mit den Grundfreiheiten erklärt worden. Bestimmte, die Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigende Vereinbarungen von Privaten – etwa Ausländerregelungen der Berufsfußballverbände in Europa9 – hat das selbe Verdikt getroffen. Dies zeigt beispielhaft, dass die Grundfreiheiten die Regulierungsspielräume der Mitgliedstaaten und der Privaten vornehmlich auf dem Gebiet des Wirtschafts- und Sozialrechts zum Zwecke der Gewährleistung einer grenzüberschreitenden Freiheit erheblich einengen. Daneben ist auch die EU selbst an die Grundfreiheiten gebunden (Rn 53).

2. Die einzelnen Grundfreiheiten 2

Obwohl der Begriff „Grundfreiheit“ im Text des AEUV nicht auftaucht,10 besteht Übereinstimmung darüber, dass sich je nach Zählweise vier oder sechs Grundfreiheiten unterscheiden lassen: die Freiheit des Warenverkehrs (Art 28, 34, 35 AEUV; Æ § 8), die Freiheit des Personenverkehrs, bestehend aus der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art 45 AEUV; → § 9) und der Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV; → § 10), die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs (Art 56 AEUV; → § 11) und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art 63 AEUV; → § 12). Teilweise ist das Recht auf Freizügigkeit der Unionsbürger (Art 21 AEUV) iVm dem Diskriminierungsverbot (Art 18 AEUV) als weitere Grundfreiheit bezeichnet worden.11 Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Zusammenwirken von allgemeiner Freizügigkeit und Diskriminierungsverbot erhebliche, mit den Grundfreiheiten vergleichbare Auswirkungen insbesondere im Hinblick auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch Unionsbürger in anderen Mitgliedstaaten hat.12 Doch handelt es sich hierbei anders als bei den Grundfreiheiten nicht um spezielle „Marktbürgerrechte“, sondern um Unionsbürgerrechte – dh um Grundrechte, die den allgemeinen Status der Bürger regeln.13 5 EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 18 ff – Centros; Slg 2002, I-9919, Rn 82 – Überseering = JK 2003, EGV Art 43/3; Slg 2003, I-10155, Rn 101 – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4; vgl auch EuGH, EuZW 2012, 621, Rn 42 ff – Vale Epitesi (grenzüberschreitende Umwandlung von Gesellschaften) = JK 2013, AEUV Art 49, 54/1. 6 EuGH, Slg 1998, I-1931, Rn 35 – Kohll (Fall 14); Slg 2001, I-5473, Rn 97 ff – Smits u Peerboms; Slg 2003, I-4509 – Müller-Fauré; Slg 2006, I-4325, Rn 89 ff – Watts = JK 2007, EGV Art 49/15; EuZW 2012, 65, Rn 60 ff – Kommission/Portugal. 7 EuGH, Slg 2010, I-8069 ff – Stoß = JK 2011, AEUV Art 49/1 (Fall 15). 8 Zur Vereinbarkeit „Goldener Aktien“ mit der Kapitalverkehrsfreiheit vgl EuGH, Slg 2002, I-4731 ff – Kommission/Portugal = JK 2002, EGV Art 56/1; Slg 2002, I-4783 – Kommission/ Frankreich; Slg 2007, I-8995 – Kommission/Deutschland = JK 2008, EGV Art 56/5 (Verstoß des VW-Gesetzes gegen die Kapitalverkehrsfreiheit). Vgl aber auch EuGH, EuZW 2013, 946 – Kommission/Deutschland. 9 EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 69 ff – Bosman. 10 Dagegen wird der Begriff in der EMRK (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und „Grundfreiheiten“) sowie in der Verweisungsnorm des Art 6 II 1, III EUV verwendet, hat dort aber eine andere Bedeutung. 11 Vgl Obwexer Grundfreiheit Freizügigkeit, 2009; Wollenschläger Grundfreiheit ohne Markt, 2007, S 122 ff. 12 Streinz ER, Rn 983. 13 Näher dazu → § 26 Rn 4 ff, 38 ff.

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Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten

§7 I2

Die Warenverkehrsfreiheit bezieht sich in erster Linie auf die grenzüberschreitende Mobilität von Produkten,14 dh von körperlichen oder sonstigen handelbaren Gegenständen wie zB Elektrizität. Diese müssen aus der Union stammen oder sich im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden (Art 28 II AEUV).15 Während Art 30 AEUV Ein- und Ausfuhrzölle sowie Abgaben gleicher Wirkung verbietet (sog tarifäre Handelshemmnisse), untersagen die Art 34, 35 AEUV alle mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung (nichttarifäre Handelshemmnisse). Hieraus ergibt sich einerseits ein Diskriminierungsverbot, andererseits ein Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Erzeugnissen, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurden, sowie eine Marktzugangsfreiheit.16 Die Personenverkehrsfreiheit in Gestalt der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit ist primär einschlägig, wenn Unionsbürger (Art 20 AEUV) oder (im Falle der Niederlassung) Gesellschaften (Art 54 AEUV; → § 10 Rn 64 ff) in einen anderen Mitgliedstaat übersiedeln wollen, um sich dort unselbstständig (als Arbeitnehmer) oder dauerhaft selbstständig auf der Grundlage einer festen Einrichtung wirtschaftlich zu betätigen. Doch geht der Schutz weiter. So umfasst die Arbeitnehmerfreizügigkeit zB auch das Recht, sich um im EU-Ausland angebotene Stellen zu bewerben, sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet zu verbleiben.17 Ferner können sich auch die Familienangehörigen des Arbeitnehmers18 (→ § 9 Rn 29) sowie der Arbeitgeber19 und Arbeitsvermittler20 auf die Freiheit berufen. Während die Freizügigkeit der Arbeitnehmer vor allem die abhängig Beschäftigten schützt,21 wendet sich die Niederlassungsfreiheit an die selbstständig Erwerbstätigen22 und erstreckt sich auch auf die Gründung und Leitung von Unternehmen (Art 49 U A II AEUV) sowie von Agenturen und Zweigniederlassungen. Die Berechtigten werden sowohl vor Reglementierungen des Wegzugsstaates23 als auch des Zuzugsstaates24 geschützt.

14 Vgl Jarass EuR 1995, 202, 205. 15 Waren stammen aus der EU, wenn sie in einem Mitgliedstaat vollständig gewonnen, hergestellt oder wesentlich be- oder verarbeitet worden sind, vgl Art 23 VO 2913/92 (Zollkodex), Art 36 VO 450/2008 (Modernisierter Zollkodex). Im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden sich diejenigen Waren aus dritten Ländern, für welche die Einfuhr-Förmlichkeiten erfüllt sowie die vorgeschriebenen Zölle und Abgaben erhoben und nicht ganz oder teilweise rückvergütet worden sind (Art 29 AEUV). 16 Vgl grundl EuGH, Slg 2009, I-519, Rn 34 – Kommission/Italien. 17 Vgl Art 45 III lit a, b, d AEUV; → § 9 Rn 19 ff. 18 Zu den Kindern vgl EuGH, Slg 2002, I-7091, Rn 52 – Baumbast; Slg 2010, I-1107, Rn 60 ff – Teixeira. Vgl auch Art 10 VO 492/2011. 19 EuGH, Slg 1998, I-2521, Rn 16 ff – Clean Car; → § 9 Rn 28. 20 EuGH, Slg 2007, I-181, Rn 24 – ITC = JK 2007, EGV Art 39/6. 21 Vgl Art 1 I VO 492/2011 („Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis“). 22 Geschützt wird sogar die selbständig ausgeübte Prostitutionstätigkeit, vgl EuGH, Slg 2001, I-8615, Rn 32 ff – Jany = JK 2002, EGV Art 43/2. 23 Vgl zB EuGH, Slg 2004, I-2409, Rn 45 ff – de Lasteyrie du Saillant = JK 2004, EGV Art 43/5 (Verbot der Wegzugsbesteuerung). Vgl aber auch EuGH, Slg 2008, I-9641 ff – Cartesio, wonach die Verhinderung des Wegzugs einer Gesellschaft wegen nationalen Rechts, das den Gesellschaftssitz im Inland vorschreibt, keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt. 24 Vgl zB EuGH, Slg 2002, I-10155, Rn 105 – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4 (Gründung einer Gesellschaft im EU-Ausland zwecks Umgehung der Vorschriften des inländischen Gesell-

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§7 I3

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Dirk Ehlers

Die Dienstleistungsfreiheit bezieht sich auf in der Regel entgeltlich erbrachte Leistungen im grenzüberschreitenden Verkehr, soweit sie nicht (schwerpunktmäßig, Rn 76 ff) den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen (Art 57 I AEUV; → § 11 Rn 46 ff) und soweit nicht der Verkehr betroffen ist (Art 58 I AEUV).25 Die Dienstleistungen können nicht nur dadurch erbracht werden, dass Leistungserbringer und Leistungsempfänger in ihrem Aufenthaltsstaat verbleiben und nur die Leistung – zB auf postalischem Wege oder mittels Telekommunikation – die Grenze überquert (Korrespondenzdienstleistungsfreiheit).26 Es ist auch möglich, dass sich entweder die Leistungserbringer (aktive Dienstleistungsfreiheit) oder die Leistungsempfänger (passive Dienstleistungsfreiheit) vorübergehend in den anderen Mitgliedstaat begeben oder dass Leistungserbringer und Leistungsempfänger zum Zwecke der Erbringung der Dienstleistung gemeinsam einen dritten Mitgliedstaat aufsuchen.27 Insoweit garantiert die Dienstleistungsfreiheit auch einen freien Personenverkehr. Da nur der vorübergehende Aufenthalt in einem anderen Staat erfasst wird, geht es allerdings nicht um Integration. Geschützt werden sowohl die Leistungserbringer als auch die Leistungsempfänger. Die Kapitalverkehrsfreiheit gewährleistet die Übertragung von Geld- oder Sachwerten (zB Direktinvestitionen wie dem Erwerb von Beteiligungen an Unternehmen, Immobilieninvestitionen, Transferzahlungen, Wertpapiergeschäfte usw) über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinweg (primär zu Anlagezwecken). Der Freiheit des Zahlungsverkehrs unterfallen alle Zahlungen in Erfüllung einer Gegenleistung mit grenzüberschreitendem Bezug (→ § 12 Rn 3).28 Zum Verhältnis der Grundfreiheiten zueinander vgl Rn 76 ff.

3. Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit der Grundfreiheiten 7

Das Unionsrecht stellt eine von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unabhängige Rechtsordnung mit unmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten dar.29 Unmittelbare Geltung bedeutet, dass die Normen des Unionsrechts ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens

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schaftsrechts); EuZW 2012, 621, Rn 48 ff – Vale Epitesi (Umwandlung einer dem Recht eines anderen Mitgliedstaats unterliegenden Gesellschaft in eine inländische Gesellschaft mittels Gründung). Vgl Müller-Graff in: Streinz, EUV/AEUV, Art 56 AEUV Rn 15 ff. Das kann auch der Fall sein, wenn Dienstleistungserbringer und Dienstleistungsempfänger in demselben Staat ansässig sind und nur die Dienstleistung als solche die Grenze überquert (zB Inanspruchnahme einer Finanzdienstleistung über das EU-Ausland). Näher zum Ganzen auch Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 40 ff. Vgl Roth in: Dauses, HdBEUWirtschR, E I Rn 139 ff; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 27 ff. Vgl Bröhmer in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 63 AEUV Rn 69; Sedlaczek/Züger in: Streinz, EUV/AEUV, Art 63 AEUV Rn 26 f. Wie die Erbschaftssteuer fällt auch die steuerliche Behandlung von Geld- oder Sachspenden unter die Vertragsbestimmungen über den freien Kapitalverkehr, vgl EuGH, Slg 2009, I-359, Rn 27 – Persche = JK 2009, EGV Art 56/6; zur Besteuerung des grenzüberschreitenden unentgeltlichen Verleihs von Kraftfahrzeugen vgl EuGH, EuZW 2012, 551 – Staatssecretaris van Financiën = JK 2013, AEUV Art 63/1. Grundl EuGH, Slg 1963, 3 ff – van Gend & Loos. Anderes gilt nur im Falle ausdrücklich vorgesehener Ausnahmen (zB späteres Inkrafttreten einzelner Vorschriften im Falle eines Beitritts), s sogleich im Text.

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geltendes Recht auch in den Mitgliedstaaten werden.30 Dies wird teils aus der Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung,31 teils aus der Übertragung der nationalen Hoheitsgewalt auf die EU abgeleitet.32 Von der unmittelbaren Geltung des Unionsrechts ist die unmittelbare Wirkung oder Anwendung (Anwendbarkeit) zu unterscheiden.33 Eine unmittelbare Wirkung respektive Anwendbarkeit des Unionsrechts im innerstaatlichen Rechtskreis liegt bei Zugrundelegung eines weiten Verständnisses bereits dann vor, wenn irgendwelche Adressaten des innerstaatlichen Rechtskreises das Unionsrecht beachten müssen. Dies können zB auch die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber sein, beispielsweise wenn und soweit sie verpflichtet sind, eine Richtlinie in nationales Recht umsetzen. Zumeist wird von unmittelbarer Wirkung respektive Anwendbarkeit des Unionsrechts aber nur in einem engeren Sinne gesprochen. Danach soll es darauf ankommen, ob das Unionsrecht den Unionsbürgern und sonstigen Privatpersonen Rechte verleiht oder Pflichten auferlegt.34 Ob dies der Fall ist, hängt von der eigenständigen (autonomen, nicht national gebundenen) Auslegung der Regelungen ab.35 Alle Grundfreiheiten begründen Rechte, auf die sich die geschützten Personen (zum Kreis der Berechtigten vgl Rn 43 ff) auch und gerade vor den nationalen Gerichten berufen können, und legen dem Bindungsadressaten (insbesondere den nationalen Behörden36) unbedingte Verpflichtungen auf.37 Die früher generell vorgesehenen Übergangszeiten38 sind abgelaufen, so dass grds alle Grundfreiheiten im innerstaatlichen Rechtskreis unmittelbar anwendbar sind. Treten neue Mitglieder der EU bei, können in der Beitrittsakte (oder im Vertragsrecht) aber wiederum Übergangsvorschriften vorgesehen werden. Hiervon ist in der Vergangenheit regelmäßig in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit Gebrauch gemacht worden. Die für die Aufnahme von Bulgarien und Rumänien vorgesehenen Übergangsbestimmungen sind mittlerweile abgelaufen. Dagegen darf der Zugang kroatischer Staatsangehöriger für den Arbeitsmarkt der anderen EU-Länder noch maximal bis zum 30.6.2020 beschränkt werden.39 Das einschlägige primärrechtskonforme Sekundärrecht (Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse40) geht den Grundfreiheiten vor, weil ebenso wie im nationalen Recht41 diejenige

30 Vgl EuGH, Slg 1978, 629, Rn 14, 16 – Simmenthal. 31 Grundl EuGH, Slg 1964, 1251, 1269 – Costa/ENEL; Borchardt EU, Rn 135 ff. 32 In Deutschland bestimmt sich die Übertragung der Hoheitsrechte auf die EU nach Art 23 I 2 GG. Näher dazu BVerfGE 52, 187, 199; 73, 339, 372 = JK 87, GG Art 24 I/1; 75, 223, 241; 89, 155 ff = JK 94, GG Art 23/1; 123, 267, 355 f = JK 2009, GG Art 38 I/18; 126, 286, 302 = JK 2010, GG Art 12/16. 33 Die Begriffsbildung ist weder in der Rspr noch in der Lit einheitlich. Zu dem hier verwendeten Sprachgebrauch vgl Ehlers in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, ER, § 11 Rn 8 f. 34 EuGH, Slg 1963, 3, 24 ff – van Gend & Loos; Slg 1978, 629, 643 f – Simmenthal II; Kadelbach Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999, S 57 ff; Borchardt EU, Rn 135. 35 Die unmittelbare Wirkung braucht nicht ausdrücklich angeordnet zu werden, vgl EuGH, Slg 1963, 3, 25 – van Gend & Loos. 36 Näher dazu Rn 52. 37 Vgl EuGH, Slg 1974, 1337 (Arbeitnehmerfreizügigkeit) – van Duyn; Slg 1974, 631, 652 (Niederlassungsfreiheit) – Reyners; Slg 1974, 1299 (Dienstleistungsfreiheit) – van Binsbergen. 38 Art 7 I, Art 31, 33, 35, Art 48 I, Art 52 I, Art 59 I, Art 67 EWGV. 39 Vgl ABl EU L 112 mit Anhang V (24.4.2012). 40 Art 288 II-IV AEUV. 41 S nur Ehlers in: Erichsen/ders (Hrsg) Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl 2010, § 2 Rn 94.

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Rechtsquelle anzuwenden ist, die dem zu entscheidenden Fall am nächsten steht.42 Nur wenn das (primärrechtskonforme) Sekundärrecht keine abschließenden Regelungen trifft, entfalten die Grundfreiheiten ihre Wirkungen. Zurückgedrängt werden können die Grundfreiheiten vor allem durch horizontale, sektorübergreifende Sekundärrechtsbestimmungen, wie dies etwa für die Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt zutrifft.43 Umgekehrt lassen sich aus nicht anwendbaren Sekundärrechtsbestimmungen uU Anhaltspunkte für eine Auslegung der Grundfreiheiten entnehmen: so zB für die Vereinbarkeit der Vergabe öffentlicher Aufträge unterhalb der in den Vergaberichtlinien44 festgelegten Schwellenwerte mit den Grundfreiheiten.45 In keinem Fall darf das Sekundärrecht den Grundfreiheiten widersprechen.46 Auch muss es im Lichte der Grundfreiheiten ausgelegt werden.47 Dem Unionsgesetzgeber bleibt es grds unbenommen, Sekundärrechtsbestimmungen zu erlassen, welche die Freiheit verstärken, in dem sie mitgliedstaatliche Beschränkungsmöglichkeiten abbauen, wenn hierfür eine Ermächtigungsgrundlage im AEUV vorgesehen ist. Doch geht in mehrpoligen Rechtsverhältnissen die Freiheit des einen fast immer zu Lasten der Freiheit des anderen. So mögen unterschiedliche mitgliedstaatliche Werbeverbote für Tabakerzeugnisse geeignet sein, den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr zu beschränken. Verbietet die EU durch eine Richtlinie aber nahezu vollständig die Werbung für Tabakerzeugnisse in der Presse und im Rundfunk,48 werden nicht nur Hemmnisse für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr (in Gestalt unterschiedlicher Verbote) ausgeräumt, sondern gleichzeitig die nicht nur durch die Unionsgrundrechte (Art 16 GRCh), sondern auch durch die Grundfreiheiten garantierten Freiheitsrechte der Tabakindustrie, Presseunternehmen und Rundfunkanstalten beschränkt.49 Beschränkungen der Grundfreiheiten müssen sich rechtfertigen lassen, wobei der EU prinzipiell dieselben Rechtfertigungsgründe wie den Mitgliedstaaten zustehen.50 Nähere Vorgaben darüber, welche Belange die EU verfolgen darf,

42 EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8 – Cassis de Dijon; Slg 2010, I-12213, Rn 41 – Ker-Optika; EuZW 2012, 797, Rn 17 ff – Fra.bo = JK 2013, AEUV Art 34/2 (Fall 6); v Bogdandy JZ 2001, 157, 166; Oexle AbfallR 2003, 284, 288. Enthält das Sekundärrecht ein Verbot, steht dieses entgegen EuGH, Slg 2002, I-14887, Rn 52 – DocMorris = JK 2004, EGV Art 28/4 (Fall 1) dem Rückgriff auf die Grundfreiheiten nicht entgegen, vielmehr bezieht sich das Sekundärrecht nur auf die Rechtfertigung der Beeinträchtigung der jeweiligen Grundfreiheiten. 43 RL 2006/123. Vgl dazu Calliess DVBl 2007, 336 ff; Waldheim Dienstleistungsfreiheit und Herkunftslandprinzip, 2008, S 306 ff. 44 Vgl einerseits RL 92/13; andererseits RL 2004/17; RL 2004/18, die durch neue VergabeRL gemäß eines Beschlusses des EP vom 15.1.2014 ersetzt werden. 45 Vgl EuGH, Slg 2001, I-9505, Rn 20 ff – Vestergaard; Slg 2008, I-3565, Rn 20 – SECAP; Slg 2009, I-12169, Rn 22 – Serrantoni; Mitteilung der EU-Kommission ABl 2006/C 179/02 v 1.8.2006. 46 Vgl auch EuGH, Slg 1994, I-3879 Rn 11 – Meyhui; Slg 2001, I-5901, Rn 37 – Schwarzkopf. 47 Vgl zu einem Beispielsfall EuGH, Slg 2008, I-1989 ff – Rüffert. 48 So Art 3 u 4 RL 2003/33. Vgl dazu EuGH, Slg 2006, I-11573 ff – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2007, EGV Art 95 I/4. 49 Der EuGH ist hierauf in seiner Entscheidung Slg 2006, I-11573 ff – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2007, EGV Art 95 I/4, nicht eingegangen. 50 EuGH, Slg 2005, I-6451, Rn 48 ff – Alliance for Natural Health; Leible/T. Streinz in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 34 AEUV Rn 48.

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ergeben sich aus den Unionspolitiken.51 So sieht Art 114 III AEUV für die Rechtsangleichung in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz ein hohes Schutzniveau vor. Soweit durch diesbezügliche Sekundärrechtsbestimmungen die Grundfreiheiten eingeschränkt werden, lässt sich dieses jedenfalls grds rechtfertigen. Der EuGH prüft bisher selten die Konformität des Sekundärrechts mit den Grundfreiheiten.52 Soweit ersichtlich, ist bisher nur einmal ein Verstoß angenommen worden.53 Für die Vereinbarkeit des Sekundärrechts mit den Grundfreiheiten gelten dieselben Prüfungsmaßstäbe wie für das mitgliedstaatliche Recht (Beachtung des Diskriminierungsund Beschränkungsverbots)54, wobei es allerdings auf die Auswirkungen auf den gesamten Binnenmarkt ankommt.55

4. Subjektiv-rechtlicher Charakter der Grundfreiheiten Ein freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten kann sich nur entwickeln, wenn die Grundfreiheiten nicht nur Bindungen erzeugen, sondern dem Einzelnen die Rechtsmacht eingeräumt wird, sich gegenüber den Verpflichteten auf die Freiheitsverbürgungen zu berufen. Seit dem Urteil van Gend & Loos 56 besteht Übereinstimmung darüber, dass die Grundfreiheiten nicht nur objektiv-rechtliche Wirkungen entfalten, sondern dem Schutz der einzelnen Wirtschaftsteilnehmer zu dienen bestimmt sind. Somit stellen sie (iSd deutschen Sprachgebrauchs) subjektive Rechte dar.57 Dies bedeutet, dass sie vor den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können (Rn 138 ff).

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5. Vorrang der Grundfreiheiten Die für das Verhältnis von Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht entwickelten Grundsätze gelten auch für die Grundfreiheiten. Als supranationales Recht unterscheidet sich das Unionsrecht vom Völkerrecht. Kollidieren Unionsrecht und nationales Recht, kommt Ersterem – nach Ansicht des EuGH in jedem Falle,58 nach Ansicht des BVerfG nur in den Grenzen der Solange-Rspr59 – Vorrang zu. Da nicht vorstellbar ist, dass die

51 Frenz GF, Rn 513; zur Auslegung der Grundfreiheiten im Lichte der Kompetenzordnung vgl Valta Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S 436 ff. 52 Vgl hier die Auflistung der Rspr bei Zazoff Der Unionsgesetzgeber als Adressat der Grundfreiheiten, S 19 f, 79 ff (der Verf geht zu Unrecht davon aus, dass die EU grds nur an die positive Seite der Grundfreiheiten – nicht die negativen – gebunden ist). 53 EuGH, Slg 1978, 928, Rn 35 f, 38 – Commissionaires Réunis. 54 Rn 24 ff, wie hier Scheffer Die Marktfreiheiten des EG-Vertrages als Ermessensgrenze des Gemeinschaftsgesetzgebers, 1997, S 141 ff, 171 ff; aA Schwemer Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, 1995, S 191 ff (nur Bindung an das Diskriminierungsverbot). 55 Frenz GF, Rn 343. 56 EuGH, Slg 1963, 3, 25 – van Gend & Loos. 57 Allgemein zur Frage, wann klagefähige Rechte aus dem Unionsrecht hergeleitet werden können, vgl Ehlers Die Europäisierung des Verwaltungsprozeßrechts, 1999, S 47 ff; dens DVBl 2004, 1441, 1445 f. 58 Vgl EuGH, Slg 1964, 1251, 1271 – Costa/ENEL; Slg 1970, 1125, Rn 3 – Internationale Handelsgesellschaft; Slg 1990, I-2433, Rn 18 – Factortame. 59 Vgl BVerfGE 37, 271, 280 ff; 73, 339, 375 ff = JK 87, GG Art 24 I/1; 89, 155, 174 f; 102, 147, 161 ff; 123, 267, 402 = JK 2009, GG Art 38 I/18; 126, 286, 301 f = JK 2010, GG Art 12/16.

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„Identität der geltenden Verfassungsordnung“60 der Mitgliedstaaten mit den Grundfreiheiten in Widerstreit geraten könnte, gelten die Grundfreiheiten ausnahmslos vorrangig.61 Bei dem Vorrang handelt es sich um einen Anwendungs-, nicht um einen Geltungsvorrang.62 Dies bedeutet, dass das den Grundfreiheiten widersprechende (unionsrechtswidrige) staatliche Recht gültig bleibt, aber insoweit unanwendbar ist, als das Unionsrecht selbst unmittelbare Anwendung verlangt. Zur Nichtanwendung des dem Unionsrecht widersprechenden nationalen Rechts sind alle mit der Rechtssache befassten staatlichen Instanzen (wie Regierung, Verwaltung und Gerichte63) – und darüber hinaus auch die privaten Bindungsadressaten der Grundfreiheiten (Rn 54 ff) – verpflichtet.

6. Abgrenzung zu anderen Rechten des primären Unionsrechts 12

Das Primärrecht der EU (dh das Vertragsrecht der EU und EAG inklusive der Protokolle und Anhänge, Art 51 EUV, die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze und das die Verträge ergänzende Gewohnheitsrecht) gewährleistet neben den Grundfreiheiten zahlreiche weitere Rechte. Sie sind von den Grundfreiheiten abzugrenzen. Unterschieden werden kann zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Rechten. a) Geschriebene Rechte aa) Unionsgrundrechte

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Herausragende Bedeutung kommt neben den Grundfreiheiten insbesondere den in der Grundrechtecharta kodifizierten Unionsgrundrechten zu (→ § 14). Grundfreiheiten und Unionsgrundrechte unterscheiden sich zwar in verschiedener Hinsicht. So geht es den Grundfreiheiten in erster Linie um die Schaffung eines (transnationalen) Binnenmarktes (Art 26 II AEUV), während die Unionsgrundrechte Freiheit und Gleichheit (sowie Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte) zweckfrei schützen.64 Anders als die Unionsgrundrechte gelten die Grundfreiheiten nur für grenzüberschreitende Sachverhalte (Rn 25, 31). Ferner richten sich die Grundfreiheiten primär gegen die Mitgliedstaaten, die Uni-

60 BVerfGE 37, 271, 279 – Solange I; 73, 339, 375 ff = JK 87, GG Art 24 I/1 – Solange II; 123, 267, 340 ff = JK 2009, GG Art 38 I/18. 61 So steht bspw die RL 96/71, ausgelegt im Lichte des Art 56 AEUV, nationalen Tariftreueregelungen bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge entgegen, s EuGH, Slg 2008, I-1989 ff – Rüffert. 62 EuGH, Slg 1991, I-297, Rn 19 – Nimz; BVerfGE 75, 223, 244; 85, 191, 204 = JK 92, GG Art 3 II, Art 3 III/6; Jarass/Beljin NVwZ 2004, 1 ff. Zu den Ausnahmen (Nichtigkeit) vgl Ehlers (Fn 41) § 2 Rn 112, sowie allg auch dens JURA 2011, 187, 190. 63 Vgl EuGH, Slg 1989, 1839, Rn 28 ff – Costanzo; Slg 2010, I-47, Rn 80 – Petersen; Slg 2010, I-9849, Rn 61 – Fuß. Krit Schmidt-Aßmann in: Ehlers/Krebs (Hrsg) Grundfragen des Verwaltungsrechts und Kommunalrechts, 2000, S 1, 17 ff. Zur Einwirkung der Grundfreiheiten auf die Auslegung nationalen Rechts Desens in: Matz-Lück/Hong (Hrsg) Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen, 2012, S 203, 209 ff. 64 Kingreen (in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34-36 AEUV Rn 5 ff) unterscheidet zwischen den transnationalen Integrationsnormen der Grundfreiheiten und den supranationalen Legitimationsnormen der Unionsgrundrechte. Den Grundfreiheiten wird eine negative, den Unionsgrundrechten eine positive Integrationswirkung zugesprochen (Rn 7). Die Entgegensetzung von negativer und positiver Zielsetzung ist problematisch. Unstr ist zudem, dass die EU nicht nur auf rechtstaatlichen Erfordernissen beruht, die in den Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten zum Ausdruck kommen, sondern auch und gerade auf der Demokratie (Art 2 EUV).

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onsgrundrechte primär gegen die EU. Staatliche Einrichtungen können sich zwar auf die Grundfreiheiten (Rn 46), nicht aber auf die Unionsgrundrechte65 berufen. Umgekehrt sind die Privaten (unter bestimmten Voraussetzungen) unmittelbar an die Grundfreiheiten, nicht aber an die Unionsgrundrechte66 gebunden (Rn 54 ff). Dies alles ändert nach der hier vertretenen Ansicht aber nichts daran, dass die Grundfreiheiten spezielle – stets sowohl Freiheit als auch Gleichheit schützende – Formen der Unionsgrundrechte darstellen.67 Inhaltlich betreffen die Grundfreiheiten und Unionsgrundrechte weitgehend andere Gewährleistungen, mag die berufliche und unternehmerische Betätigung auch von beiden geschützt werden.68 Doch kann es zu Überschneidungen kommen, vor allem wenn es um die Rechtmäßigkeit von Beschränkungen der Grundfreiheiten oder der Unionsgrundrechte geht.69 Als Bestandteile des EU-Primärrechts sind die Grundfreiheiten und Unionsgrundrechte gleichrangig und müssen demgemäß aufeinander abgestimmt interpretiert werden.70 Wird ein Sachverhalt tatbestandlich sowohl von Grundfreiheiten als auch den Unionsgrundrechten erfasst, spricht der konkretere Charakter der Grundfreiheiten sowie die Vorrangbestimmung des Art 52 II GRCh (→ § 14 Rn 24 ff) dafür, zunächst von diesen auszugehen. Verstärken die Unionsgrundrechte den Schutz der Grundfreiheiten (etwa indem sie auch andere Aspekte unter Schutz stellen), entfalten sie in ihrer Eigenschaft als Schranken-Schranken insofern ihre volle Wirkung, als es um die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten geht (Rn 123; → § 14 Rn 25). Die Grundfreiheiten werden verletzt, wenn ihre Beeinträchtigung den Unionsgrundrechten widerspricht. Andererseits können die Unionsgrundrechte aber auch mit den Grundfreiheiten kollidieren. Es ist dann im Wege einer der praktischen Konkordanz verpflichteten Abwägung zu ermitteln, welche primärrechtliche Verbürgung sich im konkreten Fall durchsetzt (Rn 115; → § 14 Rn 9).

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bb) Allgemeines Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV Art 18 I AEUV verbietet „unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge“ jede Diskriminierung „aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ (→ § 13). Wie der Vorbehalt zeigt, kommt Art 18 AEUV nur zum Zuge, wenn die Verträge keine besondere Regelung der Nichtdiskriminierung vorsehen.71 Da die Grundfreiheiten jedenfalls auch Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbieten (Rn 24), steht Art 18 AEUV in einem Subsidiaritätsverhältnis zu den Grundfreiheiten, tritt also hinter diesen zurück. Dagegen werden weder der von der Rspr entwickelte, in Art 20 GRCh positivierte allgemeine Gleichheitssatz (→ § 21 Rn 4), noch die besonderen Gleichheitssätze der Art 157 I AEUV, 21 ff GRCh verdrängt, weil diese Normen (auch und gerade) andere Ungleichbehandlungen verbieten.72 → § 14 Rn 59. → § 14 Rn 81. Rn 24 ff, 30 ff; → § 14 Rn 22. Vgl Art 15, 16 GRCh (mit Art 15 II). AA Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34-36 AEUV Rn 27. Jarass GRCh, Einl, Rn 10, 25. EuGH, Slg 1996, I-929, Rn 20 – Skanavi u Chryssanthakopoulos. Vgl zB aber auch EuGH, Slg 1993, I-5145, Rn 17 – Collins. 72 Art 21 II GRCh entspricht der Regelung des Art 18 AEUV, tritt also hinter die Grundfreiheiten zurück, soweit deren Diskriminierungsverbote zum Zuge kommen.

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cc) Sonstige Gleichheitsrechte 16

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Neben Art 18 AEUV ergeben sich aus dem Vertrag und aus der GRCh in erheblichem Ausmaße weitere allgemeine (Art 9 EUV; Art 20 f GRCh) und besondere Gleichheitsrechte. Dazu gehören der allgemeine Gleichheitssatz des Art 20 GRCh sowie die besonderen Gleichheitsrechte der Art 21 ff GRCh. Sie werden von den Grundfreiheiten nicht verdrängt, soweit die Normen auch und gerade andere Ungleichbehandlungen verbieten. Weiteren Normen geht es um das Verbot einer Schlechterstellung der EU-Ausländer gegenüber den Inländern sowie um die Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen auf dem Binnenmarkt. Hinzuweisen ist etwa auf die auch den Einzelnen schützenden Verbote der Art 9273 und 11074 AEUV. Die Vorschriften ergänzen oder verdrängen als leges speciales die Grundfreiheiten. Gelegentlich verbieten die EU-Vorschriften auch andere Ungleichbehandlungen. ZB sind nach Art 40 II UA 2 AEUV Diskriminierungen zwischen Erzeugern oder Verbrauchern innerhalb der Union im Rahmen einer gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte auszuschließen. Besondere Bedeutung kommt der Bestimmung des Art 157 AEUV zu, die den Frauen und Männern mit unmittelbarer Wirkung75 auch im Verhältnis zu nichtstaatlichen Arbeitgebern ein gleiches Entgelt garantiert (selbst wenn nur Inländer betroffen sind) und darüber hinaus weitere Festlegungen für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Arbeits- und Beschäftigungsfragen trifft (→ § 21 Rn 23 ff).76 Vorschriften der genannten Art haben einen anderen Regelungsgehalt als die Grundfreiheiten und treten daher neben diese. dd) Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft

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Zum Anwendungsbereich der Verträge iSd Art 18 AEUV gehören auch die Vorschriften über die Unionsbürgerschaft. Der EuGH sieht in der Unionsbürgerschaft eine Regelung des grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten (→ § 26 Rn 94)77 und leitet daraus weitreichende Folgerungen ab. Mit der Unionsbürgerschaft verknüpft sich (ua) ein Aufenthalts- und Freizügigkeitsrecht (Art 20 II UA 1 S 2 lit a, 21 I AEUV). Aus dem Kernbestand der Unionsbürgerrechte kann sich uU auch ein Aufenthaltsrecht Drittstaatsangehöriger Familienangehöriger (Eltern) ergeben, selbst wenn es an einem grenzüberschreitenden Bezug fehlt.78 Das Freizügigkeitsrecht verbietet nicht nur Beschränkungen

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Vgl EuGH, Slg 1992, I-3141, Rn 13 ff – Kommission/Deutschland. Vgl EuGH, Slg 1966, 257, 265 ff – Lütticke. EuGH, Slg 1976, 455, Rn 4 ff – Defrenne. Die Quotenregelungen im öffentlichen Dienst (vgl EuGH, Slg 1995, I-3051, Rn 21 ff – Kalanke; Slg 1997, I-6363, Rn 23 ff – Marschall = JK 98, GG Art 3 II/8; Slg 2000, I-1875, Rn 13 ff – Badeck) sowie die Beschäftigung von Frauen in den Streitkräften (vgl EuGH, Slg 1999, I-7403, Rn 21 ff – Sirdar; Slg 2000, I-69, Rn 10 ff – Kreil = JK 2000, EGV Art 141/2) sind bisher nur am sekundären Unionsrecht gemessen worden. S auch EuGH, Slg 2011, I-773 ff – Association belge des Consommateurs Test-Achats = JK 2011, RL 2004/113, Art 5 II/1. 77 Vgl EuGH, Slg 2001, I-6193, Rn 31 – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1; krit zur Europäisierung der Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht durch den „Unionsbürgerstaat“ Schoch FS Hailbronner, 2013, S 355 ff. 78 EuGH, Slg 2011, I-1177 – Ruiz Zambrano. Zu den Grenzen der Kernbereichsrspr EuGH, Slg 2011, I-3375 – McCarthy; Slg 2011, I-11315, Rn 66 ff – Dereci = JK 2011, RL 95/46, Art 28/1.

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eines Wegzugs in einen anderen Mitgliedstaat – etwa in Gestalt der Kürzung von Sozialleistungen79 oder einer Erhöhung der Steuer80 – sowie der Einreise, des Aufenthalts und der freien Bewegung im Zuzugsstaat, vielmehr entnimmt der EuGH Art 21 iVm Art 18 AEUV zugleich ein Recht auf Inländergleichbehandlung81, das durch die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38 seine sekundärrechtliche Ausformung erhalten hat (zur Inländerdiskriminierung vgl Rn 25). Aus dem Recht auf Inländergleichbehandlung kann sich ein Recht auf Teilhabe an sozialen Vergünstigungen (Rn 37) und auf gleichberechtigten Zugang zu sonstigen Leistungsansprüchen ergeben (→ § 26 Rn 43). Das Recht auf Freizügigkeit iVm Art 18 AEUV hat sich damit zu einem Auffangrecht entwickelt.82 Inhaltlich überschneidet es sich mit den den Personenverkehr schützenden Grundfreiheiten (Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit). Doch gehen die Grundfreiheiten dem Recht auf Freizügigkeit iVm dem Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV vor, soweit die Berechtigten als Wirtschaftssubjekte angesprochen werden und eine Diskriminierung oder Beschränkung aufgrund der Staatsangehörigkeit vorliegt. Der Auffangcharakter des Rechts auf Freizügigkeit iVm Art 18 AEUV zeigt sich etwa im Namensrecht. So soll die Ablehnung, den Namen eines Kindes anzuerkennen, der in einem anderen Mitgliedstaat bestimmt und eingetragen wurde, gegen Art 21 iVm 18 AEUV verstoßen können83, wohingegen für die Löschung eines im Wege der Erwachsenenadoption erworbenen Adelstitels anderes angenommen wurde84. Keinerlei Überlappungen ergeben sich mit den sonstigen Unionsbürgerrechten wie dem Wahlrecht (Art 22 AEUV), dem Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz in Drittländern (Art 23 AEUV), dem Petitionsrecht (Art 24 AEUV) sowie dem Recht auf Zugang zu Dokumenten der Unionsorgane (Art 15 AEUV). b) Ungeschriebene Rechte Von den Grundfreiheiten abzugrenzen sind schließlich die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, die der EuGH auf der Grundlage des Art 19 I 2 EUV vornehmlich als Ausprägung der Rechtstaatlichkeit (Art 2 S 1 EUV) aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und den internationalen Verträgen im Wege der wertenden Rechtsvergleichung abgeleitet hat. Zu nennen sind einerseits die Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV, andererseits etwa das Gesetzmäßigkeitsprinzip, die verfahrensrechtlichen Grundsätze der Rechtssicherheit (Bestimmtheit, Vertrauensschutz, Verbot der Rückwirkung)85 oder das Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Rn 126 ff). Viele dieser Rechtsgrundsätze – namentlich die zunächt von der Rspr entwickelten Unions-

79 EuGH, Slg 2006, I-6947, Rn 39 – De Cuyper = JK 2007, EGV Art 18/1. 80 EuGH, Slg 2006, I-10685, Rn 39 – Turpeinen. 81 Grundl EuGH, Slg 2001, I-6193, Rn 34 ff – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1; vgl auch EuGH, Slg 2002, I-7091 – Baumbast; Slg 2002, I-6191 – D’Hoop; Slg 2005, I-2119 – Bidar = JK 2005, EGV Art 12 I/2; Slg 2005, I-5969 – Kommission/Österreich = JK 2006, EGV Art 12/3; Slg 2004, I-7573 – Trojani; Slg 2010, I-2735, Rn 66 ff – Bressol; krit Hailbronner NJW 2004, 2185 ff; ders JZ 2005, 1138, 1139 f; Sander DVBl 2005, 1014 ff. 82 Dörr FS Rengeling, 2008, S 205, 213. 83 Vgl EuGH, Slg 2008, I-7841, Rn 22 ff – Grunkin u Paul = JK 2009, EGV Art 18/3. 84 EuGH, Slg 2010, I-13693, Rn 93 ff – Sayn-Wittgenstein. Vgl auch EuGH, Slg 2011, I-3818, Rn 71 – Runevic-Vardyn. 85 Näher zum Ganzen Schwarze Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl 2005, S 911 ff, 1135 ff.

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grundrechte sowie die Rechte auf eine gute Verwaltung86 – sind mittlerweile positiviert worden. Soweit dies noch nicht geschehen ist, behalten die allgemeinen Rechtsgrundsätze ihre Bedeutung, weil die mitgliedstaatlichen (oder unionalen) Beschränkungen der Grundfreiheiten an ihnen gemessen werden müssen.

7. Dogmatik der Grundfreiheiten 20

Obwohl die Grundfreiheiten von konstitutiver Bedeutung für den Wirtschaftsverkehr in der Union sind, besteht über ihre dogmatische Strukturierung keine Einigkeit. Auch der EuGH verfolgt nicht immer eine klare Linie. Nach der hier vertretenen Ansicht lassen sich aber in allen Grundfreiheiten Strukturidentitäten feststellen, die einheitliche dogmatische Lösungen erfordern. Insofern kann von einer Konvergenz der Grundfreiheiten gesprochen werden.87 Diesem Ansatz folgend sollen zunächst nur die übergreifenden Aspekte der Grundfreiheiten in den Blick genommen werden. Die folgenden Beiträge des Lehrbuchs gehen auf die Freiheiten im Einzelnen ein.

II. Funktionen der Grundfreiheiten 21

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Fall 1: (EuGH, Slg 2003, I-14887 ff – DocMorris I = JK 2004, EGV Art 28/4) Das in den Niederlanden ansässige Unternehmen DocMorris betreibt einen staatlich genehmigten Versandhandel mit apothekenpflichtigen Medikamenten. Über das Internet werden Humanarzneimittel auch in deutscher Sprache zum Kauf angeboten. Der deutsche Apothekerverband sah darin einen Verstoß gegen das deutsche Arzneimittelgesetz von 1998 (AMG) und klagte vor dem Landgericht auf Unterlassung nach den §§ 1, 13 UWG. Das Landgericht hatte Zweifel an der Unionsrechtskonformität der maßgeblichen, den Verkauf von Medikamenten im Internet verbietenden Bestimmung des AMG und legte dem EuGH nach Art 267 AEUV die Frage vor, ob die Bestimmung mit Art 34 AEUV vereinbar ist. Abwandlung Fall 1: (EuGH, Slg. 2009, I-4171 – DocMorris II = JK 2009, EGV Art 43/11): Verstößt das deutsche Apothekenrecht, welches Personen, die keine Apotheker sind, den Besitz und den Betrieb von Apotheken verwehrt, gegen die Niederlassungsfreiheit der niederländischen Kapitalgesellschaft DocMorris?

Zielsetzung der Grundfreiheiten ist es, einen Binnenmarkt (Rn 1) mittels Gewährung eines Anspruchs der Marktteilnehmer auf diskriminierungsfreien Zugang zu den EU-ausländischen Märkten und gleichzeitiger Beschränkung der staatlichen Regulierungsmöglichkeiten zu garantieren. Dies zeigt, dass den Grundfreiheiten verschiedene Funktionen zukommen. Rechtstechnisch stellt sich zum einen die Frage, ob es sich bei den Grundfreiheiten nur um Gleichheitsrechte (Rn 24 ff) oder auch um Freiheitsrechte (Rn 30 ff) handelt, die dem Einzelnen Abwehrrechte vermitteln. Zum anderen bedarf der Klärung, ob die Grundfreiheiten auch Leistungsrechte (Rn 35 ff) und Verfahrensrechte (Rn 41) enthalten und ihnen eine objektiv-rechtliche Bedeutung (Rn 42) zukommt. Dagegen lassen

86 Vgl nunmehr Art 41 GRCh. 87 Deutlich zurückhaltender Steinberg EuGRZ 2002, 13 ff.

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sich den Grundfreiheiten keine staatsbürgerlichen oder unionsbürgerlichen Rechte entnehmen.88

1. Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte a) Das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten Den Grundfreiheiten werden in erster Linie Diskriminierungsverbote entnommen, die das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV bereichsspezifisch konkretisieren.89 Ein Binnenmarkt lässt sich nicht verwirklichen, wenn EU-Ausländer im Falle eines grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs schlechter als Inländer behandelt werden. Dementsprechend bestimmt Art 36 S 2 AEUV, dass Einfuhr- oder Ausfuhrbeschränkungen zwar unter gewissen Voraussetzungen zulässig sind, diese aber niemals „ein Mittel der willkürlichen Diskriminierung“ (oder eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten) sein dürfen. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gebietet „die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung“ (Art 45 II AEUV), die Niederlassungsfreiheit umfasst die Aufnahme und die Ausübung von Tätigkeiten „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen“ (Art 49 II AEUV) und die Dienstleistungsfreiheit ermöglicht den vorübergehenden Aufenthalt in einem anderen Staat „unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt“ (Art 57 S 3 AEUV). Der Kapital- und Zahlungsverkehr schützt vor Beschränkungen „zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“ (Art 63 I, II AEUV). Bei den Beschränkungen kann es sich auch und gerade um diskriminierende Belastungen handeln.

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b) Der Vergleichsmaßstab Wann eine Diskriminierung iSd Grundfreiheiten vorliegt, hängt von dem zugrunde zu legenden Vergleichsmaßstab ab. Die Grundfreiheiten beziehen sich auf Maßnahmen „zwischen den Mitgliedstaaten.“90 Sie richten sich primär auf Marktzugang (Rn 30), nicht auf vollständige Marktgleichheit im gesamten Unionsgebiet. Daher erfassen sie nach der zutreffenden stRspr des EuGH91 – anders als die Unionsgrundrechte – nur grenzüberschreitende Sachverhalte.92 Ausreichend ist, dass jedenfalls ein Element des Sachverhaltes über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinausgeht. Während der EuGH ursprünglich darauf abgestellt hat, dass allein die hypothetische Möglichkeit eines Grenzübertritts nicht 88 Vgl aber auch EuGH, Slg 2004, I-8291, Rn 30 ff – Kommission/Österreich: Verletzung des Art 45 AEUV wegen Ausschlusses der Arbeitnehmer und Angestellten aus anderen Mitgliedstaaten der EU (oder des EWR) vom passiven Wahlrecht in der Kammer für Arbeiter und Angestellte. 89 Vgl Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, S 7; → § 21 Rn 2, 15; Meyer Das Diskriminierungsverbot des Gemeinschaftsrechts als Grundsatznorm und Gleichheitsrecht, 2002, S 29 f; vgl aber auch Plötscher Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Recht, 2003, S 136. 90 So ausdrücklich Art 34 AEUV; ähnlich die Art 45 I, II AEUV, 49 UA 1 AEUV, 56 UA 1 AEUV, 63 I, II AEUV. 91 Vgl zB EuGH, Slg 1979, 1129, Rn 11 – Saunders; Slg 1992, I-341, Rn 9 – Steen I; Slg 1994, I-2715, Rn 9 – Steen II; Slg 1995, I-301, Rn 10 ff – Aubertin; Slg 1997, I-195, Rn 19 ff – USSL No 47 di Biella; Slg 2008, I-1683, Rn 33 – Gouvernement de la Communauté francaise; Slg 2011, I-3375 Rn 45 – McCarthy. 92 Vgl auch Gundel DVBl 2007, 269, 270 f. AA zB Epiney (Fn 89) S 201, 203, 209 f; Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, S 55 ff.

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ausreicht,93 sind die Anforderungen über die Annahme einer Grenzüberschreitung in der jüngeren Rechtsprechung kontinuierlich gesenkt worden.94 Im Einzelnen kann es schwierig sein, interne von grenzüberschreitenden Sachverhalten abzugrenzen.95 So schließt der Umstand, dass ein Inländer seinen Heimatsstaat verklagt hat, noch nicht aus, die zugrundeliegende nationale Vorschrift am Maßstab der Grundfreiheiten zu überprüfen. Es komme nämlich nur darauf an, ob die Vorschrift auch die Interessen von Personen oder Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten berühre, nicht darauf, ob solche Personen an dem Rechtsstreit beteiligt sind.96 Lässt sich ein grenzüberschreitender Bezug feststellen, ist ein Vergleich zwischen dem inländischen und dem ausländischen Sachverhalt anzustellen.97 Dagegen fungieren die Grundfreiheiten nicht als Maßstab für sonstige Ungleichbehandlungen. Insbesondere können rein innerstaatliche Sachverhalte nicht an den Grundfreiheiten gemessen werden. Dies impliziert zugleich, dass den Mitgliedstaaten eine (reine) Inländerdiskriminierung durch die Grundfreiheiten nicht untersagt wird.98 Selbst wenn sich aus dem Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV iVm den Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft entgegen der hier vertretenen Auffassung das Verbot einer Inländerdiskriminierung ableiten lassen sollte,99 würden die Grundfreiheiten diesen Vorschriften als leges speciales vorgehen. Deshalb ist es zB nicht unionsrechtswidrig, das deutsche Reinheitsgebot für Bier nur für deutsche Brauereien oder die Meisterprüfung nach der Handwerksordnung nur für deutsche Handwerker aufrechtzuerhalten.100 Ob Inländerdiskriminierungen mit dem nationalen Recht vereinbar sind, bestimmt dieses selbst.101 Während etwa in Österreich102 und Italien103 ein Verfassungsverstoß angenommen wird, verbietet das deutsche Verfassungsrecht eine solche Diskriminierung in der Regel nicht. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art 3 I GG dürfte bereits deshalb ausscheiden, weil die Vorschrift nur Bindungswirkungen für den jeweiligen Hoheitsträger innerhalb seines Kompetenzbereichs entfaltet und somit unionsrechtliche Regelungen nicht mit nationalen verglichen werden können.104 Der Umstand, dass die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsrechte auf die EU übertragen hat, bedeutet nicht, dass das gesamte Primärrecht der EU so zu behandeln ist, als habe es die Bundesrepublik selbst erlassen.105

93 94 95 96 97 98

99 100 101 102 103 104 105

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EuGH, Slg 1984, 2539, Rn 18 – Moser; Slg 1997, I-2629, Rn 16 – Kremzow. Vgl Lippert Der grenzüberschreitende Sachverhalt im Unionsrecht, 2013, S 198 ff, 229. Vgl zB Kingreen (Fn 1) S 140 ff. Vgl EuGH, NVwZ 2012, 1162, Rn 20 f – SIA Garkalns; EuZW 2013, 507, Rn 34 – Libert. Geht es nicht um die Beurteilung einer mitgliedstaatlichen, sondern einer EU-Maßnahme, ist stets ein grenzüberschreitender Sachverhalt anzunehmen. Vgl zB Streinz ER, Rn 822. Zur Terminologie und zu begrifflichen Abgrenzungsfragen der „umgekehrten Diskriminierung“ und „Inländerdiskriminierung“ s Lach Umgekehrte Diskriminierungen im Gemeinschaftsrecht, 2008, S 20 ff, der beide Begriffe als gleichwertig anerkennt. ZB Borchardt EU, Rn 1108; Lach (Fn 98) S 220 ff. AA zu Recht Kingreen → § 21 Rn 13 ff. Zur Unionsrechtswidrigkeit für Importverbote für nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraute Biere aus dem EU-Ausland vgl Fn 2. Krit hierzu Lach (Fn 98) S 371 ff. ÖVerfGH, ÖZW 1999, 51; EuGRZ 1997, 362; EuZW 2001, 219. Corte Constituzionale, 30.12.1997 – No 443, RIDPC 1998, 246. BVerfGE 21, 54, 68; 51, 43, 58 f; 79, 127, 158. Vgl demgegenüber aber auch Kokott in: Lehner (Hrsg) Grundfreiheiten im Steuerrecht der EUStaaten, 2000, S 1, 16; Gundel DVBl 2007, 269, 272; Riese/Noll NVwZ 2007, 516, 520 f. Näher zum Ganzen Wesser Grenzen zulässiger Inländerdiskriminierung, 1995, S 165 ff.

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Zudem betrifft die Behandlung grenzüberschreitender und innerstaatlicher Vorgänge unterschiedliche Sachverhalte.106 Die deutschen Freiheitsrechte (namentlich Art 12 GG) stehen einer Inländerdiskriminierung nur entgegen, wenn das Regelungsziel wegen der Ausklammerung der EU-Ausländer nicht mehr erreicht werden kann. So lässt sich eine Bindung nur der deutschen Brauereien an das Reinheitsgebot des Bieres oder nur der deutschen Handwerker an das grds Bestehen einer Meisterprüfung nicht mehr rechtfertigen, wenn das in den Verkehr gebrachte Bier überwiegend aus dem Ausland stammt und nicht nach dem Reinheitsgebot gebraut wurde respektive das Handwerk in Deutschland überwiegend von Unionsbürgern aus dem EU-Ausland ohne Meisterprüfung ausgeübt wird. Auch wenn eine Inländerdiskriminierung verfassungsrechtlich zulässig ist, entfalten die Grundfreiheiten einen Anpassungsdruck. Vielfach haben die deutschen Gerichte angenommen, dass jedenfalls von den bestehenden Ausnahmemöglichkeiten zugunsten der Wirtschaftsteilnehmer großzügig Gebrauch gemacht werden muss.107 Das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten verbietet, EU-Ausländer (Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten oder juristische Personen bzw teilrechtsfähige Personen mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten) schlechter als Inländer zu behandeln.108 Doch kommt das Diskriminierungsverbot auch den Inländern zugute, wenn sie sich aufgrund ihres Verhaltens gegenüber ihrem Mitgliedstaat in einer Lage befinden, die sich mit derjenigen anderer Personen, die in den Genuss der durch den Vertrag garantierten Rechte und Freiheiten kommen, vergleichbar ist.109 So ist ein grenzüberschreitender Sachverhalt ebenfalls gegeben, wenn ein Inländer (respektive eine nach inländischen Vorschriften gegründete juristische Person) eine Ware in einen anderen Mitgliedstaat ausführen110 oder eine ausgeführte Ware reimportieren will111, sich zwecks Annahme einer Arbeit, einer Niederlassung oder Erbringung einer Dienstleistung in das EU-Ausland begeben möchte,112 vom Inland aus dienstleistend in anderen Mitgliedstaaten in Erscheinung zu treten beabsichtigt oder einen Kapital- und Zahlungsverkehr mit dem EU-Ausland abwickeln möchte. In allen diesen Fällen greift eine Berufung des Inländers auf die Grundfreiheiten gegenüber dem eigenen Staat durch. Ferner kann auch eine frühere Ansässigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausreichend sein. Hat ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats zuvor in einem anderen Mitgliedstaat die erforderliche Qualifikation für einen bestimmten Beruf gemäß der Berufsqualifikationsanerkennungsrichtlinie (RL 2005/36) erlangt, darf er sich seinem eigenen Mitgliedstaat gegenüber auf die Personenverkehrsfreiheiten berufen, um im Inland

106 Gundel DVBl 2007, 269, 272 f. Vgl auch Albers JZ 2008, 708, 712 ff; Bösch JURA 2009, 91 ff. 107 Vgl zu dem Inverkehrbringen von Bier, das nicht dem deutschen Reinheitsgebot entspricht, BVerwGE 123, 82, 85 ff; zu den Ausnahmebewilligungen zur Eintragung in die Handwerksrolle BVerfG-K, EuGRZ 2005, 740 = JK 2006, GG Art 12 I/80. Generell zur Vereinbarkeit des Handwerksrechts mit dem Unions- und Verfassungsrecht Ehlers in: ders/Fehling/Pünder (Hrsg) Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 1, 3. Aufl 2012, § 19 Rn 6 ff. 108 Zu Einheimischenprivilegierungen im Kommunalrecht s Roeßing Einheimischenprivilegierungen und EG-Recht, 2008, S 125 ff, sowie Fall 18. 109 EuGH, Slg 1979, 399, Rn 24 – Knoors; Slg 1996, I-3089, Rn 32 – Asscher. 110 Zur Verlagerung des Sitzes der Geschäftsleitung einer Gesellschaft in das EU-Ausland vgl EuGH, Slg 1988, 5483, Rn 1 ff – Daily Mail. 111 EuGH, Slg 1996, I-3179, Rn 10 – Schmit. 112 EuGH, Slg 1999, I-2517, Rn 12 – Ciola = JK 2000, EGV Art 49/1; Slg 1999, I-7641, Rn 20 – Vestergaard.

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Zugang zu dem Beruf zu erlangen.113 Darüber hinaus kommen die Grundfreiheiten auch den Vertragspartnern der die Freiheit ausübenden Personen zugute,114 etwa die Freizügigkeit der Arbeitnehmer den Arbeitgebern115 oder die Dienstleistungsfreiheit den Dienstleistungsempfängern (Rn 5). ZB kann sich ein Tourist aus dem EU-Ausland, von dem in einem staatlichen Museum höhere Eintrittsgelder als von den Einheimischen erhoben werden, auf die Dienstleistungsfreiheit berufen.116 Bei den Vertragspartnern kann es sich auch um Inländer handeln. Schließlich ist bereits erwähnt worden, dass die Personenfreiheiten auch die (aus- oder inländischen) Familienangehörigen der (primär) Berechtigten schützen (Rn 4). Diskriminierend können auch Maßnahmen sein, die nicht alle Inländer begünstigen, sondern zB nur die Bewohner eines bestimmten Ortes oder einer bestimmten Region (versteckte Diskriminierung).117 Statt von einem Verbot der Schlechterbehandlung der EU-Ausländer wird in der Literatur häufig von einem Gebot der Inländergleichbehandlung gesprochen.118 Doch sind beide Begriffe nicht deckungsgleich, weil das Verbot einer Schlechterstellung die sog Inländerdiskriminierung nicht ausschließt (Rn 25). c) Arten der Diskriminierung 28

Eine Diskriminierung liegt vor, wenn Gleiches ungleich und Ungleiches gleich behandelt wird.119 Die Diskriminierung kann offen, unmittelbar, formal bzw rechtlich oder aber versteckt, mittelbar, materiell bzw faktisch sein. Die Begriffe werden idR synonym verwendet.120 Im ersten Fall ergibt sich die Differenzierung zwischen inländischen und grenzüberschreitenden Sachverhalten zum Nachteil der die Grenze überschreitenden Produkte oder Personen ausdrücklich aus der getroffenen Regelung (zB weil auf die ausländische Herkunft einer Ware oder die Staatsangehörigkeit abgestellt wird), im zweiten (in der Praxis weitaus häufigeren) Fall werden die Produkte oder Personen ausländischer Herkunft121 zwar nicht als solche angesprochen, aber typischerweise stärker betroffen.122 Das Anknüpfungskriterium ist somit nur vordergründig neutral. Angeknüpft wird an die Auswirkungen einer Maßnahme.123 Eine versteckte Diskriminierung ist bspw gegeben, wenn eine Kennzeichnungspflicht für Verbrauchsgüter in der Sprache des Gebietes besteht, in welches das Erzeugnis auf den Markt gebracht werden soll.124 Auch Vorschriften, die nach

113 114 115 116 117 118 119 120 121 122

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Vgl EuGH, Slg 1979, 399, Rn 24 f – Knoors; Slg 1981, 2311, Rn 19 – Broekmeulen. Jarass EuR 2000, 705, 708. EuGH, Slg 1998, I-2521, Rn 16 ff – Clean Car. EuGH, Slg 1994, I-911, Rn 10 – Kommission/Spanien; Slg 2003, I-721, Rn 14 f – Kommission/ Italien = JK 2003, EGV Art 49/7. EuGH, Slg 2000, I-4139, Rn 41 – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1 (Fall 7); Slg 2003, I-721, Rn 14 – Kommission/Italien = JK 2003, EGV Art 49/7. Vgl zB Frenz GF, Rn 2459. EuGH, Slg 1995, I-225, Rn 21 – Schumacker; Slg 2008, I-10767, Rn 32 – Truck Center. Ausführlich dazu Plötscher (Fn 89), S 52 ff. Zur Frage, ob das deutsche Recht vom europäischen lernen kann, Fehling FS Würtenberger, 2013, S 669 ff. Soweit eine Grenzüberschreitung trotz Inländerbetroffenheit gegeben ist, werden die inländischen Produkte oder Personen den ausländischen gleichgestellt. Vgl etwa EuGH, Slg 1974, 153, Rn 11 f – Sotgiu; Slg 1988, 4635, Rn 30 – Beentjes; Slg 2003, I-14887, Rn 74 f – DocMorris = JK 2004, EGV Art 28/4 (Fall 1); Slg 2010, I-2735, Rn 41 – Bressol. Vgl Craig/de Búrca EU, S 596. Vgl EuGH, Slg 1999, I-3175, Rn 36 ff – Colim.

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dem Wohn-, Aufenthalts- oder Beschäftigungsort unterscheiden, können als versteckte Diskriminierung anzusehen sein, weil sie sich auf EU-Ausländer zumeist anders auswirken als auf die im eigenen Land wohnenden oder arbeitenden Personen.125 Doch ist dann näher zu prüfen, ob sich die gebietsansässigen Gebietsfremden tatsächlich in einer vergleichbaren Situation befinden.126 So hat der EuGH eine mitgliedstaatliche Voranmeldepflicht lediglich für selbstständige Dienstleistungserbringer aus anderen Mitgliedstaaten zwecks Überprüfung der Einhaltung des Rechts nicht als Diskriminierung angesehen, weil die Behörden im Hinblick auf die inländischen Dienstleistungserbringer über hinreichend andere Möglichkeiten verfügen, die Einhaltung des Rechts zu kontrollieren und sicherzustellen.127 Nicht ausreichend sind lediglich potenziell versteckte Diskriminierungen. Ob eine versteckte Diskriminierung vorliegt, kann häufig zweifelhaft sein (vgl Fall 7). Der EuGH legt grds einen sehr weiten Diskriminierungsbegriff zugrunde. Auf eine Benachteiligungsabsicht des Mitgliedstaates kommt es nicht an. Die Unterscheidung von offenen und versteckten Diskriminierungen ist insbesondere für die Beschränkung der Grundfreiheiten von Bedeutung (Rn 119). d) Wirkungsweise des Diskriminierungsverbots Diskriminierungen können gerechtfertigt sein (Rn 107 ff). Kommt eine Rechtfertigung nicht in Betracht, hat der Berechtigte ein Abwehrrecht, dh einen Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch, wenn es um Nachteilszufügungen geht. Beruht die Diskriminierung auf der Vorenthaltung einer Vergünstigung, wird dem Berechtigten grds ein Anspruch auf Gleichstellung, jedenfalls aber auf Erlass einer neuen Regelung vermittelt (Rn 37). Ferner können sich aus dem Diskriminierungsverbot verfahrensrechtliche Anforderungen ergeben (Rn 41).

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2. Grundfreiheiten als Freiheitsrechte Der durch die Grundfreiheiten geschützte grenzüberschreitende freie Produkt- und Personenverkehr kann nicht nur durch diskriminierende, sondern auch durch unterschiedslos geltende mitgliedstaatliche Regelungen, welche In- und Ausländer in gleicher Weise betreffen, behindert oder unmöglich gemacht werden. So ist der selbstständige Betrieb eines zulassungspflichtigen Handwerks in Deutschland grds nur gestattet, wenn der Betriebsleiter die Meisterprüfung bestanden hat.128 Würde dieses Erfordernis auch auf EU-Ausländer erstreckt,129 die dauernd handwerkliche Leistungen in Deutschland erbringen wollen, könnte der Maßnahme zwar uU eine (versteckte) Diskriminierungswirkung abgesprochen

125 Vgl EuGH, Slg 2010, I-2735, Rn 45 – Bressol, sowie die Rspr-Nachw bei Plötscher (Fn 89) S 116. 126 Vgl Kokott/Ost EuZW 2011, 496, 497. 127 EuGH, EuZW 2013, 234, Rn 49 ff – Kommission/Belgien = JK 2013, AEUV Art 56/1. Die Differenzierung ist zweifelhaft. Im Ergebnis hat der EuGH aber eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch die grenzüberschreitende Voranmeldepflicht angenommen. 128 Vgl §§ 1, 7 HwO. Das Erfordernis der Meisterprüfung ist insb durch die Altgesellenregelung des § 7b HwO sowie die Möglichkeit der Erlangung einer Ausnahmeregelung nach § 8 HwO erheblich abgeschwächt worden. 129 Tatsächlich ist dies nicht der Fall, vgl § 9 HwO iVm EU/EWR-HandwerkVO. Näher zum Ganzen Ehlers (Fn 107) § 19 Rn 54 ff.

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werden. Sie hätte aber gleichwohl zur Folge, dass der Marktzutritt von EU-Ausländern nahezu ausgeschlossen wird, weil es Meisterprüfungen im Ausland (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht gibt und nicht erwartet werden kann, dass die Ausländer oder die für sie arbeitenden Personen in leitender Stellung vor ihrer selbstständigen beruflichen Betätigung in Deutschland erst eine Meisterprüfung ablegen. Die Maßnahme wäre deshalb als Verstoß gegen die Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit (sowie gegen das Sekundärrecht130) zu werten gewesen, weil die Grundfreiheiten nicht nur Diskriminierungs-, sondern auch Beschränkungsverbote enthalten. Dies kommt bereits im Wortlaut der Vertragsbestimmungen zum Ausdruck, da von Beschränkungen gesprochen wird.131 Der EuGH hat den Grundfreiheiten allerdings erst nach und nach neben Diskriminierungsverboten auch Beschränkungsverbote entnommen. Die Ausweitung erfolgte im Jahre 1974 zunächst für die Waren- und Dienstleistungsfreiheit. In der Leitentscheidung Dassonville sah er als Maßnahme gleicher Wirkung (Art 34 AEUV) „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten (an), die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern.“132 Dagegen definierte der EuGH nicht überzeugend133 die Maßnahmen gleicher Wirkung nach der Ausfuhrbeschränkungen betreffenden Vorschrift des Art 35 AEUV ungleich enger, iSe spezifischen Beschränkung der Ausfuhrströme.134 Der Binnenmarktbezug und die Parallelität der Art 34 und 35 AEUV sprechen dafür, die Dassonville-Formel auch auf Ausfuhrbeschränkungen anzuwenden.135 In der jüngeren Rspr des EuGH zeichnet sich eine vorsichtige Annäherung an.136 Unter Beschränkungen iSd Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) sollen alle Anforderungen fallen, die „geeignet sind, die Tätigkeiten des Leistenden zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.“137 Ob die Personenverkehrsfreiheiten als Beschränkungsverbote ausgelegt werden können, war lange strittig.138 In seinem (das unterschiedslos im In- und Ausland angewandte Transfersystem im Profifußball betreffenden) Bosman-Urteil139 hat der EuGH die Frage für die Arbeitnehmerfreizügigkeit positiv beantwortet. Mitte der neunziger Jahre wurde in verschiedenen Urteilen die Niederlassungsfreiheit entsprechend interpretiert.140 Eine Beschränkung der Personenverkehrsfreiheiten liegt insbesondere vor, wenn sich zwar keine offene oder versteckte

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134 135 136 137 138 139 140

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RL 2005/36. Nur die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist sprachlich etwas anders formuliert. EuGH, Slg 1974, 837, Rn 5 – Dassonville. Vgl Brigola EuZW 2009, 479, 482; Füller Grundlagen und inhaltliche Reichweite der Warenverkehrsfreiheit nach dem EG-Vertrag, 2000, S 745 ff; Schroeder in: Streinz, EUV/AEUV, Art 35 AEUV Rn 5. Sog Groenveld-Formel, vgl EuGH, Slg 1979, 3409, Rn 7 – Groenveld. Vgl auch Schlussanträge GA Trstenjak EuGH, BeckRS 2008, 70809, Rn 41 ff, 49 ff, 65 – Gysbrechts. EuGH, Slg 2008, I-9947, Rn 40 ff – Gysbrechts; vgl dazu Stöbener/Stöbener/Wendel JURA 2012, 671, 672. EuGH, Slg 1974, 1299, Rn 10 ff – van Binsbergen. Für Beschränkungsverbote bereits Ehlers NVwZ 1990, 810, 811; Behrens EuR 1992, 145, 151 ff; Roth in: HdBEUWirtschR, E I, Rn 77 ff. EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 92 ff – Bosman. Vgl namentlich EuGH, Slg 1993, I-1663, Rn 16 f – Kraus; Slg 1995, I-4165, Rn 34 ff – Gebhard; vgl zum Letzteren Ehlers/Lackhoff JZ 1996, 467, 468. Ausf zum Ganzen Lackhoff (Fn 92) S 358 ff.

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Schlechterstellung grenzüberschreitender Vorgänge feststellen lässt, wohl aber die Grenzüberschreitung selbst behindert wird.141 Eine solche Behinderung kann selbst dann gegeben sein, wenn die Inländer noch schlechter als die EU-Ausländer behandelt werden.142 Dass die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art 63 AEUV) auch unterschiedslos geltende Beschränkungen verbietet, folgt bereits aus dem eindeutigen Wortlaut („alle“ Beschränkungen).143 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eine Beschränkung der Grundfreiheiten anzunehmen ist, wenn nationale Maßnahmen (oder solche der Union) geeignet sind, die Ausübung dieser Freiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.144 Da die Eignung ausreicht, bedarf es keines Nachweises, dass die Maßnahme tatsächlich diese Wirkung hat.145 Das Beschränkungsverbot gilt sowohl für den Sitzstaat (Herkunfts- oder Heimatstaat) als auch den Aufnahmestaat (Zielstaat). Unterschiedslos anwendbare Maßnahmen stellen nicht bereits deshalb eine Beschränkung dar, weil andere Mitgliedstaaten die in ihrem Gebiet ansässigen Wirtschaftssubjekte weniger strengen oder wirtschaftlich interessanteren Vorschriften unterwerfen.146 Eine Beschränkung ist aber jedenfalls anzunehmen, wenn die von einem Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen, obwohl sie unterschiedslos anwendbar sind, den Marktzugang von Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten betreffen und damit den Handel im Binnenmarkt behindern.147 Ergeben sich aus allen Grundfreiheiten nicht nur Diskriminierungs-, sondern auch Beschränkungsverbote, stellen sich diese zugleich als Freiheitsrechte (und damit als Grundrechte) dar. Im Schrifttum ist dieses Verständnis der Grundfreiheiten zwar nach wie vor umstritten.148 Doch hätte es ansonsten der Verbürgungen wegen des ohnehin schon bestehenden Diskriminierungsverbotes des Art 18 AEUV nicht bedurft. Auch lässt sich nur so eine weitergehende Marktöffnung erreichen. Da die Grundfreiheiten nur an-

141 Vgl etwa für die Gründung von Zweigniederlassungen EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 39 – Centros. Nach der Rechtssache Graf (Slg 2000, I-493, Rn 23) hat der EuGH eine unterschiedslos anwendbare Regelung über Kündigungsabfindungen als Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit eingestuft, weil sie die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates daran hindern oder davon abhalten kann, ihr Herkunftsland zu verlassen. S auch Jarass EuR 2000, 705, 711. 142 Vgl EuGH, Slg 2000, I-2681, Rn 47 ff – Lehtonen, wonach Transferfristen für Basketballspieler die Arbeitnehmerfreizügigkeit von EU-Ausländern selbst dann verletzen können, wenn für inländische Spieler noch längere Fristen gelten. 143 Näher dazu Glaesner in: Schwarze, EU-Komm, Art 63 AEUV Rn 16 ff; Bröhmer in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art 63 AEUV Rn 43 ff. Zu den Schwierigkeiten der Anwendung des Beschränkungsverbots im Steuerrecht vgl Kokott/Ost EuZW 2011, 496, 498. Vgl auch → § 12 Rn 15 ff. 144 EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 37 – Gebhard. Vgl auch Slg 1996, I-1905, Rn 10 – Guiot; Slg 1999, I-8453, Rn 33 – Arblade; Slg 2001, I-2189, Rn 22 – Mazzoleni; Slg 2003, I-8219, Rn 95 – Burbaud. 145 EuGH, Slg 2007, I-6373, Rn 42 – Oy AA. 146 EuGH, Slg 2009, I-3491, Rn 63 – Kommission/Italien. Vgl auch Rn 133. 147 EuGH, Slg 2009, I-3491, Rn 64 – Kommission/Italien (Kfz-Haftpflichtversicherung), vgl ebenso EuGH, Slg 2011, I-1915 – Kommission/Spanien (Einzelhandelsgeschäfte). Zum Kriterium des Marktzugangs im Rahmen der (eine Beschränkung voraussetzenden) Keck-Formel vgl Rn 99 ff. 148 Für ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten zB Kingreen (Fn 1) S 115 ff; ders in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34-36 AEUV Rn 66 ff. Vgl auch Jarass EuR 1995, 202, 216 ff, der jedenfalls nunmehr den Grundfreiheiten aber auch Beschränkungsverbote entnimmt (s auch dens EuR 2000, 705, 710 ff). Eine Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten befürwortet Gebauer Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages und Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, S 346 ff.

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wendbar sind, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt (Rn 25), setzt allerdings auch das Beschränkungsverbot Transnationalität voraus. Der grenzüberschreitende Sachverhalt wird aber umfassend (dh unabhängig von der Behandlung rein innerstaatlicher Vorgänge) geschützt. Die Eindringtiefe des Unionsrechts in das Recht der Mitgliedstaaten erhöht sich somit erheblich. In der Entscheidung Carpenter hat der EuGH sogar die Ausweisung einer sich illegal im Vereinigten Königreich aufhaltenden philippinischen Staatsangehörigen, die mit einem britischen Staatsangehörigen verheiratet war, als Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit des Ehemanns angesehen, weil sich die Trennung der Eheleute nachteilig auf das durch Art 8 I EMRK und damit zugleich durch die Unionsgrundrechte (heute Art 9 u 33 GRCh) geschützte Familienleben sowie auf die Bedingungen auswirke, unter denen der Ehemann von der Dienstleistungsfreiheit Gebrauch machen könne (→ § 11 Rn 86, 88).149 Bei einem so weiten Verständnis erfassen die Grundfreiheiten nahezu alle nationalen Regulierungen, die auch grenzüberschreitende Auswirkungen haben. Es muss jedoch stets ein Anknüpfungspunkt zu dem von den Grundfreiheiten erfassten Sachverhalt bestehen, dh ein Binnenmarktnutzen150 gegeben sein. Ob sich im Fall Carpenter ein hinreichend spezifischer Zusammenhang zwischen dem Schutz der Ehe und der durch Art 56 AEUV geschützten Dienstleistungsfreiheit herstellen ließ, ist sehr zweifelhaft.151 Rechtstechnisch ergeben sich aus Beschränkungsverboten Abwehr-, dh Unterlassungsund Beseitigungsansprüche, wenn der verpflichtete Hoheitsträger einem Beschränkungsverbot zuwiderzuhandeln droht oder zuwidergehandelt hat. Zum Verhältnis von Diskriminierungen und Beschränkungen vgl Rn 106. Lösung Fall 1: Gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens gem Art 267 I lit a, II AEUV bestehen keine Bedenken. 1. Schutzbereich der Freiheit des Warenverkehrs: Art 34 AEUV verbietet Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten. Das Verbot des AMG 1998 betrifft den Handel zwischen den Mitgliedstaaten (vgl zum Kriterium des grenzüberschreitenden Sachverhalts Rn 25, 31, 73). Im Hinblick auf den Schutzbereich der Freiheit des Warenverkehrs unterscheidet der EuGH, ob die Arzneimittel in Deutschland zugelassen sind oder nicht. In Deutschland nicht zugelassene Arzneimittel dürfen nach § 73 I AMG 1998 unabhängig vom Verkaufsmodus nicht in das deutsche Hoheitsgebiet eingeführt werden. Da § 73 AMG nur Art 6 I RL 2001/83 umsetzt, soll die Vorschrift nach Ansicht des EuGH nicht als Maßnahme gleicher Wirkung iSd Art 34 AEUV bewertet werden können. Dies erscheint problematisch, weil die Vereinbarkeit von Beschränkungsmaßnahmen mit dem Sekundärrecht noch nichts darüber aussagt, ob der Schutzbereich einer Grundfreiheit betroffen ist, und im Übrigen auch das Sekundärrecht an der Grundfreiheit gemessen werden muss. Soweit sich das Verbot des Versandhandels auf in Deutschland zugelassene Arzneimittel erstreckt, nimmt der EuGH (nach Feststellung, dass das Sekundärrecht der EU nicht abschließend ist) an, dass der Schutzbereich der durch Art 34 AEUV garantierten Freiheit des Warenverkehrs einschlägig ist.

149 EuGH, Slg 2002, I-6279, Rn 39 – Carpenter = JK 2002, EGV Art 49/6. 150 Vgl Gebauer (Fn 148) S 308 ff, 346 ff; Wilson Die Rechte von Drittstaatsangehörigen nach Gemeinschaftsrecht, 2007, S 126. 151 Vgl auch Puth EuR 2002, 860, 865 ff; Mager JZ 2003, 204, 206 f; Kingreen EuGRZ 2004, 570, 573; Wilson (Fn 150) S 121 ff.

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2. Beeinträchtigung des Schutzbereichs: Das in § 43 I AMG 1998 geregelte Verbot des Versandhandels mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln misst der EuGH nicht am Diskriminierungs-, sondern am Beschränkungsverbot des Art 34 AEUV. Die Kriterien der DassonvilleFormel (Rn 30), wonach jede Regelung, die geeignet ist, den Handel innerhalb der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, als eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßig Beschränkung anzusehen ist, sind erfüllt. Keine mengenmäßigen Beschränkungen sind nach der Keck-Rspr allerdings bloße Verkaufsmodalitäten (Rn 99 ff). Dies gilt indessen nur, wenn die Regelungen sowohl für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben (was hier der Fall ist), als auch den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berühren. Letzteres verneint hier der EuGH, weil die inländischen Apotheker die Möglichkeit hätten, die Arzneimittel in ihren Apotheken zu verkaufen, so dass sich das Verbot des Versandhandels auf sie weniger stark auswirke als auf die ausländischen Apotheker. Diese Auffassung ist nicht zweifelsfrei, weil das Verbot des Versandhandels nicht das Produkt Arzneimittel, sondern den Vertrieb betrifft. Folgt man dem EuGH, stellt das Verbot des § 43 I AMG 1998 eine Maßnahme gleicher Wirkung dar. 3. Rechtfertigung der Beeinträchtigung: Die Rechtfertigungsnorm des Art 36 AEUV kommt nur zum Zuge, wenn nicht der Sachbereich durch sekundäres Unionsrecht abschließend geregelt worden ist (ansonsten könnte die unionsrechtliche Harmonisierung durch nationales Recht unterlaufen werden). Da dies auf den Versandhandel von Arzneimitteln nicht zutrifft, kann § 43 I AMG 1998 auf den Rechtfertigungsgrund „Schutz der Gesundheit und des Lebens“ iSd Art 36 AEUV gestützt werden. Weiterhin muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Insbesondere muss die nationale Maßnahme zur Erreichung des Schutzziels erforderlich sein. Hierbei differenziert der EuGH zwischen verschreibungspflichtigen und verschreibungsfreien Arzneimitteln. Im zuletzt genannten Fall sei das Gefahrenpotential gering. Auch könne über das Internet eine für diese Medikamente hinreichende Information oder Beratung vorgesehen werden. Dagegen sei bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln der persönliche Kundenkontakt notwendig. Deshalb verletze die Regelung des § 43 I AMG 1998 den Art 34 AEUV insoweit, als sie sich auf Medikamente erstreckt, die im Importstaat zugelassen sind und nicht der Verschreibungspflicht unterliegen.152 Lösung Abwandlung Fall 1: Die Bestimmung, welche Personen, die keine Apotheker sind, den Besitz und den Betrieb von Apotheken verwehrt, hält Nichtapotheker aus anderen Mitgliedstaaten davon ab, in Deutschland eine Apotheke zu betreiben und beschränkt daher die Niederlassungsfreiheit. Diskriminierungsfreie Beschränkungen können durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. Das Fremdbesitzverbot dient einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses, nämlich der Gewährleistung einer sicheren und qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung. Der EuGH hält den Ausschluss von Nichtapothekern zur Erreichung des verfolgten Ziels sowohl für geeignet als auch für erforderlich (die Angemessenheit wird – wie oftmals, Rn 132 – nicht geprüft). In Anbetracht der Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung dürften die Mitgliedstaaten strenge Anforderungen an die mit dem Einzelhandelsvertrieb der Arzneimittel betrauten Personen stellen. Als weniger beschränkende Maßnahmen kommen die Verpflichtung zur Anwesenheit eines Apothekers in der Apotheke, der Abschluss einer Versicherung oder ein System angemessener Kontrollen und wirksamer

152 Näher zum Ganzen Ruffert JURA 2005, 258 ff.

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Maßregeln in Betracht. Doch lässt sich nach Ansicht des EuGH auch mit Blick auf den Mitgliedstaaten überlassenen Wertungsspielraum nicht feststellen, dass dadurch die Gesundheitsgefahren ebenso wirksam wie durch ein Fremdbesitzverbot bekämpft werden können.153

3. Grundfreiheiten als Leistungsrechte 35

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Fall 2: (EuGH, Slg 1997, I-6959 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2) Nach erfolgloser Abgabe einer begründeten Stellungnahme erhebt die EU-Kommission vor dem EuGH Klage auf Feststellung, dass die Französische Republik gegen Art 34 AEUV verstoßen hat. Begründet wird dies damit, dass französische Landwirte seit vielen Jahren Anschläge auf Lastwagen verüben, mit denen Obst und Gemüse aus Spanien und Italien nach Frankreich importiert wird. Die französische Regierung verteidigt sich mit dem Hinweis, dass sie die ihr zur Verfügung stehenden Maßnahmen getroffen habe.

Leistungsrechte zielen auf positives hoheitliches Handeln ab. Sie lassen sich danach einteilen, ob sie auf abgeleitete Teilhabe (Rn 37), hoheitlichen Schutz (Rn 38) oder originäre Teilhabe (Rn 40) gerichtet sind. a) Abgeleitete Teilhaberechte

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Abgeleitete Teilhaberechte wurzeln im Gleichheitssatz und räumen dem gleichheitswidrig Ausgeschlossenen das Recht auf Teilhabe an einer gewährten hoheitlichen Begünstigung ein. Handelt es sich bei den Grundfreiheiten in erster Linie um Diskriminierungsverbote und somit um Gleichheitsrechte, kann nichts anderes gelten. Allerdings folgt aus einem rechtswidrigen Begünstigungsausschluss noch nicht notwendigerweise, dass die Leistung gewährt werden muss. So ist im deutschen Recht anerkannt, dass sich ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz auf dreifache Weise beheben lässt: die Begünstigung wird ausgedehnt, sie wird allen entzogen oder der Verstoß wird zum Anlass genommen, den Sachverhalt auf andere Weise neu zu regeln. Einen Anspruch auf die Leistung hat der Bürger nur in Ausnahmefällen, nämlich wenn eine verfassungsrechtliche oder (im Falle eines Verwaltungshandelns) gesetzliche Verpflichtung zur gleichheitswidrig vorenthaltenen Begünstigung besteht, wenn der Gesetzgeber ein komplexes Regelungssystem geschaffen hat und erkennbar daran festhalten will oder wenn eine Selbstbindung eingetreten ist (was grds nur im Hinblick auf die Verwaltung denkbar erscheint).154 Im Unionsrecht stellt sich die Rechtslage anders dar, weil normalerweise nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Beseitigung der Diskriminierung zu Lasten der Inländer erfolgen soll. Wird etwa den ausländischen Arbeitnehmern zu Unrecht eine Arbeitsunterstützung vorenthalten, ist nicht damit zu rechnen, dass zur Wiederherstellung der Gleichheit auch die inländischen Arbeitnehmer die Unterstützung verlieren sollen. Dementsprechend leitet der EuGH in stRspr aus Art 18 iVm 21 AEUV ein abgeleitetes Teilhaberecht an denjenigen sozialen Vergünstigungen ab, die der Aufnahmestaat seinen Staatsbürgern gewährt (Rn 18). Zudem muss auch ein nur zeitweiliger Vorteil der Inländer unterbunden werden. Somit richtet sich das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten auf Teilhabe, wenn und soweit die Diskriminierung der EU-Ausländer auf der Vorenthaltung einer den Inländern 153 Krit Herrmann EuZW 2009, 415 ff; vgl zum Ganzen auch Classen JURA 2010, 56 ff. 154 Vgl Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher Grundrechte, 29. Aufl 2013, Rn 520 ff.

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gewährten Begünstigung beruht.155 Dem nationalen Gesetzgeber bleibt die Möglichkeit, den Sachverhalt in Übereinstimmung mit den Grundfreiheiten neu zu regeln. b) Recht auf hoheitliche Schutzgewähr Im deutschen Recht wird aus den Freiheitsgrundrechten unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch gegen den Staat auf Schutz, insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter, abgeleitet.156 Entsprechende Wirkungen vermögen neben den EMRK-Rechten (→ § 2 Rn 31) und den Unionsgrundrechten (→ § 14 Rn 48) auch die Grundfreiheiten zu entfalten.157 Handelshemmnisse können nicht nur von den Mitgliedstaaten oder der EU selbst, sondern auch von Privaten ausgehen. Die Mitgliedstaaten (oder die EU) sind in ihrer Eigenschaft als Garanten der Grundfreiheiten158 ggf verpflichtet, hiergegen einzuschreiten. Das gilt allerdings nur, wenn sich die beeinträchtigenden Handlungen der Privaten nicht im Bereich legitimer Grundrechtsausübung bewegen. So kann die Nichtuntersagung einer die Freiheit des Warenverkehrs beeinträchtigenden Versammlung (zB Sperrung der Brenner-Autobahn, um gegen die Umweltbelastung zu demonstrieren) wegen der Versammlungsfreiheit geboten sein.159 Besteht eine Verpflichtung zum Schutz der Grundfreiheiten, kann diese mit einem Anspruch des Schutzbedürftigen korrespondieren. Allerdings steht das Wie des Schutzes grds im Ermessen der Mitgliedstaaten. Eine Verpflichtung zu einem bestimmten Einschreiten kann es nur in Ausnahmefällen geben. Wann der Einzelne einen Anspruch auf fehlerfreie Entscheidung bzw auf Vornahme bestimmter Schutzmaßnahmen hat, ist (ebenso wie im nationalen Recht) noch nicht hinreichend geklärt.160 Ein Anspruch dürfte erst anzunehmen sein, wenn das Untätigbleiben einer Beschränkung gleichkommt. Von den aus den Grundfreiheiten abzuleitenden Schutzpflichten sind die Schutzpflichten der Unionsgrundrechte (und der nationalen Grundrechte) zu unterscheiden (→ § 14 Rn 49), die uU eine Beschränkung der Grundfreiheiten gebieten können (Rn 115). Lösung Fall 2: Bedenken gegen die Zulässigkeit der Klage bestehen nicht. Die Kommission hat das in Art 258 AEUV vorgesehene Verfahren eingehalten. Begründet ist die Klage, wenn Frankreich gegen Art 34 AEUV verstoßen hat. Der freie Warenverkehr kann nicht nur durch Handlungen, sondern auch durch Unterlassungen eines Mitgliedstaates beeinträchtigt werden, wenn Privatpersonen den Handelsverkehr stören. Es steht im Ermessen der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung allein zuständigen Mitgliedstaaten, zu entscheiden, welche Maßnahmen in einer solchen Situation am geeignetsten sind, um Be-

155 Vgl auch Kingreen (Fn 1) S 192; Frenz GF, Rn 188 ff. 156 Vgl die Rechtsprechungsnachweise bei Sachs in: ders (Hrsg) Grundgesetz, 6. Aufl 2011, Vor Art 1 GG Rn 35. Näher dazu Dietlein Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S 51 ff; krit Isensee FS Großfeld, 1999, S 485, 500 ff. 157 Frenz GF, Rn 198 ff. 158 Vgl Burgi EWS 1999, 327, 329 f. 159 EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 94 – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3 → § 8 Rn 17, 23. Näher dazu Kadelbach/Petersen EuGRZ 2002, 213. 160 Näher zu den grundfreiheitlichen Schutzpflichten und den damit verbundenen Konsequenzen Schwarze EuR 1998, 53; Burgi EWS 1999, 327; Riem Die Europäischen Grundfreiheiten als Rechtsgrundlagen von Leistungsansprüchen, 2010, S 31 f, 188 ff.

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einträchtigungen der Einfuhr zu beseitigen. Da sich Frankreich im vorliegenden Fall aber offenkundig und beharrlich geweigert hat, ausreichende und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Sachbeschädigungen zu unterbinden, hat der EuGH zu Recht einen Verstoß gegen Art 34 AEUV angenommen. Welche Maßnahmen zu treffen sind, bleibt Frankreich überlassen.

c) Recht auf originäre Teilhabe 40

Sieht man von den Ansprüchen auf Gewährung von Schutz sowie den sogleich zu behandelnden verfahrensrechtlichen Ansprüchen ab, lässt sich aus den Grundfreiheiten ein Anspruch auf Schaffung noch nicht vorhandener Einrichtungen oder auf die Gewährung zusätzlicher Vergünstigungen sonstiger Art nicht ableiten. Die normativen Grundlagen geben dies nicht her. Eine Umpolung der Grundfreiheiten von Diskriminierungs- und Beschränkungsverboten in Leistungsgebote würde diese auch überfordern, den Spielraum der Mitgliedstaaten und des Unionsgesetzgebers zu weit zurückdrängen und der Unionsgerichtsbarkeit zu viel Raum geben.161 Allenfalls in krassen Ausnahmefällen könnte etwas anderes gelten.162

4. Grundfreiheiten als Verfahrensrechte 41

Aus den Grundfreiheiten dürften sich ferner Verfahrensgarantien entnehmen lassen. In Rspr und Lit hat diese Dimension der Grundfreiheiten lange Zeit wenig Aufmerksamkeit gefunden. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass auch die Anwendung des Diskriminierungs- oder Beschränkungsverbots oftmals verfahrensrechtliche Auswirkungen haben kann, ohne dass es notwendigerweise einer unmittelbaren Ableitung von Verfahrensrechten aus den Grundfreiheiten bedarf. Wird zB ein Anwalt aus einem anderen Mitgliedstaat in Deutschland nicht zugelassen, weil er kein deutsches Staatsexamen abgelegt hat, stellt dies eine Diskriminierung oder eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar. Die Diskriminierung oder Beschränkung ist gerechtfertigt, wenn das deutsche Recht ein Verfahren zur Verfügung stellt, in dem die Gleichwertigkeit des im Herkunftsland erworbenen Diploms geprüft wird und wenn der Anwalt die Möglichkeit erhält, die noch fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten (zB im Hinblick auf den deutschen Rechtskreis) in einer (von der staatlichen Pflichtfachprüfung – Staatsexamen – zu unterscheidenden) Zusatzprüfung nachzuweisen.163 Statt negativ zu argumentieren, könnte aus der Niederlassungsfreiheit aber auch positiv ein Recht auf die genannten Verfahrensvorkehrungen abgeleitet werden, wenn die Zulassung zum Anwaltsberuf nach nationalem Recht vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation abhängt. So hat der EuGH in seiner Vlassopoulou-Entscheidung davon gesprochen, dass eine „Prüfung … nach einem Verfahren vorgenommen werden muss, das mit den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts … in Ein-

161 Ebenso Frenz GF, Rn 213 f. 162 Für ein erweitertes Verständnis dag Riem (Fn 160) S 149 ff. 163 Vgl Art 14 RL 2005/36, geändert durch RL 2013/36; dazu Frenz GewA 2011, 377; Stork GewA 2013, 338. Für die Zulässigkeit einer vergleichenden Prüfung der Diplome im Falle eines beantragten Zugangs zum juristischen Referendariat in Deutschland (von einem polnischen Unionsbürger, der über einen Master-Abschluss verfügt) vgl EuGH, Slg 2009 I-11677 Rn 37 ff – Pes´la = JK 9/10, AEUV Art 45/2.

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klang steht.“164 Unabhängig von der juristischen Konstruktion zeigt das Beispiel, dass sich aus den Grundfreiheiten nicht nur gelegentlich, sondern oftmals Verfahrensrechte ergeben.165 Auch die sich aus den Grundfreiheiten ergebenden Schutzpflichten laufen oftmals auf eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten hinaus, Verfahrenspositionen vorzusehen. In der Rspr des EuGH kommt die verfahrensrechtliche Dimension der Grundfreiheiten (und sonstiger subjektiver Rechte des Unionsrechts) immer häufiger zum Tragen. So hat der EuGH dem Unionsrecht im Falle seiner unmittelbaren Anwendbarkeit und subjektiv-rechtlichen Wirkung einen Anspruch des Einzelnen auf effektiven Rechtsschutz (dh auf ein Anrufung eines Gerichts und auf ein wirksames gerichtliches Verfahren166) entnommen (heute ausdrücklich garantiert in Art 47 GRCh).167 Daher sollen die Mitgliedstaaten im Interesse der Durchsetzung des Unionsrechts auch zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet sein.168 Der EuGH hat sich hierbei (vor Erlass der GRCh) zwar in erster Linie auf Art 10 EGV (heute 4 III EUV) berufen. Kommt es aber auf den Effet-utile-Gedanken an, kann dieses Gebot auch den Grundfreiheiten selbst entnommen werden. Ferner hat der EuGH zB entschieden, dass die Art 49, 56 AEUV sowie die Grundsätze der Gleichbehandlung, der Nichtdiskriminierung und der Transparenz dahingehend auszulegen sind, dass sie es einer öffentlichen Stelle grds verbieten, eine öffentliche Dienstleistungskonzession ohne Ausschreibung an einen Privaten zu vergeben.169

5. Grundfreiheiten als Elemente objektiver Ordnung Von einer objektiv-rechtlichen Geltung der Grundfreiheiten wird kaum gesprochen. Gelegentlich wird eine solche Wirkung ausdrücklich abgelehnt.170 Indessen lassen sich subjektive Rechte (Rn 10) nur aus dem objektiven Recht herleiten.171 Objektives Recht und subjektives Recht können sich, müssen sich aber nicht entsprechen, weil nicht alle Verhaltensbindungen des objektiven Rechts mit einem subjektiven Recht korrespondieren. Die Grundfreiheiten haben demnach auch eine objektiv-rechtliche Bedeutung. So strahlen sie auf alle Rechtsgebiete der Mitgliedstaaten sowie auf das von den Organen der Union erlassene Recht aus. Dies hat zur Folge, dass das einschlägige mitgliedstaatliche Recht (einschließlich des Privatrechts) und das Sekundärrecht der Union im Lichte der Grund-

164 EuGH, Slg 1991, I-2357, Rn 22 – Vlassopoulou. 165 Vgl als pars pro toto auch EuGH, Slg 1996, I-2691, Rn 8 ff – Kommission/Italien; Hirschberger Prozeduralisierung im europäischen Binnenmarktrecht, 2010, S 110 ff. 166 Dörr DVBl 2008, 1401, 1402 f m Nachw der Rspr. 167 Vgl EuGH, Slg 1986, 1651, Rn 18 f – Johnston; Slg 1987, 4097, Rn 14 – Heylens; Slg 1992, I-3003, Rn 15 – Borell; Slg 2001, I-9517, Rn 57 – Kühne; Slg 2002, I-6677, Rn 39 – Union de Pequeños Agricultores = JK 2003, EGV Art 230 IV/2; Tonne Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1997, S 200 ff; Ehlers DVBl 2004, 1441 f. 168 Vgl EuGH, Slg 1990, I-2433, Rn 19 – Factortame. 169 EuGH, Slg 2005, I-8585, Rn 72 – Parking Brixen. Vgl a Slg 2001, I-9505, Rn 20 ff – Vestergaard; Slg 2005, I-7287, Rn 28 – Coname (Zugang zu angemessenen Informationen; vgl dazu Braun/ Hauswaldt EuZW 2006, 176 ff); Slg 2008, I-3565, Rn 20 – SECAP; Slg 2009, I-12169, Rn 22 – Serrantoni. 170 Kingreen (Fn 1) S 200 f. Wie hier neuerdings Frenz GF, Rn 220 ff. 171 Missverständlich daher zB BVerfGE 7, 198, 205; 50, 290, 337 = JK 79, GG Art. 9 I, III/1, wonach die deutschen Grundrechte „auch“ eine objektive Werteordnung enthalten.

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freiheiten (grundfreiheitskonform) ausgelegt werden muss.172 Ferner verpflichten die Grundfreiheiten die Mitgliedstaaten (und die EU) unter bestimmten Voraussetzungen zur Gewährung hoheitlichen Schutzes (Rn 38) und zu Verfahrensvorkehrungen (Rn 41). Da den Grundfreiheiten möglichst reale Geltung verschafft werden soll (effet utile), können ihnen bereits dann (nicht einklagbare) Bindungswirkungen zu entnehmen sein, wenn ein Anspruch (sei es auch nur auf ermessensfehlerfreie Entscheidung) noch nicht gegeben ist.173 Auch im Falle Carpenter (Rn 31; → § 11 Rn 86, 88) dürfte die objektiv-rechtliche Dimension der Grundfreiheiten zum Zuge gekommen sein, weil einem Rechtsbehelf der nicht durch die Dienstleistungsfreiheit geschützten Ehefrau gegen ihre Ausweisung wegen Verletzung der Dienstleistungsfreiheit des Mannes stattgegeben wurde. In keinem Falle wirken die Grundfreiheiten kompetenzbegründend oder kompetenzerweiternd. Will die EU die Grundfreiheiten konkretisieren oder erweitern oder das einschlägige mitgliedstaatliche Recht angleichen, muss sie von den Ermächtigungen zur Ausgestaltung der Grundfreiheiten (zB Art 46, 50, 53, 59, 60 AEUV) – oder anderen Ermächtigungen der Verträge, wie der Rechtsangleichungsvorschriften Art 114, 115 AEUV – Gebrauch machen.

III. Berechtigte der Grundfreiheiten 1. Staatsangehörige der Mitgliedstaaten (Unionsbürger) 43

Berechtigte der Grundfreiheiten sind vor allem die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten (Unionsbürger). Dies ergibt sich für die Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit aus den Art 45 II, 49 UA 1, 56 UA 1 AEUV. Für die Freiheit des Warensowie des Kapital- und Zahlungsverkehrs kann nichts anderes gelten. Aus der Anerkennung einer Unionsbürgerschaft (Rn 18) ergibt sich (jedenfalls grds) kein Recht der EU, über das Staatsangehörigkeitsrecht zu bestimmen. Vielmehr ist nach Art 20 I 2 AEUV Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Somit ist die Unionsbürgerschaft nur ein abgeleitetes Recht.174 Demgemäß ist es Angelegenheit der Mitgliedstaaten, über den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Gleichwohl hat der EuGH angenommen, dass bei einem Verlust der Staatsangehörigkeit zu prüfen sei, ob die Auswirkungen der mitgliedstaatlichen Kompetenzausübung auf die unionsrechtliche Stellung des Betroffenen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.175 Ob auch bei der Gewährung der Staatsangehörigkeit unionsrechtliche Bindungen zu berücksichtigen sind (was namentlich für kommerzielle Masseneinbürgerungen von Bedeutung sein könnte), ist derzeit ungeklärt.176

172 Vgl auch Jarass EuR 1991, 211, 222; dens EuR 1995, 202, 211; Zuleeg VVDStRL 53 (1993), 154, 165 ff. 173 Allgemein zur Wirkung von Grundrechten als Elemente objektiver Ordnung Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl 1999, § 9 Rn 290 ff. Krit Cremer Freiheitsgrundrechte, 2003, S 198 ff. 174 BVerfGE 123, 267, 404 = JK 2009, GG Art 38 I/18. 175 EuGH, Slg 2010, I-1467, Rn 55 – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1; zust Kahl JURA 2011, 364, 368 f; Magiera in: Streinz, EUV/AEUV, Art 20 AEUV Rn 28; Schönberger in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 20 AEUV Rn 45. Krit Schoch (Fn 77) S 360 ff, 365. 176 Für eine solche Erstreckung Nettesheim JZ 2011, 1030, 1034; Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 16 Rn 7.

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Als deutsche Staatsangehörige sind alle Deutschen iSd Art 116 GG anzusehen.177 Zu den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten gehören zT auch die Angehörigen überseeischer Länder und Hoheitsgebiete wie zB von Gibraltar oder Martinique178 (vgl näher dazu Rn 65). Berechtigt werden in erster Linie die EU-Ausländer, bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts (Rn 25 ff) auch die Inländer. Besitzt eine Person sowohl die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EU als auch eines Drittstaates, reicht Ersteres aus.179 Teilweise werden weitere Anforderungen gestellt. ZB gesteht Art 49 UA 1 S 2 AEUV nur Ansässigen die Errichtung einer sekundären Niederlassung (Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen, Tochtergesellschaften) zu, so dass von einem anderen Mitgliedstaat aus sekundäre Niederlassungen nicht gegründet werden können. Unerheblich ist, ob die Staatsangehörigen volljährig oder geschäftsfähig sind. Hierauf kann es nur für die Geltendmachung (zB in einem gerichtlichen oder einem Verwaltungsverfahren) ankommen (Rn 137 ff).

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2. Juristische Personen und Personenmehrheiten innerhalb der Union Fall 3: Die deutsche Großstadt A ist alleinige Gesellschafterin einer Stadtwerke-GmbH, die vielfältige Leistungen auf dem Gebiet des Verkehrs-, Energie-, Wasser- und des Beratungssektors erbringt. Die GmbH möchte ihre wirtschaftlichen Dienste künftig in allen Mitgliedstaaten der EU anbieten. Als die staatliche Kommunalaufsichtsbehörde davon erfährt, fordert sie die Stadt A auf, darauf hinzuwirken, dass dies unterbleibt. Zur Begründung beruft sich die Behörde darauf, dass Gemeinden und damit auch deren wirtschaftliche Unternehmen an das in Deutschland geltende kommunalrechtliche Örtlichkeitsprinzip gebunden seien, sie sich von der Ausnahme der interkommunalen Zusammenarbeit abgesehen also grds nur auf dem Gebiet der Gemeinde betätigen dürften. A möchte wissen, ob das Verlangen der Behörde mit den Grundfreiheiten des Unionsrechts vereinbar ist.

Kraft ausdrücklicher Anordnung der Art 54 UA 1, 62 AEUV werden im Bereich der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit die Gesellschaften den natürlichen Personen, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind, gleichgestellt. Unter Gesellschaften versteht der Vertrag solche des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften sowie die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen (Art 54 UA 2 AEUV). Auf eine rechtliche Verselbstständigung kommt es nicht an. Entscheidend ist nur eine rechtlich vorstrukturierte Organisationsform, so dass deutsche BGB-Gesellschaften auch dann erfasst werden, wenn man ihnen – entgegen der deutschen Rspr – neben der Rechtsfähigkeit auch eine Teilrechtsfähigkeit absprechen würde.180 Aus der Erwähnung von Genossenschaften und juristischen Personen des öffentlichen Rechts folgt, dass der Begriff des Erwerbszwecks weit zu verstehen ist und nicht iSe Gewinnstrebens ausgelegt werden darf.

177 Dies ergibt sich auch aus einer in die Schlussakte aufgenommenen Erklärung der Bundesrepublik Deutschland bei der Unterzeichnung der Römischen Verträge (BGBl II 1957, 764). 178 Näher dazu Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn. 24 f. 179 Vgl EuGH, Slg 1992, I-4239, Rn 11 – Micheletti. 180 HM, vgl Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 54 AEUV Rn 3. Krit Bröhmer in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 54 AEUV Rn 4. Zur Teilrechtsfähigkeit von BGB-Gesellschaften vgl BGHZ 146, 341.

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Ausreichend ist vielmehr jede Teilnahme am Wirtschaftsleben mittels Angebots einer entgeltlichen, auf teilweise Kostendeckung abzielenden Tätigkeit.181 Damit sind nur Organisationseinheiten ausgenommen, die zB rein religiöse, karitative, kulturelle oder soziale Zielsetzungen verfolgen.182 Zu den berechtigten juristischen Personen gehören neben den Stiftungen und Vereinen auch die juristischen Personen des öffentlichen Rechts gesellschaftlicher oder staatlicher Provenienz und ferner die Staaten selbst, sofern sie sich (zB durch nichtrechtsfähige Betriebe) im EU-Ausland wirtschaftlich betätigen wollen. Insoweit unterscheiden sich Grundfreiheiten und Unionsgrundrechte (Rn 13; → § 14 Rn 56). Gleichstellungsvoraussetzung der juristischen Personen mit den natürlichen Personen ist aber, dass die „Gesellschaften“ nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründet worden sind und in der EU eine Präsenz (satzungsmäßigen Sitz, Hauptverwaltung, Hauptniederlassung) haben (Art 54 UA 1 AEUV). Auf die Staatsangehörigkeit der Gesellschafter183 kommt es ebenso wenig wie auf das Vorliegen einer tatsächlichen dauerhaften Verbindung mit der Wirtschaft eines Mitgliedstaates an.184 Im Falle des Art 49 UA 1 S 2 AEUV müssen die Unionsbürger im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates ansässig sein (Rn 44). Da sich ein Binnenmarkt (Art 26 II AEUV) nicht verwirklichen lässt, wenn sich Gesellschaften iSd Art 54 UA 2 AEUV nicht auf die Freiheit des Waren- sowie des Kapital- und des Zahlungsverkehrs berufen können, gilt insoweit dasselbe wie für die Inanspruchnahme der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit.185 Selbst die Arbeitnehmerfreizügigkeit soll nach der Rspr des EuGH nicht nur natürlichen Personen zugute kommen. Vielmehr könne sich auch ein Arbeitgeber auf Art 45 AEUV berufen, wenn er im Mitgliedstaat seiner Niederlassung einen Angehörigen aus einem anderen Mitgliedstaat mangels dessen Wohnsitzes im Inland nicht beschäftigen dürfe (Rn 4).186 Unerheblich ist, ob es sich bei dem Arbeitgeber um eine natürliche oder juristische Person handelt. Lösung Fall 3: Wie sich aus Art 62 iVm 54 AEUV ergibt, können sich alle juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen, und somit auch die öffentlichen Unternehmen auf die Grundfreiheiten berufen. Dies gilt uneingeschränkt gegenüber den anderen Mitgliedstaaten der EU. Die Grundfreiheiten vermitteln den privaten Unternehmen auch ein Marktaustrittsrecht gegen den eigenen Mitgliedstaat (so dass die Unternehmen europaweit tätig werden dürfen). Vielfach wird angenommen, dass für die öffentlichen Unternehmen Entsprechendes zu gelten hat.187 Dem ist

181 Vgl auch Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 28 Rn 13 ff; Fischer in: Lenz/Borchardt, EUV/ AEUV, Art 54 AEUV Rn 2. 182 Müller-Graff in: Streinz, EUV/AEUV, Art 54 AEUV Rn 3. 183 Vgl Ahlt/Deisenhofer Europarecht, 3. Aufl 2003, S 193 f. 184 Lackhoff (Fn 92) S 193 f. 185 Vgl auch Frenz GF, Rn 236. 186 Krit Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 34. 187 Vgl Nagel Gemeindeordnung als Hürde?, 1999, S 48 ff; dens NVwZ 2000, 758, 761; Becker ZNER 2000, 259, 261; Schwintowski NVwZ 2001, 607, 610, 612; Jarass Kommunale Wirtschaftsunternehmen im Wettbewerb, 2002, S 41 ff; Langner Die örtliche Begrenzung kommunaler Wirtschaftstätigkeit und die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, 2008, S 115 ff; Naumann/Schmitz NWVBl 2011, 208 ff (die sich dafür aussprechen, einer Gemeinde die Grundfreiheitsberechtigung abzusprechen, einer in Gemeindehand befindlichen Gesellschaft aber diese zuzubilligen).

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nicht zu folgen.188 Das Unionsrecht interessiert sich nicht für die Organisation der Mitgliedstaaten, sondern behandelt diese als Einheit. Betreffen die mitgliedstaatlichen Bindungen des Unionsrechts alle Untergliederungen des Staates (Bund, Länder, Kommunen, sonstige Verwaltungsträger), kann das Unionsrecht den als Einheit verstandenen Staat auch nicht vor sich selbst schützen. Eine erlaubte Selbstbeschränkung liegt auch vor, wenn der Bund oder ein Land den Kommunen oder ihren Unternehmen Bindungen nach Art des deutschen kommunalen Wirtschaftsrechts auferlegt, welche Privaten gegenüber nicht gelten. Geht man entgegen der hier vertretenen Auffassung wegen der Personenverschiedenheit von einer Beschränkung aus, wäre diese jedenfalls gerechtfertigt. Somit gewähren die Grundfreiheiten den öffentlichen Unternehmen im Gegensatz zu den Privaten kein Marktaustrittsrecht gegenüber dem eigenen Mitgliedstaat.

3. Drittstaatler sowie juristische Personen und Personenmehrheiten außerhalb der Union Fall 4: (EuGH, Slg 2006, I-9521 – Fidium Finanz = JK 2007, EGV Art 49/16) A, eine Gesellschaft mit Sitz in der Schweiz, vergibt Kredite. Etwa 90 % der Kredite gehen an in Deutschland ansässige Kunden. Gem §§ 32 I 1, 53 b I KWG (Sart Ergb 856) bedarf die Tätigkeit der gewerbsmäßigen Kreditvergabe im Inland durch ein in einem Drittstaat ansässigen Unternehmens unter bestimmten Voraussetzungen einer vorherigen Erlaubnis. A fehlte diese Erlaubnis. Die zuständige Behörde (BaFin) untersagte A deshalb die Kreditvergabe in Deutschland. Ist die Untersagung mit den Art 56, 63 AEUV vereinbar?

Unter bestimmten Voraussetzungen können sich auch Drittstaatler oder juristische Personen und Personenmehrheiten außerhalb der Union auf die Grundfreiheiten berufen. Als einzige Grundfreiheit verbietet die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art 63 AEUV) ausdrücklich auch Beschränkungen „zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“, berechtigt also auch Drittstaatsangehörige. Damit soll die freie Zirkulation des Kapitals in der EU ungeachtet seiner Herkunft ermöglicht werden.189 Ferner unterfallen der Warenverkehrsfreiheit auch Waren aus dritten Ländern, die sich im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden (Art 28 II, 29 AEUV). Dies spricht dafür, alle mit solchen Waren handelnden Personen unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einem Mitgliedstaat in den Schutz einzubeziehen.190 Dagegen schützen die Freiheiten des Personenverkehrs (dh die Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit) grds nur die Angehörigen der Mitgliedstaaten (Unionsbürger). Doch können sich aus den Freiheiten des Personenverkehrs uU abgeleitete Rechte für

188 Vgl auch Manthey Bindung und Schutz öffentlicher Unternehmen durch die Grundfreiheiten des europäischen Gemeinschaftsrechts, 2001, S 115 ff; Weiß DVBl 2003, 564 ff; Ehlers in: Wurzel/ Schraml/Becker (Hrsg) Rechtspraxis der kommunalen Unternehmen, 3. Aufl 2014, B Rn 12. 189 Vgl Schürmann in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 63 AEUV Rn 18 f. Generell zur mittelbaren Wirkung der Grundfreiheiten für in Drittstaaten ansässige Unternehmen Sedemund BB 2006, 2781 ff. 190 Ebenso Jarass EuR 2000, 705, 708; Schroeder in: Streinz, EUV/AEUV, Art 34 Rn 24. AA Kingreen (Fn 1) S 79, mit dem Hinweis darauf, dass die Warenverkehrsfreiheit gem Art 217 AEUV Gegenstand von Assoziierungsabkommen sein kann.

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Drittstaatsangehörige ergeben. So kommen die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit auch den (möglicherweise aus Drittstaaten stammenden) Familienangehörigen der Berechtigten zugute und vermitteln ihnen einen selbstständigen Anspruch auf Einhaltung der Freiheiten (Rn 4).191 Sind Gesellschaften iSd Art 54 AEUV nach den Vorschriften eines Mitgliedstaates gegründet worden und haben sie ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der EU, stehen sie den natürlichen Personen gleich, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind. Hat ein Unternehmen aus einem Drittland eine Niederlassung in einem Mitgliedsstaat der EU, ist das Handeln der dem Unionsrecht unterworfenen Niederlassung (und nicht nur der Muttergesellschaft aus dem Drittland) zuzurechnen, wenn die Tätigkeit der Niederlassung auf die Einwohner des Mitgliedstaates ausgerichtet ist.192 Schließlich kann sich aus Abkommen der EU mit dritten Staaten eine Gleichstellung der Drittstaatsangehörigen mit den Angehörigen der Mitgliedstaaten (Unionsbürgern) ergeben, weil solche Abkommen als integrierende Bestandteile der Unionsrechtsordnung angesehen werden.193 So garantiert Art 28 I EWR-Abk194 die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten und den EFTA-Staaten. Auch mit der Schweiz ist ein Freizügigkeitsabkommen abgeschlossen worden.195 Die Abkommen begründen unmittelbare Rechte für den Einzelnen entsprechend Art 45 AEUV.196 Das Assoziationsabkommen der EWG mit der Türkei197 sowie der auf dieser Grundlage getroffene Assoziierungsratsbeschluss Nr 1/80 räumen den türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen zwar kein Recht auf Einreise und Aufnahme einer ersten Beschäftigung, wohl aber ein Recht auf ordnungsgemäße Beschäftigung entsprechend Art 45 AEUV stufenweise mit der Dauer ihrer Beschäftigung ein.198

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Lösung Fall 4: 1. Vereinbarkeit der Untersagung mit Art 56 AEUV: Aus den Art 57 UA 1, 58 I AEUV könnte sich ergeben, dass die Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr gegenüber denjenigen über den freien Kapitalverkehr nur subsidiär gelten. Der EuGH ist dieser Auffassung nicht gefolgt. Eine nationale Bestimmung, die sich zugleich auf die Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit bezieht, kann die Ausübung beider Freiheiten gleichzeitig hindern. Die in Rede stehende nationale Maßnahme muss dann beiden Freiheiten entsprechen, falls sich nicht herausstellt, „dass unter den Umständen des Einzelfalls eine der beiden Freiheiten der anderen gegenüber völlig zweitrangig ist und ihr zugeordnet

191 Vgl auch RL 2004/38, Art 12 VO 1612/68. Näher zum Ganzen Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 39 AEUV Rn 29 ff; Lackhoff (Fn 92) S 182; Craig/de Búrca EU, S 746. Zur Dienstleistungsfreiheit vgl Rn 31 (Fall Carpenter, → § 11 Rn 86, 88). 192 Vgl EuGH (GK), Urt v 13.05.2014, C-131/12, Rn 55 (Unmittelbar nur die Auslegung des Art 4 I lit a der RL 95/46 betreffend) – Google Spain. 193 EuGH, Slg 1974, 449, Rn 2, 6 – Haegeman; Slg 1982, 3641, Rn 13 – Kupferberg; Slg 1987, 3719, Rn 7 – Demirel. 194 Sart II Nr 310. 195 ABl 2002 L 114, 6. Vgl dazu Kahil-Wolff/Mosters EuZW 2001, 5. 196 Vgl Franzen in: Streinz, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 50; Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 34. 197 ABl 1963 L 217, 3687; jüngst zum Nachzugsrecht von Familienangehörigen vgl EuGH v 10.7.2014, C-138/13 – Sprachtest. 198 Näher dazu Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 24 ff; Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 110 ff.

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werden kann“. Nach stRspr stellt die Tätigkeit der Kreditvergabe durch ein Kreditinstitut eine Dienstleistung iSd Art 49 AEUV dar. Als Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs sind alle Maßnahmen anzusehen, welche die Ausübung dieser Grundfreiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen. Das Erfordernis einer Beschränkung stellt eine solche Maßnahme dar. Jedoch kann sich A als Drittstaatsunternehmen nicht auf die Dienstleistungsfreiheit berufen. 2. Vereinbarkeit der Untersagung mit Art 63 AEUV: Die Vergabe von Darlehen und Krediten von Gebietsfremden an Gebietsansässige unterfällt dem Kapitalverkehr. Auch Unternehmen aus Drittstaaten können sich auf Art 63 AEUV berufen. Doch ist der EuGH der Auffassung, dass die Kapitalverkehrsfreiheit für den zu beurteilenden Sachverhalt im Vergleich zu der Dienstleistungsfreiheit „völlig zweitrangig“ ist. Die Beeinträchtigung des Kapitalverkehrs sei nur eine zwangsläufige Folge der Beschränkung des Dienstleistungsverkehrs. Damit scheidet Art 63 AEUV als Prüfungsmaßstab aus (nach der hier vertretenen Ansicht sehr zweifelhaft). Somit stehen die Grundfreiheiten den getroffenen bankenaufsichtlichen Maßnahmen nicht entgegen.

IV. Verpflichtete der Grundfreiheiten 1. Mitgliedstaaten der EU Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten sind in erster Linie die Mitgliedstaaten. Da die Grundfreiheiten unmittelbare Wirkung im innerstaatlichen Recht entfalten (Rn 7), ist der Begriff des Mitgliedstaates in einem funktionalen Sinne zu verstehen. Erfasst werden alle Träger von Staatsgewalt. Dazu gehören neben Bund, Ländern und Kommunen sowie den sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts staatlicher Provenienz einschließlich der Kammern,199 die zur Gänze unmittelbar oder mittelbar von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts getragenen juristischen Personen des Privatrechts (wie die staatlichen oder kommunalen Eigengesellschaften). Gebunden wird sowohl der Mitgliedstaat, in dem der Empfänger der wirtschaftlichen Leistung sitzt oder in dem die Niederlassung begehrt wird, als auch der Ausgangsstaat.200 Unerheblich ist, welcher Handlungsformen sich die Mitgliedstaaten bedienen.201 Ferner werden alle Einrichtungen, deren Verhalten einem Mitgliedstaat aufgrund des von ihm ausgeübten beherrschenden Einflusses zugerechnet werden kann, in Anspruch genommen.202 Einen beherrschenden Einfluss kann der Staat zB ausüben, wenn die Mitglieder der nicht zur staatlichen Verwaltungsorganisation gehörenden Einrichtung vom Staat ernannt und aus öffentlichen Mitteln finanziert werden203 oder wenn die der staatlichen Aufsicht unterstehende Einrichtung mit Rechten ausgestattet wird, „die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten.“204

199 Vgl zu den Standesorganisationen mit hoheitlichen oder hoheitsähnlichen Befugnissen EuGH, Slg 1989, 1295, Rn 15 f – Royal Pharmaceutical Society; Slg 1993, I-6787, Rn 15 ff – Hünermund. 200 Jarass EuR 2000, 705, 714. 201 Vgl EuGH, Slg 1982, 4005, Rn 3 ff – Kommission/Irland. 202 Vgl EuGH, Slg 1983, 4083, Rn 16 f – Apple and Pear Development Council; Slg 1990, I-4625, Rn 16 ff – Hennen Olie; vgl auch EuGH, Slg 2002, I-9977 Rn 14 ff – CMA-Gütesiegel. Vgl auch Art 2 lit b RL 2006/111. 203 EuGH, Slg 1990, I-4625, Rn 15 – Hennen Olie. 204 Vgl EuGH, Slg 1990, I-3313, Rn 18 – Foster.

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2. Europäische Union 53

Neben den Mitgliedstaaten ist auch die EU selbst respektive ihre Organe und damit wegen der Identität der Organe205 auch die EURATOM an die Grundfreiheiten gebunden.206 Zum einen kann der Binnenmarkt ebenfalls durch Maßnahmen der EU behindert werden. Zum anderen sollen die Grundfreiheiten im gesamten Unionsgebiet Beachtung finden. Sie stehen als primärrechtliche Rechtsquellen an der Spitze der unionsrechtlichen Normenhierarchie und gehen daher im Kollisionsfall dem Sekundärrecht (Art 288 AEUV) vor.207 Es wäre auch widersprüchlich, wenn die Union den Mitgliedstaaten Pflichten auferlegen dürfte, die für sie selbst nicht gelten (vgl Rn 9). Für die EURATOM gelten allerdings weitgehend Besonderheiten208 (auf die hier nicht eingegangen werden; vgl auch Rn 78).

3. Privatpersonen 54

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Fall 5: (EuGH, Slg 2007, I-10779 ff – Viking = JK 2008, EGV Art 43/9) V, eine Gesellschaft finnischen Rechts, gehört ua das unter finnischer Flagge fahrende Schiff Rosella, welches auf dem Seeweg zwischen Tallinn (Estland) und Helsinki (Finnland) verkehrt. V ist nach finnischem Recht und geltendem Tarifvertrag gehalten, der Besatzung Löhne gem dem finnischen Lohnniveau zu zahlen. Wegen unmittelbarer Konkurrenz mit estnischen Schiffen, die auf derselben Linie mit geringeren Lohnkosten verkehren, wurde die Rosella mit Verlust betrieben. Daher plant V das Schiff umzuflaggen und in Estland registrieren zu lassen, um einen neuen Tarifvertrag mit einer estnischen Gesellschaft abzuschließen. Hiergegen wandte sich die Finnish Seamen’s Union (FSU), eine finnische Gesellschaft für Seeleute, und informierte die International Transport Workers‘ Federation (ITF), eine Dachorganisation mit Sitz in London, der sich 600 Gewerkschaften aus 140 Staaten angeschlossen haben. Die ITF übersandte ihren Mitgliedern ein Rundschreiben, in dem sie diese anwies, mit V keine Verhandlungen zu führen. Die ITF verfolgt im Kampf gegen „Billigflaggen“ die Politik, zu verhindern, dass ein Schiff unter der Flagge eines anderen Staates fährt als desjenigen, in dem das wirtschaftliche Eigentum am Schiff liegt. V möchte wissen, ob die gewerkschaftlichen Maßnahmen mit der Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV) vereinbar sind. Fall 6: (EuGH, EuZW 2012, 797 – Fra.bo = JK 3/13, AEUV Art 34/46) Der italienischen Gesellschaft Fra.bo SpA wurde von der deutschen Zertifizierungsstelle DVGW (einem privaten, von der Bundesrepublik unabhängigen Verein) das zuvor gewährte Zertifikat entzogen, wonach von Fra.bo hergestellte und von ihr vertriebene Kupferfittings mit dem deutschen Recht als konform angesehen wurden. Die Fra.bo möchte wissen, ob auf die Normierungs- und Zertifizierungstätigkeit der DVWG die Warenverkehrsfreiheit des Art 34 AEUV anwendbar ist. 205 Vgl Art 106a I EAGV. 206 Vgl EuGH, Slg 1984, 1229, Rn 18 – REWE; Slg 1994, I-3879, Rn 11 – Meyhui; Jarass EuR 1995, 202, 211; Schwemer Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, 1995 45. Gegen eine Bindung der EU an die Grundfreiheiten Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art 34-36 AEUV Rn 110. Art 51 I GRCh spricht in Bezug auf die Charta-Rechte von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union.. 207 Zum Anwendungsvorrang des niederrangigen Rechts vgl Rn 8. Vgl aber auch v Bogdandy JZ 2001, 157, 166, der der Rspr des EuGH entnimmt, dass lediglich offensichtliche Verstöße der Rechtssetzungsorgane der Union verboten sind (letzteres vermag nicht zu überzeugen). 208 Art 92 ff EAGV.

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Fall 7: (EuGH, Slg 2000, I-4139 ff – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1) Der Kl des Ausgangsverfahrens ist italienischer Staatsangehöriger deutscher Muttersprache und hat sein Studium in Österreich absolviert. Er bewarb sich auf eine Ausschreibung hin bei einer privaten Bankgesellschaft in Bozen (Bekl). Für die Zulassung zum Auswahlverfahren forderte die Bankgesellschaft den Nachweis der Zweisprachigkeit in Form einer Bescheinigung der öffentlichen Verwaltung, die nur in Bozen ausgestellt wird. Da der Kl die Bescheinigung nicht beibrachte, wurde seine Bewerbung abgewiesen. Nach Einreichung einer Klage bei einem italienischen Gericht setzte dieses das Verfahren aus und ersuchte den EuGH um Vorabentscheidung der Frage, ob der in Art 45 AEUV niedergelegte Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer einer Beschränkung des Nachweises der Zweisprachigkeit auf ein bestimmtes Diplom entgegensteht.

Nach der Rspr können die Grundfreiheiten – im Gegensatz zu den Unionsgrundrechten (Rn 13; → § 14 Rn 81 ff) – unter bestimmten Voraussetzungen auch für Privatpersonen verpflichtende Wirkungen entfalten. Der EuGH hat eine unmittelbare Bindung Privater an die Grundfreiheiten (sog unmittelbare Drittwirkung) zunächst im Hinblick auf die Personenverkehrsfreiheiten – also die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit – sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV anerkannt.209 Es soll verhindert werden, dass die den Mitgliedstaaten untersagten Beschränkungen der Grundfreiheiten durch Handlungen Privater in Ausnutzung ihrer Vertragsfreiheit umgangen werden. Angeknüpft wird also an den Effektivitätsgrundsatz (effet utile) und zwar sowohl im Hinblick auf das Diskriminierungs- als auch das Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten.210 Die Fälle betrafen ursprünglich Maßnahmen, in denen es um den Schutz Einzelner vor der Macht privater Verbände – intermediärer Gewalten – ging211, also um das Innenverhältnis der Verbandsunterworfenen zu ihrem Verband.212 ZB wurden Regelungen der internationalen Sportverbände,213 wonach Rennfahrer und Schrittmacher bei Radweltmeisterschaften dieselbe Nationalität besitzen müssen214 oder der Ausländeranteil europäischer Profifußballer begrenzt war215, als nicht vereinbar mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit angesehen. In der Rechtssache Viking (Fall 5) wurde vom EuGH klargestellt, dass sich die Bindung Privater auch auf das Außenverhältnis zu Dritten bezieht (Bindung einer Gewerkschaft eines Gewerkschaftsverbandes gegenüber dem Arbeitgeber). Eine unmittelbare Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit hatte der EuGH zunächst abgelehnt 216, in seiner Fra.bo-Entscheidung 209 Vgl EuGH, Slg 1974, 1405, Rn 16 ff – Walrave; Slg 1976, 1333, Rn 17 ff – Donà; Slg 1977, 1091, Rn 4, 28 – Van Ameyde; Slg 1995, I-4921, Rn 84 – Bosman; Slg 2000, I-2549 ff – Deliège; Slg 2000, I-2681 ff – Lehtonen. 210 Vgl Slg 1995 I-4921, Rn 45, 83, 96, 114 – Bosman. 211 Näher dazu Kronberg Voraussetzungen und Grenzen der Bindung von Sportverbänden an die Europäischen Grundfreiheiten, 2011, S 54 ff. 212 Vgl zur Unterscheidung von Innen- und Außenverhältnis auch Ludwigs/Weidermann JURA 2014, 152, 154, 156. 213 Zur Standesorganisation vgl EuGH, Slg 2002, I-1577 – Wouters. 214 EuGH, Slg 1974, 1405, Rn 16, 19, 20, 24 – Walrave. 215 EuGH, Slg 1995, I-4921 – Bosman. 216 EuGH, Slg 1987, 3801, Rn 30 – Vlaamse Reisbureaus; Slg 1988, 5249, Rn 11 – Bayer; Slg 2002, I-5031, Rn 74 – Sapod Audic. Vgl aber auch EuGH, Slg 1981, 181, Rn 17 – Dansk Supermarked (wonach Vereinbarungen zwischen Privaten in keinem Fall von den zwingenden Bestimmungen des Vertrages über den freien Warenverkehr abweichen dürfen).

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(Fall 6) aber eine Kehrtwende vollzogen. Danach soll Art 34 AEUV auf die Normungsund Zertifizierungstätigkeit einer privaten Einrichtung mit Monopolstellung Anwendung finden, wenn die Erzeugnisse, die von dieser Einrichtung zertifiziert wurden, nach den nationalen Rechtsvorschriften als mit dem nationalen Recht konform angesehen werden und dadurch ein Vertrieb von Erzeugnissen, die nicht von dieser Einrichtung zertifiziert wurden, erschwert wird.217 Entgegen anderslautenden Stimmen in der Literatur218 dürfte sich die Anwendbarkeit der Warenverkehrsfreiheit nicht auf den Fall einer privaten Marktzugangsschranke aufgrund einer staatlichen Verweisung begrenzen lassen. Der tragende Gedanke der Rspr (Effektivitätsgrundsatz) kommt auch dann zum Zuge, wenn die private Tätigkeit aus anderen Gründen einem staatlichen Handeln gleichkommt.219 Nicht entschieden hat der EuGH bisher, ob auch eine unmittelbare Drittwirkung der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit (Art 63 AEUV) in Betracht kommt. Dies wäre indessen nur konsequent.220

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Lösung Fall 5: 1. Schutzbereich des Art 49 AEUV: Art 49 AEUV verbietet Beschränkungen der freien Niederlassungen von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen. Hier geht es vor allem um die Frage, ob die Vorschrift geeignet ist, einem Privatunternehmen Rechte zu verleihen, auf die es sich gegenüber einer Gewerkschaft oder einem Gewerkschaftsbund berufen kann. Art 54 AEUV garantiert das Recht auf Niederlassung auch den Gesellschaften iSd Vorschrift. Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten sind zunächst die Mitgliedstaaten. Nach stRspr des EuGH gelten die Art 45, 49 und 56 AEUV aber nicht nur für Akte der staatlichen Behörden, sondern erstrecken sich auch auf Regelwerke anderer Art, welche die abhängige Erwerbswirtschaft, die selbstständige Arbeit und die Erbringung von Dienstleistungen kollektiv regeln sollen (vgl vor allem EuGH, Slg 1974, 1405 Rn 17 – Walrave). So erinnert der EuGH daran, dass die Freizügigkeit und der freie Dienstleistungsverkehr gefährdet wären, wenn die Abschaffung der Schranken staatlichen Ursprungs durch Hindernisse neutralisiert werden könnte, die nicht dem öffentlichen Recht unterliegende Vereinigungen und Einrichtungen im Rahmen ihrer rechtlichen Autonomie setzen. Gerade bei Arbeitsbedingungen, die in den verschiedenen Mitgliedstaaten teilweise durch Gesetze oder Verordnungen, teilweise durch Tarifverträge Privater geregelt sind, bestünde die Gefahr, dass eine Beschränkung der in den Grundfreiheiten vorgesehenen Verbote auf Maßnahmen der öffentlichen Gewalt bei ihrer Anwendung zur Ungleichheit führen würde. Unerheblich sei, dass es sich bei einer Gewerkschaft oder einem Gewerkschaftsverband nicht um eine quasi-öffentliche Einrichtung handele. Ferner komme es nicht darauf an, ob die Vereinigung oder Einrichtung eine Regelungsfunktion wahrnehme respektive über quasi-legislative Befugnisse verfüge. Aus alledem folgert der EuGH, dass kollektive Maßnahmen von Gewerkschaften oder Gewerkschaftsverbänden grds auch in den Anwendungsbereich des Art 49 AEUV fallen, die genannten Personen also Verpflichtungsadressaten sind.

217 EuGH, EuZW 2012, 797 – Fra.bo = JK 2013, AEUV Art 34/2 (Fall 6). 218 Schweitzer EuZW 2012, 765, 768; generell krit zu der Fra.bo-Entscheidung des EuGH Schmahl/ Jung NVwZ 2013, 607, 610 ff. 219 Vgl auch Ludwigs/Weidermann JURA 2014, 152, 160 f; Müller-Graff EuR 2014, 3 ff. 220 Vgl auch GA Maduro, EuGH, Slg 2007, I-10784, Rn 48 – Viking (Fall 5), und GA Trstenjak, Schlussanträge v. 28.3.2012, Rs C-171/11, BeckRS 2012, 80688, Rn 44 – Fra.bo (Fall 6).

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Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten

§ 7 IV 3

2. Beeinträchtigung: Art 49 AEUV enthält nicht nur ein Diskriminierungs-, sondern auch ein Beschränkungsverbot. Eine Beschränkung liegt bereits vor, wenn eine Maßnahme es weniger attraktiv macht, von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen. So wären die in Art 49, 54 AEUV gewährten Rechte sinnentleert, wenn der Herkunftsstaat Unternehmen verbieten könnte, sein Hoheitsgebiet zu verlassen, um sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen. Ebenso sind Kollektivmaßnahmen der FSU und der ITF mit dem Zweck, die Reeder daran zu hindern, ihre Schiffe in einem anderen Mitgliedstaat als jenem registrieren zu lassen, dessen Staatsangehörigkeit die wirtschaftlichen Eigentümer dieser Schiffe besitzen, zumindest geeignet, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit zu beschränken. 3. Rechtfertigung: Die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist nur zulässig, wenn mit ihr ein AEUV-konformes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt (Rn 117 ff) sowie verhältnismäßig (Rn 126 ff) ist. Der Arbeitnehmerschutz stellt grds ein berechtigtes Allgemeininteresse dar. Wie der EuGH ausführt, ist es Sache der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob die kollektiven Maßnahmen wirklich geeignet sind, die Erreichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Nicht rechtfertigen lasse es sich, wenn Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbände Reeder generell daran hindern, ihre Schiffe in einem anderen Staat als dem registrieren zu lassen, dessen Staatsangehörigekeit die wirtschaftlichen Eigentümer dieser Schiffe besitzen. ZB dürfe eine Umregistrierung nicht bekämpft werden, wenn sie keine schädlichen Auswirkungen auf die Arbeitsplätze hat.221 Lösung Fall 6: 1. Schutzbereich des Art 34 AEUV: Nach Art 6 II RL 89/106 dürfen die Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen von Bauprodukten, die weder Gegenstand einer harmonisierten Norm noch einer europäischen technischen Zulassung sind, in ihrem Gebiet gestatten, wenn diese Produkte nationalen Vorschriften, die im Einklang mit dem EU-Recht stehen, entsprechen. Zum EU-Recht gehört Art 34 AEUV. Ein Mitgliedstaat verstößt gegen die ihm nach den Art 34, 36 AEUV obliegenden Verpflichtungen, wenn er ohne triftige Rechtfertigung die Wirtschaftsteilnehmer, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und/oder vertriebene Bauprodukte in seinem Hoheitsgebiet vertreiben möchten, dazu veranlasst, nationale Konformitätszeichen zu erwerben, oder die von anderen Mitgliedstaaten ausgestellten Zulassungsbescheinigungen nicht berücksichtigt (EuGH, Slg 2005, I-9665 – Kommission/Portugal). 2. Verpflichtungsadressat der Warenverkehrsfreiheit: Fraglich ist, ob die Warenverkehrsfreiheit auch private Rechtsträger bindet. Dies bejaht der EuGH, wenn das Handeln ebenso wie staatliche Maßnahmen Behinderungen des freien Warenverkehrs zur Folge haben. Zum einen weist der EuGH darauf hin, dass der deutsche Gesetzgeber in § 12 IV AVBWasserV Vermutungen aufgestellt hat, dass die vom DVGW zertifizierten Erzeugnisse dem nationalen Recht entsprechen. Zum anderen sei der DVGW die einzige Einrichtung, die die in Rede stehenden Kupferfittings zertifizieren kann. Zwar gebe es neben der Zertifizierung durch den DVGW noch ein anderes Verfahren (Prüfung durch Sachverständige), dieses sei aber aus administrativen und finanziellen Gründen wenig oder gar nicht praktikabel. Ferner unterstreicht der EuGH, dass in der Praxis das Fehlen einer Zertifizierung durch den DVGW den Vertrieb der betreffenden Erzeugnisse auf dem deutschen Markt erheblich

221 Krit zur Beschränkung der Koalitionsfreiheit Zwanziger DB 2008, 294, 296.

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erschwert. Somit verfüge der DVGW über die Befugnis, den Zugang von Erzeugnissen für die in Rede stehenden Kupferfittings zum deutschen Markt zu regeln. Dementsprechend sei Art 34 AEUV auf die Normungs- und Zertifizierungstätigkeit des DVGW anzuwenden.

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Die Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten ist problematisch. Schon der Wortlaut der Bestimmungen (für Art 34 AEUV: „zwischen den Mitgliedstaaten“) deutet eher darauf hin, dass nur an ein staatliches Handeln angeknüpft werden soll. Ebenfalls sind die Rechtfertigungsgründe für die Beschränkung der Grundfreiheiten (insbesondere: öffentliche Ordnung und Sicherheit, ferner aber auch die zwingenden Erfordernisse222) auf ein staatliches Tätigwerden und die Verfolgung staatlicher Belange zugeschnitten. Ob diese Gründe auch von Privatpersonen geltend gemacht werden können (wie der EuGH annimmt223), ist zweifelhaft, da Private andere Zwecke als die Träger von Staatsgewalt verfolgen und gerade nicht an das Allgemeinwohl gebunden sind. Zwar gewähren die Grundfreiheiten Schutz vor diskriminierenden oder freiheitsbeschränkenden privatrechtlichen Normen, weil diese den Staaten zuzurechnen sind.224 Geht es dagegen um ein diskriminierendes oder freiheitsbeschränkendes privatautonomes Handeln, spricht vieles für die Annahme, dass die Grundfreiheiten ähnlich wie die nationalen Grundrechte und Unionsgrundrechte (→ § 14 Rn 45) nur Ansprüche gegen den Staat (oder die EU) auf Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater vermitteln können (Rn 38).225 Im Übrigen bliebe der Schutz gegenüber privaten Handlungen dann den Wettbewerbsvorschriften (Art 101 ff AEUV226) und dem Sekundärrecht überlassen. Die EuGH-Rspr ist mittlerweile aber so gefestigt, dass mit einer Rspr-Änderung nicht zu rechnen ist. Daher muss sich die Rechtspraxis auf eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten einstellen. Geht man mit dem EuGH von einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten aus, ergeben sich bisher noch nicht restlos geklärte Folgeprobleme. Insbesondere stellt sich die Frage, ob sämtliche Private an die Grundfreiheiten gebunden sind. In den vom EuGH

222 Wenn sich die Staaten auf Gründe des Allgemeinwohls berufen, muss es sich um solche nichtwirtschaftlicher Art handeln (Rn 118), wohingegen Private regelmäßig wirtschaftliche Interessen verfolgen. 223 Vgl besonders deutlich EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 86 f – Bosman. Ferner zB Slg 1998, I-2521, Rn 24 – Clean Car. 224 Ausführlich dazu Perner Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht, 2013, S 145 f. 225 Krit zur Rspr des EuGH auch Kingreen in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 746 ff; Jaensch Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, S 81 ff; Kluth AöR 122 (1997), 557, 568 ff; Streinz/Leible EuZW 2000, 459, 464 ff; Kadelbach/Petersen EuGRZ 2002, 213, 220; Remmert JURA 2003, 13 ff; Pießkalla NZA 2007, 1144, 1146; Schmahl/Jung NVwZ 2013, 607, 610 ff; diff Perner (Fn 224), S 170 f. Für eine unmittelbare Drittwirkung Steindorff FS Lerche, 1993, S 575, 581 ff; Ganten Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, S 56 ff; Wernicke Die Privatwirkung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, S 201 ff; Parpart Die unmittelbare Bindung Privater an die Personenverkehrsfreiheit im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, S 185 ff; Brigola Das System der EG-Grundfreiheiten, 2004, S 90. Vgl auch Förster Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2007, 52 ff, S 213 f u Preedy Die Bindung Privater an die Europäischen Grundfreiheiten, 2005, S 128 ff. 226 Die Wettbewerbsvorschriften verbieten nicht sämtliche handelsbehindernden privaten Verhaltensweisen, vielmehr müssen weitere Voraussetzungen erfüllt sein (bspw Wettbewerbsverfälschung, unternehmerisches und nicht rein privates Handeln, marktbeherrschende Stellung; vgl Streinz/Leible EuZW 2000, 459, 464).

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entschiedenen Rechtsachen ging es idR um Private, die eine dem Staat vergleichbare Machtposition mit einem ähnlichen Gefährdungspotential innehatten. Doch hat der Gerichtshof das Diskriminierungsverbot des Art 45 II AEUV in seiner Entscheidung Angonese (Fall 7) auch auf „normale“ Private (Arbeitgeber) bezogen und in späteren Entscheidungen allgemein davon gesprochen, dass das Diskriminierungsverbot nicht nur für die abhängige Erwerbstätigkeit kollektiv regelnder Tarifverträge, sondern auch für „alle Verträge zwischen Privatpersonen“ gilt.227 Dies leitet der EuGH auch daraus ab, dass Art 45 II AEUV nur eine spezifische Ausprägung des Art 18 AEUV darstellt. Die Literatur ist dem EuGH sowohl im Hinblick auf Art 45 II AEUV als auch im Hinblick auf die Deutung des Art 18 AEUV nur zum Teil gefolgt.228 Entnimmt man der Arbeitnehmerfreizügigkeit ein sich an alle Private richtendes Diskriminierungsverbot, kann für das Beschränkungsverbot nichts anderes gelten.229 Dies besagt indessen noch nicht, dass für die sonstigen Grundfreiheiten Entsprechendes anzunehmen ist. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit betrifft ein Machtgefälle (zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer), das für die sonstigen Grundfreiheiten nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann.230 Lösung Fall 7: 1. Zulässigkeit der Vorlage: Die Vorlage bezieht sich auf die Auslegung des Art 45 AEUV und damit auf die Auslegung des Vertrages iSv Art 267 I lit a AEUV. Bedenken gegen die Zulässigkeit der Vorlage könnten sich deshalb ergeben, weil es auf die Entscheidung des EuGH uU nicht ankommt. Die Grundfreiheiten beziehen sich nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte (Rn 25 f). Da der Kl, der von Geburt an Bewohner der Provinz Bozen war, nie in einem anderen Staat eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt hat und das Studium in Österreich in keinem spezifischen Zusammenhang zum Rechtsstreit steht, lässt sich hier an einem Unionsbezug des Falles zweifeln. Der EuGH überprüft jedoch grds nicht die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung. Nach stRspr darf das Ersuchen eines nationalen Gerichts nur zurückgewiesen werden, wenn „offensichtlich“ kein Zusammenhang zwischen der erbetenen Auslegung des Unionsrechts und dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens besteht.231 Eine solche Offensichtlichkeit verneint der EuGH hier. 2. Vereinbarkeit des Sprachnachweises mit Art 45 AEUV: Die Frage der Vereinbarkeit stellt sich nur, wenn Art 45 AEUV auch Privatpersonen bindet. Obwohl es hier nicht um intermediäre Gewalten (gesellschaftliche Institutionen mit besonderen Machtbefugnissen) geht, kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass das in Art 45 AEUV ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit auch für Privatpersonen gilt. Das Gericht stützt sich hierbei auf drei Argumente: seinem Wortlaut nach schließe Art 45 AEUV eine unmittelbare Anwendung auf Privatpersonen nicht aus (1), die Arbeitnehmerfreizügig-

227 EuGH, Slg 2008, I-5939, Rn 45, 48 – Raccanelli; NZA 2012, 863 Rn 36, 51 – Erny. 228 Zur Kritik der Fra.bo-Entscheidung des EuGH vgl Fn 218; für eine umfassende Bindung der Privaten Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 45 Rn 55. Eine allgemeine unmittelbare Drittwirkung des Art 18 AEUV befürwortend v Bogdandy in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 28; aA Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 18 AEUV Rn 44 f. 229 Schmahl/Jung NVwZ 2013, 607, 610; Ludwigs/Weidermann JURA 2014, 152, 161; aA Preedy (Fn 225) S 55, 60 f. 230 Ludwigs/Weidermann JURA 2014, 152, 157 f. 231 So zB EuGH, Slg 1998, I-2055, Rn 21 – Cabour.

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keit könne nicht nur durch staatliche, sondern auch durch private Maßnahmen behindert werden (2) und schließlich gebiete es die einheitliche Anwendung des Unionsrechts, Art 45 AEUV nicht anders als Art 18 und 157 AEUV auszulegen, die ebenfalls jegliche Diskriminierung verhindern sollten (3). Folgt man dieser (keineswegs zwingenden) Argumentation, ist auch die verklagte private Bankgesellschaft an Art 45 AEUV gebunden. Die von der Bekl aufgestellte Verpflichtung, wonach der Zugang zu einem Auswahlverfahren zur Einstellung von Personal vom Besitz einer einzigen Sprachenbescheinigung der Verwaltung in Bozen abhängig ist, stellt auch eine (versteckte) Diskriminierung dar, da es für Personen, die nicht in der Provinz Bozen wohnen schwierig oder unmöglich ist, die Bescheinigung zu erwerben, und die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten im Verhältnis zu den Einwohnern der Provinz Bozen benachteiligt werden. Die Diskriminierung lässt sich nach Ansicht des EuGH auch nicht durch „sachliche Erwägungen“ rechtfertigen. Zwar sei es legitim, von einem Bewerber um eine Stelle Sprachkenntnisse eines bestimmten Niveaus zu verlangen. Es müsse aber als unverhältnismäßig angesehen werden, wenn es unmöglich sei, die Nachweise auf andere Weise zu erbringen als durch ein bestimmtes, in einer einzigen Provinz eines Mitgliedstaates ausgestelltes Diplom. Daher hat der EuGH ein Zuwiderhandeln gegen Art 45 AEUV angenommen.

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Die Grundfreiheiten gelten nicht ungeschränkt. Da sowohl die ausdrücklichen (Rn 110 ff) als auch ungeschriebenen Schranken (Rn 117 ff) auf die Rechtfertigung staatlichen Handelns zugeschnitten sind, müssen sie im Falle des Tätigwerdens Privater wegen der unmittelbaren Bindung an die Grundfreiheiten modifiziert werden (näher dazu Rn 121). Eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten ändert nichts an der Inpflichtnahme des Staates. Unmittelbare und mittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten (iSe objektivrechtlichen Verpflichtung des Staates für die Realisierung der Grundfreiheiten und daraus resultierenden subjektiv-rechtlich unterfangenen Schutzpflichten vor allem in Bezug auf die Gestaltung der Privatrechtsordnung) haben nebeneinander Bestand. Verletzen Private die sie unmittelbar bindenden Grundfreiheiten, können sich daraus sowohl Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche (§ 1004 BGB, auch in analoger Anwendung) als auch Schadensersatzansprüche (insbes aus § 823 II BGB iVm den Grundfreiheiten als Schutzgesetze) ergeben.232

V. Räumlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten 65

Den räumlichen Geltungsbereich des AEUV und damit den der Grundfreiheiten umschreiben Art 52 EUV und Art 355 AEUV. Angeknüpft wird an die Mitgliedstaaten und damit an deren Staatsgebiet, dh jenen Teil der Erdoberfläche, des darunter befindlichen Bodens, des Luftraums sowie der Gewässer, über die der Staat nach völkerrechtlichen Grundsätzen233 die Gebietshoheit ausübt. Da auf die Mitgliedstaaten als solche verwiesen wird, gilt das Prinzip der beweglichen Vertragsgrenzen. Verändert sich das Hoheitsgebiet eines Staates (wie zB nach der deutschen Wiedervereinigung), wird damit (vorbehaltlich vertraglicher Sonderregelungen) der Geltungsbereich des Vertrages einschließlich der Grundfreiheiten ausgedehnt. Bestimmte überseeische und sonstige Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten unterfallen den Verträgen (Art 355 I, III, IV AEUV), während andere Ge232 Ludwigs/Weidermann JURA 2014, 152, 153. AA Schweitzer EuZW 2012, 765, 768 (in Bezug auf § 823 II BGB). 233 Vgl Graf Vitzthum in: ders, VR, 5. Abschn Rn 15 f; Epping in: Ipsen, VR, § 5 Rn 4.

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Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten

§ 7 VI

biete (Art 355 II AEUV) ebenso wie die europäischen Zwergstaaten (zB Andorra, Monaco, San Marino, Vatikanstadt) ganz oder teilweise ausgenommen sind.234 Besonderheiten regelt Art 355 V AEUV, weil er Gebiete benennt, in denen der Vertrag keine oder nur teilweise Anwendung findet. ZB bestimmt Art 355 V lit c AEUV iVm Art 2 des Protokolls Nr 3 zur Beitrittsakte betreffend die Kanalinseln und die Insel Man235, dass für die Staatsangehörigen dieser Gebiete nicht die Unionsbestimmungen über die Freizügigkeit und den freien Dienstleistungsverkehr (wohl aber den freien Warenverkehr) gelten. Somit können sich die Staatsangehörigen nicht hierauf berufen.236 Von den Grundfreiheiten erfasst werden alle Rechtsbeziehungen, die aufgrund des Ortes, an dem sie entstanden sind oder an dem sie ihre Wirkung entfalten, einen räumlichen Bezug zum Gebiet der EU aufweisen.237 Ferner wirken die Grundfreiheiten über die Außengrenzen der EU hinaus, wenn sie einen engen Bezug zum Recht eines Mitgliedstaates und damit zu den einschlägigen Regeln des Unionsrechts besitzen. So hat der EuGH etwa entschieden, dass sich eine belgische Staatsangehörige, die in der deutschen Botschaft in Algier beschäftigt ist, auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen kann.238 Auch wenn die Mitgliedstaaten Nutzungsrechte außerhalb ihrer Hoheitsgewässer besitzen, sind sie an die Freiheiten des Personenverkehrs und an die Dienstleistungsfreiheit gebunden.239

VI. Zeitlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten Der Vertrag zur Gründung der EWG ist am 1.1.1958 in Kraft getreten. Mit Ablauf der Übergangsfristen haben die Grundfreiheiten unmittelbare Wirkung erlangt (Rn 7). Für neu der EG bzw der EU beigetretene Staaten richtet sich der Zeitpunkt des Inkrafttretens der Grundfreiheiten nach der Beitrittsakte (Rn 7). Gem Art 53 EUV gelten die Verträge auf unbegrenzte Zeit. Eine Kündigung sieht das geltende Recht nunmehr in Art 50 EUV vor. Ein Ausschluss von Mitgliedstaaten dürfte kaum in Frage kommen, allenfalls kann eine einstweilige Suspendierung von mitgliedstaatlichen Rechten bei schwerwiegender Verletzung von Fundamentalprinzipien (Art 7 EUV) nach Maßgabe des Art 354 AEUV zulässig sein (im Hinblick auf die Grundfreiheiten nur, wenn diese für die das Unionsrecht verletzenden Mitgliedstaaten günstig sind). In zeitlicher Hinsicht bestimmt sich die Auslegung der Grundfreiheiten grds nach dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens und der unmittelbaren Anwendbarkeit.240 In seltenen Ausnahmefällen (wenn eine objektiv existierende, bedeutende Unsicherheit über die Tragweite der Unionsbestimmung bestand und die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen gegeben ist 241) kann sich aus

234 Nach der Erklärung Nr 3 zu Art 8 EUV trägt die EU der besonderen Lage der Länder mit geringer territorialer Ausdehnung Rechnung, die spezifische Nachbarschaftsbeziehungen zur Union erhalten. Teilweise gehören die Länder zum Zollgebiet der Union. 235 BGBl II 1997, 1, 1338. 236 Vgl HessVGH, GewArch 2005, 17. 237 Vgl im Hinblick auf einen auch außerhalb der EU tätigen Radsportverband EuGH, Slg 1974, 1405, Rn 28 f – Walrave. 238 EuGH, Slg 1996, I-2253, Rn 15 ff – Boukhalfa. 239 Vgl Streinz ER, Rn 111. 240 Vgl EuGH, Slg 1995, I-2229, Rn 42 – Roders; Slg 1998, I-5325, Rn 46 – Kommission/Frankreich. 241 EuGH, Slg 1995, I-2229, Rn 43 – Roders; Slg 2001, I-6193, Rn 53 – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1.

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dem unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit die Notwendigkeit ergeben, die Rechtswirkungen einer die Grundfreiheiten konkretisierenden Entscheidungen des EuGH nach Maßgabe des Art 264 II oder 267 AEUV auf die Zukunft zu beschränken.242

VII. Schutzbereiche, Beeinträchtigungen und Schranken der Grundfreiheiten 67

Für die Überprüfung der Vereinbarkeit von Maßnahmen mit den Grundfreiheiten des Unionsrechts hat sich bisher kein festes Schema eingebürgert. Doch lässt sich ähnlich wie bei der Prüfung von Grundrechtsverletzungen (→ § 2 Rn 67; § 14 Rn 92 ff) danach unterscheiden, ob der Schutzbereich (bzw Anwendungs- und Gewährleistungsbereich) einer Grundfreiheit berührt wird (Rn 68 ff), ob eine Beeinträchtigung vorliegt (Rn 86 ff) und ob die Beeinträchtigung gerechtfertigt ist (Rn 107 ff).

1. Schutzbereich der Grundfreiheiten 68

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Fall 8: (EuGH, Slg 1991, I-5627 ff – Bleis) Die deutsche Staatsangehörige B hat beim französischen Bildungsministerium die Zulassung zum externen Auswahlverfahren für den Erwerb eines Befähigungsnachweises für das Lehramt an höheren Schulen im Fach Deutsch beantragt. Der Antrag wurde wegen ihrer Staatsangehörigkeit abgelehnt. Das daraufhin angerufene französische Gericht hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die Beschäftigung als Lehrkraft für das höhere Lehramt eine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung iSd Art 45 IV AEUV darstellt.

Fall 9: (EuGH, Slg 2010, I-13019 ff – Josemans = JK 2011, AEUV Art 56/1). Die Niederlande verfolgt eine Politik der Toleranz gegenüber dem Verkauf und Konsum von Cannabis. Dies hat zur Einrichtung sog Coffeeshops geführt. Um den Drogentourismus einzuschränken, hat der Gemeinderat von Maastricht bestimmt, dass nur Personen, die ihren tatsächlichen Wohnsitz in den Niederlanden haben, der Zutritt zu Coffeeshops gestattet ist. J betreibt in der Gemeinde Maastricht einen Coffeeshop, in welchem weiche Drogen, alkoholfreie Getränke sowie Esswaren verkauft und konsumiert werden. Da er auch nicht in den Niederlanden wohnhaften Personen Zutritt gewährte, verfügte der Bürgermeister von Maastricht die Schließung des Shops. Steht diese Maßnahme im Einklang mit den Grundfreiheiten?

Die Grundfreiheiten vermögen ihren Schutz nur zu entfalten, wenn ein Tun, Dulden oder Unterlassen in sachlicher, personeller, räumlicher und zeitlicher Hinsicht an den Grundfreiheiten gemessen werden kann. a) Sachlicher Schutzbereich

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Der Schutz der Grundfreiheiten kommt in sachlicher Hinsicht nur zum Zuge, wenn fünf Voraussetzungen gegeben sind:

242 Näher dazu EuGH, Slg 2000, I-3625, Rn 34 – Buchner; Ehlers in: ders/Schoch (Hrsg) Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 8 Rn 64. Zum Geltungsanspruch des Unionsrechts in zeitlicher Hinsicht sowie zur (vom EuGH bisher stets abgelehnten) übergangsweisen Hinnahme unionsrechtswidriger Zustände vgl Ehlers/Eggert JZ 2008, 585, 587 ff.

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aa) Anwendbarkeit der Grundfreiheiten Zunächst müssen die Grundfreiheiten anwendbar sein. Die Anwendbarkeit könnte auch vorab (vor Eingehen auf den Schutzbereich) geprüft werden. Nicht anwendbar sind die Grundfreiheiten, wenn das Sekundärrecht eine abschließende Regelung trifft (Rn 8). Liegt eine solche vor, kommt es darauf an, ob das Sekundärrecht gültig ist. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben, wenn das Sekundärrecht mit den Grundfreiheiten kollidiert. In solchen Fällen sind letztere auch beim Vorliegen abschließenden Sekundärrechts als Kontrollmaßstäbe heranzuziehen.

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bb) Grenzüberschreitender Bezug Sodann muss ein grenzüberschreitender Bezug gegeben sein (vgl Rn 25 ff, 31).

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cc) Geschützte Verhaltensweisen Des Weiteren werden nur bestimmte Verhaltensweisen von Personen geschützt: nämlich solche, die sich auf den Warenverkehr, die Betätigung von Arbeitnehmern, die Niederlassung, den Dienstleistungsverkehr sowie den Kapital- oder Zahlungsverkehr beziehen (vgl Rn 3 ff). Die einschlägigen Garantien sind eigenständig (dh autonom und nicht nach den Maßstäben des nationalen Rechts) auszulegen. Der EuGH bevorzugt die systematischteleologische Methode, wobei er sich vom effet utile des Unionsrechts leiten lässt. Dies hat zur Folge, dass der Schutzbereich der Grundfreiheiten weit, die Ausnahme- und Beschränkungsmöglichkeiten demgegenüber eng ausgelegt werden. Lösung Fall 8: Gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens gem Art 267 AEUV bestehen keine Bedenken. Eine Beschäftigung iSv Art 45 IV AEUV ist nur anzunehmen, wenn eine Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben gegeben ist, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates (oder anderer öffentlicher Körperschaften) gerichtet sind und deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen. Als Ausnahme vom Grundprinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist Art 45 IV AEUV so auszulegen, dass sich seine Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der durch die Norm geschützten Interessen unbedingt erforderlich ist. Die pädagogische Tätigkeit eines Lehrers ist nicht typischerweise mit hoheitlichen (einseitigen) Befugnissen verbunden. Zudem ist nicht ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des Stelleninhabers zum Staat unerlässlich. Daher stellt die Beschäftigung als Lehrkraft für das höhere Lehramt keine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung iSd Art 45 IV AEUV dar.

Da die Grundfreiheiten einen unterschiedlichen Schutzbereich haben, entscheidet die Bestimmung des Schutzbereichs zugleich über die Abgrenzung der Grundfreiheiten. ZB kann die Werbung für ein Produkt als flankierendes Recht der Warenverkehrsfreiheit anzusehen sein (Annexrecht 243), die Werbung kann sich aber ebenso als Dienstleistung darstel-

243 Zur Unvereinbarkeit eines diskriminierenden Werbeverbots für Waren mit der Warenverkehrsfreiheit vgl Fall 11.

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len.244 Fällt ein Verhalten unter den Schutzbereich mehrerer Grundfreiheiten, sind die Grundfreiheiten grds nebeneinander anwendbar. Das ist zumal dann der Fall, wenn sich das Verhalten in Teilkomplexe aufspalten lässt. Möchte sich zB eine Gesellschaft aus dem EU-Ausland im Inland niederlassen, um von dort aus Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat zu erbringen, ist wegen der Trennbarkeit der Verhaltensweisen sowohl die Niederlassungs- als auch die Dienstleistungsfreiheit betroffen. Auch wenn es sich um einen einheitlichen Vorgang handelt, schließen sich die Grundfreiheiten schon wegen der unterschiedlichen Normzwecke nicht notwendigerweise aus.245 ZB soll der Kapitaltransfer in das Ausland zum Zwecke der Gründung einer Gesellschaft sowohl die Kapitalverkehrsals auch die Niederlassungsfreiheit berühren.246 Lässt sich dagegen eine Handlungsweise nach ihrem Schwerpunkt eindeutig einer Grundfreiheit zuordnen und sind auch die anderen Grundfreiheiten demgegenüber „völlig zweitrangig“, ist deren Schutzbereich gar nicht erst eröffnet.247 So wird man etwa die Mitnahme des Umzugsguts beim Umzug von einem Mitgliedstaat in einen anderen zwecks Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit sowie die in diesem Zusammenhang erfolgenden Direktinvestitionen der Niederlassungund nicht der Warenverkehrs- oder der Kapitalverkehrsfreiheit zuzuordnen haben. Die Schwerpunktbetrachtung führt idR nicht zu einer Verkürzung des Schutzes der Grundfreiheiten, weil sich die Gewährleistungsgehalte, Beeinträchtigungsmodalitäten und Rechtfertigungsmöglichkeiten von Beeinträchtigungen der verschiedenen Grundfreiheiten weitgehend angenähert haben. Anderes gilt aber insbesondere für das Verhältnis der Freiheiten des Personenverkehrs und des Kapital- und Zahlungsverkehrs, weil sich auf die zuletzt genannten Freiheiten im Gegensatz zu den erstgenannten auch Drittstaatsangehörige berufen können (Rn 49 ff). In Fällen der Drittstaatsbezogenheit entscheidet die Schwerpunktsetzung demgemäß darüber, ob das Unionsrecht überhaupt Schutzwirkungen entfaltet (vgl Fall 4). Da sich vielfach darüber streiten lässt, ob die Freiheiten des Personenverkehrs oder diejenigen des Kapital- und Zahlungsverkehrs „völlig zweitrangig“ sind248, sollten die Freiheiten im Zweifelsfall parallel angewendet werden. 77

Lösung Fall 9: 1. Verkauf von Cannabis: Aus der vom EuGH angenommenen allgemeinen Anerkennung der Schädlichkeit von Betäubungsmitteln (einschließlich derjenigen auf Hanfbasis) folgert der Gerichtshof, dass sich J nicht auf die Grundfreiheiten (oder Art 18 iVm 21 AEUV) be-

244 Vgl zB EuGH, Slg 1995, I-1141, Rn 39 – Alpine Investments. Zur Zuordnung eines Vertriebs von Waren vgl EuGH, Slg 2010, I-12213, Rn 42 ff – Ker-Optika. 245 Die Rspr des EuGH ist nicht eindeutig. So hat der EuGH teilweise davon gesprochen, dass die Schutzbereiche der Art 45, 49 u 56 AEUV einander ausschließen (EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 20 – Gebhard), andererseits begnügt er sich mit einer Gesamtschau oder stellt einen Verstoß gegen „Art 48, 52“ (heute Art 45, 49 AEUV) fest (EuGH, Slg 1996, I-1307, Rn 24 – Kommission/Frankreich; Slg 1997, I-3327, Rn 16 – Kommission/Irland). Wie hier Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 34 AEUV Rn 23. 246 Vgl EuGH, Slg 1995, I-3955, Rn 8 ff – Svensson u Gustavsson; Slg 2002, I-4809, Rn 58 f – Kommission/Belgien; Frenz GF, Rn 406. 247 Vgl zB EuGH, Slg 1994, I-1039, Rn 20 ff – Schindler; Slg 2004, I-3025, Rn 45 – Herbert Karner; Slg 2004, I-9609, Rn 24 – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13 (Fall 16); Slg 2006, I-9521, Rn 34 – Fidium Finanz = JK 2007, EGV Art 49/16 (Fall 4); Slg 2010, I-12213, Rn 43 – Ker-Optika. 248 Vgl zu der Rspr, die keineswegs eine einheitliche Linie erkennen lässt, Germelmann EuZW 2008, 596 ff; Sedemund BB 2006, 2781, 2783 f.

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rufen kann (diese Argumentation ist zweifelhaft249). Der Sache nach dürfte der EuGH damit wegen des generellen Verbots bereits den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten (sowie des allgemeinen Diskriminierungsverbots) und nicht erst die Einschlägigkeit des Schutzbereichs für nicht gegeben erachten. 2. Verkauf von alkoholfreien Getränken und Esswaren: Das Zutrittsverbot für die Gebietsfremde berührt die Waren- und Dienstleistungsfreiheit. Da beim Verkauf von alkoholfreien Getränken und Esswaren der Gesichtspunkt des freien Warenverkehrs gegenüber der Dienstleistungsfreiheit als „völlig zweitrangig“ angesehen wird (und Art 18 AEUV nur subsidiär gilt), sieht der EuGH allein Art 56 AEUV als einschlägig an (auch diese Argumentation ist sehr zweifelhaft, da die Coffeeshops vielfach nur besucht werden, um Cannabis zu kaufen). Der Umstand, dass nur „Ansässigen“ der Zutritt zu den Coffeeshops gestattet wird, stellt eine versteckte Diskriminierung dar, weil die Gefahr besteht, dass sich die Unterscheidung hauptsächlich zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirkt. Diskriminierungen können nach Art 62 iVm 52 I AEUV ua aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und dem Schutz der Gesundheit der Bürger gerechtfertigt sein, wenn sich die Maßnahme als verhältnismäßig erweist. Diese Voraussetzungen hält der EuGH für gegeben, weil das Verbot, Gebietsfremden den Zutritt zu Coffeeshops zu gestatten, dazu beitrage, den Drogentourismus erheblich zu begrenzen und die durch ihn verursachten Probleme zu verringern (gut vertretbar wäre es, die Differenzierung zwischen Ansässigen und Nichtansässigen als inkohärent anzusehen250).

Für die Abgrenzung der Grundfreiheiten voneinander sowie von anderen Gewährleistungen ist ferner bedeutsam, ob ein Rangverhältnis besteht. Dies könnte für die Dienstleistungsfreiheit von Belang sein. Nach dem Wortlaut des Art 57 UA 1 AEUV sind Dienstleistungen nur bestimmte Leistungen, „soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen“. Dies könnte iSe Subsidiarität verstanden werden. Der EuGH ist dieser Betrachtungsweise entgegengetreten. In Art 57 UA 1 AEUV gehe es nur um die Definition der Dienstleistungen, ohne zwischen der Dienstleistungsfreiheit und den übrigen Grundfreiheiten einen Vorrang festzulegen. Ein solcher Vorrang könne auch nicht aus Art 58 II AEUV abgeleitet werden. Diese Bestimmung richte sich namentlich an den Unionsgesetzgeber und sei mit der potenziell unterschiedlichen Entwicklung bei der Liberalisierung der Dienstleistungen auf der einen Seite und des Kapitalverkehrs auf der anderen Seite zu erklären.251 Die Bestimmungen des EAGV gehen als leges speciales dem AEUV und damit auch den Grundfreiheiten vor (vgl auch Rn 53).

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dd) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Grundfreiheiten Der EuGH hat in zahlreichen Entscheidungen davon gesprochen, dass eine missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf das Unionsrecht (und damit auch auf die Grundfreiheiten) nicht statthaft ist.252 Vergleichend kann darauf hingewiesen werden, dass Art 17 EMRK (→ § 2 Rn 69, 73, 82) und 54 GRCh (→ § 14 Rn 95) die missbräuchliche Inanspruchnahme von Rechten ausdrücklich verbieten. Von Missbrauch kann gesprochen 249 250 251 252

Vgl Purnhagen EuZW 2011, 225; Schröder JZ 2011, 629 ff. Vgl auch Schröder JZ 2011, 629, 631. EuGH, Slg 2006, I-9521, Rn 32 f – Fidium Finanz = JK 2007, EGV Art 49/16 (Fall 4). Vgl grundlegend EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 24 – Centros mit zahlreichen w Nachw.

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werden, wenn der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr dazu benutzt werden soll, sich ungerechtfertigte Vorteile zu verschaffen. Indessen ist größte Zurückhaltung bei der Annahme von Missbrauchstatbeständen geboten. Vielfach dürfte es sich nur um „immanente“ Schutzbereichsbegrenzungen handeln, die sich aus der Einheit des Unionsrechts ergeben. So können sich Rauschgifthändler deshalb nicht auf die Freiheit des Warenverkehrs berufen, weil dies der Menschenwürde (Art 1 GRCh) und den Schutzpflichten der Unionsgrundrechte zuwiderlaufen würde. Ob man dies als Rechtsmissbrauch bezeichnet, ist eine Frage der terminologischen Verständigung. Zumeist läuft die Prüfung, ob die konkrete Ausübung der Grundfreiheit missbräuchlich ist, nur darauf hinaus, die inhaltliche Tragweite der Freiheit selbst zu ermitteln (also zB festzustellen, ob wirklich ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt).253 Grds dürfen Vergünstigungen, die den Schutz der Einzelnen zu dienen bestimmt sind und diesen daher ein subjektives Recht einräumen, auch in Anspruch genommen werden.254 So ist es gerade der Sinn der Grundfreiheiten, den Wirtschaftsteilnehmern die Möglichkeit einzuräumen, sich die Vorteile des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs zunutze zu machen. Dementsprechend steht es zB im Belieben des Einzelnen, eine Gesellschaft in dem Mitgliedstaat zu errichten, dessen gesellschaftsrechtliche Vorschriften ihm die größte Freiheit lassen, mag die Gesellschaft in diesem Staat auch keinerlei Tätigkeit entfalten. Ein missbräuchliches oder betrügerisches Verhalten ist hierin noch nicht zu sehen.255 Anderes nimmt der EuGH zB an, wenn es sich bei der Auslandsgründung um eine „rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltung“ zum Zwecke der Steuerumgehung handelt.256 Schließlich ist es in erster Linie Sache der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass sich einige ihrer Staatsangehörigen unter Missbrauch der durch Unionsrecht geschaffenen Erleichterungen der Anwendung des nationalen Rechts entziehen. Betroffen ist also grds nicht die Schutzbereichs- sondern die Rechtfertigungsebene.257 ee) Nichtvorliegen von Bereichsausnahmen 80 81

Ferner darf keine Bereichsausnahme vorliegen, dh keine Ausklammerung aus dem Schutzbereich der Grundfreiheiten. Der AEUV kennt verschiedene ausdrückliche Bereichsausnahmen. So findet die Garantie der Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung (Art 45 IV AEUV; Fall 8; → § 9 Rn 27). Ferner erstrecken sich die Bestimmungen über die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nicht auf die Tätigkeiten, die in einem Mitgliedstaat dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind (Art 51 UA 1 iVm 62 AEUV; → §§ 10 Rn 43; § 11 Rn 61). Zudem kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission beschließen, dass die Kapitel über die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit auf 253 Vgl GA La Pergola, EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 20 – Centros. 254 ZB hat es der EuGH nicht als missbräuchlich angesehen, wenn eine im 6. Monat schwangere Chinesin allein deshalb nach Irland einreist, um nicht nur ihrem dort geborenen Kind mit dem automatischen Erwerb der Staatsangehörigkeit (ius soli) die Unionsbürgerrechte, sondern auch sich selber ein Aufenthaltsrecht (zwecks Versorgung des Kindes) zu verschaffen: EuGH, Slg 2004, I-9925, Rn 34 ff – Chen. 255 EuGH, Slg 2003, I-10155, Rn 132 ff – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4. 256 EuGH, Slg 2006, I-7995, Rn 55 – Cadbury Schweppes. Vgl ferner zB Slg 2007, I-2107, Rn 92 – Thin Cap Test Claimants. 257 Vgl EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 20 – Centros.

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bestimmte Tätigkeiten keine Anwendung finden (Art 51 UA 2 iVm 62 AEUV). Von dieser (sachlich nicht gerechtfertigten) Bestimmung ist kein Gebrauch gemacht worden. Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben, gelten gem Art 106 II AEUV die Vorschriften des Vertrages nur, soweit die Anwendung dieser Vorschrift nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert.258 Teilweise werden die genannten Bestimmungen nicht als sachliche Bereichsausnahmen, sondern als Schrankenregelungen in Gestalt von Rechtfertigungsnormen angesehen. Während sich eine Grenze des sachlichen Anwendungsbereichs durch eine abstrakte Festlegung sowie dadurch auszeichne, dass es nicht auf die relative Bedeutung kollidierender Rechtsgüter ankomme, sei für die Rechtfertigung einer Maßnahme kennzeichnend, dass sie verhältnismäßig sein müsse.259 Dieser Betrachtungsweise ist nicht zu folgen.260 Zum einen ist der Wortlaut der genannten Vorschriften eindeutig („keine Anwendung“, „gelten …, soweit“; im englischen Text: „shall not apply“, „shall be the subject of the rules … insofar“; im französischen Text: ne sont pas applicables; sont soumises aux règles, dans les limites ). Des Weiteren zeigt auch die Gegenüberstellung von Art 51 und 52 AEUV, dass der Vertrag zwischen Bereichsausnahmen und Rechtfertigungsbestimmungen unterscheidet. In Art 52 AEUV wird die Rechtfertigungsebene ausdrücklich angesprochen. Wäre Art 51 AEUV ebenfalls eine Rechtfertigungsnorm, gäbe eine gesonderte Regelung keinen Sinn. Schließlich sind Bereichsausnahmen ebenso wie unbestimmte Rechtsbegriffe im Tatbestand einer Norm durchaus einer relativierenden Abwägung zugänglich.261 Der Abwägungsprozess verläuft aber nicht identisch wie bei Rechtfertigungsvorschriften. So geht es hier nicht darum, eine praktische Konkordanz zwischen kollidierenden Rechtsgütern herzustellen, sondern die Bereichsausnahmen teleologisch im Lichte der Vertragsbestimmungen nachvollziehend auszulegen. In diesem Sinne spricht der EuGH zB davon, dass die Ausnahmen nicht weiter reichen dürfen, „als der Zweck es erfordert, um dessen Willen sie vorgesehen sind.“262 Da es sich bei den Bereichsausnahmen um unionsrechtliche Freistellungsregelungen handelt, bestimmt sich deren Reichweite nach dem Unionsrecht und nicht nach mitgliedstaatlichem Recht (vgl auch Rn 7 u 11).263 Es besteht Übereinstimmung darüber, dass die Vorschriften ihrem Ausnahmecharakter entsprechend eng auszulegen sind. So zählen zu den Beschäftigungen in der öffentlichen Verwaltung iSv Art 45 IV AEUV nur diejenigen Stellen, die „eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher

258 Vgl dazu statt vieler Ehlers Gutachten E zum 64. Deutschen Juristentag, 2002, E 52 ff. 259 Vgl namentlich Jarass EuR 1995, 202, 221 f; dens FS Everling Bd I, 1995, S 593, 604 f; dens EuR 2000, 705, 717 f. 260 Vgl Ehlers NVwZ 1990, 810, 812; Kingreen (Fn 1) S 76 f; Lackhoff (Fn 92) S 152 f; Streinz ER, Rn 836. 261 Vgl etwa BVerwGE 81, 155, 158 f, wonach ein Ausweisungsgrund schwerwiegend iSd (inzwischen außer Kraft getretenen) § 48 I AuslG (vgl nunmehr §§ 50 ff AufenthG) ist, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers ein deutliches Übergewicht hat. 262 Vgl EuGH, Slg 1974, 631, Rn 42 f – Reyners. Vgl ferner Slg 1988, 1637, Rn 10 – Kommission/ Griechenland. 263 Vgl etwa (für Art 45 IV AEUV) EuGH, Slg 1980, 3881, Rn 19 – Kommission/Belgien, vgl auch Fall 8.

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Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind.“ Hinzu kommen muss „ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten …, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen“.264 Unter die Ausnahmeregelung fallen zB Richter, Soldaten und Polizisten, nicht aber Beschäftigte der öffentlichen Verwaltung in den Bereichen Forschung, Bildungswesen, Gesundheitswesen oder Versorgung mit Wasser, Gas und Elektrizität.265 Eine Ausübung öffentlicher Gewalt iSv Art 51 UA 1 AEUV ist nur anzunehmen, wenn die Wahrung der Interessen, deren Schutz diese Bestimmung den Mitgliedstaaten erlaubt, unbedingt erforderlich ist.266 Dies dürfte nur anzunehmen sein, wenn die Tätigkeit mit dem Recht verbunden ist, einseitig verbindliche Anordnungen zu treffen.267 Nicht erfasst werden Hilfs- oder Vorbereitungstätigkeiten für die Ausübung öffentlicher Gewalt, sowie Tätigkeiten, deren Ausübung die Beurteilungoder Entscheidungsbefugnisse dieser Behörden oder Gerichte unberührt lässt.268 Dem entsprechend hat der EuGH festgestellt, dass die Tätigkeit der Notare nicht unter Art 51 I AEUV fällt (und die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art 49 AEUV verstoßen hat, dass sie für den Zugang zum Beruf des Notars eine Staatsangehörigkeitsvoraussetzung aufgestellt hat).269 Auch bei der Anwendung des Art 106 II AEUV wird betont, dass die Ausnahme von der Geltung der Vertragsvorschriften erforderlich sein muss.270 Ohnehin darf nach Art 106 II 2 AEUV die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaße beeinträchtigt werden, das dem Interesse der EU zuwiderläuft. Fraglich ist, ob es neben den geschriebenen auch ungeschriebene Bereichsausnahmen gibt. Seit seiner grundlegenden Cassis de Dijon-Entscheidung aus dem Jahre 1979271 geht der EuGH in stRspr davon aus, dass die Grundfreiheiten auch durch „zwingende Erfordernisse“ (im Allgemeininteresse liegende Zwecke272) begrenzt oder eingeschränkt werden dürfen. Ob es sich hierbei um Bereichsausnahmen in Form negativer Tatbestandsmerkmale oder um Rechtfertigungsgründe handelt, ist umstritten.273 Die Rspr des EuGH war 264 EuGH, Slg 1980, 3881, Rn 10 – Kommission/Belgien; Slg 1996, I-3285, Rn 34 – Kommission/ Griechenland. Nach hM müssen die genannten Kriterien kumulativ vorliegen. Näher zum Ganzen Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 134 ff; Franzen in: Streinz, EUV/AEUV, Art 39 AEUV Rn 146 ff; Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 109. 265 Vgl Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 138 ff mit Rspr-Nachw. 266 Vgl EuGH, Slg 2007, I-10239, Rn 37, 46 – Kommission/Deutschland. 267 Vgl auch Schlussanträge GA Mayras, EuGH, Slg 1974, 631, 665 – Reyners (wenn der Staat „dem Bürger gegenüber von Sonderrechten, Hoheitsprivilegien und Zwangsbefugnissen Gebrauch macht“). Näher dazu Jarass RIW 1993, 1, 4; Tiedje/Troberg in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 45 EGV Rn 7 ff; Lackhoff (Fn 92) S 158. 268 EuGH, Slg 2011, I-4355, Rn 87 ff – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3. 269 EuGH, Slg 2011, I-4355, Rn 78 ff – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3. 270 Vgl statt vieler Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 106 AEUV Rn 69 ff. 271 EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8 – Cassis de Dijon. 272 EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 8 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. 273 Für immanente Tatbestandsausnahmen zB Jestedt/Kaestle EWS 1994, 26, 27; Schilling EuR 1994, 50, 52; Ahlt/Deisenhofer (Fn 183) S 172. Für die Einordnung als Rechtfertigungsgründe Hirsch ZEuS 1999, 503, 511; Lecheler/Gundel Übungen im Europarecht, 1999, 107, 109 f; Jarass EuR 2000, 705, 719.

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zunächst nicht eindeutig. In der Cassis-Entscheidung scheint der EuGH von negativen Tatbestandsmerkmalen des Art 30 EWGV (heute Art 34 AEUV) ausgegangen zu sein. In den neueren Entscheidungen wird aber seit langem zu Recht ausdrücklich von Rechtfertigung gesprochen.274 Da eine volle Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen ist, empfiehlt es sich, die zwingenden Erfordernisse in Einklang mit der neueren Rspr des EuGH der Rechtfertigungsebene zuzuordnen (Rn 118 f). b) Personeller, räumlicher und zeitlicher Schutzbereich Die Grundfreiheiten schützen nur bestimmte Personen (Rn 43 ff). Ferner setzt ihre Anwendung voraus, dass der Geltungsbereich der Grundfreiheiten in räumlicher (Rn 65) und zeitlicher (Rn 66) Hinsicht gegeben ist. Wegen der Einzelheiten kann auf die oben getroffenen Ausführungen verwiesen werden.

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2. Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Grundfreiheiten Fall 10: (EuGH, Slg 2005, I-4133 ff – Burmanjer = JK 2006, EGV Art 28/6) Der Niederländer B verkauft in Belgien auf öffentlichen Straßen ohne die nach belgischem Recht erforderliche Genehmigung Abonnements für deutsche und niederländische Zeitschriften. Das belgische Gericht möchte wissen, ob das Genehmigungserfordernis mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Die Grundfreiheiten können nur durch (nicht gerechtfertigte) Beeinträchtigungen verletzt werden. Vielfach wird statt von Beeinträchtigung auch von Beschränkung gesprochen.275 Hierzu könnte der Wortlaut der Art 49 UA 1, 56 UA 1, 63 I, II AEUV angeführt werden. Doch wenden sich die Grundfreiheiten nach stRspr des EuGH nicht nur gegen Diskriminierungen, sondern auch gegen diskriminierungsfreie Maßnahmen, die wiederum als Beschränkung bezeichnet werden (Rn 24 ff, 30 ff). Dann aber empfiehlt es sich, als Oberbegriff für die Schmälerung der Grundfreiheiten denjenigen der Beeinträchtigung zu verwenden.

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a) Handeln, Dulden oder Unterlassen eines Verpflichteten Der Schutzbereich der Grundfreiheiten kann nur durch ein Tun, Dulden oder Unterlassen eines Verpflichteten beeinträchtigt werden. Es ist gut vertretbar, dieses Erfordernis bereits im Rahmen der Schutzbereichsbestimmung zu überprüfen. Duldungen oder Unterlassungen sind nur dann dem Handeln gleichzustellen, wenn eine Rechtspflicht zum Tätigwerden besteht – zB in Form der Gewährung hoheitlichen Schutzes (Rn 38) oder der Vornahme von Verfahrensvorkehrungen (Rn 41). Als Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten kommen nach der Rspr des EuGH nicht nur die Mitgliedstaaten und die EU, sondern uU auch Privatpersonen in Betracht (Rn 54 ff).

274 Vgl zB EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 18 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1; Slg 1997, I-3843, Rn 46 – De Agostini. Näher zum Meinungsstand Kingreen in: Calliess/Ruffert EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 83. 275 Näher zum Sprachgebrauch Valta (Fn 51) 103 ff.

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b) Art und Weise der Beeinträchtigung aa) Erfordernis einer Diskriminierung oder Beschränkung 89

Eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten setzt weiter voraus, dass die Verpflichteten in bestimmter Weise auf die Grundfreiheiten einwirken. Als Modalitäten der Einwirkung kommen Diskriminierungen (Rn 24 ff) sowie unterschiedslose Beschränkungen (Rn 30 ff) in Betracht. bb) Vorliegen einer Diskriminierung oder Beschränkung (1) Diskriminierungsbegriff

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Der EuGH legt einen sehr weiten Diskriminierungsbegriff zugrunde (Rn 28). Eine Diskriminierung ist anzunehmen, wenn das nationale Recht oder der Rechtsanwender einen grenzüberschreitenden Vorgang notwendig oder typischerweise schlechter als einen rein internen behandelt.276 Das Diskriminierungsverbot enthält somit ein Schlechterstellungsverbot.277 Dieses ist in der Regel, aber nicht notwendigerweise, gleichbedeutend mit einer Inländergleichbehandlung (weil zur Beseitigung der Diskriminierung auch eine Besserstellung der EU-Ausländer gegenüber den Inländern in Betracht kommt, Rn 27).278 Relevant sind nur Schlechterstellungen im Hinblick auf den grenzüberschreitenden Vorgang, nicht sonstige Ungleichbehandlungen (zB allein von Erzeugern und Verbrauchern oder Männern und Frauen). Eine Schlechterstellung in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn sich die Differenzierungen nicht ohne Rückgriff auf ein Kriterium mit grenzüberschreitendem Bezug oder grenzüberschreitender Auswirkung (zB Staatsangehörigkeit, Wohnsitz, Herstellungsort, Niederlassungsort, Sprache usw) begründen lassen. Neben offenen werden auch versteckte Diskriminierungen erfasst (Rn 28). Unerheblich ist, ob die Schlechterstellung des grenzüberschreitenden Vorgangs

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Ganz entfernte Wirkungszusammenhänge dürften allerdings ebenso wie bei den Beschränkungen (Rn 105) auszuscheiden sein. Das gilt zumal dann, wenn ein Verstoß Privater gegen Grundfreiheiten in Betracht kommt.

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auf finalem Handeln beruht oder unbeabsichtigt war, auf einen Rechts- oder einen Realakt zurückgeht,279 unmittelbar oder mittelbar verursacht worden ist, tatsächlich oder potenziell wirkt oder schwerwiegende respektive geringe Beeinträchtigungen nach sich zieht.280

Lösung Fall 10: Der Schutzbereich des Art 34 AEUV ist eröffnet, da Zeitschriften als geldwerte körperliche Gegenstände Waren sind, der Verkauf deutscher und niederländischer Zeitschriften in Belgien einen grenzüberschreitenden Sachverhalt betrifft und sekundärrechtliche Regelungen

276 Teilweise wird die Vergleichbarkeit von grenzüberschreitendem und Inlandssachverhalt erst auf der Rechtfertigungsebene geprüft. Vgl Kokott/Ost EuZW 2011, 496, 499. 277 Vgl zB EuGH, Slg 1989, 195, Rn 10 ff – Cowan; Jarass EuR 1995, 202, 216. 278 Für ein Recht der Inländer auf Gleichbehandlung dagegen Lackhoff (Fn 92) S 222 ff. 279 Vgl für den Fall staatlich finanzierter Werbekampagnen EuGH, Slg 1982, 4005, 4023 Rn 27 f – „Buy Irish“; Slg 1983, 4083, Rn 16 f – Apple and Pear Development Council. 280 Vgl Gebauer (Fn 148) S 353 f. Vgl aber auch Rn 92, 105.

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des Vertriebs von Zeitschriften nicht existieren. Das Genehmigungserfordernis könnte eine Maßnahme gleicher Wirkung iSd Art 34 Alt 2 AEUV sein. Die nationale Regelung über den ambulanten Verkauf betrifft, was Zeitschriftenabonnements angeht, aber nur eine bestimmte Verkaufsmodalität, nämlich den Vertrieb im Wege des ambulanten Gewerbes. Verkaufsmodalitäten stellen nach der Keck-Rspr (Rn 99) keine Maßnahmen gleicher Wirkung dar, wenn sie zum einen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und zum anderen den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berühren. Das Genehmigungserfordernis gilt unterschiedslos für alle Wirtschaftsteilnehmer. Es liegt auch keine offene Diskriminierung vor. Doch könnte eine versteckte Diskriminierung gegeben sein. Nach Ansicht des EuGH lässt sich anhand der ihm vorliegenden Angaben nicht mit Sicherheit feststellen, ob durch die nationale Regelung über den ambulanten Verkauf der Absatz von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten stärker beeinträchtigt wird als der von Erzeugnissen aus dem Königreich Belgien. Doch scheine aus der dem Gerichtshof übermittelten Akte hervorzugehen, dass eine solche Wirkung, falls die fragliche Regelung sie haben sollte, zu unbedeutend und zufällig wäre, als dass sie für geeignet gehalten werden könnte, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern oder auf andere Weise zu stören. Sollte die belgische Gerichtsbarkeit dennoch eine versteckete Diskriminierung annehmen, habe sie zu prüfen, ob das Genehmigungserfordernis durch ein Ziel des Allgemeininteresses iSd der Cassis-Rspr (Rn 118 f) gerechtfertigt ist (hier: Verbraucherschutz) und ob es in einem angemessenen Verhältnis zu diesem Ziel steht.

(2) Beschränkungsbegriff Fall 11: (EuGH, Slg 1995, I-1923 ff – Mars) Die M-GmbH führt aus Frankreich Eiscremeriegel nach Deutschland ein, die in Frankreich von einem amerikanischen Konzern zum Zwecke des europaweiten Vertriebs rechtmäßig hergestellt werden. Im Rahmen einer Werbekampagne ist die Menge der Eisriegel um 10 % erhöht worden. Auf der Verpackung wurde hierauf mittels des Aufdrucks „plus 10 %“ auf farblich hervorgehobener Fläche hingewiesen, wobei der Hinweis deutlich mehr als 10 % der Gesamtfläche des Riegels ausmacht. Ein in Deutschland gegründeter Verein zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs klagt vor einem deutschen Gericht auf Unterlassung der Werbeaktion. Einerseits liege ein Verstoß gegen das GWB vor. Der Aufdruck „plus 10 %“ sei geeignet, beim Verbraucher die Vorstellung hervorzurufen, das neue Erzeugnis werde zum gleichen Preis wie das alte angeboten. Die Händler dürften daher nicht den Preis erhöhen. Eine Preisbindung sei aber nicht mit dem GWB vereinbar. Andererseits sei die optische Gestaltung irreführend, da Verbraucher annehmen könnten, die Vergrößerung sei bedeutender als angegeben. Das deutsche Gericht möchte der Klage stattgeben, hat aber Bedenken, ob dies mit Art 34 AEUV vereinbar ist. Fall 12: (EuGH (GK), Slg 2009, I-519 – Kommission/Italien): Mit Vertragsverletzungsklage (Art 258 AEUV) beantragte die EU-Kommission beim EuGH festzustellen, dass das in der italienischen Straßenverkehrsordnung vorgesehene Verbot, Anhänger an Motorräder anzukoppeln, gegen die Warenverkehrsfreiheit verstößt.281

281 Vgl auch → § 8.

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Dem weiten Diskriminierungsbegriff entspricht ein ebenso weiter Beschränkungsbegriff. Dies lässt sich besonders deutlich am Beispiel der Rspr zur Warenverkehrsfreiheit zeigen. Art 34 AEUV verbietet nicht nur mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen (die in Bezug auf die Unionsstaaten heute kaum noch vorkommen), sondern auch alle Maßnahmen gleicher Wirkung.282 Nach der Dassonville-Formel des EuGH fällt darunter jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, „die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern.“ (Rn 30). Dies bedeutet, dass es auf die Finalität, Vorhersehbarkeit und rechtliche Qualität der Maßnahme nicht ankommt und auch noch nicht eingetretene, aber mögliche Behinderungen sowie geringfügige Schutzbereichsbeeinträchtigungen283 als Beschränkungen anzusehen sind. Im Ergebnis ist danach nur auf die (tatsächliche oder potenzielle) Wirkung der Maßnahme bzw auf den (tatsächlichen oder potenziellen) Erfolg abzustellen. Eine Beschränkung (Maßnahme gleicher Wirkung) liegt bereits dann vor, wenn die (grenzüberschreitende) Ausübung der Warenverkehrsfreiheit in irgendeiner Weise behindert oder weniger attraktiv gemacht wird. Hierbei stellt der EuGH (neben dem Diskriminierungsverbot) maßgeblich auf zwei Kriterien ab: nämlich ob Anforderungen an Erzeugnisse gestellt werden, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurden284 (1), oder ob der freie Zugang zu den nationalen Märkten behindert wird (2).285 In solchen Fällen liegt stets eine Beschränkung vor. Die zuerst genannte Voraussetzung ist etwa gegeben, wenn eine in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Ware einer zusätzlichen Kontrolle unterworfen wird286 oder wenn Vorschriften über die Beschaffenheit der Ware287 über die Bezeichnung288 oder ihrer Zubereitung289 beachtet werden müssen. Das Kriterium der Marktzugangsbehinderung taucht auch im Rahmen der Anwendung der Keck-Formel auf (Rn 99), stellt aber nicht erst eine Rückausnahme da, sondern begründet positiv das Vorliegen einer Beschränkung. Behindert wird die Freiheit des Warenverkehrs selbst dann, wenn sich ein staatlicher Beamter in amtlicher Eigenschaft negativ über eingeführte Waren äußert, ohne dass sonstige Maßnahmen ergriffen worden sind.290 Entsprechendes wie für die Freiheit des Warenverkehrs gilt auch für die anderen Grundfreiheiten (Rn 30). Auch insoweit reicht es aus, wenn die

282 Zur Ausfuhrfreiheit vgl Rn 30. 283 Vgl EuGH, Slg 1993, I-2361, Rn 20 ff – Yves Rocher = JK 94, EWGV Art 30/4. 284 Dieses Kriterium hatte der EuGH bereits im Fall „Cassis de Dijon“ für maßgeblich erachtet, Slg 1979, 649 ff. 285 Insges wird somit ein Drei-Stufen-Test vorgenommen. Grdl EuGH, Slg 2009, I-519, Rn 33 ff – Kommission/Italien (GK), Fall 12; Slg 2009, I-4273, Rn 25 ff – Mickelsson/Roos; EuZW 2011, 112, Rn 49 – Ker-Optika; EuZW 2012, 509, Rn 33 ff. Näher dazu Brigola EuZW 2012, 248, 252; Streinz EuZW 2012, 511, 512; Stöbener/Stöbener/Wendel JURA 2012, 671 f. 286 EuGH, Slg 2002, I-607, Rn 36 f – Canal Satélite Digital; Slg 2008, I-505, Rn 28 ff – Dynamic Medien Verlag = JK 2008, EGV Art 28/10 (Fall 13). 287 Vgl zB EuGH, Slg 1994, I-3553, Rn 11 – van der Veldt. 288 Vgl zB EuGH, Slg 1980, 3839, Rn 15 – Fietje. 289 EuG, Slg 2006, I-8135, Rn 19 – Alfa Vita. 290 EuGH, Slg 2007, I-2749, Rn 66 – A.G.M-COS.MET Srl = JK 2008, EGV Art 28/8. Vgl auch zur (eine Beschränkung darstellenden) staatlich veranlassten Vergabe von Gütezeichen, die die Qualität eines Produktes mit der nationalen Herkunft veknüpfen Slg 2002, I-9993, Rn 14 ff – CMA-Gütesiegel m Anm Leible EuZW 2003, 23 ff.

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Ausübung der Freiheit weniger attraktiv gemacht wird.291 Dies ist – ebenso wie bei der Freiheit des Warenverkehrs – der Fall, wenn die von einem Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen, die obwohl sie unterschiedslos anwendbar sind, den Marktzugang von Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten betreffen und somit den innergemeinschaftlichen Handel behindern.292 Ob die Dassonville-Formel bzw das Attraktivitätskriterium auch dann anwendbar ist, wenn Private die Grundfreiheiten tangieren, lässt sich der EuGH-Rspr bisher nicht entnehmen. Doch dürfte es auch insoweit darauf ankommen, ob der Marktzugang behindert wird. Der äußerst weite Beschränkungsbegriff des EuGH, der sich deutlich von den an das Vorliegen von Grundrechtseingriffen in Deutschland gestellten Anforderungen absetzt, führte dazu, dass eine schier unübersehbare Zahl mitgliedstaatlicher Maßnahmen im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten einem Rechtfertigungstest unterzogen werden konnte und musste. So hat der EuGH zB auch das Sonntagsverkaufsverbot in Wales293 oder das (früher) in Deutschland geltende wettbewerbsrechtliche Verbot einer Preisgegenüberstellung294 als Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit angesehen. Es sei zwar wenig wahrscheinlich, dass sich die Verbraucher durch derartige Regelungen vom Erwerb der Erzeugnisse abhalten ließen. Gleichwohl könnten aber negative Folgen für das Verkaufsvolumen und folglich auch für das Einfuhrvolumen nicht ausgeschlossen werden.295 Um einer uferlosen Ausdehnung der Grundfreiheiten und einer damit verbundenen Überlastung des EuGH entgegenzuwirken, hat der Gerichtshof in dreifacher Hinsicht Schritte unternommen, um zu einer Eingrenzung der Grundfreiheiten zu kommen. Zunächst hat er in seiner Cassis-Rspr herausgearbeitet, dass Beschränkungen der Grundfreiheiten hingenommen werden müssen, wenn sie auf zwingenden Erfordernissen beruhen.296 Hierbei handelt es sich nach der hier vertretenen Ansicht allerdings nicht um eine Tatbestandsbeschränkung, sondern um die Zulassung weiterer Rechtfertigungsgründe (Rn 84). Dagegen hat der Gerichtshof erstmals in der Rechtssache Keck eine Tatbestandsreduzierung vorgenommen (Rn 99).297 Schließlich hat der EuGH verschiedentlich darauf hingewiesen, dass eine gewisse Nähebeziehung zwischen Maßnahme und beeinträchtigender Wirkung gegeben sein müsse (Rn 105).

291 Krit zur Unschärfe des Kriteriums „Attraktivitätsminderung“ GA Mischo, EuGH, Slg 1999, I-2835, Rn 57 – Pfeiffer. Vgl auch Thiemann Rechtsprobleme der Marke Sparkasse, 2008, 163, wonach das Kriterium dazu verleitet, die Grundfreiheiten von Ansprüchen auf behinderungsfreien Grenzübertritt in Leistungsansprüche auf möglichst attraktive Gestaltung grenzüberschreitender Aktivitäten umzudeuten. 292 EuGH, Slg 1995, I-1141 Rn 35, 38 – Alpine Investments; Slg 2009, I-3491, Rn 64 – Kommission/Italien (Kfz-Haftpflichtversicherung). 293 EuGH, Slg 1989, 3851, Rn 13 – Torfaen Borough Council; vgl auch Slg 1991, I-1027, Rn 9 – Marchandise; Slg 1992, I-6635, Rn 10 – B & Q. 294 EuGH, Slg 1993, I-2361, Rn 11 f – Yves Rocher = JK 94, EWGV Art 30/4; vgl auch Slg 1982, 4575, Rn 14 f – Oosthoek. 295 So für das Sonntagsverkaufsverbot EuGH, Slg 1991, I-997, Rn 8 – Conforama. 296 EuGH, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon; Craig/de Búrca EU, S 677 ff. 297 EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 14 ff – Keck. S hierzu statt vieler Behrens EuR 1992, 145 ff; Roth ZHR 1995, 78, 86 f; Oliver Free movement of goods in the European Community, 3. Aufl 1996, 100 ff; dens CMLRev 1999, 97 ff; Craig/de Búrca EU, S 654 ff.

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(a) Reduzierung des Beschränkungsbegriffs durch die Keck-Formel298 99

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Besonderes Interesse verdient die Einschränkung der Reichweite der Grundfreiheiten durch die Keck-Rspr des EuGH299 (→ § 8 Rn 41 ff). In der Rechtssache Keck hat es der Gerichtshof abgelehnt, das französische Verbot, Waren unter Einkaufspreis weiterzuverkaufen, an der Garantie des Art 34 AEUV zu messen. Entgegen der bis dahin geltenden Rspr seien mitgliedstaatliche Regelungen, die nur bestimmte Verkaufsmodalitäten betreffen, nicht als Maßnahmen gleicher Wirkung anzusehen, weil sie iSd Urteils Dassonville nicht geeignet seien, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern. Voraussetzung ist nach der Entscheidung des EuGH allerdings, dass die Regelungen erstens für alle betreffenden Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben (Universalitätskriterium) und zweitens den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berühren (Neutralitätskriterium).300 Zweifelhaft geblieben ist, ob und ggf wie sich das Neutralitätskriterium von einer Diskriminierung abgrenzen lässt. Gegen eine vollständige Gleichsetzung spricht, dass es im Falle der Bejahung einer Diskriminierung ohnehin nicht auf die Beschränkung der Grundfreiheit ankommt. Es dürfte anzunehmen sein, dass der Diskriminierungsbegriff (trotz der gebotenen weiten Auslegung) enger als das Neutralitätskriterium ist. So können Doppelbelastungen der Rechtsordnungen den Absatz der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich zusätzlich behindern, während es für die Frage der Diskriminierung nur auf die inländische Rechtsordnung ankommt (Rn 25).301 Nicht in gleicher Weise berühren zB Buchpreisbindungen an die vom Verleger im Inland festgesetzten Verkaufspreise die inländischen und importierten Bücher, weil die inländischen Importeure und ausländischen Verleger daran gehindert werden, Mindestpreise für den Handel anhand der Merkmale des Einfuhrmarktes festzulegen, wohingegen es inländischen Verlegern freisteht, auf ihre Erzeugnisse Mindestpreise für den Verkauf auf dem inländischen Markt selbst festzulegen.302 Über das Vorliegen der Voraussetzung der Keck-Kriterien entscheidet letztverbindlich der EuGH.303 Die Beweislast für das Vorliegen einer rechtlichen oder tatsächlichen Ungleichbehandlung trägt derjenige, der sich auf einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit beruft.304 Die Keck-Rspr, die durch zahlreiche Entscheidungen des EuGH bestätigt worden ist,305 zwingt dazu, produkt- und vertriebsbezogene (verkaufsbezogene) Maßnahmen voneinander abzugrenzen. Im Gegensatz zu den ersteren stellen sich letztere nicht als Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit dar, wenn sie unterschiedslos wirken. Die Abgrenzung von produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen kann erhebliche Schwierigkeiten be-

298 Vgl auch Epiney NJW 2013, 692, 694. 299 EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 16 – Keck; zur (neueren) Entwicklung Haltern ER, Rn 1658 ff; Kröger EuR 2012, 468 ff; Brigola EuZW 2012, 248 ff; ders/Dauses in: Dauses, HdBEUWirtschR, Bd I, Kap C I Rn 135 ff, 300. 300 EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 16 – Keck. 301 Vgl auch Plötscher (Fn 89) S 189 ff. 302 EuGH, Slg 2009, I-3717 – Fachverband der Buch- und Medienwirtschaft = JK 2010, AEUV Art 34/1. 303 Krit Lenz NJW 2004, 332 f. 304 EuGH, Slg 1997, I-3843, Rn 44 – De Agostini; Borchardt EU, Rn 915. 305 Vgl zur Rspr die Angaben bei Schroeder in: Streinz, EUV/AEUV, Art 34 AEUV Rn 55 ff; Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 255.

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reiten. Eine schematische Trennung lässt sich nicht durchführen.306 So stellen Werbeverbote zumeist Verkaufsmodalitäten dar. Wird dagegen auf einem Produkt geworben (vgl Fall 11) oder handelt es sich um ein generelles Werbeverbot, ist die Rechtslage eine andere.307 Als produktbezogene Regelung hat der EuGH zB Regelungen über die Bezeichnung, Form, Abmessung, Zusammensetzung, Aufmachung, Etikettierung und Verpackung von Waren angesehen.308 Als Vertriebsmodalitäten (Verkaufsmodalitäten) eingestuft wurden etwa Ladenschlussregelungen309, das Verbot von Fernsehwerbung für bestimmte Erzeugnisse310 oder das Verbot des Vertriebs einer bestimmten Säuglingsnahrung außerhalb von Apotheken311. Mit der Gegenüberstellung von produkt- und vertriebsbezogenen (verkaufsbezogenen) Maßnahmen werden nicht alle Regelungen des Warenverkehrs erfasst. So stellt sich die Frage, ob Nutzungsregelungen (wie das Verbot der Benutzung von Wassermotorradrädern außerhalb bezeichneter Gewässer312) den Verkaufsmodalitäten gleichzustellen sind. Hierfür hat GA Kokott plädiert.313 Ansonsten würde selbst ein nationales Tempolimit auf Autobahnen der Warenverkehrsfreiheit unterfallen, weil es die Nutzung und den Kauf eines besonders schnellen Fahrzeugs beeinflusst. Der EuGH ist diesem Vorschlag nicht gefolgt und hat in neueren Entscheidungen zT überhaupt auf die Heranziehung der KeckKriterien verzichtet (vgl Fall 12).314 Stattdessen wird für die Warenverkehrsfreiheit auf die Grundsätze der Nichtdiskriminierung (1) und der gegenseitigen Anerkennung von Erzeugnissen, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellt und in Verkehr gebracht wurden (2), sowie den freien Zugang zu den Märkten (3) abgestellt (Rn 96 u Fall 12). Die Rspr ist insofern verständlich, als es im Ergebnis nur darauf ankommt, ob der (diskriminierungsfreie) Zugang zum Markt in einem anderen Mitgliedstaat verweigert oder behindert wird. Trifft dies zu, liegt immer eine Beschränkung vor, ansonsten nicht. Der Beschränkungsbegriff und die Keck-Kriterien widersprechen sich daher nicht, sondern ergänzen sich. Während mittels des Beschränkungsverbotes positiv definiert wird, wann eine Maßnahme gleicher Wirkung gegeben ist (nämlich stets wenn der Marktzugang behindert wird, was immer, aber nicht nur bei einem Produktbezug der Fall ist), klammern die Keck-Kriterien negativ Maßnahmen aus, die nicht von Art 34 AEUV erfasst werden. Dazu können nach der hier vertretenen Ansicht neben Verkaufs- uU auch Nutzungsmodalitäten zu rechnen sein. Wenngleich es kaum gelingen dürfte, alle Abgrenzungen losgelöst von Wertungen des Einzelfalls trennscharf mit einer Formel zu erfassen, bedarf es weitergehender Konkretisierungen. 306 Vgl auch Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 34 AEUV Rn 48 f; Kingreen (Fn 1) S 125; → § 8 Rn 36 ff. 307 Vgl Stein EuZW 1995, 435, 436. 308 EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 15 – Keck. Vgl ferner Borchardt EU Rn 926 f. 309 EuGH, Slg 1994, I-2227, Rn 14 – t’Heukske. 310 EuGH, Slg 1997, I-3843, Rn 39 f – De Agostini. 311 EuGH, Slg 1995, I-1621, Rn 15 – Kommission/Griechenland. Zu weiteren Beispielen vgl Borchardt EU, Rn 928 ff. 312 Vgl EuGH, Slg 2009, I-4273 – Mickelsson/Roos. 313 EuGH, Slg 2009, I-4273, Rn 47 ff – Mickelsson/Roos; aA GA Bot, EuGH, Slg 2009, I-519, Rn 87 ff, 107 ff – Kommission/Italien (Fall 12). 314 Vgl auch EuGH, EuZW 2012, 508 Rn 33 ff – Asociación National de Expendedores de Tabaco. Allgemein krit zu der Keck-Rspr GA Maduro, EuGH, Slg 2006, I-8135, Rn 34 – Alfa Vita; GA Bot, Slg 2009, I-519, Rn 77 ff – Kommission/Italien (Fall 12). Näher zum ganzen Brigola EuZW 2012, 248 ff; Stöbener/Stöbener/Wendel JURA 2012, 590 f, 671 f.

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Lösung Fall 11: Da die Eisriegel des amerikanischen Konzerns in Frankreich hergestellt werden, handelt es sich um eine aus einem Mitgliedstaat stammende Ware (Art 28 II AEUV). Ein staatliches (durch Wettbewerbsvorschriften und Gerichtsurteil ausgesprochenes) Verbot, das sich gegen das Inverkehrbringen der Ware in Deutschland richtet, stellt sich iSd Dassonville-Formel (Rn 30, 96) als eine Maßnahme gleicher Wirkung dar, weil der Handel innerhalb der Union beschränkt wird. Es geht auch nicht nur um eine bloße Verkaufsmodalität iSd Keck-Rspr (Rn 99 ff). Der Produktbezug ergibt sich aus dem Umstand, dass die angegriffene Werbung auf der Verpackung angebracht ist und ein Verbot M oder den Konzern zwingen würde, die Ausgestaltung der Ware durch eine neue Verpackung zu verändern. Die Rechtfertigungsgründe (vgl Rn 107 ff) des Art 36 AEUV greifen nicht ein. Die unterschiedslos geltenden Beschränkungen sind auch nicht durch zwingende Erfordernisse gerechtfertigt. Die Interessen der Verbraucher wurden gewahrt. Die Preise sind nicht erhöht worden. Auch kann ein verständiger Verbraucher zwischen der Größe des Werbeaufdrucks und der Mengenerhöhung unterscheiden. Soweit die Händler während der kurzen Dauer der fraglichen Werbekampagne mittelbar gezwungen werden, ihre Preise nicht zu erhöhen, dient dies dem Verbraucherschutz, so dass das Werbeverbot nicht auf ein zwingendes Erfordernis gestützt werden kann. Zumindest würde ein Werbeverbot die Warenverkehrsfreiheit unverhältnismäßig beschränken. Daher muss das Gericht die Unterlassungsklage abweisen. Lösung Fall 12: Der EuGH hebt einleitend hervor, dass Art 34 AEUV die Verpflichtung widerspiegelt, sowohl die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der gegenseiten Anerkennung von Erzeugnissen, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurden, einzuhalten als auch Erzeugnissen aus der Union einen freien Zugang zu den nationalen Märkten zu gewähren. Nicht geprüft wird, ob eine Nutzungsmodalität vorliegt und eine solche Modalität wie Verkaufsmodalitäten iSd Keck-Rspr zu behandeln ist. Vielmehr stellt der Gerichtshof darauf ab, ob der Zugang zum Markt eines Mitgliedstaates für Erzeugnisse aus den Mitgliedstaaten behindert wird. Für Anhänger, die nicht eigens zum Anhängen an Motorräder konzipiert wurden, hält der Gerichtshof dies nicht für erwiesen (da die Anhänger auch von anderen Kfz genutzt werden können). Als Beschränkung wird dagegen das Verbot insoweit angesehen, als es die Nutzung von Anhängern betrifft, die spezifisch für Motorräder produziert wurden. Das Verwendungsverbot habe nämlich erheblichen Einfluss auf das Kaufverhalten der Verbraucher. Dies wirke sich wiederum auf den Marktzugang der Erzeugnisse aus und behindere deren Einfuhr. Jedoch sieht der EuGH die Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit durch zwingende Erfordernisse des allgemeinen Gemeinwohls iSd Cassis-Rspr als gerechtfertigt an (Sicherheit des Straßenverkehrs) und gesteht Italien insofern einen Beurteilungsspielraum zu.

Nicht vollends geklärt ist bisher, ob sich die Grundsätze der Keck-Rspr auf die anderen Grundfreiheiten übertragen lassen. Am nahe liegendsten ist eine Übertragung auf die Dienstleistungsfreiheit, weil jedenfalls dann, wenn nur die Dienstleistung die Grenze überschreiten soll, die Mobilität einer produktähnlichen Leistung in Rede steht (vgl auch → § 11 Rn 82, 87). Der EuGH hat deshalb in der Entscheidung Alpine Investments (in der es um das Verbot einer grenzüberschreitenden Telefonwerbung ging) die Kriterien der Keck-Entscheidung auch für die Dienstleistungsfreiheit fruchtbar gemacht.315 Doch dürfte 315 EuGH, Slg 1995, I-1141, Rn 33 ff – Alpine Investments. Vgl ferner die DocMorris-Entscheidung (Fall 1), wonach das Verbot eines Versandhandels mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln die

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der Grundgedanke der Keck-Rspr auch bei den anderen Grundfreiheiten heranzuziehen sein, weil es darum geht, den überaus weiten Anwendungsbereich der Grundfreiheiten dann näher einzugrenzen, wenn nicht der Markt- oder Berufszugang respektive der Kapital- und Zahlungstransfer als solcher, sondern nur das Verhalten im Markt, die Berufsausübung, der Vertrieb des Kapitals oder die Modalitäten der Zahlungsabwicklung in Rede steht.316 Voraussetzung ist allerdings stets, dass es sich um unterschiedslos wirkende (universale und neutrale) Beschränkungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer handelt. (b) Hinreichende Nähebeziehung Eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten soll nach der Rspr des EuGH ferner ausscheiden, wenn die Auswirkungen zu ungewiss und zu indirekt sind. Diese Grenze hat der Gerichtshof zunächst für die Warenverkehrsfreiheit herausgearbeitet,317 aber später auch aus den anderen Grundfreiheiten abgeleitet.318 So soll die Leistung einer Prozesskostensicherheit vor belgischen Zivilgerichten nur für Ausländer die Warenverkehrsfreiheit nicht betreffen, weil der Umstand, dass Bürger eines anderen Mitgliedstaates aus diesem Grund zögern, Waren an Kunden mit belgischer Staatsangehörigkeit zu verkaufen, zu ungewiss und zu mittelbar sei, als dass eine solche nationale Maßnahme als geeignet angesehen werden könne, den innergemeinschaftlichen Handel zu behindern. Wo die Grenze einer solchen „rule of remoteness“ zu ziehen ist, lässt sich nur im Einzelfall klären.319 Einerseits geht es darum, rein hypothetische – dh unwahrscheinliche – Kausalverläufe auszuscheiden.320 Andererseits scheint aber auch die Wirkungsintensität eine gewisse Rolle zu spielen,321 obwohl der EuGH immer wieder hervorgehoben hat, dass es (anders als im Wettbewerbsrecht) nicht auf die Spürbarkeit der Beeinträchtigung ankommt.322 Entsprechendes gilt für das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten (Rn 92). Auch wenn eine Maßnahme wegen ihrer Ungewissheit und Mittelbarkeit keine Beeinträchtigung der Grund-

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ausländischen Apotheker stärker iSd Keck-Rspr als die inländischen berühren soll, weil die inländischen Apotheker andere Vertriebswege haben. Vgl zur Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 102 f – Bosman, zur Niederlassungsfreiheit EuGH, Slg 2009, I-3491, Rn 62 ff (ohne ausdrückliche Erwähnung der KeckRspr), zur Kapitalverkehrsfreiheit, EuGH, Slg 2010, I-6817 Rn 65 ff – Kommission/Portugal. Näher zum ganzen Dauses/Brigola in: Dauses, HdBEUWirtschR, Bd I, Kap C I Rn 151 ff; Brigola EuZW 2012, 248, 250; Frenz GF, Rn 452 ff mwNachw. EuGH, Slg 1990, I-583 Rn 11 – Krantz; Slg 1993, I-5009, Rn 12 – CMC Motorradcenter. Vgl für die Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH, Slg 2000, I-493, Rn 25 – Graf (kein Abfindungsanspruch bei Kündigung seitens des Arbeitnehmers), für die Niederlassungsfreiheit Slg 1996, I-2975, Rn 32 – Semeraro (Ladenschlussregelungen), anders Slg 2008, I-1683, Rn 51 f – Flämische Pflegeversicherung, für die Dienstleistungsfreiheit Slg 2010, I-5267, Rn 68 ff – Kommission/Spanien (Kostentragung nach einer ungeplanten Krankhausbehandlung). Vgl näher dazu Becker EuR 1994, 162, 170; Ebenroth FS Pieper, 1998, S 133, 142; Oliver CMLRev 1999, 97 ff; Deckert/Schroeder JZ 2001, 88, 90. → § 8 Rn 52 ff; vgl auch Kingreen in: Calliess/Ruffert EUV/AEUV, Art 34 – 36 AEUV Rn 55. Vgl Stöbener/Stöbener/Wendel JURA 2012, 585, 592. Vgl EuGH, Slg 1984, 1299, Rn 20 – Prantl; Slg 2008, I-1683, Rn 52 – Flämische Pflegeversicherung; Borchardt EU, Rn 816; zum Wettbewerbsrecht Ehlers (Fn 188) B Rn 15; s aber auch Stöbener/Stöbener/Wendel JURA 2012, 585, 591 f.

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freiheiten darstellt, prüft der EuGH gelegentlich, ob sie mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV vereinbar ist.323 Dies ist jedenfalls dann problematisch, wenn es um die Beurteilung wirtschaftlicher Sachverhalte geht, weil dann das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten dem allgemeinen Diskriminierungsverbot vorgeht.324 cc) Abgrenzung von Diskriminierungen und Beschränkungen 106

In welchem Verhältnis das Diskriminierungs- und das Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten zueinander stehen, lässt sich der Rspr und Lit nicht eindeutig entnehmen. Vielfach enthält eine Beschränkung zugleich eine (zumindest versteckte) Diskriminierung und umgekehrt. So lag in der Rechtssache Cassis de Dijon (Rn 98), in der es um die Beschränkung des Warenverkehrs für alkoholische Getränke durch Festsetzung eines Mindestalkoholgehalts ging, zwar formal eine für In- und Ausländer unterschiedslos geltende Maßnahme vor. Tatsächlich war die Inlandsproduktion aber im Vorteil, weil sie typischerweise bereits dem Standard entsprach und somit ohne zusätzliche Anpassungskosten vermarktet werden konnte.325 In keiner Weise diskriminierend, sondern nur beschränkend wirken dagegen zB allgemein geltende Transferregeln im professionellen Sport,326 nationale Regelungen, nach denen inländischen und EU-ausländischen Arbeitnehmern kein Abfindungsanspruch zusteht, wenn sie ihr Arbeitsverhältnis selbst kündigen,327 sowie nationale Regelungen, die inländische und EU-ausländische Arbeitgeber zur Zahlung eines Mindestlohns an ihre Arbeitnehmer verpflichten.328 Eine Verletzung (nur) des Beschränkungsverbots ist sogar denkbar, wenn die Inländer typischerweise schlechter als die EU-Ausländer behandelt werden.329 Der EuGH verzichtet regelmäßig auf eine Abgrenzung von Diskriminierungs- und Beschränkungsverboten und prüft – von den Fällen der Keck-Rspr abgesehen (Rn 99) – nur den einen oder anderen Aspekt. Er tendiert dazu, bei offenen Diskriminierungen nur hierauf (und nicht auf die Beschränkung) abzustellen.330 Im Falle eines Zusammentreffens von versteckten Diskriminierungen und Beschränkungen wird jedenfalls dann, wenn der Markt- oder Berufszugang als solcher behindert und damit in den Kernbereich der Gewährleistung eingegriffen wird, vielfach nur das Beschränkungsverbot geprüft.331 Geht es dagegen um den Randbereich der Gewährleistungen (zB um die Einzelheiten der Ausübung eines selbstständigen Berufs), wird oft nur danach gefragt, ob eine Diskriminierung vorliegt.332 So ergibt sich aus der Keck-Rspr (Rn 99), dass eine Rege-

323 Vgl EuGH, Slg 1996, I-4661, Rn 16 ff – Data Delecta Aktiebolag; Slg 1997, I-5325, Rn 25 ff – Saldanha. 324 Vgl auch Stöbener/Stöbener/Wendel JURA 2012, 585, 592. 325 Gundel JURA 2001, 79, 83. 326 Vgl EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 99 – Bosman. Nach Epiney (Fn 89) S 61 f, ist es nicht möglich, versteckte Diskriminierungen und Beschränkungen auseinander zu halten. 327 EuGH, Slg 2000, I-493, Rn 15 ff – Graf. 328 EuGH, Slg 2002, I-787, Rn 16 ff – Portugaia Construções = JK 2002, EGV Art 49 ff/5. 329 Vgl Hirsch ZEuS 1999, 503, 509, mit Hinweis auf EuGH, Slg 1998, I-47 ff – Schöning (in dem Fall ging es um die Anwendbarkeit einer BAT-Regelung, die eine Höhergruppierung von Fachärzten im öffentlichen Dienst vorsieht, wenn sie über eine bestimmte Zeitdauer als Fachärzte im BAT-Anwendungsbereich tätig waren). 330 Vgl zB EuGH, Slg 1994, I-911, Rn 10 – Kommission/Spanien. Vgl auch Valta (Fn 51), S 103 ff. 331 Hierfür ist die Cassis de Dijon-Entscheidung ein Beispiel. 332 Vgl zB EuGH, Slg 1999, I-2517, Rn 14 ff – Ciola = JK 2000, EGV Art 49/1.

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lung von Verkaufsmodalitäten nur an den Grundfreiheiten gemessen werden kann, wenn eine Diskriminierung respektive keine universelle oder neutrale Betroffenheit vorliegt. Hieraus ist gefolgert worden, dass sich das Beschränkungsverbot und das Verbot einer (faktischen) Diskriminierung nicht überschneiden, sondern die Grundfreiheiten im Kernbereich nur Beschränkungsverbote, im Randbereich nur Diskriminierungsverbote darstellen.333 Nach der hier vertretenen Ansicht können indessen Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote nebeneinander stehen. Hierfür spricht auch, dass die Grundfreiheiten primär als Diskriminierungsverbote formuliert sind, und jedenfalls im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten zunächst auch nur so ausgelegt wurden (Rn 30), sich Kern- und Randbereichsbeeinträchtigungen oft nur schwer auseinander halten lassen und jedenfalls offene Diskriminierungen auch im Falle von Zugangsbeschränkungen nicht einfach als unerheblich abgestempelt werden dürfen. Überschneiden sich Diskriminierung und Beschränkung, kommt es auf das Auseinanderhalten dieser beiden Beeinträchtigungsformen jedoch dann nicht entscheidend an, wenn und soweit die Rechtfertigungsgründe identisch sind (vgl Rn 119).

3. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung von Grundfreiheiten Liegt eine Beeinträchtigung von Grundfreiheiten vor, stellt sich die Frage, ob sich diese rechtfertigen lässt. Dies ist nur der Fall, wenn eine Grundlage für die Beeinträchtigung besteht (Rn 108 f), eine ausdrückliche (Rn 110 ff), anderweitige unionsrechtliche (Rn 115 f) oder ungeschriebene (Rn 117 ff) Schrankenregelung zur Anwendung gelangt und die Schranken-Schranken (Rn 122 ff) beachtet wurden. Die Beweislast für die Rechtfertigung trägt der Verpflichtete.334

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a) Bestehen einer Grundlage der Beeinträchtigung aa) Grundlage im Sekundärrecht der EU Trifft das Sekundärrecht der EU eine abschließende Regelung, sind die Grundfreiheiten nach der Rspr des EuGH ohnehin nicht anwendbar (Rn 8, 72). Nach der hier vertretenen Ansicht gilt dies nur, soweit der Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten wiederholt oder ausgeformt wird, es also nicht um eine Beeinträchtigung der Freiheit geht. Unabhängig davon muss sich das Sekundärrecht stets an den Grundfreiheiten messen lassen, insbesondere, wenn es deren Beeinträchtigung gestattet.335 Beeinträchtigt die EU selbst die Grundfreiheiten, bedarf das Handeln der Grundlage in einer Verordnung oder (wenn mitgliedstaatliches Handeln zwingend vorgeschrieben wird) einer Richtlinie oder eines Beschlusses (Art 288 II–IV AEUV). Nicht erheblich ist, ob der Rechtsakt im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art 289 I AEUV) oder besonderen Gesetzgebungsverfahren (Art 289 II AEUV) ergangen ist. Im Falle des Erlasses delegierter Rechtsakte (Art 290 AEUV) kommt es darauf an, ob sich die Befugnis, die Grundfreiheiten zu schmälern, mit

333 Vgl Lecheler/Gundel (Fn 273) S 177 f; S ferner Jarass EuR 2000, 705, 711, wonach ein Eingriff in den Kernbereich der Grundfreiheiten generell als Beschränkung einzustufen ist, unabhängig davon, ob er zu einer Schlechterbehandlung im jeweiligen Fall führt. Zum Ganzen auch Eilmannsberger JBl 1999, 345, 347 ff. 334 Vgl aber auch Borchardt EU, Rn 972, der aus dem Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot unterschiedliche Beweislastverteilungen ableitet. 335 Vgl zB EuGH, Slg 2004, I-11825, Nr 3, Rn 59 – André GmbH.

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hinreichender Bestimmtheit im Wesentlichen (Art 290 I UA 2 AEUV) aus den Delegationsermächtigungen (Verordnung, Richtlinie oder Beschluss) ergibt. Durchführungsakte iSd Art 291 AEUV dürften als Grundlage weitergehender Beschränkung der Grundfreiheiten nicht ausreichen (zu den Unionsgrundrechten vgl → § 14 Rn 104). Stützt sich das eine Grundfreiheit beeinträchtigende Tun, Dulden oder Unterlassen eines Mitgliedstaates (oder eines Privaten) zu Recht unmittelbar oder mittelbar auf Sekundärrecht,336 fungiert dieses und nicht das mitgliedstaatliche Recht als maßgebliche Schranke der Grundfreiheiten. bb) Gesetzliche Grundlage im mitgliedstaatlichen Recht 109

Nach der Rspr des EuGH „bedürfen in allen Mitgliedstaaten Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung jeder – natürlichen oder juristischen – Person einer Rechtsgrundlage.“337 Der EuGH hat somit den Vorbehalt des Gesetzes als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts anerkannt.338 Die zitierten Ausführungen beziehen sich allerdings auf die Einschränkung eines Unionsgrundrechts. Heute ergibt sich das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage in solchen Fällen ausdrücklich aus Art 52 I 1 GRCh. Der Rspr des EuGH lässt sich bisher nicht entnehmen, dass das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage auch für die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten gelten soll.339 Geht man von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gesetzmäßigkeitsprinzips aus und sieht man die Grundfreiheiten nur als spezielle Ausprägungen der Unionsgrundrechte an (Rn 13), kann für die Grundfreiheiten aber nichts anderes als für die Grundrechte gelten.340 So wird das durch die Grundfreiheiten geschützte Tun, Dulden oder Unterlassen auch durch die Unionsgrundrechte geschützt, namentlich die Grundrechte der Berufsfreiheit (Art 15 GRCh) und der unternehmerischen Freiheit (Art 16 GRCh), mögen die Grundfreiheiten gem Art 52 II GRCh auch als leges speciales gegenüber den Unionsgrundrechten anzusehen sein (Rn 14). Die Grundfreiheiten werden nach gefestigter Rspr verletzt, wenn ihre Einschränkung den Unionsgrundrechten widerspricht (Rn 14, 123; → § 14 Rn 25). Eine Einschränkung der Unionsgrundrechte muss aber „gesetzlich vorgesehen“341 sein. Für die hier vertretene Ansicht spricht auch, dass Art 52 I AEUV eine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit nur durch „Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ vorsieht. Welche Anforderungen an das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage zu stellen sind, ist bislang unklar geblieben.342 Abzustellen ist auf das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht. Mit Rücksicht auf den Common-Law-Rechtskreis lässt der EGMR eine Einschränkung der EMRK-Rechte auch durch ungeschriebenes Recht zu (→ § 2 Rn 76). Gleiches ist für die Unionsgrundrechte und damit auch die Grundfreiheiten anzunehmen. (→ § 14 Rn 99 ff). In jedem Falle bedarf die Beeinträchtigung der

336 Mittelbar ist das Sekundärrecht betroffen, wenn zwar eine nationale Vorschrift angewendet wird, diese aber auf einer korrekten Umsetzung einer Richtlinie der EU beruht. 337 EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst (→ § 14 Rn 103). 338 Näher zu den Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt (→ § 14 Rn 103 ff). 339 In der Lit wird die Problemstellung kaum diskutiert. Gegen Geltung eines Gesetzesvorbehalts Frenz GF, Rn 519. 340 Im Ergebnis tendenziell ebenso Jarass EuR 1995, 202, 222; vgl auch Kingreen in: v Bogdandy/ Bast, Europ VfR, S 740 ff. 341 Art 52 I GRCh. 342 Vgl auch Jarass EuR 1995, 202, 222.

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Grundfreiheiten aber einer klaren, hinreichend bestimmten und ausreichend zugänglichen Rechtsgrundlage. Soweit ein Ermessen überhaupt statthaft ist, muss gesichert sein, dass die Ermessensausübung auf objektiven, nicht diskriminierenden, im Voraus bekannten Kriterien beruht.343 Geht man davon aus, dass auch Privatpersonen Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten sein können (Rn 57), gilt das Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes nicht, weil privates Handeln nicht vom Bestehen eines Gesetzes abhängt (und ansonsten jegliches die Grundfreiheiten schmälerndes Handeln – etwa der internationalen Sportverbände – unzulässig wäre). b) Ausdrückliche Schranken Fall 13: (EuGH, Slg 2004, I-6569 ff – Kommission/Frankreich = JK 2005, EGV Art 49 /12) Ein frz Gesetz – „Loi Evin“ – verbietet Alkoholwerbung im Fernsehen. Betroffen ist davon auch die indirekte Werbung, die nicht als eigener Werbespot gesendet wird, sondern beim Ausstrahlen einer Sendung zwangsläufig mitübertragen wird, wie zB die Banden- oder Trikotwerbung bei der Übertragung von Sportereignissen. Erfasst von dem Verbot sind auch im Ausland stattfindende Sportereignisse, wenn dabei indirekte Werbung zu sehen ist. Ist das frz Gesetz mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar?

Der Vertrag enthält für alle Grundfreiheiten ausdrückliche Schrankenregelungen (Art 36, 45 III, 52 iVm 62, 64 , 65 AEUV). Alle Regelungen erlauben zumindest eine Beschränkung aus Gründen der öffentlichen Ordnung und (oder) Sicherheit. Für die Beschränkung des Warenverkehrs nennt der Vertrag zahlreiche weitere Rechtfertigungsgüter (Sittlichkeit, Gesundheit, Leben, nationales Kulturgut, gewerbliches und kommerzielles Eigentum).344 Die Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit darf ua aus Gründen der Gesundheit345 beschränkt werden (bei den beiden zuletzt genannten Freiheiten allerdings nur, wenn es um Sonderregelungen für Ausländer geht346). Eine Beschränkung der Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs ist insbesondere im Verhältnis zu Drittstaaten (Art 64 AEUV) sowie aus steuerlichen Gründen erlaubt (Art 65 I AEUV), wobei die Schranken der Niederlassungsfreiheit unberührt bleiben (Art 65 II AEUV). Die Schrankenregelungen gelten für sämtliche Formen der Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten. Welche Zwecke mit einer gesetzlichen Regelung verfolgt werden, richtet sich nicht nur nach der erklärten Absicht des Gesetzgebers, sondern auch nach der objektiven Zielsetzung des Gesetzes.347 Verfolgen die Mitgliedstaaten Ziele, die mit dem sonstigen Unionsrecht – namentlich dem Sekundärrecht – kollidieren, vermögen diese nicht die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten zu rechtfertigen. Ist das nationale Recht durch Sekundärrecht

343 EuGH, EuZW 2013, 507 Rn 57 – Libert. 344 Nach Art 36 S 2 AEUV dürfen die Verbote oder Beschränkungen kein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung oder verschleierten Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen (→ § 8 Rn 94). Vgl mit weiteren Fallbeispielen auch Craig/de Búrca EU, S 668 ff. 345 Vgl zur Unterbindung des Drogentourismus in den Niederlanden EuGH, Slg 2010, I-13019, Rn 60 ff – Josemans = JK 2011, AEUV Art 56/1 (Fall 9), abl Anm Schröder JZ 2011, 629 ff. 346 Entsprechendes gilt insoweit für Beeinträchtigungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit. Sind Sonderregelungen für Ausländer gerechtfertigt, kann für unterschiedslos anzuwendende Beschränkungen nichts anderes gelten. Vgl a Multmeier Rechtsschutz in der Krankenhausplanung, 2011, S 189 ff. 347 Vgl Cremer NVwZ 2004, 668, 673.

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vollständig harmonisiert worden, richtet sich die Rechtfertigung der Beeinträchtigungen nach dem Sekundärrecht und nicht nach dem nationalen Recht.348 IdR sind dann die Grundfreiheiten bereits nicht anwendbar (Rn 8, 72, 108). Als Öffnungsklausel für die Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Maßnahmen könnte vor allem der Begriff „öffentliche Ordnung und (oder) Sicherheit“ in Frage kommen. Die unionsrechtlichen Rahmenbegriffe sind wie die Schrankenregelungen insgesamt indessen – gänzlich anders als im deutschen Recht – nach stRspr des EuGH eng auszulegen.349 Dies wird insbesondere aus dem Ausnahmecharakter sowie dem Gebot effektiver Freiheit und Gleichheit hergeleitet. Es müssen staatliche Interessen von fundamentaler Bedeutung berührt sein,350 welche die Grundinteressen der Gesellschaft351 (öffentliche Ordnung) oder die innere oder äußere Sicherheit (öffentliche Sicherheit) betreffen, also wesentlich für die Existenz des Staates sind.352 Nicht dazu gehört beispielsweise der Verbraucherschutz (der, soweit es um die Irreführung der Verbraucher geht, auch nicht dem Gesundheitsschutz, sondern den zwingenden Erfordernissen, Rn 84, zugerechnet wird).353 Die konkreten Umstände, die zB die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung rechtfertigen, können von Land zu Land und im zeitlichen Wechsel verschieden sein. Deshalb billigt der EuGH den zuständigen innerstaatlichen Behörden einen Beurteilungsspielraum innerhalb der durch den Vertrag gesetzten Grenzen zu.354 Zur Anwendung der Schrankenregelungen im Falle einer Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch Private vgl Rn 57, 60, 121). Lösung Fall 13: Die Ausstrahlung grenzüberschreitender Fernsehsendungen unterfällt der Dienstleistungsfreiheit.355 Die sekundärrechtlichen Regelungen der EU zur Fernsehwerbung beziehen sich nicht auf die indirekte Fernsehwerbung, so dass Art 56 AEUV anwendbar ist. Das frz Gesetz beschränkt die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs. Zulässig ist eine solche Beschränkung gem Art 62 iVm 52 AEUV gegenüber Ausländern ua aus Gründen der Gesundheit. Maßnahmen, welche die Möglichkeiten der Werbung für alkoholische Getränke einschränken und damit zur Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs beitragen, dienen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit. Der EuGH hat die frz Fernsehwerbungsregelung auch für verhältnismäßig erachtet (ohne die Angemessenheit der Regelung näher zu prüfen).

348 Vgl EuGH, Slg 2003, I-14887, Rn 102 – DocMorris (Fall 1) = JK 2004, EGV Art 28/4; für die Niederlassungsfreiheit Müller-Graff in: Streinz EUV/AEUV, Art 52 AEUV Rn 6. 349 Vgl etwa EuGH, Slg 1974, 1337, Rn 18 – Van Duyn; Slg 1977, 5, Rn 12 ff – Bauhuis; Slg 1981, 1625, Rn 7 – Kommission/Irland; Slg 1991, 1361, 1377 – Kommission/Griechenland. 350 Vgl Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 AEUV Rn 11 (vgl auch Lösung Fall 9). 351 EuGH, Slg 2000, I-1335, Rn 17 – Scientology. 352 Vgl EuGH, Slg 1983, 2727, Rn 34 – Campus Oil. 353 Vgl EuGH, Slg 1984, 3651, Rn 18 f – Kohl; krit Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34-36 AEUV Rn 85. 354 EuGH, Slg 1974, 1337, Rn 18 – Van Duyn; Slg 1977, 1999, Rn 33 – Bouchereau; Slg 2004, I-9609, Rn 31 – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13 (Fall 16). 355 Vgl auch EuGH, Slg 1997, I-3843, Rn 48 – De Agostini.

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c) Anderweitige unionsrechtliche Schranken Neben den ausdrücklichen Schrankenregelungen können auch andere Vorschriften des Unionsrechts die Grundfreiheiten partiell zurückdrängen. So können die Grundfreiheiten mit den gleichrangigen Unionsgrundrechten kollidieren. ZB hat der EuGH etwa in der Rechtssache Schmidberger (→ § 8 Rn 17, 23) eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit wegen des Nichteinschreitens der österreichischen Behörden gegen die Sperrung der Brenner-Autobahn durch Demonstranten für gerechtfertigt erachtet und sich hierbei auch und gerade auf die Unionsgrundrechte der Demonstranten auf Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit berufen. Die Grundrechte seien geeignet, eine Beschränkung von Verpflichtungen zu rechtfertigen, die nach dem Unionsrecht bestehen.356 Die Grundrechte sollen danach nicht nur der Ausfüllung der ausdrücklichen oder ungeschriebenen Schranken dienen, sondern auch selbstständige Bedeutung haben können. Dies dürfte für die Charta-Rechte nicht mit der Regelung des Art 52 II GRCh vereinbar sein (→ § 14 Rn 9, 22 f). Der Sache nach macht es aber keinen wesentlichen Unterschied, ob man die Unionsgrundrechte als selbstständige Schrankenregelungen oder als Bestimmungsfaktoren respektive Auslegungsregeln für die Interpretation der Schrankenregelungen ansieht. Nicht hinreichend deutlich gemacht hat der EuGH bisher, ob es sich um Unionsgrundrechte handeln muss oder ein Grundrechtsschutz nach der EMRK oder den Verfassungen der Mitgliedstaaten ausreichend ist. Da sich allein nach den Normen des AEUV bestimmt, in welchem Umfang die Grundfreiheiten einschränkbar sind, kommen hierfür nur die Unionsgrundrechte in Betracht.357 Die EMRK-Rechte und die nationalen Grundrechte entfalten ihre Wirkung aber insofern, als sie mit dazu beitragen, die ausdrücklichen Schranken des Vertrages (zB die Frage, was unter öffentlicher Ordnung oder unter öffentlicher Sicherheit zu verstehen ist) oder die ungeschriebenen Schranken (Rn 117 f) zu konkretisieren. Das Zusammenspiel von den Unionsgrundrechten mit den EMRK-Rechten und den mitgliedstaatlichen Grundrechten ergibt sich für die Charta-Rechte aus Art 52 III, IV, 53 GRCh, für die ungeschriebenen Unionsgrundrechte aus Art 6 III EUV. Nach Beitritt zur EMRK (Art 6 II EUV) binden die EMRK-Rechte sowohl die Organe der EU als auch die Mitgliedstaaten kraft der Inkorporation in das Unionsrecht (→ § 2 Rn 23; → § 14 Rn 32). Ferner vermag sonstiges Primärrecht uU eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten zu rechtfertigen.358 So stellt ein nationales Gesetz, das den in bestimmten Teilen eines Staatsgebiets ansässigen Betrieben einen prozentualen Anteil an öffentlichen Lieferaufträgen garantiert, nicht nur eine Maßnahme gleicher Wirkung, sondern auch eine Beihilfe dar. Wendet man Art 34 und 107 AEUV parallel an, können die besonderen Regelungen der Art 107 ff AEUV, insbesondere die Rechtfertigungsvorschriften, unterlaufen werden. Daher wird man in solchen Fällen davon auszugehen haben, dass sich das Ob der Förderung allein nach den Art 107 ff AEUV bestimmt, während das Wie, dh die nähere Ausgestaltung der Beihilfe, auch am Maßstab der Art 34 ff AEUV zu überprüfen ist.359

356 EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 74 – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3 → § 8 Rn 17, 23. 357 Vgl auch Kadelbach/Petersen EuGRZ 2002, 213, 215 f; aA Schorkopf ZaöRV 64 (2004), 125, 140; v Danwitz in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 53 Rn 6. 358 Zum Zusammenspiel der Grundfreiheiten mit den Kompetenzen der EU vgl Valta (Fn 51) S 295 ff. 359 Vgl Ehlers JZ 1992, 199 f; AA wohl EuGH, Slg 1990, I-889, Rn 22 ff – Du Pont de Nemours Italiana.

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d) Ungeschriebene Schranken

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Fall 14: (EuGH, Slg 1998, I-1931 ff – Kohll) Nach luxemburgischem Recht werden die Kosten einer ärztlichen Behandlung im Ausland von der gesetzlichen Krankenversicherung nur erstattet, wenn auf einer Auslandsreise ein Notfall eintritt oder der Patient zuvor eine Genehmigung der Krankenversicherung eingeholt hat. Der luxemburgische Staatsangehörige K möchte eine Zahnregulierung in Deutschland vornehmen lassen. Die Genehmigung hierfür ist ihm aber verweigert worden. Er möchte wissen, ob dies mit den Grundfreiheiten vereinbar ist.

aa) Entwicklung der Rechtsprechung 118

Entnimmt man einerseits den Grundfreiheiten nicht nur ein weites Diskriminierungs-, sondern ungeachtet der Keck-Rspr (Rn 99 ff) und dem Erfordernis einer hinreichenden Nähebeziehung (Rn 98, 105) auch ein weites Beschränkungsverbot und legt man andererseits die Schrankenregelungen des Vertrages äußerst eng aus, führt dies zu einem sehr geringen Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten. Dies wird der Regelungsintention der Grundfreiheiten jedoch nicht gerecht. Der EuGH hat deshalb in seiner grundlegenden Cassis de Dijon-Entscheidung zwingende Erfordernisse der Mitgliedstaaten als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe anerkannt (Rn 84, 98). Darunter werden die im allgemeinen Interesse liegenden Zwecke verstanden. Als solche sind etwa der Verbraucherschutz360, die Lauterkeit des Handelsverkehrs, das Umweltrecht, die Wirksamkeit steuerlicher Kontrollen, kulturelle Zwecke wie die Erhaltung der Medienvielfalt oder die Sicherheit des Straßenverkehrs361 anerkannt worden.362 Doch kommen auch sonstige im Allgemeininteresse liegende Zwecke mit Ausnahme rein wirtschaftlicher Gründe363 in Betracht. Existiert Sekundärrecht der EU, müssen sich die zwingenden Erfordernisse allerdings auch daran messen lassen. Die zunächst für den freien Warenverkehr entwickelten ungeschriebenen Schranken sind später auf alle anderen Grundfreiheiten übertragen worden, wobei die Terminologie ohne Unterschied in der Sache leicht variiert.364 Der Cassis-Rspr ist ein Wertungswiderspruch vorgeworfen worden, weil die enge Auslegung der ausdrücklichen Schrankenregelungen und die Verneinung ihrer Analogiefähigkeit nicht mit der großzügigen Anerkennung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe in Einklang gebracht werden könne.365 In methodischer Hin-

360 Vgl Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 AEUV, Rn 45 ff; Müller-Graff in: Streinz, EUV/ AEUV, Art 36 AEUV Rn 36 ff. 361 Vgl aus neuerer Zeit zB EuGH v 20.3.2014, C-639/11, Rn 54 – Kommission/Polen. 362 Kingreen in: Calliess/Ruffert EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 211 ff. Zur Zulässigkeit von Förderregelungen für die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen im Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaats vgl EuGH v 1.7.2014, RS C-573/12 – Ålands Vindkraft AB. 363 Vgl EuGH, Slg 1998, I-1831, Rn 39 – Decker; Slg 1998, I-1931, Rn 41 – Kohll (Fall 14); Slg 2000, I-151, Rn 33 – Schutzverband gegen den unlauteren Wettbewerb = JK 2000, EGV Art 28/1; Slg 2003, I-4509, Rn 72 – Müller-Fauré. 364 Vgl für die Arbeitnehmerfreizügigkeit zB EuGH, Slg 1996, I-2617, Rn 19 – O’Flynn: „objektive Erwägungen“; für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit EuGH, Slg 1991, I-4221, Rn 15 ff – Säger; Slg 1997, I-3589, Rn 8 – Familiapress: „Allgemeininteresse“ = JK 98, EGV Art 30/1; Slg 1998, I-1931, Rn 41 – Kohll (Fall 14); Slg 1999, I-2835, Rn 19 – Pfeiffer: „zwingende Gründe des Gemeinwohls“; ebenso Slg 2003, I-4509, Rn 73 – Müller-Fauré; für den Kapital- und Zahlungsverkehr vgl Kokott/Ost EuZW 2011, 496, 500. 365 Vgl Kingreen (Fn 1) S 52, 120 f.

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sicht wird dafür plädiert, die ausdrücklichen Tatbestandsmerkmale „öffentliche Ordnung“ und „öffentliche Sicherheit“ erweiternd auszulegen.366 Doch wird das Vorgehen des Gerichtshofs jedenfalls dann verständlich, wenn man die geschriebenen Schrankenregelungen auf alle Formen der Beeinträchtigung, die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe dagegen nur auf bestimmte Beeinträchtigungen bezieht (vgl die folgenden Ausführungen). Auch passt die eine Sonderregelung für Ausländer vorsehende Bestimmung des Art 52 I AEUV nicht für unterschiedslose Beschränkungsmaßnahmen.367 bb) Geltung der ungeschriebenen Schranken für diskriminierende Beeinträchtigungen Die Cassis-Rspr ist für unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, dh ausschließlich für nicht diskriminierende Beschränkungen, entwickelt worden.368 In seinen späteren Entscheidungen hat der EuGH den Rechtfertigungsgrund der zwingenden Erfordernisse aber auch auf versteckte Diskriminierungen bezogen.369 In der Lit wird teilweise die Auffassung vertreten, dass jegliche Diskriminierung durch zwingende Erfordernisse gerechtfertigt werden kann.370 Diese Auffassung geht jedoch zu weit. Da offene Diskriminierungen besonders schwer wiegen und dem Binnenmarktkonzept diametral zuwiderlaufen, lassen sich diese nur durch ausdrückliche Schrankenregelungen rechtfertigen.371 Dagegen ist mit der überwiegenden Rspr in der neueren Zeit davon auszugehen, dass die zwingenden Gründe des Allgemeinwohls auch Grundlage für die Rechtfertigung versteckter Diskriminierungen sein können.372 Abgesehen davon, dass sich Beschränkungen und faktische Diskriminierungen nur schwer voneinander abgrenzen lassen, wäre ein geschlossener, nicht erweiterungsfähiger Kanon von Rechtfertigungsmotiven für die Fallgruppe der faktisch diskriminierenden Maßnahmen ebenso unangemessen wie im Falle der „reinen“ Beschränkungen.373 In jedem Falle wirkt die Verhältnismäßigkeitsprüfung (Rn 126 ff) als Korrektiv. 366 Vgl Schweitzer/Hummer/Obwexer ER, Rn 1400; Jürgensen/Schlünder AöR 121 (1996), 200, 217; dazu Schorkopf EuR 2009, 645, 658; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV, Rn 84 f. 367 Vgl auch Streinz ER Rn 838. 368 Vgl zB EuGH, Slg 1981, 1625, Rn 10 – Kommission/Irland; Slg 1994, I-1039, Rn 51 ff – Schindler; Slg 1999, I-6067, Rn 31 – Läärä = JK 2000, EGV Art 49/2 . 369 Vgl EuGH, Slg 1999, I-7641, Rn 21 ff – Vestergaard; Slg 2003, I-721, Rn 21 ff – Kommission/ Italien = JK 2003, EGV Art 49/7; vgl auch, Slg 2001, I-2099, Rn 73 – PreussenElektra; Craig/ de Búrca EU, S 706 f; Nowak/Schnitzler EuZW 2000, 627 ff; Nowak VerwArch 93 (2002), 368, 374; Gundel JURA 2001, 79 ff – mit umfangreichen Nachw der Rspr; aA aber wohl EuGH, Slg 1999, I-2517, Rn 16 – Ciola = JK 2000, EGV Art 49/1 (diskriminierende Maßnahmen lassen sich mit dem Unionsrecht nur vereinbaren, wenn sie unter eine „ausdrücklich abweichende Bestimmung“ fallen). 370 Vgl Weiß EuZW 1999, 493, 497; Schroeder ER, § 14 Rn 51 sowie jüngst GA Bot, Schlussanträge Verb Rs C 204/12-C 208/12, Rn 92 ff und C 573/12 Rn 79 ff unter der Voraussetzung einer „verstärkten“ Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dieser Vorschlag ist vom EuGH (RS C-573/12 – Ålands Vindkraft AB) nicht aufgenommen worden. 371 So auch EuGH, Slg 2003, I-721, Rn 19 – Kommission/Italien; Slg 2009, I-9735, Rn 37 – Kommission/Spanien; Slg 2010, I-8219, Rn 34 – Ernst Engelmann; Slg 2011, I-65, Rn 69 – Kommission/Griechenland. 372 Wie hier Boger Die Anwendbarkeit der Cassis-Formel auf Ungleichbehandlungen im Rahmen der Grundfreiheiten, 2004, S 197 ff; Haltern ER, Rn 1607; Milstein EuZW 2013, 514, 515. 373 Gundel JURA 2001, 79, 83.

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Lösung Fall 14: Auch wenn das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt, müssen die Grundfreiheiten beachtet werden. Eine medizinische Leistung verliert nicht deshalb ihren Charakter als Dienstleistung, weil der Patient, nachdem er den ausländischen Leistungserbringer für die erhaltene Behandlung bezahlt hat, später die Übernahme der Kosten dieser Behandlung durch einen nationalen Gesundheitsdienst beantragt.374 Das Genehmigungserfordernis wirkt grenzüberschreitend und berührt sowohl die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) des Dienstleistungserbringers (Arzt) als auch die des Dienstleistungsempfängers (K). Da die luxemburgische Regelung auf den Ort der Behandlung, nicht die Nationalität des Erbringers oder Empfängers, anknüpft und die Kosten in Luxemburg praktizierender Ärzte aus dem EUAusland erstattet werden, liegt keine offene Diskriminierung vor. Die Regelung wirkt sich aber typischerweise nachteilig auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten (Ärzte) aus. Daher ist eine mittelbare Diskriminierung anzunehmen. Auch wenn nicht die Entgegennahme der Leistung durch den Patienten verboten, sondern nur die Erstattung der Kosten abgelehnt wird, liegt eine erhebliche Behinderung des Zugangs zu den Dienstleistungen vor. Somit stellt sich die Maßnahme auch als Beschränkung dar. Als Rechtfertigungsgründe kommen sowohl die in Art 62 iVm 52 AEUV genannten als auch die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses in Betracht. Die luxemburgische Regelung soll dem Gesundheitsschutz, der Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung sowie der Erhaltung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Sozialversicherungssystems dienen. Hierbei handelt es sich um relevante Gesichtspunkte und nicht nur um rein wirtschaftliche Gründe. Jedoch ist eine Gefährdung der geschützten Interessen nicht ersichtlich. Das gilt auch für die Leistungsfähigkeit des Sozialversicherungssystems, wenn nur Behandlungskosten nach den Tarifen des Versicherungsstaats erstattet werden. Somit darf die luxemburgische Regelung nicht angewendet werden.375 Dagegen darf die Erstattungspflicht für Kosten einer stationären Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat von einer vorherigen Genehmigung des jeweiligen Sozialversicherungsträgers abhängig gemacht werden, wenn das Genehmigungserfordernis auf objektiven und nichtdiskriminierenden Kriterien beruht, die im Voraus bekannt sind, damit dem Ermessen der nationalen Behörden Grenzen gesetzt werden, die eine missbräuchliche Ausübung verhindern.376

e) Schranken in Bezug auf das Handeln Privater 121

Unklar geblieben ist in der Rspr des EuGH bisher, welche Schranken für das Handeln unmittelbar an die Grundfreiheiten gebundener Privater (Rn 57) in Betracht zu ziehen sind. Zumindest die ausdrücklichen Schrankenregelungen sind auf das Handeln der Mitgliedstaaten (und ggf der EU) zugeschnitten. So pflegen Private anders als die Mitglied-

374 EuGH, Slg 2007, I-3185, Rn 21 – Stamatelakis = JK 2008, EGV Art 49/18. 375 Die Grundfreiheiten finden auch auf Krankenversicherungssysteme Anwendung, denen – wie das deutsche und anders als das luxemburgische – das Sachleistungsprinzip zugrunde liegt, EuGH, Slg 2001, I-5473, Rn 55 – Smits u Peerboms. 376 EuGH, Slg 2003, I-4509, Rn 81, 85 – Müller-Fauré; Slg 2007, I-3185, Rn 35 – Stamatelakis = JK 2008, EGV Art 49/18. Vgl zur Erstattung von Krankheitskosten auch EuGH, Slg 1998, I-1831, Rn 34 ff – Decker; Slg 2011, I-10547, Rn 60 ff, 70 ff – Kommission/Portugal. Zum Recht der Mitgliedstaaten, das Schutzniveau der Gesundheit ihrer Bevölkerung zu bestimmen, und den daraus folgenden Beurteilungsspielraum für den Erlass nationaler Vorschriften, vgl EuGH, Slg 2008, I-6935, Rn 51 – Kommission/Deutschland = JK 2009, EGV Art 28/11.

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staaten nicht zum Zwecke der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit tätig zu werden. Denkbar wäre es, die Privaten bei einem Zuwiderhandeln gegen die Grundfreiheiten an die ungeschriebenen zwingenden Gründe des Allgemeininteresses (Rn 117 ff) zu binden.377 Jedenfalls wenn bei einem hypothetischen Staatshandeln eine Rechtfertigung möglich gewesen wäre, muss eine solche auch den Privaten zugestanden werden.378 Doch verfolgen Private idR privatnützige und nicht allgemeine Interessen. Daher liegt es näher, den Privaten eine Schmälerung der Grundfreiheiten bereits dann zu erlauben, wenn sie sich auf „sachliche Gründe“379 berufen können und die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten verhältnismäßig ist. Als sachliche Gründe sind insbesondere die von den Unionsgrundrechten geschützten Interessen anzusehen. Da diese auch die berufliche und unternehmerische Freiheit sowie das Eigentumsrecht schützen (Art 15–17 GRCh), muss dem Privaten im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten (Rn 118) ebenfalls die Berufung auf wirtschaftliche Gründe gestattet werden. Alles weitere hängt dann von der Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung ab.380 ZB dürfte ein Abstellen auf die Staatsangehörigkeit grds nicht verhältnismäßig sein. f) Schranken-Schranken Dürfen die Grundfreiheiten beschränkt werden, unterliegen die Schranken ihrerseits Gegenschranken respektive Schranken-Schranken. Darunter sind die Beschränkungen zu verstehen, die für die Verpflichteten der Grundfreiheiten (namentlich die Mitgliedstaaten) gelten, wenn sie dem Gebrauch der Grundfreiheiten (etwa wegen zwingender Erfordernisse) Schranken ziehen. Als Schranken-Schranken kommen insbesondere die Unionsgrundrechte und die sonstigen Primärrechtsbestimmungen (Rn 123), das sekundäre Unionsrecht (Rn 124) und vor allem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Rn 126 ff) in Betracht.

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aa) Unionsgrundrechte und sonstige Primärrechtsbestimmungen Die Grundfreiheiten können nur dann wirksam eingeschränkt werden, wenn die Maßnahmen auch den Anforderungen des primären Unionsrecht im Übrigen gerecht werden. So muss die EU bei einer Einschränkung der Grundfreiheiten die Anforderungen der kompetenzrechtlichen Schrankentrias des Art 5 I EUV beachten. Ferner sind die Unionsgrundrechte (Rn 13 f) sowohl von der EU als auch von den Mitgliedstaaten zu beachten. Die Unionsgrundrechte binden die Mitgliedstaaten zwar nur bei der Durchführung des Unionsrechts (Art 51 I 1 GRCh). Unter Durchführung ist aber auch die Anwendung des Unionsrechts zu verstehen (ausführlich → § 14 Rn 67 ff), so dass eine Einschränkung der unmittelbar anwendbaren (Rn 7) Grundfreiheiten (wie in der Vergangenheit) auch an den Unionsgrundrechten zu messen ist. Die Unionsgrundrechte können – mit Ausnahme des gem Art 52 II GRCh nachrangigen Art 15 II GRCh (Rn 115; → § 14 Rn 24) – nicht nur mit den Grundfreiheiten kollidieren (Rn 14, 115), sondern auch den Schutz der Grund377 378 379 380

IdS EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 75 f – Viking Line (Fall 5). Vgl zu diesem Ansatz Ludwigs/Weidermann JURA 2014, 152, 163 f. IdS Slg 2000, I-4139, Rn 42 – Angonese (Fall 7). Vgl auch Ganten (Fn 225), 176 f; Preedy (Fn 225), 177 f; Löwisch Die horizontale Drittwirkung der Europäischen Grundfreiheiten, 2009, S 276 f; Perner (Fn 24), S 134 f, Ludwigs/Weidermann JURA 2014, 152, 163 f; eine Drittwirkung iE abl Graber Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2002, S 276 f.

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freiheiten verstärken (Rn 14; → § 14 Rn 25). Dementsprechend hat der Gerichtshof entschieden, dass die Schrankenregelungen381 und zwingenden Erfordernisse382 „im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen sind“. So werden die Medienvielfalt und die Rechte der Verbraucher durch Art 11 II, 38 GRCh geschützt. Wird die Freiheit des Warenverkehrs aus an sich berechtigten Gründen (zB der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit bzw im Allgemeininteresse liegender Zwecke) beeinträchtigt, würde die Beeinträchtigung aber der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt oder dem Verbraucherschutz abträglich sein, gebietet die Einheit der Unionsrechtsordnung383 (Rn 9) eine Abwägung zwischen der Freiheit des Warenverkehrs und den Unionsgrundrechten der Medienfreiheit und des Verbraucherschutzes einerseits sowie den für die Beeinträchtigung sprechenden Gründen andererseits. Solche mehrdimensionalen Abwägungserfordernisse können sich oftmals ergeben. So hat der EuGH in der Rechtssache Carpenter (Rn 31; → § 11 Rn 86, 88) eine Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit deshalb für unionsrechtswidrig erachtet, weil die Beeinträchtigung im konkreten Fall dem Unionsgrundrecht auf Achtung des Familienlebens widersprach. Begrenzen die Unionsgrundrechte die Einschränkbarkeit der Grundfreiheiten (→ § 14 Rn 25), entfalten sie ihre Wirkung als Schranken-Schranken oder als Auslegungsregeln für die Interpretation der Schrankenregelungen. Nicht (jedenfalls nicht unmittelbar) zu prüfen ist vom EuGH oder vom EuG nach der hier vertretenen Ansicht, ob die Beschränkung der Grundfreiheiten mit den nationalen Grundrechten vereinbar ist (Rn 115). Die nationalen Grundrechte stellen aber gem Art 52 IV, 53 GRCh, 6 III EUV eine Rechtserkenntnisquelle für die Auslegung der Unionsgrundrechte dar (→ § 14 Rn 6, 94).Gleiches gilt für die EMRK-Rechte (Art 52 III, 53 GRCh, 6 III EUV). Nach Beitritt der EU zur EMRK (Art 6 II EUV) sind die EMRK-Rechte Bestandteil der Unionsrechtsordnung und somit von der Unionsgerichtsbarkeit heranzuziehen, auch wenn sie keinen primärrechtlichen Rang haben (→ § 2 Rn 23). Neben den Unionsgrundrechten müssen ferner die allgemeinen Rechtsgrundsätze (Rn 19) – zu denen auch das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage (Rn 108 f) sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Rn 126 ff) zu zählen sind – bei der Einschränkung der Grundfreiheiten beachtet werden. bb) Sekundäres Unionsrecht 124

Ähnliches wie für die Unionsgrundrechte gilt für das sekundäre Unionsrecht. Zwar sagt die Übereinstimmung einer Maßnahme mit dem sekundären Unionsrecht nichts über die Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten aus (vgl Rn 9, 72). Ein Mitgliedstaat (oder ein privater Verpflichtungsadressat der Grundfreiheiten) kann aber eine die Grundfreiheiten einschränkende Maßnahme dann nicht rechtfertigen, wenn und soweit gültiges Sekundärrecht ihm dies untersagt, zB weil Harmonisierungsmaßnahmen getroffen worden sind, die hinsichtlich des konkret verfolgten Schutzziels anderes vorsehen.384 Dies ergibt sich für die Mitgliedstaaten aus dem Vorrang des Unionsrechts (Rn 11). Hat das Sekundärrecht in zulässiger Weise eine abschließende Regelung getroffen, fehlt den Mitgliedstaaten die

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EuGH, Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT. EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 24 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. Lackhoff (Fn 92) S 459 f; krit Kingreen (Fn 1) S 166 ff. Vgl EuGH, Slg 1989, 617, Rn 7 ff – Schumacher; Slg 1994, I-2039, Rn 12 ff – Kommission/ Deutschland; Slg 1994, I-5243, Rn 14 – Ortscheit; Slg 1996, I-2553, Rn 18 ff – Hedley Lomas.

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Kompetenz zum Erlass abweichender Vorschriften.385 In diesen Fällen sind die Grundfreiheiten wegen des Anwendungsvorrangs des niederrangigen Rechts (Rn 8, 72) ohnehin nicht anwendbar.386 cc) Wesensgehaltsgarantie Einschränkungen der Unionsgrundrechte müssen nach Art 52 I 1 GRCh den Wesensgehalt dieser Rechte achten (→ § 14 Rn 109). Für die Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV gilt nichts anderes. Stellen die Grundfreiheiten nur spezielle Regelungen der Unionsgrundrechte dar (Rn 13), kann für sie nichts anderes gelten. Allerdings ist ebenso wie im nationalen Recht387 bisher unklar geblieben, was den Wesensgehalt ausmachen soll (→ § 14 Rn 113). Offenbar soll ein fester (generell absoluter) Schutz gewährt werden. In der Praxis spielt dies bislang keine Rolle. Vielmehr wird nur auf die Verhältnismäßigkeit abgestellt (Rn 129 ff) – wenn Wesensgehalt und Verhältnismäßigkeit nicht ohnehin gleichgesetzt werden.

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dd) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Fall 15: (EuGH, Slg 2010, I-8069 ff – Stoß ua = JK 2011, AEUV Art 49/1) S vermittelt Sportwetten in Deutschland für Rechnung verschiedener im EU-Ausland ansässiger Unternehmen. Die deutschen Behörden haben diese Tätigkeit unter Berufung auf das bestehende staatliche Monopol für Sportwetten untersagt. S möchte wissen, ob dies mit der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit vereinbar ist. Fall 16: (EuGH, Slg 2004, I-9609 ff – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13) Die deutsche O-GmbH, die Spielhallen betreibt, ist dazu übergegangen, in einer Anlage mit dem Namen „Laserdrome“ Unterhaltungsspiele mit simulierten Tötungshandlungen an Menschen zu betreiben, wobei die Spieler mit maschinenpistolenähnlichen Laserzielgeräten auf die an der Kleidung der Spieler angebrachten Sensorenempfänger zielen. Im Vereinigten Königreich sind solche Spiele üblich. Die Berechtigung, das Spiel in Deutschland zu betreiben, hat O von einer englischen Firma erworben. Außerdem wird die Ausrüstung der Spieler von der englischen Firma geliefert. Die zuständige deutsche Behörde hat den Betrieb des Spiels verboten, weil es menschenverachtend sei. Nach Verhandlungen vor deutschen Gerichten hat sich das BVerwG als letzte verwaltungsgerichtliche Instanz an den EuGH mit der Frage gewandt, ob die Untersagung des Spiels mit den Grundfreiheiten des Unionsrechts vereinbar ist. Fall 17: (EuGH, Slg 2008, I-505 ff – Dynamic Medien Verlag = JK 2008, EGV Art 28/10) Die A-Media AG vertreibt japanische Bild- und Tonträger im Versandhandel über ihre Internetseite. Die Filme wurden vor ihrer Einfuhr vom Vereinigten Königreich nach Deutschland durch die A-Media AG vom British Board of Film Classification (BBFC) nach den im Vereinigten Königreich geltenden Bestimmungen über den Schutz Minderjähriger überprüft.

385 Jarass EuR 2000, 705, 719 f; vgl aber auch Art 114 IV ff AEUV. 386 Vgl. EuGH, v 14.3.2013, C-216/11, Rn 27 – Kommission/Frankreich. 387 Vgl Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn 154), Rn 312 ff.

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Das deutsche Jugendschutzgesetz (JuSchG) untersagt den Versandhandel mit Bildträgern, die nicht in Deutschland geprüft worden sind und keine Angabe über die Altersfreigabe tragen. Ein deutsches Gericht möchte wissen, ob das Versandhandelsverbot iSd JuSchG mit Art 34 AEUV vereinbar ist.

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Schließlich muss die Beschränkung der Grundfreiheiten nach stRspr des EuGH verhältnismäßig sein.388 Die Notwendigkeit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung lässt sich sowohl aus den Schrankenregelungen, die „gerechtfertigte“ Maßnahmen verlangen (Art 36, 45 III, 52 I iVm 62, 65 I lit b AEUV), als auch aus dem Begriff der „zwingenden“ Erfordernisse oder Gründe des Allgemeinwohls ableiten. Im Übrigen stellt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (der auch als Übermaßverbot bezeichnet werden kann)389 einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts dar, der nicht nur die Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten (Art 5 IV EUV)390, sondern auch und gerade die Unionsgrundrechte und damit zugleich die Grundfreiheiten betrifft, weil er sich aus den Freiheitsrechten (vgl Art 52 I 2 GrCh → § 14 Rn 112) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art 2 EUV) herleiten lässt. Wie nach der EMRK (→ § 2 Rn 80), im deutschen Recht und wohl in allen anderen entwickelten Rechtsordnungen kommt es für die Beurteilung beeinträchtigender Maßnahmen zumeist entscheidend auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung an.391 Die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme setzt zunächst voraus, dass legitime Gemeinwohlziele verfolgt werden. Ein solches Ziel kann beispielsweise auch die Wahrung der Kohärenz des nationalen Steuersystems sein.392 Sodann müssen die eingesetzten Mittel als solche verwendet werden dürfen. Schließlich muss der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Ziels geeignet, erforderlich und angemessen sein.393 Geeignetheit bedeutet, dass das Mittel den Zweck fördern muss. Hierbei prüft der EuGH in neuerer Zeit insbesondere, ob die Beschränkung der Grundfreiheit das mit ihr verfolgte Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen vermag.394 Trifft dies nicht zu, ist sie nicht geeignet, die Beschränkung zu rechtfertigen (Fall 15). Die Kohärenz stellt insoweit nicht einen Rechtfertigungsgrund, sondern ein Eignungskriterium dar. Auf dieses kommt es vor allem an, wenn dem Mitgliedstaat ein Gestaltungsspielraum zusteht.395 Erforderlich ist ein Mittel,

388 Vgl dazu statt vieler Craig/de Búrca EU, S 526 ff.; Pache NVwZ 1999, 1033 ff; Jarass EuR 2000, 705, 721 ff; Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000; Schwab Der Europäische Gerichtshof und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, 2001; Koch Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtssprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003; v Danwitz EWS 2003, 393 ff; Frenz GF, Rn 587 ff – jeweils mit zahlreichen Nachw der Rspr. 389 Zur Terminologie vgl Krebs JURA 2001, 228 ff. 390 Vgl dazu auch Art 5 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Nr 2, Sart II Nr 147). 391 V Danwitz in: Cardonnel/Rosas/Wahl (Hrsg) Constitutionalising the EU Judicial System, 2012, S 367, 367 („out of the general legal principles it is the most frequently invoked before and examined by the Court“). 392 Kokott/Ost EuZW 2011, 496, 500 ff. 393 Vgl auch EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 21 – Schräder; Slg 2001, I-837, Rn 31 f – Mac Quen. 394 EuGH, Slg 2003, I-13031, Rn 115 – Gambelli; Slg 2007, I-1891, Rn 53 – Placanica; Slg 2009, I-1721, Rn 55 – Hartlauer; Slg 2010, I-13019, Rn 70 ff – Josemans = JK 2011 AEUV Art 56/1 (Fall 9); Pache in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, ER § 10 Rn 57. 395 V Danwitz (Fn 391), S 367, 381.

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wenn der Zweck nicht durch eine geringere Belastung bei gleicher Wirksamkeit erreicht werden kann. Als angemessen ist eine Maßnahme anzusehen, wenn sie in einem recht gewichteten und wohl abgewogenen Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung der Grundfreiheit steht (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn). Lösung Fall 15: Das staatliche Monopol beeinträchtigt die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (Art 49, 56 AEUV). Es dient aber zwingenden Gründen des Allgemeininteresses (Bekämpfung der Spielsucht, Verbraucherschutz, Betrugsvorbeugung). Auch steht es im „Ermessen“ der Mitgliedstaaten darüber zu entscheiden, ob die mit dem Glückspielsektor verbundenen Gefahren durch ein Monopol wirksamer bekämpft werden können als durch eine Kontrolle zugelassener privater Veranstalter (wie zT in anderen Mitgliedstaaten). Auch folgt aus dem Umstand, dass tatsächlich unter Verstoß gegen das Glückspielmonopol über das Internet Wetten abgeschlossen werden, noch nicht die Unzulässigkeit des Monopols. Wohl aber müssen die getroffenen staatlichen Maßnahmen verhältnismäßig sein. Zur Rechtfertigung eines staatlichen Monopols bedürfe es zwar nicht unbedingt einer Untersuchung, die ihre Verhältnismäßigkeit belegt. Wohl aber müssten die Maßnahmen geeignet sein, die Verwirklichung der staatlichen Ziele dadurch zu gewährleisten, dass sie dazu beitragen, die Wetttätigkeiten in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen. Stelle ein nationales Gericht fest, dass (1) die Werbemaßnahmen des Inhabers eines solchen Monopols für andere ebenfalls von ihm angebotene Arten von Glückspielen nicht auf das begrenzt bleiben, was erforderlich ist, um die Verbraucher zum Angebot des Monopolinhabers hinzulenken, sondern darauf abzielen, den Spieltrieb der Verbraucher zu fördern und zwecks Maximierung der aus den entsprechenden Tätigkeiten erwarteten Einnahmen zu aktiver Teilnahme am Spiel zu stimulieren, (2) andere Arten von Glückspiel von privaten Veranstaltern, die über eine Erlaubnis verfügen, betrieben werden dürfen, und (3) in Bezug auf andere Arten von Glückspielen, die nicht unter das Monopol fallen und zudem ein höheres Suchtpotential als die dem Monopol unterliegenden Spiele aufweisen, die Behörden eine Politik der Angebotserweiterung betreiben, könne es berechtigten Anlass zu der Schlussfolgerung haben, dass ein solches Monopol nicht geeignet ist, den Spielbetrieb in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen.

Der EuGH und das EuG prüfen die Verhältnismäßigkeit einer Beeinträchtigung der Grundfreiheiten zumeist sehr viel grobmaschiger als im deutschen Recht (vgl auch → § 14 Rn 114). Da das Sekundärrecht selten am Maßstab der Grundfreiheiten gemessen wird (Rn 9), kommt es in aller Regel auch nicht zu einer Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Regelungen. Soweit der EuGH eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten anerkennt (Rn 57), existiert noch keine ausgeformte Rspr, aus der sich ergibt, welche Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu stellen sind.396 Werden die Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten beeinträchtigt, wird diesen trotz der generell restriktiven Auslegung der Schrankenbestimmungen (Rn 113) hinsichtlich der Beurteilung der Legitimität der verfolgten Ziele eine Einschätzungsprärogative zugestanden. Das weitere Ausmaß der Prüfung hängt zum einen von der Gewichtigkeit der mitgliedstaatlichen Interessen ab. Zum anderen kann den Mitgliedstaaten ein „bestimmtes Ermessen“ zuerkannt werden, so etwa wenn die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten der Wahrung moralischer oder kultureller Belange dient, weil solche Erwägungen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat ver-

396 Vgl aber auch Rn 121.

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schieden sein können.397 Manche Entscheidungen ähneln dem Wednesbury-Test des englischen Rechts (der sich mit der Überprüfung begnügt, ob eine Maßnahme vernünftig oder irrational ist).398 Tendenziell strenger ist der Kontrollmaßstab, wenn es um die Freiheit des Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- oder Zahlungsverkehrs (statt um die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder Niederlassungsfreiheit) sowie um offene Diskriminierungen (statt um unterschiedslos anwendbare Beeinträchtigungen) geht.399 Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit die Interessen der Mitgliedstaaten besonders stark berühren. Auch lassen sich für offene Diskriminierungen kaum überzeugende Gründe finden. Vor allem aber ist festzustellen, dass sich die Rspr im Falle des Bestehens legitimer Zwecksetzungen vielfach mit einer zweistufigen Prüfung begnügt, dh mit einer Überprüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit.400 Dagegen unterbleibt in den meisten Fällen eine Kontrolle der Angemessenheit.401 Teilweise werden Fragen der Angemessenheit im Rahmen der Bewertung der Zielsetzung, teilweise im Rahmen der Eignung oder Erforderlichkeit der Maßnahmen untersucht. Die der Wahrung der mitgliedstaatlichen Spielräume dienende richterliche Zurückhaltung ist nicht im Grundsatz zu kritisieren. Die vielfach sehr strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung des BVerfG kann nicht ohne weiteres auf die europäische Ebene übertragen werden. Doch rechtfertigt dies jedenfalls nicht einen gänzlichen Verzicht auf einen notwendigen Bestandteil der Verhältnismäßigkeitsprüfung (nämlich die Angemessenheit der Maßnahme).402 Im Hinblick auf die Unionsgrundrechte nimmt der EuGH tendenziell eine strengere Verhältnismäßigkeitsprüfung als in der Vergangenheit vor (→ § 14 Rn 115). Dies könnte Rückwirkungen auch auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Einschränkungen der Grundrechtsfreiheiten haben. Stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Verfügung, kommt es bei Verzicht auf eine Angemessenheitsprüfung auf die Erforderlichkeit an, also die Untersuchung, ob der angestrebte Zweck mit weniger restriktiven Mitteln erreicht werden kann.403 Der Umstand, dass andere Mitgliedstaaten weniger strenge Schutzvorschriften erlassen haben, spricht

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EuGH, Slg 2008, I-505, Rn 44 – Dynamic Medien Verlag = JK 2008, EGV Art 28/10 (Fall 17). Vgl v Danwitz EWS 2003, 393, 397; aA Craig/de Búrca EU, S 549. Vgl auch Jarass EuR 2000, 705, 723. ZB fehlt einem zum Zwecke der allgemeinen Beschränkung des Alkoholkonsums sowie insbesondere des Jugendschutzes erlassenen schwedischen Gesetz, das die Einfuhr von Alkoholika nur über eine staatliche Alkoholverwaltung erlaubt, nach Auffassung des EuGH sowohl die Geeignetheit (da das Einfuhrverbot für Private die Nachfrage nach Alkoholika nur auf die staatliche Verwaltung umlenkt) als auch teilweise die Erforderlichkeit (da das Einfuhrverbot unabhängig vom Alter gilt). Vgl EuGH, Slg 2007, I-4071, Rn 50 ff – Rosengren = JK 2007, EGV Art 28/8. 401 Typisch EuGH, Slg 2003, I-10155, Rn 133 mwN – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4; Slg 2010, I-2735, Rn 63 – Bressol. Krit statt vieler v Danwitz EWS 2003, 393, 395 ff.; ders in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 Rn 19 f; ders (Fn 391), 367, 372 ff (mw Nachw). Teilweise wird die Angemessenheit zwar erwähnt, aber durch die Erforderlichkeit definiert, vgl EuGH, Slg 2003, I-4581, Rn 69 – Kommission/Spanien; Slg 2004, I-6613, Rn 35 f – Loi Evin (Fall 13); Frenz GF, Rn 598. Eine Angemessenheitsprüfung durchführend dagegen zB EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 21 – Schräder; Slg 2002, I-6279, Rn 42 – Carpenter (→ § 11 Rn 86, 88); Slg 2003, I-5659, Rn 79 – Schmidberger (→ § 8 Rn 17, 23). 402 Vgl auch Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GrCh Rn 65. 403 Vgl zu einem Beispielsfall (die Erforderlichkeit verneinend) EuGH, Slg 2011, I-13525, Rn 139 ff – Kommission/Österreich.

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noch nicht gegen die Erforderlichkeit.404 Nicht erforderlich ist eine nationale Regelung aber, wenn das Ziel der Maßnahme bereits durch gleichwertige Anforderungen des Herkunftsstaates erreicht wird.405 So bedarf es keiner erneuten Überprüfung von Personen und Produkten, wenn bereits ausreichende Kontrollen im Herkunftsland durchgeführt worden sind.406 Bspw ist die Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit einer in einem anderen Mitgliedstaat gegründeten Gesellschaft aus Gründen des Gläubigerschutzes wegen einer geringeren Mindestkapitalausstattung dann nicht erforderlich, wenn die Gesellschaft als eine solche ausländischen Rechts auftritt. Die potenziellen Gläubiger sind in diesem Falle hinreichend darüber unterrichtet, dass andere Mindestkapitalaufbringungs- und -erhaltungsvorschriften als im Inland gelten.407 Ebenso fehlt es an der Erforderlichkeit einer generellen Vorabmeldungspflicht für ausländische Dienstleistungserbringer zum Zwecke der Betrugsbekämpfung zu der Aufdeckung von Scheinselbständigkeit und Schwarzarbeit.408 Lösung Fall 16: In Betracht kommt ein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) und die Freiheit des Warenverkehrs (Art 34 AEUV). 1. Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit: Die Grundfreiheiten setzen das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts voraus. Ein solcher ist hier gegeben, weil die O-GmbH ihr „Laserdrome“ in der von einer englischen Firma entwickelten und vermarkteten Spielvariante betreibt. Sachlich umfasst die Dienstleistungsfreiheit das Erbringen von Leistungen, die idR gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen (Art 57 UA 1 AEUV). Das trifft auf die Vermarktung des englischen Spiels zu. Da sich nicht nur der Erbringer, sondern auch der Empfänger (hier die deutsche Gesellschaft) im Falle der Erbringung von Dienstleistungen auf die Freiheit berufen kann, ist der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit betroffen. 2. Schutzbereich der Freiheit des Warenverkehrs: Da die Spielausrüstung eine Ware darstellt, fällt der Erwerb der Ausrüstung aus Großbritannien unter die durch Art 34 AEUV geschützte Freiheit des Warenverkehrs. Durch die ergangene Untersagung kann die O-GmbH davon abgehalten werden, die fragliche Ausrüstung zu erwerben. Nach der Rspr des EuGH kann eine nationale Maßnahme, wenn sie sowohl den freien Dienstleistungs- als auch den Warenverkehr beeinträchtigt, nur im Hinblick auf eine der beiden Grundfreiheiten zu prüfen sein, wenn sich herausstellt, dass im konkreten Fall eine der beiden Freiheiten der anderen gegenüber völlig zweitrangig ist und ihr zugeordnet werden kann (Rn 76). Dies trifft

404 Vgl EuGH, Slg 1995, I-1141, Rn 50 ff – Alpine Investments; Slg 1996, I-6511, Rn 42 – Broede; Slg 1999, I-6067, Rn 36 – Läärä = JK 2000, EGV Art 49/2; Slg 1999, I-7289, Rn 34 – Zenatti; Slg 2001, I-837, Rn 33 f – Mac Quen; Slg 2004, I-6613, Rn 37 – Loi Evin (Fall 13); Slg 2004, I-9609, Rn 38 – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13 (Fall 16); Slg 2008, I-505, Rn 49 – Dynamic Medien Verlag (Fall 17) = JK 2008, EGV Art 28/10. 405 Vgl EuGH, Slg 1991, I-4221, Rn 15 ff – Säger; Slg 1994, I-4249, Rn 19 – Houtwipper; Slg 1995, I-4186, Rn 38 f – Gebhard. 406 EuGH, Slg 1991, I-2357, Rn 15 ff – Vlassopoulou; Slg 2006, I-801, Rn 27 ff – Colegio de Ingenieros de Caminos = JK 2006, EGV Art 43/6. 407 Vgl EuGH, Slg 2003, I-10155, Rn 135 – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4; näher dazu De Diego Die Niederlassungsfreiheit von Scheinauslandsgesellschaften in der Europäischen Gemeinschaft, 2004, S 124 ff. 408 EuGH, EuZW 2013, 234, Rn 53 ff – Kommission/Belgien.

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hier zu, da die Einfuhr von Waren nur hinsichtlich der speziell für die untersagte Laserspielvariante entwickelte Ausrüstung beschränkt wird und dies eine zwangsläufige Folge der Beschränkung in Bezug auf die von der englischen Firma erbrachten Dienstleistungen ist. 3. Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Dienstleistungsfreiheit: Die Untersagungsverfügung der deutschen Behörde ist ohne Ansehen der Staatsangehörigkeit des Erbringers oder des Empfängers der Dienstleistung ergangen. Es liegt somit keine Diskriminierung, sondern eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs vor. 4. Rechtfertigung der Beeinträchtigung: Die Untersagungsverfügung ist zwar auf ein deutsches Gesetz gestützt worden (§ 14 I OBG NRW). Dieses müsste aber eine zulässige Schrankenregelung der Dienstleistungsfreiheit konkretisieren. Nach Art 62 iVm 52 I AEUV darf die Dienstleistungsfreiheit aus Gründen der öffentlichen Ordnung beschränkt werden. Der Begriff ist eng zu verstehen. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das von der deutschen Behörde verfolgte Ziel, die Menschenwürde zu schützen, ist „unzweifelhaft“ mit dem Unionsrecht vereinbar, ohne dass es insoweit eine Rolle spielt, dass in Deutschland der Grundsatz der Achtung der Menschenwürde die besondere Stellung eines selbständigen Grundrechts (Art 1 I GG) zukommt (heute ebenso Art 1 GRCh). Die Maßnahme ist auch geeignet, die Menschenwürde zu schützen. Nicht erforderlich ist eine Untersagungsverfügung, wenn das verfolgte Ziel mit Maßnahmen erreicht werden kann, die den freien Dienstleistungsverkehr weniger einschränken. Hierbei müssen aber nicht alle Mitgliedstaaten die gleiche Auffassung vertreten. Die Erforderlichkeit scheitert daher nicht bereits schon daran, dass im Vereinigten Königreich das Spiel betrieben werden kann. Vielmehr ist zu untersuchen, ob die Maßnahme über das hinausgeht, was zur Erreichung des von der zuständigen Behörde verfolgten Ziels erforderlich ist. Ein milderes Mittel ist hier nicht ersichlich, da die Untersagungsverfügung nur eine bestimmte Variante des Laserspiels betrifft (Verbot auf menschliche Ziele zu schießen und somit das Töten von Menschen zu spielen). Auch gegen die Angemessenheit der Maßnahme bestehen keine Bedenken. Somit verstößt die behördliche Verfügung nicht gegen die Dienstleistungsfreiheit.

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Lösung Fall 17: Das Vertriebsverbot iSd JuSchG könnte als Maßnahme gleicher Wirkung (Art 34 AEUV) anzusehen sein. Auch nationale Bestimmungen, die eine in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Ware zusätzlichen Kontrollen unterwerfen, stellen eine Behinderung iSd Dassonville-Rspr (Rn 30) dar. Bei der Kontrolle und der Kennzeichnungspflicht für Bildträger handelt es sich auch nicht nur um eine Verkaufsmodalität iSd Keck-Rspr (Rn 99 ff). Folglich handelt es sich um eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen iSv Art 34 AEUV. Der durch das JuSchG verfolgte Zweck des Schutzes von Kindern ist jedenfalls ein berechtigtes Interesse iSd Cassis-Rspr (Rn 118). Beschränkungen des freien Warenverkehrs sind jedoch nur gerechtfertigt, wenn sie geeignet sind, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (auf die Angemessenheit geht der EuGH nicht ein). Der EuGH hat vorliegend die Geeignetheit und Erforderlichkeit bejaht. Der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat für andere Schutzmodalitäten als ein anderer Mitgliedstaat (Vereinigtes Königreich) entschieden hat, habe keinen Einfluss auf die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der nationalen Bestimmungen. Diese seien allein an dem fraglichen Ziel und dem Schutzniveau zu messen, welches der betroffene Mitgliedstaat gewährleisten will. Das Prüfverfahren muss jedoch leicht zugänglich sein und innerhalb eines angemessenen Zeitraums abgeschlossen werden können. Ferner muss, wenn

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Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten

§ 7 VII 4

es zu einer Ablehnung führt, die Ablehnungsentscheidung in einem gerichtlichen Verfahren angefochten werden können. Diese Voraussetzung hat der EuGH beim JuSchG als erfüllt angesehen.

4. Schematische Zusammenfassung Fasst man die Überlegungen zusammen, sollten die Grundfreiheiten wie folgt geprüft werden: I. Schutzbereich der Grundfreiheit (Rn 67) 1. Sachlicher Schutzbereich (Rn 71) a) Kein abschließendes primärrechtskonformes Sekundärrecht (Rn 72) b) Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts (Rn 73) c) Vorliegen einer sachlich geschützten Tätigkeit, ggf Abgrenzung der Grundfreiheiten voneinander (Rn 74) d) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Grundfreiheit (Rn 79) e) Keine Bereichsausnahme (Rn 80) 2. Persönlicher Schutzbereich (Rn 43 ff) Unionsbürger, juristische Personen innerhalb der Union, ggf Drittstaatsangehörige 3. Räumlicher Schutzbereich (Rn 65) 4. Zeitlicher Schutzbereich (Rn 66) II. Beeinträchtigung des Schutzbereichs (Rn 87) 1. Handeln, Dulden oder Unterlassen eines Verpflichteten (Rn 52 ff) – Mitgliedstaaten, Union, Privatpersonen – Alternativ: Abhandlung im Rahmen der Prüfung des persönlichen Schutzbereichs 2. Vorliegen einer Diskriminierung (Rn 24) a) Offene Diskriminierung (Rn 28, 90) b) Versteckte Diskriminierung (Rn 28, 90) 3. Vorliegen einer Beschränkung (Rn 30, 96) a) Dassonville-Formel oder entsprechende Umschreibungen (Behinderung des Marktzutritts) (Rn 30, 96) b) Keine Ausklammerung iSd Keck-Rspr (Rn 99) c) Hinreichende Nähebeziehung (Rn 105) III. Rechtfertigung der Beeinträchtigung (Rn 107) 1. Erfordernis einer Ermächtigungsgrundlage (Rn 107) a) Grundlage im Sekundärrecht (Rn 108) b) Gesetzliche Grundlage im mitgliedstaatlichen Recht (str, Rn 109) 2. Ausdrückliche Schranken (Rn 111) 3. Anderweitige unionsrechtliche Schranken (Rn 115) 4. Ungeschriebene Schranken (zwingende Erfordernisse im Allgemeininteresse liegender Zwecke, Rn 118) a) Offene Diskriminierungen (nur durch ausdrückliche Schranken, Rn 119) b) Versteckte Diskriminierungen (auch durch ungeschriebene Schranken, str, Rn 119) c) Beschränkungen (auch durch ungeschriebene Schranken, Rn 118) d) Sachliche Erfordernisse im Falle eines Handelns Privater (Rn 121) 5. Schranken-Schranken (Rn 122) a) Unionsgrundrechte und sonstige Primärrechtsbestimmungen (Rn 123)

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§ 7 VIII 1

Dirk Ehlers

b) Sekundäres Unionsrecht (Rn 124) c) Wesensgehaltsgarantie (Rn 125) d) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Rn 129 ff)

VIII. Rechtsschutz 1. Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen 137

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Fall 18: In der Stadthalle der deutschen Gemeinde G findet einmal im Jahr ein beliebter Regionalmarkt statt,409 auf dem typische Produkte aus der Region veräußert werden. Betrieben wird die Stadthalle von einer gemeindeeigenen GmbH. Deren Bestimmungen sehen vor, dass Mietverträge für die Marktstände nur mit regionalen Betrieben geschlossen werden. K stellt in einer Fabrik in Portugal Trachtenbekleidung her, darunter auch Jacken, die in der Region von G traditionell getragen werden. Diese Jacken möchte er auf dem kommenden Regionalmarkt in G anbieten. Die GmbH hat auf seine Anfrage jedoch erklärt, dass er nicht berücksichtigt werden könne, da sein Betrieb nicht aus der Region stamme. K fragt, auf welchem Rechtsweg er gegen G vorgehen kann.

Da die Grundfreiheiten unmittelbar anwendbar sind (Rn 7) und dem Einzelnen Rechte verleihen (Rn 10), kann sich dieser gegen eine Verletzung der Grundfreiheiten vor Gericht zur Wehr setzen. Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Handelns der EU obliegt der Unionsgerichtsbarkeit.410 Als Klageart kommt die Nichtigkeitsklage (Art 263 UA 4 AEUV), die Untätigkeitsklage (Art 265 UA 3 AEUV) oder die Schadensersatzklage (Art 268 AEUV) in Betracht.411 Richtet sich das Rechtsschutzbegehren gegen eine mitgliedstaatliche Maßnahme oder ein Handeln Privater, sind die jeweiligen mitgliedstaatlichen Gerichte zuständig. Der Rechtsweg bestimmt sich nach dem nationalen Prozessrecht.412 In Deutschland sind für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gem § 40 I 1 VwGO grds die Verwaltungsgerichte, für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten gem § 13 GVG grds die ordentlichen Gerichte (Zivilgerichte) zuständig. Zu unterscheiden ist zwischen der Rechtsnatur der Grundfreiheiten und dem Rechtscharakter diesbezüglicher Streitigkeiten. Als primär staatsbezogene, sekundär unionsbezogene Vorschriften (Rn 52 ff) stellen sich Streitigkeiten über die Grundfreiheiten iSd Kriterien der Subjektstheorie413 als öffentlich-rechtlich dar oder sind zumindest solchen Vorschriften gleichzustellen. Hieran ändert sich nichts, wenn die Mitgliedstaaten privatrechtlich in Erscheinung treten und hierbei die Grundfreiheiten verletzen. Entfalten die Grundfreiheiten unmittelbare Drittwirkung (Rn 57), müssen sie nach der hier vertretenen Ansicht der Kategorie des gemeinsamen Rechts zugeschlagen werden.414 Dies bedeutet, dass sie dem Privatrecht zuzuordnen sind, wenn ein Privater verpflichtet wird, dem öffentlichen Recht, wenn Verpflichtungsadressat ein Träger von Staatsgewalt oder supranationaler Gewalt ist.

409 Vertiefend zu öffentlichen Einrichtungen Roeßing (Fn 108) S 205 ff. 410 Grdl EuGH, Slg 1987, 4199, Rn 15 ff – Foto Frost. 411 Näher dazu Ehlers (Fn 242), §§ 8–10. 412 Zu den Einwirkungen des Unionsrechts vgl Ehlers DVBl 2004, 1441 ff; Dörr/Lenz Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006, 103 ff. 413 Ehlers (Fn 41) § 3 Rn 19 ff. 414 Näher dazu Ehlers (Fn 41) § 3 Rn 25.

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Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten

§ 7 VIII 1

Die hM müsste demgegenüber konsequenterweise stets Jedermannsrecht und damit Privatrecht annehmen. Für die Rechtswegbestimmung stellt die Rspr in Deutschland nicht auf die Rechtsnatur der streitentscheidenden Norm, sondern auf den Rechtscharakter des Rechtsverhältnisses ab, aus dem der geltend gemachte Anspruch hergeleitet wird.415 Maßgeblich für die Zuordnung eines Rechtsverhältnisses zum öffentlichen oder privaten Recht ist die Rechtsform des Handelns. Wird ein Träger von Staatsgewalt öffentlich-rechtlich tätig, sind (vorbehaltlich aufdrängender oder abdrängender Sonderzuweisungen) gem § 40 I 1 VwGO die Verwaltungsgerichte zuständig. Im Falle eines privatrechtlichen Handelns sind diesbezügliche Streitigkeiten auch dann dem bürgerlichen Recht zuzuordnen, wenn das Privatrecht durch öffentlich-rechtliche Bindungen (hier die Grundfreiheiten) ergänzt, modifiziert und überlagert wird. Ebenso entscheiden die ordentlichen Gerichte (Zivilgerichte), wenn eine Verletzung der Grundfreiheiten durch der Bundesrepublik Deutschland zurechenbare Private in Rede steht oder Schadensersatz416 von einem Träger deutscher Staatsgewalt wegen Verletzung der Grundfreiheiten verlangt wird. Ist die Auslegung der Grundfreiheiten nicht zweifelsfrei, können oder müssen sich die nationalen Gerichte im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens gem Art 267 AEUV an den EuGH wenden. Die Verletzung einer Grundfreiheit durch die deutsche Staatsgewalt kann auch zu einer Verletzung deutscher Grundrechte führen. Auf die Grundrechte des Grundgesetzes können sich auch EU-Ausländer und juristische Personen aus den EU-Mitgliedstaaten berufen. Der Deutschenvorbehalt des Art 12 I 1 GG und der Inländervorbehalt des Art 19 III GG sind mit dem Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten und dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV nicht vereinbar. Sie dürfen daher nicht angewendet werden.417 Ist der Schutzbereich der Grundrechte eröffnet und liegt ein Grundrechtseingriff vor, führt die Verletzung einer Grundfreiheit wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts (Rn 11) dazu, dass sich der Grundrechtseingriff nicht rechtfertigen lässt. Demgemäß können Verletzungen der Grundfreiheiten auch mittels Erhebung einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden, wenn und soweit zugleich eine Beeinträchtigung nationaler Grundrechte vorliegt. Dies zeigt ein weiteres Mal die Verzahnung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung mit der Unionsrechtsordnung. Wendet sich der Einzelne gegen das Verhalten fremder Mitgliedstaaten, können grds nur deren Gerichte Rechtsschutz gewähren. Anders ist die Rechtslage, wenn die fremden Mitgliedstaaten im Inland tätig werden und nicht hoheitlich in Erscheinung treten.418 So haben die deutschen Gerichte gem Art 5 Nr 5 VO Nr 44/2001 über Klagen gegen öffentliche Unternehmen aus dem europäischen Ausland zu entscheiden, wenn diese von einer Niederlassung in der Bundesrepublik aus tätig werden.419 Kontrollmaßstab können auch die Grundfreiheiten sein. 415 ZB GmS-OGB BGHZ 97, 912; 102, 280; 108, 284; BVerwGE 129, 9; Ehlers (Fn 242), § 21 Rn 66 ff; Stelkens Verwaltungprivatrecht 2005, 1029 ff. 416 Grdl zur Haftung der Mitgliedstaaten wegen der Verletzung des Unionsrechts EuGH, Slg 1996, I-1029 – Brasserie du Pecheur. 417 So im Hinblick auf Art 19 III GG BVerfGE 129, 78, Rn 75 ff = JK 2012, GG Art 19 III/10. 418 Bei hoheitlichem Auftreten genießen die fremden Staaten Immunität. Vgl BVerfGE 16, 27, 61 f; näher zum Ganzen Ehlers (Fn 57) S 7 ff. 419 Da nach heutiger Auffassung der völkerrechtliche Immunitätsschutz nur für hoheitliches (acta iure imperii) und nicht für privatrechtliches (acta iure gestiones) Handeln gilt, vgl BVerfGE 16, 27, 61.

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Rügt der Einzelne eine Verletzung des Unionsrechts durch die EU, kommt nur eine Nichtigkeitsklage gem Art 263 IV AEUV in Betracht, die gem Art 256 AEUV vor dem EuG zu erheben wäre. Voraussetzung ist, dass eine an den Betroffenen adressierte Entscheidung oder eine Entscheidung vorliegt, die, obwohl sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen ist, den Einzelnen unmittelbar und individuell betrifft. Ferner können Rechtsakte mit Verordnungscharakter420 angegriffen werden, die den Kläger unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen.

2. Durchsetzung der Grundfreiheiten durch die EU-Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten 143

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Neben den individuell Beeinträchtigten kann auch die EU-Kommission im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens gem Art 258 AEUV die Beachtung der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten durchsetzen. Dieselbe Möglichkeit steht den Mitgliedstaaten nach Art 259 AEUV zu, wenn sie der Auffassung sind, dass andere Mitgliedstaaten gegen eine Grundfreiheit verstoßen haben. Schließlich können auch die Mitgliedstaaten und EU-Organe nach Maßgabe des Art 263 II und III AEUV Nichtigkeitsklage gegen unionsrechtliche Bestimmungen erheben. Lösung Fall 18: In Betracht kommen der Verwaltungsrechtsweg gem § 40 I 1 VwGO oder der Weg zu den ordentlichen Gerichten nach § 13 GVG. Die Verwaltungsgerichte sind danach zuständig für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art. Die ordentlichen Gerichte entscheiden über bürgerliche Rechtsstreitigkeiten. Eine Streitigkeit ist nach hM öffentlich-rechtlich, wenn das Rechtsverhältnis aus dem der Anspruch hergeleitet wird, dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist (Rn 138). K begehrt von G, ihm durch Einwirkung auf die Betreibergesellschaft Zugang zu dem Regionalmarkt zu verschaffen. Die den Zugang zu einer öffentlichen Einrichtung einer Gemeinde betreffenden Rechtsbeziehungen zwischen der Gemeinde und einem Privaten werden als öffentlich-rechtlich angesehen (weil das Rechtsverhältnis durch Art 3 I GG, den kommunalrechtlichen Benutzungsanspruch und ggf § 70 GewO geprägt wird).421 Nichts anderes gilt, wenn sich K auf Art 34 oder 56 AEUV beruft (weil auch diese Normen dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind). Würde man dagegen die Grundfreiheiten entgegen der hier vertretenen Ansicht dem Jedermannsrecht und damit dem Privatrecht zuordnen, weil auch die Privaten Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten sind (Rn 57), könnte uU sowohl ein öffentlich-rechtlicher als auch ein bürgerlich-rechtlicher Anspruch und zugleich sowohl ein öffentlich-rechtliches als auch ein privatrechtliches Rechtsverhältnis angenommen werden. K hätte dann ein Wahlrecht. Er könnte sowohl Klage vor dem Verwaltungsgericht als auch vor dem Zivilgericht erheben. Das angerufene Gericht hätte gem § 17 II 1 GVG (zur Vermeidung einer Rechtswegspaltung) auch über die rechtswegfremden Ansprüche mit zu entscheiden.

420 Vgl dazu EuGH, EuZW 2014, 22, Rn 22 ff – Inuit Tapiriit Kanatami ua. 421 Vgl zB BVerwG, NJW 1990, 134 f; zu § 70 GewO vgl Ehlers (Fn 107) § 18 Rn 87; dens JURA 2012, 849, 850, 855 f.

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§8 Freiheit des Warenverkehrs Astrid Epiney Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1974, 837 ff – Dassonville; Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon; Slg 1993, I-6097 ff – Keck; Slg 1995, I-1923 ff – Mars; Slg 1997, I-3843 ff – de Agostini; Slg 2001, I-1795 ff – Gourmet International; Slg 2003, I-14887 ff – DocMorris = JK 2004, EGV Art 28/4; Slg 2005, I- 4133 ff – Burmanjer = JK 2006, EGV Art 28/6; Slg 2008, I-6935 ff – Kommission/Deutschland = JK 2009, EGV Art 28/11; Slg 2009, I-4273 ff – Mickelsson u Roos. Schrifttum: Ahlfeld Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art 30 EGV, 1997; Büchele Diskriminierung, Beschränkung und Keck-Mithouard – die Warenverkehrsfreiheit in: Roth/Hilpold (Hrsg) Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, 2008, 335 ff; Classen Vorfahrt für den Marktzugang?, EuR 2009, 555 ff; Dawes A freedom reborn? The new yet unclear scope of Article 29 EC, ELR 2009, 639 ff; Defossez L’article 29 TCE Histoire d’une divergence et d’une possible réconciliation, CDE 2009, 409 ff; Füller Grundlagen und inhaltliche Reichweite der Warenverkehrsfreiheiten nach dem EG-Vertrag, 2000; Gebauer Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages als Gemeinschaftsgrundrechte, 2004; Gormley, EU Law of Free Movement of Goods and Customs Union, 2009; Hoffmann Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000; Horsley Unearthing Buried Treasure : Article 34 TFUE and the Exclusionary Rules, ELR 2012, 734 ff; Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; Laboux La jurisprudence Keck et Mithouard revisitée en doctrine, Mélanges Jean-Paul Jacqué, 2010, 397 ff; Mayer Die Warenverkehrsfreiheit im Europarecht – eine Rekonstruktion, EuR 2003, 793 ff; Millarg Die Schranken des freien Warenverkehrs in der EG, 2001; Oliver (Hrsg) Free Movement of Goods in the European Community, 5. Aufl., London 2010; Oliver/Enchelmaier Free movement of goods: Recent developments in the case law, CMLRev 2007, 649 ff; Rauber Quo vadis „Keck“? – zum Problem von Verwendungsbeschränkungen im freien Warenverkehr –, ZEuS 2010, 15 ff; de Sadeleer Restrictions of the Sale of Pharmaceuticals and Medical Devices such as Contact Lenses over the Internet and the Free Movement of Goods, European Journal of Health Law 2012, 3 ff; Schorkopf Beweislast im Recht des freien Warenverkehrs. Die erneuerte Cassis-Formel als Schnittmenge von Binnenmarktrecht und GATT, EuR 2009, 645 ff; Wenneras/Moen Selling Arrangements, Keeping Keck, ELR 2010, 387 ff; Woods Free Movement of Goods and Services within the European Community, 2004.

Die Freiheit des Warenverkehrs wird nach der Konzeption des AEU-Vertrages durch drei „Kategorien“ von Bestimmungen bzw Vorgaben gewährleistet: die Verwirklichung der Zollunion, das Verbot mengenmäßiger Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie das Gebot der Umformung staatlicher Handelsmonopole. Art 30 ff AEUV enthalten die für die Zollunion maßgeblichen Vorschriften. Im Einzelnen sind hier einerseits der Abbau von Ein- und Ausfuhrzöllen sowie von Abgaben gleicher Wirkung (Art 30 AEUV), andererseits die Einführung eines Gemeinsamen Zolltarifs gegenüber Drittstaaten (Art 31 AEUV) vorgesehen. Während Art 30 AEUV unmittelbar wirksam ist, Einzelnen entspr Rechte verleiht und insofern dieselben Charakteristika wie die Grundfreiheiten aufweist,1 wird der Gemeinsame Zolltarif (notwendigerweise) durch EU-Sekundärrecht eingeführt.2

1 Während der Begriff der Zölle relativ klar ist, wirft derjenige der Abgaben gleicher Wirkung einige Fragen auf. Hierzu mwN aus der Rspr Epiney in: Bieber/Epiney/Haag, EU, § 11 Rn 15 ff. 2 Vgl hierzu ausf Herrmann in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 28 AEUV Rn 45 ff.

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Astrid Epiney

Das Verbot der mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen und der Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 34–36 AEUV) ergänzt das in Art 25, 30 AEUV ausgesprochene Verbot der tarifären durch ein solches der nichttarifären Handelshemmnisse, womit ein wesentlicher Beitrag zur Öffnung der Märkte in Bezug auf die grenzüberschreitende Warenzirkulation geleistet wird. Art 37 AEUV schließlich sieht die Umformung staatlicher Handelsmonopole vor. Diese die Verbote der tarifären und nicht tarifären Handelshemmnisse ergänzende Bestimmung soll verhindern, dass das Verhalten staatlicher Handelsmonopole die Wirksamkeit der Regeln über den freien Warenverkehr einschränkt.3 Die folgenden Ausführungen beschränken sich – iSd Anlage dieses Bandes – auf den an zweiter Stelle genannten Aspekt, dem im Übrigen auch in der (gerichtlichen) Praxis die weitaus größte Bedeutung zukommt. In Bezug auf die inhaltliche Tragweite der Art 34, 35 AEUV kann – entspr den ausgeführten allgem Lehren (→ § 7 Rn 67 ff) – zwischen Schutzbereich (I.), Beeinträchtigung (II.) und Rechtfertigung (III.) unterschieden werden. Dabei werden die bereits allgem ausgeführten Probleme nur am Rande angesprochen, so dass der Akzent auf den für den Bereich des Warenverkehrs spezifischen oder besonders relevanten Fragestellungen liegt.

I. Schutzbereich 1. Räumlicher Schutzbereich 6

Der räumliche Anwendungsbereich der Art 34, 35 AEUV ergibt sich aus Art 52 EUV, Art 355 AEUV und entspricht damit dem Geltungsbereich der Verträge (→ § 7 Rn 65).

2. Sachlicher Schutzbereich a) Aus den Mitgliedstaaten stammende oder sich im freien Verkehr befindende Waren 7

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Nach Art 28 II AEUV findet das Kap über den freien Warenverkehr auf Waren Anwendung, die aus den Mitgliedstaaten stammen oder sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Der Begriff der Ware wird im Vertrag nicht definiert; allerdings ist er durch die Rspr des EuGH4 einer gewissen Klärung zugeführt worden. Danach sind unter Waren bewegliche körperliche Sachen zu verstehen, denen grds ein Geldwert zukommt, so dass sie Gegenstand von Handelsgeschäften sein können. Der EuGH legt hier teilweise aber auch eine pragmatische Sicht zugrunde, so wenn er die Warenqualität von Abfall wegen ansonsten auftretender Abgrenzungsschwierigkeiten – Abfall kommt manchmal, aber nicht immer ein Geldwert zu, und diese Beurteilung kann sich auch recht schnell ändern – bejaht.5 Elektrischer Strom und Gas sind ebenfalls als Ware anzusehen,6 wofür insb ihre Handelsfähigkeit und ihre praktische Handhabung als geldwertes Gut sprechen.

3 Allerdings werden staatliche Handelsmonopole nicht verboten, sondern (auch) den Regeln des freien Warenverkehrs unterstellt. Vgl im Einzelnen zu der Bestimmung und ihrer Auslegung durch den EuGH mwN Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 37 AEUV. 4 Vgl etwa EuGH, Slg 1999, I-7319, Rn 30 ff – Jägerskiöld. 5 EuGH, Slg 1992, I-4431, Rn 22 ff – Kommission/Belgien = JK 93, EWGV Art 30/3. 6 EuGH, Slg 1994, I-1477, Rn 28 – Almelo; Slg 2001, I-2099, Rn 68 ff – Preussen Elektra.

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Freiheit des Warenverkehrs

§8 I2

Auch wenn es um bewegliche Sachen geht, kann die Wareneigenschaft und damit die Einschlägigkeit von Art 34, 35 AEUV dann zu verneinen sein, wenn der beweglichen Sache als solcher gar keine Bedeutung und kein bzw ein vergleichsweise zu vernachlässigender Wert zukommt, insb weil der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit auf einem anderen Gebiet zu suchen ist. So ist etwa die Beschlagnahme von Lotterielosen und des diesbezüglichen Werbematerials im Gefolge der Anwendung eines allgem Verbots von Lotterieveranstaltungen nicht unter dem Gesichtspunkt der Warenverkehrs-, sondern demjenigen der Dienstleistungsfreiheit zu prüfen, steht doch die Versendung der Materialien in untrennbarem Zusammenhang mit der Durchführung von Lotterieveranstaltungen.7 Ebenso steht nach Ansicht des EuGH bei der Lieferung eines Laserspiels die Dienstleistungsfreiheit dann im Vordergrund, wenn die Einfuhr von Waren nur hinsichtlich der speziell für die untersagte Laserspielvariante entwickelte Ausrüstung beschränkt und dies eine zwangsläufige Folge der Beschränkung der erbrachten Dienstleistung ist.8 Hingegen berühre ein nationales Verbot des „ambulanten“ Verkaufs von Zeitschriftenabonnementen ohne Genehmigung schwerpunktmäßig Art 34 AEUV, während die Dienstleistungsfreiheit nach Art 56 AEUV zurücktrete.9 Die Wareneigenschaft ist ebenfalls zu bejahen, wenn ein Produkt als „Speicherungsbehälter“ dient, wie etwa bei Schallplatten, während Erfindungen oder Computerprogrammen als solche mangels „Körperlichkeit“ keine Warenqualität zukommt.10 Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass diesen Abgrenzungsfragen insofern keine große praktische Relevanz zukommen dürfte, als im Falle der Verneinung der Einschlägigkeit des Art 34, 35 AEUV die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) zum Zuge käme. Art 34 ff AEUV finden sodann – wie erwähnt – nur auf solche Waren Anwendung, die entweder aus den Mitgliedstaaten stammen oder aber – im Fall von aus Drittstaaten stammenden Waren – sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Der Nachweis des „Unionscharakters“ der Waren ist im Einzelnen im Zollkodex geregelt.11 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang weiter auf Sonderregelungen für spezifische Waren und Bereichsausnahmen: Erstere bestehen hinsichtlich der dem EAG-Vertrag unterfallenden Waren, wobei aber dieser Vertrag ebenfalls den Abbau der Binnenschranken vorsieht. In Erwägung ziehen könnte man, die Vorschriften des AEU-Vertrages jedenfalls subsidiär anzuwenden,12 was dann in Betracht kommt, wenn die konkreten Garantien des AEU-Vertrages weiter gehen.13 Auf die landwirtschaftlichen Erzeugnisse finden ua die Vorschriften über den freien Warenverkehr soweit Anwendung, als Art 39–44 AEUV nichts Abweichendes bestimmen (Art 38 II AEUV). Weiter ist von Bedeutung, dass der

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EuGH, Slg 1994, I-1039, Rn 22 f – Schindler. EuGH, Slg 2004, I-9609, Rn 26 f – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13. EuGH, Slg 2005, I-4133 ff – Burmanjer = JK 2006, EGV Art 28/6. Herrmann in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 28 AEUV Rn 40; ausführlich auch Frenz GF, Rn 803 ff. 11 VO 450/2008. Diese Verordnung löste die VO 2913/92 ab, womit einerseits eine Vereinfachung und Neuordnung der Rechtsvorschriften, andererseits eine Straffung des Zollverfahrens einherging. Zum Zollkodex zB den Überblick bei Waldhoff in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 28 AEUV, Rn 19 ff. 12 So wohl Herrmann in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 28 AEUV Rn 14. 13 So enthält der EAG-Vertrag etwa nur ein Verbot mengenmäßiger Beschränkungen, nicht aber von Maßnahmen gleicher Wirkung.

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Handel mit Waffen, Munition und Kriegsmaterial gemäß Art 346 I lit b AEUV eingeschränkt werden kann. Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob die Wareneigenschaft (und ggf die Einschlägigkeit auch anderer Grundfreiheiten) aus ethischen Gründen ausgeschlossen ist bzw sein kann.14 Diese Problematik wird etwa bei Leichen, Embryonen oder Stammzellen relevant und kann sich entspr auch im Rahmen anderer Grundfreiheiten stellen. Im Ergebnis sprechen die besseren Gründe gegen eine grds Einschränkung des Warenbegriffs aus ethischer Sicht: Zunächst ist die Frage der möglichen Reichweite einer solchen Einschränkung kaum wirklich allgemein-abstrakt und damit vorhersehbar zu beantworten, differieren doch die Ansichten darüber, was „ethisch“ ist und was nicht, erheblich, wie die Diskussion über die Stammzellen exemplarisch aufzuzeigen vermag. Weiter und insb geht die Systematik der Art 34 ff AEUV davon aus, dass solche Probleme im Rahmen der Rechtfertigung zu lösen sind, nimmt doch Art 34 AEUV grds gerade keine Rücksicht auf die rechtliche Einordnung eines bestimmten Produkts in einem Mitgliedstaat. Diesem Aspekt wird vielmehr auf der Rechtfertigungsebene (Art 36 AEUV und zwingende Erfordernisse, insb öffentliche Ordnung) Rechnung getragen. Daher erscheint es sinnvoller, die möglicherweise bestehende ethische Fragwürdigkeit des Handels mit bestimmten Produkten auf dieser Ebene zu lösen; auf diese Weise kann dann auch der unterschiedlichen Beantwortung solcher Fragen durch die Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden. Auch die Rspr des EuGH geht im Zusammenhang mit den Personenverkehrsfreiheiten in diese Richtung, so wenn der Gerichtshof die Einschlägigkeit des Art 56 AEUV für Abtreibungen15 oder diejenige der Art 45, 49 AEUV für die Tätigkeit als Prostituierte16 bejaht, wobei er die Erwägung, dass diese Tätigkeiten unethisch sein könnten bzw nach dem Recht der jeweiligen Mitgliedstaaten verboten sind, offenbar nicht für ausschlaggebend ansieht. Allerdings ist die Eröffnung des Schutzbereichs des freien Warenverkehrs dann zu verneinen, wenn es um Produkte geht, mit denen der Handel grundsätzlich aufgrund völkerund unionsrechtlicher Vorgaben verboten ist. So hielt der Gerichtshof in Bezug auf Betäubungsmittel fest, diese fielen (abgesehen von engen Ausnahmen) „ihrem Wesen nach“ unter ein Einfuhr- und Verkehrsverbot, so dass eine Berufung auf die Grundfreiheiten (oder auch das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit) nicht möglich sei. Hieran ändere auch der Umstand nichts, dass die Niederlande (es ging um eine Regelung der Stadt Maastricht, wonach nicht in den Niederlanden ansässigen Personen der Zutritt zu sog Coffeeshops, in denen nur oder ua Cannabis verkauft wird, zu verweigern ist) eine „Politik der Toleranz“ gegenüber dem Verkauf von Cannabis verfolgen, denn der Handel mit Betäubungsmitteln sei gleichwohl verboten, und es handle sich hier letztlich um eine Prioritätensetzung der Behörden bei der Bekämpfung des Drogenhandels.17 Entscheidend war für den Gerichtshof hier offenbar, dass der Handel mit Betäubungsmitteln aufgrund von Völker- und Unionsrecht zu verbieten ist, so dass aus dem Urteil nicht der Schluss gezogen werden kann, die Grundfreiheiten fänden in Bezug auf bestimmte (national) verbotene Verhaltensweisen keine Anwendung. Im Umkehrschluss bedeutet dies dann auch, dass zB auch Suchtstoffe in den Schutzbereich des freien Waren-

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Zu diesem Problem Frenz GF, Rn 870 ff. EuGH, Slg 1991, I-4685 ff – Grogan. EuGH, Slg 2001, I-8015 ff – Jany = JK 2002, EGV Art 43/2. EuGH, Slg 2010, I-13019 ff – Josemans = JK 2011, AEUV Art 56/1.

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verkehrs fallen, soweit sie im Einklang mit den einschlägigen unions- und völkerrechtlichen Vorgaben gehandelt und vermarktet werden.18 b) Zum Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs Auch die Anwendbarkeit der Art 34 ff AEUV setzt nach der Rspr des EuGH einen grenzüberschreitenden Sachverhalt voraus (→ § 7 Rn 25, 31).19 Sog „umgekehrte Diskriminierungen“ – dh solche Fälle, in denen inländische Erzeugnisse im Gefolge der Anwendung des Unionsrechts (zB des Art 34 AEUV) schlechter gestellt sind als aus dem EU-Ausland eingeführte Waren – sind danach aus unionsrechtlicher Sicht zulässig. In Anbetracht der Entwicklung des Unionsrechts – insb der Einf des Ziels der Errichtung eines „grenzenlosen“ Binnenmarktes – dürfte jedoch das ausschließliche Abstellen auf eine Grenzüberschreitung als Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Unionsrechts seinem Stand nicht mehr Rechnung tragen. Angemessener wäre hier eine differenzierendere Betrachtungsweise, so dass das Fehlen eines grenzüberschreitenden Elements zwar bei der Art und Weise der Prüfung des Art 34 AEUV auf der Rechtfertigungsebene von Bedeutung sein könnte (insb in Bezug auf den den Mitgliedstaaten einzuräumenden Gestaltungsspielraum), nicht jedoch schon von vornherein die Anwendung dieser Bestimmung ausschlösse.20 Letztlich dürfte auch die Rspr des EuGH die Fragwürdigkeit des Abstellens auf die „Grenzüberschreitung“ als Voraussetzung für die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten illustrieren: Denn dieser21 fasst das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Elements immer weiter, so dass es letztlich ausreicht, dass irgendein Element des Ausgangssachverhalts einen grenzüberschreitenden Bezug aufweist, ohne dass etwa die grenzüberschreitende Wahrnehmung der Freiheit selbst notwendig wäre.22 Zudem reicht offenbar bereits die Möglichkeit der Inanspruchnahme zumindest gewisser Grundfreiheiten für das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Bezugs aus;23 eine Möglichkeit der Wahrnehmung bestimmter Rechte besteht aber fast immer. Auf der Grundlage dieser Rspr ist nicht erkennbar, durch welche voraussehbaren Kriterien das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Bezugs festgestellt werden kann und unter welchen Voraussetzungen ein – in den Worten des Gerichtshofs – „relevantes Element“, das über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausreicht, vorliegen soll; vielmehr legt die Rspr die Annahme nahe, dass nicht ein „relevantes Element“ grenzüberschreitend sein muss, sondern dass „irgendein“, wenn auch sehr schwach ausgeprägter, Bezug zum EU-Ausland ausreicht. Bei einer derart weiten Auslegung des Erfordernisses des grenzüberschreitenden Bezugs

18 EuGH, Slg 1995, I-563 ff – Evans. 19 Vgl aus der Rspr speziell zu Art 34 AEUV EuGH, Slg 1987, 809, Rn 12 – Mathot; Slg 1987, 995, Rn 7 – Rousseau. 20 Ausf zu diesem Ansatz Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, insb 200 ff; zum Problemkreis auch Hammerl Inländerdiskriminierung, 1997; Lach Umgekehrte Diskriminierungen im Gemeinschaftsrecht, 2008; Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 28 ff. 21 Vgl aus jüngerer Zeit insb EuGH, Slg 2002, I-6279, Rn 28 ff – Carpenter = JK 2002, EGV Art 49/6; Slg 2003, I-11613 ff – Garcia Avello; Slg 2007, I-181 ff – ITC = JK 2007, EGV Art 39/6; Slg 2005, I-6421 ff – Schempp. 22 Insb zum zuletzt genannten Aspekt Hofstötter ELJ 2005, 548, 551 ff; Tryfonidou EPL 2005, 527, 536 ff. 23 Hierauf ausdrücklich hinweisend v Bogdandy/Bitter FS Manfred Zuleeg, 2005, S 309, 319 f.

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erscheint jedoch eine Differenzierung zwischen „grenzüberschreitenden“ und „internen“ Sachverhalten kaum mehr sachdienlich.24

3. Persönlicher Schutzbereich a) Berechtigte 16

Der Schutzbereich der Art 34 ff AEUV knüpft entscheidend an den Warenbegriff an und ist insofern ausschließlich als Produktverkehrsfreiheit ausgestaltet; im Gegensatz zu den Personenverkehrsfreiheiten fehlt jeglicher Hinw darauf, dass sich nur Unionsbürger sowie juristische Personen, die gewissen Anforderungen genügen, auf diese Bestimmungen berufen könnten. Diese Sachbezogenheit der Warenverkehrsfreiheit und ihr Sinn und Zweck, im Hinblick auf die Verwirklichung des Binnenmarktes den freien Verkehr von Waren im Binnenmarkt zu gewährleisten (eine Zielsetzung, die in Bezug auf die vom Schutzbereich erfassten Waren, unabhängig von deren Eigentümer, zum Zuge kommen muss), legen es nahe, dass sich auch Drittstaatsangehörige auf die Gewährleistung des freien Warenverkehrs berufen können.25 b) Verpflichtete

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Fall 1: (EuGH, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3) Auf der Brenner-Autobahn, eine zentrale Nord-Süd-Transitachse, kam es 1998 zu einer Demonstration von Umweltschützern, die sich gegen den (wachsenden) Transitverkehr wandten. Die Demonstration wurde von den zuständigen österreichischen Behörden (nach Einreichung eines entspr Antrags) genehmigt und führte zu einer 30-stündigen Blockade der Autobahn. Die österreichischen Behörden informierten einige Zeit vor der Demonstration umfassend über diese und schlugen verschiedene Ausweichstrecken vor. Eugen Schmidberger, ein Spediteur, klagte vor dem OLG Innsbruck gegen die Republik Österreich und beantragte Schadensersatz dafür, dass seine LKWs während dieser Zeit nicht genutzt werden konnten und er dadurch einen genauer bezifferten Verdienstausfall erlitten habe. Das OLG Innsbruck stellt sich im Rahmen dieses Verfahrens die Frage, ob die Republik Österreich gegen ihre unionsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen hat, da sie die Demonstration nicht untersagt hat.

Normadressaten der Art 34 ff AEUV sind in erster Linie die Mitgliedstaaten, von denen auch in der Praxis der weitaus größte Teil der Beschränkungen dieser Grundfreiheiten ausgeht. IVm Art 4 III EUV ergibt sich im Übrigen auch eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen gegen Handelshindernisse einzuschreiten, die

24 Vgl schon Epiney (Fn 20) insb S 200 ff; spezifisch mit Bezug zur Unionsbürgerschaft Bode Europarechtliche Gleichbehandlungsansprüche Studierender und ihre Auswirkungen in den Mitgliedstaaten. Zur Reichweite des Diskriminierungsverbots im Hochschulbereich unter besonderer Berücksichtigung der Unionsbürgerschaft, 2005, S 237; Shuibhne CMLRev 2002, 731 ff; Spaventa CMLRev 2008, 13 ff; Toner MJ 2000, 158 ff; Kämmerer EuR 2008, 45, 49, jew mwN; s neuerdings die überzeugende Untersuchung von Lach (Fn 20) insb S 245 ff. AA aber in der neueren Lit etwa Riese/Noll NVwZ 2007, 516 ff. 25 Ebenso etwa Frenz GF, Rn 296; aA etwa Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 32 f.

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von Privaten ausgehen (→ ausf § 7 Rn 60).26 Unklar ist hier auf der Grundlage der Formulierungen in der Rspr27, ob es für die tatbestandliche Einschlägigkeit der Art 34 AEUV iVm Art 4 III EUV ausreicht, dass das Verhalten Privater zu irgendeiner, wenn auch nur minimalen Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs führt oder ob eine bestimmte Beeinträchtigungsschwelle notwendig ist. Angesichts des Umstandes, dass letztlich auch verschiedene grds legale Geschäftspraktiken (zB das Anpreisen lokaler Produkte in der Werbung) regelmäßig „irgendwelche“ Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Warenverkehr entfalten können, sprechen die besseren Gründe für das Erfordernis zumindest einer gewissen „Beeinträchtigungswahrscheinlichkeit und -schwelle“, wobei letztlich an das sich auch in der Rspr findende Kriterium, dass jedenfalls rein hypothetische Ereignisse nicht zu berücksichtigen sind,28 angeknüpft werden kann, so dass die Beeinträchtigung bzw ihre Kausalität jedenfalls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit und damit wohl auch einer gewissen Intensität zu erwarten sein muss. Dieses Erfordernis lässt sich im Übrigen auch aus den tatbestandlichen Voraussetzungen für das Eingreifen der hier relevanten staatlichen Schutzpflicht bzw den Anforderungen an die zu treffenden Schutzmaßnahmen ableiten: Letztlich geht es hier lediglich um die Pflicht zur Ergreifung der nach den Umständen erforderlichen Maßnahmen; liegt nur eine sehr geringfügige Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs vor, dürften aber bereits keine Umstände gegeben sein, die staatliche Schutzmaßnahmen erforderlich machten. Jedenfalls ist im Rahmen der Rechtfertigung anderen Interessen, so insb grundrechtlichen Gewährleistungen, Rechnung zu tragen. Weiter geht der EuGH auf der Rechtfertigungsebene in Bezug auf die Frage, ob die Staaten die notwendigen Schutzmaßnahmen ergriffen haben, regelmäßig von einem (auch im Vergleich zu den abwehrrechtlichen Konstellationen) recht weiten Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten aus. Dies überzeugt insofern, als es regelmäßig mehrere Möglichkeiten gibt, dem Schutzauftrag nachzukommen. Eine staatliche Maßnahme liegt auch dann vor, wenn Private ihre gewerblichen Schutzrechte geltend machen: Zwar muss der Rechtsinhaber seinen Anspruch geltend machen; die dann einfuhrbeschränkende Maßnahme – Beschlagnahme, Vermarktungsverbot unter bestimmten Voraussetzungen oä – geht aber von staatlichen Organen (Behörden oder Gerichten) aus.29 Unerheblich ist es im Übrigen, ob die staatliche Maßnahme zwingenden Charakters ist oder nicht; entscheidend ist allein die diskriminierende oder beschränkende Wirkung. So sah der EuGH etwa eine Werbekampagne der irischen Behörden, vermehrt einheimische Produkte zu kaufen, als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung an.30 Aber auch die Unionsorgane selbst müssen sich an die Vorgaben der Art 34 ff AEUV halten,31 was sich schon aus der Normenhierarchie (Primärrecht geht Sekundärrecht vor) ergibt. Ob und inwieweit Privatpersonen durch Art 34 ff AEUV verpflichtet werden, ist – ebenso wie im Rahmen der übrigen Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 57, 60) – (noch) nicht

26 27 28 29

EuGH, Slg 1997, I-6959, Rn 24 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2. EuGH, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3. EuGH, Slg 2000, I-493 ff – Graf. Vgl aus der Rspr zB EuGH, Slg 1994, I-2789, Rn 33 f – Ideal Standard; Slg 1990, I-3711, Rn 8 f – Haag II; aus der Lit nur Frenz GF, Rn 718 f. 30 EuGH, Slg 1981, 1625, Rn 12 – Kommission/Irland. 31 EuGH, Slg 1994, I-3879, Rn 11 – Meyhui; Slg 2010, I-3973 ff – Solgar Vitamin’s France.

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abschließend geklärt. Die Rspr hierzu dürfte mittlerweile davon ausgehen, dass Art 34 ff AEUV keine umfassende Drittwirkung zukommt.32 Allerdings betont die jüngere Rspr auch, dass formal private Gesellschaften, die im Zuge gesetzlicher Vorgaben errichtet worden sind, auf Grund gesetzlicher Zuweisungen bestimmte Zielsetzungen zu verfolgen haben, bestimmte öffentlich-rechtliche Vorgaben bei der Tätigkeit zu beachten haben und durch Pflichtbeiträge bestimmter Personen finanziert sind, die Vorgaben des Art 34 AEUV beachten müssen, wenn sie eine allen Betrieben der betr Wirtschaftszweige zugängliche Regelung einführen, die sich wie eine staatliche Regelung auf den Handel innerhalb der EU auswirken kann.33 Bei Vorliegen einer solchen Konstellation geht der EuGH offenbar von einer Zurechnung des Verhaltens der privaten Gesellschaft zum Staat aus.34 Weiter bejahte der Gerichtshof die Anwendbarkeit des Art 34 AEUV auf Handlungen der Deutschen Zertifizierungsstelle des Gas- und Wasserfachs (DVGW), eine private Einrichtung ohne Gewinnzweck, auf deren Tätigkeit der Staat keinen maßgebenden Einfluss hat, im Zusammenhang mit dem Entzug des Konformitätszertifikats für bestimmte Produkte. Denn der Gesetzgeber habe eine Vermutung aufgestellt, dass die von der DVGW zertifizierten Produkte den Anforderungen des nationalen Rechts entsprechen und die DVGW sei die einzige Einrichtung, die solche Konformitätszertifikate ausstelle. Das Fehlen einer Zertifizierung erschwere daher den Vertrieb der entsprechenden Produkte erheblich, woran auch der Umstand nichts ändere, dass es ein anderes Verfahren gebe, im Rahmen desselben die Konformität des betreffenden Produkts mit den gesetzlichen Vorgaben festgestellt werden könne, denn dieses sei erheblich aufwändiger.35 Man wird damit insgesamt schließen können, dass der Gerichtshof Art 34 AEUV keine grundsätzliche Drittwirkung zuerkennen möchte, sondern davon ausgeht, dass diese Vorschrift Privaten nur dann entgegengehalten werden kann, wenn sie mit besonderen Befugnissen ausgestattet sind oder ihre Tätigkeit eine besondere, gesetzlich vorgesehene Wirkung entfaltet, so dass sich der einzelne Wirtschaftsteilnehmer solchen Privaten letztlich nicht oder nur unter Inkaufnahme erheblicher Nachteile entziehen kann. Eine Verneinung einer umfassenden Drittwirkung liegt denn auch jedenfalls im Rahmen der Art 34 ff AEUV vor dem Hintergrund der Funktion und Zielsetzungen dieser

32 EuGH, Slg 1982, 4005, Rn 6 ff – Kommission/Irland; Slg 1988, 5249, Rn 11 – Bayer; die entgegengesetzte Aussage in Slg 1981, 181, Rn 17 f – Dansk Supermarked, hat der Gerichtshof später nicht mehr aufgegriffen, so dass davon ausgegangen werden kann, dass der EuGH nunmehr einer Drittwirkung abl gegenübersteht; auch Slg 1997, I-6959, Rn 24 ff – Kommission/ Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2, dürfte in diese Richtung gehen, denn der Umstand, dass der EuGH mit keinem Wort auf die Frage der möglichen Verantwortlichkeit der Privaten einging, deutet wohl darauf hin, dass er eine Drittwirkung ablehnt. Allerdings erwähnte der EuGH in Slg 2007, I-10779 ff – International Transport Workers Federation = JK 2008, EGV Art 43/9, im Zusammenhang mit der Bejahung der Drittwirkung des Art 49 AEUV, dass das Urt Slg 1997, I-6959, Rn 24 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2, darauf hindeute, dass Beschränkungen auch nicht staatlichen Ursprungs sein könnten. Die Bedeutung dieses Hinw bleibt aber unklar, da zwar die Beschränkungen in Slg 1997, I-6959, Rn 24 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2, nicht staatlichen Ursprungs waren, es hingegen aber um die Pflichtverletzung staatlicher Organe im Zusammenhang mit dem entspr privaten Verhalten ging. 33 EuGH, Slg 2002, I-9977 ff – Kommission/Deutschland (CMA-Gütezeichen) = JK 2003, EGV Art 28/2. 34 Vgl aber zu den durch dieses Urt aufgeworfenen offenen Fragen Epiney NVwZ 2004, 555, 561. 35 EuGH, EuZW 2012, 797– Fra.bo = JK 2013, AEUV Art 34/2.

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Bestimmungen im Gesamtsystem des Vertrages nahe: Denn zunächst sollen Art 34 ff AEUV im Wesentlichen das Verbot von Zöllen und Abgaben gleicher Wirkung durch die Unterbindung nichttarifärer Handelshemmnisse ergänzen. Auch ist es für die effektive Verwirklichung des freien Warenverkehrs nicht unbedingt notwendig, private Verhaltensweisen zu erfassen, sind diese doch Gegenstand anderer Bestimmungen des Vertrages, nämlich der Wettbewerbsregeln (Art 101 f AEUV). Im Übrigen erscheint eine nunmehr auch offenbar vom EuGH im Rahmen des Art 45 AEUV zugrunde gelegte umfassende Drittwirkung (→ § 9 Rn 46)36 grds problematisch: Denn sie dürfte der ebenfalls zu beachtenden Privatautonomie und Vertragsfreiheit kaum Rechnung tragen und insofern auch über die Funktion der Grundfreiheiten hinausgehen, ganz abgesehen von den damit einhergehenden Auslegungs- und Anwendungsproblemen, etwa auf der Rechtfertigungsebene. Der bislang in der Rspr vorherrschende Ansatz der Beschränkung der Drittwirkung auf Regelungswerke, die eine ähnliche rechtliche oder faktische Bindungswirkung entfalten wie staatliche Normen,37 erscheint daher überzeugender: Er erlaubt die effektive Durchsetzung der Grundfreiheiten in den problematischen Bereichen und ist schon deshalb ausreichend, weil ansonsten die staatliche Schutzpflicht greift. Insofern vermag die erwähnte jüngere Rspr im Grundsatz zu überzeugen, verneint sie doch offenbar eine allgem Drittwirkung des Art 34 AEUV und bejaht vielmehr eine Zurechnung des Verhaltens Privater zum Staat und damit eine Bindung an Art 34 AEUV zunächst unter der Voraussetzung, dass der Staat mit privatrechtlichen Mitteln eine öffentliche Aufgabe wahrnimmt, in verschiedener Hinsicht die Gesellschaft kontrolliert und die Regelung der Gesellschaft sich wie eine staatliche Regelung auf den Warenverkehr innerhalb der EU auswirkt. Hinzu kommt die Konstellation, dass bestimmte (handelsbeschränkende) Massnahmen Privater kraft Gesetzes besondere Wirkungen entfalten, wobei auch hier die gesetzliche Verankerung entscheidend sein dürfte. Lösung Fall 1: Das Verhalten Österreichs (kein Verbot der Demonstration auf der Brenner-Autobahn bzw Genehmigung der Kundgebung) könnte gegen Art 34 AEUV iVm Art 4 III EUV verstoßen. Diese Bestimmungen verpflichten die Mitgliedstaaten dazu, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die Möglichkeit der tatsächlichen Wahrnehmung der Warenverkehrsfreiheit nicht durch das Verhalten (anderer) Privater beeinträchtigt wird. Im vorliegenden Fall liegt eine solche Beeinträchtigung vor, da es die Blockade der Autobahn dem Spediteur verunmöglicht, die Waren in einer wirtschaftlich vertretbaren Zeit zu transportieren; auch die Behinderung oder Verunmöglichung der Durchfuhr von Waren stellt nämlich eine Beeinträchtigung des Art 34 AEUV dar. Daher stellt die Genehmigung der besagten Demonstration eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung dar. Allerdings kann diese Einschränkung des freien Warenverkehrs durch den Schutz der Grundrechte, namentlich der auch in Art 10, 11 EMRK garantierten Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit, gerechtfertigt werden. Diese Grundsätze stellen nämlich berechtigte Interessen dar, die grds geeignet sind, eine Beschränkung des freien Warenverkehrs zu rechtfertigen. Damit stehen sich zwei Interessen – die Verwirklichung der Freiheit des Warenverkehrs auf der einen und der genannten Grundrechte auf der anderen Seite – gegenüber, die anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalls abzuwägen sind. Im vorliegenden Fall ist dabei insb darauf hinzuweisen, dass es sich um eine genehmigte Demonstration handelte, dass die

36 EuGH, Slg 2000, I-4139, Rn 34 ff – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1. 37 Vgl schon EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave; s sodann Slg 1995, I-4921 ff – Bosman.

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Autobahn (nur) ein einziges Mal für 30 Stunden blockiert war, dass die Blockade geografisch begrenzt war, dass die Demonstration sich nicht gegen den Handel mit Waren einer bestimmten Art oder Herkunft richtete, dass die Behörden verschiedene Rahmen- und Begleitmaßnahmen getroffen hatten, um die Störungen des Straßenverkehrs möglichst gering zu halten und dass ein schlichtes Verbot der Versammlung einen nicht hinnehmbaren Eingriff in die Versammlungsfreiheit bedeutet hätte und strengere Auflagen der Demonstration einen wesentlichen Teil ihrer Wirkung hätten nehmen können. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände war die durch die österreichischen Behörden im vorliegenden Fall vorgenommene Abwägung nicht unvertretbar, so dass sie das ihnen zustehende weite Ermessen nicht überschritten haben. Eine Verletzung des Art 34 AEUV iVm Art 4 III EUV ist somit zu verneinen.

II. Beeinträchtigung 24

Art 34, 35 AEUV verbieten mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung, wobei beide Bestimmungen auf Grund ihrer unterschiedlichen inhaltlichen Tragweite38 getrennt erörtert werden sollen (1., 2.).

1. Einfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 34 AEUV) a) Mengenmäßige Beschränkungen 25

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Art 34 AEUV verbietet zunächst Einfuhrbeschränkungen. Hierunter sind Maßnahmen zu verstehen, die die Wareneinfuhr der Menge oder dem Wert nach begrenzen.39 Konkret nehmen Einfuhrbeschränkungen idR die Form von Kontingenten an; erfasst sind aber auch – als stärkste Form der Beschränkung – Ein- oder Durchfuhrverbote. Im Gegensatz zu Maßnahmen gleicher Wirkung geht es hier um Maßnahmen, die die Einfuhr ganz oder teilweise verbieten, verunmöglichen oder beschränken, so dass sonstige, nicht unmittelbar die Einfuhr selbst beschränkende Maßnahmen – also insb solche, die bestimmte Anforderungen an die Beschaffenheit von Produkten stellen – als Maßnahmen gleicher Wirkung anzusehen sind bzw sein können.40 Einfuhrbeschränkungen sind per definitionem (offen) diskriminierend; nicht diskriminierende Maßnahmen sind daher unter dem Gesichtspunkt der Maßnahmen gleicher Wirkung zu prüfen. Insbesondere stellen Absatzverbote grundsätzlich Maßnahmen gleicher Wirkung dar, da sie nicht die Einfuhr als solche verbieten, sondern in der Sache Anforderungen an die entsprechenden Produkte stellen. Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen kommen allerdings derzeit allenfalls ausnahmsweise (zB bei umweltpolitisch motivierten Maßnahmen etwa zum Artenschutz) vor,41 so dass ihre praktische Bedeutung vernachlässigt werden kann.

38 Zumindest auf der Grundlage der Rspr und der hier vertretenen Ans. 39 EuGH, Slg 1973, 865, Rn 7 – Geddo. 40 Vgl aus der Rspr etwa EuGH, Slg 1983, 203, Rn 21 f – Kommission/Vereinigtes Königreich; Slg 1989, 229, Rn 4 f – Kommission/Deutschland. 41 Vgl zB EuGH, Slg 1998, I-8033 ff – Bluhme, wo es um ein Einfuhrverbot bestimmter Bienensorten in einen Teil des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats ging.

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b) Maßnahmen gleicher Wirkung Fall 2: (EuGH, Slg 2001, I-1795 ff – Gourmet International) In Schweden besteht ein Werbeverbot für alkoholische Getränke in Zeitungen und Zeitschriften sowie Rundfunk und Fernsehen. Gestützt auf dieses Verbot beantragte der Konsumentombudsman (Verbraucherbeauftragte) beim zuständigen Gericht, Gourmet International Products AB (GIP) zu verbieten, Werbeanzeigen für alkoholische Getränke in Zeitungen, Zeitschriften sowie Rundfunk und Fernsehen veröffentlichen zu lassen. Das Gericht möchte der Klage stattgeben, hegt aber Zweifel an der Vereinbarkeit eines solchen Verbots mit Art 34 AEUV. Fall 3: (EuGH, Slg 2009, I-519 ff – Kommission/Italien = JK 2010, EGV Art 28/12) Italien kennt ein gesetzliches Verbot für bestimmte Kleinkraftfahrzeuge, Anhänger zu ziehen. Betroffen sind einerseits Anhänger, die speziell für die betroffenen Kraftfahrzeuge hergestellt werden, andererseits solche, die auch durch andere Fahrzeuge gezogen werden können. Stellt diese Regelung eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung iSd Art 34 AEUV dar?

Zentral für die Tragweite und Bedeutung des Art 34 AEUV ist das Verbot von Maßnahmen gleicher Wirkung wie Einfuhrbeschränkungen. Seine Einbeziehung in den Tatbestand des Art 34 AEUV ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass der freie Warenverkehr häufig durch nicht quantifizierbare Maßnahmen ebenso „wirksam“, aber weniger „sichtbar“ wie durch Einfuhrbeschränkungen behindert wird bzw werden kann. Für die Bestimmung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung ist vor diesem Hintergrund in erster Linie die Wirkung einer Maßnahme entscheidend: Entfaltet diese gleiche oder vergleichbare Folgen für die Einfuhr von Waren aus anderen Mitgliedstaaten wie Einfuhrbeschränkungen, wird sie vom Tatbestand des Art 34 AEUV erfasst. Im Einzelnen können damit in Abhängigkeit von dem „Ob“ und „Wie“ einer Diskriminierung verschiedene Arten von Maßnahmen gleicher Wirkung unterschieden werden.

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aa) Offene Diskriminierungen Zunächst fallen all diejenigen Maßnahmen, die ausdrücklich nach der Warenherkunft (Inland einerseits, EU-Ausland andererseits) differenzieren, unter den Begriff der Maßnahmen gleicher Wirkung. Beispiele aus der Praxis in diesem Zusammenhang sind etwa obligatorische gesundheitspolizeiliche Untersuchungen für eingeführte Waren42 oder Kennzeichnungspflichten nur für eingeführte Waren.43

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bb) Versteckte Diskriminierungen Verboten sind aber auch versteckte Diskriminierungen, also solche Maßnahmen, die zwar an ein „neutrales“ Kriterium anknüpfen, jedoch in der Sache typischwerweise eingeführte Produkte betreffen bzw benachteiligen (→ allgem hierzu § 7 Rn 28). Die Abgrenzung versteckter Diskriminierungen von den sogleich zu behandelnden Beschränkungen kann im Einzelnen problematisch sein. Dieser Unterscheidung kommt jedoch jedenfalls im Rah-

42 Vgl den Sachverhalt in EuGH, Slg 1989, 3997 ff – Kommission/Deutschland. 43 Vgl den Sachverhalt in EuGH, Slg 1981, 1625 ff – Kommission/Irland.

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men des Art 34 AEUV keine praktische Bedeutung zu, da diese Bestimmung auch Beschränkungen verbietet und sich die Rechtfertigungsgründe für versteckte Diskriminierungen und Beschränkungen decken (→ § 7 Rn 89 ff). Die in der Lit 44 teilweise vertretene Ansicht, im „Kernbereich“ – also zB dem Zugang selbst zu einer Beschäftigung im Rahmen des Art 45 AEUV – der Grundfreiheiten gelte ein allgem Beschränkungsverbot, während in den „Randbereichen“ – zB der Regelung der Ausübung einer Beschäftigung im Anwendungsbereich des Art 45 AEUV – nur ein (weit verstandenes) Diskriminierungsverbot gelte, kommt jedenfalls im Zusammenhang mit Art 34 AEUV auf der Grundlage der Rspr (der in der Lit weitgehend gefolgt wird) keine Bedeutung zu: Denn Art 34 AEUV ist allgem als Beschränkungsverbot auszulegen, und Einschränkungen des Tatbestandes ergeben sich nach der Rechtsprechung aus der sog Keck-Formel, so dass für eine Differenzierung nach „Kern- und Randbereichen“ der Grundfreiheiten kein Raum mehr bleibt und auch kein Bedürfnis besteht. Im Übrigen ist diese Differenzierung schon vom Ansatz her problematisch: Zunächst impliziert sie, dass im Falle des Kernbereichs allgem ein schwererer Eingriff in die Rechte der Betroffenen vorliege, was aber jedenfalls nicht zwingend ist, können doch zB bestimmte Beschäftigungsmodalitäten möglicherweise zumindest faktisch zu Zugangsbeschränkungen führen. Damit in engem Zusammenhang steht die Überlegung, dass sich Kern- und Randbereich häufig wohl nur schwer voneinander trennen lassen. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden auf eine Abgrenzung zwischen versteckten Diskriminierungen und Beschränkungen verzichtet, und die Problembereiche werden im Folgenden im Zusammenhang mit der Erörterung der Beschränkungen behandelt. Dabei geht es im Wesentlichen um die Präzisierung der genauen Tragweite der Keck-Rspr. cc) Beschränkungen

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Auch nicht diskriminierende, sondern „nur“ den Warenverkehr beschränkende Maßnahmen fallen grds unter den Tatbestand des Art 34 AEUV, was schon insofern nahe liegt, als auch diese im Ergebnis ähnliche Wirkungen wie Einfuhrbeschränkungen entfalten können. Als Beispiele sind etwa Regelungen der Produktbeschaffenheit oder die Werbung betr Vorschriften zu nennen, die die Konsequenz nach sich ziehen, dass in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellte und vertriebene Produkte nicht vermarktet oder nicht bzw weniger effektiv beworben werden können, so dass ihr Absatz sinkt bzw gewisse Produkte gar nicht vermarktet werden dürfen. Für die Definition des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung muss somit die beschränkende Wirkung ausschlaggebend sein, mit der Folge, dass Art 34 AEUV (auch) ein Beschränkungsverbot darstellt. Allerdings bedarf das Vorliegen der Voraussetzungen, unter denen eine solche Beschränkung vorliegt, der Präzisierung, denn ansonsten könnten alle Maßnahmen, die einen irgendwie gearteten Bezug zum freien Warenverkehr aufweisen bzw eine Rückwirkung auf den freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten entfalten, von Art 34 AEUV erfasst werden. Ausgangspunkt hierfür ist nach wie vor die sog DassonvilleFormel: Danach ist unter einer Maßnahme gleicher Wirkung jede staatliche Regelung, „die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsäch-

44 In diese Richtung wohl Jarass EuR 2000, 705, 711. S ansonsten die Nachw zur Diskussion in der Lit bei Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 Rn 56 ff.

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lich oder potenziell zu behindern“, zu verstehen.45 Damit ist also die beschränkende Wirkung der Maßnahmen entscheidend, so dass die Eignung einer Maßnahme, handelsbeschränkende Wirkungen zu entfalten, maßgeblich ist. Unerheblich ist dabei, ob diese tatsächlich eingetreten sind oder nicht.46 Diese weite Fassung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung hat zur Folge, dass Waren, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt worden sind, grds in die anderen Mitgliedstaaten eingeführt und dort vermarktet werden können, auch wenn sie nicht den nationalen Anforderungen (insb Produkt- oder Zulassungserfordernissen) entsprechen. Aber auch sonstige, die Produktmobilität beeinträchtigende Maßnahmen, wie zB ein Fahrverbot für Lastwagen mit bestimmten Gütern auf der Inntalautobahn (Brennerstrecke) oder Teilen derselben,47 stellen grundsätzlich Maßnahmen gleicher Wirkung wie Einfuhrbeschränkungen dar. Vorbehalten bleibt aber natürlich das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen. Darüber hinaus können auch (sonstige) nicht produktbezogene Regelungen, wie etwa Produktions- und Vermarktungsvorschriften, unter die Dassonville-Formel fallen. Denn auch sie können (negative) Auswirkungen auf das Volumen (bestimmter) eingeführter Produkte entfalten. Deutlich wird damit auch, dass das konsequente und ausschließliche Abstellen auf die Dassonville-Formel für die Feststellung der tatbestandlichen Einschlägigkeit des Art 34 AEUV zur Folge hat bzw hätte, dass der Anwendungsbereich dieser Bestimmung sehr weit ausgedehnt wird bzw würde und kaum eine staatliche Maßnahme nicht erfasst werden kann bzw könnte, entfalten doch zahlreiche Regelungen zumindest mittelbar und potenziell Rückwirkungen auf die Einfuhr von Produkten. Damit könnte eine kaum eingrenzbare Zahl nationaler Vorschriften an den Vorgaben des Unionsrechts, konkret an Art 34 AEUV, gemessen werden. Vor diesem Hintergrund hat die Rspr im Laufe der Zeit verschiedene Ansätze entwickelt, die die tatbestandliche Reichweite des Art 34 AEUV im Vergleich zur DassonvilleFormel eingrenzen. Zu nennen sind zunächst verschiedene Urt des Gerichtshofs, in denen dieser einen hinreichend engen Bezug zum freien Warenverkehr verneinte. So lehnte der EuGH das Vorliegen einer Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung in seiner Entscheidung zum deutschen Nachtbackverbot (Verbot der Auslieferung von Brötchen vor 6 Uhr morgens) mit der Begr ab, hier gehe es um eine nationale Verkaufsregelung, die keinen grenzüberschreitenden Bezug aufweise und deshalb den Handel zwischen den Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigen könne.48 Ebensowenig erachtete der Gerichtshof Art 34 AEUV in Bezug auf das belgische Verbot des Ausschanks von Alkoholika zu Nachtzeiten für einschlägig: Denn die Maßnahme stehe in keinem Zusammenhang mit der Einfuhr von Waren, so dass sie schon nicht geeignet sei, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.49 Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof es mit ähnlicher Begr ablehnte, Sonntagsverkaufsverbote am Maßstab des Art 34 AEUV zu messen.50 Interessant sind diese Urt insb deshalb, weil bei allen fraglichen Maßnahmen letzt-

45 EuGH, Slg 1974, 837, Rn 5 – Dassonville. 46 Ausdrücklich EuGH, Slg 1984, 1299, Rn 20 – Prantl. 47 EuGH, Slg 2005, I-9871 ff – Kommission/Österreich = JK 2006, EGV Art 28/7; Slg 2011, I-13525 ff – Kommission/Österreich. 48 EuGH, Slg 1981, 1993, Rn 10 – Oebel. 49 EuGH, Slg 1982, 1211, Rn 9 – Blesgen. 50 EuGH, Slg 1989, 3851, Rn 14 – Torfaen Borough.

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lich eine mittelbare und potenzielle Beeinträchtigung des Einfuhrvolumens von Produkten kaum zu verneinen war, so dass allein auf der Grundlage der Dassonville-Formel der Tatbestand des Art 34 AEUV hätte bejaht werden müssen. Besonders auffallend ist dies beim belgischen Nachtausschankverbot für Alkoholika: Denn dessen Sinn und Zweck besteht ja gerade darin, nachfrage- und damit auch einfuhrhemmend zu wirken. Ableiten kann man aus dieser „frühen“ – weil vor der Keck-Rspr (Rn 41) angesiedelten – Rspr51 nur, dass gerade bei nicht (offen oder versteckt) diskriminierenden Maßnahmen potenzielle Markteinbußen und damit Auswirkungen auf das Volumen eingeführter Produkte nicht in jedem Fall ausreichen, damit der Tatbestand des Art 34 AEUV eröffnet ist. Allerdings wurde nicht klar, nach welchen Kriterien genau die Tragweite der Dassonville-Formel eingeschränkt werden sollte. Insofern leitete dann das Keck-Urteil aus dem Jahr 199352 eine gewisse auch dogmatische Klarstellung ein. Gegenstand des Urt war das französische Verbot des Verkaufs bestimmter Waren zum Verlustpreis, das nicht am Maßstab des Art 34 AEUV gemessen werden könne. Zur Begr stellte der EuGH darauf ab, dass „bestimmte Verkaufsmodalitäten“ nicht in den Anwendungsbereich des Art 34 AEUV fielen, sofern sie zwei Voraussetzungen erfüllten: Erstens müssten sie für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und zweitens müsse der Absatz inländischer und eingeführter Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich gleich berührt sein.53 Die Keck-Rspr schränkt damit schon den Tatbestand des Art 34 AEUV ein, dies im Gegensatz zu der zeitlich vor ihr entwickelten sog Cassis-de-Dijon-Rspr, die aus dogmatischer Sicht auf der Rechtfertigungsebene anzusiedeln ist (s u Rn 65 ff, 89 ff u → § 7 Rn 71, 84). Jedenfalls dürfte die Keck-Rspr weniger eine „Kehrtwende“ der Rspr, denn eine teleologisch begründete Einschränkung des weiten Tatbestandes des Art 34 AEUV darstellen, so dass die Auslegung dieser Bestimmung als Beschränkungsverbot nicht grds in Frage gestellt wird, sondern dessen Tragweite lediglich eingeschränkt wird. In einem späteren Urt 54 – in dem es um ein mitgliedstaatliches Verbot des „ambulanten“ Verkaufs von Zeitschriftenabonnementen ohne Genehmigung ging – zog der EuGH (letztlich in recht getreuer Anwendung der ursprünglichen Keck-Formel) folgendes „Prüfungsschema“ zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen der Keck-Rspr heran (wobei er deren Einschlägigkeit im Ergebnis bejahte): Erstens sei die Vertriebsbezogenheit der Maßnahme zu prüfen. Zweitens müsse die betr Maßnahme ohne Unterscheidung nach der Herkunft der fraglichen Waren auf alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, anwendbar sein. Drittens schließlich dürfe die betr nationale Regelung den Absatz von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten nicht stärker beeinträchtigen als den von Erzeugnissen aus dem Inland. Eine zu unbedeutende und zufällige Wirkung sei dabei außer Betracht zu lassen, könne dadurch der Handel zwischen den Mitgliedstaaten doch nicht behindert oder gestört werden.

51 Vgl neben den angeführten Fällen noch die weiteren Nachw bei Middeke Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, 1994, S 132 f, unter Berücksichtigung der verschiedenen Ansätze zu ihrer dogmatischen Einordnung; ausf zu der einschlägigen Rspr auch Hammer Handbuch zum freien Warenverkehr, 1998, S 35 ff. 52 EuGH, Slg 1993, I-6097 ff – Keck. 53 EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 16 – Keck. 54 EuGH, Slg 2005, I-4133 ff – Burmanjer = JK 2006, EGV Art 28/6.

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Trotz der mit der Keck-Rspr einhergehenden dogmatischen Klarstellung der Einschränkung der Dassonville-Formel und damit der tatbestandlichen Reichweite des Art 34 AEUV erlaubt die Keck-Formel allein jedoch keine (eindeutige) Antwort auf die Frage nach der tatbestandlichen Einschlägigkeit des Art 34 AEUV in Bezug auf eine Reihe von Maßnahmen. So fragt es sich etwa, wie genau produkt- und vertriebsbezogene Maßnahmen voneinander abzugrenzen sind (etwa bei Verwendungsbeschränkungen oder bei die Verpackung betr Bestimmungen) und unter welchen Voraussetzungen genau eine (potenzielle) diskriminierende Wirkung in Bezug auf eingeführte Produkte anzunehmen ist. Gewisse Anhaltspunkte lassen sich aber – ausgehend von der Keck-Formel – der Folgerechtsprechung entnehmen. So stellen Maßnahmen, die sich in irgendeiner Form auf die Beschaffenheit von Produkten (unter Einschluss ihrer Verpackungen, jedenfalls sofern diese untrennbar mit dem Produkt verbunden sind) selbst beziehen, keine Verkaufsmodalitäten dar, da sie nicht vertriebsbezogen sind. Daher ist das Verbot, die Verpackung eines Schokoladenriegels unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Zusatz „+10 %“ zu kennzeichnen, als Maßnahme gleicher Wirkung anzusehen und am Maßstab des Art 34 AEUV zu prüfen.55 Ebensowenig ist das Verbot, bestimmte Erzeugnisse unter einer gewissen Bezeichnung zu vermarkten, als bestimmte Verkaufsmodalität iSd Keck-Formel anzusehen, so etwa das Verbot, ein kosmetisches Mittel unter dem Namen „Clinique“ zu vermarkten.56 Aufgrund der engen Verbundenheit mit dem zu verkaufenden Produkt ist auch das Verbot, in Zeitschriften oder sonstigen Drucksachen Gewinnspiele anzubieten, als Maßnahme gleicher Wirkung wie Einfuhrbeschränkungen anzusehen.57 Maßnahmen, die die Art und Weise der Vermarktung eines Produkts bestimmen, ohne jedoch mit diesem „verbunden“ zu sein, sind grds vertriebsbezogen. So ist das Gebot, Säuglingsnahrung nur in Apotheken zu verkaufen, als Verkaufsmodalität einzustufen.58 Ähnliches gilt für eine nationale Regelung, wonach der Vertrieb von Tabakwaren zugelassenen Einzelhändlern vorbehalten ist.59 Aber auch die Regelung der Öffnungszeiten von Tankstellen wird vom EuGH als Verkaufsmodalität angesehen.60 Etwas anderes gilt nach der Rechtsprechtung jedoch für eine Regelung, wonach bestimmte Produkte (zB Videokassetten) nur dann im Versandhandel oder an Kiosken angeboten werden dürfen, wenn die Inhalte von der zuständigen Stelle genehmigt und für die entsprechende Altersstufe freigegeben und das Produkt dementsprechend gekennzeichnet ist. Denn hier gehe es nicht um den Verbot des Vertriebs im Versandhandel, sondern um die Pflicht, bestimmte Produkte einem Prüf- und Einstufungsverfahren zu unterziehen.61 Bei den Grenzfällen kommt es nach der Rspr des EuGH iE darauf an, ob eine bestimmte Maßnahme bereits den Marktzugang eines Produkts verhindert oder einschränkt, also maW zur Folge hat, dass das jeweilige Produkt erst gar nicht auf den Markt des betroffenen Mitgliedstaates gelangen kann oder dies behindert wird und daher

55 56 57 58 59 60

EuGH, Slg 1995, I-1923, Rn 12 f – Mars. EuGH, Slg 1994, I-317 ff – Clinique; s a Slg 1996, I-6039 ff – Graffione. EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 12 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. EuGH, Slg 1995, I-1621, Rn 15 – Kommission/Griechenland. EuGH, Slg 1995, I-4663, Rn 35 f – Banchero. EuGH, Slg 1994, I-2199, Rn 13 ff – t’Heukske. S a Slg 1994, I-2355 ff – Punto casa; Slg 1996, I-2975 ff – Smeraro Casa Uno. 61 EuGH, Slg 2008, I-505 ff – Dynamics Medien = JK 2008, EGV Art 28/10.

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eine diesbezügliche Ungleichbehandlung einheimischer und eingeführter Produkte zu bejahen ist.62 Bei vertriebsbezogener Werbung etwa geht es nicht um den Zugang zum Markt, wird dieser doch „schrankenlos“ gewährleistet, sondern um die Art und Weise des Vermarktens des Produkts. So ist denn auch nach der Rspr des EuGH das Verbot der Fernsehwerbung für bestimmte Erzeugnisse grds als Verkaufsmodalität einzuordnen, es sei denn, ein solches Verbot entfaltet stärkere Auswirkungen auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten.63 Allerdings könne ein vollständiges Verbot der Absatzförderung dann in den Anwendungsbereich des Art 34 AEUV fallen, wenn es den Marktteilnehmern die einzig wirksame Form der Absatzförderung nehme, welche den Zugang zum nationalen Markt ermöglicht.64 Weiter gehe es bei einem Erfordernis der vorherigen Einfuhrerlaubnis in Bezug auf bestimmte Produkte jedenfalls um eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung, da dieses den Handel innerhalb der EU behindern und den Marktzugang von Waren erschweren könne.65 Jedenfalls ist der Tatbestand des Art 34 AEUV immer dann eröffnet (auch bei vertriebsbezogenen Regelungen), wenn eine Maßnahme unterschiedliche Wirkungen für einheimische und eingeführte Produkte entfaltet, letztere also offen oder versteckt diskriminiert. Dies sei etwa bei einer Regelung der österreichischen Gewerbeordnung der Fall, wonach nur derjenige Lebensmittel „herumziehend“ feilbieten darf, der in dem betr oder einem angrenzenden Gewerbebezirk eine ortsfeste Niederlassung unterhält, führe diese Regelung doch dazu, dass Anbietern aus dem Ausland damit der Zugang zu diesem Spektrum des österreichischen Marktes verwehrt wäre.66 Ähnlich argumentierte der EuGH in Bezug auf das sehr umfassende schwedische Verbot der Werbung mit Alkohol: Eine solche Regelung führe dazu, dass der Marktzugang für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten stärker behindert werde als für die ohnehin schon besser bekannten einheimischen Produkte.67 Auch das deutsche Verbot des Versandhandels mit Arzneimitteln stellt nach Ansicht des EuGH keine Verkaufsmodalität dar, da es die ausländischen Apotheken (und damit die eingeführten Produkte), die als solche auf dem deutschen Markt nicht tätig sind, stärker betreffe als die inländischen; für erstere sei das Internet als Zugang zum deutschen Markt von ungleich größerer Bedeutung als für letztere.68 Insg besteht damit 62 In diese Richtung etwa EuGH, Slg 1995, I-1621, Rn 11 f – Kommission/Griechenland; Slg 1995, I-1141, Rn 37 – Alpine Investments; ausdrücklich Slg 2001, I-1795, Rn 18 – Gourmet International: Nach den Ausführungen im Urt Keck „fallen nationale Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, nur dann nicht in den Anwendungsbereich des Art 28 EGV, wenn diese nicht geeignet sind, den Marktzugang für Erzeugnisse aus einem anderen Mitgliedstaat zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tun“. 63 EuGH, Slg 1995, I-179, Rn 20 ff – Leclerc; Slg 1997, I-3843, Rn 39 f – de Agostini. 64 EuGH, Slg 1997, I-3843 ff – de Agostini; Slg 2004, I-3025 ff – Karner. 65 EuGH, Slg 2006, I-9171 ff – Ahokainen u Leppik. 66 EuGH, Slg 2000, I-151, Rn 9 – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 2000, EGV Art 28/1. Sehr krit zu diesem Urt vor dem Hintergrund der seiner Ans nach zu weiten Auslegung des Begriffs der versteckten Diskriminierung Gundel EuZW 2000, 311 f. 67 EuGH, Slg 2001, I-1795, Rn 20 f – Gourmet International; s a noch sogleich die Lösung zu Fall 2. 68 EuGH, Slg 2003, I-14887 ff – DocMorris = JK 2004, EGV Art 28/4. S a Slg 2008, I-6935 ff – Kommission/Deutschland in Bezug auf die Anforderungen an Apotheken, die für die Direktbelieferung von Krankenhäusern mit Arzneimitteln zugelassen wurden. S sodann EuGH, Slg 2010, I-12213 ff, – Ker-Optika.

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eine Tendenz in der Rspr, all solche Vermarktungs- und Werberegelungen mit spürbaren Auswirkungen auf den Umsatz der betr Produkte, die unmittelbar oder mittelbar den Bekanntheitsgrad von Produkten beeinflussen, nicht als Verkaufsmodalitäten anzusehen, da sie aufgrund der prinzipiell besseren Markteinführung nationaler Produkte die eingeführten Produkte stärker „belasten“. Alle Abgrenzungsprobleme sind auch mit diesen Anhaltspunkten nicht gelöst, wie etwa das Bsp eines generellen Werbeverbots für ein bestimmtes Produkt (zB Alkohol oder Tabak) zeigt: Die einschlägigen Urt des EuGH betonen, wie erwähnt, einerseits, es gehe etwa bei Fernsehwerbung um eine Verkaufsmodalität,69 weil offenbar der Zugang zum Markt selbst ja nicht eingeschränkt werde und die Möglichkeit des Verkaufs des entspr Produkts unbeschränkt möglich bleibe; im Übrigen wird eine materielle Diskriminierung zwischen eingeführten und einheimischen Produkten offenbar abgelehnt. Andererseits aber weist der EuGH darauf hin, eine Maßnahme gleicher Wirkung liege immer dann vor, wenn das (vollständige) Verbot einer Form der Absatzförderung eines Erzeugnisses in einem Mitgliedstaat nachteilige Auswirkungen auf Erzeugnisse anderer Mitgliedstaaten entfalte.70 Dies erscheint auch insofern einsichtig, als jedenfalls ein quasi generelles Werbeverbot dazu führen dürfte, dass insb neu eingeführte Produkte fast nicht lanciert werden können. Allerdings fragt es sich, ob die gewählten Vergleichsgruppen zutr gewählt wurden: Denn ein Werbeverbot wirkt sich an sich nicht für einheimische und eingeführte Produkte, sondern für schon etablierte und (noch) nicht etablierte Produkte unterschiedlich aus. Dann aber stellt sich die Frage, ob für die Feststellung einer diskriminierenden Wirkung nicht (auch) danach gefragt werden sollte, ob die Maßnahme die Neueinführung einheimischer Produkte weniger stark betrifft. Jedenfalls nähert sich ein vollständiges Werbverbot in Bezug auf seine Wirkungen einer Marktzugangsbeschränkung an, da auch neue inländische Produkte wohl nur sehr schwer in den Markt eingeführt werden können. Wo nun genau die Grenze zwischen beiden Fallgestaltungen – reine Verkaufsmodalität ohne diskriminierende Wirkung einerseits und (materiell diskriminierendes) vollständiges Verbot der Absatzförderung eines Produkts andererseits – zu ziehen ist, bleibt nach wie vor offen. Insofern hätten die Urt des EuGH in Bezug auf die nicht produktbezogene Werbung durchaus auch anders ausfallen können. Weiter fragt es sich, wie andere nicht unmittelbar mit der Verpackung verbundene Werbemaßnahmen (wie zB die vergleichende Preiswerbung (→ aA § 7 Rn 96 ff)71 oder das sog. „Euromarketing“) zu beurteilen sind. Weiter und an diese Erwägungen anschließend erscheint die Rspr manchmal auch nicht in sich schlüssig zu sein: So bejahte der EuGH in Bezug auf die griechische Regelung, die Zulässigkeit von Verkaufsstellen für „Bake-off“-Erzeugnisse72 von denselben Voraussetzungen abhängig zu machen, wie sie für Verkaufsstellen herkömmlicher Back-

69 EuGH, Slg 1995, I-179, Rn 20 ff – Leclerc; s a Slg 1993, I-6787, Rn 19 ff – Hünermund. 70 EuGH, Slg 1997, I-3843, Rn 40 – de Agostini; ebenso Slg 2001, I-1795, Rn 20 f – Gourmet International. 71 Die Rspr bejahte hier vor der Keck-Rspr die tatbestandliche Einschlägigkeit des Art 34 AEUV, vgl EuGH, Slg 1990, I-667 ff – GB-INNO; Slg 1993, I-2361 ff – Yves Rocher = JK 94, EWGV Art 30/4. 72 Dies sind Backwaren, die vollständig oder teilweise vorgebacken, anschließend tiefgefroren und nach schnellem Auftauen oder Aufwärmen konsumiert werden.

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waren gelten73 (was zur Stilllegung der Verkaufsstellen dieser Erzeugnisse in Supermärkten führte), die tatbestandliche Einschlägigkeit des Art 34 AEUV: Die Voraussetzungen der Dassonville-Formel seien erfüllt, und eine Anwendung der Keck-Rechtsprechung komme schon deshalb nicht in Betracht, weil die fraglichen nationalen Bestimmungen die Herstellungsbedingungen für Backwaren regelten, die Einfuhrhindernisse implizierten, gehe es doch um zusätzliche, das Inverkehrbringen der Backwaren erschwerende Erfordernisse. Eine Rechtfertigung aus Gründen des Verbraucher- und/oder Gesundheitsschutzes scheide mangels Erforderlichkeit der Maßnahme aus.74 Es fällt schwer, hier den Unterschied zu dem griechischen Gebot, Säuglingsmilch ausschließlich in Apotheken zu verkaufen (Rn 45) zu sehen, dürfte doch auch die Beschränkung der Verkaufsstellen für Babynahrung zu einer Erschwerung des Marktzugangs führen. Denn eine Beschränkung von Verkaufsstellen für bestimmte Produkte zieht regelmäßig (auch) Einfuhrhindernisse nach sich. Weiter zeigt ein Vergleich dieser beiden Urt bzw beider Ausgangsfallgestaltungen, dass die Abgrenzung zwischen produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen ggf recht schwierig sein kann: Denn der EuGH geht offenbar in Bezug auf die Zulässigkeit von Verkaufsstellen für „Bake-off“-Erzeugnisse von produktbezogenen Maßnahmen aus, obwohl an sich keine Anforderungen an die Produkte, sondern an die Verkaufsstellen definiert werden, so dass gute Gründe hier – wie bei sonstigen Einschränkungen für Verkaufsstellen bestimmter Produkte – dafür sprechen, von der Vertriebsbezogenheit der Maßnahme auszugehen. Hinzu kommt, dass der Gerichtshof in seiner neueren Rechtsprechung auch bei nicht produktbezogenen Maßnahmen mitunter auf eine eigentliche Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen der Keck-Rspr verzichtet, sondern die Prüfung der Dassonville-Fomel neben die Verpflichtung stellt, die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der gegenseitigen Anerkennung von in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellten und in den Verkehr gebrachten Erzeugnissen zu beachten sowie den Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten den freien Marktugang zu gewährleisten.75 Nicht ganz klar wird aus diesen Formulierungen, in welchem Verhältnis die Dassonville-Formel bzw deren Prüfung zu dieser dreigliedrigen Prüfungsreihenfolge steht. Vieles dürfte hier dafür sprechen, dass es sich nicht nur um eine Präzisierung, sondern um eine Weiterentwicklung der Voraussetzungen für die tatbestandliche Einschlägigkeit des Art 34 AEUV handelt, soll doch offenbar die Keck-Rspr grundsätzlich bei Maßnahmen, die den Marktzugang (oder eine der beiden anderen Konstellationen) betreffen, nicht zum Zuge kommen können. Daraus wird man folgern können, dass in all denjenigen Fällen, in denen bereits der Marktzugang als solcher beschränkt wird, Art 34 AEUV jedenfalls einschlägig ist und sich letztlich ein Prüfung der Keck-Kriterien erübrigt. In Bezug auf Verwendungsbeschränkungen hielt der

73 Dabei ging es insb um das Genehmigungserfordernis für den Betrieb von Bäckereien sowie die erforderlichen städtebaulichen und baurechtlichen Anforderungen für ihre Erteilung, etwa in Bezug auf Mindestgröße, Belüftungs- und Beleuchtungsbedingungen sowie die vorgeschriebenen Geräte. 74 EuGH, Slg 2006, I-8135 ff – Alfa Vita Vassilpoulos. 75 Vgl zB EuGH, EuZW 2013, 21 – Elenca (in Bezug auf ein Verbot der Vermarktung von aus einem anderen Mitgliedstaat stammenden Bauprodukten, die nicht mit dem CE-Zeichen versehen sind) = JK 2013, AEUV Art 34/4; EuZW 2012, 508 – ANETT (in Bezug auf die Pflicht, Tabakerzeugnisse durch Tabakeinzelhändler nur über gewisse zugelassene Großhändler zu beziehen, so dass die direkte Einfuhr aus anderen Mitgliedstaaten verboten war) = JK 2013, AEUV Art 34/3.

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Gerichtshof denn auch fest, nationale Maßnahmen, die den Zugang eines Produkts zum Markt eines Mitgliedstaats behindern, seien unabhängig von der Frage, ob und inwieweit die Voraussetzungen der Keck-Rspr zu bejahen sind, als Maßnahmen gleicher Wirkung anzusehen. Er unterschied sodann zwischen solchen Verwendungsbeschränkungen, die keine wirkliche Behinderung des Marktzugangs implizieren, da sie die Verwendung des betreffenden Produkts in dem jeweiligen Mitgliedstaat nur teilweise oder gar marginal beschränken, und denjenigen, die dazu führen, dass die tatsächlichen Möglichkeiten, das betreffende Produkt zu verwenden, unbedeutend sind. Im zuletzt genannten Fall könnten nämlich die Verwendungsbeschränkungen einen erheblichen Einfluss auf das Verhalten der Verbraucher entfalten, das sich wiederum auf den Zugang des Erzeugnisses zum Markt des Mitgliedstaats auswirken könne.76 Die Formulierungen des Gerichtshofs lassen damit erkennen, dass Art 34 AEUV bei Verwendungsbeschränkungen offenbar nur in denjenigen Fallgestaltungen einschlägig sein soll, bei denen die Verwendung des betreffenden Produkts verhindert oder stark behindert wird. Auch die Heranziehung des Kriteriums des Marktzugangs bleibt aber beachtlichen Unsicherheiten unterworfen: So bleibt in Bezug auf die Rechtsprechung zu den Verwendungsbeschränkungen unklar, ab wann nun die Verwendung wirklich stark behindert ist. Zudem erachtet der Gerichtshof in anderen Konstellationen – so wenn er annimmt, eine nationale Regelung, wonach Tabakerzeugnisse durch Tabakeinzelhändler nur über gewisse zugelassene Großhändler bezogen und somit nicht direkt aus anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden dürfen, stelle eine Marktzugangsbeschränkung dar77 – eine (offenbar „normale“) Behinderung des Marktzugangs für ausreichend, ein Ansatz, der auch in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem Urteil steht, in dem der Gerichtshof das Gebot, Säuglingsnahrung nur in Apotheken zu verkaufen, als Verkaufsmodalität iSd Keck-Rspr ansieht (Rn 45), dies obwohl hierdurch auch der Marktzugang behindert sein dürfte. Vor diesem Hintergrund könnte der Ansatz des EuGH (teilweise) hinterfragt werden: Geht man nämlich davon aus, dass der Sinn und Zweck des Art 34 AEUV in erster Linie darin zu sehen ist, dass die in den verschiedenen Mitgliedstaaten produzierten Waren unabhängig von ihrer Herkunft bzw ihrem Ursprung im Unionsgebiet frei zirkulieren können, liegt es nahe, darauf abzustellen, ob ganz allgem die Rahmenbedingungen für die Vermarktung oder den Vertrieb von Produkten geregelt werden oder ob es darum geht, bestimmte Produkte in irgendeiner Weise einer besonderen Regelung zu unterwerfen. Letzteres ist aber immer dann der Fall, wenn eine nationale Vorschrift nicht alle Produkte, sondern eine eingrenzbare Produktgruppe – wie zB Säuglingsnahrung, Tabak, Alkoholika usw – betrifft. Denn jede bestimmte Produkte betr Maßnahme führt idR zumindest potentiell zu Behinderungen des Marktzugangs, den Art 34 AEUV gerade garantieren will. Dieser Ansatz drängt sich auch vor dem Hintergrund auf, dass – wie das Beispiel der Beschränkung des Verkaufs bestimmter Produkte auf bestimmte spezialisierte Stellen zeigt – zahlreiche an sich den Marktzugang nicht berührende und auch nicht diskriminierende Regelungen für die Wirtschaftsteilnehmer ggf recht weitgehende Markteinbußen zur Folge haben können und insofern in ihren Auswirkungen mit unmittelbar produktbezogenen Regelungen durchaus vergleichbar sind. Im Übrigen ließen sich mit dem hier

76 Vgl EuGH, Slg 2008, I-4273 ff – Mickelsson u Roos; Slg 2009, I-519 ff – Kommission/Italien = JK 2010, EGV Art 28/12; Slg 2010, I-2885 ff – Sandström. 77 EuGH, EuZW 2012, 508 – ANETT = JK 2013, AEUV Art 34/3.

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vertretenen Ansatz auch problemlos die Grenzfälle lösen: So geht es bei dem erwähnten generellen Werbeverbot eben um die Reglementierung eines bestimmten abgrenzbaren Produkts oder einer Produktgruppe, so dass eine Maßnahme gleicher Wirkung zu bejahen ist. Geht es hingegen um Maßnahmen, die sich auf nicht eingrenzbare Produkte beziehen (wie zB eine Reihe allgem Regulierungen der Werbung, etwa das Verbot vergleichender Werbung), ist die Einschlägigkeit des Tatbestandes des Art 34 AEUV zu verneinen, es sei denn, die Maßnahme wirke diskriminierend. MaW geht der hier vertretene Vorschlag dahin, das vom EuGH verwandte Kriterium der Produkt- oder Vertriebsbezogenheit durch die Frage nach dem Bezug der Regelung auf eine abgrenzbare Produktgruppe zu ersetzen. Damit würde auch die Notwendigkeit entfallen, auf die Behinderung des Marktzugangs abzustellen, da im Falle der Regelung einer abgrenzbaren Produktgruppe grundsätzlich von einer Marktzugangsbeschränkung auszugehen ist. Jedenfalls kommt es nach der hier vertretenen Ansicht (aA → § 7 Rn 105)78 (darüber hinaus) nicht auf eine irgendwie geartete „Spürbarkeit“ der Maßnahme oder eine „Nähebeziehung“ zwischen der Maßnahme und der beeinträchtigenden Wirkung an: Denn letztlich geht es hier um eine Art Abschwächung des Kriteriums der Geeignetheit einer Maßnahme, handelsbeschränkende Wirkungen entfalten zu können, deren Konturen aber denkbar unklar und kaum einer voraussehbaren Konkretisierung zugänglich sind. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die „geringe Intensität“ einer Maßnahme jedenfalls auf der Rechtfertigungsebene im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist. Allerdings ist die Rspr des EuGH hier nicht immer klar: Während der EuGH teilweise eine Art Spürbarkeit oder eine Nähebeziehung von Maßnahme und beschränkender Wirkung als notwendig anzusehen scheint,79 deuten andere (insbesondere auch neuere) Urt darauf hin, dass dies gerade nicht der Fall ist, so wenn bei der Frage des Vorliegens einer beschränkenden Wirkung einer Regelung – die zweifelhaft war – ausschließlich auf ihren rechtlichen Gehalt, nicht hingegen auf das Erfordernis einer irgendwie gearteten Spürbarkeit abgestellt wird.80

78 Wie hier etwa Füller Grundlagen und inhaltliche Reichweite der Warenverkehrsfreiheiten nach dem EG-Vertrag, 2000, S 111 ff; s unter Bezugnahme auf die Rspr auch schon Epiney NVwZ 1999, 1076, 1077; ausf zum Problemkreis auch Kessler Das System der Warenverkehrsfreiheit im Gemeinschaftsrecht, 1997, S 21 ff. 79 Vgl etwa EuGH, Slg 1996, I-2975, Rn 32 f – Semeraro; Slg 1993, I-5009, Rn 8 ff – CMC Motorradcenter; Slg 1994, I-3453, Rn 24 – Peralta; Slg 1999, I-6269, Rn 16 – BASF. 80 EuGH, Slg 2000, I-151, Rn 25 ff – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 2000, EGV Art 28/1; s a Slg 1998, I-6197, Rn 16 ff – Kommission/Frankreich; gegen einen „Spürbarkeitstest“ wohl auch Slg 1984, 1299, Rn 20 – Prantl; Slg 1993, I-2361, Rn 17 ff – Yves Rocher = JK 94, EWGV Art 30/4; Slg 1998, I-8033, Rn 22 – Bluhme; Slg 1999, I-3845 ff – EDSrl; das Spürbarkeitserfordernis ablehnend (sei doch allein die Eignung der Auswirkungen der streitigen Maßnahme auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten entscheidend) auch Slg 2008, I-6935 ff – Kommission/Deutschland = JK 2009, EGV Art 28/11. S im Zusammenhang mit den Personenfreizügigkeitsrechten auch Slg 2008, I-1683 ff – Gouvernement de la Communauté française, wo der Gerichtshof betont, der Umstand, dass die zur Debatte stehende Regelung nur marginale Auswirkungen auf die Freizügigkeit entfalten könne, sei irrelevant, da die Grundfreiheiten grundlegende Bestimmungen für die Union darstellten und jede Beeinträchtigung dieser Freiheiten, sei sie noch so unbedeutend, verboten sei.

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Hiervon zu unterscheiden ist jedoch das auch in der Rspr81 zugrunde gelegte Erfordernis, dass die Geeignetheit einer Maßnahme, handelsbeschränkende Wirkung zu entfalten, hinreichend dargelegt werden muss, so dass rein hypothetische Kausalverläufe, bei denen eine solche Beeinträchtigung des Handels zu ungewiss und zu indirekt ist, nicht von Art 34 AEUV erfasst werden,82 wobei hier letztlich schon die Einschlägigkeit der Dassonville-Formel zu verneinen ist, da die potenziellen und indirekten Auswirkungen auf das Handelsvolumen nicht hinreichend dargelegt sind. MaW geht es hier um die Anforderungen an den Nachweis des Vorliegens einer handelsbeschränkenden Wirkung, die aber ihrerseits keine besondere Intensität oder eben „Spürbarkeit“ aufweisen muss. Lösung Fall 2: Ein Werbeverbot wie das zur Debatte stehende betrifft allgem Alkohol, also auch eingeführten Alkohol, so dass insofern der Anwendungsbereich der Art 34 ff AEUV eröffnet ist (vgl auch Art 28 II AEUV). Das ins Auge gefasste Gerichtsurt stellt eine staatliche Maßnahme dar. Weiterhin handelt es sich um eine Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne der Dassonville-Formel, da ein Werbeverbot dazu führen kann und sogar soll, dass der Absatz (auch) eingeführter Alkoholika zurückgeht, so dass der Handel innerhalb der Union behindert wird. Fraglich könnte aber sein, ob eine Verkaufsmodalität im Sinne der Keck-Formel vorliegt. Grds geht es bei dem zur Debatte stehenden Verbot nicht um eine produktbezogene, sondern um eine verkaufsbezogene Maßnahme, da die Art und Weise der Vermarktung geregelt wird und die Werbung auch nicht untrennbar mit dem Produkt verbunden wird. Zudem wird der Marktzugang von Alkoholika als solcher nicht berührt; die Vermarktung bleibt nach wie vor ohne Weiteres möglich. Insofern könnte die Annahme naheliegen, es handele sich um eine Verkaufsmodalität. In Anbetracht des Umstandes aber, dass das schwedische Verbot nicht nur eine Form der Förderung des Absatzes eines Erzeugnisses untersagt, sondern die Hersteller und Importeure an nahezu jeder Verbreitung von an die Verbraucher gerichteter Werbung hindert und dass gerade bei Genussmitteln wie dem Alkohol herkömmlichen gesellschaftlichen Gebräuchen bei der Auswahl der Getränke eine wichtige Rolle zukommt, entfaltet das in Frage stehende umfassende Werbeverbot stärkere Auswirkungen auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten als auf einheimische Erzeugnisse, so dass ein Hemmnis für den Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten vorliegt und der Anwendungsbereich des Art 34 AEUV eröffnet ist. Das Verbot könnte jedoch aus Gründen des Gesundheitsschutzes (Art 36 AEUV) gerechtfertigt sein, da es zum Kampf gegen den Alkoholismus beitragen soll. Aus dem Sachverhalt sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass das Verbot nicht den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen würde; hierfür bedarf es im Übrigen der Untersuchung der rechtlichen und tatsächlichen Umstände, die das vorlegende Gericht durchzuführen hat. Lösung Fall 3: Das italienische Verbot betrifft Waren iSd Art 28 II AEUV, können die Anhänger doch Gegenstand von Handelsgeschäften sein. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt liegt vor, und es geht auch um eine staatliche Maßnahme (ein Gesetz). Weiter handelt es sich um eine 81 S etwa EuGH, Slg 1998, I-3949 ff – Corsica Ferries France; Slg 1999, I-6286 ff – BASF; in Bezug auf Art 45 AEUV Slg 2000, I-493 ff – Graf. 82 Die Maßnahme darf also – wie der EuGH in einem neueren Urteil festhält – im Hinblick auf ihre Eignung, den Handel innerhalb der Union zu behindern, nicht zu „ungewiss“ und „mittelbar“ sein, vgl EuGH, Slg 2011, I-2685 ff – Guarnieri, in Bezug auf eine Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit.

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Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne der Dassonville-Formel, da das in Frage stehende Verbot dazu führen kann, dass sich ihr Absatz verringert, so dass der Handel innerhalb der EU behindert ist. Fraglich könnte aber sein, ob eine Verkaufsmodalität im Sinne der KeckFormel vorliegt. Grds geht es bei dem zur Debatte stehenden Verbot nicht um Anforderungen an das Produkt selbst, sondern um eine Beschränkung seiner Verwendung. Solche Verwendungsbeschränkungen stellen aber dann eine Maßnahme gleicher Wirkung dar, wenn sie den Marktzugang der betroffenen Produkte behindern. Soweit es um Anhänger geht, die nicht eigens zum Anhängen an die betroffenen Fahrzeuge konzipiert waren, ist eine solche Behinderung schon des Marktzugangs selbst nicht zu erkennen, so dass Art 34 AEUV nicht greift. Hingegen ist die Einschlägigkeit des Art 34 AEUV in Bezug auf solche Anhänger zu bejahen, die speziell für die betroffenen Kleinkrafträder produziert wurden und letztlich nur von ihnen gezogen werden können. Denn ein solches Verbot entfaltet erheblichen Einfluss auf das Verhalten der Verbraucher, das sich wiederum auf den Zugang des Erzeugnisses zum Markt auswirkt; die Verbraucher haben nämlich kein Interesse daran, einen solchen Anhänger zu kaufen, könnten sie ihn doch keinesfalls (da er nur für die erwähnten Fahrzeuge konzipiert ist) nutzen. Allerdings kann die Maßnahme durch Erwägungen der Sicherheit des Straßenverkehrs gerechtfertigt werden.

2. Mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung 56

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Gemäß Art 35 AEUV sind mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung verboten. Der Verbotszweck des Art 35 AEUV stimmt insofern mit demjenigen des Art 34 AEUV überein, als verhindert werden soll, dass der freie Warenverkehr dadurch behindert wird, dass die Mitgliedstaaten über eine Beschränkung der Ausfuhr die Nachfrage auf dem innerstaatlichen Markt sättigen.83 Insofern kann bei der Auslegung des Art 35 AEUV durchaus an die im Rahmen des Art 35 AEUV entwickelten Grundsätze angeknüpft werden.84 Allerdings ist die Dassonville-Formel vor dem Hintergrund über die im Rahmen des Art 34 AEUV entwickelten Ansätze einzuschränken, als ihre „vollumfängliche“ Heranziehung letztlich dazu führte, dass nahezu jede Produktions- oder Vertriebsregelung gegen Art 35 AEUV verstieße, wird doch hierdurch der Handel innerhalb der EU regelmäßig zumindest mittelbar und potenziell betroffen, da derartige Regelungen die Herstellungskosten negativ beeinflussen. So geht denn auch der EuGH davon aus, dass Art 35 AEUV nur auf solche Maßnahmen Anwendung finden könne, die „spezifische Beschränkungen der Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und damit unterschiedliche Bedingungen für den Binnenhandel innerhalb eines Mitgliedstaates und seinen Außenhandel schaffen, so dass die nationale Produktion oder der Binnenmarkt des betroffenen Staates zum Nachteil der Produktion oder des Handels anderer Mitgliedstaaten einen besonderen Vorteil erlangt“85. In der Folgerspr wurde dieser Ansatz bestätigt, wobei allerdings nicht mehr

83 Vgl zum Normzweck des Art 35 AEUV Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 29 EGV Rn 1. 84 Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 29 Rn 1 ff; ähnlich auch Leible/T. Streinz in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 35 AEUV Rn 1 ff. 85 EuGH, Slg 1979, 3409, Rn 7 – Groenveld; aus der Rspr Slg 1999, I-3845, Rn 10 – EDSrl; Slg 2000, I-3123, Rn 36 ff – Belgien/Spanien in Bezug auf das Erfordernis, in einer Region hergestellten Wein auch dort abzufüllen, wenn die entspr Ursprungsbezeichnung verwendet werden soll.

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verlangt wurde, dass der Vorteil für den Absatz auf dem Binnenmarkt des jeweiligen Staates mit einem Nachteil der ausländischen Produktion einhergeht.86 Zu überzeugen vermag dieser Ansatz schon deshalb, weil nur im Falle besonderer Vorschriften für den Export bzw – in der Sprache des EuGH – bei „spezifischen Beschränkungen der Ausfuhrströme“ der Absatz auf dem Binnenmarkt bevorzugt wird und damit nur unter dieser Voraussetzung der Handel zwischen den Mitgliedstaaten tatsächlich in Mitleidenschaft gezogen wird.87 Letztlich führt diese einschränkende Auslegung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung im Rahmen des Art 35 AEUV damit dazu, dass dieser Bestimmung lediglich ein Verbot solcher Maßnahmen zu entnehmen ist, die zwischen den für den inländischen Markt bestimmten Produkten und denjenigen Waren, die ausgeführt werden sollen, unterscheiden. Von vornherein ausgeschlossen vom Anwendungsbereich des Art 35 AEUV sind damit allgem, auf alle Produkte anwendbare Maßnahmen. In diesem Sinn werden also nur diskriminierende Maßnahmen erfasst, wobei die Differenzierung allerdings an die Bestimmung der Waren anknüpfen muss.

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III. Rechtfertigung Ist das Vorliegen einer mengenmäßigen Ein- oder Ausfuhrbeschränkung oder einer Maßnahme gleicher Wirkung zu bejahen und damit der Tatbestand des Art 34 der des Art 35 AEUV eröffnet, ist die entspr Maßnahme grds verboten. Allerdings sieht das Unionsrecht Rechtfertigungsmöglichkeiten vor, wobei zwischen ausdrücklich im Vertrag geregelten Rechtfertigungsgründen (2.) und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen (sog „zwingenden Erfordernissen“) (3.) unterschieden werden kann. Gemeinsam ist beiden Kategorien, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist (4.). Im Übrigen stellen sich bei allen Rechtfertigungsgründen eine Reihe gemeinsamer Fragen, die daher bereichsübergreifend erörtert werden sollen (1.). Der Sinn und Zweck dieser Möglichkeit des Abweichens vom grds Verbot der Art 34, 35 AEUV ist darin zu sehen, dass gewährleistet werden soll, dass die Anwendung dieser Bestimmungen nicht dazu führen soll, dass bestimmten Schutzanliegen nicht mehr Rechnung getragen werden kann. Insofern geht es also nicht um eine allgemeine Schutzklausel (zugunsten der Mitgliedstaaten) oder um ein „Herausschälen“ bestimmter gegenständlich definierter Bereiche aus dem Anwendungsbereich der Regelungen über den freien Warenverkehr, sondern ermöglicht wird nur die Verfolgung bestimmter Schutzziele und damit der Schutz bestimmter Rechtsgüter88 unter Beachtung der unionsrechtlich determinierten Anforderungen. Aus diesen Grundsätzen folgt dann auch, dass die Schutzgüter – seien sie nun ausdrücklich im Vertrag geregelt oder aber ungeschriebener Natur – als unionsrechtliche Begriffe nach unionsrechtlichen Grundsätzen auszulegen sind. Allerdings verweisen die verwandten Begriffe teilweise wiederum auf mitgliedstaatliche Konzepte, so insb die Konzepte der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sittlichkeit. Aber auch hier setzt

86 S aus jüngerer Zeit zB EuGH, Slg 2008, I-9947 ff – Gysbrechts; Slg 2011, I-915 ff – KakavetsosFragkopoulos. 87 Ausf Epiney in: Bieber/Epiney/Haag, EU, § 11 Rn 67 ff; aA etwa Füller (Fn 78) S 244 ff. 88 Ausdrücklich etwa EuGH, Slg 1979, 2555, Rn 5 – Kommission/Deutschland.

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das Unionsrecht insofern Grenzen, als sich die Ausfüllung des Bedeutungsgehalts dieser Begriffe durch die Mitgliedstaaten in einer gewissen Bandbreite bewegen muss.89

1. Bereichsübergreifende Aspekte a) Keine sekundärrechtlichen Regelungen 62

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Eine Rechtfertigung kommt von vornherein nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass der entspr Bereich nicht durch das Sekundärrecht geregelt ist (→ § 7 Rn 124).90 Diese nur für mitgliedstaatliche Regelungen einschlägige Einschränkung ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der den Mitgliedstaaten eröffneten Möglichkeit des Rückgriffs auf die Rechtfertigungsgründe des Art 36 AEUV sowie die zwingenden Erfordernisse: Denn wenn das entspr Rechtsgut (schon) durch EU-Regelungen geschützt wird, fehlt das Bedürfnis nach einem autonomen mitgliedstaatlichen Schutz, würde doch ansonsten die bestehende Harmonisierung auf EU-Ebene bzw deren Zielsetzung unterlaufen werden. Das Unionsrecht geht also in diesen Fällen maW davon aus, dass dem Schutz des betr Rechtsguts durch die sekundärrechtliche Regelung Rechnung getragen werden soll. Bestätigt wird diese Sicht durch die Regelungen der Art 114 IV ff AEUV, die eben gerade (ausnahmsweise) auch im Rahmen des Anwendungsbereichs von EU-Sekundärrecht den Mitgliedstaaten unter bestimmten (engen) Voraussetzungen das Anlegen eines höheren Schutzstandards erlauben. Allerdings greift diese Einschränkung der Möglichkeit der Berufung auf Art 36 AEUV sowie die zwingenden Erfordernisse (selbstverständlich) nur insoweit, als tatsächlich eine abschließende Harmonisierung vorliegt,91 wobei der abschließende Charakter92 einer EURegelung immer dann zu verneinen ist, wenn der Schutz des entspr Rechtsguts nicht umfassend geregelt ist.93 Nach der Rspr des EuGH94 ist das Verbot der Heranziehung der allgem primärrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Falle einer abschließenden sekundärrechtlichen Regelung insofern „absolut“ zu verstehen, als es auch dann eingreift, wenn die Erreichung des sekundärrechtlich angestrebten Schutzniveaus deshalb nicht möglich ist, weil andere Mitgliedstaaten die unionsrechtlichen Anforderungen nicht einhalten, und dies auch in den Fällen, in denen der einschlägige EU-Rechtsakt kein Kontroll- oder Sanktionsverfahren

89 Immerhin impliziert dieses „Bandbreitenkonzept“, dass die Inhalte etwa der öffentlichen Ordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten variieren (können), wie das Bsp der Lotterien zeigt, die in einigen Mitgliedstaaten (teilweise) verboten sind, in anderen aber nicht; vgl den Sachverhalt in EuGH, Slg 1994, I-1039 ff – Schindler; Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. 90 EuGH, Slg 1996, I-253, Rn 18 – Hedley Lomas; Slg 1995, I-1831, Rn 42 f – Decker. 91 Vgl EuGH, Slg 1998, I-6871, Rn 26 ff – Kommission/Deutschland; Slg 1994, I-5243, Rn 14 – Ortscheit. 92 Die Frage des abschließenden Charakters einer Regelung kann allerdings ggf schwierig zu beantworten sein; vgl hierzu Slot ELR 1996, 378 ff; umfassend Furrer Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen, 1994; Schlösser Die Sperrwirkung sekundären Gemeinschaftsrechts, 2002. 93 Vgl die Beispiele aus der Rspr in EuGH, Slg 1991, I-3069, Rn 16 ff – Denkavit; Slg 1998, I-1251, Rn 26 ff – Compassion in World Farming; Slg 1994, I-5243, Rn 13 ff – Ortscheit. 94 EuGH, Slg 1996, I-2553, Rn 19 – Hedley Lomas.

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vorsieht.95 Dieser Ansatz entspricht dem auch sonst vom EuGH angewandten Grundsatz, dass die Nichtbeachtung des Unionsrechts durch einen anderen Mitgliedstaat nichts an der eigenen Pflicht zur Beachtung des Unionsrechts ändert. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Heranziehung dieser grds zwingenden Sicht auch bei der hier diskutierten Konstellation zwingend und sachgerecht ist: Sinn und Zweck der Rechtfertigungsmöglichkeiten nach Art 36 AEUV und durch die zwingenden Erfordernisse ist ja darin zu sehen, dass die entspr Rechtsgüter geschützt werden. Dieses Anliegen kann zwar dann nicht mehr greifen, wenn der Unionsgesetzgeber selbst das Schutzniveau festlegt; allerdings lebt es doch immer dann wieder auf, wenn das darin zugrunde gelegte Schutzniveau nicht erreicht wird bzw werden kann. Insofern geht es dann nicht mehr um die „typische“ Konstellation, dass ein Mitgliedstaat seine Konzeption oder sein Schutzniveau an die Stelle der EU-Regelungen stellen möchte oder dass ein Mitgliedstaat unter Berufung auf die Nichteinhaltung der vertraglichen Verpflichtungen durch einen anderen Mitgliedstaat seinen unionsrechtlichen Pflichten ebenfalls nicht nachkommen möchte, so dass man jedenfalls bei gravierenden und eindeutigen Verletzungen der sekundärrechtlichen Normen durch andere Mitgliedstaaten das Recht auf einen Rückgriff auf Art 36 AEUV oder die zwingenden Erfordernisse hätte zulassen können.96 b) Verhältnis des Art 36 AEUV zu den „zwingenden Erfordernissen“, Anwendungsbereich der Rechtfertigungsgründe und dogmatische Einordnung Wie bereits eingangs erwähnt, sind dem Unionsrecht sowohl ausdrückliche, im Vertrag geregelte Rechtfertigungsgründe, die in Art 36 AEUV enthalten sind, als auch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe zu entnehmen. Letztere wurden durch den EuGH in seiner Cassis de Dijon-Rspr97 begründet und in der Folgerspr weiterentwickelt. Damit wird die Frage nach dem Verhältnis der beiden Kategorien von Rechtfertigungsgründen, ihrem jeweiligen Anwendungsbereich sowie der dogmatischen Einordnung der zwingenden Erfordernisse als tatbestandsausschließende Gründe oder Rechtfertigungsgründe aufgeworfen. Die Rspr des EuGH zu diesen Fragen lässt sich durch folgende Punkte zusammenfassen: Art 36 AEUV sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen, und der Aufzählung der dort genannten Rechtfertigungsgründe komme ein abschließender Charakter zu.98 Dieser Ansatz schließt es (auf den ersten Blick) aus, sozusagen analog zu Art 36 AEUV, weitere Rechtfertigungsgründe zu entwickeln. Gleichwohl wurde relativ bald deutlich, dass die in Art 36 AEUV aufgeführten Rechtfertigungsgründe nicht ausreichend sind, um dem Anliegen eines effektiven Schutzes wichtiger Rechtsgüter Rechnung zu tragen, stammt die in Art 36 AEUV enthaltene Liste doch aus dem Jahr 1957, und im Laufe der Zeit zeigte sich die Notwendigkeit, auch andere Schutzziele zu verfolgen, wie etwa solche des Verbraucher- oder Umweltschutzes. Vor diesem Hintergrund betonte der EuGH in dem diesbezüglich grundlegenden Cassis

95 Diese Problematik stellt sich im Wesentlichen bei der zugegebenermaßen begrenzten Situation der Ausfuhrbeschränkungen. 96 AA Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 30 EGV Rn 14, 32. 97 EuGH, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon. 98 EuGH, Slg 1991, I-1361, Rn 9 – Kommission/Griechenland; Slg 1982, 2187, Rn 27 – Kommission/Italien.

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de Dijon-Urteil 99, dass auf innerstaatlichen Rechtsvorschriften beruhende Handelshemmnisse immer dann hinzunehmen seien, wenn sie „notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insb den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes“, mit denen ein „im allgem Interesse liegendes Ziel, das den Erfordernissen des freien Warenverkehrs, der eine der Grundlagen der Gemeinschaft darstellt“, gerecht wird, verfolgt wird.100 Während es zunächst noch fraglich war, in welchem Verhältnis die zwingenden Erfordernisse zu den Rechtfertigungsgründen des Art 36 AEUV stehen,101 hat der EuGH später klargestellt, dass nur solche Interessen als zwingende Erfordernisse in Betracht kommen, die nicht schon durch Art 36 AEUV erfasst werden.102 Nicht ganz klar ist die Rspr in Bezug auf die Frage, ob die zwingenden Erfordernisse als tatbestandsausschließende Gründe oder aber als Rechtfertigungstatbestände anzusehen sind. Die vom Gerichtshof verwandten Formulierungen deuteten zunächst darauf hin, dass dieser von ersterem Ansatz ausgeht;103 hingegen finden sich insbesondere in der neueren Rspr auch Passagen, die im Zusammenhang mit den zwingenden Erfordernissen von „Rechtfertigungsgründen“ sprechen.104 Funktional geht es jedoch jedenfalls um Aspekte der Rechtfertigung. Jedenfalls macht der EuGH aber offenbar einen konzeptionellen Unterschied zwischen beiden Kategorien von Rechtfertigungsgründen, dies in Bezug auf ihre Anwendungsbereiche: So sollen die Rechtfertigungsgründe des Art 36 AEUV offenbar immer eingreifen können, also auch bei offenen Diskriminierungen nach der Warenherkunft, während ein Rückgriff auf die zwingenden Erfordernisse bei offenen Diskriminierungen ausgeschlossen sei;105 allerdings ist darauf hinzuweisen, dass gerade im Bereich des Umweltschutzes

99 In dieser Rs ging es um eine deutsche Vorschrift, wonach Fruchtsaftliköre nur dann als solche vermarktet werden dürfen und damit verkehrsfähig sind, wenn sie einen Mindestalkoholgehalt von 25 % aufweisen, was bei dem französischen Likör „Cassis de Dijon“ gerade nicht der Fall war. 100 EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8, 14 – Cassis de Dijon. 101 Wurde doch der Gesundheitsschutz, der schon in Art 36 AEUV enthalten ist, auch als Bsp für ein zwingendes Erfordernis aufgeführt. 102 EuGH, Slg 1991, I-4151, Rn 13 – Aragonesa. 103 Vgl etwa EuGH, Slg 1991, I-4151, Rn 13 – Aragonesa; Slg 1989, 229, Rn 16 – Kommission/ Deutschland. 104 Vgl jüngst EuGH, EuZW 2012, 264 – Ascafor, wo der EuGH die in Art 36 AEUV aufgeführten Gründe und die zwingenden Erfordernisse in einem Atemzug als Rechtfertigungsgründe bezeichnet; s a schon EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 18 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1, wo der EuGH von Rechtfertigung spricht. 105 Vgl etwa EuGH, Slg 1981, 1625, Rn 11 – Kommission/Irland; Slg 1983, 127, Rn 11 – Schutzverband; Slg 1992, I-4431, Rn 33 ff – Kommission/Belgien = JK 93, EWGV Art 30/3; Slg 2006, I-8135 ff – Alfa Vita Vassilopoulos; wohl auch Slg 1998, I-1831, Rn 45 ff – Decker; bei versteckten Diskriminierungen (und sowieso bei Beschränkungen) hingegen können darüber hinaus auch die zwingenden Erfordernisse greifen, vgl Slg 2000, I-151, Rn 25 ff – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 2000, EGV Art 28/1, wo es um eine versteckte Diskriminierung ging, der EuGH aber grds den Rückgriff auf das zwingende Erfordernis der Sicherstellung der Nahversorgung zugunsten ortsansässiger Unternehmen nicht ausschloss; ähnlich Slg 1997, I-3843, Rn 44 f – de Agostini; s in diese Richtung auch bereits Slg 1981, 1625, Rn 11 – Kommission/Irland; die Rspr ist hier allerdings nicht immer ganz klar, vgl etwa Slg 1985, 305, Rn 27 ff – Cullet; Slg 1999, I-2517, Rn 14 – Ciola.

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verschiedentlich auch unmittelbar diskriminierende Regelungen grds einer Rechtfertigung zugänglich erachtet wurden106, so dass die Rspr insoweit nicht ganz konsistent erscheint.107 Diese Rspr führt jedoch zu einigen Unstimmigkeiten – ganz abgesehen davon, dass der EuGH teilweise einen recht großen Argumentationsaufwand betreiben musste, um an sich offen diskriminierende Maßnahmen dann doch als nicht offen diskriminierend einzustufen, so dass die Rechtfertigungsmöglichkeit aus Gründen des Umweltschutzes eröffnet werden konnte:108 Denn funktional gesehen stellen die zwingenden Erfordernisse, ebenso wie die in Art 36 AEUV genannten Gründe, Rechtfertigungsgründe dar; so werden sie auch nach den gleichen Grundsätzen geprüft. Ferner bleibt auch im Falle des Vorliegens zwingender Erfordernisse die einfuhrbeschränkende Wirkung aufrechterhalten, so dass der Tatbestand der Art 34, 35 AEUV an sich erfüllt ist. Insofern sind (auch) die zwingenden Erfordernisse dogmatisch als Rechtfertigungsgründe zu qualifizieren. Auch der EuGH dürfte dies – wie erwähnt (Rn 69) – in seiner jüngeren Rechtsprechung anerkennen, wenn er die zwingenden Erfordernisse als Rechtfertigungsgründe bezeichnet. Wenn aber die in Art 36 AEUV genannten Gründe einerseits und die zwingenden Erfordernisse andererseits beide dogmatisch als Rechtfertigungsgründe anzusehen sind, erscheint es wenig sinnvoll, in Bezug auf ihren Anwendungsbereich zu differenzieren, und hierfür sind vor diesem Hintergrund auch keine Gründe ersichtlich. Damit in engem Zusammenhang steht die Überlegung, dass der Ausschluss einer Rechtfertigungsmöglichkeit offener Diskriminierungen durch zwingende Erfordernisse nicht sachgerecht erscheint: Dadurch wird nämlich in gewissen Fällen ein ausreichender Schutz der betroffenen Rechtsgüter verhindert, ist es doch gerade nicht von Vornherein ausgeschlossen, dass etwa Erwägungen des Umweltschutzes auch offen diskriminierende Maßnahmen zu rechtfertigen vermögen. Etwaigen „Missbräuchen“ kann auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit begegnet werden.109 Diese Sicht trüge auch den doch parallel gelagerten Funktionen der durch Art 36 AEUV und die zwingenden Erfordernisse eröffneten Rechtfertigungsmöglichkeiten sowie ihrer letztlich parallelen Anwendung und Prüfung Rechnung (→ aA § 7 Rn 119).110 Wenn man diesem Ansatz folgt, entbehrt die Betonung des abschließenden Charakters des Art 36 AEUV jeden Sinns, werden die dort aufgeführten Rechtfertigungsgründe doch in jedem Fall zumindest funktional durch die zwingenden Erfordernisse ergänzt. Insg dürfte also eine einheitliche Rechtfertigungsdogmatik letztlich am sinnvollsten sein: In einem

106 EuGH, Slg 2000, I-3743, Rn 48 – Sydhavnens; iE auch schon Slg 1992, I-4431, Rn 34 f – Kommission/Belgien = JK 93, EWGV Art 30/3; s a Slg 2001, I-2099 ff – Preussen Elektra, wo es um eine Differenzierung nach dem Sitz des Stromerzeugers ging, wenn auch der EuGH die Frage des Vorliegens einer offenen Diskriminierung nicht ausdrücklich ansprach. 107 Vgl ausf zu dieser Problematik Heselhaus EuZW 2001, 645 ff. 108 So im Falle des wallonischen Einfuhrverbots für Abfälle, vgl EuGH, Slg 1992, I-4431, Rn 33 ff – Kommission/Belgien = JK 93, EWGV Art 30/3; s a Slg 2001, I-2099 ff – Preussen Elektra. 109 S in diesem Zusammenhang auch Heselhaus EuZW 2001, 645, 648 f, der bei offenen Diskriminierungen für eine besonders strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung plädiert. 110 Wie hier etwa Weiss EuZW 1999, 493, 497; Hakenberg ER, Rn 269 ff geht sogar soweit, dass sie die Rspr dahingehend auslegt, dass der EuGH (inzwischen) von einem einheitlichen Begriff der Beschränkung ausgehe (es also maW nicht mehr auf das Vorliegen einer offenen oder versteckten Diskriminierung ankomme), dann nach dem Vorliegen einer (tatbestandsausschließenden) Verkaufsmodalität frage und schließlich eine einheitliche Rechtfertigungsprüfung durchführe. AA aber Leible/T. Streinz in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 34 AEUV Rn 99, wobei die dort vertretene Stellungnahme jedoch auch als Auslegung der Rspr begriffen werden kann.

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ersten Schritt wird geprüft, ob der Tatbestand des Art 34 oder des Art 35 AEUV erfüllt ist (was von der Bejahung des Schutzbereichs und dem Vorliegen eines Eingriffs abhängt), in einem zweiten die Einschlägigkeit eines „öffentlichen Interesses“ (entweder ein in Art 36 AEUV aufgeführter Grund oder ein „zwingendes Erfordernis“) geprüft, und in einem dritten Schritt ist nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu fragen. IE führt die hier vertretene Sicht aber nur bei der Frage der Anwendbarkeit der zwingenden Erfordernisse auf offene Diskriminierungen zu anderen Resultaten als die Rspr des EuGH, und auch dies nicht immer, so wenn der EuGH (wenn auch mit nicht ganz überzeugender Begründung) in Bezug auf an sich offene Diskriminierungen eine Rechtfertigung aus Gründen des Umweltschutzes gleichwohl zulässt. c) Nicht wirtschaftlicher Charakter

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Fall 4: (EuGH, Slg 1995, I-563 ff – Evans Medical) Diacetylmorphin ist ein Opiumderivat. Die Herstellung und Verarbeitung dieses Stoffes in Großbritannien war bislang einzig zwei in Großbritannien ansässigen Pharmaunternehmen gestattet; Dritten war die Einfuhr des Stoffes untersagt. Diese Regelung sollte sicherstellen, dass eine zuverlässige Versorgung mit dem als Schmerzmittel verwendeten Diacetylmorphin gewährleistet und der illegale Handel unterbunden wurde. Teilweise wurde aber auch vermutet, dass die Existenzfähigkeit des einzigen zugelassenen Herstellers durch diese Regelung gesichert werden sollte. Der britische Innenminister änderte diese Praxis nun unter Berufung ua auf ihren Verstoß gegen Art 34 AEUV, wogegen die betroffenen Pharmaunternehmen klagen. Das zuständige Gericht legt dem EuGH ua die Frage vor, ob es tatsächlich stimme, dass die Regelung nicht mit Art 34 AEUV in Einklang steht.

Eine Rechtfertigung der Beschränkung des freien Warenverkehrs kommt nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass die geltend gemachten Rechtfertigungsgründe einen nicht wirtschaftlichen Charakter aufweisen.111 Dies bedeutet letztlich eine Einschränkung derjenigen Gründe des öffentlichen Interesses, die im Rahmen des Art 36 AEUV oder der zwingenden Erfordernisse geltend gemacht werden können: Sobald den verfolgten Zielsetzungen ein wirtschaftlicher Charakter zukommt, kommt eine Heranziehung der zwingenden Erfordernisse oder des Art 36 AEUV – in deren Rahmen etwa die öffentliche Ordnung einschlägig sein könnte – nicht in Frage. Ein wirtschaftlicher Charakter ist im Ergebnis dann anzunehmen, wenn es bei den ergriffenen Maßnahmen letztlich um Wirtschaftslenkung, die Erreichung wirtschaftspolitischer Zielsetzungen oder ganz allgem die Abwendung wirtschaftlicher Nachteile geht. Auch das Ziel, einen übermäßigen Wettbewerbsvorteil für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer zu vermeiden, stellt nach der Rechtsprechung einen wirtschaftlichen Grund dar.112 Wirtschaftliche Gründe liegen aber auch dann vor, wenn es (lediglich) um Erwägungen der verwaltungsmäßigen Vereinfachung, etwa im Hinblick auf die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen, geht.113 Ebenso ist das Anliegen der Kostendeckung öffentlicher Einrichtungen allein als wirtschaftlicher Grund anzusehen, so dass etwa – bezogen auf Art 18 bzw Art 56 AEUV – Vorzugspreise für den Zutritt zu kommunalen Museen für Ortsansässige nicht damit gerechtfertigt wer111 StRspr, s etwa EuGH, Slg 1995, I-563, Rn 36 – Evans; Slg 1984, 2727, Rn 35 f – Campus Oil; Slg 1985, 305, Rn 30 ff – Cullet; Slg 2001, I-7915, Rn 21 – Kommission/Griechenland. 112 EuGH, EuZW 2012, 508 – ANETT= JK 2013, AEUV Art 34/3. 113 EuGH, Slg 1999, I-345, Rn 45 – Terhoeve.

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den können, dass diese (grundsätzlich) über ihre Steuergelder diese Einrichtungen mitfinanzieren.114 Hingegen stellen Erwägungen der Kohärenz des Steuersystems115, des finanziellen Gleichgewichts der Systeme sozialer Sicherheit116 oder der Sicherstellung der Nahversorgungsbedingungen in abgelegenen Gebieten117 zwingende Gründe des Allgemeininteresses dar, die Eingriffe in die Grundfreiheiten rechtfertigen können. Der Ausschluss solcher Gründe aus dem Anwendungsbereich des Art 36 AEUV sowie der zwingenden Erfordernisse ergibt sich aus Sinn und Zweck der Art 34 ff AEUV: Die „Grundphilosophie“ dieser Bestimmungen – wie auch der anderen Grundfreiheiten – geht doch gerade dahin, dass Beschränkungen des freien Verkehrs der Produktionsfaktoren zu beseitigen sind, dies in der Annahme, dass sie wirtschaftlicher Effizienz entgegenstehen. Wenn dies aber so ist, können ja nicht Maßnahmen, die gerade über handelsbeschränkende Mittel wirtschaftliche Zielsetzungen verfolgen, von Art 36 AEUV oder den zwingenden Erfordernissen gedeckt werden. Ansonsten könnten die durch Art 36 AEUV und die zwingenden Erfordernisse eröffneten Rechtfertigungsmöglichkeiten dazu „missbraucht“ werden, den durch die Anwendung der Art 34 f AEUV möglicherweise (momentan) entstehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu begegnen. Das Verbot der Geltendmachung wirtschaftlicher Gründe schließt aber nicht aus, dass das primäre Schutzziel einer bestimmten Regelung über wirtschaftspolitische Maßnahmen verfolgt wird. Es wird also nur die eigenständige Verfolgung wirtschaftlicher Zielsetzungen um derer selbst willen ausgeschlossen; wenn aber wirtschaftspolitische Maßnahmen nur „Mittel zum Zweck“ sind und letztlich anderen Zielsetzungen dienen, können sie grds von Art 36 AEUV und den zwingenden Erfordernissen erfasst werden. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn es um die Versorgung der Bevölkerung mit wichtigen Medikamenten aus Gründen des Gesundheitsschutzes geht.118 Allerdings können solche Maßnahmen an der Verhältnismäßigkeit (Rn 92 ff) scheitern. Ausgeschlossen ist eine Berufung auf Art 36 AEUV oder die zwingenden Erfordernisse aber jeweils dann, wenn es um Störungen der öffentlichen Ordnung im Gefolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten geht, wie dies etwa im Falle von Boykottmaßnahmen bei Einfuhren aus anderen Mitgliedstaaten der Fall sein kann. Denn es widerspricht der vertraglichen Systematik, das Funktionieren der Grundfreiheiten als Störung der öffentlichen Ordnung zu qualifizieren und somit im Ergebnis unter eine Art Vorbehalt der polizeilichen Generalklausel zu stellen. Lösung Fall 4: Die Vorlagefrage ist zulässig, obwohl die in Frage stehende Praxis bereits geändert worden ist: Denn die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen soll es dem nationalen Gericht ermöglichen, sich zu vergewissern, dass die Änderung der nationalen Praxis tatsächlich geboten war, um den Vorgaben des Unionsrechts Rechnung zu tragen.

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EuGH, Slg 2003, I-721 ff – Kommission/Italien. EuGH, Slg 1998, I-2793 ff – Gilly. EuGH, Slg 1998, I-1931 ff – Kohll. EuGH, Slg 2000, I-151 ff – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 2000, EGV Art 28/1. 118 EuGH, Slg 1995, I-563, Rn 36 f – Evans; s a Slg 1984, 2727, Rn 34 ff – Campus Oil; Slg 1998, I-1831, Rn 39 ff – Decker.

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Diacetylmorphin ist eine Ware im Sinne des Art 28 II AEUV, da es Gegenstand von Handelsgeschäften sein kann und im Hinblick auf diese grenzüberschreitend verbracht wird. Das Verbot der Einfuhr von Diacetylmorphin stellt eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Art 34 AEUV dar, wird doch die Einfuhr einer Ware dem Wert oder der Menge nach begrenzt bzw in diesem Fall gar verboten. Eine Rechtfertigung kommt nur für Maßnahmen nicht wirtschaftlicher Art in Betracht, dh für solche, die nicht der Wirtschaftslenkung oder der Erreichung wirtschaftspolitischer Zielsetzungen dienen. Gerade solche stehen aber bei der Sicherung des Überlebens eines Unternehmens zur Debatte, so dass diese Erwägung nicht zur Rechtfertigung der Einfuhrbeschränkung herangezogen werden kann. Hingegen dient die regelmäßige Versorgung des Landes mit einem für wichtige medizinische Zwecke gebrauchten Stoff dem Gesundheitsschutz (Art 36 AEUV) und vermag damit grds eine Behinderung des Handels innerhalb der EU zu rechtfertigen. Die Maßnahme muss aber dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Der Sachverhalt erlaubt hier keine abschließende Feststellung (die im Übrigen dem nationalen Gericht obliegt), ob hier eine mildere Maßnahme denkbar gewesen wäre.

d) Zur Frage der Notwendigkeit eines territorialen Bezugs 78

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In erster Linie sollen Art 36 AEUV und die Anerkennung der zwingenden Erfordernisse natürlich sicherstellen, dass die verfolgten Schutzziele auf dem Gebiet des jeweiligen Mitgliedstaates119 verfolgt und verwirklicht werden können. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass ein Mitgliedstaat über nationale Maßnahmen auch Zielsetzungen verfolgt, die letztlich auf dem Gebiet eines anderen Staates „angesiedelt“ sind. So kann etwa ein Einfuhrverbot für gefährdete Tierarten (nur) den Schutz der Tiere in einem anderen Staat zum Ziel haben. Fraglich ist nun, ob die Mitgliedstaaten über die Berufung auf Art 36 AEUV oder die zwingenden Erfordernisse auch solche „extraterritorialen Zielsetzungen“ verfolgen dürfen oder ob dies von vornherein ausgeschlossen ist. In Anknüpfung an Sinn und Zweck der Rechtfertigungsmöglichkeiten durch die in Art 36 AEUV genannten und von den zwingenden Erfordernissen erfassten Rechtsgüter erscheint jedenfalls ein allgem Ausschluss einer solchen Verfolgung „extraterritorialer Schutzinteressen“ nicht sachgerecht: Denn diese Bestimmung soll es den Mitgliedstaaten doch gerade ermöglichen, die betr Rechtsgüter zu schützen, wobei die Intensität dieses Schutzes grds in ihrem Beurteilungsspielraum steht (Rn 96 ff). Dann aber ist kein Grund ersichtlich, warum nationale Maßnahmen nicht auch grds den Schutz von Rechtsgütern, die sich außerhalb ihres Territoriums befinden, zum Gegenstand haben können. Allerdings muss diese Möglichkeit immer dort eine Grenze finden, wo der Kompetenzbereich anderer (Mitglied-)Staaten beginnt; es wäre also nicht mit der Konzeption der Rechtfertigungsmöglichkeiten durch Art 36 AEUV und der zwingenden Erfordernisse vereinbar, wenn ein Staat seine Vorstellungen in einem bestimmten Bereich anderen Staaten „aufdrängte“. MaW kommt es auf die Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Regelung der entspr Belange an. Daher müssen die Mitgliedstaaten auch tatsächlich ein „eigenes“ Schutzinteresse darlegen, dessen Vorliegen aber gerade nicht in Anknüpfung an das Territorium zu bestimmen ist. Vielmehr kommt es auf eine (auch) rechtlich begründbare eigene

119 Oder auch der Union. Diese Konstellation soll aber im Folgenden außer Betracht gelassen werden. Sie wirft im Wesentlichen die Frage der Konformität entspr einseitiger Maßnahmen mit dem GATT/WTO-Recht auf. Vgl hierzu mwN Epiney DVBl 2000, 77 ff.

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Verantwortung für das Schutzgut an, die sich auch auf Grund internationaler Verflechtungen bzw Interdependenzen ergeben kann.120 e) Zur Bedeutung der (unionsrechtlichen oder nationalen) Grundrechte Mitgliedstaatliche oder EU-Maßnahmen zum Schutz der in Art 36 AEUV genannten oder durch die zwingenden Erfordernisse erfassten Rechtsgüter können auch grundrechtlich geschützte Positionen berühren, so etwa, wenn die Meinungsäußerungsfreiheit durch Maßnahmen, die die Pressevielfalt erhalten sollen, eingeschränkt wird, aber auch schon immer dann, wenn die Wirtschaftsfreiheit berührt wird. Die EU-Grundrechte (→ ausf hierzu § 14) binden selbstverständlich die Union und ihre Organe selbst. Sie entfalten aber auch insoweit Bindungswirkung für die Mitgliedstaaten, als diese Unionsrecht anwenden oder durchführen (→ § 14 Rn 48 ff).121 Dann aber sind die EU-Grundrechte auch in den Fällen, in denen es um mitgliedstaatliche Regelungen geht, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen und sich im Hinblick auf ihre Zulässigkeit auf unionsrechtliche Begriffe – wie die in Art 36 AEUV genannten oder im Rahmen der zwingenden Erfordernisse relevanten Schutzgüter – berufen, zu beachten. Vor diesem Hintergrund ist wohl die Rspr des EuGH zu sehen, die betont, dass die im Unionsrecht vorgesehene Rechtfertigung für die Grundfreiheiten beschränkende Maßnahmen der Mitgliedstaaten „im Lichte der Grundrechte“ auszulegen sei.122 Diese grds Anwendbarkeit der EU-Grundrechte entfaltet im Wesentlichen auf zwei Ebenen Rückwirkungen: Zum einen muss das im Rahmen der Heranziehung des Art 36 AEUV oder der zwingenden Erfordernisse geltend gemachte Rechtsgut auch Einschränkungen des berührten Grundrechts rechtfertigen können, was in aller Regel der Fall sein wird. Zum anderen und vor allem ist auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit der Betroffenheit eines Grundrechts Rechnung zu tragen: Geeignetheit, Erforderlichkeit und Ver-

120 Der EuGH hat diese Frage noch nicht ausdrücklich entscheiden. Jedoch gehen seine Ausführungen in EuGH, Slg 2008, I-4475 ff – Nationale Raad van Dierenkwekers en Liefhebbers, in die hier vertretene Richtung, bejaht der Gerichtshof doch die grds Möglichkeit der Rechtfertigung einer einfuhrbeschränkenden Maßnahme zum Schutz von außerhalb des betr Territoriums lebenden Tierarten. In der Lit gehen die Ansichten von einer grds Unzulässigkeit der Verfolgung „extraterritorialer Rechtsgüter“ (Gornig/Silagi EuZW 1992, 753, 756; wohl auch Everling NVwZ 1993, 209, 211) über eine ausnahmsweise Zulässigkeit im Falle der Existenz einer „globalen Gesamtverantwortung“ der Staaten für bestimmte Interessen (Müller-Graff in: vd Groeben/ Sschwarze, EUV/EGV, Art 30 EGV Rn 37 ff; ähnlich Weiher Nationaler Umweltschutz und internationaler Warenverkehr, 1997, S 99 ff) bis hin zu einer Anknüpfung an „internationale Schutzinteressen“, bei deren Einschlägigkeit eine Rechtfertigungsmöglichkeit eröffnet sei (so Kahl Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht 1993, S 192 f; Middeke (Fn 51) S 167 f). 121 Vgl zu der Frage der Bindungswirkung der EU-Grundrechte die jeweiligen Kommentierungen zu Art 51 GRCh. 122 EuGH, Slg 1992, I-2575, Rn 23 – Kommission/Deutschland; Slg 1997, I-3689, Rn 24 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. In der Lit wird diesem Ansatz des EuGH überwiegend gefolgt. Vgl etwa Holznagel Rundfunkrecht in Europa, 1996, 156; Frenz GF, Rn 603; sehr krit aber Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 164; ähnlich Störmer AöR 123 (1998), 541, 567. Ausf zur Problematik Schaller Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2003, S 79 ff; Wallrab Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, S 43 ff; Kokott/Sobotta EuGRZ 2010, 268 ff.

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hältnismäßigkeit ieS müssen auch im Hinblick auf die Grundrechtsbeeinträchtigung geprüft werden. In aller Regel jedoch werden diese Aspekte der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit der „normalen“ Verhältnismäßigkeitsprüfung zusammenfallen, stellt doch gerade die handelsbeschränkende Maßnahme einen Eingriff in das jeweilige Grundrecht dar (→ § 7 Rn 123). Der Schutz von Grundrechten kann aber auch sozusagen „auf der anderen Seite“ im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit der Warenverkehrsfreiheit (oder auch anderen Grundfreiheiten) relevant werden, nämlich in all denjenigen Fällen, in denen die Beeinträchtigung einer Grundfreiheit mit dem Schutz bestimmter Grundrechte bzw ihrer Verwirklichung oder Beachtung gerechtfertigt wird oder werden kann. In dieser Konstellation stellen die Grundrechte – zB die Versammlungsfreiheit123 oder der Schutz der Menschenwürde124 – also letztlich zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls dar, die Eingriffe in die Grundfreiheiten rechtfertigen können. Fraglich könnte hier sein, ob es sich dabei um unionsrechtliche oder nationale Grundrechte handelt. Angesichts des Umstandes, dass es den Mitgliedstaaten obliegt, Existenz und Reichweite der zwingenden Erfordernisse zu bestimmen, sprechen die besseren Gründe dafür, dass es hier um mitgliedstaatliche Grundrechte geht, die jedoch zwingende Erfordernisse im Sinne des Unionsrechts darstellen müssen.

2. Geschriebene Rechtfertigungsgründe 84

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Art 36 AEUV erlaubt die Anwendung von gegen Art 34, 35 AEUV verstoßenden Maßnahmen aus einer Reihe im Einzelnen aufgezählter Gründe. Wie erwähnt (Rn 67) geht der EuGH auf der Grundlage einer engen Auslegung der einzelnen Rechtfertigungsgründe davon aus, dass die in Art 36 AEUV enthaltene Liste abschließend ist. Im Einzelnen können vier Gruppen von Ausnahmetatbeständen unterschieden werden, wobei im Folgenden – auf der Grundlage der einschlägigen Rspr – allerdings nur ein kurzer Überbl über den Aussagegehalt der einzelnen Tatbestände erfolgt.125 Die Schutzgüter öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit nehmen Bezug auf verschiedene Aspekte des ordre public: Hier geht es letztlich um die Beachtung der wesentlichen Grundregeln eines Gemeinwesens126, wobei die öffentliche Ordnung eine Art Oberbegriff darstellt und die öffentliche Sicherheit127 und Sittlichkeit128 spezifische Aspekte herausgreifen.129 123 Vgl EuGH, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3. 124 Vgl EuGH, Slg 2004, I-9609 ff – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13. 125 Für weiterführende Hinw insb auf die einschlägige Rspr sei auf die Kommentarlit verwiesen. Aus der Monographielit Millarg Die Schranken des freien Warenverkehrs in der EG. Systematik und Zusammenwirken von Cassis-Rspr und Art 30 EG-Vertrag, 2001, S 139 ff. 126 ZB die Verhinderung von Betrug im Zusammenhang mit der Gewährung von Ausfuhrbeihilfen EuGH, Slg 1994, I-2757, Rn 44 – Deutsche Milchkontor. 127 Die öffentliche Sicherheit betrifft in der Sache das Schutzsystem des Staates zur Erhaltung seines Gewaltmonopols, aber auch den Schutz der Existenz des Staates sowie seiner zentralen Einrichtungen; vgl etwa EuGH, Slg 1991, I-4621, Rn 22 ff – Richardt. 128 Die öffentliche Sittlichkeit nimmt Bezug auf Moralvorstellungen, nach denen sich das Zusammenleben der Menschen richten soll; vgl EuGH, Slg 1986, 1007, Rn 14 – Conegate; Slg 1979, 3795 ff – Henn und Darby. 129 Vgl Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 30 EGV Rn 49. In diese Richtung wohl auch EuGH, Slg 1984, 2727, Rn 33 – Campus Oil.

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Der Schutz der Gesundheit des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen – dem in der Rspr des EuGH eine sehr große Bedeutung zukommt – erfasst nur solche Maßnahmen, die den Schutz von Menschen, Pflanzen oder Tieren als solchen zum Gegenstand haben; notwendig ist also – immer nach der Rspr des EuGH – ein unmittelbarer Bezug zu den genannten Schutzgütern, während im Hinblick auf die genannten Rechtsgüter nur mittelbar wirkende Maßnahmen bzw Anliegen (zB solche, die in erster Linie dem Verbraucheroder Umweltschutz dienen) von den „zwingenden Erfordernissen“ erfasst werden.130 Das Schutzgut des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert nimmt Bezug auf das Interesse der Mitgliedstaaten, dem Land bestimmte künstlerische Werke oder sonstige für die nationale Identität bedeutende Gegenstände zu erhalten. In der Rspr spielte dieses Schutzinteresse bislang keine Rolle.131 Der Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums nimmt auf solche rechtlichen Instrumente Bezug, die gewerbliche oder kommerzielle Rechtspositionen schützen sollen. Hierunter fallen nach der Rspr des EuGH in erster Linie das Patentrecht132, das Warenzeichen-133 und Urheberrecht134, aber auch Ursprungsbezeichnungen und geographische Herkunftsangaben135. Im Einzelnen wirft die Auslegung dieser Rechtsgüter allerdings einige Fragen auf, denen hier aber nicht weiter nachgegangen werden kann.136

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3. Ungeschriebene Schranken Wie bereits erwähnt (Rn 65 ff), entwickelte der EuGH in seinem Urt Cassis de Dijon 137 den Grundsatz, dass Handelsbeschränkungen auch durch sog zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden können, wobei der EuGH davon ausgeht, dass diese nur auf versteckte Diskriminierungen und Beschränkungen, nicht hingegen auf offene Diskriminierungen Anwendung finden können (Rn 70). Der EuGH hat die ursprüngliche Cassis-Formel in zahlreichen Urt angewandt und teilweise auch weiterentwickelt138, insb durch die ausdrückliche Anerkennung weiterer zwingender Erfordernisse, wie etwa des Umweltschutzes139, der Sicherstellung des finan-

130 Vgl aus der Rspr zB EuGH, Slg 1998, I-8033 ff – Bluhme; Slg 1998, I-5121 ff – van Harpegnies; Slg 1987, 1227 ff – Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier). 131 Vgl zu den sich stellenden Auslegungsfragen mwN Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 AEUV Rn 20 ff. 132 EuGH, Slg 1988, 3585, Rn 14 f – Thetford. 133 EuGH, Slg 1978, 1139, Rn 7 f – Hoffmann-La-Roche. 134 EuGH, Slg 1987, 1747, Rn 11 ff – Basset. 135 EuGH, Slg 1992, I-3669, Rn 10 – Delhaize; Slg 2000, I-3123, Rn 50 – Belgien/Spanien; Slg 1992, I-5529, Rn 25 – Exportur. 136 Vgl im Einzelnen mit zahlreichen Nachw aus der Rspr Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 207 ff. 137 EuGH, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon. 138 Vgl die Zusammenstellung der Rspr bei Ahlfeld Zwingende Erfordernisse im Sinne der CassisRspr des Europäischen Gerichtshofs zu Art 30 EGV, 1997, S 85 ff; Millarg (Fn 125) S 163 ff sowie die einschlägige Kommentarlit. 139 EuGH, Slg 1988, 4607, Rn 8 f – Kommission/Dänemark (Pfandflaschen); Slg 1992, I-4431 ff – Kommission/Belgien = JK 93, EWGV Art 30/3.

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ziellen Gleichgewichts von sozialen Sicherungssystemen140, kultureller Zwecke141 oder auch der Sicherung der Nahversorgungsbedingungen in relativ abgelegenen Gebieten142. Jedenfalls sind die zwingenden Erfordernisse nicht abschließend formuliert („insbesondere“), so dass a priori alle öffentlichen Interessen hierunter subsumiert werden können, immer unter der Voraussetzung, dass sie aus unionsrechtlicher Sicht als solche anerkannt werden können, so dass sie insb keinen wirtschaftlichen Charakter aufweisen dürfen (Rn 72 ff).

4. Verhältnismäßigkeit 92

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Fall 5: (EuGH, Slg 2000, I-3123 ff – Belgien/Spanien) Nach den einschlägigen gesetzlichen Vorgaben in Spanien ist die Zulässigkeit des Führens der Ursprungsbezeichnung „Rioja“ für den aus der gleichnamigen Region stammenden Wein ua davon abhängig, dass der Wein in der Anbauregion abgefüllt wird. Belgien hat Spanien wegen dieses Aspekts der Ursprungsregelung vor dem EuGH verklagt. Spanien hält das Erfordernis der Abfüllung in der Region selbst für notwendig, da nur auf diese Weise die Qualität des Weins gewährleistet werden könne, während Belgien hier eine unzulässige Beschränkung des freien Warenverkehrs geltend macht.

Liegt ein Rechtfertigungsgrund (entweder einer der in Art 36 AEUV genannten oder aber ein zwingendes Erfordernis) vor, muss die jeweilige (nationale oder unionsrechtliche) Maßnahme noch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, dh die betr Maßnahme muss zur Verfolgung des angestrebten Ziels geeignet sein, das mildeste Mittel darstellen – maW dem Grundsatz der Erforderlichkeit entsprechen – sowie angemessen (verhältnismäßig ieS) sein.143 Dieser in stRspr anerkannte Grundsatz beruht letztlich auf der Heranziehung allgem Rechtsgrundsätze und ist auch vor dem Hintergrund des Sinns und Zwecks der Art 34, 35 AEUV sowie der anerkannten Rechtfertigungsmöglichkeiten zwingend, soll doch die Beschränkung des freien Warenverkehrs auf das notwendige Maß eingeschränkt werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Schutzziel stehen. Aus Art 36 S 2 AEUV, wonach die unter Berufung auf Art 36 AEUV ergriffenen Maßnahmen weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels darstellen dürfen, können keine weitergehenden Anforderungen abgeleitet werden. Vielmehr decken sich diese Erfordernisse iE mit dem Grundsatz der

140 EuGH, Slg 1998, I-1831, Rn 39 – Decker. 141 EuGH, Slg 1985, 2605, Rn 21 ff – Cinéthèque; Slg 1991, I-4069, Rn 29 f – Kommission/Niederlande (Mediawet); Slg 1993, I-487, Rn 9 f – Veronica Omröp Organisatie; allerdings ist die Rspr hier auch teilweise recht zurückhaltend, vgl etwa Slg 1985, 1, Rn 28 ff – Leclerc, in Bezug auf Art 56 AEUV. 142 EuGH, Slg 2000, I-151, Rn 34 – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 2000, EGV Art 28/1. 143 Wobei der EuGH eine Maßnahme allerdings nur in Ausnahmefällen an der Angemessenheit scheitern lässt. Vgl (allerdings in Bezug auf Art 18 AEUV) EuGH, Slg 1997, I-1, Rn 19 ff – Pastoors. Zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Art 34 AEUV etwa Slg 1998, I-1831, Rn 39 ff – Decker; Slg 1997, I-3689, Rn 19 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1; Slg 1998, I-8033 ff – Bluhme; Slg 1988, 4607, Rn 11 ff – Kommission/Dänemark (Pfandflaschen).

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Verhältnismäßigkeit.144 Es ist denn auch kaum vorstellbar, dass „willkürliche Diskriminierungen“ oder „verschleierte Beschränkungen“ des Handels geeignet und erforderlich sein können. Eine Rechtfertigung nach Art 36 AEUV oder auf der Grundlage der Heranziehung zwingender Erfordernisse kommt allerdings von vornherein nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass eine Gefahr für die Schutzgüter besteht. Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine solche mit einer (soweit dies überhaupt möglich ist) hundertprozentigen Sicherheit nachgewiesen werden muss. Ein gewisser Unsicherheitsfaktor kann also durchaus bestehen; notwendig ist aber eine substantiierte und nachvollziehbare Darstellung des Bestehens einer Gefährdungslage. So deuten zB Kolibakterien auf pathogene Mikroorganismen hin, die eine wirkliche Gefahr für die Gesundheit darstellen.145 Hingegen konnte nicht substantiiert glaubhaft gemacht werden, dass die in bestimmten Bieren vorhandenen Zusatzstoffe angesichts der Ernährungsgewohnheiten146 der deutschen Bevölkerung eine Gesundheitsgefahr mit sich bringen.147 Ebensowenig vermag der geringe Nährwert eines Nahrungsmittels eine Gefährdung der Gesundheit zu begründen.148 Auch konnten die Gesundheitsgefahren eines Knoblauchpräparats nicht nachgewiesen werden.149 Weiter hielt der EuGH in einem Urt zur Vereinbarkeit des dänischen Verbots, mit bestimmten Vitaminen und Mineralstoffen angereicherte Lebensmittel in den Verkehr zu bringen, fest, dass es bei wissenschaftlichen Unsicherheiten in Bezug auf die mögliche schädliche Wirkung von Zusatzstoffen in Lebensmitteln den Mitgliedstaaten obliege zu entscheiden, in welchem Umfang sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen. Allerdings müsse die Existenz einer Gesundheitsgefahr durch eine eingehende Prüfung des entspr Risikos gestützt werden können; ein Vermarktungsverbot könne nur erlassen werden, wenn die geltend gemachte Gefahr für die öffentliche Gesundheit auf der Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Informationen als hinreichend nachgewiesen anzusehen ist, wobei die Beurteilung des Wahrscheinlichkeitsgrades der schädlichen Auswirkungen sowie die potenzielle Schwere zu berücksichtigen seien.150

144 In diese Richtung dürfte auch die Rspr des EuGH gehen, der diesem Erfordernis keine eigenständige Bedeutung beimessen dürfte, es aber gelegentlich als normative Grundlage für die Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erwähnt, vgl etwa EuGH, Slg 1992, I-3617 ff – Debus. Zum Problemkreis mwN aus Lit und Rspr Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 101 ff. 145 EuGH, Slg 1984, 2367, Rn 17 – Melkunie. 146 Die durchaus grds berücksichtigt werden können. Vgl EuGH, Slg 1984, 3263, Rn 16 – Heijn; Slg 1986, 1511, Rn 20 – Muller. 147 EuGH, Slg 1987, 1227, Rn 49 – Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier). 148 EuGH, Slg 1989, 229, Rn 10 – Kommission/Deutschland. 149 EuGH, Slg 2007, I-9811 ff – Kommission/Deutschland. 150 EuGH, Slg 2003, I-9693 ff – Kommission/Dänemark; s a Slg 2000, I-1129 ff – Kommission/ Frankreich, wo der EuGH betont, dass die Mitgliedstaaten das anzulegende Schutzniveau im Bereich des Gesundheitsschutzes bestimmen können. S sodann Slg 2010, I-3973 ff – Solgar Vitamin’s France (Zulässigkeit der Beschränkung bestimmter Nahrungsmittelzusätze nach dem einschlägigen Sekundärrecht und Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Risikoanalyse mit entsprechendem Ergebnis im Falle eines Verbots, so dass eine vorbeugende Maßnahme nicht mit einer rein hypothetischen Betrachtung eines Risikos begründet werden könne); Slg 2010, I-757 ff – Kommission/Frankreich (Unvereinbarkeit eines Zulassungssystems für Verarbeitungshilfsstoffe und für Lebensmittel, bei deren Herstellung Verarbeitungshilfsstoffe aus anderen Mitgliedstaaten verwendet werden, mit Art 34 AEUV).

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a) Zum Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten 96

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit151 regelt eine Mittel-Zweck-Relation; die Frage geht maW dahin, ob eine bestimmte Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet, erforderlich und angemessen ist. Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit beantwortet also nicht die Frage nach dem anzulegenden Schutzniveau bzw dem verfolgten Ziel, sondern setzt dessen Festlegung voraus. In Anbetracht des Umstandes, dass Art 36 AEUV sowie die zwingenden Erfordernisse grds nur in denjenigen Fällen zur Anwendung kommen können, in denen gerade keine Festlegung des Schutzniveaus auf EU-Ebene besteht, obliegt es den Mitgliedstaaten zu bestimmen, welches Schutzniveau sie zugrunde legen wollen; sie können also maW entscheiden, wie weit zB der Schutz der Gesundheit oder der Verbraucherschutz reichen soll.152 Diese Kompetenz der Mitgliedstaaten bezieht sich auch auf tatbestandliche Unsicherheiten, zB über die Gefährlichkeit bestimmter Stoffe.153 Fraglich ist aber, ob sich die Befugnis der Mitgliedstaaten154 auch darauf bezieht, die jeweiligen Konzeptionen der verfolgten Schutzpolitiken festzulegen, also etwa zu bestimmen, auf der Basis welcher Grundsätze der Verbraucherschutz zu konzipieren ist. Diese Fragestellung kann durchaus – zumindest bei gewissen Politiken, wie gerade dem Verbraucherschutz – von entscheidender Bedeutung für die Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung und ihr Ergebnis sein: So ist zB die Erforderlichkeit einer Maßnahme unterschiedlich zu beurteilen, je nachdem, ob das Bild des „verständigen Verbrauchers“ oder dasjenige des „flüchtigen“ oder „zerstreuten“ Verbrauchers zugrunde gelegt wird. Der EuGH legt hier wenigstens in Teilbereichen das Prinzip zugrunde, dass die Konzeption der jeweiligen Politik und damit die Grundlagen für die Verhältnismäßigkeitsprüfung nach unionsrechtlichen Maßstäben bestimmt werden müssen. So wird insb im Bereich des Verbraucherschutzes (in Verbindung mit dem Gesundheitsschutz) auf ein unionsrechtliches Konzept des „mündigen“ Verbrauchers zurückgegriffen, das dann auf der Ebene der Erforderlichkeitsprüfung dazu führt, dass grds zwingende Regelungen der Produktbeschaffenheit und ein daraus folgendes Vertriebsverbot nicht zulässig sind, da Kennzeichnungspflichten die mildere Regelung darstellen.155 Zu überzeugen vermag dieser Ansatz jedoch nicht: In den Fällen, in denen eine unionsrechtliche Regelung fehlt (und um diese geht es hier), kommt den Mitgliedstaaten grds die Kompetenz zu, die jeweiligen Politiken zu bestimmen und die entspr Maßnahmen zu ergreifen. Diese Kompetenz bezieht sich nicht nur auf das „Ob“ der Verfolgung der entspr

151 Vgl umfassend zu diesem Grundsatz im Unionsrecht, wenn auch in Bezug auf die Rechtsetzung, Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EGRechtsetzung, 2000; s a Jarass EuR 2000, 705, 721 ff. 152 So iE auch die Rspr. Vgl zB EuGH, Slg 1987, 1227, Rn 41 – Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier); Slg 1984, 2367, Rn 18 – Melkunie; Slg 2000, I-1149 ff – Kommission/Frankreich. Aus der Lit Ahlfeld (Fn 138) S 62 ff; s a schon ausf zum Problemkreis Epiney/Möllers Freier Warenverkehr und nationaler Umweltschutz, 1992, S 70 ff. 153 Vgl EuGH, Slg 1983, 2445, Rn 19 – Sandoz; Slg 1983, 3883, LS 6 – van Bennekom; Slg 1986, 1511, Rn 20 – Muller. 154 Für EU-Regelungen stellt sich das Problem in dieser Form nicht. 155 StRspr vgl nur EuGH, Slg 1987, 1227, Rn 35 ff – Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier); Slg 1979, 649, Rn 13 – Cassis de Dijon; Slg 1994, I-3537, Rn 19 – van der Veldt; Slg 2003, I-459 ff – Kommission/Spanien; Slg 2003, I-513 ff – Kommission/Italien.

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Zielsetzungen, sondern auch auf das „Wie“, das neben der Festlegung des Schutzniveaus eben auch die Definition der der jeweiligen Politik zugrunde liegenden Konzeptionen erfasst. Es ist nicht ersichtlich, warum die Union (bzw der Gerichtshof) ihre Konzeption an die Stelle derjenigen der Mitgliedstaaten setzen können soll, geht es hier doch nicht um die Definition unionsrechtlicher Begriffe, sondern um die Festlegung politischer Akzente. Insofern erscheint die Rspr des EuGH nicht ganz unbedenklich. Immerhin konzentriert sich die einschlägige Rspr bislang auf den Bereich des Verbraucherschutzes, während in anderen Politikbereichen offenbar großzügiger verfahren wird.156 Im Übrigen nimmt der EuGH teilweise die Kontrolldichte zurück, so wenn er in Bezug auf das Verbot, eine Creme unter der Bezeichnung „Lifting“ zu verkaufen, festhält, dass eine solche Regelung dann gegen den Vertrag verstoße, wenn ein durchschnittlich informierter, aufmerksamer Durchschnittsverbraucher erwarte, dass die Creme eine dem operativen Lifting vergleichbare Wirkung zeigt.157 Die Feststellung, ob dies der Fall ist oder nicht, wird dann dem nationalen Gericht überantwortet, ohne dass der Gerichtshof darauf hinweist, dass die gestellte Frage wohl grundsätzlich zu verneinen ist.158 b) Die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im Einzelnen Wie erwähnt (Rn 93), umfasst das Prinzip der Verhältnismäßigkeit die Anforderungen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit. Geeignet ist eine Maßnahme immer dann, wenn sie das verfolgte Ziel grds zu erreichen vermag. Ob diese Voraussetzung (wahrscheinlich159) erfüllt ist, muss ggf mittels entspr wissenschaftlicher Untersuchungen festgestellt werden. Die Geeignetheit einer Maßnahme ist zB auch dann nicht gegeben, wenn ein Mitgliedstaat eingeführte Waren einer bestimmten Qualität als Gefahr ansieht und vor dieser schützen möchte, gegenüber vergleichbaren einheimischen Waren aber keine Maßnahmen ergreift.160 Eine Maßnahme ist auch dann geeignet, wenn sie das angestrebte Ziel nicht vollständig zu erreichen vermag, hierfür jedoch einen – wenn auch nur kleinen – Beitrag zu leisten vermag, wie dies zB bei Maßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes häufig der Fall ist. So wurde zB ein Fahrverbot auf einer Teilstrecke der Brenner-Autobahn für LkW, die bestimmte Güter befördern, als geeignet zur Verfolgung von gesundheits- und umweltpolitischen Zielen angesehen: Es sei nachvollziehbar und damit nicht inkohärent (das Erfordernis der Kohärenz einer Maßnahme wird vom EuGH regelmäßig im Zusammenhang mit ihrer Geeignetheit geprüft), dass der Transport der in der Verordnung näher bezeichneten Güter verboten werde, da sich diese Güter durch eine gewisse „Bahnaffinität“ auszeichneten, sich maW für eine Verlagerung des Transports auf die Bahn eigneten. Ebensowenig führe der Ausschluss des lokalen und regionalen Verkehrs von dem Verbot zu einer Inkohärenz der Maßnahme, da die angestrebte Verlagerung des Transports auf die Schiene nur bei längeren Transporten Sinn mache; auch liege die fragliche Zone teilweise außer-

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So insb im Gesundheitsschutz, vgl die Nachw in Fn 150. Was wohl nicht der Fall ist. Vgl EuGH, Slg 2000, I-117 ff – Lauder. Auch hier ist den Mitgliedstaaten bei tatbestandlichen Unsicherheiten ein gewisser Gestaltungsspielraum einzuräumen. Vgl ausf schon Epiney (Fn 20) S 303 ff. 160 EuGH, Slg 1985, 1007, Rn 15 – Conegate; s a Slg 1990, I-4285, Rn 6 f – Kommission/Italien.

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halb des österreichischen Hoheitsgebiets.161 Insg wird vor diesem Hintergrund die Geeignetheit der Maßnahme vom EuGH recht selten verneint.162 Die Erforderlichkeit einer Maßnahme ist immer dann gegeben, wenn das angestrebte Schutzziel durch (den Warenverkehr) weniger einschränkende Maßnahmen nicht erreicht werden kann. Auszugehen ist bei der Prüfung der Erforderlichkeit aber immer von dem definierten Schutzziel. Die Erforderlichkeit ist etwa bei sog „Doppelkontrollen“ – so zB das Erfordernis technischer Analysen für eingeführte Produkte, die schon im Herkunftsstaat durchgeführt worden sind und deren Ergebnisse zugänglich sind – regelmäßig zu verneinen.163 Auch die mit Einfuhrkontrollen verbundenen Zielsetzungen können häufig auf andere Weise, etwa durch Vermarktungsregelungen oder sonstige Kontrollen, erreicht werden.164 Ein Werbeverbot für in einem Mitgliedstaat nicht zugelassene Arzneimittel, die dennoch über Einzelbestellung der Apotheker vertrieben werden dürfen, kann nach der Rspr zwar grds aus Gründen des Schutzes von Leben und Gesundheit von Menschen gerechtfertigt werden, da auf diese Weise der Ausnahmecharakter der vorgesehenen Genehmigung gestärkt werde; allerdings sei eine Erstreckung des Verbots auf die Übermittlung von Listen, aus denen sich keine Informationen über die therapeutische Wirkung von Medikamenten ergeben, nicht erforderlich, da damit nicht geworben werden könne und eine Steigerung der Einfuhren daher unwahrscheinlich sei.165 Damit die Erforderlichkeit bejaht werden kann, muss in vertretbarer Weise dargelegt werden, dass das ebenfalls in Betracht kommende mildere Mittel nicht ebenso wirksam gewesen wäre. Allerdings wird den Mitgliedstaaten auch hier bei tatbestandlichen Unsicherheiten durch die Rechtsprechung (teilweise) ein gewisser Gestaltungsspielraum eingeräumt. So weist der EuGH

161 EuGH, Slg 2011, I-13525 ff – Kommission/Österreich. Zu diesem Urteil im Zusammenhang mit der Erforderlichkeit noch Rn 102. S in diesem Zusammenhang auch Slg 2008, I-4475 ff – Nationale Raad van Dierenkwekers en Liefhebbers, wo der Gerichtshof betont, eine Liste von Arten, deren Einfuhr aus Gründen des Artenschutzes verboten ist, müsse aufgrund objektiver und nicht diskriminierender Kriterien aufgestellt werden. 162 Vgl aber auch EuGH, Slg 1989, 229, Rn 10 – Kommission/Deutschland; Slg 1979, 649, Rn 11 – Cassis de Dijon; Slg 2010, I-12869 ff – Humanplasma; Slg 1992, I-3141, Rn 31 – Kommission/ Deutschland, wo der EuGH die Geeignetheit der bundesdeutschen Schwerverkehrsabgabe zur Verfolgung des umweltpolitischen Ziels vor dem Hintergrund verneinte, dass die inländischen Unternehmen durch die Steuersenkung begünstigt wurden, so dass nicht von einer Verlagerung des Straßenverkehrs auf die Schiene ausgegangen werden könne; die Geeignetheit wurde etwa in folgenden Fällen bejaht: EuGH, Slg 1991, I-3069, Rn 23 – Denkavit; Slg 1991, I-4151, Rn 15 – Aragonesa. 163 EuGH, Slg 1998, I-5121 ff – Harpegnies; Slg 1998, I-6197, Rn 22 ff – Kommission/Frankreich; s im Übrigen die Präzisierungen in Bezug auf ein System vorheriger Genehmigungen in Slg 2002, I-607 ff – Canal Satélite. In Bezug auf die Unverhältnismäßigkeit einer nationalen Produktzulassungsregelung Slg 2007, I-4269 ff – Kommission/Belgien. 164 Vgl zB EuGH, Slg 1994, I-3303, Rn 25 – Kommission/Deutschland; Slg 1988, 547, Rn 15 ff – Kommission/Vereinigtes Königreich. 165 EuGH, Slg 2007, I-9623 ff – Ludwigs-Apotheke München. S a EuZW 2012, 508– ANETT = JK 2013, AEUV Art 34/3, wo der Gerichtshof die Erforderlichkeit der Pflicht für Tabakeinzelhändler, Tabakerzeugnisse nur über gewisse zugelassene Großhändler zu beziehen, für im Hinblick auf den Verbraucherschutz nicht erforderlich erachtete, da das Anliegen, ein einheitliches Erzeugnissortiment zu gewährleisten, durch weniger einschränkende Maßnahmen (zB die Auferlegung einer Pflicht für die Tabakeinzelhändler, ein im Vorfeld festgelegtes Mindesterzeugnissortiment vorrätig zu haben) verfolgt werden könne.

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darauf hin, dass bei Schwierigkeiten in Bezug auf die Frage der Wirksamkeit der Maßnahmen schon dann von der Erforderlichkeit der Maßnahme ausgegangen werden könne, wenn keine Anhaltspunkte ersichtlich seien, dass die nationale Maßnahme über das hinausgehe, was zur Erreichung des Zwecks erforderlich sei.166 In anderen Urteilen hingegen prüft der Gerichtshof die Erforderlichkeit relativ engmaschig, so zB in dem bereits erwähnten Urteil zum sektoralen Fahrverbot auf Teilen der Brenner-Autobahn, in dem der Gerichtshof festhielt, Österreich habe nicht hinreichend dargetan, warum andere, den Warenverkehr weniger beschränkende Maßnahmen – wie insbesondere die Generalisierung einer Geschwindigkeitsbeschränkung und ein Fahrverbot für LKWs, die bestimmte Emissionswerte überschreiten – das angestrebte Ziel nicht ebenso hätten erreichen können, so dass die Maßnahme nicht erforderlich sei.167 Aber auch in Bezug auf eine Regelung, wonach Kontaktlinsen nur in Fachgeschäften vertrieben werden dürfen, verneinte der Gerichtshof die Erforderlichkeit im Hinblick auf den Gesundheitsschutz: Zwar könne das Tragen von Kontaktlinsen zu gesundheitlichen Problemen führen, so dass ein Mitgliedstaat die Aushändigung solcher Linsen durch Fachpersonal verlangen dürfe. Allerdings sei dies nur bei der ersten Lieferung notwendig; bei den Folgelieferungen genüge es, auf den bereits benutzten Kontaktlinsentyp hinzuweisen, und zusätzliche Informationen könnten den Kunden auch durch interaktive Elemente über das Internet zur Verfügung gestellt werden, ganz abgesehen davon, dass es möglich sei, die Wirtschaftsteilnehmer dazu zu verpflichten, einen sachkundigen Optiker als Auskunftsperson zur Verfügung stellen.168 Bei der Angemessenheit einer Maßnahme geht es um die Abwägung zwischen der Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs und ggf der Einschränkung von Grundrechten einerseits und dem verfolgten Schutzinteresse andererseits. Wie bereits erwähnt (Rn 101), scheitert eine Maßnahme allenfalls in Ausnahmefällen an der Angemessenheit.169 Dem Erfordernis der Angemessenheit dürfte aber in all denjenigen Fällen, in denen eine Grundfreiheit mit einem Grundrecht kollidiert, eine gewisse Bedeutung zukommen; so stellt der EuGH hier etwa auf die Frage der Angemessenheit oder auf das Vorhandensein von Übergangsregelungen ab.170 Auffallend in der Rechtsprechung des EuGH ist allerdings, dass dieser manchmal auf eine eigentliche Verhältnismäßigkeitsprüfung verzichtet, ohne dass hierfür einsichtige

166 EuGH, Slg 2000, I-5681, Rn 40 ff – Kemikalieinspektionen; Slg 1999, I-3599, Rn 36 ff – Heinonen; s a Slg 2000, I-3123 ff – Kommission/Belgien; Slg 2003, I-5121 ff – Consorzio del Prosciutto di Parma; Slg 2003, I-5053 ff – Ravil. 167 EuGH, Slg 2011, I-13525 ff – Kommission/Österreich. 168 EuGH, Slg 2010, I-12213 ff – Ker-Optika. 169 S aber auch EuGH, Slg 2002, I-607 ff – Canal Satélite, wo der EuGH im Zusammenhang mit einem System vorheriger Genehmigungen für die Inbetriebnahme bestimmter Geräte für die digitale Übermittlung oder den digitalen Empfang von Fernsehsignalen über Satellit auch auf der Angemessenheit zuzuordnende Erwägungen zurückgreift, so wenn er betont, dass selbst ein den Anforderungen der Geeignetheit und Erforderlichkeit entspr Genehmigungsverfahren dann nicht mit Art 34 AEUV vereinbar sein soll, wenn es die Marktteilnehmer an der Ausübung ihrer Freiheiten hindert. 170 Vgl EuGH, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3; Slg 2004, I-11763 ff – Radlberger.

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Gründe vorlägen.171 Auch fällt der den Mitgliedstaaten gerade bei der Prüfung der Erforderlichkeit eingeräumte Beurteilungsspielraum sehr unterschiedlich172 und mitunter sehr eng aus, während in anderen Fallgestaltungen ein eher weiter Spielraum eingeräumt wird. Wirkliche Gründe für diese Unterschiede sind nicht erkennbar.173

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Lösung Fall 5: Die Vertragsverletzungsklage Belgiens ist zulässig, sofern das Vorverfahren korrekt durchgeführt wurde (Art 259 AEUV). Die fragliche Maßnahme stellt eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Ausfuhrbeschränkung (Art 35 AEUV) dar: Denn zwar ist nach wie vor die Ausfuhr von nicht abgefülltem Wein unbeschränkt möglich; dieser darf aber nicht die Ursprungsbezeichnung Rioja tragen. Letzteres beeinträchtigt aber seine Absatzmöglichkeiten, spielen Ursprungsbezeichnungen doch eine wichtige Rolle bei der Vermarktung von Produkten, insb von Wein. Die Voraussetzungen der Dassonville-Formel sind also gegeben. Da sich die Maßnahme nur auf ausgeführte Produkte (nicht abgefüllter Wein, der so aus der Region ausgeführt wird) bezieht, liegt auch eine spezifische Beschränkung der Ausfuhrströme vor. Wein, der nämlich nur innerhalb der Region befördert und in zugelassenen Kellereien abgefüllt wird, kann nach wie vor die Ursprungsbezeichnung tragen. Ursprungsbezeichnungen gehören zu den gewerblichen Schutzrechten. Sie sollen den Inhaber davor schützen, dass die Bezeichnungen durch Dritte missbräuchlich benutzt werden und diese dadurch einen Vorteil erlangen. Im Übrigen sollen sie gewährleisten, dass das mit ihnen versehene Erzeugnis aus einem bestimmten geographischen Bereich stammt und bestimmte besondere Eigenschaften aufweist. Damit ist eine Rechtfertigung nach Art 36 AEUV grds möglich. Fraglich ist jedoch die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, insb die Erforderlichkeit: Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Umstand, dass der Abfüllvorgang schwierig ist und nur von Personen bzw Unternehmen mit großer Sachkenntnis durchgeführt werden sollte, will man vermeiden, dass der Wein an Qualität einbüßt und damit seine Eigenarten verliert. Gleiches gilt für die Beförderung in nicht abgefülltem Zustand. Vor diesem Hintergrund bejaht der EuGH die Erforderlichkeit: Die erwähnte Sachkenntnis sei am ehesten bei den Unternehmen der betroffenen Region vorzufinden, die eben eine größere Erfahrung im Umgang mit gerade diesem Qualitätswein hätten, so dass eine größere Wahrscheinlichkeit gegeben sei, dass die genannten Vorgänge fachgerecht durchgeführt würden. Auch seien die Kontrollen in anderen Mitgliedstaaten teilweise weniger streng als in Spanien. Schließlich reiche auch eine alleinige Kennzeichnungspflicht nicht aus, da im Falle von Qualitätseinbußen das Ansehen aller unter der Ursprungsbezeichnung „Rioja“ vermarkteten Weine geschädigt würde. Zu überzeugen vermag der grds Ansatz des EuGH allerdings nicht: So ist nicht ersichtlich, warum die Abfüllung und Beförderung von Rioja schwieriger sein soll als diejenige sonstiger Qualitätsweine, so dass man ja auch auf das Kriterium „Unternehmen aus Regionen mit Qualitätsweinen“ hätte abstellen können. Vor allem aber bestehen wohl andere Methoden zur Feststellung der Qualifikation der Unternehmen, die den freien Warenverkehr weniger stark beschränken würden, wie etwa ein Zulassungsverfahren, eine Prüfung des erforderlichen Sachwissens oder regelmäßige Kontrollen. 171 Besonders auffallend war dies in dem Urteil betreffend das deutsche Stromeinspeisungsgesetz, vgl EuGH, Slg 2001, I-2099 ff – Preussen Elektra, wobei gerade hier die Verhältnismäßigkeitsprüfung aufgrund des diskriminierenden Charakters der Regelung besonders interessant gewesen wäre. 172 Hierzu mwN Epiney in: Bieber/Epiney/Haag, EU, § 11, Rn 63 ff. 173 Vgl die Beispiele im Text (Rn 102) sowie die Lösung im Fall 5.

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§9 Arbeitnehmerfreizügigkeit Ulrich Becker Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave; Slg 1982, 1935 ff – Levin; Slg 1986, 2121 ff – Lawrie-Blum; Slg 1995, I-4921 ff – Bosman; Slg 2000, I-4139 ff – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1. Schrifttum: Hailbronner Ausländerrecht, Loseblattwerk, Abschn D: Recht der EG; Wienbracke „Innerhalb der Union ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet“ – eine aktuelle Bestandsaufnahme zu Art 45 AEUV, EuR 2012, 483 ff.

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist traditionell gesehen der tragende Pfeiler der Personenfreizügigkeit in der EU, die wichtigste Norm, die es Unionsbürgern (Rn 28) ermöglicht, sich in andere Mitgliedstaaten zu begeben und dort zu leben.1 Ihre Rechtsgrundlage ist Art 45 AEUV. Die Vorschrift ist ebenso wie die anderen Grundfreiheiten unmittelbar anwendbar.2 Sie gewährt das Recht auf Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat und in diesem Zusammenhang zugleich ein Einreise- und Aufenthaltsrecht (Rn 4 ff). Allerdings folgen Freizügigkeitsrechte auch aus anderen Grundfreiheiten: Aus der Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV) für Personen, die auf Dauer in einem anderen Mitgliedstaat einer selbständigen Tätigkeit nachgehen wollen, und aus der Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV), weil die aktive Dienstleistungsfreiheit einen vorübergehenden Aufenthalt des Leistungserbringers und die passive Dienstleistungsfreiheit einen vorübergehenden Aufenthalt des Leistungsempfängers in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsstaat voraussetzen3 (zur Abgrenzung, vgl Rn 35). Freizügigkeit steht nach allen genannten Normen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Betätigung und erschien deshalb lange Zeit lediglich als Begleitrecht der Marktfreiheiten. Das hat sich geändert mit dem Mitte der achtziger Jahre verstärkt einsetzenden Bemühen um Herstellung eines Binnenmarktes und vor allem mit der Schaffung der Europäischen Union.4 Denn im Binnenmarkt sollen sich Personen frei bewegen können, ohne dass es auf den Zweck der Bewegung ankommt. Deshalb wurden durch Sekundärrecht neue Freizügigkeitsrechte geschaffen, und zwar zunächst für Rentner und Studenten, dann auch für alle übrigen Personen.5 Mit dem Maastrichter Vertrag wurde ein 1 Auch der Schutzbereich der Freizügigkeitsgarantie des Art 11 GG erfasst das Recht, Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, vgl BVerfGE 2, 266, 273 ff; daneben nach überwiegender Meinung das Recht zur Einreise in das, aber nicht zur Ausreise aus dem Bundesgebiet, vgl BVerfGE 6, 32, 34 ff; näher dazu Gusy in: v Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg) Bonner Grundgesetz-Kommentar Bd 1, 6. Aufl 2010, Art 11 Rn 36 ff. zu Art 11 GG und dessen historischem Hintergrund ausf Ziekow Über Freizügigkeit und Aufenthalt, 1997. 2 Vgl nur EuGH, Slg 1974, 1337, Rn 5 ff – Van Duyn; → § 7 Rn 7. 3 Grundlegend zur passiven Dienstleistungsfreiheit EuGH, Slg 1984, 377, Rn 16 f – Luisi u Carbone. 4 Vgl zur Entwicklung Becker EuR 1999, 522 ff. 5 Genauer: für die aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätigen, RL 90/365; für Studenten RL 93/96 (als Neuerlass der RL 90/366); für alle übrigen Personen RL 90/364. Diese Einzelrichtlinien wurden mit Wirkung vom 30.4.2006 aufgehoben und inhaltlich zusammengefasst durch die RL 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer

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neuer Teil über die Unionsbürgerschaft in den EGV eingefügt (Art 17 ff EGV bzw 20 AEUV) Damit erhielt das allgemeine Freizügigkeitsrecht eine (unions-) verfassungsrechtliche Grundlage (jetzt Art 21 AEUV).6 Dieses Recht ist gegenüber den speziellen wirtschaftsbezogenen Freizügigkeitsrechten und damit auch gegenüber Art 45 AEUV subsidiär.7 Art 21 AEUV ist unmittelbar anwendbar.8 Dabei bleiben die sekundärrechtlichen Beschränkungen beachtlich.9 Im Übrigen ist die Entwicklung hin zu einem einheitlichen Freizügigkeitsrecht klar erkennbar.10

I. Schutzbereich 1. Vorbemerkung 3

Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit spielen auch Art 15 GRCh und das sekundäre Unionsrecht eine wichtige Rolle. Schon vor Ablauf der im EWGV vorgesehenen Übergangszeit wurden die Gemeinschafts- bzw Unionsrechtsakte erlassen, die wegen der verschiedenen ausländerrechtlichen Bestimmungen in den Mitgliedstaaten erforderlich erschienen, um die grenzüberschreitende Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte zu ermöglichen.11 Bis heute von Bedeutung ist neben der bereits genannten Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38)12 die Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (VO 492/2011)13.14 Diese Bestimmungen konkretisieren zum Teil den Schutzbereich und die Schranken des Art 45 AEUV, zum Teil gehen sie über die Vertragsbestimmung inhaltlich hinaus. Sie

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Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten; vgl dazu Hailbronner ZAR 2004, 259 ff. Vgl a Art 45 GRCh, der allerdings im Zusammenhang mit Art 52 II GRCh gelesen werden muss. Vgl zu Art 21 AEUV a Scheuing EuR, 2003, 744 ff; Schönberger Unionsbürger, 2005, 318 ff; Wollenschläger Freiheit ohne Markt, 2007, 126 ff, vgl auch die Beiträge in Beiheft 1/2007 zu EuR. Vgl EuGH, Slg 1999, I-11 ff – Calfa. In Verbindung mit Art 18 AEUV verleiht die Unionsbürgerschaft jedenfalls Rechte im Aufenthalt, vgl dazu EuGH, Slg 1998, I-2691 ff – Martínez Sala; Slg 2001, I-6193 ff – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1; Slg 2004, I-7573 ff – Trojani. Den Charakter des Art 18 EGV bzw jetzt 21 AEUV als Grundfreiheit betonend EuGH, Slg 2000, I-9265, Rn 23 f – Yiadom. Zur Rspr a Castro Oliveira CMLR (2002), 77, 78 ff. Vgl die Bezugnahme auf Durchführungsvorschriften in Art 21 AEUV; EuGH, Slg 2000, I-2623, Rn 30 ff – Kaba; Slg 2008, I-5959 ff – Förster. Vgl RL 2004/38 (Fn 5). Vgl zur Entwicklung nur Wölker/Grill in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 40 EGV Rn 3 ff. Vgl Fn 5. Die Richtlinien über die Aufhebung von Aufenthaltsbeschränkungen (insb RL 68/360 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft, RL 73/148 zur Aufhebung der Reiseund Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs) und über den ordre public Vorbehalt (RL 64/221 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind) wurden mit Wirkung vom 30.4.2006 durch RL 2004/38 aufgehoben. VO 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ersetzt VO 1612/68). VO 1251/70 der Kommission über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben wurde nach Schaffung der RL 2004/38 durch VO 635/2006 aufgehoben.

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sind ihrerseits im Lichte der Grundfreiheit auszulegen,15 und ihr enger Zusammenhang zur Arbeitnehmerfreizügigkeit legt es nahe, sie im Folgenden bei der Beschreibung von Schutzbereich und Schranken mit zu berücksichtigen.16 Zu beachten ist allerdings, dass der Anwendungsbereich des Sekundärrechts von jenem des Art 45 AEUV abweichen kann; das Unionsrecht enthält insofern unterschiedliche Arbeitnehmerbegriffe.17

2. Sachlicher Schutzbereich a) Arbeitnehmereigenschaft

Fall 1: (EuGH, Slg 1989, 1621 – Bettray) Der deutsche Staatsangehörige B, der bereits 1980 in die Niederlande eingereist war, wurde 1983 wegen seiner Drogenabhängigkeit nach dem Gesetz über die soziale Arbeitsbeschaffung für einen unbefristeten Zeitraum in einer gemeindlichen Arbeitsorganisation gegen Entgelt zur Verrichtung bestimmter Dienste eingestellt. Die Tätigkeit diente der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und sollte B die Gelegenheit geben, unter Bedingungen zu arbeiten, die soweit wie möglich auf das abgestimmt sind, was für die Ausübung entgeltlicher Arbeit unter normalen Bedingungen üblich ist. Als B eine Aufenthaltserlaubnis beantragte, wurde dieser Antrag von den niederländischen Behörden abgelehnt. B sei nicht als Arbeitnehmer anzusehen und könne deshalb aus Art 45 AEUV kein Aufenthaltsrecht ableiten. Bei seiner Tätigkeit handele es sich um eine Beschäftigung eigenen Typs mit sozialem Charakter, die Produktivität von B sei gering und die Entlohnung, die B erhalte, müsse dementsprechend zum großen Teil aus öffentlichen Mitteln gezahlt werden.

Für die Bestimmung des sachlichen (und nicht nur des persönlichen) Schutzbereichs von 45 AEUV besitzt der Begriff des Arbeitnehmers zentrale Bedeutung.18 Nach stRspr des EuGH handelt es sich um einen unionsrechtlichen Begriff, der aus sich heraus auszulegen ist. Im Grunde genommen ist das selbstverständlich, wenn man der Grundannahme folgt, dass das Unionsrecht eine autonome Rechtsordnung darstellt. Weil aber in den nationalen Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten ebenfalls der Arbeitnehmerbegriff bekannt und die Versuchung deshalb groß ist, nationale Interpretationsansätze zu übernehmen, sah sich der EuGH immer wieder zu der Feststellung veranlasst, die nationalen Behörden und Gerichte dürften bei der Anwendung des Art 45 AEUV keine eigenen, zusätzlichen Voraussetzungen verlangen.19 Ein zweiter, nicht nur für den Arbeitnehmerbegriff wichtiger Auslegungsgrundsatz besagt, dass Art 45 AEUV nicht einschränkend, sondern im Hinblick auf die grundlegende Bedeutung der Grundfreiheit und die Vertragsziele weit auszu-

15 Vgl bereits EuGH, Slg 1976, 497, Rn 24 ff – Royer. 16 Ohne dass das Sekundärrecht den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten beschränken könnte, vgl dazu EuGH, Slg 2000, I-6623, Rn 29 f – Hocsman. Zur konkretisierenden Wirkung a Weatherill/ Beaumont EU Law, 3. Aufl 1999, 626 ff. 17 So liegt zB der Sozialrechtskoordinierung durch VO 883/2004 ein eigener, auf die nationalen Sozialleistungssysteme Bezug nehmender Arbeitnehmerbegriff zugrunde, der zum Teil weiter, zum Teil enger als Art 45 AEUV ist. Vgl aber a zur parallelen Auslegung, soweit keine ausdrücklichen Abweichungen bestehen, EuGH, Slg 1995, I-4741, Rn 18 ff – Mengner. 18 Vgl dazu auch Colneric FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 385 ff; Ziegler Arbeitnehmerbegriffe im Europäischen Arbeitsrecht, 2011, 124 ff. 19 Vgl nur EuGH, Slg 1982, 1035, Rn 11 ff – Levin; Slg 1988, 3205, Rn 22 ff – Brown.

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legen ist:20 Nach Ansicht des EuGH kommt es darauf an, den Freizügigkeitsbestimmungen zu voller Wirksamkeit zu verhelfen21 (effet-utile-Grundsatz). Arbeitnehmer zeichnen sich dadurch aus, dass sie (1) eine wirtschaftliche Leistung erbringen, (2) unselbständig tätig werden und (3) für ihre Tätigkeit eine Vergütung als Gegenleistung erhalten, ohne dass (4) eine Qualifizierung ihrer Tätigkeit als sittenwidrig den Schutzbereich verschließt. (1) In dem Erfordernis der wirtschaftlichen Leistung kommt der allgemeine Bezug aller Grundfreiheiten zu wirtschaftlichen Tätigkeiten zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu stehen rein soziale22, eventuell auch kulturelle und sportliche Tätigkeiten. Allerdings darf diese Begrenzung nicht so verstanden werden, dass bestimmte Sektoren als Ganze von der Anwendung der Grundfreiheiten ausgeschlossen wären. Ausnahmen bestehen vielmehr nur dann, wenn die konkrete Tätigkeit nicht in einem wirtschaftlichen Austauschverhältnis erfolgt.23 So ist etwa die Beschäftigung bei einem Sozialversicherungsträger natürlich eine Arbeitnehmertätigkeit. Der Umstand, dass in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen wie dem Sport und der Kultur Besonderheiten bestehen oder dass bestimmte Berufe wegen ihres Gemeinwohlbezugs besonderen Regulierungen unterliegen, grenzt zudem den Schutzbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht ein, sondern kann höchstens im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen eine Rolle spielen. Dementsprechend können Profisportler24 und für religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften Tätige25 ebenso Arbeitnehmer sein wie Rechtsanwälte und Ärzte.26 Anderes dürfte für ehrenamtliche Tätigkeiten gelten, selbst wenn eine Aufwandsentschädigung gezahlt wird. Noch offen ist die Abgrenzung bei Amateursportlern.27 Der Status, den ein Erwerbstätiger besitzt (Arbeiter oder Angestellter, Tätigkeit in der Privatwirtschaft oder im öffentlichen Dienst, vgl auch Rn 27) oder der Umfang der Tätigkeit und deren Produktivität (vgl auch Rn 10) spielen keine Rolle. Der EuGH verlangt nur, dass es sich um eine „tatsächliche und wirtschaftliche Tätigkeit“ handeln muss, die sich nicht als „völlig untergeordnet und unwesentlich“ darstellt.28 Dafür genügt unproblematisch eine Teilzeittätigkeit und jede andere fremdnützige Betätigung; Abgrenzungsprobleme hängen in erster Linie mit den weiteren Voraussetzungen der Weisungsgebundenheit und der Entgeltlichkeit zusammen.

20 Vgl EuGH, Slg 1986, 1741, Rn 13 ff – Kempf; Slg 1986, 2121, Rn 16 ff – Lawrie-Blum; Slg 2003, I-13187, Rn 23 ff – Ninni-Orasche. 21 EuGH, Slg 1982, 1035, Rn 15 ff – Levin: „volle Wirkungskraft“. 22 Zur Sicherungsfunktion von Sozialleistungsträgern nur EuGH, Slg 2002, I-691 ff – INAIL = JK 2002, EGV Art 81/2. 23 Der Schutz ganzer Einrichtungen wie etwa der bestehenden Sozialversicherungssysteme kann nur über eine Eingrenzung der Beschränkungsverbote oder großzügigere Rechtfertigungsanforderungen erfolgen, und selbst die nur auf einzelne Rechtsverhältnisse bezogene Herausnahme sozialer Tätigkeiten aus dem Anwendungsbereich ist nicht unumstritten. 24 Vgl EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave; Slg 1995, I-4921 ff – Bosman; Slg 2000, I-2681 ff – Lehtonen; Slg 2010, I-2177 – Olympique Lyonnais = JK 2010, AEUV Art 45/3; dazu Eichel EuR 2010, 685 ff; Persch NZA 2010, 986 ff. 25 Vgl EuGH, Slg 1988, 6159, Rn 11 ff – Steymann. 26 Vgl sektorale Anerkennungsrichtlinie für Ärzte RL 93/16. 27 Vgl bezogen auf die Dienstleistungsfreiheit EuGH, Slg 2000, I-2549 ff – Deliège. 28 EuGH, Slg 1982, 1035, Rn 17 ff – Levin.

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Die Tätigkeit muss unselbständig ausgeübt werden, was im Sinne einer Weisungsgebundenheit zu verstehen ist. Dieses Merkmal dient zugleich der Abgrenzung zur Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, die jeweils eine selbständige Erwerbstätigkeit voraussetzen (vgl auch Rn 35).29 Der EuGH hat dazu allgemein ausgeführt, die Beurteilung hänge „von der Gesamtheit der jeweiligen Faktoren und Umstände ab, die die Beziehungen zwischen den Parteien charakterisieren, wie etwa die Beteiligung an den geschäftlichen Risiken des Unternehmens, die freie Gestaltung der Arbeitszeit und der freie Einsatz eigener Hilfskräfte“.30 Das bezieht sich auf die Unterscheidung von unternehmerischem Handeln, das seinerseits insbesondere durch die Übernahme des Unternehmensrisikos geprägt ist. Nach der Rechtsprechung schließt zB eine Entlohnung im Wege einer Ertragsbeteiligung die Arbeitnehmereigenschaft nicht aus,31 während es an der notwendigen „Unterordnung“ fehlt, wenn ein Geschäftsführer zugleich alleiniger Gesellschafter ist.32 Auch in anderen Konstellationen bereitet eine gelockerte Weisungsgebundenheit Schwierigkeiten. Vollkommen zu Recht hat der EuGH etwa darauf hingewiesen, bei Familienarbeitsverhältnissen komme es auf die tatsächliche Ausführung an.33 Auf die Klarstellung der entscheidenden Indizien hat er aber verzichtet, wie überhaupt seine Judikatur insgesamt gesehen hinsichtlich der Abgrenzung zwischen unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit – verglichen mit der arbeits- und sozialrechtlichen Rechtsprechung in Deutschland – spärlich ist. Da das Kriterium der Weisungsgebundenheit beiden Rechtsordnungen bekannt und für die Qualifizierung einer Tätigkeit als unselbständige von wesentlicher Relevanz ist, lässt sich – bei aller gebotenen Vorsicht (vgl Rn 4 ff) – die nationale Rechtsprechung aber in der Sache weitgehend übertragen.34 Was die Entlohnung angeht, so wird nicht vorausgesetzt, dass die Gegenleistung der unselbständigen Tätigkeit zur alleinigen Deckung des Lebensunterhalts genügt. Auch muss sie weder den tariflichen Bestimmungen entsprechen noch die Höhe eines vorgesehenen Mindestlohns erreichen; in welcher Form sie gewährt wird, ist unerheblich. Im Zusammenhang mit den großzügig gehandhabten anderen Kriterien kann das aber zu Ergebnissen führen, deren Vereinbarkeit mit der wirtschaftlichen Ausrichtung der Grundfreiheiten auf den ersten Blick zweifelhaft erscheint. Denn für den Arbeitnehmerstatus genügt schon eine geringfügige Tätigkeit von 12 Stunden wöchentlich oder weniger.35 Eine lediglich ganz kurze Beschäftigung gibt jedoch Anlass zu Zweifeln, ob überhaupt eine wirtschaftliche Leistung erbracht wird.36 Die Inanspruchnahme des Art 45 AEUV scheitert allerdings nicht daran, dass öffentliche Mittel zur Existenzsicherung zusätzlich in

29 Im nationalen Recht existiert eine entsprechende Notwendigkeit der Abgrenzung, und zwar im Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht, vgl etwa Hanau/Adomeit Arbeitsrecht, 14. Aufl 2006, 137 ff; Igl/Welti Sozialrecht, 8. Aufl 2007, 70 ff; Tipke/Lang Steuerrecht, 21. Aufl 2013, § 8 Rn 472. 30 EuGH, Slg 1989, 4459, Rn 36 ff – Agegate. 31 EuGH, Slg 1989, 4459, Rn 36 ff – Agegate. 32 EuGH, Slg 1996, I-3089, Rn 26 ff – Asscher. 33 EuGH, Slg 1999, I-3289, Rn 15 ff – Meeusen. 34 Das bestätigen jedenfalls die vom EuGH entschiedenen Fälle, wobei zu beachten ist, dass im Einzelfall auch die gerichtlichen Beurteilungen innerhalb Deutschlands durchaus voneinander abweichen können. Verfolgt man den hier befürworteten Ansatz, bereitet die oft als unklar angesehene Einstufung von leitenden Angestellten keine großen Probleme mehr. 35 Vgl EuGH, Slg 1986, 1741, Rn 12 ff – Kempf; Slg 1989, 2743, Rn 13 ff – Rinner-Kühn; Slg 1995, I-4741, Rn 18 ff – Mengner. 36 Zur beschränkten Dauer von Gelegenheitsarbeiten EuGH, Slg 1992, I-1027, Rn 14 ff – Raulin.

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Anspruch genommen werden müssen;37 bereits untergeordnete Tätigkeiten vermitteln ein Aufenthaltsrecht und einen Anspruch auf Sozialleistungen. Denn Art 45 AEUV enthält keinerlei Einschränkungen, sein Anwendungsbereich würde zu sehr verkürzt, wenn der Erwerb eines ohnehin schwer bestimmbaren Existenzminimums gefordert würde. Im Übrigen entspräche dies auch nicht der Entwicklung hin zu einem allgemeinen Freizügigkeitsrecht (vgl Rn 1 ff). Die Beschäftigung zur Berufsausbildung ist eine Arbeitnehmertätigkeit, ein Studium hingegen nicht.38 Fraglich ist die Situation bei Praktikanten. Sie sind Arbeitnehmer, wenn das Praktikum „unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis durchgeführt wird“; bei der Beurteilung kommt es darauf an, ob die aufgewendete Zeit genügt, um berufliche Fähigkeiten zu entwickeln.39 Grundsätzlich wird die Arbeitnehmereigenschaft nicht durch den Umstand ausgeschlossen, dass eine Tätigkeit als Verstoß gegen die guten Sitten angesehen wird, zumindest, wenn mit dieser Charakterisierung nicht ein vollständiger Ausschluss vom Arbeitsmarkt einhergeht. Daran bestanden im Falle der erwerbsmäßigen Prostitution Zweifel.40 Nachdem der EuGH zunächst lediglich implizit von einem Schutz durch die Grundfreiheiten ausgegangen war,41 hat er später festgestellt, dass es sich bei der Prostitution um eine Erwerbstätigkeit handele, die in den Mitgliedstaaten zwar reglementiert, aber nicht grundsätzlich verboten ist.42 Einschränkungen bedürfen deshalb der Rechtfertigung (Rn 47). Lösung Fall 1: Arbeitnehmer sind in einem Arbeitsverhältnis stehende Personen. Nach stRspr des EuGH besteht das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Im vorliegenden Fall hat B Leistungen erbracht und dafür eine Gegenleistung bekommen, weshalb die Annahme einer Bereichsausnahme ausscheidet. Dass es sich um eine bestimmte, gesetzlich ausgeformte Beschäftigung handelte, ist unerheblich. Allerdings verlangt der EuGH, dass auch die konkret ausgeübte Tätigkeit als „tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit“ anzusehen ist. Dagegen sprechen der Zweck der Beschäftigung und deren Durchführung. Denn dieser dient der Wiedereingliederung des B, soll B also in die Lage versetzen, später eine reguläre Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Die im Rahmen des Gesetzes über die soziale Arbeitsbeschaffung eingesetzten Personen werden nicht nach ihren Fähigkeiten ausgesucht, sondern die von ihnen auszuführenden Verrichtungen vielmehr den vorhandenen Fähigkeiten angepasst. Schließlich wurde die gesamte gemeindliche Arbeitsorganisation nur zu dem Zweck geschaffen, die Arbeitsfähigkeit der beschäftigten Personen wiederherzustellen. B ist deshalb kein Arbeitnehmer iSv Art 45 AEUV.43

37 EuGH, Slg 1986, 1741, Rn 14 ff – Kempf. 38 Anders bei Stipendienvertrag mit weisungsabhängiger Tätigkeit, vgl EuGH, Slg 2008, I-5939, Rn 32 ff – Raccanelli m Anm Repasi EuZW 2008, 529. 39 EuGH, Slg 1992, I-1071, Rn 15 ff – Bernini. 40 Vgl BVerwGE 60, 284, 289 ff. 41 EuGH, Slg 1982, 1665, Rn 5 ff – Adoui. 42 EuGH, Slg 2001, I-8615 – Jany = JK 2002, EGV Art 43/2. 43 Nicht gegen eine Arbeitnehmereigenschaft spricht der Umstand, dass das Entgelt aus öffentlichen Mitteln gezahlt wird, vgl zu Beschäftigungsverhältnissen im Rahmen von damals noch § 19 BSHG

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b) Zeitliche Erstreckung Arbeitnehmer ist, wer in einem Arbeitsverhältnis steht. Damit erstreckt sich der durch Art 45 AEUV gewährte Schutz auf die Dauer der unselbständigen Erwerbstätigkeit. Was aber gilt, wenn ein Arbeitsverhältnis erst begründet werden soll (1), oder umgekehrt, wenn das Arbeitsverhältnis beendet worden ist (2)? Art 45 III lit a AEUV gewährt den Arbeitnehmern ausdrücklich das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben. Ganz offensichtlich muss also ein Arbeitsverhältnis noch nicht bestehen, sondern dessen Abschluss nur beabsichtigt sein. Garantiert wird damit der freie Zugang zu einer Beschäftigung. Das umfasst ein Einreise- und Aufenthaltsrecht und das Recht auf Gleichbehandlung bei der Stellenbewerbung44 (Rn 19 ff), ohne dass die Einreise im Hinblick auf bestimmte, bereits ausgeschriebene Stellenangebote erfolgen müsste. Dass für die Dauer von jedenfalls drei Monaten in einem anderen Mitgliedstaat Arbeit gesucht werden darf, ergibt sich aus der RL 2004/38.45 Auf einen kürzeren Zeitraum müssen sich Stellensuchende nicht verweisen lassen,46 eine längere Frist ist jedoch möglich.47 Der EuGH hat die Annahme eines Mitgliedstaates, dass eine Arbeitsaufnahme nach einer vergeblichen Stellensuche über sechs Monate hin scheitert, akzeptiert.48 Entscheidend bleibt aber immer, ob im Einzelfall noch mit einem Erfolg bei der Stellensuche gerechnet werden kann. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses haben Arbeitnehmer ein Verbleiberecht gemäß Art 45 III lit d AEUV, das durch Art 17 RL 2004/38 näher ausgestaltet wird (vgl Rn 3). Der grundlegende Gedanke ist der, dass Beschäftigte auch nach Ausscheiden aus dem Arbeitsleben in ihrem gewohnten Lebensumfeld bleiben können sollen. Dementsprechend knüpft das Verbleiberecht an eine Aufgabe der Beschäftigung wegen Erreichens des Rentenalters oder Eintritts einer Erwerbsunfähigkeit an und setzt eine vorangegangene Beschäftigung von einer bestimmten Dauer voraus.49 Wird ein Wanderarbeitnehmer

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[§ 16 Abs 2 SGB II] (im konkreten Fall mit einer vollen wöchentlichen Arbeitszeit und einem Nettoeinkommen, das einer vergleichbaren Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt entsprach) EuGH, Slg 1998, I-7747, Rn 25 ff – Birden. Vieles spricht dann auch für einen Anspruch auf steuerliche und soziale Gleichbehandlung (dazu nachfolgend Rn 19 ff). Zur Stellensuche a Art 5 VO 492/2011 (Fn 13). Das bedeutet aber nicht, dass nach erfolgloser Arbeitssuche bedürftigkeitsabhängige Sozialleistungen nicht an ein Wohnsitzerfordernis (als zur Rechtfertigung dienendes Allgemeininteresse) geknüpft werden dürften, sofern dieses die Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt betrifft; damit wird ein Sozialtourismus unter dem Vorwand der Arbeitssuche ausgeschlossen; vgl EuGH, Slg 2004, I-2703, Rn 51 ff – Collins m Anm Becker ZESAR 2004, 496. Nach Art 6 Abs 1 der RL steht jedem Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht für die Dauer von höchstens drei Monaten zu bzw nach Art 7 Abs 1 lit b der RL bei Vorliegen ausreichender Existenzmittel und umfassendem Krankenversicherungsschutz auch darüber hinaus. Auch nach Ablauf eines 3-Monats-Zeitraums darf nicht automatisch eine Aufenthaltsbeendigung erfolgen, EuGH, Slg 1997, I-1035, Rn 18 ff – Kommission/Belgien. Vgl auch Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 53 ff. EuGH, Slg 1991, I-745, Rn 21 ff – Antonissen. Vgl näher Art 17 RL 2004/38 (Fn 5), der ein Verbleiberecht auch unter bestimmten Voraussetzungen für den Fall der Verlagerung der unselbständigen Erwerbstätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat vorsieht.

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arbeitslos, so darf er im Hinblick auf seine berufliche Wiedereingliederung nicht anders behandelt werden als inländische Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage.50 Seine Einstufung als Arbeitnehmer und insbesondere die Dauer seines weiteren Aufenthaltsrechts hängen von den Umständen ab und sind auch sekundärrechtlich nicht eindeutig geregelt.51 Wenn eine Beschäftigung aus anderen als den vorgenannten Gründen aufgegeben wird, entfällt der Arbeitnehmerstatus, die mit ihm verbundenen Rechte gehen verloren. Von diesem Grundsatz bestehen aber Ausnahmen.52 Aus dem Umstand, dass ausländische Arbeitnehmer ein Recht auf Zugang zu Berufsschulen und Umschulungseinrichtungen besitzen,53 hat der EuGH geschlossen, auch Studenten könnten ausnahmsweise die Vergünstigungen für Arbeitnehmer in Anspruch nehmen, wenn zwischen dem Studium und einer zuvor ausgeübten Berufstätigkeit ein Zusammenhang besteht.54 Das sichert, grundsätzlich unabhängig von der Dauer der Beschäftigung,55 ein Aufenthaltsrecht und ein Recht auf Förderung der Hochschulausbildung. Fall 2: (EuGH, Slg 1999, I-3289 – Meeusen) Die belgische Staatsangehörige M lebt in Belgien, übt aber in den Niederlanden eine Erwerbstätigkeit aus, und zwar für eine dort ansässige Gesellschaft, deren Geschäftsführer und einziger Gesellschafter ihr Ehemann ist. Ihre Tochter T, die 18 Jahre alt ist und der M Unterhalt gewährt, lebt ebenfalls in Belgien und beginnt dort ein Studium. Sie beantragt bei den zuständigen Behörden eine Förderung durch eine niederländische Studienbeihilfe, die den Grundbedarf von Studierenden abdeckt. Die Förderung wird verweigert mit dem Hinweis darauf, ihre Voraussetzung sei entweder die niederländische Staatsangehörigkeit oder ein Wohnort in den Niederlanden.

c) Geschützte Betätigungen 19

Ganz grundsätzlich erfordert der Schutz des Art 45 AEUV – wie die Inanspruchnahme aller anderen Grundfreiheiten auch – ein grenzüberschreitendes Element. Auf rein innerstaatliche Sachverhalte ist die Norm nicht anwendbar.56 Daraus folgt zugleich, dass sie Inländerdiskriminierungen nicht erfasst.57 Im Rahmen des Art 45 AEUV liegt die Grenzüberschreitung darin, dass sich eine Person in einen anderen Mitgliedstaat begibt (bzw begeben will), um dort zu arbeiten. Ob dies auf Dauer geschieht, der Beschäftigte also im Beschäftigungsstaat seinen Wohnsitz nimmt, oder ob er in seinem Heimatstaat wohnen 50 Art 7 I VO 492/2011 (Fn 13). 51 Einzelheiten sind umstr, insb auch, ob zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit zu differenzieren ist; vgl Weerth in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, 6. Aufl 2012, Art 45 AEUV Rn 63; näher Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 45 AEUV Rn 101 ff. Vgl zur aufenthaltsrechtlichen Stellung bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit Art 7 III RL 2004/38 (Fn 5). 52 Insb für die Aufrechterhaltung der aus dem Arbeitsverhältnis erworbenen Rechte, vgl EuGH, Slg 1997, I-6689, Rn 40 ff – Meints; Slg 1998, I-5325, Rn 41 ff – Kommission/Frankreich: Urt v 19.6.2014, C-507/12, Rn 40 ff – Saint Prix. 53 Art 7 III VO 492/2011 (Fn 13). 54 EuGH, Slg 1988, 3161, Rn 35 ff – Lair; vgl zur Abgrenzung a Slg 1992, I-1027 ff – Raulin. 55 Allerdings unter dem Vorbehalt, dass Missbrauch ausgeschlossen ist, EuGH, Slg 1988, 3161, Rn 43 ff – Lair; vgl a Slg 1988, 3205 Rn 22 ff – Brown. 56 Vgl nur EuGH, Slg 1992, I-341 ff – Steen I; Slg 1998, I-4239 ff – Kapasakalis. 57 Das ist keineswegs unstr, muss hier aber nicht vertieft werden; einschränkend Epiney in: Bieber/ Epiney/Haag, EU, § 10 Rn 11; näher dazu → § 7 Rn 23.

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bleibt und in den Beschäftigungsstaat pendelt, dh als Grenzarbeitnehmer tätig wird,58 ist unerheblich. Zudem muss es sich nicht unbedingt um die Beschäftigung bei einem ausländischen Unternehmen handeln; insbesondere genügt auch die Aufnahme einer Tätigkeit bei einer internationalen Organisation.59 Art 45 AEUV schützt sowohl vor Maßnahmen eines fremden Mitgliedstaates als auch des eigenen Heimatstaates, der seinerseits die grenzüberschreitende Beschäftigung grundsätzlich nicht behindern darf (vgl Rn 41 ff).60 Auf den ersten Blick scheint die Vorschrift differenzierte Regelungen zu enthalten, die aber zusammenspielen. Ausgehend von der allgemeinen und umfassenden Verbürgung in Abs 1, enthalten ihre Abs 2 und 3 als Konkretisierungen verschiedene Rechte: das Diskriminierungsverbot in Bezug auf die Beschäftigungsbedingungen (1), das durch einen Anspruch auf steuerliche und soziale Gleichbehandlung ergänzt wird (2), und die begleitenden Rechte auf Einreise und Aufenthalt (3). Vor dem wanderungsbedingten Verlust von Rechten der sozialen Sicherheit soll die auf der Grundlage des Art 48 AEUV geschaffene Koordinierung der nationalen Sozialleistungssysteme schützen (4). Bezogen auf die Beschäftigung, Entlohnung und die sonstigen Arbeitsbedingungen müssen die auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlungen abgeschafft werden (Art 45 II AEUV; vgl auch Art 15 Abs 3 GRCh). Dieses Diskriminierungsverbot, das sich auch auf Tarif- und Einzelverträge bezieht,61 umfasst jeden Aspekt der Berufstätigkeit. Verboten sind etwa eine Arbeitserlaubnispflicht für Wanderarbeitnehmer62 und der Vorrang der Arbeitsvermittlung eigener Staatsangehöriger,63 die Schlechterstellung bei Kündigung und Wiedereingliederung,64 die Vorenthaltung von Nebenleistungen,65 die Benachteiligung bei Aufstiegsmöglichkeiten,66 die Nichtberücksichtigung ausländischer Beschäftigungszeiten bei Zusatzrenten67 oder durch Befristung von Arbeitsverhältnissen68. Bei reglementierten Berufen ist müssen die im Ausland erworbenen Qualifiaktionen berücksichtigt werden.69 Das Erfordernis der Gleichbehandlung bezieht sich

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Zum Begriff Art 1 lit f VO 883/2004 (Fn 17). Vgl EuGH, Slg 2000, I-8081 ff – Ferlini. Vgl nur EuGH, Slg 1994, I-50, Rn 9 ff – Scholz. Zur Nichtigkeit entgegenstehender Absprachen Art 7 IV VO 492/2011 (Fn 13); zur unmittelbaren Anwendbarkeit der günstigeren Bestimmungen EuGH, Slg 1998, I-47 ff – Schöning. Vgl § 284 I SGB III: (1) Staatsangehörige der Staaten, die nach dem Vertrag vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (BGBl II 2006, 1146, 1148) der Europäischen Union beigetreten sind, und deren freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige dürfen eine Beschäftigung nur mit Genehmigung der Bundesagentur ausüben und von Arbeitgebern nur beschäftigt werden, wenn sie eine solche Genehmigung besitzen, soweit nach Maßgabe des EU-Beitrittsvertrags abweichende Regelungen als Übergangsregelungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit anzuwenden sind. Vgl zum Zugang zu Stellen näher Art 1–6 VO 492/2011 (Fn 13). Vgl Art 7 I VO 492/2011 (Fn 13). Ohne Unterscheidung von vorgeschriebenen und freiwilligen Leistungen, vgl EuGH, Slg 1974, 153 ff – Sotgiu. EuGH, Slg 1998, I-1095 ff – Kommission/Griechenland; Slg 1998, I-47 ff – Schöning. EuGH, Slg 2011, I-1379 – Casteels. EuGH, Slg 1993, I-4309 ff – Allué II; Slg 1993, I-5185 ff – Spotti. Daraufhin, ob sie den im Inland verlangten Qualifikationen entsprechen; EuGH, Slg 1991, I-2357 – Vlassopoulou; Slg 2003, I-13467 – Morgenbesser; zur Zulassung zum juristischen Vorbereitungsdienst Slg 2009, I-11677 – Pes´ la = JK 2010, AEUV Art 45/2.

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auch auf die Zugehörigkeit zu Gewerkschaften und die Ausübung gewerkschaftlicher Rechte.70 Art 7 II VO 492/2011 verbürgt Arbeitnehmern, die Unionsbürger sind, ein grundlegendes soziales Recht, nämlich den Anspruch auf „die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer“.71 Zu den steuerlichen Vergünstigungen zählen etwa die Abzugsfähigkeit von Ausgaben,72 die Steuerrückerstattung73 oder das Ehegattensplitting,74 wobei es eine wichtige Rolle spielt, in welchem Staat die Einkünfte besteuert werden. Keineswegs ist jede Ungleichbehandlung von in- und ausländischen Arbeitnehmern bei der Erhebung direkter Steuern ausgeschlossen; insb können als Folge der beschränkten Steuerpflicht auch die Möglichkeiten zur Berücksichtigung steuermindernder Tatbestände begrenzt werden.75 Die Rechtsprechung des EuGH zu den sozialen Vergünstigungen ist kaum mehr überschaubar.76 Deren Begriff wird vom Gerichtshof weit ausgelegt und erfasst „alle Vergünstigungen, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnortes im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern.“77 Einbezogen sind damit ua Ausbildungsbeihilfen,78 Pflegegeld,79 die Förderung einer ergänzenden Altersvorsorge,80 Hilfen zum Lebensunterhalt wie die Sozialhilfe81 oder ein Mindesteinkommen,82 Familienbeihilfen einschließlich etwa von Fahrpreisermäßigungen83 etc. Die

70 Art 8 VO 492/2011 (Fn 13); dazu etwa EuGH, Slg 1994, I-1891 ff – Kommission/Luxemburg. 71 Ob der Anspruch auch für Arbeitslose und Arbeitsuchende gilt, ist nicht unumstritten, vgl Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 45 AEUV Rn 292; soweit der Arbeitnehmerstatus auf diese Personen erstreckt wird, ist die Geltung aber schon zwingende Konsequenz und für eine Differenzierung kein Platz. Im Übrigen verliert die Diskussion durch das allgemeine Freizügigkeitsrecht (vgl Rn 2 ff) an Bedeutung. Zur Berechtigung der Familienangehörigen unten Rn 28 ff; vgl ferner Cordewener Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002. 72 Vgl EuGH, Slg 1992, I-249 ff – Bachmann. 73 Vgl EuGH, Slg 1990, I-1779 ff – Biehl; Slg 1995, I-225 ff – Schumacker. 74 Vgl EuGH, Slg 2000, I-3337 ff – Zurstrassen. 75 Dazu und zu den Grenzen dieses Grundsatzes bei fehlenden nennenswerten Einkünften im Wohnsitzstaat EuGH, Slg 1995, I-225 ff – Schumacker; Slg 2002, I-11819 ff – de Groot. 76 Ausf Überbl bei Wölker/Grill in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 64 ff. 77 Vgl nur EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 25 ff – Martínez Sala; gegenüber der VO 883/2004 (Fn 17) (vgl nachfolgend im Text) ist keine Abgrenzung mehr erforderlich; vgl aber a Steinmeyer in: Fuchs (Hrsg) Europäisches Sozialrecht, 6. Aufl 2013, Art 7 VO 493/2011 Rn 4 ff. 78 Vgl EuGH, Slg 1988, 5589 ff – Matteucci; vgl zu Überbrückungsbeihilfen Slg 2004, I-08471 – Merida; zu einer Wohnsitzklausel für die Finanzierung der Hochschulausbildung im Ausland EuGH, NVwZ-RR 2012, 697 – Kommission/Niederlande. 79 Vgl EuGH, Slg 2006, I-1771, Rn 20 ff – Hosse. 80 EuGH, Slg 2009, I-7811 – Kommission/Deutschland = JK 2010, AEUV Art 45/1; dazu Krebber EuR 2010, 822 ff. 81 Vgl dazu a Art 24 II RL 2004/38; zu den Leistungen nach dem SGB II EuGH, Slg 2009, I-4585 – Vatsouras u Koupatantze; dazu Schreiber info also 2009, 195 ff; zum Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsrecht Welte ZAR 2009, 229 ff, mit VO 883/2004 Frings ZAR 2012, 317 ff. 82 Vgl EuGH, Slg 1987, 2811 ff – Lebon. 83 EuGH, Slg 1975, 1085 ff – Cristini.

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Vergünstigungen müssen aber keineswegs in einer Geld- oder Sachleistung, sondern können auch in der Einräumung sonstiger Positionen bestehen; so zählen zu ihnen das Recht zur Nutzung der eigenen Sprache vor Gericht84 und das Aufenthaltsrecht für nichteheliche Partner85. Ausgenommen bleiben aber staatsbürgerliche und an eine besondere Vorgeschichte im Heimatstaat anknüpfende Rechte.86 Gesondert geregelt ist die Teilhabe am Wohnungsmarkt.87 Gemäß Art 45 III lit b und c AEUV haben Arbeitnehmer das Recht, sich zur Stellensuche frei in den Mitgliedstaaten zu bewegen und sich dort zur Ausübung der Beschäftigung aufzuhalten. Die Garantie des Zugangs zur Beschäftigung schließt die Ausreise aus dem Heimatstaat und den Zugang zum Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten notwendig mit ein. Näher ausgestaltet werden die Einreise- und Aufenthaltsrechte durch RL 2004/38 (vgl Rn 3); der Durchführung in Deutschland dient das Freizügigkeitsgesetz/ EU.88 Danach darf die Vorlage eines Ausweises oder Passes, nicht aber ein Visum oder eine gleichartige Formalität verlangt werden.89 Zur Bestätigung des Aufenthaltsrechts wird eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt, die nur deklaratorischen Charakter hat.90 Welche Nachweise für ihre Ausstellung verlangt werden dürfen, ist sekundärrechtlich geregelt.91 Wird die Einreise oder die Erteilung bzw Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis verweigert, sind besondere verfahrensrechtliche Garantien vorgesehen.92 Soziale Sicherungssysteme weisen einen engen Bezug zum staatlichen Hoheitsgebiet auf: Die Einbeziehung in die Systeme richtet sich nach einer territorialen Anknüpfung, entweder bezogen auf die Beschäftigung oder den Wohnsitz;93 Leistungsvoraussetzungen 84 EuGH, Slg 1985, 2681 ff – Mutsch. 85 EuGH, Slg 1986, 1283 ff – Reed. Das muss Aufenthaltsrechte für ausländische homosexuelle Lebenspartner ohne weiteres mit einschließen, sofern diese Inländern gewährt werden. Die Mitgliedstaaten bleiben aber berechtigt, bei den Voraussetzungen für einen (auch abgeleiteten) Daueraufenthalt nach Staatsangehörigkeit bzw Aufenthaltsstatus zu differenzieren, vgl EuGH, Slg 2000, I-2623, Rn 30 ff – Kaba. 86 Wie das Wahlrecht und die Kriegsopferfürsorge, vgl Steinmeyer in: Fuchs (Fn 75), Art 7 VO 493/2011 Rn 11 ff. 87 Art 9 VO 492/2011 (Fn 13). 88 BGBl I 2004, 1950. Von einer Umsetzung zu sprechen, wäre insofern zu kurz gegriffen, als das Gesetz auch die unmittelbar aus Art 45 AEUV fließenden Rechte betrifft. 89 Art 5 I RL 2004/38 (Fn 5); sichtvermerkspflichtig können aber Angehörige aus Drittstaaten sein. Die Zulässigkeit von Grenzkontrollen wird nicht durch die Freizügigkeitsbestimmungen an sich in Frage gestellt, sondern erst durch deren Ersetzung durch Außenkontrollen, vgl EuGH, Slg 1999, I-6207, Rn 39 ff – Wijsenbeek; vgl Art 67–71, 77 AEUV und die gestufte Einbeziehung des Schengener Abkommens in das Unionsrecht, dazu Epiney in: Hummer (Hrsg) Die EU nach dem Vertrag von Amsterdam, 1998, 103 ff. Das FreizügigkeitsG/EU enthält in § 5 eine Meldepflicht und in § 8 eine allgemeine Verpflichtung zum Identitätsnachweis für Einreise und Aufenthalt. 90 Vgl bereits EuGH, Slg 1976, 497, Rn 30 ff – Royer. Nicht erlaubnispflichtig ist ein nur dreimonatiger Aufenthalt und der Aufenthalt der Grenzgänger und Saisonarbeitnehmer, Art 6 I RL 2004/38 (Fn 5). 91 Art 8 III RL 2004/38 (Fn 5). 92 Art 15 RL 2004/38 (Fn 5); vgl dazu und zur Verneinung der Frage, ob die Beendigung eines nicht erlaubten, mehrmonatigen Aufenthalts als Einreiseverweigerung anzusehen ist, EuGH, Slg 2000, I-9265, Rn 27 ff – Yiadom. 93 Wichtigste Ausnahme ist die Ausstrahlung bei vorübergehender Auslandstätigkeit, § 4 SGB IV; allerdings sieht Art 12 I VO 883/2004 (Fn 17) eine zeitliche Grenze für diese Fälle der sog Entsendung vor.

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beziehen sich in der Regel auf Vorgänge im Hoheitsgebiet, und der Leistungsexport ist vielfach eingeschränkt, wobei allerdings die jeweiligen Bezüge von der Struktur der Systeme abhängig sind.94 Für Wanderarbeitnehmer können sich dadurch Gefährdungen ihrer sozialen Sicherheit ergeben: Möglicherweise erwerben sie in verschiedenen Beschäftigungsstaaten nur kurze Anwartschaften für die Alterssicherung, die als solche nicht für eine Leistungsberechtigung genügen; oder es werden etwa die Familienverhältnisse im Heimatstaat nicht berücksichtigt, obwohl diese im Beschäftigungsstaat Einfluss auf die Leistungsgewährung haben etc. Um solche freizügigkeitsbedingten Nachteile zu vermeiden, sieht Art 48 AEUV eine Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme vor. Die Zuständigkeit für die soziale Sicherung bleibt bei den Mitgliedstaaten, eine Harmonisierung im Sinne einer Schaffung einheitlicher Voraussetzungen oder Leistungen wird nicht bezweckt. Jedoch sollen die Systeme aufeinander abgestimmt und damit der Verlust von Rechten vermieden werden. Ihrer Bedeutung entsprechend, wurden die ersten Koordinierungsvorschriften schon sehr früh nach völkerrechtlichem Muster geschaffen.95 Heute ist Rechtsgrundlage der Koordinierung die VO 883/200496, die auch Selbständige97 und Beamte98 erfasst, also im Anwendungsbereich über Art 45 AEUV hinausgeht. Sachlich gesehen bezieht sie sich auf die Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft,99 Invalidität, Alter und Tod, Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Arbeitslosigkeit, auf das Sterbegeld sowie die Familienleistungen und -beihilfen.100 Ohne auf Einzelheiten einzugehen,101 bestimmt sie das an94 Dort, wo Eigentumsrechte erworben werden, gehen diese durch einen Gebietswechsel nicht verloren, vgl zu Art 14 GG BVerfGE 51, 1 ff; Schutz vermittelt insofern auch die EMRK, vgl EGMR, JZ 1997, 405 ff – Gaygusuz; dazu Davy ZIAS 2001, 221 ff. 95 VO Nr 3 und Durchführungs-VO Nr 4 aus dem Jahre 1958, nach dem Vorbild der damaligen Sozialversicherungsabkommen und des Abkommens Nr 102 der IAO über die Mindestnormen der sozialen Sicherung, BGBl II 1957, 1322. 96 → Fn 17 und die DurchführungsVO 574/72. 97 Einbezogen auf der Rechtsgrundlage des ex-Art 235 EWGV (Art 352 und 353 AEUV) durch VO 1390/81. 98 VO 1606/98. Zu dem Erfordernis der Einbeziehung EuGH, Slg 1995, I-4033 ff – Vougioukas. 99 Einschließlich der Pflegeversicherung; zur Qualifizierung der Leistungen EuGH, Slg 1998, I-843 ff – Molenaar = JK 98, EGV Art 48 II/1. 100 Ohne dass es darauf ankäme, wie die nationalen Systeme ausgestaltet sind; vgl zur funktionellen Äquivalenz auch EuGH, Slg 1992, I-3423, Rn 16 ff – Paletta I. Für den Anwendungsbereich haben die Mitgliedstaaten Erklärungen abgegeben (Art 9 VO 883/2004 (Fn 17)), die allerdings nur hinsichtlich der positiven Einbeziehung, nicht aber insoweit verbindlich sind, als sie Systeme unerwähnt lassen. Leistungen der sozialen Sicherheit sind solche, die den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt werden, ohne dass im Einzelfall eine in das Ermessen gestellte Prüfung ihres persönlichen Bedarfs erfolgt, und die sich auf die in Art 3 VO 883/2004 genannten Risiken beziehen; vgl zur Einbeziehung des deutschen Erziehungsgeldes EuGH, Slg 1996, I-4895, Rn 20 f – Hoever u Zachow. 101 Vgl für einen Überbl Becker in: Schwarze EUV, Art 48 AEUV Rn 12 ff; näher Fuchs (Fn 75); Hervey European Social Law and Policy, 1998; Haverkate/Huster Europäisches Sozialrecht, 1999; Eichenhofer Sozialrecht der Europäischen Union, 4. Aufl 2010. Sehr vielfältig ist mittlerweile die Rspr des EuGH zu den Koordinierungsvorschriften, was durch eine sachgebietsbezogene Suche unter dem Stichwort „Freizügigkeit“ in CELEX oder der Rechtsprechungsdatenbank des EuGH leicht überprüft werden kann. Dazu die Beiträge in: Schulte/Barwig (Hrsg) Freizügigkeit und Soziale Sicherheit, 1999; zu Familienleistungen EuGH, DÖV 2012, 688 – Hudzinski u Wawrzyniak, sowie Vießmann/Merkel NZS 2012, 572.

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wendbare Recht102 und sieht grob gesagt die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten, die weitgehende Gleichstellung von Auslandssachverhalten103 und den Leistungsexport104 vor. Die VO 883/2004 knüpft nicht mehr an die Arbeitnehmereigenschaft, sondern an die Beschäftigung an, wofür sie auf das nationale Sozialrecht verweist (Art 1 Buchst. a)). Sie bezieht auch selbständig Erwerbstätige ein. Ausschlaggebend ist, ob Unionsbürger, Staatenlose und Flüchtlinge sowie Hinterbliebene dem Sozialrecht eines Mitgliedstaats unterfallen (Art 2). Für die Gewährung von Familienleistungen ist darauf abzustellen, ob eine hinreichend enge Bindung an den betreffenden Mitgliedstaat besteht. Bei fehlendem Wohnsitz (Rn 39) stellt auch ein maßgeblicher Beitrag zum Arbeitsmarkt ein ausreichendes Kriterium für die Integration in die Gesellschaft dar.105 d) Bereichsausnahmen Art 45 IV AEUV enthält – insofern ist der Wortlaut eindeutig – eine Bereichsausnahme: Für die „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“ gilt die Freizügigkeitsgarantie nicht (→ § 7 Rn 67 ff). Bedenkt man, wer in Deutschland, unabhängig von einem bestimmten Status, im öffentlichen Dienst beschäftigt ist, so scheint in weiten Teilen der Arbeitswelt Art 45 AEUV keine Anwendung zu finden. In diesem Sinne darf die Bereichsausnahme aber nicht verstanden werden. Der EuGH hat schon früh klargestellt, sie sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Von ihr seien nur die Stellen erfasst, „die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind.“106 Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob ein Mitgliedstaat auf bestimmten Stellen nach nationalem Recht Beamte einsetzt107 oder der Arbeitgeber eine öffentlich-

102 Für Arbeitnehmer grundsätzlich das Recht des Beschäftigungsstaates, Art 11 III VO 883/2004 (Fn 17); nach Aufgabe des Arbeitnehmerstatus’ wird an den Wohnsitz angeknüpft, vgl dazu EuGH, Slg 1998, I-3419, Rn 40 ff – Kuusijaervi. Zum Verhältnis zum zwischenstaatlichen Sozialrecht Art 8 VO 883/2004; zur Anwendbarkeit von Sozialversicherungsabkommen EuGH, Slg 1991, I-323 ff – Rönfeldt; Slg 1995, I-3813 ff – Thévenon; Slg 2002, I-1261 – Kaske. 103 In speziellen Vorschriften und grds vermittelt durch das Diskriminierungsverbot, vgl dazu Becker VSSR 2000, 221 ff; zur „Entterritorialisierung“ näher Willms Soziale Sicherung durch Europäische Integration, 1990, S 49 ff. 104 Vgl Art 7 VO 883/2004 (Fn 17); der Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit ist auf drei Monate beschränkt, Art 64 VO 883/2004. Sachleistungen werden nicht exportiert; im Falle der Krankheit gibt es aber eine Sachaushilfe, dh die Leistungen werden auf Rechnung des Beschäftigungsstaats in anderen Mitgliedstaaten nach der Maßgabe der dort geltenden Bestimmungen erbracht, Art 17 ff VO 883/2004. Dieser Export ist nicht zu verwechseln mit der Einwirkung der Grundfreiheiten auf das sozialrechtliche Territorialitätsprinzip. 105 EuGH, Slg 2007, I-6347, Rn 19 ff – Geven; Slg 2007, I-6303, Rn 21 ff – Hartmann m Anm Devetzi ZESAR 2008, 99. 106 EuGH, Slg 1980, 3881, Rn 10 ff – Kommission/Belgien. Beide Voraussetzungen gelten kumulativ, was allerdings str ist, vgl näher nur Schneider/Wunderlich in: Schwarze; EUV, Art 45 AEUV Rn 136; zur Kritik an der Rspr Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 45 AEUV Rn 109. 107 Vgl § 7 I BeamtStG, wonach heute auch ausländische Unionsbürger grundsätzlich in ein Beamtenverhältnis berufen werden können. Vgl Strauß Funktionsvorbehalt und Berufsbeamtentum, 2000, 189 ff.

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rechtliche Einrichtung ist108. Dementsprechend gilt die Freizügigkeit etwa im Schul- und Hochschuldienst.109 Anders ist die Situation bei Polizisten, Soldaten und Richtern. Immer muss darauf abgestellt werden, ob mit der konkreten Beschäftigung die Ausübung von Hoheitsrechten zugunsten der Wahrung allgemeiner Belange verbunden ist. So ist etwa nicht allgemein das Gesundheitswesen von der Anwendung des Art 45 AEUV ausgenommen,110 jedoch möglicherweise die Tätigkeit in der Leistungsverwaltung.111 Auch können bestimmte Leitungsfunktionen in der Verwaltung wegen ihrer Bedeutung einen besonderen Schutz erfordern.112

3. Persönlicher Schutzbereich a) Unionsbürger und ihre Familienangehörigen 28

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Auch wenn Art 45 AEUV keine entsprechende Festlegung enthält, fallen unter den persönlichen Schutzbereich der Norm, der allgemeinen Konzeption des AEUV entsprechend, zunächst nur die Unionsbürger (Art 20 AEUV), also die Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten.113 Zu beachten ist, dass sich neben den Arbeitnehmern auch Arbeitgeber gegen Eingriffe in die Arbeitnehmerfreizügigkeit wehren können.114 Ebenfalls weitgehend in den Schutz der Arbeitnehmerfreizügigkeit einbezogen sind die Familienangehörigen115 von Arbeitnehmern. Grundlage dafür ist auch im Unionsrecht der Schutz von Ehe und Familie,116 zumindest die nähere Ausgestaltung ist aber dem Sekundärrecht überlassen. Gegenwärtig (vgl auch Rn 1 ff) führt das zu Differenzierungen. So 108 Vgl EuGH, Slg 2003, I-10447, Rn 62 f – Anker. 109 EuGH, Slg 1986, 2121 ff – Lawrie-Blum (Studienreferendare); Slg 1991, I-5627 ff – Bleis (höheres Lehramt); Slg 1996, I-3207 ff – Kommission/Luxemburg (Grundschulen). 110 Vgl zum Krankenpflegepersonal EuGH, Slg 1986, 1725 ff – Kommission/Frankreich. 111 Vgl Wölker/Grill in: vd Groeben/Schwarze EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 161. Allerdings ist diese Ausnahme sehr weit und müsste auch die Sozialversicherungsträger umfassen, obwohl vergleichbare Tätigkeiten auch von privaten Versicherungsunternehmen ausgeübt werden. 112 Vgl EuGH, Slg 1987, 2625 ff – Kommission/Italien. Vgl zum Ganzen jetzt a Jakobs in: Nomos und Ethos, 2002, 507 ff. 113 Und zwar unabhängig von einer eventuellen Doppelstaatsangehörigkeit; allgM, vgl nur Bleckmann ER Rn 1561 ff; Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 27 Rn 13; Streinz ER, Rn 791. Flüchtlinge und Staatenlose sind in den Schutz immerhin durch einige Sekundärvorschriften einbezogen; vgl zur VO 883/2004 (Fn 17) und der Voraussetzung eines grenzüberschreitenden Elements EuGH, Slg 2001, I-7413 ff – Khalil. Zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit EuGH, Slg 2001, I-1237, Rn 19 ff – Kaur. 114 EuGH, Slg 1998, I-2521, Rn 19 ff – Clean Car, mit dem Hinweis zum einen auf die Wirksamkeit des Art 39 EGV, zum anderen auf den Umstand, dass sich auch Arbeitgeber auf Rechtfertigungsgründe stützen können. Zur Bezeichnung als „Korrelarberechtigte“ Forsthoff in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 45 AEUV Rn 47 ff. 115 Zum Begriff vgl Art 2 Nr 2 RL 2004/38 (Fn 5). Bei der für bestimmte Familienangehörige geforderten Unterhaltsgewährung kommt es auf die tatsächliche Gewährung an (vgl zu Art 1 RL 73/148 EuGH, Slg 2007, I-1 ff – Jia). 116 Ob aber die Freizügigkeit der Angehörigen damit auch unmittelbar aus Art 45 AEUV ableitbar ist, erscheint fraglich; richtigerweise müsste für die Begründung eigener Rechte zumindest zusätzlich auf den Schutz durch ein Grundrecht rekurriert werden, vgl aber a Wölker/Grill in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, vor Art 39–41 EGV Rn 45 ff. Angesichts der relativ großzügigen Rspr des EuGH wird die Frage praktisch kaum relevant.

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wird zwar nicht hinsichtlich der allgemeinen Nachzugsvoraussetzungen und der Rechte auf und im Aufenthalt, aber hinsichtlich der Sichtvermerkspflicht danach unterschieden, ob die Angehörigen Unionsbürger sind oder nicht.117 Bezogen auf die den Arbeitnehmern zustehenden Rechte im Aufenthalt ist immer zu klären, ob sie nur für die unmittelbar Freizügigkeitsberechtigten oder auch die Angehörigen gelten.118 In einem zentralen Punkt, dem Anspruch auf steuerliche und soziale Vergünstigungen (Art 7 II VO 492/2011, Rn 22 ff), hat der EuGH die Familienangehörigen als selbst berechtigt angesehen.119 Kindern von Arbeitnehmern ist ein Recht auf gleiche Teilnahme am allgemeinen Unterricht und an der Berufsausbildung eingeräumt.120 Damit sind etwa Zulassungsquoten für ein Studium121 oder der Ausschluss von Stipendien122 nicht vereinbar. Für die Leistung einer Ausbildungsförderung durch den Aufnahmestaat kommt es nicht darauf an, in welchem Mitgliedstaat die Ausbildung stattfindet.123 b) Drittstaatsangehörige Abgesehen von den vorstehend genannten abgeleiteten Rechten für Angehörige genießen Drittstaatsangehörige grundsätzlich kein Recht auf Freizügigkeit.124 Durch das EWR117 Art 5 II RL 2004/38 (Fn 5). Zur Ehegatteneigenschaft trotz Getrenntleben EuGH, Slg 1985, 567 ff – Diatta; zur (zulässigen) Schlechterstellung von Familienangehörigen aus Drittstaaten bei der Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis EuGH, Slg 2000, I-2623 ff – Kaba, sowie Slg 2003, I-2219 ff – Kaba II. Nicht erforderlich ist, dass sich der Drittstaatsangehörige vor der Einreise rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, EuGH, Slg 2008, I-6241, Rn 58 – Metock. 118 So gibt etwa Art 23 RL 2004/38 (Fn 5) kein originäres Freizügigkeitsrecht des Drittstaatsangehörigen (zu Art 11 VO 492/2011 EuGH, Slg 2006, I-3145, Rn 15 ff – Mattern u Cikotic); er ist an den Mitgliedsstaat des Unionsbürgers gebunden, in dem dieser eine Tätigkeit ausübt. Bei Rückkehr des Arbeitnehmers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, ohne dort einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen, kommt ein Anspruch des Drittstaatsangehörigen aus einer analogen Anwendung des Art 7 RL 2004/38 in Betracht (EuGH, Slg 2007, I-10719, Rn 27 ff – Eind zu Art 10 VO 492/2011). 119 Vgl nur EuGH, Slg 1985, 1873, Rn 22 ff – Deak; Slg 1992, I-1071, Rn 28 ff – Bernini. Allerdings ist weiterhin erforderlich, dass die Vergünstigung vergleichbaren Angehörigen von einheimischen Arbeitnehmern zusteht, vgl EuGH, Slg 1992, I-4401, Rn 11 ff – Taghavi. 120 Vgl Art 10 VO 492/2011 (Fn 13); die Vorschrift verzichtet auf die Festlegung eines Nachzugsalters und begründet ein eigenständiges Aufenthaltsrecht, vgl Schulz Freizügigkeit für Unionsbürger, 1997, S 210 ff; vgl auch EuGH, Slg 2002, I-7091 ff – Baumbast; Slg 2010, I-1065 – Ibrahim (auch zum Verhältnis zur RL 2004/38). 121 Vgl EuGH, Slg 1988, 5445 ff – Kommission/Belgien. 122 Vgl EuGH, Slg 1974, 773 ff – Casagrande. 123 Unabhängig von dem Wohnorterfordernis in Art 12 VO 492/2011 (Fn 13), vgl EuGH, Slg 1990, I-4185, Rn 16 ff – Di Leo. 124 Vgl aber auch RL 2011/98 über ein einheitliches Verfahren zur Beantragung einer kombinierten Erlaubnis für Drittstaatsangehörige, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten und zu arbeiten, sowie über ein gemeinsames Bündel von Rechten für Drittstaatsarbeitnehmer, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, ABl 2011 Nr L 343/1; dazu Tewocht ZAR 2012, 217 ff. Ferner RL 2009/50 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung, dazu Kuczynski/ Solka ZAR 2009, 219 ff. Vgl insgesamt auch Thym EuR 2011, 487 ff. Zu den Sanktionen für eine Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen ohne rechtmäßigen Aufenthalt RL 2009/52; dazu Berchtold NZS 2012, 481 ff und Huber NZA 2012, 477 ff.

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Abkommen werden aber die Angehörigen der EWR-Mitgliedstaaten den Unionsbürgern gleichgestellt, so dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit im gesamten EWR gilt. So ist es auch im Verhältnis zur Schweiz. Das Freizügigkeitsabkommen mit ihr ist am 1. Juni 2002 in Kraft getreten.125 Anderen Drittstaatsangehörigen können Rechte durch Assoziierungsabkommen eingeräumt werden.126 An dieser Stelle soll nur kurz auf die Abkommen mit der Türkei (1) und mit den westlichen Balkanländern (2) hingewiesen werden.127 In dem Vertrag über den Beitritt von zehn mittel- und osteuropäischen Staaten vom 16.4.2003 ist geregelt, dass für Malta und Zypern die Regelungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort anzuwenden sind, für die acht anderen Beitrittsländer galt ab dem 1.5.2004 eine Übergangszeit von maximal 7 Jahren, die mittlerweile abgelaufen ist.128 Eine Übergangsfrist gilt aber nach dem Beitrittsvertrag vom 25.05.2005 bis zum 31.12.2013 noch für Rumänien und Bulgarien.129 Für die in Deutschland lebenden türkischen Staatsangehörigen ist von großer praktischer Bedeutung, dass der EuGH die auf der Grundlage des Assoziierungsabkommens mit der Türkei ergangenen Beschlüsse des Assoziationsrats (ARB) für Bestandteile des Unionsrechts erklärt hat, die unmittelbar anwendbar sind, sofern die allgemeinen Voraussetzungen der hinreichenden Bestimmtheit und Unbedingtheit erfüllt sind.130 Auf diese Weise wird zwar kein erstmaliger Zugang für Arbeitnehmer, nach ordnungsgemäßer Beschäftigung werden über Art 6 ARB 1/80 aber Aufenthaltsrechte gewährt.131 Ebenfalls

125 Dazu und zum Text: http://www.bfm.admin.ch/content/bfm/de/home/themen/fza_schweiz-euefta.html; zu rechtlichen Fragen Schnell Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Schweiz, 2010; ferner Breitenmoser/Weyeneth EuZW 2012, 854 ff; Beiser IstR 2012, 303 ff. 126 Dazu a EuGH, Slg 2003, I-4135 ff – Kolpak; näher Weiß Die Personenverkehrsfreiheiten von Staatsangehörigen assoziierter Staaten in der EU, 1998; Lindig/Podlesak JOR 2003, 73 ff; Husmann ZAR 2009, 305 ff. 127 Vgl a Hailbronner ZAR 2002, 7, 10 ff; Fehrenbacher ZAR 2004, 22 ff. 128 S zB ABl 2003 L 236/40 iVm Nr 2 des Anhangs V: Liste nach Art 24 der Beitrittsakte: Tschechische Republik, ABl 2003 L 236/803 oder ABl 2003 L 236/40 iVm Nr 2 des Anhangs XII: Liste nach Art 24 der Beitrittsakte: Polen, ABl 2003 L 236/875 f; näher dazu Becker/v Maydell/Szurgacz (Hrsg) Die Realisierung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen aus arbeits- und sozialrechtlicher Sicht, 2012, und Kocher/Nowak (Hrsg) Freie Fahrt für Arbeitnehmer/innen zwischen Ost und West, 2012. 129 ABl 2005 L 157/311 iVm Nr 1 des Anhangs VII: Liste nach Art 23 der Beitrittsakte: Rumänien, ABl 2005 L 157/278 iVm Nr 1 des Anhangs VI: Liste nach Art 23 der Beitrittsakte: Bulgarien. Zu der bisherigen Praxis und den Grenzen für Übergangsvorschriften Becker EU-Erweiterung und differenzierte Integration, 1999. 130 Grundlegend EuGH, Slg 1990, I-3461 ff – Sevince = JK 91, EWGV Art 177/1. Zu den ARB Hailbronner Ausländerrecht, Loseblatt, Abschn D 5. 131 Vgl EuGH, Slg 1992, I-6781 ff – Kus; Slg 1995, I-1475 ff – Bozkurt; Slg 2000, I-957 ff – Nazli; Slg 2002, I-10691 ff – Kurz; Slg 2004, I-8765 ff – Ayaz; Slg 2008, I-203 ff – Payir ua.; Slg 2010, I-931 – Genc (zu einer geringfügigen Beschäftigung). Vgl zur Familienzusammenführung Art 7 ARB 1/80; dazu EuGH, Slg 2000, I-487 ff – Ergat; Slg 2000, I-4747 ff – Eyüp. Näher dazu Weerth in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, 6. Aufl 2012, Art 45 AEUV Rn 19 ff; Hailbronner (Fn 126) Abschn D 5.2; Can Das Assoziationsverhältnis zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei, 2002, S 146 ff; Breidenbach Die Auswirkungen des Assoziationsrechts EG/Türkei auf das deutsche Arbeitsgenehmigungsrecht, 2001, 151 ff; Kurzidem ZAR 2010, 121 ff; Hailbronner ZAR 2011, 322 ff; zur Berechnung der Beschäftigungszeit Welte ZAR 2010,

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unmittelbar anwendbar ist das in Art 3 ARB 3/80 niedergelegte Verbot der Diskriminierung im Bereich der sozialen Sicherheit.132 Die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit den westlichen Balkanländern133 enthalten kein Freizügigkeitsrecht für unselbständig Tätige. Unmittelbar anwendbar sind aber die in ihnen vorgesehenen Diskriminierungsverbote, die eine Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen vorsehen.134 Lösung Fall 2: M ist Arbeitnehmerin. Dass sie mit dem Alleingesellschafter verheiratet ist, spielt keine Rolle, solange sie tatsächlich weisungsgebunden tätig wird (Rn 9). T ist zwar nicht Arbeitnehmerin, kann sich aber als Familienangehörige selbst auf Art 7 II VO 492/2011 berufen, obwohl dort die Angehörigen als Berechtigte nicht ausdrücklich genannt sind (Rn 29). Die Voraussetzungen der Angehörigeneigenschaft erfüllt sie problemlos. Ferner fällt die Studienbeihilfe unter den sehr weitgefassten Begriff der sozialen Vergünstigung (Rn 23 ff). Fraglich ist nur, ob die Leistungsgewährung deshalb ausgeschlossen ist, weil M Grenzarbeitnehmerin ist. Denn in der vorliegenden Konstellation, so wendeten die niederländischen Behörden ein, bestehe keinerlei Zusammenhang zum Zweck des Art 7 II VO 492/2011: Dieser sei es, die Mobilität der Arbeitnehmer und die Integration des Wanderarbeitnehmers und seiner Familie im Aufnahmeland zu erleichtern. Der EuGH ist dem nicht gefolgt: Art 7 II VO 492/2011 gelte ohne Einschränkung auch für Grenzarbeitnehmer. Sinn der Bestimmung sei es, vor Diskriminierungen zu schützen. Die Studienfinanzierung müsse deshalb den Kindern von Wanderarbeitnehmern unter denselben Voraussetzungen gewährt werden, die für Kinder inländischer Arbeitnehmer gelten. Ein zusätzliches Wohnorterfordernis verstößt deshalb gegen Unionsrecht.

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4. Konkurrenzen Die Abgrenzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gegenüber der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (→ hierzu auch § 10 Rn 19 ff; § 11 Rn 43 ff) erfolgt nach dem Kriterium der Selbständigkeit bzw Unselbständigkeit der Tätigkeit: Arbeitnehmer sind weisungsgebunden tätig (Rn 6 ff). In Einzelfällen kann die Unterscheidung schwierig sein;135 wegen der sich stark ähnelnden Gehalte der Grundfreiheiten legt der EuGH darauf kein

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53 ff. Art 10 IARB 1/80 beinhaltet ein Diskriminierungsverbot für Arbeitsbedingungen, EuGH, Slg 2003, I-4301 ff – Wählergruppe. EuGH, Slg 1999, I-2685, Rn 48 ff – Sürül; Slg 2004, I-3605, Rn 37 ff – Öztürk; Hailbronner (Fn 126) Abschn D 5.3. Mazedonien ABl 2004 Nr L 084/13, Kroatien ABl 2005 Nr. L 026/3, Albanien ABl 2009 Nr. L 107/166 und Montenegro 2010 ABl L 108/1. Die bereits unterzeichneten Abkommen mit Serbien (29.04.2008) und Bosnien und Herzegowina (16.06.2008) sind dagegen noch nicht in Kraft getreten. Vgl zum Ganzen http://ec.europa.eu/enlargement/index_en.htm. Vgl Art 44 Abs 1 SAA mit Mazedonien, 45 Abs 1 des SAA mit Kroatien, Art 46 Abs 1 SAA mit Albanien und Art 49 Abs 1 SAA mit Montenegro. Entsprechendes war auch in den Europaabkommen mit den mittel- und osteuropäischen Ländern geregelt mit der Folge (Rn 38 ff), dass die Befristung von Verträgen mit polnischen Fremdsprachenlektoren unzulässig war, vgl EuGH, Slg 2002, I-1049 ff – Nordrhein-Westfalen. Zur Verwendung der für den AEUV geltenden Kriterien EuGH, Slg 2001, I-8615 ff – Jany = JK 2002, EGV Art 43/2.

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besonderes Gewicht.136 Eine Rolle spielt daneben durchaus auch die Dauer der Erwerbstätigkeit. Werden Arbeitnehmer vorübergehend für ihre Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat tätig, also entsandt, so stellen etwaige Erschwernisse für deren Tätigkeit Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit des Unternehmers dar, die uU auch zum Schutz der Arbeitnehmer gerechtfertigt sein können.137 In diesen Fällen zieht der EuGH die Arbeitnehmerfreizügigkeit als (zusätzlichen) Prüfungsmaßstab nicht heran, obwohl, wie insbesondere der Fall der Grenzarbeitnehmer zeigt, Eingliederung in den Beschäftigungsstaat nicht Voraussetzung der Arbeitnehmereigenschaft ist.

II. Beeinträchtigung 36

Fall 3: (EuGH, Slg 1999, I-345 ff – Terhoeve) Der niederländische Staatsangehörige T arbeitete in den ersten zehn Monaten des Jahres 1990 im Vereinigten Königreich, dann in den Niederlanden. Er war während der ganzen Zeit in der niederländischen Sozialversicherung pflichtversichert. Die dafür abzuführenden Beiträge wurden zusammen mit der Einkommenssteuer erhoben, und zwar maximal bis zu einer Höhe von 9300 Gulden. Da T in zwei Ländern gearbeitet hatte, musste er nach den geltenden Vorschriften für 1990 zweimal steuerlich veranlagt werden, wobei die sozialversicherungsrechtliche Bemessungsgrenze jeweils gesondert galt. Auf diese Weise sollte er für die Zeit seiner Berufstätigkeit im Ausland bereits 9300 Gulden, für die Zeit der Berufstätigkeit im Inland weitere 1400 Gulden an Sozialversicherungsbeiträgen zahlen. T fühlt sich durch die Erhebungsmodalitäten in seinem Recht auf Freizügigkeit verletzt. Die niederländischen Behörden entgegnen, T könne sich nicht auf das Unionsrecht berufen, da er in seinem Heimatstaat wohne, dort sozialversichert sei und dort besteuert werde. Zudem würden die Veranlagungsbestimmungen für alle in den Niederlanden Sozialversicherten gleichermaßen gelten. Im Übrigen falle das Recht der sozialen Sicherheit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Diese dürften deshalb auch das Verfahren der Beitragserhebung regeln.

1. Diskriminierungen 37

a) Offene Diskriminierungen knüpfen an die Staatsangehörigkeit an. Sie stellen die stärkste Form des Eingriffs dar und können deshalb nach der überw M nur dann zulässig sein, wenn sie durch geschriebene Rechtfertigungsgründe gestattet werden (dazu Rn 47 ff und → § 7 Rn 90). Ihr Verbot wird in Art 45 II AEUV ausdrücklich normiert und ergibt sich ansonsten aus Sekundärrecht. Sie kommen mittlerweile relativ selten vor, weil die Mitgliedstaaten staatsangehörigkeitsbezogene Ungleichbehandlungen in ihren Rechtsordnungen weitgehend beseitigt haben. Dass dies eine gewisse Zeit gedauert hat und einzelne formale Diskriminierungen bis heute fortbestehen, ist angesichts der Vielfalt der relevanten Vorschriften, etwa auch des Steuer- und Sozialrechts, sowie der lange Zeit gerade im Hinblick auf das Ausländerrecht betonten nationalen Souveränität einerseits verständlich, andererseits aber angesichts des Standes der europäischen Integration und der Bemühungen um Schaffung eines Binnenmarktes auch für Personen inakzeptabel. Dass sie überhaupt noch anzutreffen sind, beruht auf verschiedenen Gründen. Zum Teil war die 136 Zur Unterscheidung im Bereich der VO 883/2004 (Fn 17) EuGH, Slg 2000, I-2005 ff – Banks. 137 EuGH, Slg 1990, I-1417 ff – Rush Portuguesa; Slg 1994, I-3803 ff – Vander Elst; Slg 1999, I-8453 ff – Arblade; Slg 2001, I-7831 ff – Finalarte; Slg 2002, I-787 ff – Portugaia Construções = JK 2002, EGV Art 49 ff/5.

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Anwendbarkeit unionsrechtlicher Vorgaben für bestimmte Rechtspositionen nicht hinreichend geklärt138 oder es wurden bestimmte Tätigkeiten für besonders empfindlich gehalten.139 Zum Teil existieren nach wie vor einige erst auf den zweiten Blick erkennbare Diskriminierungen, die offensichtlich in Randbereichen dem Schutz der dort Tätigen dienen. So betrifft eine der letzten (in einem Vertragsverletzungsverfahren getroffenen) Entscheidungen des EuGH zu einer offenen Diskriminierung im Anwendungsbereich des Art 45 AEUV eine Vorschrift, nach der die Berufsausübung von Zahnärzten eine Eintragung bei der Zahnärztekammer und diese wiederum den Wohnsitz im Kammerbezirk vorsah.140 Bei Wohnsitzverlagerung in andere Mitgliedstaaten hatten jedoch nur die eigenen Staatsangehörigen einen Anspruch auf Beibehaltung der Kammerzugehörigkeit.141 Im Ergebnis half der Beklagten auch der Einwand wenig, die Rechtslage sei mittlerweile so unklar, dass die diskriminierenden Vorschriften in der Praxis gar keine Anwendung mehr fänden.142 b) Sehr viel häufiger als offene sind versteckte Diskriminierungen in Vorschriften des Berufs-, Arbeits- oder Sozialrechts, weil diese herkömmlicherweise oft durch eine territoriale Ausrichtung geprägt sind. Dass eine Diskriminierung vorliegt, wenn eine Bestimmung zwar nicht formal, aber faktisch „im wesentlichen“, „ganz überwiegend“ oder „ihrem Wesen nach eher“ fremde Staatsangehörige betrifft und damit eigene Staatsangehörige im Ergebnis begünstigt, hat der EuGH zur Arbeitnehmerfreizügigkeit bereits früh festgestellt,143 ohne in seiner Rechtsprechung den genauen Maßstab für das unterschiedliche Betroffensein zu präzisieren144 oder je nach erkennbarer Finalität zu unterscheiden.145 Versteckte Diskriminierungen können, da sie nicht unmittelbar an der Staatsangehörigkeit ansetzen, sachliche Gründe haben und deshalb nicht nur durch die

138 So etwa die Anwendbarkeit der Koordinierungsvorschriften auf das deutsche Erziehungsgeld, vgl dazu Eichenhofer SGb 1997, 449 ff; Becker SGb 1998, 553 ff; Trinkl Die gemeinschaftsrechtliche Koordinierung deutscher Familienleistungen, 2001. Die entsprechende Grundsatzentscheidung des EuGH (Slg 1996, I-4895, Rn 20 f – Hoever u Zachow) ist nur sehr zögerlich und erst spät in das geltende Recht eingearbeitet worden. Ähnlich die Versagung von Studienbeihilfen für das Auslandsstudium, EuGH, Slg 1990, I-4185 ff – Di Leo. 139 Vgl etwa zur Tätigkeit bei privaten Sicherheitsdiensten EuGH, Slg 1998, I-6717 ff – Kommission/Spanien; zu Arbeitsplätzen in der Schifffahrt EuGH, Slg 1993, I-6295 ff – Kommission/Belgien; zur Wählbarkeit in Berufskammern EuGH, Slg 1991, I-3507 ff – ASTI. 140 Was bereits eine Verletzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit darstellt, vgl nachfolgend. 141 EuGH, Slg 2001, I-541 ff – Kommission/Italien; vgl auch Slg 2004, I-8291 ff – Kommission/ Österreich. 142 Weil die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beachtung des Unionsrechts die Schaffung einer klaren Rechtslage fordert. 143 EuGH, Slg 1974, 153, Rn 11 ff – Sotgiu; Slg 1978, 1489, Rn 16 ff – Kenny. 144 Vgl zu den oben wiedergegebenen Umschreibungen: EuGH, Slg 1986, 1, Rn 24 ff – Pinna; Slg 1992, I-5785, Rn 42 ff – Kommission/Vereinigtes Königreich; Slg 1996, I-2617, Rn 20 ff – O’Flynn. 145 Insbesondere werden die Begriffe der mittelbaren, verdeckten oder verschleierten Diskriminierung nebeneinander und ohne erkennbares Konzept verwendet. Sinnvollerweise fungiert die mittelbare Diskriminierung als Oberbegriff, Verdecken oder Verschleiern setzt ein zusätzliches finales Element voraus. Ob diese Unterscheidung von Bedeutung für die Grundfreiheitsprüfung sein sollte, ist eine andere und eher zu verneinende Frage.

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geschriebenen, sondern auch durch die ungeschriebenen Schranken gerechtfertigt werden146 (Rn 49 ff). Im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit beruhen mittelbare Diskriminierungen zumeist auf Vorschriften, die den Nachweis bestimmter beruflicher Qualifikationen,147 den Nachweis von Sprachkenntnissen148 oder einen Wohnsitz im Inland149 erfordern. Solche Anforderungen sind nur mit dem Unionsrecht vereinbar, wenn sie objektiv schützenswerten Rechtsgütern dienen (Rn 51 ff) und verhältnismäßig sind (Rn 54 ff). Aber auch andere Ungleichbehandlungen können überwiegend ausländische Arbeitnehmer treffen.150 So sind Belastungen mit Abgaben verboten, die allgemein erhoben werden, aber (nur) für Wanderarbeitnehmer ohne Gegenleistung bleiben.151 Ein weiterer, bereits mehrfach entschiedener Beispielsfall ist die Befristung von Verträgen für Fremdsprachenlektoren, wenn Verträge für andere Universitätsbedienstete nicht ebenfalls regelmäßig nur auf Zeit abgeschlossen werden.152 Für entsprechende Sonderbehandlungen sind zumeist keinerlei Rechtfertigungsgründe ersichtlich. Der EuGH hält ferner auch ein auf soziale Vergünstigungen (Rn 23 ff) bezogenes Wohnsitzerfordernis für mittelbar diskriminierend;153 dieser Ansatz zwingt in den Fällen, in denen sich aus der Funktion der Vergünstigung kein objektiver Grund für eine territoriale Begrenzung ergibt, zu einem Leistungsexport.154 Gemäß der Rspr des EuGH führt ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot dazu, dass zugunsten der benachteiligten Wanderarbeitnehmer die Regelungen gelten, die für die übrigen Betroffenen vorgesehen sind; anders als im deutschen Verfassungsrecht kann die Feststellung einer Ungleichbehandlung damit im Ergebnis unmittelbar zur Gewährung von Vergünstigungen führen.155

2. Beschränkungen 41

a) Ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit wie die Warenverkehrsfreiheit ebenfalls ein Beschränkungsverbot enthält, dh alle Behinderungen unabhängig von dem Vorliegen einer Diskriminierung als Eingriffe anzusehen sind, war lange Zeit fraglich und ist auch heute nicht ganz unumstritten. Das beruht im Wesentlichen auf zwei Gründen: zunächst auf

146 Das ergibt sich aus der Rspr mit ausreichender Eindeutigkeit, wenn auch nicht immer ganz klar ist, welche Ausführungen sich auf die Prüfung des Eingriffs und welche sich auf jene der Rechtfertigungsgründe beziehen; → vgl § 7 Rn 90. 147 Vgl etwa EuGH, Slg 1999, I-4773, Rn 28 ff – Fernández de Bobadilla; Slg 2001, I-837, Rn 23 ff – Mac Quen. 148 Vgl nur EuGH, Slg 1989, 3967, Rn 23 ff – Groener. 149 EuGH, Slg 1998, I-47, Rn 21 ff – Schöning; Slg 1998, I-2521, Rn 30 ff – Clean Car. 150 Vgl etwa zur Nichtanrechnung ausländischer Beschäftigungszeiten, Rn 19 ff; zur Erschwerung einer Anrechnung EuGH, Slg 2000, I-10497 ff – ÖGB = JK 2001, EGV Art 39/2. 151 Vgl EuGH, Slg 2000, I-4585 ff – Sehrer; Slg 2000, I-1049 ff – Kommission/Frankreich; der EuGH greift allerdings ohne nähere Prüfung auf das Beschränkungsverbot zurück; vgl in Bezug auf die steuerliche Behandlung auch Slg 2004, I-8471, Rn 23 ff – Merida. 152 EuGH, Slg 1989, 1591 ff – Allué I; Slg 1993, I-4309 ff – Allué II; mittelbar diskriminierend sind auch andere arbeitsrechtliche Schlechterstellungen der Lektoren, vgl EuGH Slg 2001, I-4923 ff – Kommission/Italien, neuerdings a Slg 2008, I-3635, Rn 17 ff – Delay. 153 EuGH, Slg 1997, I-6689, Rn 43 ff – Meints; vgl a Slg 2004, I-6483 ff – Barth. 154 Vgl in diesem Zusammenhang zum Bestattungsgeld EuGH, Slg 1996, I-2617 ff – O’Flynn. 155 Vgl EuGH, Slg 1998, I-47, Rn 33 ff – Schöning; Slg 1999, I-345, Rn 57 ff – Terhoeve; → vgl a § 7 Rn 27.

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der allgemeinen Schwierigkeit, mittelbare Diskriminierungen und Beschränkungen voneinander abzugrenzen.156 Jedoch besteht zwischen beiden Eingriffsformen zumindest theoretisch ein wesentlicher Unterschied, der eine kategoriale Unterscheidung erlaubt: Für Beschränkungen kommt es auf einen Vergleich mit der Behandlung von anderen Personen gerade nicht an. Ein weiterer, spezifisch auf Art 45 AEUV bezogener Einwand ist der, dass die Vorschrift die geschützten Rechte im Einzelnen umschreibt, es eines allgemeinen Beschränkungsverbots also schon deshalb nicht bedürfe. Demgegenüber ist auf die Konkretisierungsfunktion der Abs 2 und 3 und die allgemeine, umfassend zu schützende Freizügigkeitsgarantie in Abs 1 hinzuweisen (Rn 19 ff). Spätestens nach der berühmten Bosman-Entscheidung ist der Standpunkt des EuGH klar geworden, der Art 45 AEUV mit allgemeinen Erwägungen als Beschränkungsverbot auslegt. Das kommt in der Formel zum Ausdruck, „dass sämtliche Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung von beruflichen Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Gemeinschaft erleichtern sollen und solchen Maßnahmen entgegenstehen, die die Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen.“157 b) Wie bei anderen Beschränkungsverboten bleibt das Problem, angesichts der Vielfalt möglicher Eingriffe eine Eingrenzung noch oberhalb der Rechtfertigungsebene zu versuchen. Insbesondere wenn bedacht wird, dass auch mittelbar und potentiell wirkende Maßnahmen Eingriffscharakter aufweisen können, erscheint es fraglich, ob auch jede nur entfernt mittelbar wirkende Beeinträchtigung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auslösen soll.158 Einen möglichen Ansatz zur Differenzierung könnte zwar nicht die Forderung einer spürbaren Wirkung, aber eine Übertragung der sog Keck-Rechtsprechung159 auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit bieten. Dabei ist allerdings eine formale Unterscheidung zwischen Berufszulassungs- und Berufsausübungsregelungen wenig weiterführend.160 Denn es muss, dem Sinn der Keck-Entscheidung entsprechend,161 entscheidend sein, ob die Maßnahme einen Zusammenhang zur grenzüberschreitenden Aufnahme und Ausübung der unselbständigen Erwerbstätigkeit, also dem Zugang zur Beschäftigung, aufweist. Der EuGH hat zwar keinen Versuch zu einer klaren Abgrenzung unternommen, aber in diesem Sinne betont, Beschränkungen seien dann vorbehaltlich einer Rechtfertigung verboten, wenn sie „einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit

156 Der EuGH selbst unterscheidet – seinem allgemeinen Begründungsstil entsprechend – nicht eindeutig, greift vielmehr auf seine eigenen Ansätze für die Entwicklung eines Beschränkungsverbots des Öfteren auch dann zurück, wenn es um eine mittelbare Diskriminierung geht, vgl nur EuGH, Slg 2000, I-4585, Rn 32, 34 – Sehrer. 157 EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 94 ff – Bosman; vgl zuvor bereits Slg 1993, I-1663, Rn 32 ff – Kraus = JK 94, EWGV Art 48/2; vgl a Slg 2003, I-8219, Rn 95 ff – Burbaud. 158 Das Problem ist aus der Grundrechtsdogmatik wohl bekannt, vgl nur Pieroth/Schlink Grundrechte, 28. Aufl 2012, Rn 256 ff. 159 EuGH, Slg 1993, I-6097 ff – Keck. 160 Vgl aber a Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, 90 ff. 161 Näher dazu Becker EuR 1994, 162 ff.

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Gebrauch zu machen“.162 Zudem hat er – auch insoweit in Parallele zur Warenverkehrsfreiheit163 – festgestellt, dass sehr „ungewiss und indirekt“ wirkenden Beeinträchtigungen der Eingriffscharakter fehlt.164 In der Sache ging es um einen Abfertigungsanspruch (= Abfindungsanspruch) für den Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, der Arbeitnehmern dann nicht zustand, wenn sie selbst gekündigt hatten. Nicht nur dem Ergebnis, sondern ebenso dem auf den Zugang abstellenden Begründungsansatz ist zuzustimmen, wenn es auch eines klareren Abgrenzungskriteriums bedürfte, um Rechtssicherheit zu gewährleisten.165

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Lösung Fall 3: Dass T Arbeitnehmer ist, unterliegt keinen Zweifeln. Fraglich ist die Anwendbarkeit des Art 45 AEUV nur unter dem Gesichtspunkt des grenzüberschreitenden Sachverhalts. Dafür genügt die Grenzüberschreitung durch T, nicht aber ist erforderlich, dass der Eingriff durch einen anderen Staat als den Heimatstaat erfolgt, und ebenso wenig spielt der aktuelle Wohnort des T eine Rolle. Art 45 AEUV soll nach der Rspr des EuGH „den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung jeder Art von Berufstätigkeit im Gebiet der Gemeinschaft erleichtern“ und steht deshalb Maßnahmen entgegen, „die die Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen.“ Er umfasst auch das Recht, das Herkunftsland zu verlassen, um sich zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben und sich dort aufzuhalten. Der EuGH stellt fest: „Bestimmungen, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen daher Beeinträchtigungen dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden“. Dementsprechend kommt es nicht darauf an, ob die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge offen oder versteckt diskriminierend geschieht. Auch spielt es keine Rolle, dass die zugrundeliegenden Vorschriften einer Materie angehören, für deren Regelung die Mitgliedstaaten zuständig sind. Denn die Zuständigkeitsverteilung schränkt den Anwendungsbereich des Art 45 AEUV nicht ein. Da T nur wegen der Auslandsbeschäftigung mehr Sozialversicherungsbeiträge zahlen muss, als wenn er im ganzen Jahr im Inland geblieben wäre, dem höheren Beitrag also auch keine höheren Leistungen gegenüberstehen, liegt ein Eingriff in die Arbeitnehmerfreizügigkeit vor. Er lässt sich im Übrigen auch nicht durch den Hinweis auf die Praktikabilität der Verwaltung rechtfertigen. Anwendbar sind auch für T die für alle anderen, ganzjährig im Inland sozialversicherten Personen geltenden Vorschriften (insofern entspricht das Ergebnis dem eines Gleichheitsverstoßes, vgl Rn 40).

162 EuGH, Slg 2000, I-493, Rn 23 ff – Graf; zu dem Zusammenhang (bezogen auf den Verlust von Vergünstigungen der sozialen Sicherheit) bereits Slg 1991, I-1119, Rn 18 ff – Masgio. 163 Vgl nur Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 28 EGV Rn 41 ff. Nicht zutreffend ist die Kritik insofern, als behauptet wird, der Ansatz stamme aus der Zeit „vor (…) Keck“, so aber Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 45 AEUV Rn 223. 164 EuGH, Slg 2000, I-493, Rn 25 ff – Graf. 165 Im Schrifttum überwiegt eher die Kritik, die insofern berechtigt ist, als mit einfachen Formeln eine klare Abgrenzung nicht gelingen kann, vgl nur Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/ EGV, Art 45 AEUV Rn 223 ff.

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3. Adressaten Die Frage, wer Adressat der Grundfreiheiten ist, also durch diese gebunden wird, gehört zur allgemeinen Grundfreiheitsdogmatik: Sie lässt sich sinnvollerweise nur für alle Grundfreiheiten einheitlich beantworten, weil das durch sie aufgeworfene Problem die Auslegung aller Freiheitsrechte berührt. Ihre Beantwortung hängt nämlich wesentlich von der Funktion dieser Rechte und deren Bedeutung für die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen Privaten ab. Insofern kann auf die allgemeinen Ausführungen verwiesen werden (→ § 7 Rn 48 ff). Weil aber wichtige Entscheidungen des EuGH zur Drittwirkung von Grundfreiheiten gerade zu Art 45 AEUV ergangen sind,166 soll daran an dieser Stelle zumindest kurz erinnert werden. Ausgehend von dem Urteil in der Rs Walrave hat der EuGH mehrfach betont, dass auch Eingriffe durch „kollektive Regelungen im Arbeits- und Dienstleistungsbereich“ durch Art 45 AEUV verboten sein können.167 Während diese Rechtsprechung wohl noch durch die Einräumung von Regelungsmacht gegenüber Verbänden und vergleichbaren Einrichtungen zur Regelung von Beschäftigungsbedingungen erklärt werden kann, ist der EuGH in der Rs Angonese über diesen Ansatz klar hinausgegangen: Ein italienischer Staatsangehöriger hatte, weil er sein Studium in Österreich abgeschlossen hatte, eine Bescheinigung über seine Zweisprachigkeit nicht beibringen können, die von einer privaten Bank gefordert worden war und nur in der Provinz Bozen ausgestellt wurde. Dazu hat der EuGH unter Bezugnahme auf die allgemeine Formulierung des Art 45 AEUV, die Bedeutung der Grundfreiheit und die möglichen Behinderungen durch Private ausgeführt, das in Art 45 AEUV ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gelte auch für Privatpersonen.168 Umgekehrt können sich Private hinsichtlich vertraglich vorgesehener Eingriffe ebenfalls auf die anerkannten Rechtfertigungsgründe stützen.169

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III. Rechtfertigung 1. Geschriebene Schranken Die in Art 45 III AEUV genannten Rechte können aus „Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ beschränkt werden. Ihre Stellung scheint dafür zu sprechen, diese Rechtfertigungsgründe nicht auf das Diskriminierungsverbot in Art 45 II

166 Wobei die Relevanz des Art 45 AEUV nicht aus einem angeblich gegenüber der Warenverkehrsfreiheit erhöhten Freiheitsbezug folgt: Eine solche Differenzierung nach Freiheitsgehalten ist wenig sinnvoll. Wesentliche Bedeutung haben aber Besonderheiten der von der Norm erfassten Lebenssachverhalte: Arbeitsbedingungen werden wesentlich durch Tarifverträge festgelegt, und Arbeitsverhältnisse spielen nicht zufällig in der Diskussion um die Drittwirkung von Grundrechten, sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern (wie zB in Italien), eine besondere Rolle. Vgl auch Parpart Die unmittelbare Bindung Privater an die Personenverkehrsfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003. 167 EuGH, Slg 1974, 1405, Rn 16 ff – Walrave; Slg 1995, I-4921, Rn 84 ff – Bosman. Zu den Sportverbänden Becker FS Scholz, 2007, S 995, 1000 ff. 168 EuGH, Slg 2000, I-4139, Rn 30 f, 36 f – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1. Ob der EuGH die Drittwirkung auf das Diskriminierungsverbot beschränken wollte, bleibt fraglich. Dazu Schweitzer FS Musielak, 2004, S 523 ff. 169 EuGH, Slg 1998, I-2521, Rn 24 ff – Clean Car.

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AEUV zu erstrecken,170 insbesondere wenn berücksichtigt wird, dass nach stRspr des EuGH Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind.171 Die besseren Argumente führen jedoch zu einem anderen Ergebnis.172 Die Freizügigkeit ist eine einheitliche Grundfreiheit (Rn 19 ff), womit unterschiedliche Rechtfertigungsmöglichkeiten je nach Ausprägung nicht vereinbar sind. Zudem sind die in Art 45 III AEUV ausdrücklich genannten Gründe auf alle Grundfreiheiten anwendbar,173 und nach allgemeiner Grundfreiheitsdogmatik ist insofern nicht zwischen Beschränkungen und Diskriminierungen zu unterscheiden. Dementsprechend können Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit alle Formen von Eingriffen rechtfertigen.174 In der Praxis spielen sie aber vor allem eine Rolle, wenn es um die Beendigung des Aufenthalts, insbesondere die Ausweisung und Abschiebung von Arbeitnehmern und deren Angehörigen geht.175 Wie bereits erwähnt, sind die Rechtfertigungsgründe eng auszulegen. Es handelt sich um autonome Begriffe, für deren Ausfüllung den Mitgliedstaaten wegen des Bezugs auf nationale Interessen ein Einschätzungsspielraum zusteht. Für die öffentliche Ordnung wird „eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“, gefordert.176 Die Bezugnahme auf die äußere oder innere Sicherheit muss dem Schutz des Mitgliedstaates bzw der für erforderlich gehaltenen Einrichtungen und wichtiger öffentlicher Dienste dienen.177 Im Anwendungsbereich der Freizügigkeit ist vor allem wichtig, dass die RL 2004/38 (Fn 5) insofern Konkretisierungen enthält,178 die man je nach Auslegung des Primärrechts auch als Schranken-Schranken ansehen könnte. Deren Art 27 I bestimmt, dass sich der ordre public-Vorbehalt nicht auf „wirtschaftliche Zwecke“ bezieht, und nach Art 27 II setzt die Berufung auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit ein Anknüpfen an das „persönliche Verhalten“ des Betroffenen voraus.179 Die Krankheiten, welche die öffentliche Gesundheit gefährden können, sind in Art 29 der Richtlinie aufgeführt.180

170 So ua Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 45 AEUV Rn 95; Oppermann/Classen/Nettesheim ER § 27 Rn 45; Wölker/Grill in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 122. 171 Vgl nur EuGH, Slg 1999, I-11, Rn 21 ff – Calfa. 172 So auch Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 120 ff; Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art 39 EGV Rn 324. 173 Vgl nur Streinz ER, Rn 831 ff. 174 Enger, weil die offenen Diskriminierungen für nicht rechtfertigungsfähig haltend, Schneider/ Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 120. 175 Vgl näher nur Renner Ausländerrecht in Deutschland, 1998, 199 ff. 176 EuGH, Slg 1977, 1999, Rn 33/35 – Bouchereau; Slg 1982, 1665, Rn 8 ff – Adoui; Slg 2002, I-10981 ff – Olazabal = JK 2003, EGV Art 39/3. 177 Vgl nur EuGH, Slg 1984, 2727, Rn 35 ff – Campus Oil; Slg 1991, I-4621, Rn 22 ff – Richardt = JK 92, EWGV Art 30, 36/1. 178 Vgl zu den verfahrensrechtlichen Mindestanforderungen oben, Rn 19 ff. 179 Zur unmittelbaren Anwendbarkeit der letztgenannten Bestimmung nur EuGH, Slg 1974, 1337, Rn 13 ff – van Duyn (allerdings äußerte sich der EuGH dort zu der RL 64/221, die aber dieselben Vorschriften enthält (Fn 12)). Danach genügen insbesondere strafrechtliche Verurteilungen für eine Aufenthaltsbeendigung nicht. 180 Allerdings zT unter Verweisung auf andere, änderbare Normen.

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2. Ungeschriebene Schranken Fall 4: (EuGH Slg 2000, I-2681 ff – Lehtonen) Der finnische Profi-Basketballer L, der in Finnland gespielt hatte, wurde nach Beendigung der finnischen Meisterschaft Anfang April von einem belgischen Verein verpflichtet, um die Mannschaft im Endkampf um die belgische Meisterschaft zu verstärken. Diese Verpflichtung bezog sich nur auf die Meisterschaft-Play-offs (dh die Spiele zur Ermittlung des Meisters unter den in der ersten Phase der Ligaspiele punktbesten Mannschaften) und war erst nach dem vom nationalen belgischen Basketball-Verband festgesetzten Stichtag (28.2.) für einen Transfer ausländischer Spieler aus Europa erfolgt. Für Spieler aus dem übrigen Ausland gilt ein etwas späterer Stichtag (31.3.). Deshalb wurde der Einsatz von L mit Punktabzug bestraft und der Verband drohte zusätzliche Sanktionen für den Fall an, dass L noch weitere Spiele bestreiten sollte. Sowohl der Verein als auch L halten die Bestrafung für unvereinbar mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die auch im Sport gelte. Der Verband wendet demgegenüber ein, für den Transfer innerhalb Belgiens bestünden sogar, was sachlich stimmt, strengere Transferregelungen. Zudem sei nicht die Beschäftigung bei dem Verein, sondern nur der Einsatz der zu spät verpflichteten Spieler verboten. Wenn auf Stichtagsregelungen, die auch vom internationalen Basketballverband vorgesehen seien, verzichtet würde, könnte der sportliche Wettkampf unzulässig verzerrt werden.

Da 45 AEUV ebenso wie andere Grundfreiheiten vor Beschränkungen und mittelbaren Diskriminierungen schützen kann, die Schwelle für Eingriffe also relativ niedrig ist, bedarf es wegen der Vielfalt der möglicherweise berührten Rechtsgüter einer Vervollständigung der Rechtfertigungsgründe. Eine Rechtfertigung ist dementsprechend durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses möglich.181 Das gilt jedenfalls für Beschränkungen182 und für versteckte Diskriminierungen,183 nicht aber nach üM für offene Diskriminierungen.184 Ebenfalls als ungeschriebene Schranken können die Grundrechte gelten.185 Auch wenn die Umschreibung „zwingend“ („imperative“, „mandatory“) anderes vermuten lässt, ist der Kreis der schützenswerten Rechtsgüter weit gefasst. Beispiele aus der Rechtsprechung beziehen sich auf den Schutz vor der missbräuchlichen Führung akademischer Grade,186 den Schutz des Sports, insbesondere des sportlichen Wettbewerbs – auch unter Berücksichtigung eines Wettbewerbs unter Nationen, was im Ergebnis zu einem speziellen Schutz für Nationalmannschaften führt.187 Allgemeinere Güter sind die

181 Vgl auch § 7 Rn 101 f; die dogmatische Einordnung ist für die Arbeitnehmerfreizügigkeit vollkommen unbestritten. 182 Vgl nur EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman. 183 Vgl nur EuGH, Slg 1996, I-2617 ff – O’Flynn. 184 S dazu a oben Rn 37. Das dürfte immer noch dem Stand der Rspr entsprechen, wenn auch Durchbrechungen feststellbar sind (der Fall Bosman betraf etwa spezielle Ausländerklauseln) und einiges für die Gegenmeinung spricht; vgl nur Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 AEUV Rn 44. 185 EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 65 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3. 186 EuGH, Slg 1993, I-1663 ff – Kraus = JK 94, EWGV Art 48/2 . 187 EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman. Vgl zur Vereinbarkeit der sog 6+5-Regel der FIFA Battis/Kuhnert EuR 2010, 3 ff; zur Entschädigung des ausbildenden Vereins EuGH, Slg 2010, I-2177 ff – Olympique Lyonnais = JK 2010, AEUV Art 45/3.

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Aufrechterhaltung öffentlicher Einrichtungen iwS, etwa funktionierender Steuerrechtsoder Sozialleistungssysteme,188 von kollektiven Verhandlungssystemen oder Universitäten,189 ebenso der Schutz der Arbeitnehmer und der Verbraucher sowie offensichtlich allgemein einer ordnungsgemäßen Berufsausübung.190 Hingegen ist die Berufung auf rein wirtschaftliche Gründe, praktische Schwierigkeiten191 oder eine Verwaltungsvereinfachung192 grundsätzlich ausgeschlossen. Eine weitere Aufzählung erübrigt sich an dieser Stelle, weil sich die in Betracht kommenden Rechtfertigungsgründe ohnehin nicht abschließend nennen lassen.193 Zudem handelt es sich bei den zwingenden Allgemeininteressen um für alle Grundfreiheiten relevante Rechtfertigungsgründe, die nach allgemeinen und übergreifenden Kriterien zu bestimmen sind.194

3. Schranken-Schranken 52

Eine Berufung auf bestimmte Rechtsgüter als Rechtfertigungsgründe scheidet aus, wenn deren Schutz bereits abschließend unionsrechtlich geregelt ist (a). Für alle übrigen Fälle, und das sind wohl nach wie vor die meisten, muss der Eingriff verhältnismäßig sein (b).

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a) Sieht man von der sekundärrechtlichen Konkretisierung der geschriebenen Schranken ab (Rn 47), finden sich die wichtigsten Schranken für eine mitgliedstaatliche Bestimmung des Schutzes von Rechtsgütern im Bereich der Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Für Rechtsanwälte existieren berufsbezogene Harmonisierungsvorschriften (sektorale RLen),195 zum anderen horizontale Vorschriften für die Anerkennung von Diplomen und sonstigen Befähigungsnachweisen.196 Sie beziehen sich auch auf unselbständige Tätigkeiten und sind ua auf Art 46 AEUV gestützt, erfassen aber keineswegs alle Berufe.

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b) Verhältnismäßig sind Eingriffe nur dann, wenn sie geeignet, erforderlich und angemessen sind; insofern gelten für Art 45 AEUV keine Besonderheiten (→ § 7 Rn 109). Was die Kontrolldichte angeht, ist allgemein zu berücksichtigen, dass in manchen Materien – wie der direkten Besteuerung oder der sozialen Sicherheit – nach wie vor die Regelungszuständigkeiten in erster Linie bei den Mitgliedstaaten liegen. Diesen obliegt die Bestim-

188 Vgl etwa EuGH, Slg 1992, I-249 ff – Bachmann. 189 EuGH, Slg 1993, I-4309 ff – Allué II. 190 Zumindest in der Sache verfährt der EuGH hier offensichtlich großzügig, wenn er etwa bei Forderung bestimmter Qualifikationen das geschützte Rechtsgut nicht näher benennt, was allerdings auch daran liegen kann, dass in den entschiedenen Fällen der Eingriff zumeist ohnehin unverhältnismäßig ist, vgl nur Slg 2000, I-4139 ff – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1. 191 Vgl EuGH, Slg 1998, I-1095 ff – Kommission/Griechenland. 192 Offengelassen, aber so angedeutet auch für die Erleichterung der Steuererhebung in EuGH, Slg 2000, I-3337, Rn 25 ff – Zurstrassen. 193 Zu fordern ist nur eine unionsrechtliche Anerkennung, vgl Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 AEUV Rn 37 f. 194 Vgl für die Personenverkehrsfreiheiten nur EuGH, Slg 1992, I-3351 ff – Ramrath; Slg 1995, I-4165 ff – Gebhard. 195 Vgl RL 98/5 und RL 77/249. Die übrigen sektoralen RL für den Bereich der medizinischen Berufe und der Architekten wurden in der RL 2005/36 zusammengefasst und mit Wirkung v 20.7.2007 aufgehoben; Nachweise bei Schlag in: Schwarze, EU-Komm, Art 53 AEUV Rn 13 ff. 196 Genauer: Die RL 89/48 (Hochschuldiplome); RL 92/51; RL 92/51 (2. Hochschuldiplom RL); RL 99/42 (Befähigungsnachweise). Diese Einzelrichtlinien wurden mit Wirkung vom 20.7.2007 aufgehoben und zusammengefasst durch die RL 2005/36 (Berufsqualifikationen).

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mung des Schutzniveaus.197 Das führt zwar nicht zu Bereichsausnahmen, sollte aber den Mitgliedstaaten erlauben, plausible Beschränkungen aufrechtzuerhalten, um die bestehenden nationalen Einrichtungen nicht zu gefährden. An dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit scheitert häufig eine Rechtfertigung von mittelbaren Diskriminierungen (Rn 38), wenn etwa im Ausland erworbene Sprachkenntnisse198 oder berufliche, durch die Harmonisierung nicht erfasste Qualifikationen199 nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt werden. Auch Wohnsitzanforderungen sind zumeist zumindest nicht erforderlich.200 Selbst wenn ein Schutz als solcher verhältnismäßig ist, darf er nicht mit unverhältnismäßigen Sanktionen durchgesetzt werden.201 Gerade auch für ausländerrechtliche Maßnahmen wie Ausweisung und Abschiebung gilt, dass sie in angemessenem Verhältnis zu den von den Betroffenen begangenen Verstößen stehen müssen.202 Lösung Fall 4: Über den Fall L hatte der EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens zu entscheiden. Das Urteil ist schon deshalb lesenswert, weil es die Prüfung des Art 45 AEUV und die dabei immer wieder auftretenden Standardprobleme beispielhaft nachvollzieht. (1) Zum Schutzbereich ist zunächst noch einmal zu wiederholen, dass für den Sport keine Bereichsausnahme besteht. Entscheidend ist nur, dass L eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, und es sich dabei auch um eine „tatsächliche und echte“ Tätigkeit handelt, „die keinen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt“. Das ist bei einem Profisportler unzweifelhaft. L ist auch im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses, also weisungsgebunden und gegen Vergütung tätig geworden. Die Freizügigkeit garantiert nicht nur den Abschluss des Arbeitsvertrags, sondern auch die Ausübung der Tätigkeit; selbst wenn das Verbot nur an die Vereine gerichtet ist, betrifft es in der Sache doch die Beschäftigungsmöglichkeiten der Spieler. Der Einwand, verboten sei nur der Einsatz, geht also ins Leere. (2) Adressaten des Art 45 AEUV sind nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Verbände, die durch kollektive Vereinbarungen die Berufstätigkeit regulieren; weitere Ausführungen zur Drittwirkung erübrigen sich. Was den Eingriff angeht, so liegt eine offene, an

197 Das gilt allgemein, so dass unterschiedlich hohe Anforderungen in den Mitgliedstaaten nicht per se unverhältnismäßig sind, vgl EuGH, Slg 1999, I-7289, Rn 34 ff – Zenatti. 198 Vgl EuGH, Slg 1989, 3967, Rn 23 f – Groener; Slg 2000, I-4139, Rn 44 ff – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1. 199 Vgl EuGH, Slg 1999, I-4773, Rn 29 ff – Fernández de Bobadilla; näher zur Vergleichsprüfung Slg 1991, I-2357 ff – Vlassopoulou. 200 Vgl etwa zu Bewachungsunternehmen im Hinblick auf die Überprüfung des Personals EuGH, Slg 2000, I-1221, Rn 32 f – Kommission/Belgien = JK 2000, EGV Art 49/3; zT ungeeignet, zT nicht erforderlich für die Erfüllung der Verpflichtungen eines Geschäftsführers, Slg 1998, I-2521, Rn 34 ff – Clean Car. Eine bereits in einem anderen Mitgliedstaat erworbene Zulassung darf eine weitere Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat nicht ausschließen, vgl etwa Slg 1992, I-3351 ff – Ramrath. 201 Vgl etwa EuGH, Slg 1999, I-6207, Rn 44 ff – Wijsenbeek. 202 Es bedarf also einer Einzelfallprüfung, die auch von der RL 64/221 (Fn 12) gefordert wird, vgl dazu EuGH, Slg 1999, I-11 ff – Calfa. An die Missachtung von Förmlichkeiten dürfen keine schwerwiegenden Folgen geknüpft werden, vgl Weerth in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, 6. Aufl 2012, Art 45 AEUV Rn 65.

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die Staatsangehörigkeit anknüpfende Diskriminierung nicht vor. Auch eine versteckte Diskriminierung scheidet angesichts der Besserstellung von Transfers aus dem Ausland aus. Art 45 AEUV verbietet aber auch nicht gerechtfertigte Beschränkungen der Freizügigkeit. Der EuGH stellte dazu fest: „Gleichwohl kann die fragliche Regelung die Freizügigkeit von Spielern, die ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben wollen, dadurch einschränken, dass sie es belgischen Vereinen untersagt, Basketballspieler aus anderen Mitgliedstaaten bei Meisterschaftsspielen einzusetzen, wenn diese Spieler erst nach einem bestimmten Zeitpunkt verpflichtet wurden. Diese Regelung bildet damit ein Hindernis für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer.“ (3) Zu prüfen bleibt eine Rechtfertigung des Eingriffs. Diese kann sowohl auf die geschriebenen als auch die ungeschriebenen Schranken des Art 45 AEUV gestützt werden. Für eine Beeinträchtigung der ausdrücklich geschützten Rechtsgüter liegen keine Anhaltspunkte vor. Zu den schützenswerten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses zählt hingegen auch die Sicherstellung des „geordneten Ablaufs sportlicher Wettkämpfe“. Der Eingriff muss aber verhältnismäßig sein. Da späte Transfers den Verlauf der Meisterschaft verzerren und die Vergleichbarkeit der zuvor erzielten Ergebnisse verhindern können, sind Stichtagsregelungen zur Herstellung gleicher Bedingungen geeignet. Ob die konkreten Transferregelungen auch erforderlich sind, blieb jedoch zweifelhaft. Die Beurteilung hängt wesentlich vom gewählten Zeitpunkt und dessen Bedeutung für den Verlauf der Meisterschaft ab. Im vorliegenden Fall galt der Stichtag 28.2. nur für Spieler aus der europäischen Zone, für im übrigen Ausland eingesetzte Spieler galt aber der 31.3. Diese Differenzierung legt eine Unverhältnismäßigkeit der Beschränkung für die europäische Zone nahe, sofern das nationale Gericht nicht auf sachliche (auf die Gefährdung des sportlichen Wettbewerbs bezogene) Gründe für die unterschiedlichen Stichtage stoßen sollte.

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§ 10 Niederlassungsfreiheit Christian Tietje Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1991, I-2357 ff – Vlassopoulou; Slg 1991, I-3956 ff – Factortame = JK 92, EWGV Art 52/2; Slg 1995, I-4165 ff – Gebhard; Slg 1997, I-3143 ff – VT4; Slg 1998, I-6717 ff – Kommission/Spanien; Slg 1999, I-1459 ff – Centros; Slg 1999, I-2835 ff – Pfeiffer; Slg 1999, I-3289 ff – Meeusen; Slg 1999, I-11 ff – Calfa; Slg 2002, I-9919 ff – Überseering = JK 2003, EGV Art 43/3; Slg 2003, I-10155 ff – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4; Slg 2004, I-2409 ff – de Lasteyrie du Saillant = JK 2004, EGV Art 43/5; Slg 2007, I-10779 ff – Viking = JK 2008, EGV Art 43/9; Slg 2008, I-9641 ff – Cartesio; EuZW 2012, 621 – Vale = JK 2013, AEUV Art 49/1. Schrifttum: Bayer/Schmidt Das Vale-Urteil des EuGH: Die endgültige Bestätigung der Niederlassungsfreiheit als „Formwechselfreiheit“, ZIP 2012, S 1481 ff; Bergmann Niederlassungsfreiheit: Wegzug und Zuzug von Gesellschafen in der EU, ZEuS 2012, S 233 ff; Ego Europäische Niederlassungsfreiheit der Kapitalgesellschaft und deutsches Gläubigerschutzrecht, 2007; Jestädt Niederlassungsfreiheit und Gesellschaftskollisionsrecht, 2005; Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000; Leible/Hoffmann „Überseering“ und das (vermeintliche) Ende der Sitztheorie, RIW 2002, S 925 ff; Mülbert/Schmolke Die Reichweite der Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften – Anwendungsgrenzen der Art 43 ff EGV bei kollisions- und sachrechtlichen Niederlassungshindernissen, ZVglRWiss 100 (2001), S 233 ff; Nachbaur Niederlassungsfreiheit: Geltungsbereich und Reichweite des Art 52 EGV im Binnenmarkt, 1999; Pasternacki Zur Abgrenzung von Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit bei Niederlassungen mit Teilfunktion, 2000; Schnichels Reichweite der Niederlassungsfreiheit. Dargestellt am Beispiel des deutschen Internationalen Gesellschaftsrechts, 1995; Unzicker Niederlassungsfreiheit der Kapitalgesellschaften in der Europäischen Union nach der Centros- und der Überseering-Entscheidung des EuGH, 2004; von Halen Das Gesellschaftsstatut nach der Centros-Entscheidung des EuGH: kollisionsrechtliche Tragweite, materiellrechtliche Folgen und gesellschaftsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten, 2001.

I. Einleitung 1. Grundlegende Strukturen und Probleme der Niederlassungsfreiheit im System der Grundfreiheiten Der Binnenmarkt als zentrales Integrationsziel und -konzept der EU umfasst nach Art 26 II AEUV „einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital […] gewährleistet ist“. Von der Niederlassungsfreiheit ist keine Rede. Allerdings finden sich die Vorschriften über „das Niederlassungsrecht“ dann im dritten Teil, Titel IV des AEUV („Die Freizügigkeit, der freie Dienstleistungsund Kapitalverkehr“). Damit gehört die Niederlassungsfreiheit systematisch als Personenverkehrsfreiheit1 zu den Grundfreiheiten. Durch den AEUV (Dritter Teil, Titel IV, Kap 2 – „Das Niederlassungsrecht“) wird dies nun auch klar herausgestellt. Entspr der Bedeutung der Grundfreiheiten in der Unionsrechtsordnung insg wies der EuGH daher wiederholt darauf hin, dass die Niederlassungsfreiheit in Art 26 II AEUV schon vor diesem Hinter-

1 Zur Einordnung der Niederlassungsfreiheit als Personenverkehrsfreiheit Bast in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, EUV/AEUV, Art 26 AEUV Rn 5.

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grund keine weitere Bedeutung hat, was sich an der expliziten Nennung des Niederlassungsrechts in Art 49 ff AEUV auch explizit im Vertrag bestätigt. Das materiellrechtliche Anliegen der Garantie der Niederlassungsfreiheit in Art 49 AEUV erschließt sich, wenn ein Blick auf die Funktion dieser Rechtsgarantie im Integrationskonzept des AEUV geworfen wird. Zentrales Anliegen des Binnenmarktes (26 AEUV) ist es, den Markt- bzw heute Unionsbürgern (Art 20 AEUV2) ökonomisch rationale Entscheidungen unter weitgehendem Ausschluss staatlicher Einflussnahme zu ermöglichen.3 Art 120 AEUV macht das durch den Verweis auf eine „offen[e] Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird, …“ deutlich. Im grenzüberschreitenden, den Binnenmarkt territorial umfassenden Raum (vgl Art 52 EUV/349, 355 AEUV), kann diese Zielsetzung nur verwirklicht werden, wenn die – weitgehende – Freiheit der wirtschaftlichen Faktormobilität gesichert ist. Ökonomisch rationale Entscheidungen sollen also darüber bestimmen, wo – im territorialen Sinne – sich die Produktionsfaktoren Arbeit bzw Organisation sowie Kapital ansiedeln. Die Wirtschaftssubjekte sollen dementsprechend nur auf der Grundlage der ihrer Ansicht nach besten Standortbedingungen ihre wirtschaftlich relevanten Marktentscheidungen treffen dürfen.4 Dabei verlangen die Grundfreiheiten iSd Binnenmarktkonzeptes nach Art 26 AEUV allerdings nicht eine vollkommene Aufhebung rechtlicher Grenzen in der Union bzw zwischen den Mitgliedstaaten. In dem weiterhin und notwendig rechtlich segmentierten Binnenmarkt soll – abgesehen von Rechtsangleichungsmaßnahmen zB nach Art 50 AEUV und 114 AEUV – zunächst nur der freie Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr gewährleistet sein.5 Ursprünglich erfolgte die Verwirklichung der Grundfreiheiten nur über das Bestimmungslandprinzip. Dieses im Diskriminierungsverbot (Art 18 AEUV; → näher dazu § 13 Rn 2 ff) zum Ausdruck kommende Prinzip gewährleistet „nur“, dass Waren, Personen etc im Bestimmungsland nicht gegenüber den vergleichbaren inländischen Waren, Personen etc benachteiligt werden; es handelt sich insofern um eine Inländergleichbehandlungsgarantie, der es nicht um rechtliche Regelungen des Herkunftslandes geht. Dieses ursprüngliche Konzept änderte sich erst mit der Herausbildung des Herkunftslandprinzips.6 Es besagt in seiner durch die Dogmatik zu den Beschränkungsverboten begründeten (→ § 7 Rn 30 f) heutigen Dimension, dass Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital zwar den rechtlichen Anforderungen des Bestimmungslandes entsprechen müssen, um ihre Verkehrsfähigkeit zu begründen, es hierzu aber nicht auf die spezifische Erfüllung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Bestimmungslandes ankommt. Vielmehr ist seit der Cassis-Entscheidung des EuGH7 anerkannt, dass Regelungen der Mitgliedstaaten, die trotz ihrer unterschiedslosen Anwendung den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen oder Kapital beschränken, einer gesonderten Rechtfertigung bedürfen. Hieraus 2 Zur ursprünglichen Marktbürgerschaft und der heutigen, um das politische Moment erweiterten Unionsbürgerschaft statt vieler Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 20 AEUV Rn 1 ff; Schönberger in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 20 AEUV Rn 7 ff. 3 IdS a v Bast in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 26 AEUV Rn 12; Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, S 28. 4 Lackhoff (Fn 3) S 28 f; Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 28 Rn 10. 5 Mülbert/Schmolke ZVglRWiss 100 (2001), 233, 238 mwN. 6 Zur Bedeutung des Herkunftslandprinzips für die Verwirklichung des Binnenmarktes bzw der Grundfreiheiten statt vieler Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 26 AEUV Rn 10. 7 EuGH, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon.

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folgt, dass zunächst die Beschaffenheit etc der genannten ausländischen ökonomischen Faktoren anzuerkennen ist. Es besteht mithin eine widerlegbare Vermutung für die Verkehrsfähigkeit, wenn die diesbezüglichen rechtlichen Voraussetzungen im Herkunftsland gegeben sind.8 Durch diesen Mechanismus, der dogmatisch, wie bereits hervorgehoben, auf die Lehre von den Beschränkungsverboten zurückzuführen ist, wurde das Bestimmungslandprinzip im Binnenmarkt deutlich weiterentwickelt. Ausgehend von dieser allgem, den freiheitlichen und damit wohlfahrtssteigernden Erkenntnissen und Konsequenzen der Theorie komparativer Kostenvorteile9 folgenden Ratio der Grundfreiheiten insg, lässt sich in einem weiteren Schritt die Zielsetzung der Niederlassungsfreiheit bestimmen. Zunächst soll die Niederlassungsfreiheit allgem natürlichen und juristischen Personen die Möglichkeit eröffnen, ohne Benachteiligung (Diskriminierung) gegenüber Inländern eine Niederlassung in jedem Mitgliedstaat zu begründen. Entspr der grundsätzlichen Ratio der Grundfreiheiten soll so eine optimale Ressourcenallokation aufgrund freier unternehmerischer Entscheidung erreicht werden. In Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit bleibt es dabei dem Wirtschaftssubjekt überlassen, ob nur die Erbringung der einzelfallbezogenen Dienstleistung oder die teilweise oder vollständige Verlagerung der Geschäftsaktivitäten iS einer Niederlassung erfolgt.10 Zunächst wurde auch bei der Niederlassungsfreiheit historisch bedingt nur auf das Bestimmungslandprinzip abgestellt, wonach es nur darauf ankommt, dass eine ausländische natürliche oder juristische Person im Rahmen der Niederlassung nicht gegenüber entsprechenden Inländern benachteiligt wird.11 Diese ausschließliche Bezugnahme auf das Bestimmungslandprinzip hat sich aber aufgrund der Fortentwicklung der Grundfreiheiten insg als Beschränkungsverbote zwischenzeitlich relativiert; hierauf ist mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit noch zurückzukommen (Rn 53). Das damit auch bei der Niederlassungsfreiheit in den Vordergrund tretende Herkunftslandprinzip ist hier allerdings nicht unproblematisch. Wesentlich intensiver als bei den anderen Grundfreiheiten stellt sich nämlich bei der Niederlassungsfreiheit das Problem, dass die Verwirklichung der Niederlassung untrennbar mit zahlreichen, zB gesellschafts- und steuerrechtlichen Vorgaben des Bestimmungslandes verbunden ist. Die Begründung einer Niederlassung ist nicht nur ein rein ökonomischer Vorgang im Marktgeschehen, sondern regelmäßig ein komplexes rechtliches Geschehen. Die Niederlassung führt insofern zwingend zu einer Teil- oder Vollintegration des Niederlassenden in die Rechtsordnung des Bestimmungslandes. Vor diesem Hintergrund steht die unbesehene Übernahme der grundfreiheitlichen Dogmatik zu umfassenden Beschränkungsverboten vor dem Problem, dass damit eine radikale Liberalisierung der für die Niederlassung relevanten nationalen Rechtsregeln der Mitgliedstaaten verbunden wäre. Dass die Niederlassungsfreiheit gem Art 49 AEUV nicht diese weitreichenden Wirkungen entfaltet und entfalten kann, wird kaum zu bezweifeln sein.12 Wo 8 Zu diesem Konzept der gegenseitigen Anerkennung als Folge der Cassis-Rspr statt vieler Rönck Technische Normen als Gestaltungsmittel des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1995, S 81 ff; Dauses/Brigola in: HdBEUWirtschR, C.I. Rn 106 f. 9 Hierzu statt vieler Tietje Normative Grundstrukturen der Behandlung nichttarifärer Handelshemmnisse in der WTO/GATT-Rechtsordnung, 1998, S 76; Siebert Weltwirtschaft, 1997, S 173 ff. 10 Statt vieler Lackhoff (Fn 3) S 29 f. 11 Umfassend zu dieser Dimension der Niederlassungsfreiheit Lackhoff (Fn 3) S 214 ff; im Überbl a Frenz GF, Rn 1848 ff. 12 Zu dem angesprochenen Spannungsverhältnis statt vieler Mülbert/Schmolke ZVglRWiss 100 (2001), 233, 238 ff.

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allerdings im Einzelnen die Grenze zwischen Bestimmungsland- und Herkunftslandprinzip verläuft und wie diese dogmatisch einzuordnen ist, stellt Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung vor große Probleme. Die wesentlichen rechtlichen Probleme, die sich bei der Auslegung und Anwendung der Art 49 ff AEUV stellen, sind auf diese Grundproblematik zurückzuführen.

2. Das Zusammenspiel von unions- und völkerrechtlicher Niederlassungsfreiheit 6

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Bevor die dogmatische Struktur der unionsrechtlichen Niederlassungsfreiheit näher betrachtet wird, ist es notwendig, einen Blick auf das Zusammenspiel mit entspr Rechtsverbürgungen im Völkerrecht zu werfen. Die Niederlassungsfreiheit hat in Europa bereits frühzeitig verschiedene völkervertragsrechtliche Regelungen erfahren. Das geschah zunächst durch zahlreiche bilaterale Niederlassungsverträge. Diese blieben in ihrer inhaltlichen Reichweite allerdings deutlich hinter den Rechtsverbürgungen des Art 49 AEUV zurück, da sie regelmäßig mit Vorbehalten im Hinblick auf die Inländergleichbehandlung versehen waren und zudem dem Gegenseitigkeitserfordernis unterlagen.13 Auch das im Rahmen des Europarates geschlossene Europäische Niederlassungsabkommen v 13 Dezember 195514 ist mit verschiedenen Ausnahmeregelungen versehen, wodurch die Wirksamkeit seiner Rechtsgarantien deutlich beeinträchtigt wird.15 Eine bes Rechtslage ist mit Blick auf das Assoziationsabkommen der EU mit der Türkei (→ § 9 Rn 32)16 und die auf der Grundlage dieses Abkommens ergangenen Beschlüsse des Assoziationsrates gegeben. Das Abkommen, seine ZP und die Assoziationsratsbeschlüsse sind zwar „integrierender Bestandteil des Gemeinschaftsrechts“,17 allerdings ist damit noch nicht zwingend die Möglichkeit türkischer Staatsangehöriger eröffnet, sich unmittelbar auf die entsprechenden Rechtsnormen zu berufen. Die hierzu erforderliche unmittelbare Anwendbarkeit wird vom EuGH für das Assoziationsabkommen, das ua Regelungen zur Niederlassungsfreiheit enthält (Art 13), abgelehnt.18 Bejaht wird von ihm die unmittelbare Anwendbarkeit aber für Art 41 I des ZP zu dem Abkommen, der die Einf neuer Beschränkungen für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit verbietet.19 Nach dieser Rspr des EuGH kann sich für einen türkischen Staatsangehörigen, der sich bereits rechtmäßig in einem Mitgliedstaat zur Ausübung der Niederlassungsfreiheit aufhält, ein Aufenthaltsrecht ergeben.20 Darüber hinausgehende, das Niederlassungsrecht des Assoziationsabkommens konkretisierende Beschlüsse des Assoziationsrates liegen indes noch nicht vor; bislang wurden nur Verhandlungen zu einer fortschreitenden Liberalisierung des Dienstleistungssektors vereinbart.

13 Einzelheiten bei Troberg/Tiedje in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Vorbem Art 43–48 EGV Rn 28 ff. 14 BGBl II 1959, 997. 15 Hierzu statt vieler Schlag in: Schwarze, EU-Komm, Art 49 AEUV Rn 7; Fikentscher Wirtschaftsrecht, Bd I, Weltwirtschaftsrecht und Europäisches Wirtschaftsrecht 1983, S 138. 16 ABl 1964 217/3685. 17 S zB EuGH, Slg 1987, 3719, Rn 7 – Demirel; Slg 1990, I-3461, Rn 9 – Sevince = JK 91, EWGV Art 177/1. 18 EuGH, Slg 1987, 3719, Rn 25 – Demirel. 19 EuGH, Slg 2000, I-2927, Rn 46 ff – Savas. 20 Einzelheiten hierzu bei Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 39 mwN.

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Über den territorialen Anwendungsbereich des AEUV hinausgehend finden sich Rechtsverbürgungen zur Niederlassungsfreiheit auch in den sog Europa-Abkommen mit den mittel- und osteuropäischen Ländern. Sie enthalten alle ua ein Verbot diskriminierender Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit, dem unmittelbare Anwendbarkeit zukommt.21 Die entspr Bestimmungen, die auch ein Einreise- und Aufenthaltsrecht begründen,22 bleiben zT nach dem Beitritt der Staaten zur EU relevant, soweit in der Beitrittsakte für eine Übergangszeit im Freizügigkeitsbereich Abweichungen vom umfassenden Schutzniveau der Grundfreiheiten des AEUV zulässig sind.23 Eine weitere Dimension des Niederlassungsrechts hat sich mit dem In-Kraft-Treten des Übk zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) und dem Allgem Übk über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) als integralem Bestandteil des WTO-Übk ergeben. Das GATS liberalisiert Dienstleistungen ua mit Blick auf die „kommerzielle Präsenz“ in einem Staat (vgl Art I:2 lit c GATS). Diese wird in Art XXVIII lit d GATS definiert als „jede Art geschäftlicher oder beruflicher Niederlassung durch – unter anderem – i) die Errichtung, den Erwerb oder die Fortführung einer juristischen Person oder ii) die Errichtung oder Fortführung einer Zweigstelle oder einer Repräsentanz im Hoheitsgebiet eines Mitglieds zum Zwecke der Erbringung einer Dienstleistung“. Die damit umfassend geregelte Niederlassungsfreiheit des GATS24 gilt allerdings nur in den Dienstleistungsbereichen, in denen die WTO-Mitglieder ausdrückliche Liberalisierungsverpflichtungen eingegangen sind (vgl Art XVI und XX GATS). Zudem besteht die Möglichkeit, ua Restriktionen im Bereich der rechtlichen Ausgestaltung von Unternehmensformen und der Kapitalbeteiligung vorzusehen (Art XVI:2 lit e und f GATS). Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben sich in zahlreichen Dienstleistungsbereichen einer ua das Niederlassungsrecht umfassenden Liberalisierungsverpflichtung iSv Art XVI GATS unterworfen, zugleich aber auch in einzelnen Bereichen Ausnahmen festgeschrieben.25 Das GATS hat damit in einem ersten, sicherlich noch ausbaufähigen Schritt eine mit nahezu universeller Wirkung versehene Liberalisierung im Niederlassungsrecht erwirkt. Die insofern gegebene völkerrechtliche Bindung der EU und ihrer Mitgliedstaaten an das GATS entfaltet allerdings nach der Rspr des EuGH keine unmittelbare Anwendbarkeit, so dass sich natürliche und juristische Personen hierauf nicht berufen können und auch

21 EuGH, Slg 2001, I-6369, Rn 30 ff – Gloszczuk; Slg 2001, I-6557 ff – Barkoci u Malik; Slg 2001, I-8615, Rn 26 ff – Jany = JK 2002, EGV Art 43/2. 22 Hierzu und zu den Grenzen s Schlussanträge GA Maduro, EuGH, Slg 2004, I-11055, Rn 24 ff – Panayotova. 23 Zu Einzelheiten s die Anh V ff Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die EU begründenden Verträge, ABl EG Nr L 236 v 23.9.2003, S 803 ff. 24 Hierzu a Koehler Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), 1999, S 93 f mwN. 25 Einzelheiten sind in der entspr Verpflichtungsliste der EU und ihrer Mitgliedstaaten niedergelegt, WTO Dok GATS/SC/31. Im Überb für die Mitgliedstaaten der EU Senti WTO – System und Funktionsweise der Welthandelsorganisation, 2000, Rn 1259 ff; Barth EuZW 1994, 455 ff; umfassend z GATS a Koehler (Fn 24).

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eine Überprüfung sekundären Unionsrechts am Maßstab des GATS ausscheidet.26 Da aber trotz dieser Rspr die völkerrechtliche Bindung der EU und ihrer Mitgliedstaaten an das GATS umfassend gegeben ist und überdies im Einzelfall eine Verpflichtung zur völkerrechtskonformen Auslegung des Unionsrechts und des Rechts der Mitgliedstaaten bestehen kann,27 ist das Niederlassungsrecht des GATS bei der Analyse der Art 49 ff AEUV zu beachten, soweit es um Niederlassungen von natürlichen und juristischen Personen aus Drittstaaten geht. Bes relevant ist dies mit Blick auf die auch für das EU-Recht problematische Frage nach der Vereinbarkeit von Niederlassungsfreiheit und Sitztheorie; hierauf ist noch zurückzukommen (Rn 64 ff). Im Übrigen ist insoweit auch zu beachten, dass es zwischenzeitlich zahlreiche Freihandelsabkommen gibt, die die Regelungsstruktur des GATS auch mit Blick auf das Niederlassungsrecht fortführen (Rn 74).28 Das GATS selbst erfährt gegenwärtig eine plurilaterale Fortentwicklung durch Verhandlungen über ein Trade in Service Agreement, das – sofern Verhandlungen hierzu erfolgreich sein werden – eine weitere Dimension in die völkerrechtliche Absicherung eines Niederlassungsrechts bringen wird.29 Insg zeigt sich damit auch im Niederlassungsrecht eine zunehmende Verschränkung von Unionsrecht und Völkerrecht.30

II. Schutzbereich 12

Wie bei den anderen Grundfreiheiten des Unionsrechts ist auch bei Art 49 AEUV stets zunächst zu prüfen, ob der Schutzbereich der Vorschrift in einer konkreten Sachverhaltskonstellation eröffnet ist (→ § 7 Rn 70 ff). Dabei kann auch mit Blick auf Art 49 AEUV zwischen dem räumlichen, personellen und sachlichen Schutzbereich differenziert werden.

1. Räumlicher Schutzbereich 13

Der räumliche Schutzbereich des Art 49 I AEUV bezieht sich in erster Linie auf den territorialen Anwendungsbereich des Unionsrechts insg (vgl Art 52 EUV/349, 355 AEUV). Darüber hinaus kann allerdings auch dann der Schutzbereich des Art 49 I AEUV eröffnet sein, wenn eine Niederlassung außerhalb der EU in Frage steht und die ihr zugrunde liegenden Rechtsbeziehungen oder ihre Auswirkungen einen hinreichend engen Bezug zum Unionsgebiet iSv Art 52 EUV/349, 355 AEUV aufweisen.31 Angesichts der spezifischen 26 EuGH, Slg 1999, I-8395, Rn 47 – Portugal/Rat = JK 2000, EGV Art 300/1; Slg 2000, I-11307, Rn 43 – Parfums Christian Dior; zur Kritik an dieser problematischen Rspr zB Berrisch/Kaman EWS 2000, 89 ff. 27 Zu den diesbezüglichen Grundsätzen mit Blick auf das WTO-Recht EuGH, Slg 1998, I-3603, Rn 28 – Hermès; Slg 2000, I-11307, Rn 47 f – Parfums Christian Dior; umfassend a Tietje Internationalisiertes Verwaltungshandeln, 2001, 577 ff mwN. 28 Hierzu zB Tietje/Finke/Dietrich Liberalization and Rules on Regulation in the Field of Financial Services in Bilateral Trade and Regional Integration Agreements, 2010, S 16 ff, verfügbar unter: http://www.giz.de/Themen/en/dokumente/gtz2010-en-financial-services-ftas.pdf. 29 S hierzu zB Trade in services: towards a plurilateral agreement, Library Briefing, Library of the European Parliament 17/07/2013, verfügbar unter http://www.europarl.europa.eu/RegData/ bibliotheque/briefing/2013/130591/LDM_BRI%282013%29130591_REV1_EN.pdf. 30 Im Überb hierzu allgem Hobe/Müller-Satori JuS 2002, 8 ff. 31 Zahlreiche Nachw hierzu insg für die Grundfreiheiten bei Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 12 ff.

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Besonderheiten der Niederlassung nach Art 49 I AEUV, die sie insb von der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Dienstleistungsfreiheit unterscheidet und die in der engen Einbindung in die Rechtsordnung eines dritten Staates ihre Wurzeln hat, handelt es sich bei dieser Möglichkeit der Ausweitung des räumlichen Schutzbereiches freilich nur um eine eher theoretische Konstruktion. Größere praktische Bedeutung kann allerdings der Ausdehnung des räumlichen Anwendungsbereiches auf Gebiete außerhalb des Art 52 EUV/349, 355 AEUV zukommen, in denen die Mitgliedstaaten der EU bzw die Union selbst nach völkerrechtlichen Regelungen bes Rechte ausüben dürfen. Das gilt insb für die ausschließliche Wirtschaftszone nach Art 55 ff SRÜ32, der eine nicht unerhebliche ökonomische Bedeutung zukommt. Insb diese wirtschaftliche Dimension, um deren Effektuierung es den Grundfreiheiten allgemein und damit auch der Niederlassungsfreiheit geht, spricht für die Anerkennung der räumlichen Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit in der ausschließlichen Wirtschaftszone der betr EU-Mitgliedstaaten.33

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2. Personeller Schutzbereich Der personelle Schutzbereich des Art 49 I AEUV umfasst zunächst natürliche Personen mit der Staatsangehörigkeit einer der Mitgliedstaaten der EU (Rn 64 ff). Das ergibt sich bereits aus dem klaren Wortlaut der Vorschrift. Angehörige von Drittstaaten können sich nicht unmittelbar auf Art 49 I AEUV berufen, für Familienangehörige von Unionsbürgern entfaltet die Niederlassungsfreiheit jedoch eine mittelbare Rechtswirkung;34 überdies gewährt ihnen das einschlägige Sekundärrecht gewisse Rechte.35 Im Übrigen verbleibt es mit Blick auf Drittstaatsangehörige bei den Rechten, die sich aus den genannten völkerrechtlichen Verträgen als integrierendem Bestandteil des Unionsrechts ergeben (Rn 6 f). Ein bes wichtiger Aspekt des personellen Schutzbereiches der Niederlassungsfreiheit betrifft seine Erstreckung auf juristische Personen. Die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit für juristische Personen ergibt sich aus Art 54 AEUV. Da sich mit Blick auf Art 54 AEUV und die diesbezügliche Reichweite des Niederlassungsrechts komplexe Sonderprobleme ergeben, soll hierauf an späterer Stelle eingegangen werden (Rn 66 f).

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3. Sachlicher Schutzbereich Fall 1: (Vgl EuGH, Slg 1991, I-3956 ff – Factortame = JK 92, EWGV Art 52/2) Der spanische Betreiber von Fischereischiffen F lässt Anfang der 1980er Jahre eine große Anzahl seiner Schiffe im Vereinigten Königreich registrieren. Dadurch wollte er erreichen, auch die britischen Fischereiquoten in Anspruch nehmen zu können (sog „Quotenspringen“). Um dieser Praxis Einhalt zu gebieten, wird 1988 im Vereinigten Königreich ein Gesetz erlassen, nach dem alle unter britischer Flagge fahrenden Schiffe erneut in das Schiffsregister einzutragen sind. Die Eintragung in das Schiffsregister setzt ua voraus, dass das fragliche Schiff vom Vereinigten Königreich aus operiert und sein Einsatz von dort aus ge-

32 Seerechtsübk der Vereinten Nationen, BGBl II 1994, 1799; zur ausschließlichen Wirtschaftszone iSd Seevölkerrechts statt vieler Graf Vitzthum in: ders, VR 5. Abschn Rn 51 ff. 33 Z Problem und mit Nachw z Streitstand Lackhoff (Fn 3) S 200 f. 34 EuGH, Slg 1992, I-4265, Rn 23 – Singh; Schlag in: Schwarze, EU-Komm, Art 49 AEUV Rn 30 und 50; Müller-Graff in: Streinz, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 28. 35 Nachw b Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 29.

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leitet und überwacht wird. F betreibt seine Schiffe von Spanien aus. Verstößt das neue Schiffsregistergesetz des Vereinigten Königreiches gegen Art 49 I AEUV?

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Fall 2: (Vgl EuGH, Slg 1995, I-4165 ff – Gebhard) Der deutsche Staatsangehörige G ist seit 1977 in Stuttgart als Rechtsanwalt zugelassen. Er ist freier Mitarbeiter in einer Kanzlei; eine eigene Kanzlei unterhält er in Deutschland nicht. Nachdem G schon längere Zeit als Mitarbeiter und Sozius in einer Rechtsanwaltskanzlei in Italien gearbeitet hat, eröffnet er 1989 in Mailand eine eigene Kanzlei. Er betreibt die Kanzlei als „avvocato“, der Berufsbezeichnung für selbstständige Anwälte in Italien. Eine Genehmigung hierfür durch die zuständige Rechtsanwaltskammer liegt nicht vor. Daher wurde gegen G in Mailand von der Rechtsanwaltskammer ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das mit der Sanktion einer zeitweiligen Versagung der Ausübung der Berufstätigkeit für sechs Monate abgeschlossen wurde. Ist zu Gunsten des G der Schutzbereich des Art 49 I AEUV eröffnet?

Der sachliche Schutzbereich des Art 49 I AEUV wird im Wesentlichen durch die Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) bestimmt. Dass eine Abgrenzung der beiden Grundfreiheiten angezeigt ist, ergibt sich bereits aus der Systematik des AEUV. Überdies wurde schon darauf hingewiesen, dass die Niederlassungsfreiheit im System der Grundfreiheiten von einer eigentümlichen Spannungslage im Verhältnis von Herkunftsland- und Bestimmungslandprinzip gekennzeichnet ist. Das dem Grunde nach für die Niederlassungsfreiheit auch im Lichte der Beschränkungsdogmatik des EuGH relevante Bestimmungslandprinzip findet hingegen bei der Dienstleistungsfreiheit kaum noch Anwendung; hier wird nur darüber gestritten, ob und ggf inwieweit die Lehre von den Beschränkungsverboten auf Art 56 AEUV Anwendung findet (→ § 11 Rn 83 ff). Bei der Niederlassungsfreiheit wird aber schon im Wortlaut des Art 49 II AEUV davon gesprochen, dass es sich um Erwerbstätigkeiten handelt, die „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates“ aufgenommen oder ausgeübt werden. Dieser Verweis auf das Bestimmungslandprinzip ist der Ansatzpunkt für die notwendige aber problematische Abgrenzung zwischen Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit. a) Erwerbstätigkeit

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Der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit wird in Art 49 II AEUV umschrieben, allerdings nicht legal definiert. Von der Niederlassungsfreiheit werden danach, wie es in Art 49 II AEUV wörtlich heißt, „die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen … nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen“ erfasst. Diese Umschreibung lässt sich konkretisieren, wenn zunächst ein allgem (Rn 26) Blick auf die Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit geworfen wird. Nach Art 57 III AEUV kommt es für die Dienstleistungserbringung in einem anderen Mitgliedstaat36 in Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit auf eine vorübergehende Tätigkeitsausübung an. Hieraus folgt in Kombination mit der Umschreibung in Art 49 II AEUV, dass als Niederlassung allgem eine „wirtschaftliche Tätig-

36 Zu den drei Dimensionen der Dienstleistungsfreiheit statt aller Streinz ER, Rn 913.

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keit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit“ zu verstehen ist.37 Wie bereits diese Definition andeutet, ist der Begriff der Niederlassung im Interesse der Effektivität der Grundfreiheiten (vgl Art 4 III EUV) grundsätzlich weit zu verstehen.38 Gewisse Einschränkungen, die sich aus der Ratio des AEUV insg sowie speziell des Art 49 AEUV ergeben, sind indes zu beachten. Wie bei allen Grundfreiheiten bezieht sich auch der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit nur auf wirtschaftliche Sachverhalte, und zwar konkret nur auf eine wirtschaftliche Erwerbstätigkeit. Das folgt aus dem Wortlaut des Art 49 II AEUV. Der insofern relevante Wirtschaftsbegriff ist aber ausgesprochen konturenlos, so dass strittig ist, inwiefern dieser als Konkretisierungskriterium geeignet ist.39 Deutlich wird dies mit Blick auf die Rspr des EuGH, nach der auch kulturelle,40 sportliche41 und religiöse42 Tätigkeiten in den Schutzbereich der Grundfreiheiten fallen können. Vor diesem Hintergrund wird vorgeschlagen, den Begriff der Erwerbstätigkeit in Art 49 II AEUV auf alle geldwerten Güter und Leistungen, dh jede entgeltliche Tätigkeit zu beziehen.43 Gegen diese Ansicht spricht aber, dass zB private wirtschaftliche Interessenverbände überaus wichtige Aufgaben im Wirtschaftsleben wahrnehmen, ihre Tätigkeit aber nicht zwingend auf eine Entgeltlichkeit gerichtet ist. Daher geht es bei Art 49 II AEUV nicht zwingend um die Entgeltlichkeit, sondern um jede Tätigkeit, die dem wirtschaftlichen Fortkommen dient.44 Nur entgeltlose Tätigkeiten, die keinen wirtschaftlichen Bezug aufweisen, da sie zB ausschließlich aus karitativen Gründen erfolgen, unterfallen dementsprechend nicht der Niederlassungsfreiheit.45 Nicht abschließend geklärt ist im Übrigen, inwieweit eine vermeintliche „grobe Sozialschädlichkeit“ einer Tätigkeit die Eröffnung des sachlichen Schutzbereiches des Art 49 I AEUV verschließt.46 Angesichts der zunehmend deutlicher werdenden freiheitsrechtlichen Dimension der Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 30 ff) stößt eine Schutzbereichsbegrenzung aber auf prinzipielle Bedenken; aus freiheitssichernder Perspektive kommt insofern nur eine Lösung der Problematik auf der Rechtfertigungsebene in Betracht.47

37 EuGH, Slg 1991, I-3956, Rn 20 – Factortame = JK 92, EWGV Art 52/2. 38 EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 25 – Gebhard; Slg 1996, I-6511, Rn 20 – Broede; Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 16; Geiger/Khan/Kotzur EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 1; Müller-Graff in: Streinz, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 12. 39 Zur Diskussion mit zahlreichen Nachw Lackhoff (Fn 3) S 38 f. 40 S zB EuGH, Slg 1994, I-911, Rn 10 – Kommission/Spanien. 41 S zB EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 73 – Bosman. 42 S zB EuGH, Slg 1988, 6159 ff – Steymann. 43 Lackhoff (Fn 3) S 39 f; ähnlich Schlag in: Schwarze, EU-Komm, Art 49 AEUV Rn 21 f. 44 So überzeugend Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 18. 45 Ganz hM Tiedje/Troberg in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 59; Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 20; Müller-Graff in: Streinz, EUV/ AEUV, Art 49 AEUV Rn 13. 46 S zB Schlag in: Schwarze, EU-Komm, Art 49 AEUV Rn 22; ausf zur Diskussion Schnichels Reichweite der Niederlassungsfreiheit, 1995, S 29 ff; der EuGH sieht keine Probleme, die Prostitution in den Schutzbereich der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit einzubeziehen: EuGH, Slg 2001, I-8615, Rn 55 ff – Jany = JK 2002, EGV Art 43/2; s a den Vorlagebeschluss des BVerwG v 18.9.2001, DVBl 2002, 54 f; s in diesem Zusammenhang a EuGH, Slg 2004, I-9609 ff – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13. 47 Grundlegend hierzu aus rechtstheoretischer und grundrechtsdogmatischer Sicht Alexy Theorie der Grundrechte, 3. Aufl 1996, S 278 ff.

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b) Dauerhafte und stabile Eingliederung in die Volkswirtschaft 24

Soweit eine Erwerbstätigkeit iSv Art 49 II AEUV vorliegt, kommt es in einem zweiten Schritt darauf an, diejenigen Kriterien zu bestimmen und zu prüfen, die diese Erwerbstätigkeit in Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit als Niederlassung qualifizieren bzw sie ggf ganz aus dem Schutzbereich der Grundfreiheiten ausschließen. Bei dem zuletzt genannten Punkt des prinzipiellen Schutzbereichsausschlusses handelt es sich um Missbrauchsfälle. Nach st, auch auf die Niederlassungsfreiheit bezogener Rspr des EuGH ist „die mißbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht … nicht gestattet“.48 Für die Niederlassungsfreiheit hat der Gerichtshof deutlich gemacht, dass es zwar in keinem Fall als Missbrauch angesehen werden kann, in dem Mitgliedstaat eine Niederlassung zu begründen, in dem die innerstaatliche Rechtsordnung „die größte Freiheit“ lässt.49 Wenn allerdings eine Berufung auf die Niederlassungsfreiheit erfolgt, ohne dass objektiv tatsächlich von einer dauerhaften und stabilen Eingliederung in die entspr Volkswirtschaft gesprochen werden kann, ist der Schutzbereich des Art 49 I AEUV nicht eröffnet.50 Der EuGH begründete dies zwar mit dem Begriff der Niederlassung; im Ergebnis können entspr Fälle aber auch iSd zit Missbrauchsausschlusses begründet werden.51 Im Übrigen bleibt es aber dabei, dass Überlegungen zB zur Steueroptimierung zulässige (und gewollte) Freiheitsausübung im Sinne der Niederlassungsfreiheit sind, nicht jedoch als Missbrauch der Grundfreiheit eingestuft werden können.52 c) Ergebnis

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Auf der Grundlage der vorstehenden Überlegungen definiert der EuGH den Begriff der Niederlassung iSv Art 49 AEUV als „sehr weite[n] Begriff, der die Möglichkeit für einen Unionsangehörigen impliziert, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsmitgliedstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, wodurch die wirtschaftliche und soziale Verflechtung innerhalb der Europäischen Union im Bereich der selbständigen Tätigkeiten gefördert wird“.53 Lösung Fall 1: Ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit setzt zunächst voraus, dass der Schutzbereich des Art 49 I AEUV eröffnet ist. Dann müsste die Registrierung der Fischereischiffe im Vereinigten Königreich eine Niederlassung iSv Art 49 AEUV sein. Der grundsätzlich weit zu fassende Begriff der Niederlassung umfasst die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit. Demnach müsste die Registrierung eines Schiffes zunächst im Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit stehen. Bei Fischereischiffen ist das der Fall. Die damit mögliche Eröffnung des Schutzbereiches des Art 49 I AEUV wird auch nicht dadurch verschlossen, dass mit der Registrierung eines Schiffes dessen Staatszugehörigkeit begründet wird. Grundsätzlich fällt die Regelung von Staatsangehörigkeits- und Staatszugehörigkeits-

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EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 24 – Centros, mit zahlreichen Nachw. EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 27 – Centros. Vgl EuGH, Slg 1991, I-3956, Rn 34 – Factortame = JK 92, EWGV Art 52/2. In diese Richtung a Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 21. EuGH, EuZW 2013, 269, Rn 26 f – A Oy. S zB EuGH, Slg 2011, I-4355, Rn 79 – Kommission/Deutschland; vgl a Slg 2008, I-10671, Rn 24 – Kommission/Österreich.

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fragen zwar in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten. Da aber hinter einer Registrierung eines Schiffes zwingend eine natürliche oder juristische Person steht, der es nicht um eine für sie neue Staatsangehörigkeit, sondern nur um ihre wirtschaftliche Freiheitsausübung iSv Art 49 AEUV geht, finden die Grundfreiheiten Anwendung. Allerdings ist zu beachten, dass nicht die zu registrierenden Schiffe selbst von Art 49 AEUV geschützt werden, sondern ihre Betreiber als natürliche oder juristische Personen. Daher ist es weiterhin notwendig, dass die Registrierung von einer Person beantragt wird, die sich selbst niederlassen will. Hieraus folgt, dass von dem Betreiber eines Schiffes, das registriert werden soll, verlangt werden kann, das Schiff vom Ort der – neuen – Niederlassung aus zumindest zu leiten und zu überwachen. Dass es von dort aus auch operieren muss, lässt sich mit dem andernfalls möglichen Missbrauch der Niederlassungsfreiheit mit Blick auf das sog Quotenspringen begründen. Im Ergebnis ist der Schutzbereich des Art 49 AEUV damit nicht eröffnet.

Soweit der sachliche Schutzbereich des Art 49 AEUV nicht bereits aus anderen Gründen, wie zB in der oben dargelegten Fallkonstellation, ausgeschlossen ist, stellt die im Übrigen vorzunehmende Abgrenzung von Niederlassung und Dienstleistungserbringung iS der Art 49 und 56, 57 AEUV einen zentralen Punkt im Rahmen der Erörterungen zum sachlichen Schutzbereich des Art 49 AEUV dar. Dass eine solche Abgrenzung notwendig ist, wurde bereits ausgeführt; wie sie zu erfolgen hat, ist aber unklar. Die insofern bestehenden Schwierigkeiten ergeben sich insb aus der unstrittigen und in Art 57 III AEUV zum Ausdruck kommenden Erkenntnis, dass auch die aktive Dienstleistungsfreiheit (→ § 11 Rn 55)54 geschützt ist. Da sich damit der Dienstleistende in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten darf, um seiner Geschäftstätigkeit nachzugehen, steht die Inanspruchnahme der aktiven Dienstleistungsfreiheit in offensichtlicher Nähe zur Niederlassung. Bes deutlich wird dies, wenn berücksichtigt wird, dass die Inanspruchnahme der aktiven Dienstleistungsfreiheit auch das Recht gewährt, sich am Ort der Dienstleistungserbringung mit der hierfür notwendigen Infrastruktur (Anmietung eines Büros etc) auszustatten.55 In Rspr und Lehre besteht weitgehend Einigkeit, dass nur im Rahmen einer Gesamtschau aller in einem konkreten Sachverhalt gegebenen Aspekte eine Abgrenzung von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit vorgenommen werden kann. Dabei ist insb auf die Dauer und Kontinuität der Tätigkeit im gebietsfremden Mitgliedstaat abzustellen sowie darauf, ob die Geschäftstätigkeit durch eine feste Einrichtung im Aufnahmestaat erfolgt.56 Die Entscheidung der Abgrenzungsfrage obliegt in erster Linie dem nationalen Gericht, das mit Art 49 AEUV bzw Art 56, 57 AEUV im Einzelfall befasst ist.57 Auch wenn die grundsätzliche Anwendung der genannten Kriterien Anhaltspunkte für die Abgrenzung von Niederlassung und Dienstleistung erbringen kann, bleibt es doch immer bei der Notwendigkeit einer Gesamtbewertung. Weder „Dauer und Kontinuität“

54 Hierzu zB Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 57 AEUV Rn 27 ff. 55 EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 27 – Gebhard: „Der vorübergehende Charakter der Leistung schließt nicht die Möglichkeit für den Dienstleistungserbringer iSd Vertrages aus, sich im Aufnahmemitgliedstaat mit einer bestimmten Infrastruktur (einschließlich eines Büros, einer Praxis oder einer Kanzlei) auszustatten, soweit diese Infrastruktur für die Erbringung der fraglichen Leistung erforderlich ist“. 56 EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 27 – Gebhard; Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 25; Lackhoff (Fn 3) S 134 (mwN in Fn 591) und S 136 f. 57 EuGH, Slg 1996, I-6511, Rn 22 – Broede; NVwZ 2012, 1162, Rn 31 – Sia Garkalns; Lackhoff (Fn 3) S 137.

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noch „feste Einrichtung“ sind nämlich notwendige oder hinreichende Kriterien. Mit Blick auf die Dauerhaftigkeit zeigt sich dies daran, dass zwar in Art 57 III AEUV für die Dienstleistung von einer „vorübergehenden“ Leistungserbringung die Rede ist, abhängig von der konkreten Leistung sich aber ganz unterschiedliche zeitliche Dimensionen zeigen können. So wird der Bau einer großen Industrieanlage einige Zeit in Anspruch nehmen; eine Niederlassung iSv Art 49 I AEUV wird der ausführende Unternehmer damit aber nicht zwingend begründen wollen. Ähnlich zu bewerten ist eine fortlaufende, täglich gegenüber neuen Kunden erbrachte Tätigkeit zB eines Hufschmieds in einem anderen Mitgliedstaat, ohne dass es zu einer Verlegung des Büros oder der Werkstatt kommt. Auch ein solcher Fall ist trotz der Dauerhaftigkeit der Leistungserbringung nicht zwingend als Niederlassung einzuordnen. Vor dem Hintergrund solcher und ähnlicher Fallkonstellationen wird deutlich, dass die Dauerhaftigkeit bzw Kontinuität der Leistungserbringung für sich selbst wenig aussagekräftig und somit nur eines von mehreren zu beachtenden Indizien ist.58 Auch die Begründung einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat vermag nicht abschließend darüber Auskunft geben, ob eine Niederlassung vorliegt. So sind Tätigkeiten denkbar, die gar keine „feste Einrichtung“ voraussetzen, zB der umherreisende Scherenschleifer. Überdies kann, wie bereits dargelegt, die Errichtung einer festen Einrichtung durchaus auch Bestandteil einer Dienstleistungserbringung iSv Art 56, 57 AEUV sein, wenn es sich insofern um für die Dienstleistung notwendige Infrastruktur handelt. Dauer und Kontinuität der Leistungserbringung und die Begründung einer festen Einrichtung sind also weder notwendige noch hinreichende Abgrenzungskriterien. Vielmehr ist im Kern danach zu fragen, ob eine Eingliederung des Leistungserbringers in die nationale Volkswirtschaft des Aufnahmestaates erfolgt.59 Dabei kommt es aber nicht darauf an, dass der Leistungserbringer bewusst seine Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat erbringt, um sich der Rechtsordnung seines Heimatstaates und Ortes der Niederlassung zu entziehen. Der EuGH hatte in einer solchen Konstellation in früheren Urt recht unbedarft die Einschlägigkeit der Niederlassungsfreiheit bejaht.60 Zwischenzeitlich hat er aber klargestellt, dass die insofern gegebenen Probleme auf der Rechtfertigungsebene zu lösen sind und demnach keinen Einfluss auf die Frage nach der Eröffnung des Schutzbereiches von Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit haben.61 Im Einzelnen lassen sich zur weiteren Konkretisierung der angeführten, im Rahmen einer Gesamtbewertung zu beachtenden Kriterien folgende Fallgruppen zur Abgrenzung von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit bestimmen:62 Die Niederlassungsfreiheit ist einschlägig und verdrängt die Dienstleistungsfreiheit, wenn durch eine Niederlassung

58 Kritisch mit Blick auf die Dauer als Abgrenzungskriterium a Lackhoff (Fn 3) S 135 f; Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 26 ff. 59 Schlussanträge GA Darmon, EuGH, Slg 1988, 5483, Rn 3 – Daily Mail: „Sich niederlassen heißt, sich in eine nationale Wirtschaft integrieren“; ebenso GA Léger, EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 19 – Gebhard. 60 EuGH, Slg 1974, 1299, Rn 13 – van Binsbergen; Slg 1986, 3755, Rn 22 – Kommission/Deutschland. 61 EuGH, Slg 1994, I-4795, Rn 15 – TV 10; hierzu a Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/ AEUV, Art 49 AEUV Rn 36. 62 Hierzu a ausf Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 37 ff.

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Dienstleistungen im Aufnahmestaat erbracht werden.63 Hier ist die Niederlassung conditio sine qua non für die wirtschaftliche Tätigkeit. Schwieriger ist die Rechtslage, wenn eine Dienstleistung nicht „durch“, sondern nur „über“ eine Niederlassung erbracht wird. In dieser Konstellation dient die Niederlassung nicht der Begründung der Dienstleistung, sondern deren Vertrieb. Im Schrifttum wird im Anschluss an ein – allerdings unklares – Urt des EuGH64 vertreten, dass auch in seiner solchen Vertriebssituation stets die Dienstleistungsfreiheit zu Gunsten der Niederlassungsfreiheit verdrängt werde.65 Indes hat der EuGH im Jahre 1997 zu erkennen gegeben, dass die Dienstleistungsfreiheit auch dann einschlägig sein kann, wenn das betr Unternehmen in dem dienstleistungsempfangenden Mitgliedstaat ansässig ist, in dieser Konstellation also keine apriorische Vorrangigkeit der Niederlassungsfreiheit vorliegt.66 Vor dem Hintergrund dieser Feststellung wird man zentral darauf abstellen müssen, dass die Begründung der Leistungserbringung in der Hauptniederlassung erfolgt und die Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat nur dem nachrangigen Vertrieb dient.67 Folgt man dieser Ansicht, ergibt sich zwingend auch die Lösung des sog Kumulierungsproblems. Hierbei handelt sich um eine Situation, in der zwar eine Niederlassung in dem Mitgliedstaat besteht, in dem eine Leistung erbracht wird, diese aber nicht in den konkreten Leistungserbringungsvorgang einbezogen ist. Auch in dieser Konstellation bleibt es bei der Anwendung der Dienstleistungsfreiheit; andernfalls würde die Dienstleistungsfreiheit insb für multinationale Konzerne, die über Niederlassungen in mehreren Mitgliedstaaten verfügen, leerlaufen.68 Insg bleibt festzuhalten, dass die eindeutige Abgrenzung von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nicht definitorisch festgelegt werden kann. Die zutr Differenzierung kann nur im Einzelfall anhand der angeführten Kriterien, denen je nach Sachlage ein unterschiedliches Gewicht zukommen kann, erfolgen. Der Ratio des Art 49 AEUV, die in der bes Rechtslage bei einer Integration eines Leistungserbringers in die nationale Volkswirtschaft eines Mitgliedstaates zu sehen ist, kommt dabei eine übergeordnete, zentrale Bedeutung zu. Hinzuweisen ist auch noch auf Probleme der Abgrenzung von Niederlassungsfreiheit und Freiheit des Kapitalverkehrs gem Art 63 I AEUV. Die Kapitalverkehrsfreiheit umfasst ua grenzüberschreitende Investitionen, zB durch Unternehmsbeteiligungen. Der EuGH geht in seiner jüngeren Rspr davon aus, dass auf eine solche grenzüberschreitende Unternehmensbeteiligung immer dann ausschließlich die Niederlassungsfreiheit Anwendung findet, wenn mit ihr ein „sicherer Einfluss auf Entscheidungen der Gesellschaft“ verbunden ist.69 Diese Rspr führt im Ergebnis dazu, dass der sog erga omnes-Charakter der

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Vgl EuGH, Slg 1988, 6159, Rn 17 – Steymann; Slg 1997, I-3395, Rn 37 ff – Sodemare. EuGH, Slg 1986, 3755, Rn 21 – Kommission/Deutschland. So wohl Behrens EuR 1992, 145, 151. EuGH, Slg 1997, I-3143, Rn 20 f – VT4. Differenziert, zT mit abweichendem Ergebnis hierzu ausf Pasternacki Zur Abgrenzung von Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit bei Niederlassungen mit Teilfunktion, 2002, passim. 68 Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 43 f; ebenso iE EuGH, Slg 1997, I-3143, Rn 20 f – VT4; Lackhoff (Fn 3) S 142 ff; Roth RabelsZ 54 (1990), 63, 108 f. 69 EuGH, Slg 2006, I-7995, Rn 31 und 33 – Cadbury Schweppes; Slg 2007, I-2107, Rn 27 und 34 – Test Claiments in the Thin Cap Group Litigation; Slg 2007, I-151, Rn 13 und 17 – Stahlwerk Ergste Westig; EuZW 2013, 29, Rn 22 – Kommission/Griechenland.

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Kapitalverkehrsfreiheit, der nach dem Wortlaut des Art 63 I AEUV zu einer Berechtigung auch von Drittstaatsangehörigen führt, leer läuft. Der EuGH begründet dieses durchaus gewollte Ergebnis damit, dass, „[d]a der Vertrag die Niederlassungsfreiheit nicht auf Drittländer erstreckt, [es] zu vermeiden [ist], dass die Auslegung von Artikel 63 Absatz 1 AEUV in Bezug auf die Beziehungen zu Drittländern es Wirtschaftsteilnehmern, die sich außerhalb des territorialen Anwendungsbereichs der Niederlassungsfreiheit befinden, erlaubt, in den Genuss dieser Freiheit zu gelangen“.70 Über die hier deutlich werdende systematische Problematik hinausgehend, war längere Zeit fraglich, ob die genannte Rspr wirklich Allgemeingültigkeit beansprucht, da sie nur in steuerrechtlichen Sachverhalten zur Anwendung kam.71 In gesellschaftsrechtlichen Entscheidungen zu den sog golden shares hat der Gerichtshof indes – anders als in den angesprochenen steuerrechtlichen Entscheidungen – staatliche Sonderrechte an einer Kapitalgesellschaft oftmals vorrangig an der Kapitalverkehrsfreiheit geprüft.72 Insofern ging der EuGH davon aus, dass die Niederlassungsfreiheit durch die Kapitalverkehrsfreiheit verdrängt wird.73 In seiner jüngsten Rspr hält der EuGH an der Differenzierung zwischen Steuer- und Gesellschaftsrecht aber nicht mehr fest und wendet die Niederlassungsfreiheit unter Bezugnahme seiner steuerrechtlichen Rspr neben der Kapitalverkehrsfreiheit parallel an,74 wenn es um „eine nationale Regelung, die nicht nur auf Beteiligungen anwendbar ist, die es ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen, sondern unabhängig vom Umfang der Beteiligung eines Aktionärs an einer Gesellschaft gilt“ geht.75 d) Primäre und sekundäre Niederlassung als Erscheinungsformen der sachlichen Schutzbereichsgewährleistung 34

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Wie bereits der Wortlaut von Art 49 I AEUV zeigt, werden zwei Formen der Niederlassung geschützt: die in Art 49 I 1 AEUV genannte Niederlassung als solche sowie die in Art 49 I 2 AEUV umschriebene „Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften“. In den beiden Sätzen des Art 49 I AEUV wird diesem Wortlaut entsprechend die Gewährleistung der sog primären (Satz 1) und der sekundären Niederlassung (Satz 2) gesehen.76 Als primäre Niederlassung kann der grenzüberschreitende Wechsel der Ansässigkeit von selbstständig erwerbstätigen natürlichen und über Art 54 AEUV juristischen Perso-

70 EuGH, IStR 2012, 924, Rn 100 – Test Claimants in the FII Group Litigation. 71 Ausf hierzu Germelmann EuZW 2008, 596 ff; Haslehner IStR 2008, 565, 571 ff; Scharf Die Kapitalverkehrsfreiheit gegenüber Drittstaaten, 2008, verfügbar unter: www.jura.uni-halle.de/telc/ publikationen.html. 72 IdS zB die Urt EuGH, Slg 2002, I-4781, Rn 56 – Kommission/Frankreich; Slg 2003, I-4581, Rn 86 – Kommission/Spanien. 73 Vgl die Nachw in Fn 72. 74 EuGH, Slg 2008, I-111, Rn 36 ff – Kommission/Spanien. 75 EuGH, EuZW 2013, 29, Rn 22 – Kommission/Griechenland; Slg 2011, I-10889, Rn 44 – Kommission/Portugal; frühzeitig hierzu Germelmann EuZW 2008, 596, 597 ff; weiterhin hierzu Verse EuZW 2013, 336, 337 f. 76 Statt vieler Schlag in: Schwarze, EU-Komm, Art 49 AEUV Rn 19 f; Müller-Graff in: Streinz, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 21 ff.

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nen definiert werden.77 In wiederum notwendiger Abgrenzung zur Dienstleistung iSv Art 56, 57 AEUV handelt es sich hierbei um die grenzüberschreitende Verlegung oder die Neubegründung der Hauptniederlassung des entsprechenden Wirtschaftssubjektes. Um zu ermitteln, wo – in Abgrenzung zur sekundären Niederlassung – der Hauptsitz des Unternehmers bzw des Unternehmens (Art 54 AEUV) liegt, ist in erster Linie auf den wirtschaftlichen Schwerpunkt der Tätigkeit abzustellen.78 Bei juristischen Personen iSv Art 54 AEUV79 kommt es dabei allerdings weniger auf die tatsächlichen Umstände als vielmehr auf die gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse an; entscheidend für die Niederlassung ist demnach der Sitz der gesellschaftsrechtlich herrschenden Gesellschaft.80 Die sekundäre Niederlassung zeichnet sich dadurch aus, dass ein Wirtschaftssubjekt, das im „Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig ist“, eine Agentur, Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft gründet, wobei die Wahl der konkreten Form der Niederlassung frei ist.81 Insofern kommt es bei der Prüfung des Art 49 II AEUV auch nicht auf eine genaue Bezeichnung der konkreten Form der sekundären Niederlassung an; die in der Vorschrift genannten Formen der sekundären Niederlassung sind nur als Sammelbegriffe für sämtliche unselbstständige betriebliche Teileinheiten zu verstehen.82 Strittig ist nur, ob Art 49 II AEUV im Schutzbereich so weit zu verstehen ist, dass auch eine geschäftliche Präsenz erfasst wird, die „nicht die Form einer Zweigniederlassung oder Agentur angenommen hat, sondern lediglich durch ein Büro wahrgenommen wird, die zwar unabhängig, aber beauftragt ist, auf Dauer für dieses Unternehmen wie eine Agentur zu handeln“.83 Der EuGH hat dies in dem zit Urt zu einem Versicherungsvermittler angenommen. Dagegen wird aber eingewandt, dass neben den spezifischen und nicht generalisierbaren Merkmalen der Versicherungsbranche durch eine Ausweitung des Schutzbereiches des Art 49 II AEUV auf Vertreter und Vermittler insg ein Wertungswiderspruch im System der Grundfreiheiten auftreten würde. Soweit nämlich, wie bei Vertretern oder Vermittlern regelmäßig der Fall, ein Leistungserbringer rechtlich unabhängig tätig wird, ist die Dienstleistungsfreiheit einschlägig. Diese allgemeine, sich aus der bereits diskutierten Systematik der Art 49 und 56, 57 AEUV ergebende Erkenntnis muss dann auch für Vertreter und Vermittler von Dienstleistungen gelten. Andernfalls würde der Dienstleistungsvermittler unter Art 49 II AEUV fallen, während für einen Verkäufer von Waren, die in einem anderen Mitgliedstaat produziert werden, die Dienstleistungsfreiheit (Art 56, 57 AEUV) gilt. Eine solche Differenzierung in der rechtlichen Bewertung von, wirtschaftlich betrachtet, vergleichbaren Sachverhalten ist nicht überzeugend zu begründen.84 77 Roth in: HdBEUWirtschR E.I. Rn 35; Schlag in: Schwarze, EU-Komm, Art 49 AEUV Rn 19. 78 Eyles Das Niederlassungsrecht der Kapitalgesellschaften in der Europäischen Gemeinschaft: die Überlagerung des deutschen Gesellschaftsrechts und Unternehmenssteuerrechts durch Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1990, S 41; Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 49; Schlag in: Schwarze, EU-Komm, Art 49 AEUV Rn 19. 79 Hierzu noch s u Rn 64 ff. 80 S EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 17 ff – Centros; Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/ AEUV Art 49 AEUV Rn 49. 81 EuGH, Slg 1986, 273, Rn 22 – Kommission/Frankreich; Slg 1999, I-6161, Rn 42 – Saint-Gobain. 82 Lackhoff (Fn 3) S 173 f mwN. 83 EuGH, Slg 1986, 3755, Rn 21 – Kommission/Deutschland. 84 Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 59; aA Tiedje/Troberg in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 44 ff; Roth in: HdBEUWirtschR E.I. Rn 37; differenziert Lackhoff (Fn 3) S 174.

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In seiner jüngsten Rspr scheint der EuGH nunmehr im Hinblick auf die primäre und die sekundäre Niederlassung bezogen sog reine Briefkastenfirmen nicht mehr zuzulassen. In der Rechtssache Vale entschied er, dass „der Niederlassungsbegriff im Sinne der Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung im Aufnahmemitgliedstaat auf unbestimmte Zeit impliziert. Daher setzt er eine tatsächliche Ansiedlung der betreffenden Gesellschaft und die Ausübung einer wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit in diesem Staat voraus“.85 Niederlassungen, die keinen realen Tätigkeitsbezug zum Sitzstaat haben, kommen nach dieser Rspr also nicht in den Genuss der Niederlassungsfreiheit. Das weiterhin zu beachtende Merkmal der Ansässigkeit in Art 49 II AEUV bezieht sich nicht, wie eine unbefangene Lektüre des Wortlautes vermuten lassen könnte, auf den Mitgliedstaat, in dem die Niederlassung begründet wird. Vielmehr geht es um die Ansässigkeit in irgendeinem Mitgliedstaat der Union. Damit erfolgt eine Ausgrenzung von natürlichen und juristischen Personen, die bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise „nur oder nur vornehmlich in EU-fremden Volkswirtschaften integriert sind“.86 Es kommt also bei der sekundären Niederlassung nicht nur allgem auf die Unionsbürgerschaft iSv Art 20 I AEUV an, sondern überdies auf die wirtschaftliche Verankerung in der Union. Hierdurch soll gewährleistet werden, dass Personen, die sich im Rahmen einer – nur – sekundären Niederlassung auf Art 49 AEUV berufen, mit Blick auf den Hauptsitz ihrer wirtschaftlichen Betätigung innerhalb der Union rechtlich kontrolliert werden können.87 e) Grenzüberschreitender Sachverhalt

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Als weiteres Tatbestandsmerkmal des sachlichen Schutzbereiches ist wie bei allen Grundfreiheiten auch bei Art 49 AEUV erforderlich, dass ein grenzüberschreitender Bezug des fraglichen Sachverhaltes vorliegt. Wann ein solcher grenzüberschreitender Bezug vorliegt, ist im Wesentlichen anhand der für alle Grundfreiheiten geltenden Kriterien zu bestimmen und insofern ein Thema der allgemeinen Dogmatik der Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 25, 31). Zur Verdeutlichung der rechtlichen und tatsächlichen Relevanz der Niederlassungsfreiheit ist nur darauf hinzuweisen, dass sich Art 49 AEUV auch gegen den Herkunftsstaat richten kann. Das ist namentlich in den sog Wegzugsfällen von großer Relevanz. Es handelt sich hierbei um Fallkonstellationen, in denen die Ausübung der Niederlassungsfreiheit im Empfangsstaat durch Maßnahmen des Herkunftsstaates behindert wird. Diese Situation spielt insb dann eine große Rolle, wenn nationale steuerrechtliche Vorschriften dazu führen, dass eine steuerliche Benachteiligung eines Unternehmens mit Hauptsitz in einem Mitgliedstaat und Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt. Der EuGH hat für solche Konstellationen unmissverständlich klargestellt, dass die Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit „auch das Verbot für den Herkunftsstaat [enthalten], die Niederlassung seiner Staatsangehörigen oder der nach seinem Recht gegründeten Ge-

85 EuGH, EuZW 2012, 621, Rn 34 – Vale = JK 2013, AEUV Art 49/1; hierzu zB Kindler EuZW 2012, 888 ff; zur Frage ob, der EuGH hier den Schutzbereich begrenzen oder einen besonderen Maßstab hinsichtlich der Rechtfertigung beschränkender Maßnahmen aufstellen wollte, s Bayer/ Schmidt ZIP 2012, 1481, 1486 f. 86 Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 56 f. 87 Schlag in: Schwarze, EU-Komm, Art 49 AEUV Rn 29; vgl a EuGH, Slg 2000, I-11619, Rn 20 – AMID.

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sellschaften, die im Übrigen die Voraussetzungen des Art [54 AEUV] erfüllen, in einem anderen Mitgliedstaat zu behindern“.88 Diese Feststellung gilt entsprechend, wenn die Ausübung der Niederlassungsfreiheit im Aufnahmestaat durch eine Beschränkung der Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat beeinträchtigt wird.89 In diesen sog Rückkehrfällen kann es nach der – umstrittenen – Rspr des EuGH sogar dazu kommen, dass sich die Rechtsstellung eines Staatsangehörigen, der von der Niederlassungsfreiheit in einem anderen Mitgliedstaat Gebrauch gemacht hat, iVz den sonstigen Staatsangehörigen des Herkunftsstaates verbessert.90 Inwieweit Wegzugsfälle bei einem sog gesellschaftsrechtlichen Formwechsel anders zu beurteilen sind, ist noch darzustellen (Rn 72). Trotz der angeführten Ausweitungen des Tatbestandsmerkmales des grenzüberschreitenden Sachverhaltes bleibt aber noch zu erörtern, ob überhaupt an diesem Tatbestandsmerkmal festzuhalten ist. Bei dieser Frage geht es konkret um das Problem der sog Inländerdiskriminierung. Soweit man zwingend einen grenzüberschreitenden Bezug verlangt, wird die Schlechterstellung von Inländern gegenüber EU-Ausländern nicht von den Grundfreiheiten erfasst. Dafür scheint mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit der Wortlaut von Art 49 I AEUV zu sprechen, da in S 1 der Vorschrift von „der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats“ die Rede ist. Allerdings ist zu beachten, dass durch den Wortlaut des Art 49 I AEUV zwar der grenzüberschreitende Bezug zunächst vorausgesetzt wird, damit aber noch keine Aussage zu einem Verbot möglicher Rechtsfortbildung iS der Einbeziehung interner Sachverhalte statuiert wird.91 Von dieser Erkenntnis ausgehend lässt sich daher mit guten Gründen vertreten, dass im Lichte der grundlegenden, in Art 120 AEUV niedergelegten Zielsetzung der EU und spezifisch der Grundfreiheiten die Inländerdiskriminierung dem freiheitlich-liberalen Marktkonzept der Unionsrechtsordnung widerspricht.92 Der EuGH ist den insofern als konsequent erscheinenden Schritt hin zu einer erweiterten, nicht mehr auf den grenzüberschreitenden Bezug abstellenden Interpretation des Art 49 I AEUV freilich noch nicht gegangen. Auch im Schrifttum wird die Erfassung der Inländerdiskriminierung zumeist noch abgelehnt.93 Lösung Fall 2: Die Eröffnung des Schutzbereiches des Art 49 I AEUV zu Gunsten von G setzt – als hier einzig problematischer Punkt – voraus, dass seine Tätigkeit in Italien als Rechtsanwalt als Niederlassung und in Abgrenzung zu Art 56, 57 AEUV nicht als Dienstleistung zu qualifizieren ist. Die Tätigkeit von G als Rechtsanwalt kann nur einer dieser beiden Tätigkeitsbereiche unterfallen, da Art 45 AEUV als weitere Personenverkehrsfreiheit aufgrund der selbstständigen Tätigkeit des G mit Blick auf die dort notwendige Arbeitnehmereigenschaft ausscheidet. Überdies ist zu beachten, dass die Dienstleistungsfreiheit gegenüber der Nieder-

88 EuGH, Slg 2000, I-11619, Rn 21 mwN – AMID; Slg 2004, I-2409, Rn 42 – de Lasteyrie du Saillant mit Anm Frenz = JK 2004, EGV Art 43/5. 89 Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 116 f. 90 EuGH, Slg 1992, I-4265, Rn 19 ff – Singh; hiergegen zB Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 62. 91 Ausf Lackhoff (Fn 3) S 73 ff mwN. 92 Ausf Lackhoff (Fn 3) S 82 ff mwN. 93 S zB Epiney in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 28 ff; zur Diskussion ausf Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 84 ff, 115; Lackhoff (Fn 3) S 67 ff; Frenz GF, Rn 2144 ff jew mit umfangreichen Nachw.

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lassungsfreiheit subsidiär ist, wie bereits der Wortlaut des Art 57 I AEUV zeigt. Ob die Tätigkeit des G in Italien als Niederlassung zu qualifizieren ist, hängt von der genaueren inhaltlichen Konkretisierung des Niederlassungsbegriffes ab. Dieser ist nach st Rspr des EuGH weit zu verstehen. Insofern ist Niederlassung die stabile und kontinuierliche Teilnahme am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaates. Wie Art 49 I 2 AEUV zeigt, kommt es dabei weder darauf an, ob neben der wirtschaftlichen Tätigkeit im Aufnahmestaat weitere Niederlassungen im Herkunftsstaat bestehen, noch ob die fragliche Niederlassung die Haupt- oder Zweigstelle darstellt. Ausgehend von diesem unionsrechtlichen Maßstab zur Bestimmung des sachlichen Schutzbereiches des Art 49 I AEUV spricht für die Einschlägigkeit der Niederlassungsfreiheit zu Gunsten des G, dass er in Mailand eine eigene Kanzlei unterhält und von dieser Kanzlei aus italienische und andere Mandanten betreut. Die Leistungserbringung des G erfolgt also vom Ort seiner in Mailand gelegenen Kanzlei aus, und zwar nicht nur vorübergehend, sondern offenbar dauerhaft. Die damit eigentlich gegebene Eröffnung des sachlichen Schutzbereiches des Art 49 AEUV ließe sich nur noch mit dem Argument verneinen, dass G bei seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt nicht die standesrechtlichen Regelungen beachtet hat. Insofern ist zu überlegen, ob der Begriff der Niederlassung iSv Art 49 AEUV voraussetzt, dass eine nach dem Recht des Aufnahmestaates legale Eingliederung in das nationale Wirtschaftsleben erfolgt. Hiergegen spricht allerdings die Systematik des Niederlassungsrechts als Grundfreiheit. Ob und ggf inwieweit bei der Ausübung der Niederlassungsfreiheit Rechtsvorschriften des Bestimmungslandes zu beachten sind, ist eine Frage der Rechtfertigung der Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art 49 AEUV. Wollte man diese Frage bereits im Schutzbereich beantworten, hätten es die Mitgliedstaaten in der Hand, die sachliche Reichweite der Niederlassungsfreiheit autonom zu bestimmen. Da dies die unionsrechtliche Niederlassungsgarantie leer laufen lassen würde, ist die Möglichkeit der Einschränkung der Niederlassungsfreiheit aufgrund nationaler Rechtsvorschriften erst auf der Rechtfertigungsebene zu prüfen.94 Damit bleibt es im Ergebnis dabei, dass der Schutzbereich des Art 49 I AEUV zu Gunsten von G eröffnet ist.

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Fall 3: (Vgl EuGH, Slg 2011, I-4355 ff – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3) In Deutschland regelt die Bundesnotarordnung die Ausübung des Notarberufs. Sie sieht ua vor, dass nur ein deutscher Staatsangehöriger zum Notar bestellt werden darf. Die Notare sind ua dafür zuständig Beurkundungen jeder Art vorzunehmen sowie Unterschriften, Abschriften und Handschriften zu beglaubigen. Ist der Schutzbereich des Art 49 AEUV mit Blick auf die deutsche Regelung eröffnet?

Ebenso wie die Freizügigkeitsgarantie (Art 45 IV AEUV) kennt auch die Niederlassungsfreiheit eine Bereichsausnahme, die im Zusammenhang mit öffentlichen Funktionen im Staat steht (Art 51 AEUV). Auch für Art 51 AEUV ist kennzeichnend, dass durch ihn

94 So der EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 20 ff – Gebhard; differenzierend Forsthoff in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 96 ff, die der Ansicht sind, dass nationale Vorgaben, die den allgem Rechtsrahmen für die Ausübung der Tätigkeit bestimmen, nicht v Art 49 AEUV erfasst werden. Dies soll aber nicht für Qualifikationsnachw (wie im Fall Gebhard) gelten; insoweit soll es bei der Einschlägigkeit des 49 AEUV bleiben. Zu diesen Fragen, die systematisch im Beeinträchtigungstatbestand zu diskutieren sind, noch sogleich im Text.

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schon der Schutz- bzw Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit ausgeschlossen wird. Das kommt im Wortlaut des Art 51 AEUV („keine Anwendung“) deutlich zum Ausdruck und wird durch einen systematischen Blick auf Art 52 I AEUV, der ausdrücklich auf Rechtfertigungsaspekte verweist („gerechtfertigt sind“), bestätigt. Auch wenn damit die dogmatische Einordnung des Art 51 AEUV als Bereichsausnahme eindeutig ist, muss gleichwohl beachtet werden, dass der EuGH insofern nicht immer terminologisch klar formuliert. Der in verschiedenen Urt anzutreffende Verweis auf eine mögliche Rechtfertigung durch Art 51 AEUV95 ändert freilich nichts an der dogmatischen Einordnung der Vorschrift als Bereichsausnahme.96 Inhaltlich ist zu beachten, dass sich Art 51 AEUV trotz gewisser Ähnlichkeiten doch deutlich von Art 45 IV AEUV unterscheidet. Neben der in Art 51 II AEUV vorgesehenen Kompetenz zum sekundärrechtlichen Ausschluss bestimmter Tätigkeiten von den Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit97 zeigt das schon der Wortlaut der beiden Vorschriften: Art 45 IV AEUV spricht von der „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“; in Art 51 I AEUV wird auf die „Ausübung öffentlicher Gewalt“ abgestellt. Damit geht es bei Art 45 IV AEUV um Personen, die als Angestellte oder Beamte in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehen („Staatsdiener“), während Art 51 I AEUV in erster Linie auf Privatpersonen abstellt.98 Allgem Auslegungsgrundsätzen des Unionsrechts folgend ist Art 51 AEUV als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Der EuGH spricht insofern davon, dass die Vorschrift so auszulegen ist, dass „sich seine Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der Interessen, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zu schützen erlaubt, unbedingt erforderlich ist“.99 Weiterhin ist ebenso wie im Rahmen von Art 45 IV AEUV der Begriff „öffentliche Gewalt“ in Art 51 I AEUV nach autonomen Grundsätzen des Unionsrechts zu bestimmen, da andernfalls die Mitgliedstaaten über die Anwendung des Art 51 AEUV ohne unionsrechtliche Kontrolle entscheiden könnten.100 Damit ist allerdings nicht gesagt, dass das Unionsrecht eine abschließende Festlegung zur Ausübung öffentlicher Gewalt iSv Art 51 I AEUV vornimmt. Es handelt sich hier vielmehr nur um einen unionsrechtlichen „Rahmenbegriff“, dessen Anwendung im Einzelfall auch von der konkreten Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung eines Mitgliedstaates abhängt.101 Dem Rahmencharakter des Art 51 I AEUV entspricht es, dass der EuGH keine abschließende Definition des Tatbestandsmerkmales „Ausübung öffentlicher Gewalt“ vorgibt. Um im Zusammenspiel von Unionsrecht und mitgliedstaatlicher Rechtsordnung über die Anwendung des Art 51 AEUV entscheiden zu können, ist vielmehr nur danach zu fragen, ob es sich um eine Tätigkeit handelt, „die als solche eine unmittelbare und spezifi95 S zB EuGH, Slg 1998, I-6717, Rn 32 – Kommission/Spanien. 96 Ganz hM, s nur Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 51 AEUV Rn 3; Lackhoff (Fn 3) S 153 mwN; → § 7 Rn 80 ff; aA aber Jarass EuR 1995, 202, 221 ff. 97 Art 45 II EGV (51 II AEUV) hat freilich bislang noch keine praktische Bedeutung erlangt, statt vieler Kotzur in: Geiger, EUV/AEUV, Art 51 AEUV Rn 5; Müller-Graff in: Streinz, EUV/ AEUV, Art 49 AEUV Rn 7. 98 Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 51 AEUV Rn 2. 99 EuGH, Slg 1998, I-6717, Rn 34 mwN – Kommission/Spanien; Slg 2011, I-4355, Rn 84 – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3. 100 Schlussanträge GA Lenz, EuGH, Slg 1991, I-5863, Rn 30 – Kommission/Griechenland; Roth in: HdBEU WirtschR E.I. Rn 29; Lackhoff (Fn 3) S 154 ff mwN; bestätigt von EuGH, Slg 2011, I-4355, Rn 84 – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3. 101 Lackhoff (Fn 3) S 155 f.

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sche Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt [darstellt]“.102 Das ist nur der Fall, wenn die Tätigkeit mit der Ausübung von Zwangsbefugnissen verbunden ist103 oder sich sonst wie durch Sonderrechte oder Hoheitsprivilegien auszeichnet.104 Eine formalistische, abstrakte Trennung zwischen der Befugnis zum Erlass von Verwaltungsakten und dem schlicht-hoheitlichen Handeln wird man dabei allerdings nicht anstellen können. Hiergegen spricht, dass die Effektivität des Art 49 AEUV (vgl Art 4 III EUV) nur gewährleistet werden kann, wenn im Einzelfall und unabhängig von rechtsterminologischen Feinheiten der Mitgliedstaaten eine Prüfung anhand der Ratio des Art 51 AEUV erfolgt.105 Ausdrücklich vom Anwendungsbereich des Art 51 AEUV schließt der EuGH aus: Hilfs- und Vorbereitungstätigkeiten für die Ausübung öffentlicher Gewalt; Tätigkeiten, deren Ausübung die Beurteilungs- oder Entscheidungsbefugnisse von Behörden und Gerichten nicht berühren; Tätigkeiten, wo weder Entscheidungsbefugnisse ausgeübt noch der Einsatz von Zwangsmitteln umfasst wird.106

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Lösung Fall 3: Das Erfordernis der deutschen Staatszugehörigkeit von Notaren, unterfällt prima facie dem Schutzbereich des Art 49 AEUV. Fraglich ist aber, ob der Schutzbereich des Art 49 AEUV ausnahmsweise gem Art 51 I AEUV nicht eröffnet ist, da es sich um mitgliedstaatliche Vorschriften zu Notaren handelt. Hierfür könnte sprechen, dass die den Notaren nach deutschem Recht übertragenen Tätigkeiten zur vorsorgenden Rechtspflege als komplementäre Aufgabe zur streitigen Gerichtsbarkeit gehören und alle Tätigkeiten Wirkungen gegenüber den Bürgern entfalten. So sind notarielle Urkunden mit einer für die Gerichte bei ihrer Beweiswürdigung bindenden Beweiskraft ausgestattet. Überdies ließe sich argumentieren, dass notarielle Verträge nach deutschem Recht Vollstreckungstitel sind, die aufgrund einer notariellen Vollstreckungsklausel ohne Einschaltung eines Gerichts vollstreckbar sind.107 Gegen die Einschlägigkeit der den Schutzbereich verschließenden Bereichsausnahme des Art 51 I AEUV spricht jedoch schon methodisch der Charakter der Vorschrift als Ausnahmeregelung, deren Anwendung angesichts der grundlegenden freiheitssichernden Bedeutung des Art 49 AEUV nur restriktiv erfolgen darf. In diesem Sinne ist der Anwendungsbereich des Art 51 I AEUV auf Tätigkeiten zu beschränken, die als solche eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellen. Jedoch werden bei den öffentlichen Urkunden von Notaren nur solche Akte oder Verträge beurkundet, denen sich die Parteien freiwillig unterworfen haben. Ebenso beruht das Anbringen der Vollstreckungsklausel durch den Notar auf dem Willen der Parteien. Zudem ist die Beweiskraft einer notariellen Urkunde Teil der Beweisregeln und der Notariatsakt bindet das Gericht, welches seine Entscheidung nach freier Überzeugung trifft, nicht uneingeschränkt. Ebenso reicht es nicht aus, dass in Verfolgung eines im Allgemeininteresse liegenden Ziels gehandelt wird, um die notariellen Tätigkeiten als unmittelbar und spezifisch mit der Aus-

102 EuGH, Slg 1974, 631, Rn 45 – Reyners; Slg 1993, I-4047, Rn 8 – Thijssen; Slg 1998, I-6717, Rn 35 – Kommission/Spanien. 103 EuGH, Slg 1998, I-6717, Rn 37 – Kommission/Spanien. 104 Schlussanträge GA Mayras, EuGH, Slg 1974, 631, 665 – Reyners; Lackhoff (Fn 3) S 156; Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 51 AEUV Rn 8 mwN. 105 Zur str Frage, ob Art 51 AEUV schlicht-hoheitliches Handeln erfasst, s Lackhoff (Fn 3) S 157 f; Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 51 AEUV Rn 8. 106 EuGH, Slg 2011, I-4355, Rn 87 mwN – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3. 107 So die Argumentation Deutschlands im maßgeblichen Fall, s EuGH, Slg 2011, I-4355, Rn 63 ff – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3.

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übung öffentlicher Gewalt in Deutschland iSv Art 51 I AEUV einzustufen. Mithin scheidet die Anwendbarkeit der Bereichsausnahme des Art 51 I AEUV aus,108 so dass es bei der Eröffnung des Schutzbereichs des Art 49 I AEUV bleibt.

III. Beeinträchtigung Fall 4: (Vgl EuGH, Slg 1999, I-2835 ff – Pfeiffer) Das deutsche Einzelhandelsunternehmen T betreibt Tochtergesellschaften in verschiedenen Mitgliedstaaten der EU. T wirbt seit einigen Jahren für alle Geschäfte mit dem einheitlichen Logo „TPlus“. Unter dem Namen „TPlus Kaufen“ werden von einer Tochtergesellschaft von T in Österreich mehrere Einzelhandelsgeschäfte betrieben. Das österreichische Unternehmen „TPlus Leben“, das sich diesen Firmennamen schon vor langer Zeit beim österreichischen Patentamt als Wort-Bild-Marke hat schützen lassen, sieht sich durch die Aktivitäten von „TPlus Kaufen“ in ihren Rechten verletzt. Daher beantragt „TPlus Leben“ vor dem zuständigen Gericht in Österreich, dem Tochterunternehmen von T zu verbieten, unter dem Namen „TPlus Kaufen“ geschäftlich aufzutreten oder zu werben. Der Antrag wird auf § 9 I des österreichischen UWG gestützt. Danach besteht ein Anspruch auf Unterlassen der Benutzung von Namen, Firmen oder bes Bezeichnungen eines Unternehmens in einer Weise, die geeignet ist, Verwechslungen mit Namen, Firmen oder bes Bezeichnungen, deren sich ein anderer befugterweise bedient, hervorzurufen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind mit Blick auf den für „TPlus Leben“ wirkenden Markenschutz gegeben. Das zuständige Gericht ist allerdings der Ansicht, dass eine Verurteilung von „TPlus Kaufen“ nicht mit der Niederlassungsfreiheit der Art 49, 54 AEUV vereinbar wäre. Zu Recht?

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1. Diskriminierungen Im Einklang mit der zumindest historisch betrachtet herausragenden Ratio der Grundfreiheiten insg zielt auch Art 49 AEUV zunächst darauf ab, Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit zu verbieten. Um welche Diskriminierungen, die mit Art 49 AEUV unvereinbar sind, es sich handeln kann, lässt sich beispielhaft dem „Allgemeine[n] Programm zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit“, das auf der Grundlage von Art 50 AEUV im Jahre 1962 erlassen wurde, entnehmen.109 Es zählt verschiedene diskriminierende Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit wie gesonderte Genehmigungs- oder Aufenthaltserfordernisse für Ausländer auf. Der EuGH hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das Allgemeine Programm „nützliche Anhaltspunkte“ für die Auslegung des Art 49 AEUV biete.110 Zugleich beschränkt der EuGH das Diskriminierungsverbot des Art 49 AEUV nicht nur auf unmittelbar die Niederlassungshandlung betr Sachbereiche, sondern wendet es auch auf sog Umfeldregelungen an. Hierunter fällt zB eine Regelung, nach der eine Studienfinanzierung nicht der Tochter eines Unionsbürgers gewährt wird, der unter Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit und seines Hauptwohnsitzes eine geschäftliche Niederlas-

108 IE ebenso EuGH, Slg 2011, I-4355, Rn 86 ff – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3. 109 ABl 1962 Nr 2, 36 ff. 110 S zB EuGH, Slg 1985, 1819, Rn 15 – Steinhauser; Slg 1999, I-3289, Rn 27 – Meeusen.

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sung in einem anderen Mitgliedstaat betreibt. Auch in einer solchen diskriminierenden Regelung sieht der Gerichtshof eine „Beeinträchtigung der Ausübung selbstständiger Tätigkeiten durch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten“ iS der Niederlassungsfreiheit.111 Zu beachten ist indes, dass Umfelddiskriminierungen im hier beispielhaft dargelegten Sinne seit der zunehmenden Anwendung der Art 18 und 20 AEUV durch den EuGH in erster Linie von diesen Vorschriften erfasst werden. Da der Gerichtshof seit einigen Jahren das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV effektiv zur Anwendung bringt, wenn es um Maßnahmen geht, die nicht unmittelbar von den speziellen Grundfreiheiten erfasst sind,112 besteht kein Bedürfnis mehr, diesbezüglich die spezielle Grundfreiheit zu aktivieren. Um eine sinnvolle Abgrenzung von Art 18 und 49 AEUV zu gewährleisten, ist dabei auf den freiheitsbeeinträchtigenden Schwerpunkt der angegriffenen diskriminierenden Regelung abzustellen.113 Im Übrigen gilt auch für Art 49 AEUV, dass offene und versteckte Diskriminierungen eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Vorschrift darstellen. Wie auch bei den weiteren Grundfreiheiten ist dabei danach zu fragen, ob die fragliche Maßnahme eines Mitgliedstaates ausdrücklich eine Differenzierung zwischen In- und Ausländern vornimmt (offene Diskriminierung), oder ob Ausländer nur typischerweise stärker betroffen sind (versteckte Diskriminierung), (→ § 7 Rn 26).114 Versteckte Diskriminierungen im Bereich der Niederlassungsfreiheit haben insb im Steuerrecht eine große Bedeutung. So stellte der EuGH zB ausdrücklich auf eine versteckte Diskriminierung in einem Fall ab, in dem es um eine Regelung ging, nach der eine steuerrechtliche Abzugsfähigkeit für Forschungskosten nur für Unternehmen gilt, die ihren Hauptsitz im steuererhebenden Mitgliedstaat haben. Hierdurch, so der EuGH, würden Unternehmen mit Zweigniederlassungen in dem Mitgliedstaat typischerweise benachteiligt, da Forschungsabteilungen oftmals in der Hauptniederlassung angesiedelt seien.115 Im Sinne dieser Rspr ist im Übrigen hervorzuheben, dass Art 49 AEUV nicht nur die Inländergleichbehandlung ieS verbietet, sondern auch Diskriminierungen mit Blick auf die von Art 49 AEUV erfassten unterschiedlichen Niederlassungsformen. Insofern sichert Art 49 AEUV umfassend die Freiheit der – auch kumulativen – Wahl der Niederlassungsform.116 Ob eine versteckte Diskriminierung gem Art 49 AEUV vorliegt, ist der allgem Struktur von Gleichheitssätzen folgend117 anhand der Frage zu entscheiden, ob „unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Situationen angewandt werden oder [ob] dieselbe Vor-

111 EuGH, Slg 1999, I-3289, Rn 27 – Meeusen; zahlreiche Nachw zu weiteren Urt des EuGH zu diskriminierenden Maßnahmen im Umfeld einer Niederlassung bei Forsthoff in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 76. 112 S insb EuGH, Slg 2001, I-6193 – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1. 113 Zum Abgrenzungsproblem Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 77; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 21 AEUV Rn 16; Hatje, in: Schwarze, EUKomm, Art 21 AEUV Rn 18. 114 Lackhoff (Fn 3) S 226 f; s zB EuGH, Slg 1999, I-4809, Rn 10 – Baxter: „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes … verbieten die Vorschriften über die Gleichbehandlung nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – was Gesellschaften angeht – des Sitzes, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen“. 115 EuGH, Slg 1999, I-4809, Rn 10 – Baxter. 116 S zB EuGH, Slg 1999, I-2651, Rn 23 – Royal Bank of Scotland. 117 Zur Struktur von Gleichheitssätzen statt vieler Schoch DVBl 1988, 863 ff.

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schrift auf unterschiedliche Situationen angewandt wird“.118 Der EuGH nimmt diese Prüfung einstufig, zT aber auch zweistufig vor.119 Unabhängig hiervon ist aber wichtig, dass die zentrale Frage nach der Vergleichbarkeit, die regelmäßig ein Werturteil erfordert,120 bereits auf der Tatbestands- (Schutzbereichs-)ebene zu beantworten ist. Der EuGH scheint zwar vereinzelt die Vergleichbarkeitsfrage der Rechtfertigungsebene zuzuordnen,121 dies ist rechtstheoretisch aber nicht überzeugend. Denn erst wenn vergleichbare Sachverhalte vorliegen, lässt sich überhaupt fragen, ob ihre Ungleichbehandlung auf Gesichtspunkten beruht, die rechtlich Bestand haben können. Das ist jedoch ein logisch der Vergleichbarkeitsfrage nachgeordnetes Problem der Rechtfertigung einer vorliegenden Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte.122

2. Beschränkungen ISd einheitlichen Auslegung der Grundfreiheiten, die auch als Konvergenz der Grundfreiheiten beschrieben wird,123 statuiert Art 49 AEUV nicht nur ein Diskriminierungsverbot, sondern überdies ein allgemeines Beschränkungsverbot als freiheitsrechtliche Verbürgung des Niederlassungsrechts. Das ist dem Grunde nach zwischenzeitlich in Rspr124 und Schrifttum anerkannt.125 Der EuGH umschreibt das so in Art 49 AEUV enthaltene Beschränkungsverbot mit den folgenden Worten: „[Artikel 49 AEUV] schreib[t] die Aufhebung der Beschränkungen der freien Niederlassung … vor. Als solche Beschränkungen sind alle Maßnahmen anzusehen, die die Ausübung dieser Freihei[t] unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen“.126 Diese Formel konkretisiert der EuGH dahingehend, dass „der Begriff der Beschränkung [insbesondere] solche Maßnahmen umfasst, die, obwohl sie unterschiedslos anwendbar sind, den Marktzugang von Wirtschaftsteilnehmern aus anderen Mitgliedstaaten betreffen“.127 Daraus folgt, dass es keine Beschränkung ist, wenn in anderen Mitgliedstaaten „weniger streng[e] oder wirtschaftl interessant[e] Vorschriften“ bestehen; ebenso ist es irrelevant, wenn man sich zur Niederlassung mit den im Mitgliedstaat geltenden Regeln vertraut machen muss. Eine Beschränkung besteht hingegen, wenn die Möglichkeit „genommen wird, unter Bedingungen eines normalen und wirksamen Wettbewerbs in den Markt des Aufnahmemitgliedstaates einzutreten“.128

118 EuGH, Slg 1995, I-225, Rn 30 – Schumacker; Slg 1995, I-2493, Rn 17 – Wielockx; Slg 1996, I-3089, Rn 40 – Asscher; Slg 1999, I-2651, Rn 26 – Royal Bank of Scotland. 119 Hierzu Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 82 f mwN. 120 Allgem hierzu aus rechtstheoretischer Sicht Alexy (Fn 47) S 363; Schoch DVBl 1988, 863, 873 f. 121 EuGH, Slg 1999, I-6161, Rn 45 ff – Saint-Gobain. 122 AA wohl Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 82 f. 123 Hierzu Behrens EuR 1992, 145 ff; Hobe/Tietje JuS 1996, 486, 489 f; Bröhmer in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 31. 124 S aus der Rspr nur das zentrale Urt EuGH, Slg 1991, I-2357, Rn 15 – Vlassopoulou; zuletzt Slg 2002, I-305, Rn 22 – Kommission/Italien, sowie Slg 2004, I-2409, Rn 42 – de Lasteyrie du Saillant = JK 2004, EGV Art 43/5; ausf Darstellung der Rspr des EuGH bei Frenz GF, Rn 2118 ff und Rn 2187 ff. 125 Umfassend zur Entwicklung in Rspr und Schrifttum Lackhoff (Fn 3) S 249 ff mit zahlreichen Nachw. 126 EuGH, Slg 2002, I-305, Rn 22 – Kommission/Italien. 127 EuGH, Slg 2011, I-2101, Rn 46 – Kommission/Italien. 128 EuGH, Slg 2011, I-2101, Rn 49 ff – Kommission/Italien.

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Weitgehend unstrittig werden dem Beschränkungsverbot aus Art 49 AEUV sog spezifische Zugangsbehinderungen zugeordnet. Hierunter sind Maßnahmen von Mitgliedstaaten zu verstehen, die zwar nicht offen oder versteckt zwischen In- und Ausländern differenzieren, in ihrer tatsächlichen Wirkung aber den Zugang zu einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung und zum entspr Markt im ökonomischen Sinne mit dem Ziel der Niederlassung behindern oder sonst wie weniger attraktiv machen. Das gilt zB für ein Verbot bestimmter Tätigkeiten, die Errichtung oder Unterhaltung staatlicher Monopole, ein Verbot der mehrfachen Niederlassung und Bedürfnisregelungen, Wohnsitz-, Genehmigung-, Zulassungs- sowie Qualifikationserfordernisse.129 Weiterhin werden vom Beschränkungsverbot des Art 49 AEUV auch Maßnahmen des Herkunftsmitgliedstaats erfasst, die die Niederlassung seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat behindern, und zwar selbst dann, wenn es sich nur um geringfügige oder unbedeutende Beschränkungen handelt.130 Mit Blick auf die angeführten, dem Beschränkungsbegriff nach Art 49 AEUV zugeordneten mitgliedstaatlichen Maßnahmen stellt sich die Frage, ob die Niederlassungsfreiheit letztlich jede hoheitliche Regelung erfasst, die sich unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell auf die Freiheit der Niederlassung auswirkt. Problematisch ist dies namentlich vor dem bereits dargestellten Hintergrund, dass die Ausübung der Niederlassung immer mit einer Eingliederung in die innerstaatliche Gesellschafts- und Rechtsordnung verbunden ist. Daher wird bezweifelt, dass jede innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Beziehung zur Niederlassung aufweist, eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art 49 AEUV darstellt. Die dogmatischen Konstruktionen, die zur Begründung eines insofern modifizierten bzw begrenzten Beschränkungsbegriffs iSv Art 49 AEUV vertreten werden, sind zahlreich und sollen hier nicht umfassend dargestellt werden.131 Sie sind alle dem Vorwurf auszusetzen, dass eine sachgegenständliche Begrenzung des Beschränkungsbegriffes einem sehr engen Marktzugangskriterium verhaftet ist. Nimmt man die Ratio der Grundfreiheiten, die sich heute in ihrer freiheitssichernden Dimension zeigt, ernst, kann es – wenn überhaupt – auf den Marktzugang nur ankommen, wenn einer spezifischen Grundfreiheit ein grenzüberschreitender Sachverhalt inhärent ist.132 Das mag für den Waren- und Dienstleistungsverkehr gelten, so dass sich hier zumindest im Ansatz eine Rechtfertigung für die Keck-Rspr des EuGH erblicken lässt.133 Art 49 I AEUV ist aber nicht darauf ausgerichtet, dass notwendigerweise ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt.134 Vielmehr dient die Vorschrift insg der wirtschaftlichen Tätigkeit durch Niederlassung. Ausgangspunkt dieser Freiheitssicherung ist dabei die in Art 119 AEUV hervorgehobene Zielsetzung einer offenen Marktwirtschaft.135 Einer solchen Konzeption entspricht es zwingend, dass der Staat die Notwendigkeit der Steuerung des Marktes darzulegen hat. Würde man insofern einzelne staatliche Maßnahmen aus dem Schutztat-

129 Umfangreiche Nachw hierzu bei Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 99, 103-105, 107, 109. 130 EuGH, Slg 2004, I-2409, Rn 42 f – de Lasteyrie du Saillant = JK 2004, EGV Art 43/5. 131 Ausf Lackhoff (Fn 3) S 417 ff mit zahlreichen Nachw. 132 Lackhoff (Fn 3) S 427. 133 EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 12 ff – Keck. 134 Lackhoff (Fn 3) S 427. 135 Zur freilich nicht ganz klaren Bedeutung dieser Formulierung s Bandilla in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 119 AEUV Rn 23 ff.

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bestand des Art 49 AEUV (Schutzbereich und Beeinträchtigung) ausnehmen, ginge diese prinzipielle Rechtfertigungsnotwendigkeit verloren. Sie lässt sich im Interesse möglichst spontaner – und nicht gesetzter – Marktbildung und damit Freiheitsverwirklichung136 nur erreichen, wenn es bei dem weiten Verständnis von Schutzbereich und Beeinträchtigung des Art 49 I AEUV bleibt. Dementsprechend ist der EuGH auch nicht dem Argument gefolgt, dass die weite Auslegung des Art 49 I AEUV iS eines Beschränkungsverbots nicht zur Notwendigkeit einer Rechtfertigung jeder staatlichen Maßnahme führen dürfe, die die Niederlassung weniger attraktiv mache.137 Ebenso wenig Gehör gefunden hat vor dem EuGH der Verweis darauf, dass Regelungen sog „integrierter nationaler Ordnungssysteme“,138 wozu insb die mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit gehören, nicht vom Beschränkungsbegriff erfasst werden.139 Insgesamt spricht der EuGH in diesem Sinne zwar immer wieder vom Marktzugang, um dessen Gewährleistung es bei Art 49 AEUV mit Blick auf unterschiedslos anwendbare Maßnahmen gehe, relativiert das dann aber doch dahingehend, dass es für eine Beeinträchtigung des Schutzbereiches der Grundfreiheit ausreiche, wenn der Marktzugang „weniger attraktiv“ sei.140 Durch das dargelegte weite Verständnis der Freiheitsfunktion des Art 49 AEUV kommt es im Übrigen auch nicht zu einer „Ablösung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen durch ein einheitliches supranationales Recht“.141 Die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen behalten ihre Funktion als maßgeblicher Ordnungsrahmen für die wirtschaftliche Betätigung im jeweiligen nationalen Markt. Es ändert sich nur der Rechtfertigungsdruck, der den Mitgliedstaaten mit Blick auf die Steuerung dieses Marktes auferlegt wird. Dogmatisch entspricht dies einer Erörterung der Frage nach der Übereinstimmung des mitgliedstaatlichen Rechts mit Art 49 AEUV auf der Rechtfertigungs-, nicht aber auf der Beeinträchtigungsebene. Nur dieses Konzept wird dem freiheitseffektuierenden System der Grundfreiheiten insg und damit auch des Art 49 AEUV gerecht.142

136 Hierzu v Hayek Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd I, 1980, S 33 f; ders Die Verfassung der Freiheit, 1971, S 194; ders Individualism and the Economic Order, 1948, S 16. 137 So Schlussanträge GA Mischo, EuGH, Slg 1999, I-2835, Rn 58 – Pfeiffer; der EuGH ist hierauf in seinem Urt in dieser Rs nicht eingegangen und hat die fragliche Maßnahme (Anwendung des österreichischen UWG) als Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art 49 AEUV gewertet, s EuGH, Slg 1999, I-2835, Rn 19 f – Pfeiffer; GA Mischo hat seine Ansicht nochmals im dargelegten Sinne vertreten in: Schlussanträge, Slg 2002, I-6515, Rn 57 – Deutsche Paracelsus Schulen; der EuGH ist a in dieser Entscheidung nicht weiter auf die Argumente des Generalanwalt eingegangen und hat ohne nähere Ausführungen einen Eingriff in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit festgestellt, s Slg 2002, I-6515, Rn 38 ff – Deutsche Paracelsus Schulen. 138 Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 114. 139 EuGH, Slg 2001, I-5473, Rn 51 ff – Smits u Peerboms. 140 Epiney NVwZ 2010, 1065, 1069 f mwN. 141 So aber Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Vor Art 39–55 EGV Rn 92 (Vorauflage). 142 Die Reichweite der Lehre von den Beschränkungsverboten ist der wohl strittigste Problembereich in der Dogmatik der Grundfreiheiten. Es entspricht nicht dem Konzept dieser primär didaktisch orientierten Darstellung, eine umfassende Diskussion hierzu zu führen. Zahlreiche Nachw sowie eine der hier vertretenen Ansicht deutlich kritisch-restriktiv entgegengesetzte Sicht der Dinge finden sich zB bei Frenz GF, Rn 2014 ff.

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3. Beeinträchtigungen durch Private 57

Die Grundfreiheiten binden grundsätzlich nur die Mitgliedstaat, dh beschränken hoheitliches Handeln, das den Mitgliedstaaten zugerechnet werden kann. Allerdings hat der EuGH einzelne Grundfreiheiten auch auf Privatrechtssubjekte zur verpflichtenden Anwendbarkeit gebracht (→ § 7 Rn 57 f). Diese – nicht unproblematische – Rspr hat der Gerichtshof zwischenzeitlich auch auf die Niederlassungsfreiheit ausgedehnt.143 Damit sind zB Streik- und Blockademaßnahmen, die von Gewerkschaften im Hinblick auf die geplante Verlegung einer Produktionsstätte eines Unternehmens in einen anderen EUMitgliedstaat organisiert werden, uU mit der Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV) unvereinbar.144 Diese sog Drittwirkung der Grundfreiheiten stößt im Schrifttum bisweilen auf erhebliche Ablehnung.145

IV. Rechtfertigung 58

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Beeinträchtigungen des Schutzbereichs des Art 49 AEUV lassen sich durch Art 52 I AEUV sowie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses rechtfertigen. Bei offenen Diskriminierungen kommt dabei nur eine Rechtfertigung nach Art 52 I AEUV in Betracht. Liegt eine nichtdiskriminierende Beschränkung vor, können Art 52 I AEUV und die Lehre von den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses herangezogen werden. Wie bei allen Grundfreiheiten ist allerdings str, ob der Verweis auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses auch dann greifen kann, wenn eine versteckte Diskriminierung vorliegt, oder ob es in diesen Fällen bei der ausschließlichen Anwendbarkeit des Art 52 I AEUV bleibt (Einzelheiten zu dieser übergreifenden, für alle Grundfreiheiten relevanten Problematik in → § 7 Rn 119). Art 52 I AEUV ist der einzige im Vertrag ausdrücklich für Beeinträchtigungen des Schutzbereichs der Niederlassungsfreiheit vorgesehene Rechtfertigungsgrund. Als Ausnahmevorschrift ist Art 52 I AEUV aber eng auszulegen.146 Der damit ohnehin schon nur begrenzte Anwendungsbereich der Vorschrift wird nochmals eingeengt, wenn die spezielle Ratio der Norm berücksichtigt wird: Art 52 I AEUV verweist auf „Sonderregelungen für Ausländer“. Da die grundlegende Zielsetzung der Grundfreiheiten darin besteht, im Binnenmarkt gerade keine Sonderregelungen, die an die Staatsangehörigkeit anknüpfen, zuzulassen (vgl Art 18 AEUV), kann die Ausländereigenschaft selbst nicht maßgeblicher Anknüpfungspunkt des Art 52 I AEUV sein. Es entspricht vielmehr der st Rspr des EuGH, dass Art 52 I AEUV den Mitgliedstaaten erlaubt, „gegenüber den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten ua aus Gründen der öffentlichen Ordnung Maßnahmen zu ergreifen, die sie insofern bei ihren eigenen Staatsangehörigen nicht anwenden könnten, als sie nicht die Befugnis haben, diese auszuweisen oder ihnen die Einreise in das nationale Hoheitsgebiet zu untersagen“.147 Diese Aussage des Gerichtshofes ist vor dem verfas-

143 EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 66 – Viking = JK 2008, EGV Art 43/9. 144 Ausf hierzu Franck, Die horizontale unmittelbare Wirkung der EG-Grundfreiheiten – Grundlagen und aktuelle Entwicklung, 2009, S 13 ff, verfügbar unter: www.jura.uni-halle.de/telc/ beitraegeeuvr.html. 145 Vgl zB Kluth AöR 122 (1997), 557, 566 ff; Streinz/Leible EuZW 2000, 459, 464 ff; Rennert Jura 2003, 13 ff; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, 2. Aufl 2006, Rn 100 f. 146 EuGH, Slg 1999, I-11, Rn 23 – Calfa; ausf zu Art 52 AEUV Frenz GF, Rn 2230 ff. 147 EuGH, Slg 1999, I-11, Rn 20 – Calfa.

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sungsrechtlichen (Art 16 II GG) und völkerrechtlichen (Art 3 4. ZP EMRK) Verbot der Auslieferung und Ausweisung eigener Staatsangehöriger zu sehen. Aufgrund dieses Verbotes besteht trotz des Art 18 AEUV im Bereich der Ausweisung bzw Auslieferung ein bedeutender Unterschied zwischen In- und Ausländern. Nur auf diesen, auch im Lichte unionsrechtlicher Regelungen weiterhin gegebenen Unterschied zielt Art 52 I AEUV ab. Daher ist anerkannt, dass die Vorschrift ihren primären Anwendungsbereich im nationalen Ausländerrecht findet.148 Die primär ausländerrechtliche Dimension des Art 52 I AEUV schlägt sich auch in dem Erfordernis nieder, dass jew auf den Einzelfall bezogen ermittelt werden muss, ob das persönliche Verhalten eines Niederlassungsberechtigten in einer bestimmten Situation eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit darstellt; der isolierte Verstoß gegen eine Ordnungswidrigkeits- oder Strafbarkeitsbestimmung reicht hierfür nicht.149 Die Tatbestandsmerkmale „öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ sind dabei in Übereinstimmung mit Art 45 III AEUV auszulegen.150 Sie wurden früher durch die RL 64/221151 konkretisiert;152 seit dem 30. April 2004 finden sich die entsprechenden Rechtskonkretisierungen in der neuen RL 2004/38.153 Als Schranken-Schranke ist zudem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten.154 Soweit eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art 49 AEUV aufgrund eines Beschränkungsverbotes vorliegt, kommt weiterhin eine Rechtfertigung aufgrund zwingender Allgemeininteressen in Betracht. Die Anwendung und Konkretisierung dieser ungeschriebenen Schrankenregelung folgt dabei den Grundsätzen der allgem Dogmatik der Grundfreiheiten und muss daher an dieser Stelle nicht vertiefend erörtert werden (→ § 7 Rn 118 f). Hinzuweisen ist nur darauf, dass in der Rspr des EuGH zwischenzeitlich eine große Anzahl von anerkannten Schutzinteressen hinsichtlich der zwingenden Allgemeininteressen herausgearbeitet wurden. Überdies entspricht es der st Rspr des EuGH, dass eine Maßnahme aufgrund eines anerkannten zwingenden Allgemeininteresses geeignet sein muss, „die Verwirklichung des verfolgten Zieles zu gewährleisten, und nicht über das [hinausgehen darf], was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist“.155 Bes Probleme stellen sich bei der Rechtfertigung von Beeinträchtigungen durch Privatrechtssubjekte (Rn 57). Der geschriebene Rechtfertigungsgrund des Art 52 I AEUV lässt sich nicht auf Privatrechtssubjekte anwenden, weil ausdrücklich nur staatliche Maßnahmen erfasst sind (Rn 57 f). Der EuGH hält aber eine Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Niederlassungsfreiheit durch Privatrechtssubjekte durch „zwingende Gründe des

148 Schlag in: Schwarze, EU-Komm, Art 52 AEUV Rn 3; Roth in: HdBEU WirtschR E.I., Rn 72; Müller-Graff in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 Rn 3 f. 149 EuGH, Slg 1999, I-11, Rn 25 – Calfa. 150 Hierzu ausf Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 123 ff mwN. 151 ABl 1964, 850. 152 Schlag in: Schwarze, EU-Komm, Art 52 AEUV Rn 5 mwN. 153 RL 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates v 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änd der VO Nr 1612/68 und zur Aufhebung der RL 64/221, 68/360, 72/194, 73/148, 75/34, 75/35, 90/364, 90/365 und 93/96, ABl L 158/77 v 30.4.2004. 154 EuGH, Slg 1996, I-2691, Rn 26 – Kommission/Italien; Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 52 AEUV Rn 29 mwN. 155 EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 37 – Gebhard; Slg 1999, I-2835, Rn 19 – Pfeiffer; Slg 2004, I-2409, Rn 49 – de Lasteyrie du Saillant = JK 2004, EGV Art 43/5.

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Allgemeininteresses“ grundsätzlich für möglich, soweit diese in verhältnismäßiger Weise verfolgt werden.156 Neben diesen „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ können nach dem Gerichtshof auch die Unionsgrundrechte zur Rechtfertigung herangezogen werden.157 Die in Rn 57 erwähnte streikende Gewerkschaft kann sich daher ihrerseits auf das Unionsgrundrecht der Koalitionsfreiheit zur Rechtfertigung der Beeinträchtigungen berufen. Die Rechtmäßigkeit der jeweiligen Maßnahme eines Privaten muss damit letztlich im Rahmen einer Abwägung zwischen der jeweiligen Grundfreiheit (hier: Niederlassungsfreiheit) und den Unionsgrundrechten erfolgen.158

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Lösung Fall 4: Da das deutsche Unternehmen T in Österreich eine Zweigniederlassung betreibt, ist der Schutzbereich des Art 49 iVm 54 AEUV eröffnet. Fraglich ist, ob auch eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Niederlassungsfreiheit vorliegt. Eine offene Diskriminierung erfolgt durch die Anwendung des österreichischen UWG nicht, da die Regelungen dieses Gesetzes ohne Unterschied auf in- und ausländische Unternehmen angewandt werden. Eine versteckte Diskriminierung läge vor, wenn die Anwendung des § 9 UWG typischerweise zu einer Schlechterstellung von ausländischen Unternehmen wie T führt. Auch hierfür sind keine Anhaltspunkte gegeben. Damit ist es nur möglich, eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs nach der Lehre von den Beschränkungsverboten zu begründen. Hiernach liegt eine Beeinträchtigung vor, wenn die Anwendung einer mitgliedstaatlichen Vorschrift die Ausübung einer Grundfreiheit wie hier der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv macht. Das Unternehmen T wählte das str Logo bewusst, um in Europa einheitlich durch eine Werbemaßnahme bekannt zu werden. Die Einheitlichkeit dieses europaweiten Werbeauftritts wird beeinträchtigt, wenn hiervon in einzelnen Mitgliedstaaten abgewichen werden muss. Dies wiederum hat zwingend Auswirkungen auf das unternehmerische Interesse an einer geschäftlichen Tätigkeit in dem Mitgliedstaat, der die Anwendung des europaweiten Logos nicht gestattet. Damit liegt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit vor. Diese ist auch als Beeinträchtigung des Schutzbereichs zu werten, da jedenfalls der Marktzutritt betroffen ist. Auf die str Frage, inwieweit auch sonstige Formen von Beschränkungsmaßnahmen von Art 49 AEUV erfasst werden, kommt es damit nicht an. Die Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art 49 AEUV könnte aber gerechtfertigt sein. Eine Rechtfertigung nach Art 52 I AEUV scheidet aus, da es sich bei der Anwendung des UWG nicht um eine ausländerrechtliche Maßnahme handelt. Damit bleibt es nur bei der Möglichkeit einer Rechtfertigung aufgrund eines zwingenden Allgemeininteresses. Der wettbewerbsrechtliche Schutz von Geschäftsbezeichnungen vor Verwechselungsgefahr stellt ein zwingendes Allgemeininteresse dar. Die Anwendung des § 9 I UWG ist vorliegend auch verhältnismäßig, da nur durch ein Verbot gewährleistet werden kann, dass die berechtigten Interessen eines Markeninhabers geschützt werden.159 Damit ist Art 49 iVm 54 AEUV nicht verletzt.

156 EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 75 – Viking = JK 2008, EGV Art 43/9. 157 EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 77 – Viking = JK 2008, EGV Art 43/9. 158 EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 79 ff – Viking = JK 2008, EGV Art 43/9; s hierzu a Franck (Fn 144) S 20 ff. 159 EuGH, Slg 1999, I-2835, Rn 22 f – Pfeiffer.

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V. Die Anwendung der Niederlassungsfreiheit auf juristische Personen gem Art 54 AEUV Fall 5: (EuGH, Slg 2002, I-9919 ff – Überseering) Das Unternehmen BV ist seit 1990 im Handelsregister von Amsterdam eingetragen. In Deutschland ist BV Eigentümerin eines Grundstücks in Düsseldorf. BV schloss mit der NCC GmbH einen Werkvertrag zu Bauarbeiten auf dem Grundstück. Am 1. Januar 1995 erwarben zwei Privatpersonen sämtliche Geschäftsanteile an der BV. Seit diesem Zeitpunkt hat die BV ihren tatsächlichen Geschäftssitz in Düsseldorf. Im Jahre 1996 klagte die BV auf Erstattung von Kosten, die durch eine Mängelbeseitigung, die NCC nicht selbst durchgeführt hatte, entstanden sind. Die Klage wurde vom OLG als unzulässig mit der Begründung abgewiesen, dass BV nicht rechts- und damit parteifähig iSv § 50 ZPO sei. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass sich die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft nach dem Recht des Staates richte, in dem sie ihren Hauptverwaltungssitz habe. Dies sei Deutschland und hier sei BV nicht rechtsfähig. Verletzt die Entscheidung Art 49 iVm 54 AEUV?

Art 54 AEUV bewirkt die Anwendung der Art 49 ff AEUV auf „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben“. Der dem Art 54 AEUV zugrunde liegende Oberbegriff der Gesellschaft bzw juristischen Person160 ist unionsrechtlich und nicht iS einer möglicherweise engeren mitgliedstaatlichen Rechtsdogmatik zu verstehen. Wie Art 54 II AEUV verdeutlicht, handelt es sich um ein weit auszulegendes Tatbestandsmerkmal. Entscheidend ist insofern, dass „eine Personenvereinigung gegenüber ihren Mitgliedern soweit verselbstständigt ist, dass sie im Rechtsverkehr unter eigenem Namen handeln kann“. Damit sind in Deutschland auch die OHG und die GbR „juristische Personen“ nach Art 54 AEUV.161 Das zentrale Problem des Art 54 AEUV, das auch hier nur interessieren soll, ist die Frage nach der genauen Bestimmung der Voraussetzungen, die eine juristische Person im beschriebenen Sinne ausmachen. Das betrifft konkret die Frage, wann eine Gesellschaft „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats“ gegründet ist. Da bislang noch keine einheitlichen Regelungen der Mitgliedstaaten über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften nach Art 81 II c AEUV ausgearbeitet wurden und Art 54 I AEUV auf „die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründeten Gesellschaften“ abstellt, ist es zunächst Aufgabe des mitgliedstaatlichen Rechts, darüber zu befinden, ob die Voraussetzungen der Vorschrift vorliegen. Das muss allerdings jedenfalls dann unter Beachtung unionsrechtlicher Vorgaben erfolgen, wenn es um den Zuzug einer Gesellschaft, die in einem Mitgliedstaat gegründet wurde, in einen anderen Mitgliedstaat geht.162 Bei ausländischen juristischen Personen erfolgt deren gesellschaftsrechtliche Bewertung nach Grundsätzen des internationalen Gesellschaftsrechts der Mitgliedstaaten. In Deutschland wird insofern davon gesprochen, dass das Gesellschafts- oder Personalstatut darüber

160 Wie Art 54 II AEUV verdeutlicht, besteht eine Identität der Begriffe „Gesellschaften“ und „juristische Personen“, s Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 54 AEUV Rn 3. 161 Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 54 AEUV Rn 3; BGH, ZIP 2001, 330 ff; ausf hierzu a Frenz GF, Rn 2031 ff. 162 Zur problematischen Differenzierung in der Rspr zwischen Zuzugs- und Wegzugsfällen mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit s EuGH, Slg 2008, I-9641 ff – Cartesio; ausf Mörsdorf EuZW 2009, 97 ff mwN; s jetzt aber EuGH, EuZW 2012, 621 – Vale = JK 2013, AEUV Art 49/1.

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entscheidet, welches Recht auf eine Gesellschaft Anwendung findet.163 Das Gesellschaftsstatut wird im Wesentlichen durch zwei unterschiedliche Anknüpfungspunkte bestimmt. In einigen Staaten (zB USA, Vereinigtes Königreich) wird nach der Gründungstheorie auf das Recht des Staates abgestellt, in dem die Gesellschaft gegründet wurde. Nach der ua in Deutschland (bislang noch) vertretenen Sitztheorie164 kommt es zur Bestimmung des Gesellschaftsstatuts hingegen auf den effektiven Verwaltungssitz der fraglichen Gesellschaft an. Erst mit einer vor einigen Jahren geplanten bislang aber noch nicht realisierten Änd des EGBGB wird es in Deutschland zur Ablösung der Sitztheorie durch die Gründungstheorie kommen.165 Die Anwendung der Sitztheorie führt im Lichte des Art 54 AEUV zu der Problematik, dass eine Gesellschaft, die im Mitgliedstaat A gegründet wurde, zwischenzeitlich aber ihren Verwaltungssitz in den Mitgliedstaat B verlegt hat, mit Blick auf ihre Rechtsfähigkeit nach dem Recht des B beurteilt wird. Sofern nun nach dem Recht von B nicht die Voraussetzungen dafür erfüllt sind, dass die Gesellschaft als eigenständig handlungsfähig betrachtet wird, scheidet die Anwendbarkeit des Art 54 AEUV aus, obwohl die Gesellschaft ursprünglich in einem Mitgliedstaat wirksam gegründet wurde und damit Handlungsfähigkeit erlangt hatte. Diese Situation hat zu der problematischen Frage geführt, ob bzw inwieweit Art 49 iVm 54 AEUV die Anwendung der Sitztheorie einschränken.166 Ohne hier eine umfassende Diskussion zu den angesprochenen Fragen im Verhältnis von internationalem Gesellschaftsrecht und Art 49, 54 AEUV zu führen, seien zumindest einige Argumente genannt, die zur Lösung der Problematik beitragen: Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine unbegrenzte Anwendung mitgliedstaatlichen internationalen Gesellschaftsrechts dazu führen könnte, dass auch eine Gesellschaft aus einem außerhalb der EU liegenden Staates von Art 54 AEUV erfasst sein könnte. Das wäre der Fall, wenn eine Gesellschaft in einem Drittstaat gegründet wurde und ihren Verwaltungssitz in einem Mitgliedstaat hat, der der Gründungstheorie folgt. Angesichts der bereits aufgezeigten grundlegenden Zielrichtung der Niederlassungsfreiheit, nur Personen aus den Mitgliedstaaten die Rechte des Art 49 AEUV zu gewähren (Rn 6 f, 15), erscheint diese Konsequenz nicht tragbar.167 Überdies ist zu bedenken, dass eine vom Unionsrecht unbegrenzte Anwendung mitgliedstaatlichen internationalen Gesellschaftsrechts dazu führen würde, dass derselbe Sachverhalt in einem Mitgliedstaat mit Sitztheorie anders beurteilt werden

163 Kindler in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl 2010, IntGesR Rn 7; Großfeld in: Staudinger EGBGB/IPR/IntGesR, 13. Aufl 1998, Rn 16 ff. 164 S nur Kindler (Fn 163) Rn 5; Großfeld (Fn 163) Rn 38; Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 9. Aufl 2004, S 572 ff. 165 S den Referentenentwurf „Gesetz zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen“ vom Sommer 2008, verfügbar unter: http://beck-aktuell.beck.de/ sites/default/files/rsw/upload/Beck_Aktuell/Referentenentwurf-IGR.pdf; hierzu zB Kußmaul/ Richter/Ruiner Der Betrieb 2008, 451 ff. 166 Aus dem überaus umfangreichen Schrifttum s nur Behrens IPrax 1999, 323 ff; Ebke JZ 1999, 656 ff; Forsthoff EuR 2000, 167 ff; Kindler NJW 1999, 1993 ff; Meilicke GmbHR 2000, 693 ff; Roth ZGR 2000, 311 ff; Sonnenberger/Großerichter RIW 1999, 721 ff; Leible/Hoffmann RIW 2002, 925 ff; Grundmann Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004, Rn 760 ff; im Überbl zur einschlägigen Rspr des EuGH a Frenz GF, Rn 2077 ff. 167 Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 54 AEUV Rn 17; Lehmann RIW 2004, 816, 817.

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könnte als in einem Mitgliedstaat mit Gründungstheorie. Das ist mit dem Grundsatz der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts schlechthin nicht vereinbar.168 Schon diese Gesichtspunkte zwingen dazu, eine unbegrenzte Anwendung mitgliedstaatlichen internationalen Gesellschaftsrechts für unvereinbar mit Art 49, 54 AEUV anzusehen. Es gilt daher auch bei Art 54 AEUV der dem Unionsrecht eigentümliche Grundsatz, dass hier zwar eine Regelungsmaterie vorliegt, die zunächst von den Mitgliedstaaten bestimmt wird, zugleich aber das Unionsrecht dabei nicht unberücksichtigt bleiben darf.169 Daraus folgt, dass die grundsätzlich zulässige Anwendung mitgliedstaatlichen internationalen Gesellschaftsrechts keine Verkürzung der freiheitlichen Rechtsgarantien des Art 49 AEUV bewirken darf. Grundlage der Lösung der angesprochenen Probleme im Spannungsverhältnis von internationalem Gesellschaftsrecht und Art 54 AEUV ist also die Freiheitsgarantie des Art 49 AEUV.170 Insg ergibt sich damit, dass das internationale Gesellschaftsrecht der Mitgliedstaaten, insb mit Blick auf die Bestimmung des Gesellschaftsstatuts, von Art 54 AEUV dem Grunde nach unberührt bleibt. Wenn ein Mitgliedstaat sein internationales Gesellschaftsrecht anwendet, um über die Frage zu entscheiden, ob eine Gesellschaft gem Art 54 I AEUV „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats“ gegründet wurde bzw weiterhin rechtlich existiert, müssen aber nach allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts die Grundfreiheiten Beachtung finden. Soweit eine Berücksichtigung der Grundfreiheiten, insb Art 49 AEUV, nicht im Rahmen unionsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts möglich ist, bleibt es nur bei der Möglichkeit, das kollidierende mitgliedstaatliche Recht nach der Lehre von den zwingenden Allgemeininteressen zu rechtfertigen.171 Allerdings ist zu beachten, dass der EuGH zwischen der Verlegung des Verwaltungssitzes einer Gesellschaft bzw. der Gründung von Zweigniederlassungen auf der einen Seite und Rechtsfragen im Zusammenhang mit einem gesellschaftsrechtlichen grenzüberschreitenden Formwechsel („grenzüberschreitende statutenwechselnde Sitzverlegung“172) auf der anderen Seite differenziert. Ausgangspunkt ist dabei die grundlegende Erkenntnis, dass Gesellschaften „[i]m Gegensatz zu natürlichen Personen […] aufgrund einer Rechtsordnung, beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts aufgrund einer nationalen Rechtsordnung, gegründet [werden]. Jenseits der jeweiligen nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, haben sie keine Realität“.173 Aufgrund dieser „Geschöpftheorie“ kommt den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten eine Autonomie im Hinblick auf die Festlegung der Tatsachen, die als Anknüpfung für die

168 Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 54 AEUV Rn 11. 169 So überzeugend EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 52 ff – Überseering = JK 2003, EGV Art 43/3; Schlussanträge GA Colmer, Slg 2002, I-9919, Rn 39 – Überseering; ähnlich zB Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 54 AEUV Rn 18. 170 Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 54 AEUV Rn 2; iE ebenso EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 14 ff – Centros; Slg 2002, I-9919, Rn 56 ff – Überseering = JK 2003, EGV Art 43/3; Slg 2003, I-10155, Rn 95 ff – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4; anders wohl noch Slg 1988, 5483, Rn 21 ff – Daily Mail; aA weiterhin zB Kindler NJW 1999, 1993, 1996 ff. 171 EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 78 ff und 83 ff – Überseering = JK 2003, EGV Art 43/3; Slg 2003, I-10155, Rn 95 ff und 106 ff – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4; Schlussanträge GA Colmer, Slg 2002, I-9919, Rn 43 – Überseering; ebenso iE bereits Slg 1999, I-1459, Rn 14 ff – Centros. 172 Bayer/Schmidt ZIP 2012, 1481 ff. 173 EuGH, Slg 1988, 5483, Rn 19 – Daily Mail.

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Anwendung des nationalen Rechts, das für die Gründung oder Weitgeltung einer Gesellschaft maßgeblich ist, zu. Das indes führt nicht dazu, dass die Mitgliedstaaten im Sinne eines Freibriefes jede gewünschte gesellschaftsrechtliche Regelung treffen könnten, ohne die Niederlassungsfreiheit beachten zu müssen. Der EuGH stellt vielmehr klar, dass konkret auf den grenzüberschreitenden Formwechsel einer Gesellschaft bezogen (Umwandlung) die Niederlassungsfreiheit gilt, soweit der entsprechende Formwechsel im innerstaatlichen Recht des betreffenden Mitgliedstaates vorgesehen ist.174 Im Ergebnis ergibt sich aus dem so sichtbaren Spannungsverhältnis mitgliedstaatlicher Regelungsautonomie und unionsrechtlicher Freiheitsgarantie, dass der grenzüberschreitende Formwechsel (Umwandlung) vom Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit erfasst ist. Im Lichte des beschriebenen Spannungsverhältnisses darf der Herkunftsmitgliedstaat daher einen grenzüberschreitenden Formwechsel nicht generell verbieten, kann aber Beschränkungen im Einzelfall nach der Cassis-Formel rechtfertigen.175 Der Aufnahmemitgliedstaat darf den grenzüberschreitenden Formwechsel hingegen nicht verhindern, wenn es eine entsprechende Umwandlungsmöglichkeit im innerstaatlichen Recht gibt. Nach dem EuGH sind insofern der Äquivalenzgrundsatz und der Effektivitätsgrundsatz zu beachten.176 Ergänzend ist noch darauf hinzuweisen, dass sich in konsequenter Fortführung der dargestellten EuGH-Rspr in den Zuzugsfällen neben dem EU-Recht aus dem Völkerrecht weit reichende Einschränkungen der innerstaatlichen Anwendbarkeit der Sitztheorie ergeben können. Das gilt zunächst mit Blick auf Bestimmungen in zahlreichen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsverträgen, die eine gegenseitige Anerkennung der Rechtsfähigkeit von Gesellschaften verlangen. Der BGH hat diesbezüglich unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Überseering-Entscheidung des EuGH in einem Urt v 29. Januar 2003 der entspr Klausel in dem deutsch-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag von 1954 unmittelbare Anwendbarkeit zugesprochen mit der Konsequenz, dass das Personalstatut der betroffenen Gesellschaft aus Florida nach USamerikanischem Recht bestimmt werden musste.177 Dabei traf der BGH in Anlehnung an die dargestellte EuGH-Rspr die folgende zentrale Aussage: „Wenn Inländerbehandlung, Meistbegünstigung und Niederlassungsfreiheit vereinbart sind und eine Gesellschaft demgemäß sich in einem anderen Land geschäftlich betätigen darf, kann ihr dort nicht die Rechtspersönlichkeit abgesprochen werden, die ihr nach dem Recht des Staates zusteht, in dem sie errichtet worden ist. Insb die Niederlassungsfreiheit hat die volle Anerkennung der Rechts- und Parteifähigkeit mit zum Inhalt“.178 Die zit Feststellung des BGH hat unmittelbare Konsequenzen für den wohl bedeutungsvollsten völkerrechtlichen Vertrag, der die Anwendung der Sitztheorie einschränkt, das GATS. Nach den bereits kurz dargestellten Regelungen des GATS (Rn 9 f) besteht in Dienstleistungsbereichen, für die von den WTO-Mitgliedern Liberalisierungsverpflichtungen übernommen wurden, ua das Recht von ausländischen Gesellschaften zur so genannten kommerziellen Präsenz. Kommerzielle Präsenz wird definiert als „jede Art geschäft-

174 EuZW 2012, 621 Rn 27 ff – Vale = JK 2013, AEUV Art 49/1; Bayer/Schmidt ZIP 2012, 1481, 1485. 175 EuZW 2009, 75 – Cartesio. 176 EuZW 2012, 621 Rn 53 ff – Vale = JK 2013, AEUV Art 49/1; Bayer/Schmidt ZIP 2012, 1481, 1487 ff. 177 BGH, DB 2003, 818, 819. 178 BGH, DB 2003, 818, 819.

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licher oder beruflicher Niederlassung durch – unter anderem – die Errichtung oder Fortführung einer juristischen Person“ (Art XXVIII lit d i GATS). Als juristische Person gilt dabei „eine nach geltendem Recht ordnungsgemäß gegründete oder anderweitig errichtete rechtsfähige Organisationseinheit“ (Art XXVIII lit l GATS). Aus diesen Festlegungen, die sich als Niederlassungsrecht (vgl Art XVI GATS) zusammenfassen lassen und die durch die Garantie der Inländergleichbehandlung (Art XVII GATS) und der Meistbegünstigung (Art II GATS) abgesichert werden, folgt iS des zit BGH-Urt unmittelbar, dass eine in einem WTO-Mitglied wirksam gegründete Gesellschaft zumindest in Deutschland – und nach WTO-Recht letztlich auch in jedem anderen WTO-Mitglied – in ihrer Rechtsfähigkeit anzuerkennen ist, soweit es um die Erbringung von Dienstleistungen geht. Für die Anwendung der Sitztheorie verbleibt damit kaum noch Raum.179 Der BGH selbst ist diesen konsequenten Schritt dann allerdings nicht gegangen. In seiner Trabrennbahn-Entscheidung vom 27. Oktober 2008 stellte er folgendes fest: „Eine Pflicht zur Anerkennung schweizerischer Gesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland lässt sich auch nicht aus dem Allgemeinen Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen […] herleiten […180]. Dieses Übereinkommen, das allein eine Förderung des Handels mit Dienstleistungen bezweckt, richtet sich nur an die Mitgliedstaaten und begründet keine subjektiven Rechte der Angehörigen dieser Staaten. Eine völkerrechtsfreundliche Auslegung des nationalen Rechts […] im Sinne einer Gewährleistung auch der Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften scheitert bereits daran, dass das Übereinkommen international nicht so verstanden wird […181].“182 Eine Begründung im eigentlichen juristischen Sinne bietet der BGH für seine Ansicht ersichtlich nicht. Es bleibt insofern zunächst bei der unbefriedigenden Feststellung, dass spezifische völkerrechtliche Rechte der juristischen Person aus bilateralen Freundschaftsund Handelsverträge folgen sollen, nicht jedoch aus dem regelungstechnisch vergleichbaren multilateralen Dienstleistungsabkommen. Die hierin liegende rechtliche Herausforderung verschärft sich im Übrigen nochmals, wenn man berücksichtigt, dass die gegenwärtig von der EU mit zahlreichen Staaten verhandelten bzw. zum Teil schon abgeschlossenen Freihandelsabkommen regelmäßig Niederlassungsfreiheit garantieren und diese ua als „Fortführung einer juristischen Person“ definieren.183 Da völkerrechtliche Regelungen zur Dienstleistungsfreiheit seit dem Vertrag von Lissabon in den Bereich der ausschließlichen Kompetenz der EU fallen (Art 207 I AEUV) und der EuGH bilateralen Freihandelsabkommen zumindest bislang weitreichende unmittelbare Anwendbarkeit im Sinne subjektiver Rechte mit Anwendungsvorrang vor innerstaatlichem Recht zugespro-

179 Ebenso Hoffmann in: Anwaltkommentar BGB, Anh zu Art 12 EGBGB, Rn 146 ff; zurückhaltender Lehmann RIW 2004, 816 ff; aA Kindler (Fn 163) Rn 471. 180 Der BGH zitiert wie folgt: Kindler, in: MünchKomm, 4. Aufl., IntGesR Rn 481 f; a.A. Hoffmann, in: AnwKomm-BGB, Anh. zu § 12 EGBGB Rn 146 ff. 181 Der BGH zitiert hier: Lehmann, RIW 2004, 816; Jung, NZG 2008, 681, 683. 182 BGH, NJW 2009, 289, 290. 183 S zB Art SECTION C, Establishment, Article 7.9 des Freihandelsabkommens EU-Südkorea (ABl EU Nr L 127/6 v 14.5.2011): „For the purposes of this Section: (a) establishment means: (i) the constitution, acquisition or maintenance of a juridical person“; insgesamt hierzu a Mathis/ Laurenza JWT 13 (2012), 157 ff.

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chen hat,184 liegt hier weitreichendes Potential für die Garantie der rechtlichen Existenz durch völkerrechtliche Regelungen vor.

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Lösung Fall 5: Durch die Anwendung der Sitztheorie zur Bestimmung des Gesellschaftsstatuts der BV kommt es zur Beurteilung ihrer Rechtsfähigkeit nach deutschem Recht. Da nach der Feststellung des OLG die BV nach deutschem Recht nicht rechtsfähig ist, konnte sie nicht parteifähig iSv § 50 ZPO sein. Damit ist für die BV eine Situation entstanden, die sie bei vorheriger Kenntnis der Rechtslage davon abgehalten hätte, ihren Verwaltungssitz nach Deutschland zu verlegen. Insofern führt die Anwendung der Sitztheorie dazu, dass die Ausübung der Niederlassungsfreiheit mit Blick auf die BV deutlich weniger attraktiv ist. Vor diesem Hintergrund liegt eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Art 49, 54 AEUV vor. Dagegen spricht auch nicht, dass nach gegenwärtigem Stand des Unionsrechts den Mitgliedstaaten dem Grunde nach die Regelungszuständigkeit für das internationale Gesellschaftsrecht verbleibt. Diese Regelungszuständigkeit entbindet nämlich nicht von der Beachtung der Grundfreiheiten. Fraglich ist damit nur, ob eine Rechtfertigung der Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Art 49, 54 AEUV möglich ist. Die Anwendung der Sitztheorie bezweckt ua einen Gläubiger- und Arbeitnehmerschutz.185 Allerdings ist nicht ersichtlich, warum die der Sitztheorie zugrunde liegenden Interessen dazu führen müssen, dass einer im Ausland wirksam gegründeten Gesellschaft in Deutschland die Rechts- und damit Parteifähigkeit abgesprochen wird. Eine solche Rechtsfolge stellt eine erhebliche Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Niederlassungsfreiheit dar, da die fragliche Gesellschaft plötzlich „ihres rechtlichen Besitzstandes beraubt“ wird,186 was einer „Negierung“ der Niederlassungsfreiheit gleichkommt.187 Folglich ist die Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Niederlassungsfreiheit unverhältnismäßig und nicht zu rechtfertigen.188

184 S zB EuGH, Slg 2005 I-2579, Rn 20 ff – Simutenkov. 185 Zu Einzelheiten s BGH, DB 2000, 1114; Schlussanträge GA Colmer, EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 50 – Überseering. 186 Schlussanträge GA Colmer, EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 57 – Überseering. 187 EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 93 – Überseering = JK 2003, EGV Art 43/3. 188 Zur Möglichkeit der Rechtfertigung in einer vergleichbaren Fallkonstellation ausf EuGH, Slg 2003, I-10155, Rn 131 ff – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4.

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§ 11 Dienstleistungsfreiheit Eckhard Pache Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1974, 631 ff – Reyners; Slg 1974, 1405 ff – Walrave; Slg 1976, 1333 ff – Dona; Slg 1984, 377 ff – Luisi u Carbone; Slg 1991, I-659 ff, I-709 ff, I-727 ff – Fremdenführer (I, II, III); Slg 1994, I-1039 ff – Schindler; Slg 1995, I-1141 ff – Alpine Investments; Slg 1995, I-4921 ff – Bosman; Slg 1999, I-2517 ff – Ciola = JK 2000, EGV Art. 49/1; Slg 2000, I-2549 ff – Deliège; Slg 2000, I-2681 ff – Lehtonen u Castors Braine; Slg 2002, I-6279 ff – Carpenter = JK 2002, EGV Art 49/6; Slg 2003, I-4509 ff – Müller-Fauré; Slg 2004, I-6613 ff – Barcadi France; Slg 2005, I-2733 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2005, I-3761 ff – Kommission/Belgien; Slg 2005, I-4133 ff – Burmanjier = JK 2006, EGV Art 28/6; Slg 2005, I-7287 ff – Coname = JK 2006, EGV Art 43/7; Slg 2005, I-7723 ff – Mobistar u Belgacom Mobile; Slg 2005, I-8585 ff – Parking Brixen; Slg 2005, I-8831 ff – Kommission/Frankreich; Slg 2005, I-9315 ff – Contse ua; Slg 2006, I-885 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2006, I-963 ff – Kommission/Spanien; Slg 2006, I-2941 ff – Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti; Slg 2006, I-3303 ff – Anav; Slg 2006, I-4326 ff – Watts = JK 2007, EGV Art 49/15; Slg 2006, I-5843 ff – von de Coevering; Slg 2006, I-6991 ff – Meca-Medina u Majcen; Slg 2006, I-9041 ff – Kommission/Österreich; Slg 2006, I-9461 ff – FKP Scorpio Konzertproduktionen; Slg 2006, I-9521 ff – Fidium Finanz = JK 2007, EGV Art 49/16; Slg 2006, I-10653 ff – Kommission/Belgien; Slg 2006, I-11421 ff – Cipolla ua; Slg 2007, I-181 ff – ITC = Ehlers JK 2007, EGV Art 39/6; Slg 2007, I-1163 ff – Kommission/Dänemark; Slg 2007, I-1425 ff – Centro Equestre da Lezivia Grande; Slg 2007, I-1891 ff – Placanica = JK 2007, EGV Art 43/8; Slg 2007, I-3185 ff – Stamatelaki; Slg 2007, I-5701 ff – Kommission/Belgien; Slg 2007, I-6957 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2007, I-9777 ff – Kommission/Irland; Slg 2007, I-11767 ff – Laval; Slg 2007, I-12231 ff – Jundt; Slg 2008, I-1989 ff – Rüffert; Slg 2009 I-7633 ff – Liga Portuguesa u Bwin = JK 2010, EGV Art 49/19; Slg 2009 I-100 ff – Kommission/Österreich; Slg 2009, I-5093 ff – X u Passenheim-van Schoot; Slg 2010, I-8069 ff – Stoß = JK 2011, AEUV Art 49/1; Slg 2010 I-9133 ff – Santos Palhota; Slg 2011, I-4355 ff – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3; Slg 2010 I-4695 ff – Sporting exchange; Slg 2011, I-142 ff – Kommission/Österreich; EuZW 2012, 275 – Costa u Cifone; IStR 2013, 26 – X NV; NVwZ 2012, 1162 – SIA Garkalns; EuZW 2013, 234 – Kommission/Belgien; NVwZ 2012, 1165 – Hit Larix; NVwZ 2013, 785 – Stanleybet International Ltd ua. Schrifttum: Buchner Zukunft des Arbeitsrechts: Eingriff in das nationale Arbeitsrecht durch den EuGH – Missachtung des Subsidiaritätsprinzips?, BB Beilage 2008, Nr 004, 6 ff; Calliess Europäischer Binnenmarkt und europäische Demokratie: Von der Dienstleistungsfreiheit zur Dienstleistungsrichtlinie – und wieder Retour?, DVBl 2007, 336 ff; Calliess/Ruffert Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, 4. Aufl 2011; Calliess/Korte Dienstleistungsrecht in der EU, 2011; Clausnitzer Die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit in der EG, ZAP Fach 25, 97 ff (2000); Eicker/Seiffert EuGH: Haftung des Vergütungsschuldners gemäß § 50a Abs 5 Satz 5 EStG trotz Beitreibungsrichtlinie?, BB 2007, 358 ff; Eisenmenger Der einheitliche Ansprechpartner in Deutschland: Die „Kammergemeinschaft“ als schlanker Umsetzungsvorschlag, NVwZ 2008, 1191 ff; HG Fischer Europarecht. Grundlagen des Europäischen Gemeinschaftsrechts in Verbindung mit deutschem Staats- und Verwaltungsrecht, 3. Aufl 2001; Frenz Die Berufsanerkennungsrichtlinie und verbliebene sektorale Richtlinien GewArch 2011, 377 ff; Grabitz/Hilf/Nettesheim Das Recht der Europäischen Union; von der Groeben/Schwarze Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Aufl 2003; Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff Handkommentar zum EU-Vertrag; Hatje Die Dienstleistungsrichtlinie – Auf der Suche nach dem liberalen Mehrwert, NJW 2007, 2357 ff; Henssler/Kilian Das deutsche Notariat im Europarecht, NJW 2012, 481 ff; Hilf/Pache Das Bosman-Urteil des EuGH. Zur Geltung der EG-Grundfreiheiten für den Berufsfußball, NJW 1996, 1169 ff; Hobe/ Tietje Europäische Grundrechte auch für Profisportler, JuS 1996, 486 ff; Jarass, Charta der EUGrundrechte, 2. Aufl 2013; Kokott/Henze Ist der EuGH – noch – ein Motor für die Konvergenz der Steuersysteme? BB 2007, 913 ff; Korte Mitgliedstaatliche Verwaltungskooperation und private Eigenverantwortung beim Vollzug des europäischen Dienstleistungsrechts, NVwZ 2007, 501 ff; Krause Wie muss der Glücksspielstaatsvertrag reformiert werden, um den europarechtlichen Vorgaben zu genü-

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gen?, GewArch 2010, 428 ff; Lenz/Borchardt EU-Verträge Kommentar, 6. Aufl 2012; Leible Die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie – Chancen und Risken für Deutschland, 2008; Leupold Die Dienstleistungsfreiheit der Europäischen Unionsrechte, JURA 2011, 762 ff; Möstl Wirtschaftsüberwachung von Dienstleistungen im Binnenmarkt – Grundsätzliche Überlegungen aus Anlass der Pläne für eine Dienstleistungsrichtlinie, DÖV 2006, 281 ff; Nowak Erweiterte Rechtfertigungsmöglichkeiten für mitgliedstaatliche Beschränkungen der EG-Grundfreiheiten – Genereller Rechtsprechungswandel oder Sonderweg im Bereich der sozialen Sicherheit?, EuZW 2000, 627 ff; Pache in: Schulze/Zuleeg (Hrsg) Europarecht – Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, Baden-Baden 2010, § 10 Grundfreiheiten, 322 ff; Parlow Die EG-Dienstleistungsrichtlinie, 2010; Ruffert Die Grundfreiheiten im Recht der Europäischen Union, JuS 2009, 97 ff; Reimer Europäisches Dienstleistungsverwaltungsrecht in: Terhechte (Hrsg) Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011; Ruge Einheitlicher Ansprechpartner im neuen Verwaltungsverfahrensrecht, NdsVBl 2008, 305 ff; Schlachter/Ohler Europäische Dienstleistungsfreiheit, Handkommentar, 2008; Schmitz/Prell Verfahren über eine einheitliche Stelle – Das Vierte Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften, NVwZ 2009, 1 ff; Schorkopf Die Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten DÖV 2011, 260 ff; Schwarze EU-Komm, 3. Aufl 2012; Sedemund Die mittelbare Wirkung der Grundfreiheiten für in Drittstaaten ansässige Unternehmen nach den EuGH-Urteilen Fidium-Finanz AG und Cadbury Schweppes, BB 2006, 2781 ff; Stober Die Bedeutung der Dienstleistungsrichlinie (DLR) für das Wirtschaftsverwaltungsrecht – Turbo für die Wirtschaft oder Innovationsschub für die Wirtschaftsverwaltung, WiVerw 2008, 139 ff; Streinz Der Fall Bosman und neue Fragen, ZEuP 2005, 340 ff; Streinz EUV/AEUV, 2. Auflage 2012; Tettinger Sport im Schnittfeld von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht. Bosman – Bilanz und Perspektiven, 2001; Trautwein Der praktische Fall – Europarecht mit Völkerrecht: Schwangerschaftsabbruch in Irland, JuS 1995, 908 ff; Wiegmann Die Liberalisierung des Dienstleistungshandels im Recht der EU und WTO, 2009; Windoffer Ein Jahr EU-Dienstleistungsrichtlinie: Zur Diskussion um den einheitlichen Ansprechpartner unter Berücksichtigung des „Kammermodells“, GewArch 2008, 97 ff.

I. Einleitung 1. Die allgemeine Bedeutung der Dienstleistungsfreiheit im Unionsrecht 1

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Art 56 AEUV verbietet nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen des AEUV Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Staat der Union als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind. Dienstleistungen sind dabei nach Art 57 AEUV selbständig und mit grenzüberschreitendem Bezug erbrachte Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit diese nicht einer anderen Grundfreiheit des AEUV unterfallen. Die Bedeutung der Dienstleistungsfreiheit hat sich infolge der veränderten Zusammensetzung der europäischen Wirtschaft enorm gewandelt. Im Jahr 2010 stieg der Anteil der Beschäftigten, welche im Dienstleistungssektor tätig waren auf 69,07 % in der Europäischen Union.1 Der Anteil von Dienstleistungen an der Bruttowertschöpfung lag im Jahr 2010 in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU zwischen 66,66 und 86,88 %.2 Der europäische Dienstleistungssektor besitzt also enorme gesamtwirtschaftliche Bedeutung und birgt ein großes Potential für Wachstum, Wettbewerb und Beschäftigung. Seine europarechtliche Öffnung ist eine der zentralen Funktionsbedingungen des europäischen Binnenmarktes. Mit dem außergewöhnlichen Wachstum des Dienstleistungssektors und seinem erheblichen Anteil an der Bruttowertschöpfung in der Union haben die ursprünglich nur

1 „World Development Indicators July 2012“ (Studie der Weltbank). 2 „World Development Indicators December 2011“ (Studie der Weltbank).

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als Auffangtatbestand zur Niederlassungsfreiheit vorgesehenen Vorschriften der Art 56 ff AEUV eine erhebliche selbständige Bedeutung erlangt.3 Insbesondere schlägt sich dieser Bedeutungszuwachs in der stetig wachsenden Zahl von Urteilen des EuGH nieder, welche die Dienstleistungsfreiheit zum Gegenstand haben.4 Auch durch den Erlass der Dienstleistungsrichtlinie im Jahre 2006 und die durch die Mitgliedstaaten erfolgte Umsetzung derselben wurde die zentrale Stellung der Dienstleistungsfreiheit besonders deutlich. Daher besitzt die Dienstleistungsfreiheit unter den unionsrechtlichen Grundfreiheiten eine wichtige Funktion. Sie ist im AEUV direkt im Anschluss an die Niederlassungsfreiheit (Art 49 ff AEUV) und vor der Kapitalverkehrsfreiheit (Art 63 ff AEUV) geregelt und weist insbesondere durch Art 62 AEUV, der einige Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit für anwendbar erklärt, inhaltliche Verflechtungen zur Niederlassungsfreiheit auf. Wie die Niederlassungsfreiheit setzt auch die Dienstleistungsfreiheit eine selbständige berufliche Betätigung in einem anderen Mitgliedstaat voraus und wirft daher ähnliche Probleme auf. Ebenso besitzt die Dienstleistungsfreiheit wegen ihrer produktbezogenen Aspekte wesentliche Anknüpfungspunkte zur Warenverkehrsfreiheit.

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2. Struktur der Dienstleistungsfreiheit im Unionsrecht Die Art 56 bis 62 AEUV enthalten zum einen die allgemeinen Regelungen für den freien Dienstleistungsverkehr, zum anderen aber auch Sondervorschriften wie zB Art 58 AEUV. Im Mittelpunkt stehen Art 56 und Art 57 AEUV: Art 56 AEUV als Grundvorschrift, die grundsätzlich Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs für verboten erklärt, und Art 57 AEUV, der den Begriff der Dienstleistung zu definieren versucht. Art 58 Abs 1 AEUV weist Dienstleistungen im Bereich des Verkehrs der Verkehrspolitik zu und schränkt damit den Anwendungsbereich der Art 56 ff AEUV ein. Für die Liberalisierung der Dienstleistungen von Banken und Versicherungen, die mit dem Kapitalverkehr verbunden sind, ordnet Art 58 Abs 2 AEUV eine Abstimmungspflicht mit den sekundärrechtlichen Vorschriften des Kapitalverkehrs an.5 Art 59 AEUV ermächtigt die Unionssorgane zur Sekundärrechtsetzung.6 Die Vorschrift des Art 60 AEUV, wonach die Mitgliedstaaten grundsätzlich auch zu weitergehender Liberalisierung bereit sind, hat nach Ablauf der Übergangszeit ihre normative Bedeutung verloren, wobei ihr auch vorher kaum praktische Bedeutung zukam.7 Art 61 AEUV verpflichtet die Mitgliedstaaten, bis zur Aufhebung aller Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs alle Erbringer von grenzüberschreitenden Dienstleistungen untereinander gleich zu behandeln und war insofern als Übergangsregelung gedacht.8 Mit Art 62 AEUV als Verweisungsnorm auf

3 Vgl zum Bedeutungswandel der Dienstleistungsfreiheit Seyr in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Vor Art 56–62 AEUV Rn 3; Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 4 f. 4 Reimer in: Terhechte (Hrsg) Verwaltungsrecht der EU, 2011, S 671 Rn 11. 5 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 58 AEUV Rn 2. 6 Ausf hierzu Rn 15 ff. 7 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 60 AEUV Rn 1; Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 60 AEUV Rn 1 f; Randelzhofer/Forsthoff in Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 59 Rn 1. 8 Streitig ist lediglich, ob diese Vorschrift inzwischen wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art 56 AEUV ihre selbständige Bedeutung verloren hat. Vgl hierzu Holoubek in: Schwarze, EUKomm, Art 61 AEUV Rn 1 f.

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einige Vorschriften im Bereich der Niederlassungsfreiheit endet der Abschnitt über die Dienstleistungsfreiheit. Die negative Definition der Dienstleistung in Art 57 Abs 1 AEUV („soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen“) verstärkte zunächst die Auffassung, die Dienstleistungsfreiheit sei lediglich eine „Auffangfreiheit“. Obwohl die Dienstleistungsfreiheit heute gleichrangig neben den anderen Grundfreiheiten steht, halten Rechtsprechung und Literatur an diesem grundsätzlichen Konzept der „Auffangfreiheit“ dennoch insofern fest, als im Einzelfall eine Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten vorzunehmen ist und bei Vorliegen der einschlägigen Voraussetzungen vorrangig die speziellere Warenverkehrsfreiheit oder Niederlassungsfreiheit zur Anwendung kommt.9 Auffallend ist, dass der Vertrag in den Art 56 ff AEUV nicht ausdrücklich von der „Dienstleistungsfreiheit“ spricht, sondern ausschließlich vom „freien Dienstleistungsverkehr“. Dies könnte zu der Annahme verleiten, dass Art 56 AEUV möglicherweise nicht unmittelbar anwendbar ist, da er nicht ausdrücklich ein subjektives Recht enthält. Aufgrund der Rspr des EuGH besteht heute aber kein Zweifel, dass sich der Einzelne gegenüber mitgliedstaatlichen Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs unmittelbar auf Art 56 AEUV berufen kann (→ allgem zu den Grundfreiheiten § 7 Rn 7).10 Damit sind auch die mitgliedstaatlichen Gerichte und Verwaltungsbehörden an die durch Art 56 AEUV verbürgte Berechtigung des Einzelnen gebunden, so dass sie unzulässige mitgliedstaatliche Beschränkungen nicht anwenden dürfen.11 Die Art 56 ff AEUV vermitteln ein Abwehrrecht, das dem Einzelnen ermöglichen soll, diskriminierende oder sonstige beschränkende mitgliedstaatliche Regelungen außer Anwendung zu setzen; aus ihnen folgt aber nicht automatisch ein individueller Zulassungsanspruch.12 Mit der unmittelbaren Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit einher geht die sogenannte Vorrangwirkung (→ Näheres zur Vorrangwirkung der Grundfreiheiten § 7 Rn 9). Dies bedeutet, dass der Dienstleistungsfreiheit als geltendem Unionsrecht grundsätzlich keine mitgliedstaatlichen Vorschriften vorgehen können und beinhaltet zugleich das Verbot für mitgliedstaatliche Gerichte oder Behörden, eine dem AEUV entgegenstehende mitgliedstaatliche Vorschrift anzuwenden.13

3. Dienstleistungsfreiheit außerhalb des AEU-Vertrages a) Die „Freiheit Dienstleistungen zu erbringen“ der Grundrechtecharta 7

Die Freiheit, Dienstleistungen zu erbringen ist nach Art 6 Abs 1 S 1 EUV gemäß Art 15 Abs 2 GRCh allen Unionsbürgern garantiert. Die Grundrechtecharta ist ein eigenständig außerhalb von EUV und AEUV stehender, diesen beiden Verträgen rechtlich gleichrangi-

9 Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 4 f. 10 EuGH, Slg 1974, 1299, Rn 27 – van Binsbergen; die erste bedeutende Entscheidung des EuGH im Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs, in der er die Dienstleistungsfreiheit für unmittelbar anwendbar erklärte. 11 Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 61 AEUV Rn 10 f mwN aus der Rspr; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 57 AEUV Rn 41. 12 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 51. 13 Grundlegend hierzu EuGH, Slg 1964, 1253 ff – Costa.

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ger Teil des Primärrechts14. Da die grundrechtliche Verbürgung prinzipiell eigenständig neben der Garantie der Dienstleistungsfreiheit stehen kann, sind die beiden Normen im Hinblick auf ihr Verhältnis zueinander zu untersuchen. aa) Kontrollbereich In konstruktiver Hinsicht dienen die Grundrechte der Charta primär der Kontrolle der Hoheitsgewalt der EU.15 Die Grundfreiheiten hingegen dienen in erster Linie der Verwirklichung des Binnenmarktes und schützen aus diesem Grunde die Unionsbürger in ihrer Betätigung auf diesem Markt vor Beschränkungen durch die Mitgliedstaaten.16 Damit ist der Kontrollbereich der Normen inkongruent. Dieser konstruktive Unterschied tritt in der Anwendung der beiden Rechtsinstitute in der Rechtsentwicklung weniger deutlich hervor.17

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bb) Sachlicher Schutzbereich Hinsichtlich des sachlichen Schutzbereichs wurde vertreten, dass die Grundrechtecharta die Dienstleistungsfreiheit ohne das Erfordernis des grenzüberschreitenden Bezuges garantiere.18 Somit ergebe sich ein eigener, weitergehender Schutzbereich nach Art 15 Abs 2 GRCh. Dieser Ansicht ist jedoch mit Art 52 Abs 2 GRCh entgegenzuhalten, dass die Ausübung solcher Grundrechte, die primärrechtlich geregelt wurden, nur unter den Bedingungen und in den Grenzen der primärrechtlichen Regelung erfolgen kann.19 Daher ist auch die Bedingung der Zwischenstaatlichkeit, wie sie im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit erforderlich ist, Voraussetzung für die Ausübung des Grundrechts des Art 15 Abs 2 GRCh. Ebenfalls kann unterstützend auf die Erläuterungen des Grundrechtekonvents zu Art 52 GRCh verwiesen werden.20 Damit entspricht der Gehalt dieser Gewährleistung dem der Dienstleistungsfreiheit aus Art 56 AEUV.21 Überdies kann ein abweichender, eigenständiger grundrechtlicher Gehalt auch vor dem Hintergrund der eher plakativen Fassung des Art 15 Abs 2 GRCh nicht angenommen werden22.

14 15 16 17 18 19 20 21

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Pache in: Heselhaus/Nowak, GR, § 4 Rn 120. Pache in: Heselhaus/Nowak, GR, § 4 Rn 49. Pache in: Heselhaus/Nowak, GR, § 4 Rn 46. Szczekalla Wirtschaftliche Gemeinschaftsgrundrechte und EG-Grundfreiheiten in: Bruha/Nowak/ Petzold (Hrsg) Grundrechtsschutz für Unternehmen im Europäischen Binnenmarkt, 2004, S 79 ff. Grabenwarter DVBl 2001, 1, 5; Schultz Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV, 2005, S 103. Jarass GRCh, Art 15 Rn 20. Blanke, der aber auf Streinz verweist in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 15 Rn 14. Schwarze in: ders, EU-Komm, Art 15 GRCh Rn 1; Noch im Hinblick auf den Verfassungsvertrag: Blanke in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 15 Rn 49 f; Streinz in: ders, EUV/AEUV Art 15 GRCh Rn 14. Noch im Hinblick auf den Verfassungsvertrag: Blanke in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 15 Rn 51.

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cc) Anwendungsverhältnis 10

Das Verhältnis zwischen den subjektiven Rechten ist umstritten: nach einer Ansicht handele es sich bei der Norm des Art 52 Abs 2 GRCh nur um eine Auslegungsnorm, sie begründe kein Spezialitätsverhältnis zwischen Dienstleistungsfreiheit und Art 15 Abs 2 GRCh.23 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Gewährleistung der Grundfreiheiten hinsichtlich der Erfassung grenzüberschreitender Sachverhalte bereits im Vertragstext des AEUV spezieller formuliert ist. Die Erfassung grenzüberschreitender Sachverhalte im Rahmen der Grundrechtecharta geschieht nur über eine Verweisung. Die Norm des Art 15 Abs 2 GRCh wird hierdurch nicht obsolet, da sie aufgrund ihres konstruktiven Gehalts eine eigenständige Funktion behält. Daher erscheint die Annahme eines Spezialitätsverhältnisses vorzugswürdig. b) Sonstige Regelungen außerhalb des AEU-Vertrags

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Im Vertrag zur Errichtung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) sind einige Dienstleistungstatbestände besonders geregelt. Hervorzuheben ist hier zB Art 97 EAG, der ein Beschränkungsverbot für natürliche und juristische Personen enthält, die sich am Bau von Atomanlagen wissenschaftlicher oder gewerblicher Art in der Gemeinschaft beteiligen wollen. Ferner sind die Art 75, 98, 10 und 15 EAG zu nennen, die aus dem Anwendungsbereich der Art 56 ff AEUV herausfallen und gesonderten Regeln unterworfen sind.24 Weiterhin existieren die sog Europaabkommen mit verschiedenen Staaten des ehemaligen Ostblocks, in denen ausdrücklich die Möglichkeit eines Beitritts zur damaligen Gemeinschaft aufgeführt war. Das Ziel der Abkommen sollte eine vollständige Liberalisierung des Handels mit der Gemeinschaft sein.25 Im Bereich der Freizügigkeit statuierten die Abkommen lediglich ein Diskriminierungsverbot mit beschränkten Erleichterungen beim Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt.26 Die Beschränkungsmöglichkeiten, welche die Übergangsregelungen dieser Abkommen im Hinblick auf das Baugewerbe und das Handwerk vorsahen (als Folge der 2 plus 3 plus 2-Regelung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit), endeten für Deutschland, im Hinblick auf die Länder Rumänien und Bulgarien, am 31.12.2013. Für die Bürger Kroatiens, das am 1. Juli 2013 der Europäischen Union beitrat, wurde jedoch von der 2 plus 3 plus 2 Regelung wiederum Gebrauch gemacht. In ihrem räumlichen Anwendungsbereich über die Regelungen des AEUV im Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs hinaus gehen die Regelungen und Pflichten des OECDKodex zur „Liberalisierung laufender unsichtbarer Operationen“. In diesem Kodex sind diverse Vorgänge des internationalen Handelsaustausches geregelt, die zum Teil dem sachlichen Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit unterfallen: So regelt er die Erbringung von Dienstleistungen zugunsten einer inländischen Person duch eine nicht inländische Person. Das Ziel dieser Regelung ist es, für die Staaten der Teilnehmerländer eine vollkommene Inländergleichbehandlung zu etablieren. Daher ist eine Ungleichbehandlung von ausländischen Dienstleistungserbringern nach Art 9 des Kodexes verboten. Der Kodex bewirkt die Sicherung des bestehenden Grades an Liberalisierung. Den Mitgliedstaaten ist es daher nicht erlaubt neue Handelshemmnisse zu schaffen. Allerdings 23 24 25 26

Jarass EuR 2013, 29, 31 f. Näher hierzu Troberg/Tiedje in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Vor Art 49–55 EGV Rn 33. Vgl hierzu insg näher Herrnfeld in: Schwarze, EU-Komm, Art 217 AEUV Rn 10. Ausf hierzu und mwN Schmalenbach in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 217 AEUV Rn 38.

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hat er nach seinem Art 4 keinen Einfluss auf andere internationale Verpflichtungen der Mitgliedstaaten. Vor diesem Hintergrund überprüft der Ausschuss für Kapitalverkehr und unsichtbare Operationen (CMIT) zwar Verordnungen und Richtlinien der EU, ob sie einen Verstoß gegen die Verpflichtungen aus dem OECD-Kodex darstellen, allerdings nur vor dem Hintergrund der Verpflichtung der einzelnen Mitgliedstaaten. Die in diesem Kodex statuierten Liberalisierungspflichten bleiben jedoch inhaltlich deutlich hinter den entspr Vorgaben des AEUV zurück.27 Auf völkerrechtlicher Ebene ist ferner das General Agreement on Trade in Services (GATS) zu erwähnen, das seit 1994 einen multilateralen, rechtlich durchsetzbaren Rahmen für den internationalen Dienstleistungshandel etabliert. Es handelt sich um ein gemischtes Abkommen, welches sowohl von der damaligen EG und den Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde. Das GATS gilt daher unmittelbar für die Europäische Union als Rechtsnachfolgerin der EG (Art 1 UAbs 3 S 3 EUV) und die Mitgliedstaaten der EU. Im Hinblick auf die Verbürgungen des GATS kann es in den Bereichen der Dienstleistungsfreiheit nicht zu einer Kollision mit dem Unionsrecht kommen, da der Gewährleistungsgehalt des GATS nicht über den der Art 56 ff AEUV hinausgeht.28 Allerdings sichert es den bisherigen Bestand der Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs ab.29 Ebenfalls besteht die Möglichkeit, dass über die Streitbeilegungsmechanismen der WTO das GATS eine Weiterentwicklung erfahren kann und so einen eigenen Standard an Liberalisierung etablieren kann.30

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4. Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs durch Sekundärrecht Art 59 Abs 1 AEUV bildet die zentrale Vorschrift im Bereich der Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs durch Sekundärrecht. Er ist zugleich Ermächtigungsnorm für die zur Liberalisierung erforderlichen Rechtsangleichungsmaßnahmen, normiert inhaltliche Vorgaben für die Rechtsangleichung und regelt schließlich partiell das dabei einzuhaltende Verfahren.31 Damit stellt das Sekundärrecht neben der Gewährleistung eines Mindeststandards im Bereich der Dienstleistungsfreiheit durch seine unmittelbare Anwendbarkeit ein weiteres wesentliches Instrument zur Verwirklichung dieser Grundfreiheit dar. Sowohl auf der Grundlage des Art 52 Abs 1 EGV als auch auf der Grundlage des Art 47 iVm Art 55 EGV sind inzwischen zahlreiche Richtlinien für die verschiedenen Gewerbezweige und freien Berufe erlassen worden.32 Ein Großteil dieser Richtlinien dient gleichzeitig der Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs.

27 Näher hierzu Troberg/Tiedje in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Vor Art 49–55 EGV Rn 35. 28 Reimer (Fn 4) Rn 36; Eine Auflistung der Pflichten aus diesem Rahmenabkommen bieten Weiß/Hermann Welthandelsrecht, 2003, S 355 ff. 29 Adlung Liberalisierung und (De-)Regulierung von Dienstleistungen in der Welthandelsorganisation in: Müller-Graff (Hrsg) Die Europäische Gemeinschaft in der Welthandelsorganisation, 2000, S 131, 144. 30 Reimer (Fn 4) Rn 37. 31 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 59 AEUV Rn 3. 32 Ein Überblick über die wichtigsten Sekundärrechtsakte der letzten Jahre findet sich bei Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 59 AEUV Rn 20 ff. Für einen Überblick über den neuesten Stand des Sekundärrechts empfiehlt sich die Datenbank CELEX, zu finden unter www.europa.eu. int/celex.

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In der historischen Entwicklung lassen sich drei Stufen in der Regelungssystematik auf dem Gebiet des Sekundärrechts zur Dienstleistungsfreiheit unterscheiden: a) Die Sekundärrechtssetzung bis zum Jahr 2001 (erste und zweite Stufe)

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Die ersten sekundärrechtlichen Bestimmungen auf dem Dienstleistungssektor regelten diesen nur punktuell. Beispielhaft seien die Direktversicherungsrichtlinie33 aus dem Jahr 1973 und die Richtlinie zur gegenseitigen Anerkennung von Architektendiplomen34 aus dem Jahr 1985 genannt. Auf der zweiten Stufe wurde durch die Regelungen einzelner Segmente des Dienstleistungssektors der Normierungsprozess auf europäischer Ebene wesentlich beschleunigt. So initiierte die Kommission eine Richtlinie zur allgemeinen Anerkennung von Hochschuldiplomen35 im Jahr 1985. Der Regelungsansatz war, verglichen mit dem auf der ersten Stufe, breiter und erfasste alle Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Ausbildung bescheinigten. Ein neuer Ansatz wurde im Rahmen der Binnenmarktstrategie vom Januar 2001 verfolgt, die zum Erlass der Dienstleistungsrichtlinie führte. b) Die Binnenmarktstrategie der Kommission vom Januar 2001 (dritte Stufe)

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Im Januar 2001 hat die Europäische Kommission für den Bereich der Dienstleistungen eine neue Strategie vorgelegt, um die noch verbliebenen Schranken im freien Dienstleistungsverkehr zu beseitigen.36 Diese Strategie sollte insgesamt das Funktionieren des Binnenmarktes innerhalb der damaligen EG verbessern und sicherstellen, dass Dienstleistungserbringer in der Gemeinschaft genauso einfach tätig werden können wie in einem einzelnen Mitgliedstaat. Bereits 1999 hatte der Europäische Rat in Lissabon gefordert, die EU innerhalb von 10 Jahren zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Die neue Strategie sollte so einen besseren Rahmen für die Dienstleistungspolitik liefern, der, wo erforderlich, die Einführung gemeinsamer Rechtsvorschriften ermöglicht und gleichzeitig so flexibel ist, dass sich neue, innovative Dienstleistungen im Binnenmarkt uneingeschränkt entwickeln können. Diese Strategie führte im Juli 2002 zu einem umfassenden Bericht der Kommission, der insbesondere die in den Mitgliedstaaten noch bestehenden komplexen Regeln für den Dienstleistungssektor behandelt und die Gefahr der Verdopplung von Vorschriften und Anforderungen bemängelt. Der Bericht macht außerdem deutlich, dass der Dienstleistungsverkehr sehr viel stärker von Behinderungen des Binnenmarktes betroffen ist als der Warenhandel, da viele Dienstleistungen komplex und immateriell sind und auf der Qualifikation des Dienstleistungserbringers basieren.37 Auf der Grundlage dieses Berichtes erarbeitete die Kommission einen Richtlinienvorschlag, der im Wesentlichen die allgemeine Geltung des Herkunftslandprinzips forderte, weitere Bereiche wie etwa Fragen des Verbraucherschutzes harmonisieren und die Überwachungsaufgaben zwischen Herkunft33 34 35 36

ABL 1973 Nr L 228/3. ABL 1985 Nr L 223/15. ABL 1989 Nr L 19/16. Vgl KOM (2000) 888 endg v 29.12.2000 – Eine Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor; auch zu finden unter www.europa.eu.int/comm/internal_market/de/sevices.htm. 37 KOM (2002) 441 endg v 30.7.2002.

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und Aufnahmestaat sinnvoll aufteilen sollte. Ebenso sollte durch die Ausarbeitung von Qualitätssicherungssystemen die Qualität der Dienstleistungen verbessert werden.38 c) Die Dienstleistungsrichtlinie Im Folgenden soll die Dienstleistungsrichtlinie in ihrer Entstehung und ihrer Wirkung im Hinblick auf die Dienstleistungsfreiheit erörtert werden.

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aa) Regelungsansatz Die auch nach Erreichen der zweiten Stufe der Regelungssystematik immer noch nicht flächendeckenden Regelungen auf sekundärrechtlicher Ebene führten zu einem unübersichtlichen Geflecht an Urteilen des EuGH im Hinblick auf die direkte Anwendung der primärrechtlichen Vorschriften der Dienstleistungsfreiheit. Die Rechtsanwender mussten bei der Reglementierung oder der Erbringung einer Dienstleistung diese Judikatur vollständig beachten und interpretieren. Für den Dienstleistungssektor, der sich in dieser Zeit rasant entwickelte, war diese Rechtslage nicht vorteilhaft und bedurfte der Überarbeitung.39 Den dritten und bisher letzten Schritt dieser Entwicklung stellt die Dienstleistungsrichtlinie dar: Ihre Regelungen werden in Art 2 Abs 1 DL-RL auf alle Dienstleistungen erstreckt, wenngleich diverse Ausnahmevorschriften den Anwendungsbereich der Richtlinie doch stark einschränken.40 Es werden gleichzeitig verschiedene Wirtschaftszweige umfassend und bereichsübergreifend geregelt. Gezielt sollen Anforderungen harmonisiert werden, die mehrere Sektoren betreffen, also zB Vorschriften über Werbe-, Vertriebs- und Verkaufstätigkeiten sowie über den Kundendienst.

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bb) Entstehungsgeschichte Der erste Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie wurde durch die Europäische Kommission am 25.02.2004 vorgelegt. Mit diesem Entwurf unternahm die Kommission den Versuch, eine Kodifikation und Weiterentwicklung der Freiheit im Dienstleistungsverkehr unter Betonung des Herkunftslandprinzips zu erzielen. Während die Fachpresse sich bereits vereinzelt mit dem Thema auseinandersetzte,41 blieb der Öffentlichkeit längere Zeit die Brisanz der Richtlinie verborgen. Erst relativ kurz vor der geplanten Verabschiedung wurde der europäischen Öffentlichkeit die eigentliche Tragweite der geplanten Richtlinie bewusst, was zu schneller und ausgesprochen heftiger Ablehnung gerade bei Gewerkschaften, Sozialverbänden und Globalisierungsgegnern führte.42 Die Reaktionen in der Bevölkerung waren so heftig, dass auch die Regierungen der großen und wohlhabenden Staaten, insbesondere Deutschlands und Frankreichs, sich genötigt sahen, gegen die Richtlinie vorzugehen. Im Ergebnis scheiterte allerdings die Bolke-

38 KOM (2004) 2 v 13.01.2004; vgl hierzu auch die Klarstellungen der Kommission über Dienstleistungen im Binnenmarkt EuZW 2002, 418. 39 Reimer (Fn 4) Rn 21. 40 Parlow Die EG-Dienstleistungsrichtlinie, 2010, S 70; ebenfalls Stober WiVerw 2008, 139, 143. 41 Vgl w Nachw b Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie, 2008, Einl Rn 31. 42 Vgl hierzu auch Calliess DVBl 2007, 336 ff; Korte NVwZ 2007, 501 ff; Schlachter/Ohler (Fn 38) Einl Rn 31.

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stein-Richtlinie, wie der Vorschlag nach dem Kommissar Frits Bolkestein benannt wurde, nicht am Veto der Regierungen, sondern fand bei der Abstimmung im Europaparlament keine Mehrheit, da er von den großen Fraktionen der EVP und der SPE abgelehnt wurde. Die Kritik entzündete sich in erster Linie an der geplanten Umsetzung des Herkunftslandprinzips. Nach dem ursprünglichen Entwurf sollten die Dienstleistungserbringer, die nur vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat Dienstleistungen erbringen wollten, allein den Regelungen ihres Heimatstaates unterworfen sein. Überdies sollten auch die Behörden der Heimatstaaten die Einhaltung der nationalen Regeln überwachen. Es sollte also den Dienstleistungserbringern umfassend die Möglichkeit gegeben werden, ihre eigenen nationalen Regelungen bei der Dienstleistungserbringung in den anderen Mitgliedstaat mitzunehmen.43 Dies entsprach aber entgegen der Auffassung der Kommission keineswegs der bisherigen Rspr des EuGH zur Anforderung der gegenseitigen Anerkennung, sondern ging in weitem Maße darüber hinaus und dehnte die Forderungen, die der EuGH erhoben hatte, massiv aus.44 Auf diese Kritik hin änderte und überarbeitete die Kommission ihren Vorschlag am 04.04.2006. Das Herkunftslandprinzip wurde aufgegeben. An seine Stelle traten Diskriminierungs- und Behinderungsverbote zugunsten ausländischer Dienstleistungserbringer.45 Der neue Vorschlag wurde mit kleineren Änderungen im Parlament und Rat mit Wirkung zum 12.12.2006 gebilligt und trat als RL 2006/12346 in Kraft. Die Bundesrepublik Deutschland setzte die Richtlinie mit Rechtsakten vom 13.10.2008 um, welche am 28.12.2009 in Kraft traten. Kompetenzrechtlich wird die Richtlinie über die Verweisung des Art 62 AEUV auf Art 56 AEUV gestützt. Allerdings werden zum Teil Zweifel erhoben, ob die Richtlinie noch von der Ermächtigung gedeckt wird, da sie insbesondere auch einige durchaus gewichtige Veränderungen der Verwaltungsorganisation der Mitgliedstaaten vorsieht.47 cc) Materiell-rechtlicher Gehalt

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Die nunmehr verabschiedete Richtlinie sieht völlig von einer Anwendung des Herkunftslandprinzips im Bereich der vorübergehenden Erbringung von Dienstleistungen ab. Vielmehr gestattet sie grundsätzlich in Art 16 die Anwendung des Rechts des Aufnahmestaates, soweit die nationalen Regeln nicht diskriminierend sind, dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder dem Umwelt- und Gesundheitsschutz dienen und verhältnismäßig sind. Dies ist im Vergleich zur Rechtsprechung des EuGH, der die Möglichkeit der Rechtfertigung auch aufgrund von zwingenden Gründen des Allgemeinwohls vorsah, eine Einengung. Überdies untersagt Art 16 Abs 2 DL-RL verschiedene Anforderungen, die typischerweise diskriminierend wirken, wie etwa Residenz- oder Präsenzpflicht. Auch bleibt es bei der Kontrolle der Dienstleistungserbringer durch die Behörden des Aufnahmelandes.48

43 Möstl DÖV 2006, 281 ff. 44 Eingehende Untersuchung der Rspr im Vergleich zur RL bei Calliess DVBl 2007, 336 ff; Schlachter/Ohler (Fn 38) Einl Rn 45 ff. 45 Parlow (Fn 37) S 3. 46 ABl 2006 Nr L 376/36 Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt. 47 Vgl Schlachter/Ohler (Fn 38) Einl Rn 24 ff. 48 Hatje NJW 2007, 2357 ff.

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Die Richtlinie ist grundsätzlich anwendbar auf alle Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleister in einem anderen Mitgliedstaat erbracht werden (Art 2 Abs 1). Es existieren allerdings zahlreiche Ausnahmen, wie zB Dienstleistungen von allgem Interesse, das Strafrecht oder das Arbeitsrecht (Art 1 Abs 2–7, Art 2 Abs 2 lit a–l, Art 3 Abs 2). Neben dieser Regelung enthält die Dienstleistungsrichtlinie in Art 21, 22 DL-RL Informationspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber den Dienstleistungsempfängern und Dienstleistungserbringern.49 Überdies werden auch erhebliche Kooperationspflichten zwischen den Mitgliedstaaten begründet, die insbesondere auf den Informationsaustausch in Bezug auf Dienstleister abzielen, um die Verbraucher in den Mitgliedstaaten zu schützen.50 Auch die Anerkennung unterschiedlicher ausländischer Unterlagen wird in Art 5 Abs 3 DL-RL geregelt. Die Bundesrepublik verwirklicht diese Anforderungen an das nationale Recht in § 13b GewO. Die wohl insbesondere aus deutscher Sicht wesentlichste Änderung ist die Verpflichtung zur Schaffung eines einheitlichen Ansprechpartners (EA) für Dienstleistungserbringer zum Beginn ihrer Dienstleistung im Aufnahmestaat (One-Stop-Shop-Gedanke). Dieser EA soll jedem Dienstleister, der Dienstleistungen im Aufnahmestaat erbringen will, eine einzige Stelle zur Verfügung stellen, bei und mit der er alle Formalia und Verfahren, die für die Dienstleistungserbringung im Aufnahmemitgliedstaat erforderlich sind, abwickeln kann. Probleme ergaben sich insbesondere bei der Umsetzung dieser Vorschrift in nationales Recht. Zur Verwirklichung dieser Anforderung wurde das 4. VwVfGÄndG erlassen. Dieses sieht die Einführung von Öffnungsklauseln für die einzelnen Bundesländer vor, die in der Folge einen EA bennen können. In Deutschland tragen die EA den Namen einheitliche Stelle (ES). Grundlegend gelten für diese Stellen die Regelungen der §§ 71a ff VwVfG. Die einzelnen Länder haben unterschiedliche Behörden zur einheitlichen Stelle erklärt: zB die Kommunen (Bremen, Nieders., NRW), die berufsständischen Kammern (Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen) oder eine eigene Anstalt (Schleswig-Holstein). Diese Unterschiede in der Behördeninfrastruktur sind im Hinblick auf die in der Richtlinie geforderte Barrierefreiheit problematisch, da sich der Erbringer einer Dienstleistung in dem jeweiligen Bundesland über die zuständige ES informieren muss und somit der Zugang zu den Stellen erschwert wird. Zu beachten ist jedoch, dass der Bund auf diesem Gebiet gerade keine Kompetenz besitzt. Deshalb ist eine bundeseinheitliche Lösung gerade nur beim Vorliegen eines Konsenses der Länder möglich, welcher nicht herbeigeführt werden konnte.51 Als wesentlich problematischer dürfte sich die Beschleunigungspflicht der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Behandlung von Anträgen der Dienstleister erweisen. Sind die ES, unabhängig von ihrer Besetzung, nicht mit Regelungskompetenzen ausgestattet, so wird die Erfüllung dieser Pflicht sehr schwer fallen.52

49 Vgl hierzu Schlachter/Ohler (Fn 38) Art 21, 22 mwN. 50 Detaillierter Calliess DVBl 2007, 336 ff; Schlachter/Ohler (Fn 38) Art 28–36. 51 Eine einfache Zusammenstellung der verschiedenen ES ist im Internet unter: www.dienstleisten-leicht-gemacht.de/DLR/Navigation/laenderinformationen.html zu finden. 52 Reimer (Fn 4) Rn 62.

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In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist die DL-RL aus mehreren Gründen beachtenswert: Sie statuiert die Anforderung an die Mitgliedstaaten, ablehnende Entscheidungen im Geltungsbereich der Richtlinie zu begründen. Die Regelung konkreter Verfahrenserfordernisse auf europäischer Ebene findet in der DL-RL derart statt, dass ihr eine über das Dienstleistungsrecht hinausgehende Bedeutung für die Zukunft zugeschrieben wird.53 Deshalb wird die DL-RL als Kern für ein Europäisches Verfahrensrecht angesehen.54

5. Weitere wichtige Sekundärrechtsakte 32

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Ein bedeutender Akt sekundärrechtlicher Liberalisierung des freien Dienstleistungsverkehrs ist zum einen die sog Rechtsanwaltsrichtlinie aus dem Jahr 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung der Dienstleistungsfreiheit.55 Sie ermöglichte Anwälten aus anderen Mitgliedstaaten die Erbringung von anwaltlichen Dienstleistungen im Aufnahmestaat, gab aber explizit kein Recht zur Niederlassung dieser Anwälte im Aufnahmestaat.56 Zum anderen sei an dieser Stelle die sog Fernsehrichtlinie erwähnt, die hinsichtlich der Werbung, des Schutzes von Jugendlichen und der Verwendung in Europa hergestellter Werke Mindestanforderungen aufstellte, die von allen Mitgliedstaaten bei der Ausstrahlung von Fernsehsendungen zu beachten waren.57 Diese ist jedoch in technischer Hinsicht überholt und wurde durch die Richtlinie über audiovisuelle Medien58 ersetzt. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch die Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (Entsenderichtlinie). Sie stellt Mindestschutzbestimmungen für Arbeitnehmer auf, die von ihrem Arbeitgeber zur Erbringung von Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, unabhängig davon, welchem Recht ihr Arbeitsverhältnis unterworfen ist.59 Sie hat zum Ziel, einen fairen Wettbewerb im länderübergreifenden Dienstleistungsverkehr zu gewährleisten sowie den Arbeitnehmerschutz zu verbessern und Rechtssicherheit herbeizuführen. Auf dem Gebiet der Arbeitnehmerentsendung wird zur besseren Durchsetzung der Arbeitnehmerentsenderichtlinie aktuell ein Entwurf der Kommission60 im Europäischen Parlament beraten. Inhaltlich wird einerseits die Vermehrung der Informationspflichten gegenüber dem entsendeten Arbeitnehmer erwogen. Andererseits sollen die Rechte der Arbeitnehmer von Subunternehmen gestärkt werden. Dies soll durch die Ausweitung der Haftung von Unternehmen für die Verbindlichkeiten der von Ihnen beauftragten Subunternehmen geschehen. Diese soll als gesamtschuldnerische Haftung ausgestaltet werden.61

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Reimer (Fn 4) Rn 60. Calliess DVBl 2007, 336, 344. ABL 1997 Nr L 78/17. Inzwischen hat der Rat aber eine Anwaltsniederlassungsrichtlinie erlassen, die es Rechtsanwälten ermöglicht, den Anwaltsberuf ständig in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde, auszuüben; vgl RL 98/5. Neben diesen beiden RList eine umfangreiche Rspr des EuGH in diesem Bereich ergangen. Näher hierzu u zur Berücksichtigung der Rechte europ Anwälte im Rahmen der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit auch Clausnitzer ZAP 2000, Fach 25, 97 ff. ABL 1989 Nr L 298/23. Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 59 AEUV Rn 59 mwN. ABL 2010 Nr L 50/1. ABL 1997 Nr L 18/1. KOM (2012) 0131 endg vom 21.02.2012. KOM (2012) 0131 endg vom 21.02.2012 S 21 ff.

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II. Schutzbereich 1. Räumlicher Schutzbereich Der räumliche Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit umfasst nach Art 52 EUV iVm Art 355 AEUV, der den räumlichen Geltungsbereich des Unionsrechts regelt, grundsätzlich das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten. Gem Art 355 AEUV erstreckt sich der Anwendungsbereich auch auf überseeische Gebiete. Mit gewissen Vorbehalten ist die Dienstleistungsfreiheit nach dem EWR-Vertrag auch im Verhältnis der EWR-Staaten untereinander anwendbar, da sie in den Art 36 bis 39 EWR-Vertrag mit nahezu identischem Inhalt wie im AEUV gewährleistet wird.62

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2. Personeller Schutzbereich Vom personellen Schutzbereich des Art 56 AEUV umfasst sind zunächst Angehörige der Mitgliedstaaten, wobei der Wortlaut des Art 56 AEUV ausdrücklich auf die Dienstleistungserbringer abstellt. Erfasst werden jedoch ebenso die Dienstleistungsempfänger, die sich zum Zweck der Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat begeben.63 Im Unterschied zur Arbeitnehmerfreizügigkeit und zur Niederlassungsfreiheit ist bei der Dienstleistungsfreiheit im Rahmen des personellen Schutzbereichs nicht allein auf die Staatsangehörigkeit des Dienstleistungserbringers bzw -empfängers abzustellen, sondern zusätzlich auch auf die Ansässigkeit in einem Mitgliedstaat. Dies bedeutet, dass der Schutzbereich nur dann eröffnet ist, wenn beide am Dienstleistungsaustausch beteiligten Personen in einem Mitgliedstaat ansässig sind.64 Dabei ist zu beachten, dass die beteiligten Personen in unterschiedlichen Mitgliedstaaten ansässig sein müssen oder ein grenzüberschreitendes Element in dem Sinne gegeben sein muss, dass Dienstleistungserbringer und Dienstleistungsempfänger zwar im selben Mitgliedstaat ansässig sind, sich aber zur Dienstleistungserbringung in einem anderen Mitgliedstaat treffen.65 Die Tatsache, dass beide Personen die gleiche Staatsangehörigkeit besitzen, steht der Anwendung der Dienstleistungsfreiheit nicht entgegen. In den Schutzbereich fallen auch die Familienangehörigen desjenigen, der sich auf die Dienstleistungsfreiheit berufen kann. Sie besitzen abgeleitete Rechte auf Einreise und Aufenthalt für die Dauer der Dienstleistung in dem Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird. Angesichts des allgem Aufenthaltsrechts für Unionsbürger aus Art 21 AEUV und des Sekundärrechts (insb Richtlinien 90/364; 73/148) hat diese Tatsache jedoch keine praktische Bedeutung mehr. Zwei Drittstaatsangehörige, die in unterschiedlichen Mitgliedstaaten ansässig sind, können sich grundsätzlich nicht auf Art 56 AEUV berufen, da keiner von ihnen Träger der Dienstleistungsfreiheit sein kann.66 Gem Art 56 Abs 2 AEUV hat der Rat aber die Befugnis zu beschließen, dass Art 56 ff AEUV auch auf Erbringer von Dienstleistungen

62 Vgl hierzu Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 61. 63 Vgl Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 13 f; Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 55 ff. 64 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 36; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 15,17. 65 So etwa in den sog Fremdenführerfällen, vgl hierzu Fn 89. 66 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 23.

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Anwendung findet, die die Staatsangehörigkeit eines dritten Landes besitzen und innerhalb der Union ansässig sind. Von dieser Möglichkeit wurde bisher noch nicht Gebrauch gemacht.67 Die Frage, ob der Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit nach Art 56 ff AEUV auch eröffnet ist, wenn ein Beteiligter des fraglichen Lebenssachverhalts Angehöriger eines Drittstaats ist, war lange Zeit strittig. Eine unproblematische Erstreckung auch auf Angehörige von Drittstaaten ergibt sich, soweit für diesen Staat ein Beschluss gem Art 56 Abs 2 AEUV gefasst wird. Ein solcher Beschluss ist aber bisher noch nicht gefasst worden. Ohne einen solchen Beschluss wurden hinsichtlich der Erfassung von Sachverhalten mit Beteiligung von Drittstaatsangehörigen bis vor kurzem verschiedenste Positionen vertreten. Zum Teil wurde die Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit bejaht, soweit bei der aktiven Dienstleistungsfreiheit der Dienstleistungserbringer Angehöriger eines Mitgliedstaats sei, bei der passiven Dienstleistungsfreiheit dann, wenn der Empfänger den drittstaatsangehörigen Erbringer aufsuche. Zum Teil wurde auch eine unbegrenzte Anwendbarkeit bejaht.68 Hinsichtlich der Anwendung der Dienstleistungsfreiheit auf Sachverhalte, in denen ein Drittstaatsangehöriger sich auf dieselbe beruft, sind im Jahre 2006 zwei aufschlussreiche Urteile des EuGH ergangen.69 In der ersten Entscheidung befasste sich der EuGH mit der Frage, inwieweit die passive Dienstleistungsfreiheit anwendbar ist, wenn der Erbringer Angehöriger eines Drittstaats ist. Der EuGH entschied sich entgegen der Empfehlung des Generalanwalts dafür, solche Fälle nicht in den Schutzbereich der Art 56 ff AEUV einzubeziehen. Er betonte zwar, dass sich auch aus dem Empfang einer Dienstleistung Rechte ergeben, stellte allerdings gleichzeitig klar, dass Art 56 ff AEUV nur betroffen seien, soweit die Dienstleistung innerhalb der Union erbracht werde und der Erbringer Angehöriger eines Mitgliedstaates sei. Die bloße Ansässigkeit innerhalb der EU sei nicht ausreichend, es müsse zwingend auch die Staatsangehörigkeit hinzukommen. In der Lit stieß diese Rspr zum Teil auf Kritik und Ablehnung: Es wird kritisiert, dass sich der EuGH auf ein zu formalistisches Kriterium zurückziehe und die tatsächliche Lage verkenne.70 Es müsse auch berücksichtigt werden, dass der Empfänger nur sehr schlecht prüfen könne, ob der Erbringer auch tatsächlich Staatsangehöriger eines der Mitgliedstaaten der EU sei.71 Es könne daher nicht sein, dass die Berechtigung von der Staatsangehörigkeit abhänge, da dies Rechtssicherheit verhindere. Die zweite Entscheidung des EuGH vom 03.10.200672 behandelte die Frage, ob sich auch ein Angehöriger eines Drittstaates auf die Dienstleistungsfreiheit des EU-Vertrages berufen kann. Dies verneinte der EuGH deutlich, wenngleich auch ohne weitere Begrün-

67 Die Kommission hat hierzu einen Richtlinienvorschlag unterbreitet, der die Dienstleistungsfreiheit auf in der damaligen Gemeinschaft ansässige Drittstaatsangehörige ausdehnen soll, vgl ABl 1999 Nr C 76/17. 68 Vgl hierzu Calliess/Ruffert EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 38 f. 69 EuGH, Slg 2006, I-9461, 9517 f – FKP Scorpio Konzertproduktionen; Slg 2006, I-9521 ff – Fidium Finanz = JK 2007, EGV Art 49/16. 70 Eicker/Seiffert BB 2007, 358. 71 So schon Antrag GA Léger, EuGH, Slg 2006, I-9461 ff – FKP Scorpio Konzertproduktionen. 72 EuGH, Slg 2006, I-9521 ff – Fidium Finanz = JK 2007, EGV Art 49/16.

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dung.73 Diese Rechtsauffassung wurde allerdings bereits 1995 von Generalanwalt Elmer vertreten.74 Der EuGH musste sich dann allerdings in seinem Urteil selbst mit dieser Frage nicht mehr auseinandersetzen, da sie nicht mehr entscheidungserheblich wurde. In der Literatur wird dieses Urteil soweit ersichtlich weitgehend akzeptiert. In der mitgliedstaatlichen Rspr wird das Urteil rezipiert und entspr umgesetzt.75 Es wird allerdings gefordert, dass auf Grund des EWR-Vertrages Staatsangehörige der EFTA-Staaten, die diesen Vertrag ratifiziert haben (Norwegen, Liechtenstein, Island, nicht aber die Schweiz), die Rechte der Art 56 ff AEUV (damals Art 49 ff EGV) geltend machen können. Dies folge daraus, dass nach Art 6 des EWiR-Abkommens die Regelungen des Vertrages, die substantiell identisch mit denen des EUV sind, entspr auszulegen seien.76 Unionsbürgern gleichgestellt sind gem Art 62 iVm Art 54 AEUV Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben, sowie deren Beschäftigte.77

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3. Sachlicher Schutzbereich Eine präzise Definition der Dienstleistung findet sich weder in Art 56 AEUV noch in Art 57 AEUV. Aufgrund der zu diesen Artikeln ergangenen Rspr des EuGH und der Auslegung der Art 57 AEUV (insb Leistungsbegriff, Entgeltlichkeit, Unkörperlichkeit und vorübergehender Charakter der Dienstleistung) und Art 56 AEUV (Grenzüberschreitung der Leistung) lassen sich aber bestimmte Kriterien feststellen, die für die Einordnung eines wirtschaftlichen Vorgangs als Dienstleistung iSd Dienstleistungsfreiheit relevant sind.

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a) Definition der Dienstleistung gem Art 57 AEUV Merkmale der Dienstleistungsfreiheit werden in allen drei Absätzen des Art 57 AEUV genannt. Abs 1 beschreibt die Dienstleistung als entgeltliche Tätigkeit und scheidet negativ alle die Leistungen aus dem Dienstleistungsbegriff aus, die den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen (zur Abgrenzung s u Rn 67 ff). Abs 2 zählt als Dienstleistungen gewerbliche Tätigkeiten (zB Baugewerbe, Reiseveranstaltung, Filmwesen), kaufmännische Tätigkeiten (zB Bankund Börsenwesen, Versicherungen), handwerkliche Tätigkeiten (zB Friseure, sanitäre Dienste) und freiberufliche Tätigkeiten (zB Ärzte, Architekten, Rechtsanwälte) auf, wobei diese Aufzählung nicht abschließend ist. In Abs 3 kommt weiter zum Ausdruck, dass es sich bei der Dienstleistung auch um eine nur vorübergehende Tätigkeit handeln darf. Dieser wenig aussagekräftigen Zusammenstellung kann bereits entnommen werden, dass sich aus dem AEUV keine griffige Definition des Begriffes der Dienstleistung ableiten lässt.78

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Auch der Antrag des GA in dieser Sache ist unergiebig. EuGH, Slg 1995, I-3955 ff – Svensson u Gustavsson. Vgl nur OVG Saarland, LKRZ 2007, 323. Sedemund BB 2006, 2781; Streinz ZEuP 2005, 347 f. EuGH, Slg 1990, 1417 ff – Rush Portuguesa; Müller-Graff in: Streinz, EUV/AEUV, Art 56 AEUV Rn 56. 78 So Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 33.

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Erstes Charakteristikum einer Dienstleistung ist gem Art 57 Abs 1 AEUV ihre Entgeltlichkeit. Diese ist anzunehmen, wenn es sich um eine Leistung handelt, die „in der Regel gegen Entgelt“ erbracht wird. Entgelt ist hierbei zu verstehen als eine geldwerte Gegenleistung für die ursprünglich erbrachte Leistung. Nicht erforderlich ist, dass der Leistungsempfänger selbst die Gegenleistung erbringt, allerdings wird ein gewisses Maß an Stoffgleichheit zwischen Dienstleistung und Entgelt bzw ein gewisses Näheverhältnis zwischen Dienstleistungserbringer, -empfänger und demjenigen, der die Gegenleistung erbringt, vorausgesetzt.79 Es genügt bspw, wenn das Entgelt durch einen Krankenversicherer erbracht wird und nicht durch den Versicherten, wie dies im Falle der gesetzlichen Krankenversicherung der Fall ist.80 Sollte eine Leistung iW aus öffentlichen Mitteln finanziert werden und keine Gegenleistung erfolgen, so liegt Unentgeltlichkeit vor.81 Dass Dienstleistungen „in der Regel gegen Entgelt“ erbracht werden, bedeutet, dass die Person oder der Betrieb, der sie erbringt, damit einen Erwerbszweck verfolgt. Dies bedeutet wiederum, dass der angestrebte wirtschaftliche Erfolg ausschlaggebend ist, wobei eine auf Kostendeckung ausgerichtete Tätigkeit ohne Gewinnerzielungsabsicht ausreicht.82 Zusammenfassend kann man daher sagen, dass Dienstleistungen dann vom Anwendungsbereich des Art 57 AEUV erfasst sind, wenn man sie dem Wirtschaftsleben, auf das Art 2 Abs 3 AEUV Bezug nimmt, zurechnen kann. Hierunter können auch Tätigkeiten geringer wirtschaftlicher Bedeutung fallen, wenn gleichwohl der Hauptzweck – der Erwerbszweck – gegeben ist.83 Wenn damit der angestrebte wirtschaftliche Erfolg ausschlaggebend ist, kann der Leistungsinhalt – ob er nun wirtschaftlicher Natur oder sozialer, karitativer oder religiöser Natur ist – unbeachtet bleiben.84 Zu beachten ist ferner, dass die wirtschaftliche Tätigkeit nicht notwendigerweise den von Art 57 Abs 2 AEUV genannten traditionellen Kategorien der gewerblichen, kaufmännischen, handwerklichen und freiberuflichen Tätigkeit unterfallen muss. Inzwischen können viele moderne Tätigkeiten wie bspw Rundfunk- und Medientätigkeiten, Telekommunikationsdienste und Immobiliengeschäfte als Dienstleistungen eingestuft werden.85 Auch im Bereich des öffentlichen Auftragswesens ist die 79 EuGH, Slg 1988, 2085, Rn 16 – Bond van Adverteerders, wonach ein Kabelnetzbetreiber ua den Programm-Produzenten Dienste leistet, während sein Entgelt aus den Gebühren der Teilnehmer und aus Werbeeinnahmen besteht; Slg 1998, I-1931 ff – Kohll, wonach auch bei Versicherungsleistungen eine Entgeltlichkeit der Leistung für den Versicherungsnehmer vorliegt; vgl auch Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 45; Seyr in: Lenz/ Borchardt, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 13. 80 EuGH, Slg 2001, I-5473, Rn 53 ff – Smits u Peerbooms. 81 EuGH, Slg 1988, 5365, Rn 18 – Humbel. Hierzu mwN Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 20; im Fall von Privatschulen, die einen Gewinn zu erzielen versuchen und die zum größten Teil aus privaten Mitteln finanziert werden wurde durch den EuGH Entgeltlichkeit angenommen: EuGH, Slg 2007, I-6957, Rn 42 – Kommission/Deutschland. 82 Müller-Graff in: Streinz, EUV/AEUV, Art 56 AEUV Rn 21. 83 EuGH, Slg 1989, 4441 ff – Corsica Ferries. 84 Als Bsp für eine Dienstleistung, die ausschließlich aus sozialen bzw politischen Motiven erbracht wird, vgl insb EuGH, Slg 1991, I-4685 ff – Grogan, in dem Dritte über die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen informiert hatten, ohne dass ein wirtschaftlicher Zusammenhang zwischen dem Informierenden und dem die Tätigkeit durchführenden Dritten bestand. Ausf hierzu Trautwein JuS 1995, 908 ff. 85 Einen Überblick über solche von der Rspr als Dienstleistungen qualifizierte Tätigkeiten bietet Seyr in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 9 ff.

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Dienstleistungsfreiheit anwendbar, wobei sich der EuGH hier vielfach mit der Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch die Bevorzugung nationaler Anbieter befasst hat.86 Bietet der Staat selbst Leistungen an, ist danach zu differenzieren, ob er unternehmerähnlich am Wirtschaftsleben teilnimmt oder ob er durch öffentliche Abgaben finanzierte Aufgaben der Daseinsvorsorge erfüllt.87 Zur Definition der Dienstleistung gehört ferner das Kriterium der Selbständigkeit. Die Art 56 ff AEUV erfassen nur jene Leistungen, die selbständig erbracht werden; das Kriterium der Selbständigkeit dient folglich der Abgrenzung gegenüber der Arbeitnehmerfreizügigkeit (näher dazu s u Rn 68). Ein weiteres wesentliches Kriterium der Dienstleistungsfreiheit liegt darin, dass es sich um eine nicht-körperliche Leistung handeln muss. Dieses Kriterium dient der Abgrenzung zur Warenverkehrsfreiheit und wird an anderer Stelle ausführlich behandelt (s u Rn 70). Schließlich findet sich in Art 57 Abs 3 AEUV der Hinweis darauf, dass sich der Dienstleistungserbringer nur vorübergehend zwecks der Erbringung seiner Leistung in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten darf; es darf daher keine wirtschaftliche Integration in diesem Mitgliedstaat erfolgen. Durch dieses Kriterium unterscheiden sich die Dienstleistungs- und die Niederlassungsfreiheit, wobei auch dieses Abgrenzungsproblem an anderer Stelle erörtert wird (s u Rn 67). Unerheblich ist dagegen die aus dem deutschen Recht bekannte Unterscheidung in Dienst- und Werkvertrag. Auch Tätigkeiten, die nach deutschem Recht nach einem Werkvertrag geschuldet werden, unterfallen der Dienstleistungsfreiheit, soweit sie die oben genannten Merkmale aufweisen.

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b) Grenzüberschreitender Vorgang Fall 1: (EuGH, Slg 1984, 377 ff – Luisi u Carbone) Die italienischen Staatsangehörigen Luisi und Carbone mit Wohnsitz in Italien hatten eine größere Menge nicht-italienischer Devisen erworben, um damit Auslandsreisen innerhalb der EG und medizinische Behandlungen außerhalb Italiens zu bezahlen. Insbesondere Frau Luisi hatte sich mehrfach in Deutschland medizinischen Behandlungen unterzogen. Nach den seinerzeit geltenden italienischen Rechtsvorschriften war die Ausfuhr ausländischer Devisen aber nur bis zu einer bestimmten Höhe erlaubt. Da Luisi und Carbone bei mehreren Banken mehr als die zulässige Summe umgetauscht hatten, wurden ihnen durch Bescheide des Schatzministeriums auf der Grundlage der italienischen Rechtsvorschriften Geldbußen auferlegt. Hiergegen erhoben Luisi und Carbone Klage und machten geltend, dass die betreffenden Vorschriften ua gegen Art 56 ff AEUV verstießen. Sind die italienischen Rechtsvorschriften mit dem freien Dienstleistungsverkehr vereinbar?

Der sachliche Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit nach Art 56 ff AEUV ist nur dann eröffnet, wenn zusätzlich zu den oben dargestellten Kriterien des Art 57 AEUV ein grenzüberschreitendes Element hinzukommt. Der grenzüberschreitende Dienstleistungsverkehr kann sich in folgenden vier Konstellationen vollziehen:

86 Im Einzelnen unterfallen dem Dienstleistungssektor in diesem Bereich verschiedene Richtlinien wie bspw die Baukoordinierungsrichtlinie. Einen Überblick hierzu gibt Seyr in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Nach Art 49–62 AEUV Rn 1 ff. 87 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 14.

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Art 56 AEUV erfasst von seinem Wortlaut her zunächst den „klassischen“ Fall grenzüberschreitender Dienstleistungserbringung, in dem der Dienstleistungserbringer vorübergehend die Grenze überschreitet, um in einem anderen Mitgliedstaat seine Dienstleistung zu erbringen. Typisches Beispiel ist ein Architekt, der in einem anderen Mitgliedstaat ein Projekt erstellt und hierzu die Grenzen überschreitet. Für diesen Fall enthält Art 57 Abs 3 AEUV die ausdrückliche Gewährleistung, dass der Dienstleister zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit unter den Voraussetzungen, die dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt, in dem Staat ausüben kann, in dem die Leistung erbracht wird. Diese Konstellation der Dienstleistungsfreiheit wird aktive Dienstleistungsfreiheit (Dienstleistungserbringungsfreiheit) genannt. Der Zweck der Art 56 ff AEUV umfasst, im Gegensatz zu deren Wortlaut, auch den Fall, dass der Dienstleistungsempfänger und nicht der Dienstleistungserbringer vorübergehend die Grenze überschreitet, um Dienstleistungen zu empfangen. Die Dienstleistungsfreiheit wurde, rechtsfortbildend, durch den EuGH, um diese passive Dienstleistungsfreiheit (Dienstleistungsempfangsfreiheit) ergänzt.88 Eine typische Fallvariante dieser Dienstleistungsfreiheit sind touristische Aufenthalte, bei denen sich der Dienstleistungsempfänger in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort touristische Leistungen wie Museumsbesuche uä zu empfangen. Anzumerken ist, dass aus der passiven Dienstleistungsfreiheit kein Recht auf unbegrenzten Aufenthalt im Aufnahmestaat abgeleitet werden kann.89 Neben diesen zwei Fallkonstellationen, in denen die beteiligten Personen im Vordergrund stehen, gibt es eine dritte Konstellation, bei der lediglich die Dienstleistung als solche die Grenze überschreitet, während die in unterschiedlichen Mitgliedstaaten ansässigen Dienstleistungsempfänger und -erbringer keine Ortsveränderung vornehmen. Diese Variante der Dienstleistungsfreiheit wird Korrespondenzdienstleistungsfreiheit genannt. Ein typisches Beispiel hierfür sind Bank- und Versicherungsdienstleistungen. Gerade diese Korrespondenzdienstleistungen treten in jüngerer Zeit zB im Zuge der Entwicklung der Telekommunikationsmöglichkeiten in den Mittelpunkt der Problematik des freien Dienstleistungsverkehrs.90 Ebenfalls zu beachten ist eine vierte Kategorie, die sog. auslandsbedingten Dienstleistungen91. Eine auslandsbedingte Dienstleistung liegt dann vor, wenn sich sowohl Dienstleistungserbringer und Dienstleistungsempfänger in ein drittes Land begeben. Ein Beispiel für diese Konstellation ist der mitreisende Fremdenführer.92 In dieser Konstellation ist es problematisch, gegen welche Maßnahmen sich die Beteiligten unter Berufung auf die Dienstleistungsfreiheit wenden können. Der EuGH wendete die Dienstleistungsfreiheit auch für den Fall an, dass sich ein Dienstleister gegen eine Regelung des Staates wandte, in dem er ansässig war.93 In der Literatur wurde in diesem Fall die Einschränkung gefor88 Vgl mwN und Bsp aus der Rspr Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 53; Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 36 f. 89 EuGH, Slg 1988, 6159 ff – Steymann. 90 Weiterführend hier Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 40 ff; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 54. 91 Die Terminologie ist für diese Konstellation nicht einheitlich, so benutzen Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 55 die Wendung „Austausch in anderem Mitgliedstaat“. 92 Haratsch/König/Pechstein ER, S 470; EuGH Slg 1991, I-659, Rn 9 ff – Fremdenführer (I). 93 EuGH, Slg 1999, I-7641 ff – Vestergaard.

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dert, dass nur gegen Maßnahmen des Staates, in dem die Dienstleistung erbracht wird, mit Hilfe der Dienstleistungsfreiheit vorgegangen werden können soll. Würde man eine Geltendmachung gegen den Ansässigkeitsstaat zulassen, würde die Dienstleistungsfreiheit ohne das Moment einer Grenzüberschreitung angewendet.94 So es sich um eine Vorschrift handelt, die nicht besondere Erschwerungen für die genannte Konstellation gerade an die Grenzüberschreitung knüpft, ist dem zuzustimmen. In diesem Zusammenhang ist ferner zu erwähnen, dass wegen des grenzüberschreitenden und verkehrsbezogenen Ansatzes der Dienstleistungsfreiheit auch alle Formen der Vertragsanbahnung, Werbung und Verkaufsförderung in den Anwendungsbereich des Art 56 AEUV fallen. Der EuGH hat darauf hingewiesen, dass der freie Dienstleistungsverkehr illusorisch würde, wenn bspw nationale Regelungen schon das Anbieten von Dienstleistungen nach Belieben behindern könnten.95 Die Produktwerbung allerdings unterfällt der Warenverkehrsfreiheit. Die Werbung als Dienstleistung kann dann nicht isoliert an der Dienstleistungsfreiheit geprüft werden.96 Lösung Fall 1: Fraglich war, ob die italienischen Rechtsvorschriften mit den Art 56 ff AEUV vereinbar sind. Dafür müsste zunächst der Schutzbereich des Art 56 ff AEUV eröffnet sein. Sowohl der räumliche als auch der personelle Schutzbereich sind eröffnet, da sich der Sachverhalt in Italien und Deutschland abspielt und Frau Luisi auch in einem Mitgliedstaat, nämlich in Italien, ansässig ist. Bei den von L in Deutschland in Anspruch genommenen medizinischen Leistungen handelt es sich auch um Dienstleistungen, da sie selbständig erbracht werden und entgeltlich sind. Frau Luisi müsste aber auch Berechtigte sein. Sie begibt sich ja nicht zum Zweck der Leistungserbringung nach Deutschland, sondern zum Empfang der Dienstleistung. Obwohl der Wortlaut der Art 56 und 57 AEUV nur die aktive Dienstleistungsfreiheit umfasst, hat der EuGH in diesem Urt festgestellt, dass der vorliegende Fall (wenn sich der Leistungsempfänger in einen Mitgliedstaat begibt, um dort eine Leistung zu empfangen) die notwendige Ergänzung zur aktiven Dienstleistungsfreiheit darstellt, die dem Ziel entspricht, jede gegen Entgelt geleistete Tätigkeit, die nicht unter den freien Waren- und Kapitalverkehr und unter die Freizügigkeit der Personen fällt, zu liberalisieren. Daraus folge, dass der freie Dienstleistungsverkehr die Freiheit der Leistungsempfänger einschließt, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen – auch im Hinblick auf Zahlungen – daran gehindert zu werden und dass Touristen sowie Personen, die eine medizinische Behandlung in Anspruch nehmen, und solche, die Studien- oder Geschäftsreisen unternehmen, als Empfänger von Dienstleistungen anzusehen sind.97 Für Frau Luisi bedeutet dies, dass für sie der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit in Ausprägung der passiven Dienstleistungsfreiheit eröffnet ist und sie sich daher auf die Art 56 ff AEUV berufen kann.

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c) Bereichsausnahme Aufgrund der Verweisung des Art 62 AEUV auf Art 51 AEUV findet die Dienstleistungsfreiheit auf Tätigkeiten, die in einem Mitgliedstaat dauernd oder zeitweise mit der Aus-

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Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 60. EuGH, Slg 1995, I-1141, Rn 19 – Alpine Investments. Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 AEUV Rn 134. EuGH, Slg 1984, 377, Rn 16 – Luisi u Carbone.

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übung öffentlicher Gewalt verbunden sind, in diesem Mitgliedstaat keine Anwendung. Art 51 AEUV ist kein Rechtfertigungsgrund, sondern eine Bereichsausnahme und daher bereits im Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit zu erörtern. Die Tätigkeiten, die unter diese Ausnahme fallen, müssen eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt beinhalten,98 der Dienstleister muss gerade mit der dem Amt verliehenen Gewalt einseitig handeln. Abzustellen ist insofern gerade auf die Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Stelle,99 und nicht auf eine institutionelle Einbindung in staatliche Entscheidungsprozesse.100 Zunächst sei ein Handeln im Allgemeininteresse erforderlich.101 Sollte dieses bejaht werden, ist, so der EuGH, zu prüfen, ob die Ausübung der Tätigkeit mittels Zwang erfolge.102 Die Kategorisierung erfolgt nach dem Trennungsprinzip des EuGH, welches dieser in der Entscheidung Reyners entwickelte, für jede Tätigkeit einzeln. Der gesamte Beruf kann nur dann unter die Bereichsausnahme gefasst werden, wenn die einzelnen Tätigkeiten im Rahmen des Berufs untrennbar verbunden sind. Wann eine Ausübung öffentlicher Gewalt vorliegt, hat der EuGH in seinen Urteilen nicht generell dargelegt.103 Vielmehr wurden einzelne Fallgruppen erörtert, in denen von der Ausübung öffentlicher Gewalt augegangen werden könne. Als Kriterien hierfür führte der EuGH in der Rechtssache C-54/08 insbesondere die Wettbewerbsfreiheit an. In der Rechtssache befasste er sich zwar mit der Vereinbarkeit der Vorschrift des § 5 BNotO mit der Niederlassungsfreiheit. Die in diesem Urteil thematisierte Bereichsausnahme gilt über die Verweisung des Art 62 AEUV auch für die Dienstleistungfreiheit, wie oben ausgeführt. § 5 BNotO behielt Staatsbürgern der Bundesrepublik die Betätigung als Notar vor. Der Gerichtshof stellte auf die einzelnen Tätigkeiten eines Notars, wie das Beurkunden von Verträgen, die Vollstreckbarkeitserklärung von Urkunden und die Erstellung öffentlicher Urkunden ab und beurteilte diese. Es wurde erläutert, dass die lokale Konkurrenz unter den Notaren ein Indiz dafür sei, dass sie keine hoheitliche Tätigkeit ausübten. Gerade sei es den Kunden der Notare freigestellt, welchen der Notare in ihrer Umgebung sie aufsuchten.104 Der Notar könne auch nur dann handeln, wenn die Bürger ihn aufsuchten und mit der Vornahme der Handlungen beauftragten,105 seine Kunden könnten zudem beschließen, die Dienste des Notars nicht mehr in Anspruch zu nehmen und von dem zu beurkundenden Rechtsgeschäft generell Abstand nehmen.106 Ebenfalls hafte der Notar selbst für seine Handlungen nach § 19 Abs 1 BNotO.107 Für den Dienstleistungsbereich ist insbesondere von Bedeutung, dass sich dieser Vorbehalt nicht auf Tätigkeiten rein technischer Natur erstreckt, also zB nicht Planungsarbei-

98 99 100 101 102 103 104 105 106 107

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EuGH, Slg 1989, 4035, Rn 13 – EDV-Systeme. Korte/Steiger NVwZ 2011, 1243. EuGH, Slg 1974, 631, 651 – Reyners. EuGH, Slg 2011, I-4355, Rn 85 – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3. EuGH, Slg 1998, I-6717 ff – Kommission/Spanien. Dederer EuR 2011, 865, 866 f. EuGH, Slg 2011, I-4355, Rn 110 – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3. EuGH, Slg 2011, I-4355, Rn 105 – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3. EuGH, Slg 2011, I-4355, Rn 105 – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3. EuGH, Slg 2011, I-4355, Rn 111 – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3.

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ten, Softwareerstellung oder die Verwaltung von Datenverarbeitungssystemen für öffentliche Behörden erfasst.108 Für die Entwicklung dieses Rechtsbegriffs der „Ausübung öffentlicher Gewalt“ ist eine Überlegung des Generalanwalts Villacon interessant: Dieser sprach sich für eine zweistufige Prüfung der Frage, ob die Wahrnehmung öffentlicher Gewalt vorliege, aus: Auf der ersten Stufe sollte erörtert werden, ob nach dem nationalen System die Tätigkeit mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sei. Sodann sei zu prüfen, ob die Gestaltung des nationalen Rechtssystems eine verhältnismäßige Ausgestaltung darstelle.109 Im konkreten Fall wurde nach der Erörterung der Frage, ob der Notar öffentliche Gewalt ausübe, die Frage aufgeworfen, ob das Erfordernis der Staatsangehörigkeit in diesem Falle verhältnismäßig sei. Es sei zu prüfen, ob ein verhältnismäßiger Ausgleich zwischen der diskriminierenden Wirkung der nationalen Regelung und dem Interesse des Staates an der Regelung der Ausübung öffentlicher Gewalt gefunden wurde. Der EuGH erörterte diese Frage nicht, da er direkt die Zuordnung zur öffentlichen Gewalt, mit den o g Argumenten verneinte.

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d) Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten Wie bereits erwähnt, ist das Kriterium des vorübergehenden Aufenthalts für die Abgrenzung der Dienstleistungsfreiheit von der Niederlassungsfreiheit ausschlaggebend. Grundsätzlich ist der vorübergehende Charakter einer Tätigkeit nicht nur unter Berücksichtigung der Dauer der Leistung, sondern auch ihrer Häufigkeit, regelmäßigen Wiederkehr oder Kontinuität zu beurteilen. Wer also seine Tätigkeit in diesem Sinne nicht nur vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, sondern in stabiler und kontinuierlicher Weise dort einer Berufstätigkeit nachgeht, unterfällt den Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit.110 Wenn sich der Dienstleistungserbringer in dem anderen Mitgliedstaat eine bestimmte Infrastruktur aufgebaut hat (zB die Anmietung von Büroräumen), spricht dies nicht zwingend gegen den vorübergehenden Charakter der Leistung, wenn sie für die Erbringung der Dienstleistung erforderlich ist. Bei der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Erfordernisses der Eintragung einer über mehrere Jahre in Deutschland tätigen portugiesischen Firma in die deutsche Handwerksrolle hatte der EuGH die Vorschriften über die Dienstleistungsfreiheit angewendet, obwohl sich die Tätigkeit über mehrere Jahre erstreckt hat und möglicherweise eine gewisse Infrastruktur vorhanden war.111 Nach der jüngeren Rspr des EuGH wurde der Begriff der Dienstleistungsfreiheit auch in zeitlicher Hinsicht noch ausgedehnt, da eine solche nunmehr auch vorliegen könne, wenn die Leistung über einen längeren Zeitraum, bis hin zu mehreren Jahren erbracht wird, zB wenn es sich um Dienstleistungen handelt, die im Rahmen eines Großbauprojektes erbracht wer-

108 Vgl Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 45. 109 GA zu Rs C-61/08 Rn 84 f; 123 ff – Kommission/Griechenland. 110 Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 26 und insb EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 27 – Gebhard. 111 Vgl EuGH, Slg 2003, I-14847, Rn 28 – Schnitzer = JK 2004, EGV Art 49/9. Allerdings sei es Sache des nationalen Gerichts, zu überprüfen, ob das ausländische Unternehmen in Deutschland eine solche Infrastruktur unterhalte, dass es dort als niedergelassen angesehen werden könnte (Rn 33). Insoweit ließ es der EuGH offen, welche Infrastruktur das portugiesische Unternehmen möglicherweise unterhielt.

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den.112 Die Abgrenzung ist also trotz des scheinbar klaren Unterscheidungsmerkmals des zeitlichen Momentes nicht immer eindeutig, wie zB im Falle ständig wiederholter, kurzfristiger Tätigkeiten über die Grenze hinweg oder dann, wenn ein Geschäftsbetrieb von vornherein darauf ausgerichtet ist, Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Niederlassung zu erbringen.113 Zudem ist bei Beginn einer Tätigkeit im Aufnahmestaat oft nicht absehbar, ob eine kontinuierliche Tätigkeit in dem anderen Mitgliedstaat im ökonomischen Sinne überhaupt möglich ist. Es ist hier daher immer auf die Umstände des konkreten Einzelfalles abzustellen, um zu einem nachvollziehbaren Ergebnis zu kommen (→ vgl § 10 Rn 1 ff). Hinsichtlich der Abgrenzung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 45 ff AEUV) kommt es darauf an, ob die Tätigkeit selbständig oder in abhängiger Beschäftigung erbracht wird. Hier erscheinen Kollisionen zunächst kaum denkbar, da sich die in diesen beiden Grundfreiheiten beteiligten Personenkreise relativ eindeutig aufgrund des Kriteriums der Selbständigkeit voneinander abgrenzen lassen. ZB ist auch eine Prostitutionstätigkeit als Dienstleistung anzusehen, wenn nachgewiesen ist, dass der Dienstleistende sie nicht im Rahmen eines Unterordnungsverhältnisses in Bezug auf die Wahl dieser Tätigkeit, die Arbeitsbedingungen und das Entgelt, sondern in eigener Verantwortung gegen ein Entgelt ausübt, das ihm vollständig und unmittelbar gezahlt wird.114 Problematisch sind insoweit lediglich die Fälle, in denen sich Arbeitnehmer eines in einem bestimmten Mitgliedstaat ansässigen Unternehmens in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort für ihren Arbeitgeber Dienstleistungen zu erbringen. Geschieht dies nur vorübergehend, ist der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit eröffnet.115 Entscheidendes Abgrenzungskriterium in diesen Fällen ist danach die Dauer der Tätigkeit im Ausland. Abgrenzungsprobleme zur Kapitalverkehrsfreiheit (Art 63 ff AEUV) ergeben sich insbesondere in Bezug auf die mit Kapitalbewegungen verbundenen Bank- und Versicherungsdienstleistungen. Dabei fallen die Tätigkeiten der Banken, die nicht an den Kapitalverkehr gekoppelt sind (bspw Vermietung von Schließfächern, Beratung bei Immobilienprojekten), grundsätzlich in den Schutzbereich der Art 56 ff AEUV. Umgekehrt gilt für die Tätigkeiten der Banken und Versicherungen, die über den reinen Kapitalverkehr hinausgehen und deshalb den Art 56 ff AEUV unterfallen können, die Liberalisierungsvorschrift des Art 58 Abs 2 AEUV.116 Betreffen einzelne Etappen eines grenzüberschreitenden Wirtschaftsvorganges sowohl die Dienstleistungs- als auch die Kapitalverkehrsfreiheit, so ist eine Schwerpunktbildung vorzunehmen und dann die Grundfreiheit heranzuziehen, die dem Wirtschaftsvorgang seine Prägung gibt.117 Die Abgrenzung zum freien Warenverkehr (Art 28 ff AEUV) kann dann notwendig werden, wenn die grenzüberschreitende Lieferung einer Ware mit Dienstleistungen verbunden ist bzw wenn bei einer gemischten Leistung nicht eindeutig ist, welche Elemente

112 Vgl dazu Lottes EuZW 2004, 112 ff. 113 Krit hinsichtlich des Kriteriums der Dauer mwN Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV, 2000, S 135 ff. 114 EuGH, Slg 2001, I-8615 ff – Jany = JK 2002, EGV Art 43/2. 115 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 40 mwN. s hierzu insb EuGH, Slg 1990, 1417 ff – Rush Portuguesa. 116 Allerdings hat Art 58 Abs 2 AEUV inzwischen wegen der weitgehenden Liberalisierung des Kapitalverkehrs durch zahlreiche Sekundärrechtsakte praktisch seine Bedeutung verloren. 117 Vgl Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 49/50 AEUV Rn 183.

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überwiegen.118 In solchen Fällen ist nicht mehr klar, ob Gegenstand des grenzüberschreitenden Verkehrs ein körperlicher Gegenstand (dann Warenverkehrsfreiheit) oder eine unkörperliche Leistung (dann Dienstleistungsfreiheit) ist. Man könnte in solchen Fällen an eine Aufspaltung der beiden Bereiche denken oder an eine Schwerpunktsetzung, bei der es auf den bei der fraglichen Leistung im Vordergrund stehenden Inhalt ankommt. In der bisherigen Rspr des EuGH zu dieser Abgrenzungsfrage sind beide Wege im Einzelfall schon angewendet worden. In einem Fall, in dem es um die Gesamtheit von Fernsehleistungen ging und die Anwendbarkeit der Warenverkehrsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit auf diesen Sachverhalt fraglich war, hat der EuGH eine Aufspaltung vorgenommen: In Ermangelung ausdrücklich entgegenstehender Vertragsbestimmungen hat er Fernsehsendungen ihrer Natur nach als Dienstleistungen angesehen; den Handel mit sämtlichen Materialien, Tonträgern, Filmen und sonstigen Erzeugnissen, die für die Ausstrahlung von Fernsehsendungen benutzt werden, hat er aber den Bestimmungen über den freien Warenverkehr untergeordnet.119 In den verbundenen Rechtssachen C-403/08 und C-429/08 entschied der EuGH unter Rekurs auf seine bisherige Rechtsprechung120, dass im Fall einer absoluten Unterordnung einer der einschlägigen Freiheiten unter die andere die Prüfung anhand der hervortretenden Grundfreiheit erfolgen müsse. In concreto wurde für Fernsehdekoder durch den EuGH entschieden, dass der Versand derselben der Dienstleistungsfreiheit zuzuordnen sei und nicht der Warenverkehrsfreiheit, da der Schwerpunkt der Leistung im Empfang und der Entschlüsselung der Signale liege.121 Ebenso entschied der EuGH hinsichtlich der beim Betrieb einer Gaststätte veräußerten Waren.122 Bei Abgrenzungsproblemen, die sich aus der Natur des Handelsgutes ergeben – wie zB bei Strom und Abfällen –, ist inzwischen eine umfangreiche Rspr des EuGH ergangen.123

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III. Beeinträchtigung des Schutzbereichs Fall 2: (EuGH, Slg 1999, I-2517 ff – Ciola = JK 2000, EGV Art 49/1) Herr Ciola war Betreiber eines Bootshafens im zu Österreich gehörenden Teil des Bodensees. Nachdem er bei der zuständigen Behörde eine Abänderung bestimmter behördlicher Auflagen beantragt hatte, erließ diese einen Bescheid (individuelle Verwaltungsentscheidung), wonach es ihm verboten wurde, Anlegeplätze über ein bestimmtes Kontingent hinaus an Bootseigner mit Wohnsitz im Ausland zu vermieten. Begründet wurde dieses Verbot mit der Benachteiligung der einheimischen Bootseigner, die grundsätzlich nicht über dieselbe Finanzkraft wie die ausländischen Bootseigner verfügten. Da Herr Ciola dennoch an zwei Bootseigner mit Wohnsitz in Deutschland bzw in Liechtenstein je einen Liegeplatz vermietet hatte, obwohl das zulässige Ausländerkontingent von maximal 60 Liegeplätzen bereits überschritten gewesen war, wurden gegen ihn von der zuständigen Behörde Geldstrafen ver-

118 Seyr in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 8. 119 EuGH, Slg 1974, 409 ff – Sacchi. 120 Das Gericht verwies auf EuGH, Slg 1994, I-1039, Rn 22 – Schindler und Slg 2010, I-12213, Rn 43 – Ker-Optika. 121 EuGH, EuZW 2012, 466 Rn 80 – Football Association. 122 EuGH, Slg 2010, I-13019, Rn 30 f – Josemans = JK 2011, AEUV Art 56/1. 123 Ausf hierzu und mwN aus der Rspr Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/ AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 36.

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hängt. Dagegen erhob Herr Ciola Beschwerde zum Verwaltungsgerichtshof, der sich veranlasst sah, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob diese Beschränkung den Bestimmungen des freien Dienstleistungsverkehrs widerspreche.

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Fall 3: (EuGH, Slg 1995, I-1141 ff – Alpine Investments) Die Alpine Investments BV (AIBV) ist eine in den Niederlanden ansässige Gesellschaft und auf sog Warentermingeschäfte spezialisiert. Im Rahmen von Warenterminverträgen verpflichten sich die Parteien, eine bestimmte Menge Waren einer bestimmten Qualität zu einem Preis und Zeitpunkt, der bei Vertragsschluss festgelegt wird, zu kaufen oder zu verkaufen. Ziel dieses Geschäfts ist es ausschließlich, von Preisschwankungen zwischen dem Zeitpunkt des Vertragsschlusses und der Lieferung zu profitieren. Die AIBV hat in mehreren Mitgliedstaaten Kunden. Zu Werbezwecken betrieb die AIBV das sogenannte „cold calling“, das darin besteht, dass mit Privatleuten ohne deren vorherige schriftliche Zustimmung telefonisch Kontakt aufgenommen wird, um ihnen verschiedene Finanzdienstleistungen anzubieten. Die niederländische Regierung untersagte mit Hinweis auf die einschlägigen niederländischen Werbebestimmungen für den Wertpapierhandel diese Werbepraxis und dehnte dieses zunächst nur innerstaatlich wirkende Verbot auch auf Dienstleistungen aus, die von AIBV in anderen Mitgliedstaaten angeboten wurden. AIBV machte geltend, dass dieses Verbot gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoße, soweit es potentielle Kunden betreffe, die in anderen Mitgliedstaaten als den Niederlanden ansässig seien.

Ähnlich wie beim freien Warenverkehr und bei der Niederlassungsfreiheit sind bei der Dienstleistungsfreiheit Diskriminierungen und sonstige Beschränkungen auf verschiedene Art und Weise denkbar. Bevor im Einzelnen auf diese unterschiedlichen Möglichkeiten eingegangen wird, soll zunächst der Blick auf die Adressaten bzw Verpflichteten des Diskriminierungs- und Beschränkungsverbots der Art 56 ff AEUV gerichtet werden.

1. Adressaten 74

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Adressaten des Diskriminierungs- und Beschränkungsverbots sind grundsätzlich die Mitgliedstaaten. Dem Mitgliedstaat zurechenbar sind sämtliche Handlungen von Trägern öffentlicher Gewalt, auch Selbstverwaltungskörperschaften mit Hoheitsbefugnissen, wie Handwerkskammern oder Kammern freier Berufe.124 Alle Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die es unmöglich machen oder erschweren, dass Angehörige eines Mitgliedstaates in einem anderen Mitgliedstaat (aktiv) Dienstleistungen erbringen oder (passiv) in Anspruch nehmen, fallen unter dieses Verbot.125 Beschränkungen sind daher sowohl durch formelle und materielle Gesetze als auch durch Einzelfallentscheidungen möglich. Die Diskriminierung oder sonstige Beschränkung kann nicht nur vom „Aufnahmestaat“, sondern auch vom „Herkunftsstaat“ ausgehen.126 Auch die Unionsorgane können Adressaten der Art 56 ff AEUV sein, wobei der EuGH allerdings nicht mehr als ein Missbrauchsverbot für den Unionsgesetzgeber aus den Ver-

124 Müller-Graff in: Streinz, EUV/AEUV, Art 56 AEUV Rn 61. 125 Vgl HG Fischer ER II, § 17 Rn 6. 126 Vgl hierzu ausf Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 63 f, der unter Erläuterung des sog „funktionellen Staatsbegriffs“ insb darauf eingeht, welche Maßnahmen einem Mitgliedstaat zugerechnet werden können.

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tragsbestimmungen über die Dienstleistungsfreiheit abgeleitet hat. So darf der Unionsgesetzgeber die Pflichten der Mitgliedstaaten aus den Grundfreiheiten nicht konterkarieren. Beispielsweise die Verursachung von Handelshemmnissen zwischen den Mitgliedstaaten stellt einen Verstoß gegen diese Verpflichtung dar.127 Bei der Frage, ob auch Private an das Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot der Art 56 ff AEUV gebunden sind, stellt sich die grundsätzliche Problematik, ob die unionsrechtlichen Grundfreiheiten auch die Rechtsverhältnisse zwischen Privatpersonen untereinander regeln und damit Wirkungen zwischen Privaten entfalten können. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Art 56 AEUV nur Beschränkungen durch die Mitgliedstaaten, nicht aber auf privatautonomer Basis erfolgende Einschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs verbietet.128 In weiten Teilen der Lit wird jedoch dann eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten angenommen, wenn Kollektivorganisationen einseitig zwingende Regelungen erlassen haben (→ vgl a § 7 Rn 52 f).129 Der EuGH hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 2000 die Bindung einer Privatbank an die Arbeitnehmerfreizügigkeit angenommen, die eine diskriminierende Regelung in ihren Ausschreibungsbedingungen anwandte.130 Es darf indes bezweifelt werden, ob diese Entscheidung einen weiteren Schritt in Richtung unbeschränkter Drittwirkung der Grundfreiheiten darstellt (→ vgl hierzu § 7 Rn 52 f). Ziel der Grundfreiheiten ist die Schaffung eines Binnenmarktes und die Ermöglichung der freien wirtschaftlichen Betätigung auf demselben.131 Eine generelle Verpflichtung Privater durch die Grundfreiheiten konterkariert dieses Ziel. Vor diesem Hintergrund kann die Judikatur des EuGH nicht dahingehend interpretiert werden, dass eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten intendiert ist. Hinsichtlich der Dienstleistungsfreiheit im Besonderen ist überdies noch deren Nähe zur Warenverkehrsfreiheit zu beachten,132 für die der EuGH die unmittelbare Bindung Privater nicht angenommen hat. Dies lässt eine Bindung Privater durch die Dienstleistungsfreiheit sehr fragwürdig erscheinen.133 Auch in den nachfolgenden Entscheidungen Racanelli134 und Viking135 ist ein derart genereller Trend nicht auszumachen.

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2. Diskriminierung a) Offene Diskriminierung Obwohl Art 56 AEUV ausdrücklich nur von Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs spricht, fallen unter dieses Beschränkungsverbot zunächst alle innerstaatlichen Regelungen oder Praktiken, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten aus Gründen der Staatsangehörigkeit oder wegen des Umstandes, dass sie im Aufnahmestaat nicht dauerhaft ansässig sind, diskriminieren. Es gilt damit das Gebot der Inländergleichbehandlung 127 128 129 130 131 132 133

Vgl Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 67 ff. Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 65. Vgl EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman. EuGH, Slg 2000, I-4139 ff – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1. Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 166. Troberg in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV Art 49 EGV Rn 128. EuGH, Slg 1988, 5249, Rn 11 – Bayer, unterstützend: Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 170. 134 EuGH, Slg 2008, I-5939, Rn 41 ff – Raccanelli. 135 EuGH, Slg 2007, I-10779 ff – Viking = JK 2008, EGV Art 43/9.

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des Art 57 Abs 3 AEUV, wonach das Merkmal der Staatsangehörigkeit nicht dazu benutzt werden darf, eigene Staatsangehörige und Angehörige aus anderen Mitgliedstaaten offensichtlich ungleich zu behandeln. Eine derartige offene Diskriminierung liegt zB vor, wenn eine bestimmte Tätigkeit in einem Mitgliedstaat den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten wird.136 b) Versteckte Diskriminierung 78

Unter den Begriff „Diskriminierung“ fallen aber nicht nur offene Diskriminierungen, sondern auch sog versteckte Diskriminierungen.137 Dabei geht es um Regelungen, die zwar formal nicht zwischen Inländern und sonstigen Normadressaten unterscheiden, bei denen aber in Anbetracht der sachlichen Umstände zu erwarten ist, dass sie für nicht ortsansässige Angehörige anderer Mitgliedstaaten mit nachteiligen Auswirkungen bzw Behinderungen verbunden sind.138 So richtete sich zB der Preis für Lotsentätigkeiten an der italienischen Küste gem staatlicher Festsetzung danach, ob die gelotsten Schiffe eine besondere Zulassung für regelmäßige Fahrten in italienischen Küstengewässern hatten; war dies der Fall, waren die Tarife niedriger. Diese speziellen Dienste in der Küstenschifffahrt wurden in der Regel nur von Schiffen italienischer Eigner durchgeführt. Das geltende Tarifsystem bevorzugte damit praktisch Schiffe italienischer Eigner und war deswegen eine versteckte Diskriminierung.139 Grundsätzlich nicht entscheidend für die Beurteilung, ob eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit diskriminierend ist, ist nach der Rspr des EuGH der Umstand, dass in anderen Mitgliedstaaten die Erbringer gleicher Dienstleistungen weniger strengen Vorschriften unterworfen sind als im Heimatstaat des Dienstleistungserbringers. Das in den verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedliche Regelungsniveau wirkt sich somit nicht per se als Diskriminierung aus.140 c) Ansässigkeitserfordernisse

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Die Erbringung von Dienstleistungen kann ferner an besondere Ansässigkeitserfordernisse im Empfangsstaat geknüpft sein. Solche sog Präsenzpflichten, die das Erfordernis einer gewerblichen Niederlassung oder des privaten Wohnsitzes im Empfangsstaat für den Dienstleistungserbringer vorschreiben, sind grundsätzlich unzulässige versteckte Diskriminierungen, da idR nur Angehörige des Empfangsstaates diese Voraussetzung erfüllen werden.141 Eine versteckte Diskriminierung liegt bspw vor, wenn ein öffentlicher Auftrag nur an Unternehmen vergeben wird, die ihren Sitz in dem Gebiet haben, in dem der Auftrag ausgeführt werden soll.142 Ein Mitgliedstaat darf auch nicht die Erbringung von

136 EuGH, Slg 1994, I-923 ff – Fremdenführer (IV). 137 Eine beispielhafte Aufzählung versteckter Diskriminierungen findet sich bei Müller-Graff in: Streinz, EUV/AEUV, Art 56 AEUV Rn 78 ff. 138 Vgl Kluth in: Calliess/Ruffert EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 76 f. 139 EuGH, Slg 1994, I-1783 ff – Corsica Ferries. 140 Genauer hierzu Kort JZ 1996, 132, 135. 141 Der EuGH hatte sich schon frühzeitig mit Fällen dieser Art zu befassen und hat solche Ansässigkeitserfordernisse jeweils als ungerechtfertigte Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit beanstandet. Vgl hierzu Troberg/Tiedje in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 49 EGV Rn 43 ff. 142 EuGH, Slg 1992, I-3401 ff – Kommission/Italien.

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Dienstleistungen in seinem Hoheitsgebiet von der Einhaltung aller Voraussetzungen abhängig machen, die für eine Niederlassung gelten. Dies würde den Bestimmungen des AEUV, deren Ziel es ja gerade ist, die Dienstleistungsfreiheit zu gewährleisten, jede praktische Wirksamkeit nehmen.143 Lediglich im Rahmen der Rechtfertigung einer Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit kann ein solches Präsenzerfordernis dann ausschlaggebend sein. d) Abgrenzung zum allgem Diskriminierungsverbot Fraglich ist, wie das Diskriminierungsverbot der Art 56 ff AEUV gegenüber dem allgem Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV abgegrenzt werden kann. Gem Art 18 AEUV ist jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. Dieses Verbot beansprucht umfassende Geltung im gesamten Anwendungsbereich des Unionsrechts, der auch den freien Dienstleistungsverkehr umfasst. Der EuGH hat die Dienstleistungsfreiheit gegenüber Art 18 AEUV grundsätzlich als „lex specialis“ eingeordnet, die bei entspr Sachverhalt vorrangig anwendbar ist. Unsicherheiten bestehen nur, wenn Regelungen zur Überprüfung stehen, die dem Randbereich der Dienstleistungsfreiheit zuzuordnen sind. Die größere Übersichtlichkeit spricht in solchen Fällen dafür, Diskriminierungen, die schwerpunktmäßig die Berechtigten der Dienstleistungsfreiheit erleiden, auch der Dienstleistungsfreiheit und nicht Art 18 AEUV zuzuordnen.144 Lösung Fall 2: Zunächst müsste für Herrn Ciola der Schutzbereich der Art 56 ff AEUV eröffnet sein. Er vermietet die Bootsliegeplätze entgeltlich; eine andere Grundfreiheit wie bspw die Niederlassungsfreiheit wird nicht tangiert. Es handelt sich auch um einen grenzüberschreitenden Vorgang, da Angehörige aus anderen Mitgliedstaaten diese Bootsliegeplätze bei ihm anmieten (passive Dienstleistungsfreiheit). Der Schutzbereich des Art 56 ff AEUV ist damit eröffnet. Fraglich ist nun, welche Art von Beeinträchtigung vorliegt. Um eine offene Diskriminierung würde es sich handeln, wenn hier offensichtlich aus Gründen der Staatsangehörigkeit zwischen ortsansässigen und ausländischen Bootseignern differenziert würde. Anknüpfungspunkt in dem Bescheid der Behörde ist aber nicht die Staatsangehörigkeit, sondern der Wohnsitz der Bootseigner. Eine offene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit scheidet also aus. Es liegt aber eine versteckte Diskriminierung vor. Das Kriterium des Wohnsitzes ist zwar an sich ein neutrales Kriterium, führt aber im vorliegenden Fall zum gleichen Ergebnis: Benachteiligt werden diejenigen, die nicht ortsansässig sind. Gebietsfremde sind in der Regel Ausländer. Ausländer werden daher in diesem Fall eher benachteiligt. Der EuGH hat hierzu insbesondere ausgeführt, dass bei einer nationalen Rechtsvorschrift, die eine Unterscheidung aufgrund des Kriteriums des Wohnsitzes trifft, die Gefahr, dass sie sich hauptsächlich zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirkt, besonders groß ist, da Gebietsfremde meist Ausländer sind. Es liegt daher eine versteckte Diskriminierung vor.

143 Vgl Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 81 ff mwN zur Rspr des EuGH. 144 Gerade in diesen Randbereichen ist die Rspr des EuGH nicht einheitlich; vgl Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 66 und 174 f.

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Lösung Fall 3: Zunächst müsste für AIBV der Schutzbereich der Art 56 ff AEUV eröffnet sein. Die Leistungen der Gesellschaft werden gegen Entgelt erbracht und sind keinen anderen Grundfreiheiten zuzuordnen. Der Anwendbarkeit des Art 56 AEUV steht auch nicht entgegen, dass es sich bei den fraglichen Dienstleistungen um bloße Angebote handelt, da von Art 56 AEUV auch alle Formen der Vertragsanbahnung, Werbung, Verkaufsförderung und damit auch des sog „cold calling“ erfasst werden. Es handelt sich hier um eine sog Korrespondenzdienstleistung, da die Dienstleistung telefonisch angeboten wird und daher im Falle der Angebotsannahme nur die Dienstleistung die Grenze überschreitet, wohingegen die AIBV die Dienstleistung ohne Ortswechsel von dem Mitgliedstaat erbringt, in dem sie ansässig ist. Der Schutzbereich des Art 56 AEUV ist damit eröffnet. Es müsste weiter eine Beschränkung entweder in Form einer Diskriminierung oder in Form einer sonstigen Beschränkung vorliegen. Das vorliegende niederländische Verbot der Werbepraxis des „cold callings“ unterscheidet nicht zwischen In- und Ausländern; vielmehr ist es auf Inländer wie auf Ausländer gleich anwendbar. Eine Diskriminierung liegt daher nicht vor. Da dieses Verbot jedoch der AIBV ein schnelles und direktes Mittel der Werbung und Kontaktaufnahme mit potentiellen Kunden in anderen Mitgliedstaaten nimmt, kann es als sonstige Beschränkung des grenzüberschreitenden freien Dienstleistungsverkehrs qualifiziert werden. Wenn dieses Verbot aber nun lediglich die Art und Weise beträfe, in der die Dienstleistungen angeboten würden, und gerade nicht bezweckte oder bewirkte, den nationalen Marktteilnehmern einen Vorteil gegenüber den Dienstleistungserbringern aus anderen Mitgliedstaaten zu verschaffen, könnte es eine Art „Verkaufsmodalität“ darstellen. Damit wäre das Verbot möglicherweise in Anlehnung an die Keck-Rspr dem Anwendungsbereich des Art 56 AEUV entzogen. Der EuGH hielt entgegen, dass das Verbot der telefonischen Kundenwerbung mit einer Verkaufsmodalität, wie sie im Rahmen der Keck-Rspr entwickelt wurde, nicht vergleichbar sei. Der Grund für die Ausnahme von Verkaufsmodalitäten aus dem Anwendungsbereich des Art 34 AEUV liege nämlich darin, dass die Anwendung derartiger nationaler Regelungen, die im Gebiet des Einfuhrmitgliedstaats bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, nicht geeignet sei, den Marktzugang für diese Erzeugnisse im Einfuhrmitgliedstaat zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tue. Das Verbot im vorliegenden Fall, so der EuGH, betrifft aber nicht nur die Angebote, die AIBV den inländischen Leistungsempfängern macht, sondern betrifft auch die Angebote an Leistungsempfänger in einem anderen Mitgliedstaat und beeinflusst daher unmittelbar den Zugang zum Dienstleistungsmarkt in den anderen Mitgliedstaaten. Mangels Vergleichbarkeit kann hier daher die Keck-Rspr nicht herangezogen werden. Das Werbeverbot in den niederländischen Regelungen stellt daher eine sonstige Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar.

3. Beschränkungen a) Umfassendes Beschränkungsverbot 83

Ähnlich der Entwicklung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH schon frühzeitig entschieden, dass neben Diskriminierungen auch sonstige Beschränkungen die Dienstleistungsfreiheit beeinträchtigen können.145 In einem Fall, in dem ein zur Prozessvertretung beauftragter niederländischer Rechtsanwalt seinen Wohnsitz und Geschäftssitz von den Niederlanden nach Belgien verlegte und daraufhin wegen entgegenstehender Vorschriften der niederländischen Prozessordnung vom Ausgangsstaat nicht mehr als Prozess145 Zur Entwicklung der Rspr vgl Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 98 ff.

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bevollmächtigter zugelassen wurde, hat sich der EuGH erstmalig mit dieser Frage befasst.146 Er entschied damals, dass „unter Beschränkungen, deren Beseitigung die Art 49 EGV und Art 50 EGV vorsehen, alle Anforderungen fallen, die an den Leistenden namentlich aus Gründen seiner Staatsangehörigkeit oder wegen des Fehlens eines ständigen Aufenthaltes in dem Staate, in dem die Leistung erbracht wird, gestellt werden und nicht für im Staatsgebiet ansässige Personen gelten oder „in anderer Weise geeignet sind, die Tätigkeiten des Leistenden zu behindern oder zu unterbinden.“147 Aufgrund dieser Rspr verbietet Art 56 AEUV nicht nur diskriminierende Ungleichbehandlungen, sondern auch sonstige Beschränkungen, die sich aus der unterschiedslosen Behandlung von in- und ausländischen Dienstleistungserbringern ergeben.148 Diese sonstigen Beschränkungen können sowohl vom Staat des Dienstleistungsempfängers als auch vom Staat des Dienstleistungserbringers („Ausgangsbeschränkungen“) ausgehen. Im ersten Fall geht es meist um Zugangs- oder Zulassungsbeschränkungen zu einer bestimmten Tätigkeit oder deren Ausübung. Typische Beispiele sind zB das Erfordernis einer bestimmten behördlichen Erlaubnis für eine Dienstleistung, die in einem anderen Mitgliedstaat nicht erlaubnispflichtig ist,149 oder das Erfordernis einer bestimmten beruflichen Qualifikation.150 Auch vom Herkunftsstaat des Dienstleistungserbringers dürfen keine Beschränkungen ausgehen. In jüngerer Zeit hatte der EuGH auch zahlreiche Fälle aus dem Rundfunkbereich zu entscheiden, in denen es meist darum ging, Sendeanstalten, die aus einem Mitgliedstaat in einen anderen ausstrahlen, den dort geltenden Beschränkungen hinsichtlich der Sendezeiten, Werbung etc zu unterwerfen und ihnen damit eine konkurrierende Tätigkeit unmöglich zu machen. Solche Auflagen wurden in der Regel als „sonstige Beschränkungen“ iSv Art 56 AEUV angesehen.151 Zusammenfassend kann man daher festhalten, dass der EuGH den Beschränkungsbegriff der Art 56 ff AEUV weit gefasst hat und Art 56 AEUV als ein umfassendes Beschränkungsverbot versteht: Von Art 56 AEUV sind alle Beschränkungen erfasst, die die Leistung von Diensten zwischen Mitgliedstaaten gegenüber der Leistung von Diensten im Inneren eines Mitgliedstaates im Ergebnis erschweren. Fall 4: (EuGH, Slg 2002, I-6279 ff – Carpenter = JK 2002, EGV Art. 49/6) Die mit einem Briten verheiratete philippinische Staatsanghörige Frau Carpenter lebte ohne Aufenthaltsgenehmigung in Großbritannien und wehrte sich gegen die von britischen Behörden ausgesprochene Ausweisung mit der Begründung, dass sie für die aus der ersten Ehe ihres Mannes stammenden Kinder sorge und damit dessen Berufsausübung erleichtere. Herr Carpenter verkaufte Werbeflächen in Zeitschriften auch in anderen Mitgliedstaaten und musste aus diesem Grunde häufig zu Geschäftszwecken in die anderen Mitgliedstaaten reisen. Liegt in der Ausweisungsverfügung eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit?

146 147 148 149 150

EuGH, Slg 1974, 1299 ff – van Binsbergen. EuGH, Slg 1974, 1299, 1309 ff – van Binsbergen. Vgl HG Fischer ER II, § 17 Rn 5. EuGH, Slg 1991, I-4221 ff – Säger. Einzelfälle zu den Zulassungserfordernissen sind aufgeführt bei Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 103 ff. 151 Vgl Seyr in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 20 mit zahlreichen Hinw auf die Rspr. Inzwischen haben sich diese Probleme aber durch die sog „Fernsehrichtlinie“ etwas entschärft, die eine doppelte Kontrolle einer Sendeanstalt durch zwei Mitgliedstaaten verbietet und grds den Staat als zuständig bestimmt, dessen Rechtshoheit die Anstalt unterliegt.

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b) Modifikation 87

Die Weite des Beschränkungsbegriffs des Art 56 AEUV, der entspr auch für die anderen Grundfreiheiten gilt, ist nicht unproblematisch. Die Möglichkeit einer Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit besteht bei sehr vielen Maßnahmen, die nur einen mittelbaren Bezug zu einer gewerblichen Tätigkeit aufweisen, wie zB Regelungen über den Grundstückserwerb oder die Kreditvergabe.152 Sie schafft zum anderen Raum für vermehrt politische Entscheidungen. Deshalb ist daran zu denken, ähnlich wie im Bereich der Warenverkehrsfreiheit eine Eingrenzung des Verbots sonstiger Beschränkungen vorzunehmen (→ vgl § 8 Rn 1 ff). Für den Bereich der Warenverkehrsfreiheit hatte der EuGH nichtdiskriminierende Regelungen von Verkaufsmodalitäten nicht als Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit angesehen (Keck-Formel).153 Die Folge einer Übertragung dieser Rspr auf den Bereich der Dienstleistungsfreiheit wäre, dass nur solche mitgliedstaatliche Vorschriften, die vergleichbar wie „produktbezogene Regelungen“ ausschließlich den Marktzugang der Dienstleistung betreffen, als sonstige Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit anzusehen wären. So wandte der EuGH in der Rechtssache C-565/08 das Kriterium des Marktzugangs an154: Er stellte darauf ab, dass der Zugang zum Markt durch eine flexible Obergrenze von Anwaltshonoraren nicht behindert werde und eine Obergrenze der Anwaltshonorare somit nicht die Dienstleistungsfreiheit verletze. Trotzdem bleibt die Judikatur des EuGH uneinheitlich, so dass im Zweifelsfall von einer solchen Eingrenzung abgesehen werden sollte.155 Fraglich ist, ob für diese Eingrenzung überhaupt ein praktisches Bedürfnis besteht, da die weite Fassung des Beschränkungsverbots grundsätzlich durch legitime Interessen der Mitgliedstaaten auf der Rechtfertigungsebene korrigiert werden kann. Lösung Fall 4:

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Fraglich ist, ob Frau Carpenter in den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit fällt. Grundsätzlich können sich Familienangehörige ebenfalls auf die Dienstleistungsfreiheit berufen, sie besitzen abgeleitete Rechte auf Einreise und Aufenthalt für die Dauer der Dienstleistungserbringung (Art 1 I lit c RL 73/148). Ob ein Drittstaatler ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht in dem Herkunftsmitgliedstaat des Ehegatten hat, ist jedoch nicht Gegenstand der Richtlinie. Auch der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit selbst ist aus dem gleichen Grund nicht eröffnet. Der EuGH prüfte daraufhin, ob die Ausweisungsverfügung eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit des Ehemannes darstellt. Der Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit ist eröffnet, da Herr Carpenter in anderen Mitgliedstaaten Dienstleistungen erbringt. Es müsste weiterhin eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit vorliegen. Eine solche liegt vor, wenn ein in den Schutzbereich fallendes Verhalten behindert oder erschwert wird. Die Ausweisung der Ehefrau hätte nachteilige Auswirkungen auf die weitere berufliche Tätigkeit des Herrn Carpenter, da er möglicherweise keine ausgedehnten Auslandsreisen mehr unternehmen kann. Gerechtfertigt werden kann eine solche Beschränkung durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses. Als solcher kommt die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in Betracht, da der Aufenthalt der Frau Carpenter den in Großbritannien geltenden Gesetzen widerspricht.

152 153 154 155

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Vgl im Einzelnen Roth in: Dauses, HdBEUWirtschR, Abschn E1 Rn 107. EuGH, Slg 1993, I-6097 ff – Keck. EuGH, Slg 2011, I-2101, Rn 46 – Kommission/Italien. Einen umfangreichen Überblick über diese Problematik geben Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 104.

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Als Schranken-Schranken sind jedoch die Unionsgrundrechte zu beachten, die allgem Rechtsgrundsätze des Unionsrechts sind (Art 6 Abs 3 EUV). Die Ausweisung stellt einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in das Recht des Herrn Carpenter auf Achtung seines Familienlebens nach Art 8 EMRK dar, da sie nicht verhältnismäßig ist. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung ist dieses Recht höher zu bewerten als die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, da Frau Carpenter aufgrund ihres Verhaltens keine über den fehlenden Aufenthaltsstatus hinausgehende Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.

IV. Rechtfertigung Fall 5: (EuGH, Slg 1994, I-1039 ff – Schindler (Lotterielose)) Die Brüder Schindler übten die selbständige Tätigkeit von Bevollmächtigten der Süddeutschen Klassenlotterie aus. Ihre Tätigkeit bestand im Verkauf von Losen für diese Lotterie. In dieser Eigenschaft versandten sie von den Niederlanden aus Briefe an britische Staatsangehörige, die aus Werbematerial und Anmeldeformularen bestanden. Diese Postsendungen wurden von der britischen Zollbehörde mit der Begründung beschlagnahmt, sie seien unter Verstoß gegen das britische gesetzliche Verbot über das Abhalten von Glücksspielen und Lotterien eingeführt worden. In dem anschließenden Rechtsstreit machten die Gebrüder Schindler geltend, dass dieses Vorgehen sowie das britische Lotterieverbot gegen die Dienstleistungsfreiheit gem Art 56 AEUV verstießen. Die britischen Behörden wandten dagegen ein, dass Art 56 AEUV auf das in den britischen Rechtsvorschriften geregelte Einfuhrverbot keine Anwendung finde, da diese Rechtsvorschriften alle großen Lotterien unabhängig von ihrer Herkunft beträfen. Jedenfalls sei das Einfuhrverbot aus Gründen der britischen Sozialpolitik und der Betrugsbekämpfung, eines grundsätzlichen britischen Anliegens, gerechtfertigt. Fraglich ist damit, ob Art 56 AEUV einschlägig ist und ob ggf die Beschränkung gerechtfertigt ist. Fall 6: (EuGH, Slg 1991, I-659 ff, I-709 ff, I-727 ff – Fremdenführer) In Italien, Frankreich und Griechenland existierten Rechtsvorschriften, die von ausländischen Fremdenführern, die mit ihrer eigenen geschlossenen Touristengruppe aus einem anderen Mitgliedstaat in die betroffenen Länder einreisten, eine Erlaubnis zur Berufsausübung bzw den Besitz eines Gewerbescheins verlangten. Ein solcher Gewerbeausweis setzt in der Regel eine durch Bestehen einer Prüfung nachzuweisende besondere Qualifikation voraus. Die Vorschriften galten insbesondere für die ausländischen Fremdenführer, die die Touristen in Museen und bei Geschichtsdenkmälern führen. Die Fremdenführer machten geltend, dass diese Vorschriften sie in ihrer Dienstleistungsfreiheit beschränkten und auch nicht durch kulturpolitische Belange dieser Mitgliedstaaten zu rechtfertigen seien.

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1. Ausdrückliche (geschriebene) Schranke Gem Art 62 AEUV iVm Art 52 AEUV sind Beschränkungen, die eine Sonderregelung für Ausländer vorsehen und aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, erlaubt. Diese Vorschrift enthält ausdrücklich eine Rechtfertigung für Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit, die grundsätzlich eng auszulegen ist. Die Schranke des Art 52 AEUV gilt dabei für die Dienstleistungsfreiheit in all ihren Ausgestaltungen, also sowohl für die aktive und passive als auch für die Korrespondenzdienstleistungsfreiheit und die Erbringung auslandsbedingter Dienstleistungen. Über diese sogenannte Ordre-public-Klausel können vor allem ausländerrechtliche Sonderbe-

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stimmungen gerechtfertigt werden, die zu einer Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit führen. Art 52 AEUV kommt allerdings nur dann als Rechtfertigungsnorm in Betracht, wenn die Beschränkung auf staatlichen Regelungen beruht, die nicht unterschiedslos auf alle Dienstleistungen ohne Rücksicht auf deren Herkunft anwendbar sind.156 Es können daher nur solche Beschränkungen durch Art 52 AEUV gerechtfertigt sein, die offene Diskriminierungen darstellen, da nur offene Diskriminierungen nicht unterschiedslos anwendbar sind. Art 52 AEUV erlaubt es den Mitgliedstaaten etwa, den freien Dienstleistungsverkehr im Bereich der ärztlichen und klinischen Versorgung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit einzuschränken, soweit die Erhaltung eines bestimmten Niveaus der medizinischen und pflegerischen Versorgung erforderlich ist.157 Die Begriffe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit sind inzwischen zum Teil durch Sekundärrecht konkretisiert und ausgelegt worden.158 Im Allgem versteht der EuGH unter „öffentlicher Sicherheit“ grundl Interessen des Staates, wie die Aufrechterhaltung wesentlicher öffentlicher Dienstleistungen und das wirksame Funktionieren des Staates,159 unter „öffentlicher Ordnung“ hoheitlich festgelegte Grundregeln, die wesentliche Interessen des Staates berühren160. Noch nicht abschließend geklärt ist, ob auch für versteckte Diskriminierungen, deren Abgrenzung zu sonstigen Beschränkungen schwierig sein kann, Art 52 AEUV als Rechtfertigungsgrund herangezogen werden kann oder ob hier eine Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses erfolgen kann (→ § 7 Rn 102).161 Lösung Fall 5: Es müsste zunächst der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit eröffnet sein. Hierfür müssten die Lotterielose als Dienstleistung anzusehen sein. Obwohl es sich bei der Versendung der Briefe mit den Lotterielosen und dem Werbematerial zweifellos um Waren im körperlichen Sinne handelt, genügt dies nicht, um in der Tätigkeit der Gebrüder lediglich eine Ausfuhr oder Einfuhr zu sehen. Die Versendung der Lose kann nicht losgelöst von der Lotterie betrachtet werden, auf die sich die Lose und das Werbematerial ja beziehen. Vielmehr bezieht sich die Versendung des Werbematerials und der Anmeldeformulare nur auf die konkreten Einzelheiten der Veranstaltung bzw des Ablaufs. Die Tätigkeit der Gebrüder Schindler ist daher als Dienstleistung im Sinne des Art 56 AEUV anzusehen. Die Leistungen der Gebrüder werden auch gegen Entgelt erbracht, das in dem Preis für das Los besteht. Daraus folgt, dass auch die Werbung für dieses Produkt dem Schutzbereich unterfallen muss. Die fraglichen Leistungen sind auch grenzüberschreitend, da sie hier in England angeboten werden und damit in einem anderen Mitgliedstaat als in dem, in dem der Veranstalter der Lotterie niedergelassen ist. Der Schutzbereich der Art 56 ff AEUV ist damit eröffnet. Fraglich ist nun, ob die britischen Lotterieverbotsvorschriften eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit darstellen. Da sie nicht an das Vorliegen einer bestimmten Staatsangehörigkeit anknüpfen, stellt das Lotterieverbot schon keine Diskriminierung dar. Es hindert aber

156 EuGH, Slg 1992, I-6757 ff – Kommission/Belgien. 157 Vgl Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 62 AEUV Rn 4. 158 Anhaltspunkte zur Auslegung dieser Begriffe finden sich bspw in der RL 64/221. Ausf hierzu Schlag in: Schwarze, EU-Komm, Art 52 AEUV Rn 5 ff; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, EUV/AEUV, Art 52 AEUV Rn 22 ff. 159 Vgl EuGH, Slg 1984, 2727, Rn 37– Campus Oil Ltd. 160 EuGH, Slg 1977, 1999, Rn 33 ff – Bouchereau. 161 Vgl hierzu auch die allgem Ausführungen bei Ehlers JURA 2001, 482, 487.

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Lotterieveranstalter aus anderen Mitgliedstaaten ohne Ausnahme daran, in England unmittelbar oder durch selbständige Bevollmächtigte ihre Lotterien zu fördern oder Lose zu verkaufen. Das Lotterieverbot kann daher als eine sonstige Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs qualifiziert werden. Damit liegt auch eine Beeinträchtigung und damit ein Eingriff in den Schutzbereich vor. Dieser Eingriff könnte aber gerechtfertigt sein. Da es sich bei der Beeinträchtigung nicht um eine Diskriminierung handelt, ist der gesetzliche Rechtfertigungsgrund des Art 62 AEUV iVm Art 52 AEUV nicht einschlägig. Der Eingriff könnte aber aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls gerechtfertigt sein, wenn es sich bei dem britischen Anliegen der Sozialpolitik und der Betrugsbekämpfung um einen solchen zwingenden Grund des Allgemeininteresses handeln würde. Die Gründe, auf denen das britische Gesetz zur Einführung der staatlichen Lotterie beruht (zB Verhinderung von Straftaten, Sicherstellung, dass Spieler fair behandelt werden etc), beziehen sich auf den Schutz der Empfänger der Dienstleistung und der Verbraucher sowie den Schutz der Sozialordnung. Der EuGH betont ausdrücklich, dass diese Gründe zu denjenigen gehören, die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs grundsätzlich rechtfertigen können. Die Besonderheiten des Lotteriespiels, so der EuGH, rechtfertigten es, dass die staatlichen Stellen über ein ausreichendes Ermessen verfügen, um festzulegen, welche Erfordernisse sich bzgl der Art und Weise der Veranstaltung von Lotterien aus dem Schutz der Spieler und nach Maßgabe der soziokulturellen Besonderheiten jedes Mitgliedstaats aus dem Schutz der Sozialordnung ergeben. Ein solches Einfuhrverbot für Lotteriedienstleistungen kann dann für den Schutz, den dieser Mitgliedstaat in seinem Gebiet im Lotteriewesen sicherstellen will, erforderlich sein, um ein bestimmtes Schutzniveau zu sichern. Die in den britischen Rechtsvorschriften enthaltenen Anliegen der Sozialpolitik und der Betrugsbekämpfung können daher als den Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit rechtfertigende zwingende Interessen des Allgemeininteresses angesehen werden. Der Eingriff in den Schutzbereich ist daher gerechtfertigt.

2. Ungeschriebene Schranken Nachdem Diskriminierungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit ausdrücklich nur über Art 62 AEUV iVm Art 52 AEUV gerechtfertigt werden können, stellt sich die Frage, wie es sich mit sonstigen Beschränkungen verhält. Sie können aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein.162 Die Rspr des EuGH weist hier deutliche Parallelen zur Cassis-Rspr im Bereich der Warenverkehrsfreiheit auf, in der erstmals zwingende Interessen der Allgemeinheit als Rechtfertigungsgründe anerkannt wurden (zur Entwicklung und Anwendung der Cassis-Rspr → vgl § 7 Rn 101 ff). Der Begriff des Allgemeininteresses unterliegt der unionsrechtlichen Überprüfung, wenngleich seine Konkretisierung im Einzelfall durch die jeweiligen nationalen Behörden erfolgt.163 Da der EuGH in der Vergangenheit eine Reihe von verschiedenen öffentlichen Interessen als zwingende Gründe der Allgemeinheit hat gelten lassen, ist daraus zu schließen, dass dieser Katalog nicht abschließend ist. Für alle zwingenden Gründe muss es sich aber um Allgemeininteressen nicht wirtschaftlicher Art handeln; rein wirtschaftliche Gründe können eine Beschränkung des elementaren Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs nicht rechtfertigen.164 162 EuGH, Slg 1974, 1299, Rn 10/12 – van Binsbergen. 163 Hailbronner/Nachbauer EuZW 1992, 105, 110. 164 EuGH, Slg 1998, I-1931, Rn 41 – Kohll; Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 107.

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Zwingende Gründe des Allgemeininteresses im Bereich der Dienstleistungsfreiheit können ua sein:165 die Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Schutz der Verbraucher,166 die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege,167 das Ansehen der Kapitalmärkte, kulturpolitische Belange wie die Erhaltung des nationalen historischen und künstlerischen Erbes,168 die Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit169 und Berufs- und Standesregelungen zum Schutz der Dienstleistungsempfänger.170 Im Hinblick auf das Vorliegen solcher Gründe führte der EuGH in der Rechtssache C-212/08 aus, dass diese tasächlich und drängend sein müssen.171 In dieser Angelegenheit etablierte der französische Staat ein Monopol für Sportwettenanbieter und verhinderte somit den Zugang anderer Anbieter zum Markt mit der Begründung der Kriminalitätskontrolle und dem Schutz der Bevölkerung vor den Folgen des Glücksspiels. Die Klärung dieser Frage wurde allerdings den nationalen Gerichten überlassen. Auch Wohnsitz- bzw Niederlassungserfordernisse müssen nicht bereits per se unvereinbar sein mit dem Beschränkungsverbot des Art 56 AEUV. Die Ansässigkeitspflicht des Dienstleistungserbringers ist dann hinzunehmen, wenn andernfalls durch das Allgemeininteresse gerechtfertigte Berufsregelungen nicht durchsetzbar sind.172

3. Schranken-Schranken 96

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Fall 7: (EuGH, Slg 2003, I-4509 ff – Müller-Fauré) Die Niederländerin Müller-Fauré unterzog sich während ihres Urlaubs in Deutschland einer Zahnbehandlung. Nach ihrer Rückkehr beantragte sie bei ihrer Krankenkasse die Erstattung der Behandlungskosten. Dies lehnte die Krankenkasse ab, da nach niederländischem Recht die Kostenübernahme der Versorgung durch eine Einrichtung, mit der sie keine vertragliche Vereinbarung getroffen habe, davon abhängig gemacht werde, dass die Krankenkasse vorher ihre Genehmigung erteilt. Die Kostenübernahme beruht in den Niederlanden auf einem Sachleistungssystem, nach dem die Versicherten keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten haben, sondern lediglich auf die kostenlose Vornahme der ärztlichen Leistung. Ist der Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit gerechtfertigt? Fall 8: (EuGH, Slg 2004, I-6569 ff – Kommission/Frankreich) In Frankreich wurde durch eine Gesetzesänderung die direkte und indirekte Fernsehwerbung für in Frankreich vertriebene alkoholische Getränke verboten, ohne andere Medien, wie etwa Zeitschriften oder den Hörfunk, in dieses Verbot mit einzubeziehen. Eine indirekte Werbung bedeutet dabei eine Werbung zB auf Werbetafeln oder Trikots der Spieler bei Sportveranstaltungen ohne eine dafür eigens ausgestrahlte Werbesendung. Die französischen Sender wurden verpflichtet, ihre Vertragspartner beim Erwerb der Übertragungsrechte

165 Ein Überblick über die vom EuGH anerkannten zwingenden Allgemeininteressen findet sich bei Müller-Graff in: Streinz, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 106 ff. 166 EuGH, Slg 1997, I-3843, Rn 53 – De Agostini. 167 EuGH, Slg 1996, I-6511, Rn 31 – Broede. 168 EuGH, Slg 1991, I-659, Rn 17 – Fremdenführer (I). 169 EuGH, Slg 1998, I-1931, Rn 41 – Kohll. 170 EuGH, Slg 1979, 35, Rn 38 – van Wesemael. 171 EuGH, Slg 2011, I-5633 ff – Zeturf. 172 EuGH, Slg 1974, 1299 ff – van Binsbergen, wobei der EuGH dies allerdings im Ergebnis für den Beruf des Rechtsanwalts verneinte.

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von im Ausland stattfindenden Sportereignissen auf die französische Rechtslage hinzuweisen, und die Ausstrahlung der Werbung ganz zu unterlassen oder mit technischen Mitteln zu verhindern. Die Kommission leitete ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich wegen der Verletzung der Dienstleistungsfreiheit ein. Sie sah es insbesondere als inkonsequent an, das Verbot auf die Fernsehwerbung zu begrenzen. Kann sich Frankreich zur Rechtfertigung dieses Werbeverbotes auf den Gesundheitsschutz berufen?

a) Allgemeine Schranken-Schranken Sog Schranken-Schranken im Unionsrecht bezeichnen grundsätzlich die Beschränkungen, die für die Mitgliedstaaten und die Unionsorgane gelten, wenn sie den freien Dienstleistungsverkehr durch Regelungen und Vorschriften beeinträchtigen. Als Schranken-Schranken kommen daher grundsätzlich Unionsgrundrechte173 und Primärrechtsbestimmungen, sekundäres Gemeinschaftsrecht und vor allem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Betracht (→ s insb § 7 Rn 90 ff). Die Funktion, welche die Unionsgrundrechte als Schranken-Schranken der Beschränkung der Grundfreiheiten besitzen, ist von ihrer Funktion als legitime Ziele für die Beschränkung der Grundfreiheiten zu unterscheiden.174

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b) Insbesondere: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Die zentrale Schranken-Schranke für die Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten ist auf europäischer Ebene – ebenso wie hier und auf nationaler Ebene im Grundrechtsbereich – der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dieser Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist seit langem als ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts anerkannt.175 Mittlerweile ist er in Art 5 Abs 1 S 2 und Abs 4 EUV als gemeinsame Bestimmung von EUV und AEUV kodifiziert und wird in Art 52 Abs 1 GRCh ausdrücklich als zentrale Schranke für Grundrechtseingriffe aufgestellt. Nach diesem unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz müssen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit mitgliedstaatliche Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit zunächst einem legitimen Ziel dienen, zur Erreichung desselben geeignet und erforderlich sein und das Ziel in angemessener Art und Weise verfolgen. In der konkreten Prüfung des EuGH wird in der Regel eine etwas oberflächlichere Untersuchung, welche nicht immer eine Unterscheidung der genannten Kriterien ermöglicht, vorgenommen.176 Da Dienstleistungen in der Regel nur eine vorübergehende wirtschaftliche Betätigung in der Wirtschaft eines anderen Mitgliedstaates sind, wird diese typischerweise eher flüchtig berührt. Daher fallen die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit einer Beschränkung vergleichsweise streng aus, um dem spezifischen Charakter der Dienstleistungsfreiheit Rechnung zu tragen.177

173 EuGH, Slg 1992, I-2575, Rn 23 ff – Kommission/Deutschland = JK 92, EWGV Art 30/2. 174 Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 AEUV Rn 39. 175 Pache NVwZ 1999, 1033 f; Kischel EuR 2000, 380 ff; Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtssetzung, 2000, S 195 ff. 176 Pache NVwZ 1999, 1033, 1039. 177 HG Fischer ER II, § 17 Rn 20; Streinz ER, Rn 678.

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aa) Legitimes Ziel 101

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Die Beschränkungen der Grundfreiheiten müssen einem legitimen Ziel dienen. Das verfolgte Ziel stellt das Gegengewicht zu der mit der Beschränkung der Grundfreiheit einhergehenden Beeinträchtigung des Binnenmarktes dar. Die Bestimmung des Zieles einer Maßnahme ist in der Regel anhand der Gesetzgebungsmaterialien oder der Erwägungsgründe einer Regelung vorzunehmen. Dieses Ziel muss in normativer Hinsicht legitim sein.178 Legitim sind zunächst die grundfreiheitlichen Rechtfertigungsgründe, wie sie in den Schrankenbestimmungen des AEUV zum Ausdruck kommen. Für die Dienstleistungsfreiheit ist dies Art 52 AEUV iVm Art 62 AEUV.179 Weiterhin sind die zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses180 und der Schutz der Grundrechte der Grundrechtecharta181 zu nennen. Insbesondere bei unionalen Maßnahmen kann weiterhin die Vereinheitlichung eines Rechtsbereichs ein legitimes Ziel sein.182 Das legitime Ziel einer Maßnahme wird durch den EuGH in der Regel nicht erörtert, seine Kontrolle erfolgt sodann in drei Stufen.183 bb) Geeignetheit

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Die Maßnahme, welche die Dienstleistungsfreiheit beeinträchtigt, muss zur Verfolgung des legitimen Ziels geeignet sein. Die Eignung der Maßnahme liegt vor, wenn das Ziel durch sie erreicht werden kann oder zumindest die Möglichkeit einer Förderung des Zwecks besteht.184 Das Kriterium der Geeignetheit ist in seiner Anwendung stark eingeschränkt. Die Beurteilung der Geeignetheit erfolgt lediglich aus der Sicht ex-ante: Die Zielerreichung bzw die Förderung des Zwecks muss also nicht tatsächlich eingetreten sein.185 Ebenfalls findet keine vollumfängliche Beurteilung der Geeignetheit in der ex-ante Perspektive statt: Den Mitgliedstaaten und den Unionsorganen wird für die Beurteilung ihrer Regelungen ein Ermessensspielraum zugestanden.186 Es muss lediglich die Möglichkeit der Zielerreichung objektiv feststellbar sein.187 Die Möglichkeit der Mitgliedstaaten oder der Unionsorgane, aus den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu wählen, wird nur marginal eingeschränkt. Es handelt sich somit im Wesentlichen um ein Ausschluss- und nicht um ein Optimierungskriterium, die Maßnahme wird nur auf ihre generelle Eignung hin überprüft188 und es werden nur gänz-

178 Kingreen in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 AEUV Rn 90. 179 Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 AEUV Rn 9; Kingreen in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 AEUV Rn 90. 180 EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 37 – Gebhard. 181 EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 71 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3. 182 EuGH, Slg 1994, I-3879, Rn 14 – Meyhui. 183 Pollak Verhältnismäßigkeitsprinzip und Grundrechtsschutz in der Judikatur des EuGH und des Österreichischen VGH, 1991, S 23. 184 Becker in Schwarze, EU-Komm, Art 36 AEUV Rn 65. 185 Pollak (Fn 180) S 121; EuGH, Slg 1984, 4057, Rn 17 – Biovilac. 186 EuGH, Slg 2006, I-9171, Rn 49 – Ahokainen; Koch Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003, S 208. 187 Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 AEUV Rn 65. 188 Koch (Fn 183) S 207.

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lich ungeeignete Maßnahmen ausgesondert.189 Im Ergebnis soll dieses Kriterium verhindern, dass eine regelnde Institution einen Rechtfertigungsgrund für eine Beschränkung von Grundfreiheiten für sich in Anspruch nimmt,190 obwohl die Maßnahme eigentlich einen zum Beispiel protektionistischen Hintergrund hat. Somit ist eine Maßnahme geeignet, wenn sie die Möglichkeit zur Zweckerreichung oder -förderung in der Betrachtung ex-ante bietet. Im Rahmen der Geeignetheit wird durch den EuGH auch das Erfordernis einer kohärenten und systematischen Normgebung problematisiert. Die Kohärenz stellt, so man sie im Anschluss an die Rechtsprechung der Prüfung der Geeignetheit zuordnet, eine Konkretisierung der Anforderungen der Geeignetheit dar: Unverhältnismäßig, weil nicht geeignet,191 ist eine Regelung dann, wenn sie nicht in kohärenter und systematischer Weise die Dienstleistungsfreiheit beschränkt. Nach einer anderen Ansicht verfolgt die Maßnahme in einem derart gelagerten Fall keinen legitimen Zweck192. Eine dritte Ansicht vertritt die These, die Kohärenz sei eine eigene Schranken-Schranke, die von der Verhältnismäßigkeit isoliert zu prüfen sei.193 Das Gebot der kohärenten Normgebung dient der Kontrolle einer Beschränkung daraufhin, ob sie das verfolgte Ziel im Zusammenwirken mit anderen Regelungen des Mitgliedstaates auch erreichen kann. Als Beispiel sei die Schaffung eines Monopols für staatliche Glücksspielanbieter genannt, deren Ziel ausweislich der Ausführungen der mitgliedstaatlichen Vertreter im Verfahren vor dem EuGH oder der Gesetzesmaterialien die Begrenzung des als schädlich erachteten Glücksspiels ist. Dieses Ziel werde, so der EuGH, durch die Lockerung der Regelungen für Spielautomaten konterkariert, daher erfolge die Zielverfolgung inkohärent. Die angegriffene Regelung sei deshalb ungeeignet und aufgrund dessen unverhältnismäßig.194 Eine genauere Erörterung dieses Kriteriums erfolgt unter Rn 132 ff.

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cc) Erforderlichkeit Die Auswahlmöglichkeit der Mitgliedstaaten bzw der Unionsorgane hinsichtlich der die Dienstleistungsfreiheit beschränkenden Maßnahmen wird durch die Kontrolle der Erforderlichkeit der getroffenen Maßnahme stärker eingeschränkt: Eine Maßnahme ist zur Erreichung eines Zieles nur dann erforderlich, wenn sie das mildeste Mittel zur Erreichung des Zieles darstellt. Dies ist der Fall, wenn keine anderen Mittel gleicher Effektivität bestehen, die einen geringeren Grad der Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit bewirken.195 Eine Handlung der Mitgliedstaaten oder der Unionsorgane, die die Grundfreiheiten beschränkt, soll also in ihrer Intensität gering gehalten werden. Jedoch sind von allen möglichen Mitteln nur solche in Betracht zu ziehen, die das Ziel ebenso effektiv verfolgen. Das Kriterium der gleichen Effektivität relativiert die angesprochene Selektion der Mittel stark und erweist sich im Falle komplexerer Sachverhalte als ein sehr wertungsab-

189 190 191 192 193 194 195

So beispielsweise zur Warenverkehrsfreiheit: EuGH, Slg 1979, 649, Rn 11– Cassis de Dijon. Koch (Fn 183) S 207. EuGH, Slg 2003, I-13031, Rn 67 ff – Gambelli. Dederer NJW 2010, 198, 199. Lippert EuR 2012, 90, 92. EuGH, Slg 2010, I-8149, Rn 103 ff – Carmen Media. Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 AEUV Rn 67.

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hängiges Kriterium der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere ist im Falle von Maßnahmen, die der Verfolgung mehrerer Ziele dienen, eine komplexe Abwägung im Hinblick auf die Effektivität derselben vorzunehmen, da die Effektivität der Zielerreichung oder -förderung für jedes der legitimen Ziele bestimmt werden und sodann eine Bewertung in der Gesamtschau der verfolgten Ziele geschehen muss.196 Auch die Überprüfung, ob eine Maßnahme eine geringere Intensität der Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit mit sich bringt, kann eine komplexe Prognoseentscheidung, die nicht von Wertungen des prüfenden Gerichts befreit ist, bedeuten, zB im Falle der unterschiedlichen Betroffenheit zweier Gruppen durch die in Betracht genommenen Mittel zur Erreichung des Zieles.197 Insofern ist zunächst eine umfassende Prognoseentscheidung vorzunehmen, die die Erörterung der relevanten Risiken beinhaltet.198 Hierbei gesteht der EuGH den Mitgliedstaaten bzw den Organen der EU in seiner Kontrolle einen weiten Ermessensspielraum zu.199 Im Hinblick auf die Feststellung einer vergleichbaren Effektivität ist somit beispielsweise zu berücksichtigen, dass schon die Möglichkeit einer einfacheren Durchsetzung der Regelung genügt, damit eine Maßnahme als effektiver angesehen werden kann. In diesem Fall muss kein kompletter Nachweis über die zu erwartenden Folgen erbracht werden.200 Eine Maßnahme ist insbesondere nicht erforderlich, wenn dem nationalen Allgemeininteresse bereits durch Rechtsvorschriften Rechnung getragen wird, denen der Dienstleistungserbringer in dem Staat unterliegt, in dem er ansässig ist. Eine im Herkunftsstaat erteilte behördliche Genehmigung ist deshalb im Mitgliedstaat der Dienstleistungserbringung anzuerkennen, soweit sie „unter Voraussetzungen erteilt worden ist, welche mit denen des Staates, in dem die Leistung erbracht wird, vergleichbar sind.“201 Unverhältnismäßig sind auch Vorschriften, nach denen Reiseführer im Besitz einer vom Aufnahmestaat erteilten Erlaubnis sein müssen, die eine bestimmte berufliche Qualifikation voraussetzt, wenn sie mit einer Gruppe von Touristen aus einem anderen Mitgliedstaat anreisen.202 dd) Angemessenheit

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Auffallend ist, dass der EuGH im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ausdrücklich nur auf die beiden vorgenannten Kriterien (Geeignetheit und Erforderlichkeit) abstellt. Fragen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit) überlässt er des Öfteren im Vorabentscheidungsverfahren der Beurteilung durch das vorlegende Gericht, das die konkreten Umstände erörtern müsse.203 Die Angemessenheit der Maßnahme besteht, wenn in der Abwägung zwischen der Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit und dem geschützten Interesse kein Missverhältnis besteht.204

196 197 198 199 200 201 202 203 204

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Koch (Fn 183) S 213 f. Hirschberg Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S 121. Koch (Fn 183) S 213. Pollak (Fn 180) S 122; EuGH, Slg 1993, I-3115, Rn 57 – Fishermen’s Organisations. EuGH, Slg 2009, I-519, Rn 66 f – Kommission/Italien = JK 2010, EGV Art 28/12. EuGH, Slg 1979, 35, Rn 54 – van Wesemael; Hailbronner/Nachbauer EuZW 1992, 105, 110. EuGH, Slg 1991, I-727 ff – Fremdenführer (III). ZB EuGH, Slg 1997, I-3843, Rn 54 – De Agostini. Ehlers JURA 2001, 482, 488.

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In der Betrachtung ist eine Feststellung der beeinträchtigten und der geförderten Interessen vorzunehmen. In einem zweiten Schritt ist das Ausmaß von Beeinträchtigung und Förderung festzustellen und sodann zu ermitteln, ob ein krasses Missverhältnis zwischen diesen beiden Interessen besteht. Der EuGH wägt, sofern er eine Beurteilung der Angemessenheit einer Maßnahme vornimmt, objektiv die betroffenen Belange und die verfolgten Ziele ab.205 Lösung Fall 6: Es müsste zunächst der Schutzbereich des Art 56 AEUV eröffnet sein. Es handelt sich bei den Leistungen, die ein Fremdenführer erbringt, grundsätzlich um entgeltliche Leistungen. Da sich in den vorliegenden Fällen die Fremdenführer mit ihrer Reisegruppe in einen anderen Mitgliedstaat begeben als den, in dem das Reisebüro seinen Sitz hat, handelt es sich hier um die ebenfalls unter Art 56 und Art 57 AEUV fallende auslandsbedingte Dienstleistungsfreiheit. Ein grenzüberschreitender Bezug liegt vor. Es handelt sich bei der Tätigkeit der Fremdenführer hier daher um eine grenzüberschreitende Dienstleistung, die in den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit fällt. Eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs ist auch gegeben, da die (insb französischen) Regelungen sowohl die ausländischen Reisebüros hindert, die Dienstleistungen durch ihr eigenes Personal zu erbringen, als auch die selbständigen Fremdenführer, die ihre Dienstleistungen diesen Büros während der organisierten Reise anbieten. Sie hindern auch Touristen, die an solchen organisierten Reisen teilnehmen, diese Dienstleistungen je nach Wahl in Anspruch zu nehmen. Eine Diskriminierung liegt nicht vor, da auch die inländischen Fremdenführer einen Gewerbeschein besitzen müssen. Es liegt daher eine sonstige Beschränkung vor. Aus diesem Grund scheidet eine Rechtfertigung nach Art 62 AEUV iVm Art 52 AEUV aus. Die Beeinträchtigungen könnten gerechtfertigt sein, wenn zwingende Gründe des Allgemeininteresses vorliegen würden. Das allgem Interesse an der Aufwertung historischer Reichtümer und an der bestmöglichen Verbreitung von Kenntnissen über das künstlerische und kulturelle Erbe eines Landes kann ein solcher zwingender Grund sein, der eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigt. Fraglich ist aber, ob die Regelungen auch verhältnismäßig sind oder etwa außer Verhältnis zum angestrebten Zweck stehen. Die fragliche Erlaubnis ist zwar geeignet, kulturpolitische Belange zu schützen, bewirkt hier aber eine Verringerung der Zahl von Fremdenführern, die Touristen in einer geschlossenen Gruppe begleiten können, was einen Reiseveranstalter dann wieder veranlassen kann, eher auf örtliche Führer zurückzugreifen, die in dem betreffenden Mitgliedstaat auch ansässig und angestellt sind. Dies kann für die Touristen den Nachteil haben, dass ihnen kein Fremdenführer zur Verfügung steht, der mit ihrer Sprache sowie mit ihren Interessen und besonderen Erwartungen vertraut ist. Das Erfordernis einer besonderen Erlaubnis bzw eines Gewerbescheins steht angesichts des Umfangs der in ihm enthaltenen Beschränkungen außer Verhältnis zum angestrebten Zweck, nämlich der Aufwertung historischer Reichtümer und der besagten Verbreitung von kulturellen Kenntnissen des Mitgliedstaates, in dem die Reise durchgeführt wird. Der Eingriff in den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit ist damit nicht gerechtfertigt, da die im Interesse der Allgemeinheit aus zwingenden Gründen erlassenen Vorschriften unverhältnismäßig sind. Lösung Fall 7: Der Schutzbereich der Art 56 ff AEUV ist eröffnet, da Frau Müller-Fauré anlässlich ihrer Gesundheitsversorgung von der passiven Dienstleistungsfreiheit Gebrauch macht. Dem steht nicht entgegen, dass die Systeme der sozialen Sicherheit in die Kompetenzen der Mit-

205 Frenz GF, Rn 3370.

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gliedstaaten fallen. Die Besonderheiten bestimmter Dienstleistungen können nicht dazu führen, dass das Unionsrecht unanwendbar ist. Das Genehmigungserfordernis ist geeignet, die Dienstleistungsfreiheit zu behindern, da es ohne vorhergehende Einholung der Genehmigung keine Kostenerstattung gibt. Neben einer Beschränkung liegt darin eine mittelbare Diskriminierung, da das Genehmigungserfordernis ausschließlich Dienstleistungen aus anderen Mitgliedstaaten betrifft, ohne jedoch explizit an die Staatsangehörigkeit des Dienstleisters anzuknüpfen. Bei der Frage der Rechtfertigung prüfte der EuGH zunächst, ob die Gefahr einer Beeinträchtigung des Schutzes der öffentlichen Gesundheit vorliegt (Art 52 AEUV). Er räumte zwar ein, dass die Aufrechterhaltung einer qualitativ hochwertigen Versorgung eine Einschränkung rechtfertigen kann, wenn sie verhältnismäßig ist. Es wurde jedoch nicht substantiiert vorgetragen, dass die Qualität der inländischen ärztlichen Leistungen dadurch gemindert würde, dass sich zahlreiche Patienten zur medizinischen Behandlung ins Ausland begeben. Im Anschluss daran prüfte der EuGH, ob das Genehmigungserfordernis durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden kann. Damit weicht er von seiner bisherigen Schrankendogmatik ab, da er bei diskriminierenden Maßnahmen bisher nur die geschriebenen Rechtfertigungsgründe geprüft hat. Es gibt einige Anhaltspunkte dafür, dass auch im Bereich anderer Grundfreiheiten ein Trend zur schrankensystematischen Gleichbehandlung von mittelbaren Diskriminierungen und Beschränkungen auszumachen ist. Als Rechtfertigungsgrund kommt die Gewährleistung des finanziellen Gleichgewichts der Systeme sozialer Sicherheit in Betracht. Jedoch wurde nicht vorgetragen, dass die streitige Regelung wirklich erforderlich war. Auch wenn ein Sachleistungssystem besteht, sind die finanziellen Auswirkungen bei Behandlungen im Ausland nicht derart gravierend, dass die Gefährdung des Versicherungssystems zu befürchten ist. Die Mitgliedstaaten, die ein solches System vorsehen, müssen Mechanismen zur nachträglichen Erstattung der Kosten bei Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat einführen. Gerechtfertigt ist ein Genehmigungserfordernis allerdings im Bereich der stationären Gesundheitsversorgung (EuGH, Slg 2001, I-5473 ff – Smits u Peerbooms), da hinsichtlich der Anzahl, Ausstattung und Lage von Krankenhäusern eine sorgfältige Planung erforderlich ist.

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Lösung Fall 8: Die französische Fernsehwerberegelung stellt eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar, da zum einen die Eigentümer von Werbetafeln jegliche Alkoholwerbung schon dann vorsorglich ablehnen müssen, wenn die Sendung möglicherweise in Frankreich übertragen wird. Zum anderen ist die Ausstrahlung von Fernsehsendungen eine Dienstleistung, die dadurch behindert wird, dass die französischen Sender die Übertragung etwa von Sportereignissen ablehnen müssen, wenn eine Alkoholwerbung stattfindet. Ausländische Veranstalter von Sportereignissen können in diesem Fall zudem die Übertragungsrechte nicht an französische Sender verkaufen. Der freie Dienstleistungsverkehr kann jedoch in Ermangelung unionsrechtlicher Harmonisierungsmaßnahmen durch nationale Regelungen beschränkt werden, die aus den in Art 62 iVm 52 AEUV genannten Gründen oder aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind. Frankreich kann sich möglicherweise auf den geschriebenen Rechtfertigungsgrund des Gesundheitsschutzes berufen, da das Werbeverbot zur Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs beitragen soll. Dabei ist es Sache der Mitgliedstaaten, auf welchem Niveau sie den Gesundheitsschutz sicherstellen wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Daher ist es rechtlich nicht relevant, dass sich Frankreich für ein ausschließliches Fernsehwerbeverbot entschlossen hat und nicht andere Medien in dieses Verbot einbezogen hat. Die Mitgliedstaaten müssen jedoch bei der Berufung auf die Rechtfertigungsgründe den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten.

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Die Maßnahme ist geeignet, den Gesundheitsschutz zu verwirklichen, da durch sie weniger Anreize zum Alkoholkonsum gegeben werden. Sie ist auch erforderlich, da sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels notwendig ist. Sie beschränkt sich auf in Frankreich vertriebene Erzeugnisse, wodurch die Beeinträchtigung des Dienstleistungsverkehrs möglichst gering gehalten wird. Angesichts der hohen Kosten für technische Mittel zur Verfremdung der Werbung ist kein milderes Mittel ersichtlich. Auch die Tatsache, dass Fernsehwerbung für Alkohol in manchen Mitgliedstaaten zulässig ist, führt nicht zu ihrer Unverhältnismäßigkeit.

V. Aktuelle Entwicklungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit 1. Sport im Lichte der Dienstleistungsfreiheit Fall 9: (nach EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman) Jean-Marc Bosman war belgischer Profifußballer. Von 1988 bis Ende Juni 1990 war er beim belgischen Erstligisten RCL als Profi tätig. Eine Vertragsverlängerung kam auf Grund von Differenzen über das Gehalt nicht zu Stande. Daher wurde Jean-Marc Bosman auf die Transferliste gesetzt. Der RCL legte für ihn eine vom abnehmenden Verein zu zahlende Ausbildungsentschädigung in Höhe von ca. 11,7 Millionen BFR fest. Herr Bosman nahm dann Verhandlungen mit dem französischen Klub US Dünkirchen auf, die im Ergebnis auch zu einem Vertrag führten. Hierbei wurde ein zeitweiliger Transfer vereinbart, für den der US Dünkirchen eine Summe von 1,2 Millionen BFR als Entschädigung an den RCL leisten sollte. Solange jedoch der erforderliche Freigabeschein des RCL nicht vorlag, war der Vertrag aufschiebend bedingt. Auf Grund von Zweifeln an der Solvenz des US Dünkirchen verweigerte der RCL die Freigabe, so dass der Wechsel platzte und Bosman für keinen Verein spielen konnte. Ist die Transferregelung mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar?

In kaum einem anderen Bereich, in dem die Dienstleistungsfreiheit gem Art 56 AEUV und die hierzu ergangene Rspr Wirkung entfalten, ist das öffentliche Interesse und der Bekanntheitsgrad der Entscheidungen so hoch wie im Bereich des Profisports. Hierzu sind seit 1974 eine Reihe von Entscheidungen ergangen,206 die zu teils erheblichen Umstrukturierungen innerhalb der einzelnen Sportverbände und Sportarten geführt haben. Mittlerweile ergehen die Entscheidungen zum Teil auch zum Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit gem Art 45 ff AEUV, da der EuGH einen Teil der Sportler insbesondere in Mannschaftssportarten als Arbeitnehmer ansieht.207 Diese haben allerdings auch auf den Bereich der Dienstleistungsfreiheit erhebliche Auswirkungen, da in diesen Fällen die Bestimmung der Beschränkung und der Rechtfertigung weitestgehend parallel verlaufen, wie auch die häufige Bezugnahme des EuGH auf vorangegangene Urteil, unabhängig ob sie zur gerade geprüften oder zur jeweils anderen Grundfreiheit ergangen sind, zeigen. Die Rspr soll daher an dieser Stelle bereichsübergreifend dargestellt werden; soweit sie zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ergangen ist, wird darauf hingewiesen. Wie bereits erwähnt, hatte sich der EuGH zuerst im Jahr 1974 mit der Frage zu befassen, ob die Grundfreiheiten auch auf den Bereich des professionellen Sports anzuwenden

206 EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave. 207 EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman; Slg 2000, I-2681 ff – Lehtonen u Castors Braine; noch offen bei Slg 1976, 1333 ff – Dona.

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seien.208 In der Entscheidung ging es um zwei Motorradfahrer, die als Tempomacher in so genannten Steher-Rennen im Radsport teilnahmen. Dies sollte ihnen in der Folge nur noch für Sportler aus ihrem eigenen Heimatland möglich sein. Der EuGH hatte sich zunächst mit der Frage zu befassen, ob der Sport und die Regeln von Sportverbänden überhaupt einen unionsrechtlichen Bezug haben und somit in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten fallen. Im Urteil wurde in Übereinstimmung mit dem Antrag des Generalanwalts festgestellt, dass nicht nur staatliche Maßnahmen, sondern auch andere kollektive Maßnahmen im Dienstleistungsbereich von der Freiheit nach Art 56 ff AEUV erfasst werden. Im Übrigen seien die Grundfreiheiten betroffen, soweit die Tätigkeit einen wirtschaftlichen Bezug gem Art 3 Abs 3 EUV habe. Dies war hier unproblematisch gegeben. Des Weiteren wurde auch festgestellt, dass die Dienstleistungsfreiheit unmittelbar in solchen Fällen zwischen dem Verband und den Betroffenen Anwendung finde, da nur so die Durchsetzung des europäischen Rechts gewährleistet werden könne. Auch wurde bereits die Möglichkeit anerkannt, eine Beschränkung der gewährten Freiheiten auf Grund von nicht-wirtschaftlichen bzw rein sportlichen Gründen durchzuführen. Der EuGH nannte in diesem Zusammenhang insbesondere Nationalmannschaften. Nachfolgend erging im Jahr 1976 eine weitere grundsätzliche Entscheidung für den Bereich des Sports.209 Diese bestätigte allerdings im Wesentlichen nur noch einmal die bereits im Urteil Walrave aufgestellten Grundsätze. Der EuGH fasste auch Fußballprofis und Halbprofis unter den Bereich der Dienstleistungsfreiheit und betonte erneut nur die Möglichkeit, durch nicht-wirtschaftliche Gründe die Freiheit zu beschränken. Die im Jahr 1995 erfolgte Entscheidung gehört zu den berühmtesten und meist kritisierten Entscheidungen des EuGH. Es handelt sich um das Urt zur Frage der Vereinbarkeit der damals geltenden Transferbestimmungen im europäischen Fußball, ausgelöst durch eine Klage des Fußballprofis Jean-Marc Bosman.210 Zum Tatbestand und zur Lösung des Hauptteils der Entscheidung vgl Fall 9. Im Zuge dieses Urt befand der EuGH auch die damals gültigen Klauseln, dass nicht mehr als drei Ausländer in einem Ligaspiel eingesetzt werden dürften, für nichtig. Diese Entscheidung erging als erste zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, da hier der Gerichtshof zum ersten Mal anerkannte, dass ein Fußballprofi ein Arbeitnehmer sei. Dies hatte er noch in der Rechtssache Dona/Mantero211 offengelassen. Jedoch hat dies, wie gezeigt, auch Auswirkung auf den Bereich der Dienstleistungsfreiheit; die Entscheidung wäre nicht anders zu treffen gewesen, wenn Jean-Marc Bosman nicht als Arbeitnehmer angesehen worden wäre und die Entscheidung daher zur Dienstleistungsfreiheit ergangen wäre.212 Diese Entscheidung hat unzählige Kritiker auf den Plan gerufen, die dem EuGH zum Teil juristisch mangelndes Verständnis, zum Teil mangelndes Verständnis für die Bereiche des Sports, zumeist beides vorwarfen. Überdies wurden zahlreiche Horrorszenarien bis hin zum Untergang des Profifußballs in Europa beschworen.213 Wie sich heute nach 19 Jahren rückblickend zeigt, haben diese Befürchtungen sich in keiner Weise bestätigt.

208 209 210 211 212 213

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EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave. EuGH, Slg 1976, 1333 ff – Donà. EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman. EuGH, Slg 2006, I-6991 ff – Meca-Medina u Majcen. Vgl Lösung Fall 8 sowie Hilf/Pache NJW 1996, 1169, 1176. Vgl die Zusammenstellungen bei Hilf/Pache NJW 1996, 1169 f; Hobe/Tietje JuS 1996, 486 f.

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Im Anschluss an die Bosman-Rspr ergingen im Jahr 2000 zwei weitere bedeutende Urteile des Gerichtshofes. In der ersten Entscheidung214 geht es um eine belgische Judoka, die von ihrem Verband nicht zu internationalen Turnieren gemeldet wurde. Eine solche Meldung ist jedoch unabdingbare Voraussetzung für die Teilnahme an solchen Wettkämpfen, da eine Selbstmeldung unzulässig ist. Der EuGH erteilte erneut dem Ansinnen einer Bereichsausnahme für den Sport eine Absage und stellte eindeutig klar, dass der Wirtschaftsbezug iSd Art 3 Abs 3 AEUV nicht schon deshalb entfalle, weil der Wettkampf als Auswahlkriterium für eine nicht-wirtschaftliche Veranstaltung wie die olympischen Spiele herangezogen werde. Allerdings stellte der Gerichtshof fest, dass durch reine Auswahlkriterien, die zur sinnvollen Durchführung eines solchen Wettkampfes zwingend erforderlich seien, kein Eingriff begründet werde. Dass sich für einzelne Sportler durch die Festlegung der Kriterien Vor- oder Nachteile ergeben können, stellt alleine keinen Grund für die Annahme einer Beschränkung der Freiheit dar. Die zweite Entscheidung des EuGH215 aus diesem Jahr befasst sich mit Transferfristen im Bereich des Profibasketballs. Auch hier bejahte der Gerichtshof die Stellung des Spielers als Arbeitnehmer und prüfte daher Art 45 ff AEUV. Das Gericht erkannte die Möglichkeit an, dass solche Fristen grundsätzlich zulässig sein können, da hierdurch die Funktion des Sportes gesichert werde und somit nicht-wirtschaftliche Gründe vorliegen können. Da hier allerdings unterschiedlich lange Fristen für einen Wechsel aus dem europäischen Raum und aus anderen Regionen der Welt galten, sah der EuGH keine Erforderlichkeit der Regel und erklärte daher, dass diese Regeln mit dem AEUV unvereinbar seien. Die bisher letzte Entscheidung in dieser Reihe erging 2006216 als Rechtsmittelentscheidung zu einem EuG-Urt aus dem Jahr 2004.217 Hier war zu entscheiden, ob die AntiDoping Regeln des IOC mit den europäischen Grundfreiheiten vereinbar sind. Das EuG griff die Formel der stRspr des Gerichtshofes auf, nach der die Grundfreiheiten dann nicht betroffen sind, wenn relevante Regelungen sich als rein sportlich und somit nichtwirtschaftlich erweisen. Dies sah das EuG hier mit dem Argument, dass die Doping-Regelungen einen freien und fairen Wettbewerb gewährleisten sollen, gegeben und wies daher die Klage als unbegründet ab. Die Klageabweisung blieb zwar auch in der Rechtsmittelinstanz bestehen, allerdings stellte der EuGH fest, dass nur aus dem Grund, dass eine Regelung rein sportliche Bezugspunkte habe, sich nicht auch ihre Nicht-Wirtschaftlichkeit folgern ließe. Vielmehr müssten daher auch gerade die Anti-Doping Regeln mit den Grundfreiheiten vereinbar sein. Es sei daher zu prüfen, ob nicht das Regelwerk unsachgemäß oder überzogen sei und daher die Sportler unangemessen benachteilige. Diese Entscheidung hatte der EuGH dann aber im konkreten Fall nicht zu treffen, da er eine Prüfung aus formalen Gründen ablehnte. Somit bleibt im Ergebnis festzuhalten, dass sportliche Tätigkeiten insoweit unter die EU-Grundfreiheiten zu fassen sind, als es sich bei ihnen um eine wirtschaftliche Betätigung handelt. Ausgeschlossen ist der echte Amateursport, für dessen Vorliegen aber die

214 215 216 217

EuGH, Slg 2000, I-2549 ff – Deliège. EuGH, Slg 2000, I-2681 ff – Lehtonen u Castors Braine. EuGH, Slg 2006, I-6991 ff – Meca-Medina u Majcen. EuG, Slg 2004, II-3291 ff – Meca-Medina u Majcen.

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einseitige entspr Bezeichnung nicht ausreichend ist.218 Die Grundfreiheiten sind nur dann unanwendbar, wenn kein Entgelt gezahlt bzw tatsächlich nur eine Aufwandsentschädigung geleistet wird.219 Eine grundsätzliche Bereichsausnahme ist jedenfalls nicht anzuerkennen.220 Der Eingriffscharakter einer Maßnahme bestimmt sich nach allgem Regeln. Keine Eingriffe sind bei rein sportlichen Maßnahmen gegeben, da sie bereits nicht in den Geltungsbereich der Art 45 AEUV und Art 56 AEUV fallen. Hiervon sind insbesondere die Aufstellung von Nationalmannschaften, die Auswahl von Sportlern für internationale Wettkämpfe und die Spielregeln im engeren Sinne erfasst.221 Die Rechtfertigung eines Eingriffs lässt sich nach der Rspr insbesondere aus so genannten nicht-wirtschaftlichen Gründen herleiten. Des Weiteren ist auch eine Rechtfertigung über die aus Art 11 EMRK und den einzelnen Nationalverfassungen entwickelte Koalitionsfreiheit möglich. Dabei gesteht der EuGH den einzelnen Verbänden auch die Möglichkeit zu, die allgem Rechtfertigungsgründe, insbesondere die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses, als Rechtfertigungsgrund heranzuziehen.222 Darüber hinaus ist festzuhalten, dass gerade im Bereich des Sports die Drittwirkung der Dienstleistungsfreiheit – unmittelbar im Verhältnis Sportler-Verband – große Bedeutung entfaltet; hier hat der EuGH ausf zur Bedeutung kollektiver Regelungen wie derjenigen der Satzungen der Sportverbände als Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit Stellung genommen und erkennt in jahrzehntelanger Rspr die Bedeutung und Maßstabsfunktion der Dienstleistungsfreiheit auch gegenüber derartigen Maßnahmen an.223 Lösung Fall 9:224 Fraglich ist, ob die Transferregelungen mit den Art 56 ff AEUV unvereinbar sind. Hierfür muss zunächst der Schutzbereich des Art 56 AEUV eröffnet sein. Es ist zunächst zu untersuchen, ob in diesem Fall überhaupt die EU-Grundfreiheiten Anwendung finden. Dies ist nach Art 3 Abs 3 EUV dann der Fall, wenn es sich um eine Tätigkeit auf wirtschaftlichem Gebiet handelt. Dies ist bei Profifußballspielern unproblematisch der Fall. Überdies ist zu entscheiden, ob die Art 45 ff AEUV oder die Art 56 ff AEUV einschlägig sind. Dies hängt davon ab, ob man Fußballprofis unter den Arbeitnehmerbegriff fasst oder nicht. Der EuGH hat sich in dieser Rechtssache dafür ausgesprochen, Profis unter den Arbeitnehmerbegriff zu subsumieren, da sie weisungsabhängig seien. Dem ist im Vorfeld von den betroffenen Vereinen und Verbänden entgegen getreten worden. Begründet wird dies mit den außergewöhnlich hohen Bezügen der Sportler, der geringen Einbindung in den alltäglichen Betriebsablauf des Vereins und die weitgehend selbständige Erbringung der Tätigkeit. Auch wenn einige Argumente für die Sicht des EuGH sprechen, soll hier, auch um zu zeigen, dass Art 45 AEUV und Art 56 AEUV in diesem Bereich parallel verlaufen, der Ansicht gefolgt werden, dass Profifußballer Unternehmer sind, so dass der Anwendungsbereich des Art 56 AEUV eröffnet ist.

218 EuGH, Slg 2000, I-2549 ff – Deliège. 219 Streinz in: Tettinger (Hrsg) Sport im Schnittfeld von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, 2001, S 37. 220 Streinz (Fn 216) S 36. 221 EuGH, Slg 2006, I-6991 ff – Meca-Medina u Majcen. 222 Streinz (Fn 216) S 46 f. 223 Vgl bereits EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave. 224 Vgl auch die Besprechungen bei Hilf/Pache NJW 1996, 1169 ff; Hobe/Tietje JuS 1996, 486 ff.

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Des Weiteren ist fraglich, ob möglicherweise ein Grund vorliegt, der die Anwendbarkeit dennoch ausschließt. Hierzu wurde vorgebracht, dass nach der Rspr des EuGH die Möglichkeit bestand, aus sog nicht-wirtschaftlichen Gründen den Anwendungsbereich zu verengen, und dass vorliegend sportliche Gründe die Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit ausschlössen. Dem hält der Gerichtshof aber entgegen, dass zwar grundsätzlich ein solcher Ausschluss der Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit aus sportlichen Gründen möglich sei, allerdings der Ausschluss nicht weiter reichen könne, als dies die nicht-wirtschaftlichen sportlichen Zwecke erfordern. Es dürfe keine generelle Bereichsausnahme dergestalt geben, dass sportliche Tätigkeiten umfassend vom Geltungsbereich des Vertrages ausgeschlossen werden. Die unmittelbare Drittwirkung der Dienstleistungsfreiheit zwischen Spieler und Verband im Bereich des Sports wurde bereits in der Walrave-Entscheidung225 anerkannt. Es bleibt zu überlegen, ob die Vereinigungsfreiheit, die aus Art 11 EMRK und den nationalen Grundrechten hergeleitet wird, die Anwendbarkeit ausschließt. Dies will der Gerichtshof allerdings nur anerkennen, wenn diese Beschränkung eine zwingende oder immanente Folge der Freiheit wäre. Dies ist aber bei Transferregelungen wie der vorliegenden ersichtlich nicht der Fall. Der grenzüberschreitende Vorgang ist auf Grund eines Wechsels von Belgien nach Frankreich unproblematisch zu bejahen. Somit ist der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit eröffnet. Des Weiteren müsste eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs vorliegen. Für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit ist bereits seit langem anerkannt, dass sie nicht nur ein Diskriminierungsverbot, sondern auch ein allgemeines Beschränkungsverbot enthält.226 Dies ist hier relativ einfach festzustellen, da durch die Erforderlichkeit der Zahlung einer Transfersumme selbstverständlich ein Wechsel nicht unerheblich erschwert wird. In Betracht kommt allenfalls eine Rechtfertigung dieser Beeinträchtigung. Hierbei wird nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geprüft. Die von den Vereinen angegebenen Gründe, das Gleichgewicht der Vereine zu halten und die Förderung junger Spieler zu betreiben, sind legitime Zwecke. Die Maßnahmen müssten aber auch geeignet und erforderlich zur Erreichung dieser Zwecke sein. Der EuGH verneint hinsichtlich der Zielvorstellung des Gleichgewichts bereits die Geeignetheit. Auch bisher sei es gang und gäbe, dass die reichsten Vereine sich die besten Spieler leisten können und wirtschaftliche Aspekte daher auch über den sportlichen Erfolg mitentscheiden. Hinsichtlich der Förderung von jungen Spielern stellt der Gerichtshof die Überlegung an, dass es im Voraus gar nicht sicher sei, dass sich aus einem Talent ein guter Spieler entwickele, daher könnten solche Ausbildungsabgaben auch nicht wirksam zur Nachwuchsarbeit animieren. Daher sei wohl schon die Geeignetheit fraglich, jedenfalls sei die Maßnahme nicht erforderlich. Somit scheitert die Rechtfertigung. Die fragliche Regelung ist daher nicht mit Art 56 ff AEUV vereinbar.

225 EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave. 226 StRspr, zunächst bei EuGH, Slg 1974, 1299 ff – van Binsbergen.

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2. Die Kohärenz am Beispiel des Glücksspielrechts 132

Einige bedeutende und insbesondere auch in der Öffentlichkeit weithin beachtete Entscheidungen der letzten Jahre sind im Hinblick auf das Glücksspielrecht der Mitgliedstaaten (insbesondere Italien, Portugal und Deutschland) ergangen. Beispielhaft seien die Rechtssachen Gambelli227, Placanica ua228, Winnerwetten229, Markus Stoß230, Carmen Media231 und Hit Larix232 genannt. In diesen Urteilen entschied der EuGH jeweils über die Rechtmäßigkeit staatlicher Maßnahmen, welche die Dienstleistungs- bzw Niederlassungsfreiheit von Glücksspielanbietern und -vermittlern beeinträchtigten. Da im Folgenden das Gebot der kohärenten und systematischen Normgebung besprochen wird, soll zunächst ein kurzer Überblick über die Materie des Glücksspielrechts gegeben werden. a) Einführung in die Problematik des Glücksspielrechts aa) Festlegung des Schutzniveaus

133

Das Glücksspielrecht ist ein Rechtsgebiet, das durch kulturelle oder sittliche Maßstäbe traditionell national geprägt ist. Den Mitgliedstaaten wird durch den EuGH daher in diesem Bereich die Etablierung eines eigenen Schutzniveaus ermöglicht.233 Das bedeutet, dass die Mitgliedstaaten in der Wahl der Mittel und der damit verbundenen Bestimmung der Intensität der ua dienstleistungsfreiheitsbezogenen Restriktionen ein Entscheidungsspielraum zugebilligt wird. Die Staaten können grundsätzlich von einer vollkommenen Liberalisierung über ein Konzessionssystem bis zu einem Verbot der Tätigkeiten jede Maßnahme ergreifen. bb) Bestimmung der legitimen Ziele im Glücksspielrecht

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Zur Rechtfertigung der Beschränkungen der Glücksspieltätigkeiten werden in der Regel die folgenden Zwecke angeführt: Die Beschränkung der schädlichen Auswirkungen des Glücksspiels, die Bekämpfung der Ausweitung organisierter Kriminalität und der Verbreitung der Spielsucht sowie die Erzielung staatlicher Einnahmen. Die letztgenannten Einnahmen sollten sodann gemeinnützigen Zwecken zugeführt werden. Zwischen den Zielen besteht ein Interessengegensatz insofern, als eine Ausweitung der Einnahmen durch das Glücksspiel im Gleichschritt die Verwirklichung der anderen Ziele negativ beeinflusst, da sie in aller Regel durch eine Erhöhung der Spielerzahlen herbeigeführt wird. Dieser Konflikt wird insbesondere bei einer anreizsetzenden Werbung für das Glücksspielangebot eines Kontingentsinhabers oder eines staatlichen Monopolisten deutlich234: Glücksspiel-Werbung zielt gerade darauf ab, dass eine größere Zahl von Bürgern an dem

227 228 229 230 231 232 233 234

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EuGH, Slg 2003, I-13031 ff – Gambelli. EuGH, Slg 2007, I-7083 ff – Kommission/Italien. EuGH, Slg 2010, I-8015 ff – Winner Wetten. EuGH, Slg 2010, I-8069 ff – Stoß = JK 2011, AEUV Art 49/1. EuGH, Slg 2010, I-8149 ff – Carmen Media. EuGH, NVwZ 2012, 1165 – Hit Larix. Dederer EuZW 2010, 771, 773. Siehe hierzu EuGH, Slg 2010, I-8069, Rn 103 – Stoß = JK 2011, AEUV Art 49/1.

Dienstleistungsfreiheit

§ 11 V 2

Spiel teilnimmt und sich somit in die potentielle Gefahr einer Sucht begibt, was durch die Schaffung des Monopols gerade verhindert werden sollte. Hinsichtlich der Zielsetzung der getroffenen Maßnahmen wurde in der Rechtssache Schindler eine Einschränkung durch den EuGH vorgenommen. In dieser grundlegenden Entscheidung stellte er fest, dass eine Rechtfertigung, welche sich alleine auf fiskalische Interessen stützt, nicht ausreicht. Die Staaten müssten daher primär die Allgemeinwohlinteressen der Suchtbekämpfung und der Bekämpfung glücksspielbezogener Kriminalität verfolgen.235 Im Hinblick auf die Zielverfolgung durch ein derartiges Regelungssystem stellt der EuGH besondere Anforderungen, welche auch bei der Prüfung anderer Grundfreiheiten angewendet werden: In den ersten Urteilen zum Glücksspielrecht überprüfte der EuGH die Regelungen der Mitgliedstaaten auf ihre Ernsthaftigkeit; es wurde untersucht, welche Ziele die Staaten durch die Regelungen in Wirklichkeit verfolgten.236 In späteren Urteilen prüfte er dann umfangreicher: Die Zielverfolgung müsse systematisch und kohärent erfolgen.237 Dieses Kohärenzgebot in seiner aktuellen Ausprägung soll im Folgenden näher erläutert werden. b) Systematische Stellung des Kohärenzgebots Zu verorten ist das Kohärenzgebot nach einer Ansicht bei der Untersuchung des legitimen Zwecks einer Regelung, da der wahre Zweck der Regelung erörtert werde. Nach anderer Ansicht ist das Kriterium der Geeignetheit zuzuordnen. Der EuGH spricht in seinen Urteilen jeweils davon, dass die Maßnahmen geeignet sein müssten und erörtert sodann das Erfordernis einer kohärenten Normgebung.238 Eine Zuordnung zum Kriterium des legitimen Zwecks, wie sie vereinzelt vorgenommen wird,239 erscheint verfehlt, da die Geeignetheit einer Maßnahme immer dann in Frage zu stellen ist, wenn sie zur Zielerreichung nicht beitragen kann. In der Kontrolle des EuGH wird als Vorannahme das Ziel, welches durch den Mitgliedstaat verfolgt wird, festgelegt. Die Überlegung, ob das Ziel auch durch die Maßnahme verfolgt werden kann, kann nur im Anschluss an die vollendete Überlegung, welche Ziele durch die Maßnahme verfolgt werden, vorgenommen werden, zumal die Missbräuchlichkeit der Rechtfertigung einer Beschränkung bisher im Rahmen der Erörterung der Geeignetheit erfolgte.240 Die Vertreter einer dritten Ansicht hingegen sind der Auffassung, dass die Kohärenz einer beschränkenden Regelung eine eigenständige Schranken-Schranke in der Prüfung der Dienstleistungsfreiheit bzw aller Grundfreiheiten ist.241 Zwar werden zwei oder mehrere Maßnahmen eines Staates in die Betrachtung mit einbezogen, allerdings wird die Zweck-

235 EuGH, Slg 1994, I-1039, Rn 60 – Schindler. 236 EuGH, Slg 1999, I-6067, Rn 37 – Läärä = JK, 2000, EGV Art 49/2; Slg 1999, I-7289, Rn 35 – Zenatti. 237 EuGH, Slg 2003, I-1303, Rn 67 – Gambelli; Slg 2007, I-1891, Rn 53 – Placanica = JK 2007, EGV Art. 43/8. 238 ZB EuGH, Slg 2010, I-8069, Rn 88 – Stoß = JK 2011, AEUV Art 49/1; Slg 2003, I-13031, Rn 67 – Gambelli; Slg 2007, I-1891, Rn 53 – Placanica = JK 2007, EGV Art. 43/8. 239 Dederer NJW 2010, 198, 199 240 Siehe dazu oben Fn 188. 241 Lippert EuR 2012, 90, 93.

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förderung durch die die Grundfreiheit beschränkende Maßnahme erörtert. Im Gesamtzusammenhang der Regelungen eines Staates, welche einen spezifischen Bezug zu der Zielverfolgung aufweisen, kann dann die Verfolgung des Zieles gerade nicht mehr als ernsthaft erscheinen. Die Geeignetheit der Maßnahme an sich, kann aufgrund der anderen Maßnahmen einer normgebenden Institution in Zweifel gezogen werden, da die Verfolgung des Zieles nur noch als ein Vorwand erscheint. Im Ergebnis überzeugt die dritte Ansicht daher nicht, welche im Kohärenzgebot eine eigenständige Schranken-Schranke sieht. In systematischer Hinsicht ist eine Zuordnung zum Kriterium der Geeignetheit vorzunehmen. c) Inhalt aa) Überblick 136

Bei der Frage, ob eine Regelung ein Ziel kohärent verfolgt, ist stets das Verhalten der zB normgebenden Institution in einem weiten Blickfeld zu betrachten. Neben der zu überprüfenden Regelung muss im Rahmen der Prüfung auf Regelungen in einem anderen Sachgebiet abgestellt werden. Im Hinblick auf die zweite oder generell andere Handlungen muss geprüft werden, ob sie sich mit demselben Komplex befassen und Auswirkungen auf das verfolgte Ziel haben. Sodann ist anhand der Wirkung der Regelungen zu überpüfen, ob die Verfolgung des Zieles ernsthaft betrieben wird. bb) Materiellrechtlicher Gehalt (1) Staatlicher Entscheidungsspielraum

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Die Kontrolle der Kohärenz eines Regelungssystems durch den EuGH erfolgt zur Überprüfung, ob das Ziel, welches der Staat zur Rechtfertigung einer Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit angibt verfolgen zu wollen, auch wirklich verfolgt wird. Grundlage einer derartigen Prüfung ist somit die Existenz eines national geprägten Regelungssystemes.242 Im Bereich des Glückspielrechts räumt der EuGH den Mitgliedstaaten ein Ermessen bei der Wahl der Mittel ein. Grundlage dieses Zugeständnisses war die Überlegung, dass die Neigung der Bürger zum Glücksspiel und die sich aus dieser ergebenden Gefahren für die Bevölkerung unterschiedlich stark in den einzelnen Mitgliedstaaten ausgeprägt seien.243 Aufgrund der Gewährung dieses Freiraums wurde auf nationaler Ebene ein Regelungssystem etabliert. Ebenfalls im Bereich des Gesundheitssektors besteht ein ähnlicher Ermessensspielraum.244 Ein solcher kann weiterhin bestehen, wenn Harmonisierungsverbote auf einem bestimmten Gebiet bestehen, wie das des Art 153 Abs 5 AEUV245 oder im Falle eines Rechtfertigungstatbestandes für die Beschränkung von Grundfreiheiten. Diese weiten Entscheidungsspielräume sind letztlich ein Ausdruck der kompetenzrechtlichen Verteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten.

242 243 244 245

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Frenz EuR 2012, 344, 347. EuGH, Slg 2009, I-7633, Rn 57 – Liga Portuguesa = JK 2010, EGV Art 49/19. EuGH, Slg 2009, I-1721, Rn 55 – Hartlauer. Frenz EuR 2012, 344, 346.

Dienstleistungsfreiheit

§ 11 V 2

Die Grenze, an der ein derartiges Regelungssystem gemessen werden muss, ist insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.246 Jeder Staat kann somit ein eigenes Schutzniveau etablieren. Als Konsequenz aus diesem Zugeständnis ist die glücksspielrechtliche Erlaubnis eines anderen Staates der EU zugunsten eines Glücksspielanbieters für den regelnden Staat nicht bindend. Somit ist das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auf diesem Gebiet nicht anwendbar.247 Das Kriterium der Kohärenz dient somit der Kontrolle mitgliedstaatlicher oder unionaler Entscheidungen im Rahmen eines Ermessensspielraums.

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(2) Vergleichsmaßstab Bei der Betrachtung des Regelungssystems ist auf den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Rechtsgebieten einzugehen. Es muss eine innerere Verbindung zwischen den Normierungen in der Gestalt bestehen, dass sie derselben Regelungsmaterie zugeordnet werden können.248 Zunächst hatte der EuGH die Kontrolle in einer vertikalen Betrachtung vorgenommen und nur Regelungen im Hinblick auf ein bestimmtes Gebiet der Glücksspiele betrachtet.249 In der Rechtssache Carmen Media wurde die Frage aufgeworfen, ob auch der Vergleich zwischen zwei unterschiedlichen Bereichen des Glücksspiels möglich sei. Der EuGH entschied, dass eine staatliche Aufspaltung in zwei verschiedenene Sachgebiete anhand beliebiger Gesichtspunkte für die Betrachtung der Kohärenz irrelevant sei: So verglich er in der Entscheidung Glücksspielautomaten, welche in Gaststätten oä aufgestellt wurden (Glücksspiel im weiteren Sinne) mit dem Glücksspiel in Gestalt einer Lotterie (Glücksspiel im engeren Sinne). Das Glücksspiel im weiteren Sinne unterscheidet sich von dem Glücksspiel im engeren Sinne dadurch, dass es ein gewisses Maß an Geschicklichkeit neben der Glückskomponete erfordert. Diese beiden Gebiete des Glückspiels unterfallen in Deutschland zwei unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen.250 Der Vergleich wurde trotz der unterschiedlichen rechtlichen Entwicklung der beiden Sachgebiete und der geringfügigen Unterscheidung hinsichtlich der Ausgestaltung der Glücksspiele angestellt. In dem Vergleich stellte der EuGH sodann fest, dass die Restriktionen, welche auf dem Gebiet des Glücksspiels im weiteren Sinne bestanden, einer Erosion ausgesetzt gewesen seien, wohingegen die Regelungen zum Glücksspiel im engeren Sinne eine Verschärfung erfahren hätten.251 Sodann erklärte er, die Regelung auf dem Gebiet des Glücksspiels im engeren Sinne, welche ein Sportwettenmonopol etablierte, verfolge das Ziel der Verminderung der schädlichen Folgen des Glückspiels nicht in kohärenter Art und Weise. Anhand dieses Beispiels kann für die Geltung des Kohärenzgebots festgestellt werden, dass es auch in einer horizontalen Betrachtung der geregelten Sachgebiete eines Staates bzw. einer Institution gilt. Es werden nicht nur der geregelte Sektor, sondern auch die

246 247 248 249

EuGH, Slg 1999, I-6067, Rn 39 – Läärä = JK 2000, EGV Art 49/2. EuGH, Slg 2010, I-8069, Rn 112 – Stoß = JK 2011, AEUV Art 49/1. Frenz GF, Rn 3341. So im Fall der Werbung für das Glücksspielangebot eines Monopolinhabers EuGH, Slg 2010, I- 8069, Rn 103 – Stoß = JK 2011, AEUV Art 49/1. 250 EuGH, Slg 2010, I-8149, Rn 67 ff – Carmen Media. 251 EuGH, Slg 2010, I-8149, Rn 68 – Carmen Media.

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Rechtsgebiete, welche die gleiche Relevanz für die Erreichung des Ziels aufweisen, überpüft. Insoweit wird eine staatliche Differenzierung irrelevant. Die zu untersuchenden Sachgebiete müssen somit für die Verwirklichung der Zielvorgaben relevant sein. (3) Bewertung der unterschiedlichen Maßnahmen im Hinblick auf ihre Kohärenz 141

Sodann nimmt der EuGH eine konkrete Bewertung der unterschiedlichen Maßnahmen im Hinblick auf die mit ihnen verfolgten Ziele vor. Das Verdikt der Inkohärenz trifft eine Beschränkung der Grundfreiheiten dann, wenn in der Zusammenschau der geregelten Sachgebiete die Rechtfertigung der Beschränkung unter der Berufung auf ein eigentlich legitimes Ziel fragwürdig erscheint. Der Indikator für die Entscheidung dieser Frage ist die Überprüfung, ob die getroffenen Maßnahmen sich gegenseitig nachteilig beeinträchtigen. Anhand des Ergebnisses dieser Kontrolle kann sodann die Kohärenz der Maßnahmen festgemacht werden. Bei dieser Prüfung werden jeweils die einzelnen getroffenen Maßnahmen durch den Staat, wie zum Beispiel die Errichtung eines Monopols in ihrer Wirkung auf die jeweils mit ihnen verfolgten Ziele gesondert bewertet.252 Die Kohärenz ist somit ein Kriterium, welches die „Wahrhaftigkeit“253 der Verfolgung eines Ziels beurteilen lässt. In aller Regel wurden im Bereich der Grundfreiheiten verdeckt protektionistische Maßnahmen als nicht gerechtfertigt beurteilt. Am Beispiel des Glücksspielrechts in Deutschland stellte der EuGH in der Rechtssache Markus Stoß fest, dass das Ziel der Verminderung der Teilnehmerzahlen an Glücksspielen nicht in kohärenter Art und Weise verfolgt werde, wenn die Monopolanbieter in anreizsetzender Art und Weise für ihr Angebot werben.254 Der Mitgliedstaat wollte in diesem Fall durch eine Monopolisierung den Glücksspielmarkt verkleinern und die Spielmöglichkeiten kanalisieren. Die Werbung, die einen Anreiz zum Spielen setzt, würde jedoch die Zahl der Spieler erhöhen, da sie nicht bloß informiert, sondern auch nicht dem Spiel zugewandte Personen zu diesem verleitet. Die Handlungen der Mitgliedstaaten müssen in der Gesamtschau ein stimmiges Bild ergeben, dh aufgrund der Betrachtung muss die Verfolgung des Ziels als ernsthaft und konsequent erscheinen. (4) Berücksichtigung der tatsächlichen Auswirkungen

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Der Gerichtshof ist in seiner Bewertung bestrebt, die tatsächlichen Folgen einer derartigen Regelung zu untersuchen und diese in die Beurteilung mit einfließen zu lassen.255 Die Bewertung des Regelungssystems muss deshalb in der Betrachtung der Verhältnisse zum aktuellen Zeitpunkt erfolgen (ex-post Betrachtung).256 In der Regel überträgt der EuGH die Kontrolle, ob die Anwendungsmodalitäten eine kohärente Verfolgung des Zieles nahelegen, zwar den jeweiligen nationalen Gerichten,257 allerdings werden die Gerichte zur Kontrolle der aktuellen Anwendung der Regeln aufgefordert. Die Kontrolle 252 253 254 255 256 257

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EuGH, Slg 2007, I-1891, Rn 49 – Placanica = JK 2007, EGV Art. 43/8. Schorkopf DÖV 2011, 260, 261 f. EuGH, Slg 2010, I-8069, Rn 103 – Stoß = JK 2011, AEUV Art 49/1. Schorkopf DÖV 2011, 260, 261. EuGH, NVwZ 2012, 1162 ff, Rn 44 – SIA Garkalns. Frenz DVBl 2011, 1130, 1132; EuGH, NVwZ 2012, 1162, Rn 44 – SIA Garkalns.

Dienstleistungsfreiheit

§ 11 V 3

wird somit auch auf die bei der Gesetzgebung eventuell nicht vorhersehbaren Folgen ausgedehnt. cc) Inkohärente Zielverfolgung Wenn der Staat ein Ziel mit einer Regelung in nicht kohärenter Art und Weise verfolgt, kann er sich zur Rechtfertigung der Beschränkung nicht mehr auf dieses Ziel berufen.258 Eine Berufung auf andere Ziele bleibt den Mitgliedstaaten dennoch offen. Die Inkohärenz einer Maßnahme wird somit stets nur im Bezug auf die Verfolgung eines einzelnen Zieles festgestellt. Im Ergebnis wird eine Vorschrift daher nicht unmittelbar aufgrund der Inkohärenz im Hinblick auf ein einzelnes Ziel für mit den Grundfreiheiten unvereinbar erklärt, sondern nur dann, wenn mit ihr auch kein anderes Ziel rechtmäßig verfolgt werden kann.

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d) Zusammenfassung In der Rechtsprechung des EuGH erfolgt die Kontrolle der Kohärenz, unabhängig von ihrem Prüfungsort, um die Rechtfertigung einer staatlichen Maßnahme zu überprüfen.259 Das Ziel derselben ist die Überprüfung, ob das von den Mitgliedstaaten angestrebte Ziel durch die Beschränkung der Grundfreiheit wirklich gefördert werden soll. Die Rechtsfolge der Feststellung einer inkohärenten Zielverfolgung wirkt sich nur auf die Möglichkeit der Rechtfertigung der Beschränkung im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel aus.

3. Weitere bedeutende Entscheidungen des EuGH Darüber hinaus hat der EuGH in zwei weiteren Bereichen, nämlich im Steuerrecht und im Arbeitsrecht, weitere grundsätzlich bedeutsame Entscheidungen zur Dienstleistungsfreiheit erlassen. Zum Steuerrecht ergingen in den letzten Jahren mehrere Entscheidungen,260 die nunmehr auch das nationale Steuerrecht erheblich beeinflussen. Dabei stellte der EuGH ausdrücklich klar, dass grundsätzlich Steuern und Abgaben Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit darstellen.261 Im Falle der Einbehaltungspflicht von Steuerbeträgen, welche für eine von einem nicht ansässigen Dienstleister erbrachte Dienstleistung erhoben wurde, stellte er dies aufgrund des zusätzlichen Verwaltungsaufwands und der Haftungsrisiken fest.262 In dieser Sachverhaltskonstellation musste der Dienstleistungsempfänger die zu zahlenden Steuerbeträge einbehalten und direkt abführen. Die Beschränkung wurde jedoch als gerechtfertigt angesehen, da eine effektive und sichere Steuererhebung auf eine weniger belastende Art und Weise nicht möglich erschien.

258 EuGH, Slg 2007, I-1891, Rn 57 – Placanica = JK 2007, EGV Art. 43/8. 259 Lippert EuR 2012, 90, 93. 260 EuGH, Slg 2007, I-12231 ff – Jundt; Slg 2007, I-6957 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2007, I-1425 ff – Centro Equestre da Lezivia Grande; Slg 2006, I-10653 ff – Kommission/Belgien; Slg 2006, I-9461 ff – FKP Scorpio Konzertproduktionen; Slg 2006, I-5843 ff – von de Coevering; Slg 2005, I-7723 ff – Mobistar u Belgacom Mobile; Slg 2011, I-9879 ff – Kommission/Deutschland. 261 So ausdrücklich bereits EuGH, Slg 2005, I-7723 ff – Mobistar u Belgacom Mobile. 262 EuGH, IStR 2013, 26, Rn 34 – X NV.

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In einer weiteren Entscheidung erklärte der EuGH die Steuerbefreiung, welche nur für Zinsen, die von gebietsansässigen Banken gewährt wurden, galt, für diskriminierend und stellte somit einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit fest.263 Nach den ergangenen Entscheidungen ist das Steuerrecht keine Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit, solange es sich unterschiedslos auf alle Marktteilnehmer erstreckt,264 im Übrigen sind entsprechende zwingende Gründe des Allgemeininteresses für eine Rechtfertigung erforderlich.265 Hinsichtlich der Nachforderung von hinterzogenen Steuern entschied der EuGH, dass eine Nachforderung für den Fall, dass Anhaltspunkte für die Existenz von Steuergegenständen in einem anderen Mitgliedstaat bestehen, nur unter Berücksichtigung der Fristen, welche bei einem Auskunftsverfahren, wie es die Richlinie 77/799/EWG ermöglicht, erfolgen darf.266 Zur konkreten Länge der Fristen traf der EuGH keine Aussagen. Die Entscheidungen zum Arbeitsrecht betreffen insb das Recht der Arbeitnehmerentsendung.267 Dabei wurde deutlich, dass die Mitgliedstaaten nach wie vor versuchen, ihre Arbeitsmärkte durch reglementierende Regelungen vor dem Zustrom entsandter Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten zu schützen. Hier hat der EuGH Genehmigungsverfahren,268 Beschränkungen der staatlichen Auftragsvergabe269 und nationale Streikregelungen, die ausländische Unternehmen wesentlich schlechter als ihre nationalen Mitbewerber stellen,270 als Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit angesehen. Bei diesen Beschränkungen sind zur Rechtfertigung wiederum zwingende Gründe des Allgemeinwohls erforderlich, an deren Vorliegen der EuGH durchgängig hohe Anforderungen stellt.271 Weiterhin befasste sich der EuGH mit dem Erfordernis der Anmeldung der Entsendung eines Arbeitnehmers und der Aufbewahrung von Dokumenten durch den Entsender. Der EuGH stellte fest, dass es sich bei den Erfordernissen um Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit handele.272 Er sah das Erfordernis einer Anmeldung, wie auch das der Aufbewahrung der Unterlagen als durch den Schutz der entsendeten Arbeitnehmer gerechtfertigt an. Hinsichtlich der Entsendung von Arbeitnehmern erging ebenfalls eine Entscheidung des EuGH bezüglich des Erfordernisses einer Berufsausübungserlaubnis, wie sie in den Niederlanden für die Beschäftigung von Arbeitnehmern, welche aus Polen entsandt wurden, notwendig war. Der EuGH entschied, dass dieses Erfordernis mit den Grundfreiheiten vereinbar sei. Grundlage dieser Entscheidung war die Überlegung, dass die Mitgliedstaaten nach Anhang XII Kapitel 2 Nr 2 der Beitrittsakte 2003 den Zugang von Arbeitnehmern aus Polen zu ihrem Arbeitsmarkt beschränken können. Derartige Be-

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EuGH, IStR 2013, 503 – Kommission/Belgien. EuGH, Slg 2005, I-7723 ff – Mobistar u Belgacom Mobile. Vgl zum Steuerrecht insg Kokott/Henze BB 2007, 913. EuGH, Slg 2009, I-5093, Rn 74 ff – X u Passenheim-van Schoot. EuGH, Slg 2008, I-1989 ff – Rüffert; Slg 2007, I-11767 ff – Laval; Slg 2007, I-181 ff – ITC = JK 2007, EGV Art 39/6; Slg 2006, I-9041 ff – Kommission/Österreich; Slg 2006, I-885 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2005, I-2733 ff – Kommission/Deutschland. EuGH, Slg 2006, I-885 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2006, I-9041 ff – Kommission/Österreich. EuGH, Slg 2008, I-1989 ff – Rüffert. EuGH, Slg 2007, I-11767 ff – Laval. Vgl zum Arbeitsrecht insg Buchner BB Beilage 2008, Nr 004, 6. EuGH, Slg 2010, I-9133, Rn 35 ff – Santos Palhota.

Dienstleistungsfreiheit

§ 11 V 3

schränkungen der Mitgliedstaaten wären für die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Anhang XII Kapitel 2 Nr 2 der Beitrittsakte 2003 rechtmäßig.273 Der EuGH wandte diese Ausnahmevorschrift jedoch auch auf den Fall der Entsendung von Arbeitnehmern an, welche von der Dienstleistungsfreiheit gewährleistet wird. Die Interessenlage sei in beiden Fällen die gleiche, da die Entsendung von Arbeitnehmern die gleichen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt habe, wie die direkte Beschäftigung der Arbeitskräfte.274

273 EuGH, Slg 2011, I-453, Rn 26 – Vicoplus. 274 EuGH, Slg 2011, I-453, Rn 31 – Vicoplus.

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§ 12 Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs Peter von Wilmowsky Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1995, I-361 ff – Bordessa (Genehmigungspflicht Spaniens für die Ausfuhr von Bargeld und Inhaberschecks); Slg 1999, I-3099 ff – Konle (Beschränkungen des Landes Tirol für den Grundstücksverkehr); Slg 2000, I-4071 ff – Verkooijen (Besteuerung der Dividenden ausländischer Kapitalgesellschaften in den Niederlanden); Slg 2002, I-4781 ff – Kommission/Frankreich (Genehmigungserfordernisse für die Beteiligung an einem privatisierten Unternehmen ElfAquitaine und für die Veräußerung von Tochtergesellschaften dieses Unternehmens); Slg 2007, I-8995 ff – Kommission/Deutschland (VW-Gesetz) = JK 2008, EGV Art 56/5; Slg 2009, I-9021 ff – Woningstichting Sint Servatius (kommunale Beschränkungen des Grundstückserwerbs durch Ortsfremde). Schrifttum: Armbrüster „Golden Shares“ und die Grundfreiheiten des EG-Vertrags, JuS 2003, 224 ff; Dautzenberg Die Kapitalverkehrsfreiheit des EG-Vertrags und die direkten Steuern, StuB 2000, 720 ff; Glöckner Grundverkehrsbeschränkungen und Europarecht, EuR 2000, 592 ff; Lippert Der EuGH und die Goldenen Aktien, Jura 2009, 342; Streinz Kapitalverkehrs- und Zahlungsverkehrsfreiheit, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd VI/1, 2010, § 154

1

Wie die anderen Grundfreiheiten tragen die Freiheit des Kapitalverkehrs (Art 63 I AEUV) und die Freiheit des Zahlungsverkehrs (Art 63 II AEUV) dazu bei, den gemeinsamen Binnenmarkt zu errichten (Art 26 II AEUV). Sie verlangen die Beseitigung sämtlicher Beschränkungen, die sich nicht durch höherrangige Belange des Allgemeinwohls rechtfertigen lassen.

I. Schutzbereich 1. Kapitalverkehr 2

Um den Geltungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit abzustecken, muss man klären, was „Kapital“ ist. Allgem werden hierunter Vermögenswerte verstanden.1 Will man dies juristisch präzisieren, so erstreckt sich der Kapitalbegriff auf alle vermögenswerten Rechte. Als Gegenstände, an denen diese Rechte bestehen können, kommen Sachen, Forderungen und sonstige Rechte in Betracht. Erfasst werden demnach Rechte an Bargeld, Grundstücken, beweglichen Sachen, Zahlungsansprüchen und anderen Leistungsansprüchen, Gesellschaftsanteilen, Wertpapieren, Immaterialgütern (wie Urheberrechten, Patenten, Gebrauchsmustern, Geschmacksmustern, Marken und Geschäftsbezeichnungen) sowie an (handelbaren) Rechten zur Emission von Schadstoffen. Kapitalverkehr ist der Verkehr mit diesen Rechten, dh sowohl deren Begr als auch deren Übertragung.2 Welche Bandbreite

1 Vgl zB aus der Rspr: EuGH, Slg 1995, I-361, Rn 13 – Bordessa. Aus der Gesetzgebung: RL 88/361, Anhang I, vor Rubrik I. (Zur Bedeutung dieser RL s u Rn 7.) Aus dem Schrifttum: Kiemel in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 1. 2 Der EuGH beschreibt Kapitalverkehr als „Transfer von Vermögenswerten“. S etwa Slg 1995, I-361, Rn 13 – Bordessa. In den Kommentaren und Lehrbüchern wird Kapitalverkehr häufig mit „Wertübertragungen“ umschrieben. S etwa Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/ AEUV, Art 63 AEUV Rn 112.

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Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs

§ 12 I 1

der Kapitalverkehr einnimmt, veranschaulichen die folgenden Transaktionen: die Verbringung oder die Übertragung von Bargeld;3 Devisengeschäfte (dh der Erwerb eines Geldbetrags einer fremden Währung); die Begebung von Schecks und Wechseln; der Erwerb von Grundstücken;4 das Vermieten oder Verpachten von Gegenständen (dh von Sachen oder Rechten);5 die Übertragung von Gesellschaftsanteilen; Wertpapiergeschäfte (wie etwa die Ausgabe von und der Handel mit Aktien und Schuldverschreibungen); der Erwerb von Anteilen an Investmentfonds; Termingeschäfte; der Erwerb von Unternehmen durch den Erwerb der Vermögensgegenstände („asset deal“) oder der Gesellschaftsanteile („share deal“)6 die Erbringung einer Kapitaleinlage bei der Gründung einer Gesellschaft;7 die Gewährung von Darlehen;8 die Einzahlung von Spareinlagen und andere Formen der Geldanlage;9 die Versicherung von Risiken;10 die Begr von Forderungen;11 die Abtretung von Forderungen (und damit das Factoring); das Veranstalten von Glücksspielen;12 die Bestellung von Sicherungsrechten;13 die Übernahme von Bürgschaften;14 oder der Beitritt

3 S etwa die Rs Bordessa: Herr Bordessa, ein italienischer Staatsbürger, hatte 50 Millionen spanische Peseta (heute ca 300.000 €) an verschiedenen Stellen seines Kraftfahrzeugs versteckt, um sie von Spanien nach Frankreich zu bringen. Damit verletzte er die Genehmigungspflicht, die in Spanien für die Ausfuhr von Banknoten damals bestand. Der EuGH erklärte die Genehmigungspflicht für unvereinbar mit der Freiheit des Kapitalverkehrs. 4 EuGH, Slg 1999, I-3099, Rn 22 – Konle; Slg 2000, I-5965, Rn 14 – Albore; Slg 2005, I-10309, Rn 39 – Burtscher; Slg 2007, I-1129, Rn 22 f – Festersen = JK 2007, EGV Art 56 I/3; Slg 2009, I-9021, Rn 21 – Woningstichting Sint Servatius; EuZW 2013, 507, Rn 44 – Libert. 5 Anders die überwiegende Auffassung, etwa Tiedje/Troberg in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 50 EGV Rn 28 (Dienstleistung). 6 RL 88/361, Anhang I, Rubrik I. 7 Im Fall EuGH, Slg 1993, I-487 ff – Veronica, hatte ein niederländisches Rundfunkunternehmen, welches als nichtkommerzielles Unternehmen öffentliche Fördergelder erhielt, mit diesen Mitteln in Luxemburg ein kommerzielles Rundfunkunternehmen gegründet, um dort Sendungen zu produzieren, die per Kabel in den Niederlanden verbreitet werden sollten. Gegen dieses Verhalten verhängte die zuständige Behörde der Niederlande Bußgelder und andere Sanktionen. 8 Schlussanträge GAin Stix-Hackl, EuGH, Slg 2006, I-9521, Rn 41–75 – Fidium Finanz = JK 2007, EGV Art 49/16; RL 88/361, Anhang I, Rubriken VII und VIII; vgl allerdings EuGH, Slg 1995, I-3955, Rn 10 f – Svensson (auch Dienstleistung); Slg 1997, I-3899, Rn 17 – Parodi (auch Dienstleistung). Anders Slg 2006, I-9521, Rn 36–50 – Fidium Finanz (Vorrang der Dienstleistungsfreiheit) = JK 2007, EGV Art 49/16. 9 Roth in: HdBEUWirtschR, Kap E I Rn 148. 10 Siehe Kotzur in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/EGV, Art 58 AEUV Rn 5: Die Begr des Anspruchs aus dem Versicherungsvertrag ist als Kapitalverkehr anzusehen. Die überwiegende Rechtsmeinung schätzt Versicherungen zugleich als Dienstleistungen ein; Nachweise auf die diesbzgl EuGH-Rspr bei Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 57 AEUV Rn 48. 11 S Müller Kapitalverkehrsfreiheit in der Europäischen Union, 2000, 156. Anderer Auffassung insoweit Ohler WM 1996, 1801, 1805. 12 Anders EuGH, Slg 1994, I-1039, Rn 30 – Schindler (Dienstleistung). 13 EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 19–24 – Trummer; RL 88/361, Anhang I, Rubrik IX; v Wilmowsky Europäisches Kreditsicherungsrecht, 1996, 77–93. Anderer Auffassung noch Schlussanträge GA La Pergola, EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 10 – Trummer. 14 OLG Düsseldorf, WM 1995, 1993. Anderer Auffassung Mankowski WuB VII A. § 108 ZPO 1.96 (Dienstleistung).

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Peter von Wilmowsky

zu fremden Verbindlichkeiten.15 Auch im persönlichen Bereich finden vielfältige Kapitalbewegungen statt, wie etwa bei Schenkungen, Erbschaften und Vermächtnissen.16 Der Schutz der EU-Kapitalverkehrsfreiheit erstreckt sich dabei auf sämtliche Handlungen, die erforderlich sind, um die Transaktion durchzuführen.17 Aus zivilrechtlicher Sicht gehören dazu sowohl die Verpflichtungs- als auch die Verfügungsgeschäfte. Die Kapitalverkehrsfreiheit nach moralischen oder anderen Werten einzugrenzen (und zB Kapitalbewegungen zum Zweck der Spekulation auszugrenzen),18 ist nicht geboten.

2. Grenzübertritt 3

Damit ein Kapitalverkehr den Schutz des Art 63 AEUV erhält, muss er eine Staatsgrenze kreuzen; innerstaatlicher Kapitalverkehr liegt außerhalb des Schutzbereichs. Der Grenzübertritt kann auf verschiedenen Wegen erfolgen. Erstens kann das Kapital (dh das Vermögensrecht) den Ort seiner Belegenheit ändern und dabei eine Grenze überqueren. Anschaulich sind die Fälle, in denen Bargeld über die Grenze gebracht wird.19 Aber auch andere Kapitalformen können ihren Lageort wechseln. Forderungen zB gelten als dort belegen, wo ihr Schuldner seinen Sitz hat.20 Zieht der Schuldner von Staat A nach Staat B, bewegt sich der Lageort der Forderung über die Grenze. Entspr gilt für GmbH-Geschäftsanteile, wenn der Sitz der GmbH von A nach B verlegt wird. Bei Inhaberpapieren wie etwa Inhaberaktien ist der Ort des Papiers der Lageort. Mithin wird durch ihre grenzüberschreitende Verbringung ein grenzüberschreitender Kapitalverkehr bewirkt. Das Sicherungsrecht (wie zB Sicherungseigentum), das an einer beweglichen Sache besteht, überschreitet die Grenze, wenn die Sache in einen anderen Staat gebracht wird. Die zweite Möglichkeit liegt darin, dass der Inhaber des Kapitals wechselt. Dabei wird eine Staatsgrenze gewiss dann überschritten, wenn der Veräußerer das vermögenswerte Recht einem Erwerber überträgt, der in einem anderen Staat ansässig ist. Man denke etwa an die Übereignung eines Grundstücks zwischen Ansässigen verschiedener Staaten oder an einen grenzüberschreitenden Vermögensübergang durch Erbfolge. Die Übertragung von Kapital kann eine Ländergrenze aber auch in einer weiteren Form überschreiten. Angesprochen sind die Fälle, in denen Veräußerer und Erwerber in demselben Staat sitzen und sich der Auslandsbezug allein daraus ergibt, dass der übertragene Vermögensgegenstand in einem anderen Staat belegen ist. Als Beispiele stelle man sich vor, dass ein in Deutschland lebender Veräußerer sein in Österreich gelegenes Grundstück einem gleichfalls in Deutschland lebenden Erwerber verkauft und übereignet oder dass ein deutscher Darlehensnehmer seiner deutschen Bank anbietet, Wertpapiere, die er in einem Luxemburger

15 Siehe EuGH, Slg 2000, I-1335 ff – Scientologie: Den Hintergrund dieses Verfahrens bildete ua der Versuch der britischen Scientology-Kirche, die gesamten Schulden der französischen Kirche zu begleichen. Nach dem damaligen französischen Recht benötigte diese ausländische Investition eine Genehmigung, die von der zuständigen französischen Behörde aber verweigert wurde. S Schlussanträge GA Saggio, EuGH, Slg 2000, I-1334, Rn 8 – Scientologie. 16 RL 88/361, Anhang I, Rubrik XI; zu fremdnützigen Vermögenstransfers als Anwendungsfall der Kapitalverkehrsfreiheit s a v Hippel EuZW 2005, 7 ff. 17 RL 88/361, Anhang I, vor Rubrik I. 18 Hierfür treten Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 63 AEUV Rn 113, ein. 19 Siehe die Sachverhalte der EuGH-Urteile, Slg 1995, I-361, Rn 32–35 – Bordessa, und Slg 1995, I-4821, Rn 40–48 – Sanz de Lera. 20 Vgl etwa § 23 S 2 ZPO.

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Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs

§ 12 I 3

Depot verwahrt, als Sicherheit zu übertragen. In dieser Konstellation bleibt der durch die Übertragung ausgelöste Kapitalverkehr insofern auf einen Staat beschränkt, als Kapital von einem Inländer auf einen anderen Inländer übergeht. Gleichwohl sollte die EU-Kapitalverkehrsfreiheit auch hier Schutz gewähren. Dafür spricht ihr Regelungszweck. Sie soll sämtlichen Vermögenswerten die Grenzen öffnen. Dazu gehört auch, dass ein Inländer über einen in einem anderen Staat belegenen Vermögensgegenstand ebenso verfügen können muss wie über einen inländischen Gegenstand. Bei der überschrittenen Grenze muss es sich um eine Grenze zwischen zwei Mitgliedstaaten oder zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat handeln (Art 63 AEUV). Die Kapitalverkehrsfreiheit ist damit die einzige Grundfreiheit, die nicht nur den unionsinternen, sondern auch den Verkehr mit Drittstaaten vor ungerechtfertigten Einschränkungen (durch die Mitgliedstaaten oder die Union) schützt. So könnte sich zB ein Russe, der von einem Amerikaner ein Grundstück in Deutschland erwirbt, gegenüber deutschen oder EU-rechtlichen Regelungen, die diese Transaktion einschränken, auf den Schutz des Art 63 I AEUV berufen. Kapitalanlegern aus Drittstaaten soll damit die Gewähr gegeben werden, ihre Anlage in der EU jederzeit wieder auflösen und die Erträge rückführen zu können.

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3. Zahlungsverkehr Einen bes rechtlichen Status besitzen diejenigen Kapitalübertragungen, die zur Bezahlung einer Leistung erfolgen. Der AEU-Vertrag gliedert sie aus dem Kapitalverkehr aus und erfasst sie stattdessen als Zahlungsverkehr (Art 63 II AEUV). Maßgeblich ist der Zweck der Kapitalbewegung. Wird Bargeld übereignet, eine Überweisung durchgeführt, ein Scheck ausgestellt oder ein Wechsel angenommen, um damit eine Leistung (wie etwa die Lieferung einer Sache oder eines Wertpapiers oder die Erbringung einer Dienstleistung) zu bezahlen, handelt es sich um Zahlungsverkehr.21 Zahlungen erhalten einen speziellen Grundfreiheitsschutz, der über den Schutz des Kapitalverkehrs teilweise hinausgeht. Einige Beschränkungsmöglichkeiten, die beim Kapitalverkehr bestehen, gelten nicht für den Zahlungsverkehr. Der Grund dieser Besserstellung liegt darin, dass grenzüberschreitende Zahlungen nicht selten für Leistungen erfolgen, die ihrerseits unter dem Schutz anderer Grundfreiheiten (etwa des freien Warenverkehrs oder der freien Dienstleistungserbringung) stehen und die daher nicht an Einschränkungen scheitern sollen, die der AEUV für den Kapitalverkehr (in den Art 64 AEUV und 66 AEUV), nicht jedoch bei den anderen Grundfreiheiten erlaubt. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Schutz des Art 63 II AEUV auf Zahlungen für solche Leistungen beschränkt wäre, die unter dem Schutz einer Grundfreiheit stehen. Er gilt vielmehr für jede grenzüberschreitende Zahlung.22 Ist zB der Kaufpreis für eine Warenlieferung innerhalb Deutschlands auf das Konto des Verkäufers bei einer Bank in der Schweiz zu zahlen, greift die Gewährleistung des Art 63 II AEUV

21 EuGH, Slg 1984, 377, Rn 21 f – Luisi: „Der Transfer von Banknoten kann … nicht als Kapitalverkehr angesehen werden, wenn diesem Transfer eine Zahlungsverpflichtung entspricht … .“; aus dem Schrifttum siehe Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 63 AEUV Rn 238; Ohler Europäische Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, 2002, Art 56 Rn 320. 22 Haag in: Bieber/Epiney/Haag, EU, § 11 Rn 150; Haferkamp Die Kapitalverkehrsfreiheit im System der Grundfreiheiten des EG-Vertrags, 2006, 41. Anderer Auffassung zB Kemmerer Kapitalverkehrsfreiheit und Drittstaaten, 2010, 123 f; Sedlaczek/Züger in: Streinz, EUV, AEUV, Art 63 AEUV Rn 25.

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§ 12 II

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ein. Zahlungen, die die Gegenleistung zu einem grenzüberschreitenden Waren-, Dienstleistungs-, Kapital-, Niederlassungs- oder Arbeitsverkehr darstellen, nehmen zum einen am Schutz der für die Hauptleistung bzw Haupttätigkeit geltenden Grundfreiheit (Art 34 f AEUV, Art 56 AEUV, Art 63 I AEUV, Art 49 AEUV bzw Art 45 AEUV) teil und werden zum anderen nach Art 63 II AEUV geschützt.23

II. Beschränkungsverbot 6

Der AEU-Vertrag gewährleistet die Freiheit des Kapitalverkehrs und des Zahlungsverkehrs, indem er alle ungerechtfertigten Beschränkungen verbietet (Art 63 I und II AEUV). Dieses Verbot erfasst nicht nur diskriminierende Regelungen, die den grenzüberschreitenden Kapital- bzw Zahlungsverkehr (offen oder versteckt) stärker einengen als den innerstaatlichen. Vielmehr erstreckt es sich auf Maßnahmen, die unterschiedslos für grenzüberschreitende wie innerstaatliche Kapitalbewegungen gelten und diese in gleichem Maße einschränken. Das Verbot greift ein, sobald die Maßnahme den (grenzüberschreitenden) Kapital- bzw Zahlungsverkehr „unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell“ behindert (Dassonville-Formel).24 Anders als im Recht des Warenverkehrs gibt es bei der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit keine Regelungen, die von dem Beschränkungsverbot von vornherein befreit und damit per se zulässig wären. Das gilt zum einen für ausfuhrbeschränkende Maßnahmen. Nach der Rspr des EuGH greifen Maßnahmen, die die Ausfuhr einer Ware einschränken, dann nicht in die Freiheit des Warenverkehrs ein (und bedürfen daher keiner Rechtfertigung), wenn sie gleichmäßig anwendbar sind, dh ohne Unterschied auch für den Absatz im Inland gelten (→ § 8 Rn 34 ff).25 Schon beim Warenverkehr steht diese Ausnahme auf schwachen Füßen.26 Es besteht kein Grund, sie auf die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit zu übertragen. Zum anderen vermag auch die pauschale Ausklammerung von Regelungen sog Verkaufsmodalitäten keine Orientierung für die Reichweite der Kapitalverkehrsfreiheit zu geben. Seit dem Keck-Urt wendet der EuGH das Beschränkungsverbot der Warenverkehrsfreiheit nicht mehr auf mitgliedstaatliche Absatz- und Werbebeschränkungen an, sofern diese nur gleichmäßig gelten. Sie kommen in den Genuss einer Fiktion: Unabhängig von ihren Auswirkungen auf den Warenverkehr gelten sie als nicht geeignet, den Warenverkehr zu behindern.27 Bereits für den Warenverkehr lässt sich diese Bereichsausnahme kaum begründen.28 Sie ist nicht in der Lage, die in sie gesetzte Erwartung zu erfüllen und die von den europäischen Grundfreiheiten getragene Kontrolle staatlicher Eingriffe in den Wirtschaftsverkehr zu vereinfachen. Ebenso wenig wie sie Eingang in die Rspr zu den anderen

23 Anderer Auffassung zB Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 63 AEUV Rn 243: Art 63 II AEUV sei lex specialis. 24 Vgl EuGH, Slg 1974, 837, Rn 6 – Dassonville. Zur Geltung im Recht der Kapitalverkehrsfreiheit s Rohde Freier Kapitalverkehr in der Europäischen Gemeinschaft, 1999, 130 f. 25 Übersicht bei Oliver in: Oliver on Free Movement of Goods in the European Union, 5th edition 2010, Rn 6.97–6.105. 26 Zur Kritik s v Wilmowsky EuR 1996, 362, 363–368. 27 EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 16 – Keck. 28 S v Wilmowsky EuR 1996, 362, 368–371.

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Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs

§ 12 II

Grundfreiheiten gefunden hat, sollte man sie zur Auslegung der Kapitalverkehrsfreiheit heranziehen.29 Das Beschränkungsverbot des Art 63 AEUV gilt unmittelbar: Die Bürger und Unternehmen können sich auf die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs von ungerechtfertigten Beschränkungen berufen, ohne dass Vollzugsakte der Mitgliedstaaten erforderlich wären oder Harmonisierungsmaßnahmen der Union vorauszugehen hätten; die Gerichte und Behörden haben die Kapitalverkehrsfreiheit zu beachten und dürfen entgegenstehendes Recht nicht anwenden.30 In dieser Hinsicht ist die Kapitalverkehrsfreiheit ein Nachzügler. Während die anderen Grundfreiheiten mit Ablauf der für den EWGV vereinbarten Übergangszeit am 1.1.1970 unmittelbar anwendbar wurden, erlangte die Kapitalverkehrsfreiheit diese Wirkung zwanzig Jahre später, nämlich zum 1.7.1990. Dem Vertragsartikel, der bei Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Freiheit des Kapitalverkehrs verbürgte (Art 67 EWGV 1957) und der Ende 1993 außer Kraft trat, wurde keine unmittelbare Geltung zuerkannt. Anders als der heutige Art 63 AEUV verbot er (ungerechtfertigte) Beschränkungen nicht bedingungslos, sondern lediglich insoweit, als diese „dem Funktionieren des Gemeinsamen Marktes“ zuwiderliefen. Der Gerichtshof interpretierte diesen Vorbehalt dahin, dass das Beschränkungsverbot vom Ausmaß der Integration der nationalen Kapitalverkehrsregelungen abhänge. Da sich dieser Integrationsstand fortlaufend verändere, sei der Vorbehalt zu unbestimmt, um den Umfang der Kapitalverkehrsfreiheit bereits aus dem Primärrecht herleiten zu können.31 Es war somit zunächst dem sekundären Unionsrecht überlassen, über das Ausmaß der Liberalisierung im Kapitalverkehr zu entscheiden. Erst die 1988 verabschiedete RL 88/361 statuierte ein Beschränkungsverbot, welches nicht mehr auf den erreichten Integrationsstand abstellte.32 Dieses Beschränkungsverbot erlangte (mit Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie) am 1.7.1990 unmittelbare Geltung.33 Das Primärrecht zog 1993 nach, indem es die Bestimmung schuf, die dem heutigen Art 63 AEUV entspricht. (Da der Art 63 AEUV mit Art 1 der RL 88/361 weitgehend übereinstimmt, kann man zu einzelnen Fragen die RL weiterhin heranziehen, insb ihrem Anhang I – der sog Nomenklatur für den Kapitalverkehr – einige der geschützten Tätigkeiten entnehmen. Allerdings ist die RL nicht in der Lage, die Reichweite des Primärrechts festzulegen. Auch besitzt die dort vorgenommene Klassifizierung keine Bedeutung mehr.) Durch Art 63 I AEUV sind ua grds verboten (und damit rechtfertigungsbedürftig): Ein- und Ausfuhrbeschränkungen für Zahlungsmittel; Beschränkungen des Erwerbs von Gesellschaftsanteilen; Behinderungen von Fremdwährungsschulden; Kanalisierung des

29 Vgl EuGH, Slg 2003, I-4644, Rn 45–47 – Kommission/Vereinigtes Königreich; Slg 2003, I-4581, Rn 58–62 – Kommission/Spanien; gegen eine Übernahme der Keck-Rspr auch Fischer ZEuS 2000, 391, 404; Kimms Die Kapitalverkehrsfreiheit im Recht der Europäischen Union, 1996, 183. Anderer Auffassung sind zB Glöckner EuR 2000, 592, 614–620; Kemmerer (Fn 22) S 179–181; Rohde (Fn 24) S 131 f. Zur Vertiefung siehe Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 57 AEUV Art Rn 103–111. 30 EuGH, Slg 1995, I-4821, Rn 40–48 – Sanz de Lera (spanische Regelung, die die Ausfuhr von Bargeld und Inhaberschecks einer Genehmigungspflicht unterwarf). 31 EuGH, Slg 1981, 2595, Rn 8–13 – Casati (italienische Genehmigungspflicht für die Ausfuhr von Bargeld). 32 Art 1 I 1 RL 88/361. 33 EuGH, Slg 1995, I-361, Rn 32–35 – Bordessa (spanische Genehmigungspflicht für die Ausfuhr von Bargeld und Inhaberschecks).

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Handels mit Wertpapieren oder Devisen auf bestimmte Rechtspersonen; Behinderungen der Aufnahme von Darlehen im Ausland (etwa durch eine Bardepotpflicht); Behinderungen der Ausgabe von Schuldverschreibungen; Benachteiligungen von Ausländern beim Erwerb von Grundstücken. Aufgrund der Zahlungsverkehrsfreiheit (Art 63 II AEUV) ist es den Mitgliedstaaten zB verboten, bestimmte Zahlungsarten oder -wege vorzuschreiben.34 Das Beschränkungsverbot des Art 63 AEUV ist nicht schrankenlos. Maßnahmen der Mitgliedstaaten oder der Union, die den grenzüberschreitenden Verkehr beschränken, werden durch Art 63 AEUV nicht absolut verboten. Vielmehr unterliegen sie einem Rechtfertigungszwang: Sie müssen geeignet und erforderlich sein, Belange des Allgemeinwohls zu fördern, denen das primäre Unionsrecht einen höheren Stellenwert einräumt als dem ungehinderten Kapitalverkehr. Bei den Rechtfertigungsgründen ist zu unterscheiden, ob der Kapitalverkehr innerhalb der Union oder im Verhältnis zu Drittstaaten eingeschränkt wird; für letztgenannte Maßnahmen sieht der AEUV zusätzliche Gründe vor.

III. Rechtfertigung von Beschränkungen innerhalb der Union 10

Für Maßnahmen, die den grenzüberschreitenden Kapital- bzw Zahlungsverkehr nicht nur gegenüber Drittstaaten, sondern auch innerhalb der Union einschränken, kommen Rechtfertigungsgründe aus zwei Gruppen in Betracht: den im Primärrecht kodifizierten Schutzgütern und den ungeschriebenen, vom EuGH entwickelten „zwingenden Erfordernissen“.

1. Kodifizierte Rechtfertigungen 11

Die niedergeschriebenen, dh im AEUV kodifizierten, Schutzgüter finden sich in Art 65 und Art 75 AEUV. Die erstgenannte Bestimmung (Art 65 AEUV) wendet sich an die Mitgliedstaaten und ermächtigt diese zu Einschränkungen, um bestimmte Regelungsinteressen zu verfolgen: die Besteuerung (von Kapitaleinkünften) (Abs 1 lit a), die Wahrung der innerstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Information über den Kapitalverkehr oder den Erhalt der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (Abs 1 lit b). Dass der AEU-Vertrag die „innerstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ als eigenen Interventionsgrund nennt, erweckt den Eindruck, die Mitgliedstaaten dürften den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr beliebig einschränken, so sie ihre Maßnahmen nur in Rechts- oder Verwaltungsvorschriften gießen.35 Bei diesem Verständnis wäre das Beschränkungsverbot des Art 63 AEUV aus den Angeln gehoben. Da dies weder der Integrationsfunktion dieser Bestimmung noch den Intentionen der Vertragsverfasser entsprechen würde, ist vorauszusetzen, dass die betr mitgliedstaatliche Vorschrift ihrerseits materiell gerechtfertigt ist und einem geschriebenen Schutzgut oder einem zwingenden

34 Heute nicht mehr zulässig wäre die Regelung der früheren Belgisch-Luxemburgischen Währungsunion, die es den Exporteuren Belgiens und Luxemburgs verbot, Bargeld entgegenzunehmen, und von ihnen stattdessen verlangte, sich die Verkaufspreise überweisen zu lassen; s den Sachverhalt zu EuGH, Slg 1988, I-4369 ff – Lambert. 35 Dieser Standpunkt wird vertreten in: Schlussanträge GA Saggio, EuGH, Slg 2000, I-1335, Rn 18 – Scientologie. Er meint, die Mitgliedstaaten verfügten beim Kapitalverkehr über einen größeren Handlungsspielraum als beim Waren- und Personenverkehr und könnten Einschränkungen des Kapitalverkehrs auf innerstaatliche Vorschriften „gleich welcher Art“ stützen.

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Belang des Allgemeinwohls dient.36 Die „öffentliche Ordnung“ wird durch die grundlegenden Regeln einer Gesellschaft gebildet, zu denen auch die wichtigsten Strafbestimmungen zählen.37 Unter diesem Gesichtspunkt können Einschränkungen des Kapitaloder Zahlungsverkehrs etwa zur Bekämpfung der Geldwäsche oder des Drogenhandels gerechtfertigt sein.38 Um die „öffentliche Sicherheit“, einen Teilbereich der öffentlichen Ordnung, gegen innere und äußere Bedrohungen zu verteidigen, kann zB gegen Kapitalbewegungen verfassungsfeindlicher oder terroristischer Gruppen vorgegangen werden. Kapitalbewegungen, die mit der Errichtung einer Niederlassung einhergehen, dürfen – über Art 65 I AEUV hinaus – auch aus denjenigen Gründen beschränkt werden, die zu Einschränkungen der freien Niederlassung berechtigen (Art 65 II AEUV). Für Transaktionen, die sowohl einen Kapitalverkehr als auch eine Niederlassung darstellen, wird der Katalog der zulässigen Beschränkungen des Kapitalverkehrs damit um die Beschränkungsmöglichkeiten des Niederlassungsrechts ergänzt.39 Nur an die Union richtet sich der Art 75 AEUV. Um Terrorismus zu verhüten oder zu bekämpfen, darf die Union gegen private (dh nichtstaatliche) Akteure vorgehen und deren Bankguthaben, sonstige finanziellen Vermögenswerte und wirtschaftliche Erträge „einfrieren“.40 Hierzu ist ein zweistufiges Verfahren vorgesehen: der Erlass einer oder mehrerer Rahmen-Verordnungen (UAbs 1) und das Ergreifen von Umsetzungsmaßnahmen (UAbs 2). Diese Rechtsakte müssen nicht in die GASP eingebunden sein. In welchem Staat der betr Akteur ansässig ist, spielt keine Rolle. Der Art 75 AEUV ermächtigt somit auch zu Einschränkungen des Kapital- oder Zahlungsverkehrs innerhalb eines Mitgliedstaats.

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2. Zwingende Erfordernisse Schon früh legte sich der Gerichtshof darauf fest, dass die im AEUV kodifizierten Ermächtigungen zur Einschränkung von Grundfreiheiten (wie zB die Art 36 AEUV, Art 45 IV AEUV, Art 51 AEUV, Art 52 AEUV, Art 62 AEUV und Art 65 AEUV) eng auszulegen sind und die schutzfähigen Rechtsgüter abschließend aufzählen. Um der Vielzahl solcher legitimer Interventionsinteressen Rechnung tragen zu können, die wie zB der Umweltschutz und der Verbraucherschutz in den ausdrücklichen Schranken der Grundfreiheiten keine Erwähnung gefunden haben, musste er daher eine zweite Gruppe von

36 Zur entspr Problematik bei der öffentlichen Ordnung vgl EuGH, Slg 1984, 1299, Rn 32 f – Prantl: Eine mitgliedstaatliche Regelung gehört nicht schon deshalb zur „öffentlichen Ordnung“, weil sie mit einer Strafsanktion bewehrt ist. 37 EuGH, Slg 1977, 1999, Rn 33–35 – Bouchereau; Slg 1982, 1665, Rn 8 – Adoui; Slg 2000, I-1335, Rn 17 – Scientologie: „Grundinteresse der Gesellschaft“. Weitergehende Analysen bei MüllerGraff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 30 EGV Rn 49 f, und Hindelang The Free Movement of Capital and Foreign Direct Investment, 2009, 226 f. 38 EuGH, Slg 1995, I-361, Rn 21 – Bordessa. 39 Umgekehrt gilt dasselbe: Maßnahmen, die nach den Bestimmungen über den Kapitalverkehr zulässig sind, schränken auch die niederlassungsrechtliche Seite der Transaktion in zulässiger Weise ein (Art 49 II AEUV). Die wechselseitigen Vorbehalte der Art 49 II AEUV und Art 65 II AEUV erklären damit die Einschränkungsgründe des jew anderen Vertragskapitels für anwendbar. Vgl auch Kiemel in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 19; S Weber EuZW 1992, 561, 565. 40 Maßnahmen, die sich gegen (Dritt-)Staaten richten, müssen auf Art 215 I AEUV gestützt werden; dazu s u Rn 48.

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Rechtfertigungsgründen schaffen: die „zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls“. Er beschreitet dabei einen induktiven Weg und entscheidet anhand einzelner Fälle, welchem staatlichen Regelungsinteresse Vorrang vor dem freien Wirtschaftsverkehr und damit Anerkennung als „zwingendes Erfordernis des Allgemeinwohls“ gebührt. Den Versuchen, aus dieser Rspr allgem Kriterien zu gewinnen, war bislang wenig Erfolg beschieden. An der (verbreiteten) Einschätzung, ausschließlich „nichtwirtschaftliche“ Regelungszwecke könnten ein zwingendes Erfordernis sein,41 trifft zu, dass protektionistische Maßnahmen, mit denen die Mitgliedstaaten einheimische Interessengruppen vor ausländischer Konkurrenz in Schutz zu nehmen suchen, nicht gerechtfertigt werden können. Der Gerichtshof umschreibt diesen Befund regelmäßig mit der Formel, dass „einem Mitgliedstaat … nicht gestattet werden [kann], sich den Wirkungen der im Vertrag vorgesehenen Maßnahmen unter Berufung auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu entziehen, die durch die Beseitigung der Behinderungen des unionsinternen Handels entstehen.“42 Nicht jedes wirtschaftliche Interesse trifft jedoch der Protektionismusvorwurf. Im Gegenteil ist für eine Reihe „wirtschaftlicher“ Regelungsinteressen anerkannt, dass sie zu Einschränkungen der Grundfreiheiten berechtigen. Mit Skepsis sollte man auch der verbreiteten Ansicht begegnen, dass zwingende Erfordernisse – anders als die kodifizierten Rechtfertigungsgründe – allein solche Einschränkungen stützen könnten, die unterschiedslos für in- und ausländische Sachverhalte gelten; unterschiedlich anwendbare Maßnahmen könnten dagegen nicht durch ein zwingendes Erfordernis gerechtfertigt sein.43 Diese Differenzierung zwängt die Interessenabwägung in ein formales Korsett, das der Komplexität der Konflikte zwischen mitgliedstaatlicher Regelungsgewalt und Wirtschaftsintegration kaum gerecht wird. Es macht wenig Sinn, die Unterscheidung zwischen unterschiedlich und unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen aus der Tatbestandsseite zu verbannen (indem man die in den Grundfreiheiten ausgesprochenen Beschränkungsverbote auf gleichmäßig anwendbare Maßnahmen erstreckt), aber ihr auf der Rechtfertigungsseite erkenntnisleitende Funktion zuzumessen. So nimmt es denn nicht wunder, dass man immer wieder auf Urt stößt, in denen der EuGH Einschränkungen von Grundfreiheiten mit einem zwingenden Erfordernis rechtfertigt, obwohl sie unterschiedlich anwendbar waren und den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr stärker als den innerstaatlichen belasteten.44 Im Bereich des Kapitalverkehrs kommen als zwingende Erfordernisse ua in Betracht: die Stabilität des Geldwerts, die Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte sowie der Kreditwirtschaft, der Verbraucherschutz, der Umweltschutz sowie Belange der Raumordnung und Stadtplanung. In welchem Ausmaß die Mitgliedstaaten und der einfache Unionsgesetzgeber den (grenzüberschreitenden) Kapital- bzw Zahlungsverkehr einschränken dürfen, ohne gegen das Beschränkungsverbot des Art 63 AEUV zu verstoßen, erschließt sich, wenn man die

41 Nachw ua bei Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 204; Ress/ Ukrow in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 63 AEUV Rn 181. 42 Vgl etwa EuGH, Slg 1984, 2727, Rn 35 – Campus Oil. 43 StRspr des EuGH; Nachw ua bei Leible/T Streinz in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 34 AEUV Rn 99. 44 S zB EuGH, Slg 1992, I-305, Rn 10–21 – Kommission/Belgien (unterschiedlich anwendbare Steuerregelung). Vgl auch die Kritik von Enchelmaier in: Oliver on Free Movement of Goods in the European Union, 5th edition 2010, Rn 8.04–8.11; Hindelang (Fn 37) S 257–261; Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 193–197; Leible/T Streinz in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, EUV/EGV, Art 34 AEUV Rn 99; v Wilmowsky EuR 1992, 414, 415.

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Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs

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einzelnen Regelungsfelder (wie zB Steuerrecht, Unternehmensrecht, Außenwirtschaftsrecht, Währungsrecht, Grundstücksrecht, Kreditsicherungsrecht) betrachtet.

IV. Einzelne Regelungsfelder 1. Steuerrecht: Besteuerung von Kapitalerträgen Die Erhebung von Steuern belastet den Wirtschaftsverkehr. Soweit auch der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr belastet wird, rücken die Steuerregelungen auf den Prüfstand der Grundfreiheiten des AEU-Vertrags. Welche der Grundfreiheiten heranzuziehen ist, hängt von dem Gegenstand der Besteuerung ab. Die Freiheit des Kapitalverkehrs ist angesprochen, wenn die Übertragung, das Innehaben oder der Ertrag von Kapital einer Steuer unterworfen wird.45 Zu denken ist etwa an die Besteuerung des Erwerbs von Grundstücken, Wertpapieren, Gesellschaftsanteilen oder Devisen, die Besteuerung von Darlehen und die Besteuerung von Erbschaften. Hinsichtlich der Kapitalerträge sind vor allem Steuern auf Darlehenszinsen sowie auf Ausschüttungen an Gesellschafter (Dividenden) zu erwähnen. Die Rechtfertigung von Grundfreiheitseinschränkungen hängt in erster Linie davon ab, ob die Steuerregelung gleichmäßig anwendbar ist oder ob sie unterschiedliche Bedingungen für den mitgliedstaatsinternen und den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr setzt.

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a) Gleichmäßig wirkende Steuerregelungen Belastet die Steuerregelung den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr in demselben Maß wie den innerstaatlichen, bereitet ihre Rechtfertigung keine Probleme. Die Erzielung staatlicher Einnahmen durch Steuern ist als ein im Allgemeinwohl liegendes Regelungsinteresse anerkannt.46 Speziell für die Kapitalverkehrsfreiheit ergibt sich dies aus Art 65 I AEUV. Indem dort einzelne Aspekte der Besteuerung, nämlich die Differenzierung von Steuern nach dem Wohnort des Steuerpflichtigen und dem Anlageort des Kapitals (lit a) und die Bekämpfung der Steuerhinterziehung (lit b), als Eingriffsgründe genannt sind, bringt diese Bestimmung zum Ausdruck, dass dann auch die Erhebung von Steuern die Kapitalverkehrsfreiheit in zulässiger Weise einschränkt. (Bei den anderen Grundfreiheiten folgt dies aus dem Cassis-Urt, welches die wirksame steuerliche Kontrolle beispielhaft als „zwingendes Erfordernis“ nennt47 und damit offensichtlich auch die Erzielung von Einnahmen zu den staatlichen Regelungsinteressen zählt, die Einschränkungen des Wirtschaftsverkehrs rechtfertigen.) Folgerichtig stößt die österreichische Steuer auf Darlehen auf keine grds europarechtlichen Bedenken.48 Sie ist von jedem in Österreich ansässigen Darlehensnehmer (in Höhe von 0,8 % des Darlehensbetrags) zu entrichten, wobei gleichgültig ist, ob das Darlehen bei einem inländischen oder einem ausländischen Darlehensgeber aufgenommen wird. Insoweit wird die grenzüberschreitende Darlehensaufnahme in demselben Maße wie das innerstaatliche Darlehensgeschäft belastet. Politisch aktuell ist

45 S Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, 743, 756 f; Dahlberg Direct Taxation in Relation to the Freedom of Establishment and the Free Movement of Capital, 2005, S 301 ff. 46 Sa Ohler WM 1996, 1801, 1807; Müller (Fn 11) S 332 f. 47 EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8 und 14 – Rewe-Zentral AG (Cassis de Dijon). 48 S den ersten Teil des Sandoz-Urt: EuGH, Slg 1999, I-7041, Rn 17–27 – Sandoz. (Zum zweiten Teil s u Fn 60).

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die Frage, ob die Union oder die Mitgliedstaaten den Erwerb ausländischer Währungen mit einer Umsatzsteuer (sog Tobin-Steuer) belasten dürften, ohne gegen Art 63 I AEUV zu verstoßen.49 Da die Besteuerung des Umsatzes von Waren und Dienstleistungen (durch die Mehrwertsteuer) und des Umsatzes von Grundstücken (durch die Grunderwerbsteuer) mit den Freiheiten des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs in Einklang steht, sollte dasselbe für die Besteuerung des Umsatzes von Devisen gelten. Stellt die Erzielung staatlicher Einnahmen ein legitimes Regelungsziel dar, können allein diskriminierende Steuerregelungen gegen die Grundfreiheiten verstoßen. b) Unterschiedlich wirkende (dh diskriminierende) Steuerregelungen

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Fall: (EuGH, Slg 2000, I-4071 ff – Verkooijen) Der in den Niederlanden lebende V besaß Aktien der Petrofina NV, einer belgischen Aktiengesellschaft. Auf diese Aktien wurde 1991 eine Dividende in Höhe von 2.337 Gulden (ca 1.060 €) ausgeschüttet. Ordnungsgem gab V diese Einkünfte in seiner (niederländischen) Steuererklärung an, wobei er erwartete, dass sie in Höhe des gesetzlichen Freibetrags für Einkünfte aus Kapitalvermögen (2.000 Gulden) steuerfrei bleiben würden. Nach Art 47b des niederländischen Einkommensteuergesetzes galt der Freibetrag jedoch allein für solche Dividendeneinkünfte, die von Kapitalgesellschaften mit Sitz in den Niederlanden stammten. Da die Petrofina NV ihren Sitz in Belgien hat, brachte die niederländische Finanzverwaltung den Freibetrag nicht zum Ansatz und unterwarf die Dividenden vollständig der Einkommensteuer. Hiergegen klagte V. Das höchste niederländische Gericht, der Hoge Raad, legte dem EuGH zur Vorabentscheidung ua die Frage vor, ob die Beschränkung des Freibetrags auf Dividenden inländischer Gesellschaften mit den Vorschriften des AEU-Vertrags über den Kapitalverkehr in Einklang stehe.

aa) Der Steuervorbehalt des Art 65 I lit a AEUV 18

Steuerregelungen diskriminieren, wenn sie den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr stärker belasten als den mitgliedstaatsinternen Wirtschaftsverkehr.50 Für die Fälle, in denen die Steuerregelung in eine andere Grundfreiheit als die hier behandelte Kapitalverkehrsfreiheit eingreift, indem sie den unionsinternen Warenverkehr, die Dienstleistungserbringung, die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder die Niederlassungstätigkeit belastet, hat sich als Rechtssatz herausgebildet: Diskriminierende Steuerregelungen sind unzulässig, es sei denn, sie sind sachlich gerechtfertigt.51 Beim Kapitalverkehr stellt sich die Frage, ob ungleichmäßig wirkende Steuerregelungen an einem anderen, weniger strengen Maßstab zu messen sind. Das Kap des AEU-Vertrags zum Kapitalverkehr enthält eine besondere Bestimmung zu diskriminierenden Steuerregelungen. In Art 65 I lit a AEUV heißt es, dass die Steuerrechte der Mitgliedstaaten nach dem Wohnort des Steuerpflichtigen und nach 49 Zu diesem Vorschlag s Tobin 1978 Eastern Economic Journal 153, 155: „The proposal is an internationally uniform tax on all spot conversions of one currency into another, proportional to the size of the transaction.“ 50 Bei den direkten Steuern bereitet die Beantwortung der Frage, wann Gebietsfremde tatsächlich benachteiligt werden, beträchtliche Schwierigkeiten; s hierzu die Analyse der EuGH-Rspr durch Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, 743, 758–761. 51 S zB EuGH, Slg 1995, I-225, Rn 39 – Schumacker (Arbeitnehmerfreizügigkeit); Slg 1995, I-2493, Rn 23–27 – Wielockx (Niederlassungsfreiheit); Überbl bei Voß in: HdBEUWirtschR, Kap J Rn 18–36.

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dem Ort der Kapitalanlage unterscheiden dürfen, ohne dadurch gegen die in Art 63 AEUV verbürgte Kapitalverkehrsfreiheit zu verstoßen. Dem Wortlaut nach scheint diese Bestimmung steuerrechtliche Ungleichbehandlungen, die auf den Wohnort oder den Anlageort abstellen, auch dann zuzulassen, wenn diese sachlich nicht gerechtfertigt sind. Als dieser sog Steuervorbehalt mit Wirkung ab dem 1.1.1994 in den damaligen EGV aufgenommen wurde, hofften seine Initiatoren in der Tat, den Mitgliedstaaten die Beibehaltung einer Reihe diskriminierender Steuerregelungen zu ermöglichen.52 Diese Erwartungen mussten jedoch enttäuscht werden. Im Jahr 2000 entschied der EuGH, dass der Steuervorbehalt des Art 65 I lita AEUV die sachliche Rechtfertigung von Differenzierungen nach dem Wohnort des Steuerpflichtigen oder dem Anlageort des Kapitals nicht entbehrlich macht.53 Der Steuervorbehalt steht nämlich seinerseits unter dem Vorbehalt des Abs 3 des Art 65 AEUV, der willkürliche, dh sachlich nicht gerechtfertigte, Differenzierungen verbietet. Folglich bedürfen auch die Differenzierungen nach den im Steuervorbehalt genannten Merkmalen (Wohnort und Anlageort) einer sachlichen Rechtfertigung. Für die ungleich wirkende Steuerregelung muss ein sachlicher Grund bestehen, der in geeigneter, erforderlicher und verhältnismäßiger Weise verfolgt wird. Der Gerichtshof schätzt den Steuervorbehalt des Art 65I lit a AEUV somit als eine deklaratorische Regelung ein, die die Anforderungen, die bei den anderen Grundfreiheiten für ungleichmäßig wirkende Einschränkungen gelten, für Belastungen des Kapitalverkehrs durch ungleich wirkende Steuerregelungen nicht verringere.54 Entgegen den Zielen der Initiatoren gestattet der Steuervorbehalt mithin keine zusätzlichen Eingriffe in den Kapitalverkehr, sondern nur solche, die auch nach den allgem Grundsätzen zu den Einschränkungen von EU-Grundfreiheiten zulässig wären.55 bb) Rechtfertigungsgrund Man steht somit vor der Frage, welche „zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls“ in der Lage sind, Steuerregelungen zu rechtfertigen, die den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr stärker als den innerstaatlichen belasten. Ob es solche Rechtfertigungsgründe überhaupt geben kann, ist alles andere als geklärt. Der EuGH erachtet die „Kohärenz“ (dh den „Zusammenhang“) des nationalen Steuerrechts als ein zwingendes Erfordernis, welches Diskriminierungen des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs bei der Besteuerung stützen könne.56 Nicht deutlich wird allerdings, was mit „Kohärenz“

52 Zu den Hintergründen s Kiemel in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 58 EGV Rn 12–14. In der Schlussakte zum Änderungsvertrag v Maastricht erklärte die Regierungskonferenz, dass der Steuervorbehalt allein für solche Regelungen gelten soll, die Ende 1993 in den Mitgliedstaaten bestanden (Erklärung Nr 7). Solche Erklärungen sind bei der Auslegung des EU-Primärrechts zu berücksichtigen. S aber u Fn 55. 53 EuGH, Slg 2000, I-4071, Rn 43–46 – Verkooijen; ebenso Schlussanträge GA La Pergola in derselben Rs, Slg 2000, I-4071, Rn 33 – Verkooijen; seitdem stRspr. 54 Für dieses Verständnis hatten sich auch ausgesprochen: Bachmann RIW 1994, 849, 850 f; Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, 743, 763–768; Dautzenberg RIW 1998, 537, 540–542; ähnlich Ohler WM 1996, 1801, 1807. 55 Daher kann auch die Erklärung Nr 7 (Fn 52) keine juristische Bedeutung entfalten; Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, 743, 768 mit dortiger Fn 113. 56 EuGH, Slg 1992, I-305, Rn 14–21 – Kommission/Belgien; weitgehend inhaltsgleich mit Slg 1992, I-249, Rn 21–28 – Bachmann; bestätigt ua in EuGH, Slg 2000, I-4071, Rn 43 – Verkooijen; aus dem Schrifttum s Dautzenberg StuB 2000, 720, 725 f.

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genau gemeint ist. Zum Tragen kam dieser Rechtfertigungsgrund bislang nur selten, etwa in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Belgien wegen einer Einkommensteuerregelung, die einen inländischen Sachverhalt besser behandelte als einen grenzüberschreitenden.57 Die meisten anderen Versuche von Mitgliedstaaten, ungleich wirkende Steuerregelungen mit der „Kohärenz“ ihres Steuerrechts zu verteidigen, blieben erfolglos.58 Man sollte die Kohärenz daher nicht als Rechtfertigung für steuerliche Schlechterstellungen des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs akzeptieren. Diskriminierende Steuerregelungen lassen sich nicht rechtfertigen.59 cc) Folgerungen 20

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Vor der Kapitalverkehrsfreiheit konnten folgende ungleich wirkende Steuerregelungen keinen Bestand haben: die Besteuerung von Darlehen ausländischer Darlehensgeber, nicht jedoch inländischer Darlehensgeber;60 die günstigere Besteuerung solcher Zinseinkünfte, die Steuerpflichtige von Schuldnern erhalten, die ihren Sitz oder eine Niederlassung im Inland haben;61 die Beschränkung einer steuerlichen Förderung auf die Beteiligung an inländischen Unternehmen;62 die Beschränkung eines Steuerfreibetrags auf Dividenden inländischer Gesellschaften;63 die Beschränkung einer Befreiung von der Grunderwerbsteuer auf Grundstücksveräußerungen zwischen den inländischen Gesellschaften eines Konzerns;64 die höhere Besteuerung der Vererbung eines Grundstücks an eine gebietsfremde Person;65 ungünstigere Besteuerung des Gewinns aus einer Veräußerung von Aktien, wenn der Erwerber eine ausländische juristische Person ist.66 Gegen Art 63 AEUV verstoßen auch die Ungleichbehandlungen bei der Besteuerung von Dividenden. Schüttet eine Gesellschaft Gewinne an ihre Gesellschafter aus (Divi-

57 Um die Kosten einer Lebensversicherung von dem zu versteuernden Einkommen abziehen zu können, verlangte die belgische Regelung, dass das Versicherungsunternehmen seinen Sitz oder eine Niederlassung in Belgien hat; s Fn 56. 58 Als Belege s zB EuGH, Slg 2000, I-7587, Rn 31 und 33–36 – Kommission/Belgien; sowie Schlussanträge GA Jacobs, Slg 2000, I-7587, Rn 51–58 – Kommission/Belgien (Verbot Belgiens, Papiere einer Auslandsanleihe zu erwerben); Slg 2001, I-1727, Rn 67–76 – Metallgesellschaft (Besteuerung von Dividenden); Slg 2002, I-10829, Rn 72 iVm Rn 52–59 – X, Y (Besteuerung des Veräußerungsgewinns von Aktien); Slg 2004, I-7063, Rn 34–39 – Lenz (Besteuerung von Dividenden); Slg 2004, I-7477, Rn 40–48 – Manninen (Besteuerung von Dividenden) = JK 2005, EGV Art 56 I/2; Slg 2004, I-7379, Rn 20–27 – Weidert u Paulus (Steuerfreibetrag für die Beteiligung an Unternehmen); Slg 2003, I-9409, Rn 29–32 – Bosal Holding BV (Konzernbesteuerung). 59 S die genaue Analyse von Hindelang (Fn 37 ) S 262–265; sowie Ohler (Fn 21) Art 58 Rn 24. Zu den Folgen für das dt Außensteuerrecht s Dautzenberg StuB 2000, 720, 726. 60 Zweiter Teil des Sandoz-Urt EuGH, Slg 1999, I-7041, Rn 28–38 – Sandoz. 61 EuGH, Slg 2004, I-2081 ff – Kommission/Frankreich. 62 EuGH, Slg 2004, I-7359 ff – Weidert u Paulus. Vgl auch Slg 2003, I-9409 – Bosal Holding BV (Unterscheidung zwischen inländischen und ausländischen Tochtergesellschaften bei der Besteuerung der Muttergesellschaft; Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit). 63 EuGH, Slg 2000, I-4071 ff – Verkooijen. 64 Das Urt EuGH, Slg 1994, I-1137 ff – Halliburton, stützt sich zwar auf die Niederlassungsfreiheit, doch fällt der grenzüberschreitende Grundstücksverkehr auch in den Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit. 65 EuGH, EuZW 2014, 27 ff – Welte. 66 EuGH, Slg 2002, I-10829 – X, Y.

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dende), versuchen viele Mitgliedstaaten eine doppelte oder gar mehrfache Besteuerung (als Einkommen der Gesellschaft und als Einkommen der Gesellschafter, unter Umständen auch als Einkommen der Gesellschafter der Gesellschafter) zu vermeiden. Dies im Einklang mit der Kapitalverkehrsfreiheit zu erreichen, hat sich als schwierig erwiesen. Ist der Gesellschafter eine natürliche Person, kommt eine Anrechnungsregelung in Betracht: Die von der ausschüttenden Gesellschaft bereits entrichtete Körperschaftsteuer wird (anteilig) von der Einkommensteuer abgezogen, die der Gesellschafter für die erhaltene Dividende zu zahlen hat. Kritisch wird es, wenn die Anrechnung auf inländische Kapitalgesellschaften beschränkt ist: Wer sich an einer ausländischen Gesellschaft beteiligt und von ihr Dividende bezieht, kann deren im Ausland gezahlte Körperschaftsteuer nicht von seiner (inländischen) Einkommensteuerschuld abziehen. Für diese Schlechterstellung ausländischer Beteiligungen gibt es keine Rechtfertigung.67 Die Unvereinbarkeit mit den EUGrundfreiheiten gehörte zu den Gründen, aus denen Deutschland das Anrechnungsverfahren abschaffte und von 2000 bis 2008 durch das Halbeinkünfteverfahren ersetzte, welches die Körperschaftsteuer der Gesellschaft nicht mehr anrechnete, sondern die vom Gesellschafter empfangene Dividende zur Hälfte steuerfrei ließ. Dies galt auch für Dividenden ausländischer Gesellschaften.68 Ein anderer Regelungsansatz ist das Halbsatzverfahren: Die Dividende, die der Gesellschafter (als natürliche Person) erhält, wird mit dem halben Einkommensteuersatz besteuert.69 In diese Richtung geht auch das seit 2009 geltende deutsche Einkommensteuerrecht, welches Dividenden pauschal mit 25 % besteuert (§ 32d EStG 2009). Ist der die Dividende empfangende Gesellschafter seinerseits eine Gesellschaft, verschiebt sich das Problem einer Doppel- oder Mehrfachbesteuerung in das Recht der Körperschaftsteuer. Die Regelung, die hierzu in Deutschland bislang galt (und zwar für Gesellschafter, die mit weniger als 10 % an der Gesellschaft beteiligt sind, sog Streubesitz), verstieß gegen Art 63 AEUV.70 Während eine ausländische GesellschafterGesellschaft die Dividende mit 15 % zu versteuern hatte, war eine inländische Gesellschafter-Gesellschaft nahezu freigestellt. Erst nach Verurteilung durch den EuGH hob Deutschland die Freistellung der inländischen Empfänger auf (§ 8b IV KStG 2013). Auf noch ungelöste Probleme stößt man, wenn man die Einwirkung der EU-Grundfreiheiten auf die Doppelbesteuerung von Einkünften auszuloten versucht. Erzielt zB ein Gebietsansässiger des Staats A Einkünfte in Staat B (etwa aus Anteilen, die er an einer Gesellschaft in B hält, aus der Vermietung eines Grundstücks in B oder aus einer Arbeitstätigkeit in B), kann es geschehen, dass sowohl A als auch B diese Einkünfte besteuern. In den Fällen, in denen kein bilaterales Abkommen zwischen A und B besteht, welches eine Doppelbesteuerung vermeiden würde, stellt sich die Frage, ob die EU-Grundfreiheiten eine Doppelbesteuerung verbieten. Es handelt sich um eine faktische Diskriminierung: Indem die Einkünfte ohne Rücksicht auf die Belastung durch den anderen Staat besteuert werden, unterliegen sie einer höheren Belastung als die gleichen inländischen Einkünfte

67 EuGH, Slg 2004, I-7477 ff, Rn 25–55 – Manninen; vgl auch FG Köln, Beschluss v 24.6.2004, GmbHR 2004, 1091. So bereits Knobbe-Keuk FS F Klein, 1994, S 347, 351 f, 358; Rohde (Fn 24), S 168 f; vgl auch den (teilweise veralteten) Überbl von Saß DB 1993, 113, 115–117. Anderer Auffassung ist etwa Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, 743, 775 f. 68 Vgl auch die heute noch subsidiär geltenden §§ 3 Nr 40 lit d, 3c II, 20 I Nr 1, 20 VIII EStG 2009. 69 Die entsprechende Regelung Österreichs verstieß gegen Art 63 AEUV, weil sie nur für Dividenden inländischer Gesellschaften galt. S EuGH, Slg 2004, I-7063, Rn 23–49 – Lenz. 70 EuGH, ZIP 2011, 2458, Rn 44–94 – Kommission/Deutschland.

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eines Inländers. Für die Diskriminierung sind somit die Maßnahmen zweier Staaten verantwortlich.71 Um sie zu beseitigen, muss einer der beiden Staaten Rücksicht auf die Maßnahme des anderen Staats nehmen und die dort zu entrichtende Steuer anrechnen. Die Schwierigkeit liegt nun darin, die Rollen zu verteilen: Welchem Staat gebührt der primäre Zugriff auf das Besteuerungsgut mit der Folge, dass der andere Staat zur Anrechnung verpflichtet ist?72 Noch schrecken viele Autoren und auch der EuGH davor zurück, aus den EU-Grundfreiheiten eine derartige Rangfolge mitgliedstaatlicher Besteuerungszuständigkeiten herzuleiten.73 Damit kapitulieren sie vor einer gravierenden Diskriminierung. Für diese Zurückhaltung besteht kein Grund. Die Besteuerungsrangfolge, die der Einsatz des Diskriminierungsverbots durch die Gerichte hervorbringen würde, verdrängt nicht die politischen Entscheidungen, die die Mitgliedstaaten oder der Unionsgesetzgeber hierzu fällen können. Diesen steht es frei, in Doppelbesteuerungsabkommen bzw EU-Richtlinien die faktische Diskriminierung auf einem anderen Weg, dh durch eine andere Zuweisung der Besteuerungsgüter, zu beseitigen. Erst ein Verbot der Doppelbesteuerung durch die Grundfreiheiten wird den Druck zu einer positiven Harmonisierung (nach Art 115 oder 352 AEUV) erzeugen.

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Lösung des Falls: Die Regelung des niederländischen Einkommensteuergesetzes, den Freibetrag für Einkünfte aus Kapitalvermögen auf Dividenden niederländischer Gesellschaften zu beschränken, könnte gegen Art 63 AEUV verstoßen. Diese Bestimmung schützt den Kapitalverkehr sowohl zwischen den EU-Staaten als auch im Verhältnis zu Drittstaaten vor ungerechtfertigten Beschränkungen. Empfangen Aktionäre Dividenden, handelt es sich um Kapitalverkehr, weil Geld übertragen wird, ohne dass hiermit eine Leistung des Empfängers (dh des Aktionärs) bezahlt würde. In den Schutzbereich des Art 63 I AEUV fallen solche Dividendenzahlungen, die eine Staatsgrenze überschreiten. Dass die Niederlande den Bezug von Dividenden auch ausländischer Gesellschaften besteuern, schränkt den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr zwar ein, ist aber durch das Interesse des Staats, Einnahmen zu erzielen, gerechtfertigt. Problematisch ist allein die Regelung, den Empfang von Dividenden inländischer Kapitalgesellschaften in einer bestimmten Höhe von der Einkommensteuer zu befreien, diesen Freibetrag Dividenden ausländischer Kapitalgesellschaften aber vorzuenthalten. Ob diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist, hängt von der Auslegung des Art 65 AEUV ab. Auf der einen Seite sind die Mitgliedstaaten nach Art 65 I lit a AEUV berechtigt, bei der Besteuerung von Kapitaleinkünften nach dem Anlageort des Kapitals zu unterscheiden. Danach scheinen die Mitgliedstaaten das Recht zu haben, Einkünfte aus Dividenden ausländischer Gesellschaften anders zu besteuern als die inländischer Gesellschaften. Andererseits macht Art 65 III AEUV deutlich, dass auch im Steuerrecht jede willkürliche Diskriminierung verboten ist. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Aussagen des Art 65 AEUV wird vom Gerichtshof dahin gelöst, dass der Steuervorbehalt des Abs 1 im Licht des Diskriminierungsverbots des Abs 3 auszulegen ist. Obwohl die niederländische Steuerregelung vom Wortlaut des Art 65 I lit a AEUV gedeckt erscheint, ist sie mithin nur dann zulässig, wenn sachliche Gründe bestehen, Dividendenzahlungen ausländischer Ge-

71 Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, 743, 761 f. 72 Diese Frage wird als der „endgültige“ Testfall des Grundfreiheitsschutzes im Steuerrecht bezeichnet; s Vanistendael CMLRev 1996, 255, 265. 73 ZB Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, S 743, 773; EuGH, IStR 2012, 924, Rn 40 – Test Claimants in the FII Group Litigation (II).

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sellschaften den Freibetrag zu verweigern. Derartige Gründe sind nicht ersichtlich.74 Der Ausschluss von Dividenden ausländischer Gesellschaften aus der Freibetragsregelung verstößt daher gegen Art 63 I AEUV. Er darf von der niederländischen Finanzverwaltung nicht länger angewendet werden.

2. Unternehmensrecht a) Privatisierungsrecht Die Privatisierung staatlicher Unternehmen wird häufig von Maßnahmen begleitet, mit denen der Staat versucht, seinen Einfluss auf das Unternehmen zu erhalten. Im Vordergrund stehen die Kontrolle der Eigentümer und die der Geschäftspolitik. Zur ersten Gruppe: Einige Privatisierungsgesetze beschränken den Erwerb von Anteilen an dem Unternehmen. Wer sich zB in Portugal, Frankreich oder Großbritannien an bestimmten privatisierten Unternehmen (wie etwa dem franz Energieunternehmen Elf-Aquitaine oder dem britischen Flughafenbetreiber BAA plc) beteiligen wollte, benötigte hierfür eine Genehmigung, wenn die Beteiligung über eine definierte Höhe (zB 10 % bzw 15 %) hinausgehen sollte. Auf Belange des Allgemeinwohls können sich diese Beschränkungen des Kapitalverkehrs (uU auch der Niederlassungsfreiheit) nicht berufen; insb sind sie nicht in der Lage, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit (Art 65 I lit b AEUV) zu erhöhen.75 Ebenso wenig sind gesetzliche Regelungen zu rechtfertigen, die den Anteilserwerb zwar zulassen, dem Stimmrecht aus Gesellschaftsanteilen jedoch Höchstgrenzen ziehen (wie etwa das Gesetz über die Privatisierung des Volkswagenwerks idF bis 2008, welches in seinem § 2 das Stimmrecht aus VW-Aktien auf 20 % begrenzte).76 Eine zweite Fallgruppe bilden diejenigen staatlichen Maßnahmen, die dazu dienen, die Geschäfte des privatisierten Unternehmens zu kontrollieren. So sehen einige Privatisierungsgesetze vor, dass bestimmte Geschäfte des privatisierten Unternehmens (wie der Verkauf wichtiger Anlagen und Tochtergesellschaften) der Genehmigung durch den Staat bedürfen. Gleichfalls zu dieser Gruppe gehören staatliche Regelungen, die dem Staat unabhängig von der Höhe der noch gehaltenen Gesellschaftsanteile Sitze in den Leitungsorganen der Gesellschaft reservieren.77 Dass diese Maßnahmen häufig nicht in Gesetzen und Verordnungen, sondern in dem Gesellschaftsvertrag des privatisierten Unternehmens getroffen (und damit privatrechtlich eingekleidet) werden, entzieht sie nicht dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten. Ihrer Wirkung nach handelt es sich um staatliche Genehmigungsvorbehalte. Die mit ihnen einhergehenden Belastungen des Verkehrs mit

74 EuGH, Slg 2000, I-4071, Rn 47–62 – Verkooijen. 75 S im Einzelnen: EuGH, Slg 2002, I-4781, Rn 50 f – Kommission/Frankreich (Privatisierung von Elf-Aquitaine); Slg 2002, I-4731, Rn 43–53 – Kommission/Portugal (privatisierte Gesellschaften) = JK 2002, EGV Art 56/1; Slg 2003, I-4644, Rn 11, 44–50 – Kommission/Vereinigtes Königreich (Privatisierung der British Airport Authority; Beschränkung des Erwerbs von stimmberechtigten Gesellschaftsanteilen auf 15 %). 76 EuGH, Slg 2007, I-8995, Rn 38–56 und Rn 70–81 – Kommission/Deutschland (VW-Gesetz) = JK 2008, EGV Art 56/5. 77 S zB § 4 I des Gesetzes über das Volkswagenwerk in der Fassung bis 2008 (BGBl I 1960, 585, BGBl I 1970, 1149): Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Niedersachsen stellten, solange ihnen Aktien gehörten, je zwei Mitglieder des (zwanzigköpfigen) Aufsichtsrats der Volkswagen AG. Diese Bestimmung wurde am 11.12.2008 aufgehoben.

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Anteilen an dieser Gesellschaft lassen sich allenfalls selten rechtfertigen.78 Das gilt auch für die (nach 2008 beibehaltene) Regelung des VW-Gesetzes, dass bestimmte Beschlüsse der Hauptversammlung eine Mehrheit von 80 % erfordern, so dass das Land Niedersachsen mit seinem Gesellschaftsanteil von lediglich 20 % eine Sperrminorität (etwa bei Satzungsänderungen) erlangt (die es nach Aktienrecht erst ab 25 % besäße, § 179 II AktG).79 Eine Rechtfertigung kommt lediglich dort in Betracht, wo das Unternehmen einen Beitrag zur öffentlichen Ordnung oder Sicherheit des Mitgliedstaats leistet (Art 65 I lit b AEUV). Denkbar ist dies ua bei Unternehmen der Energieversorgung oder Telekommunikation: In deren Geschäftstätigkeit darf der Staat eingreifen, wenn und soweit dies erforderlich ist, um schwerwiegende Gefährdungen der Versorgung mit dem betr Gut abzuwenden.80 Unerheblich ist, auf welchem Weg der Staat seinen Einfluss ausübt. Seine gesetzliche Regelung kann direkt an den Anteilserwerb oder die Geschäftsführungsmaßnahme anknüpfen. Der Staat kann aber auch indirekt eingreifen, indem er bei der Privatisierung einen Gesellschaftsanteil behält und diesen mit Sonderrechten (Zustimmungsvorbehalten, Vetorechten, Organbesetzungsrechten) ausstattet. Nur auf diesen Einwirkungspfad passt die Bezeichnung „Sonderaktie“ (oder „golden share“). Dass der Staat hierbei neben öffentlich-rechtlichen auch privatrechtliche Instrumente (wie bestimmte gesetzlich festgelegte gesellschaftsrechtliche Befugnisse) einsetzt, eröffnet ihm keinen zusätzlichen Handlungsspielraum. Soweit die Maßnahme den (grenzüberschreitenden) Verkehr mit den Anteilen an der privatisierten Gesellschaft beschränkt, muss sie einen höherwertigen Belang des Allgemeinwohls fördern.

78 Keine Rechtfertigung für das Entsenderecht des VW-Gesetzes (Fn 77). Siehe EuGH, Slg 2007, I-8995, Rn 57–68 und Rn 70–81 – Kommission/Deutschland = JK 2008, EGV Art 56/5. 79 § 4 III des Gesetzes über das Volkswagenwerk (in der Fassung ab dem 11.12.2008). Ob diese Herabsetzung der Sperrminorität auf 20 % (von den 25 % nach Aktienrecht) die Freiheit des Kapitalverkehrs ungerechtfertigt einschränkt, hat der EuGH noch nicht entschieden. Im Urt von 2007 (Fn 76) wertete er das Zusammenwirken von herabgesetzter Sperrminorität (§ 4 III VW-Gesetz) und Stimmrechtsbegrenzung (§ 2 I VW-Gesetz in der Fassung bis 2008) als Verletzung des Art 63 AEUV. Zur isolierten Herabsetzung der Sperrminorität liegt also noch keine Entscheidung vor. S die Auslegung des Urt von 2007 (Fn 76) durch EuGH, WM 2013, 2133 – Kommission/ Deutschland. Vgl auch die Besprechung durch Streinz JuS 2014, 565. 80 Diesen Anforderungen entspricht zB das Widerspruchsrecht, welches der belgische Staat gegen Geschäftsentscheidungen derjenigen Unternehmen besitzt, die in Belgien die Leitungsnetze für Strom und Erdgas betreiben; s EuGH, Slg 2002, I-4809, Rn 48–55 – Kommission/Belgien. Dagegen war das Widerspruchsrecht, das sich der französische Staat gegen die Veräußerung bestimmter Tochtergesellschaften des Mineralölkonzerns Elf-Aquitaine vorbehalten hatte, nicht auf die Sicherung der Energieversorgung zugeschnitten und daher nicht von Art 65 AEUV gedeckt; s EuGH, Slg 2002, I-4781, Rn 52 f – Kommission/Frankreich. Gleichfalls nicht erforderlich zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit waren die Genehmigungserfordernisse, die in Spanien für Strukturmaßnahmen privatisierter öffentlicher Unternehmen, gleichfalls in Spanien für den Erwerb von Beteiligungen an Unternehmen des Energiesektors und im Vereinigten Königreich für die Veräußerung von Flughäfen durch die privatisierte britische Flughafenbetreibergesellschaft galten; EuGH, Slg 2003, I-4581, Rn 71–84 – Kommission/Spanien; Slg 2008, I-111 ff – Kommission/Spanien; Slg 2003, I-4644, Rn 44–50 – Kommission/Vereinigtes Königreich. Dasselbe gilt für die Sonderrechte, die bestimmte Sonderaktien dem niederländischen Staat in Postund Telekommunikationsunternehmen und dem portugiesischen Staat in einer Gesellschaft der Erdöl- und Erdgasindustrie verliehen; EuGH, Slg 2006, I-9141 – Kommission/Niederlande; EuGH, Slg 2011, I-10889, Rn 85 – Kommission/Portugal.

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b) Gesellschaftsrecht Satzungen von Aktiengesellschaften enthalten mitunter Regelungen, die den Verkehr mit den Aktien der Gesellschaft einschränken oder belasten. Zu nennen sind ua: das Erfordernis, dass Aktien nur mit Zustimmung der Gesellschaft übertragen werden können (vgl § 68 II AktG); die Beschränkung des Stimmrechts eines Aktionärs, dem mehrere Aktien gehören, auf einen Höchstbetrag (Höchststimmrecht, vgl § 134 I 2 AktG); die Ausstattung einzelner Aktien mit einem erhöhten Stimmrecht (Mehrstimmrecht); die Ermächtigung des Vorstands zu Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, den Erfolg eines Angebots, welches ein Bieter zum Erwerb von Aktien an der Gesellschaft öffentlich abgegeben hat (sog Übernahmeangebot), zu verhindern (vgl § 33 II WpÜG). Ob solche Satzungsklauseln der Garantie des AEU-Vertrags für einen freien grenzüberschreitenden Kapitalverkehr (dh Art 63 AEUV) zuwiderlaufen und daher der Rechtfertigung durch überragende Belange des Allgemeinwohls bedürfen, ist bislang nicht geklärt. Anders als die im vorangehenden Abschnitt behandelten Maßnahmen der Privatisierungsgesetzgebung werden die hier betrachteten Regelungen nicht vom Staat angeordnet, sondern von privaten Akteuren, nämlich den Gesellschaftern der Gesellschaft, untereinander vereinbart. Die Beschränkungsverbote und Rechtfertigungserfordernisse der Grundfreiheiten des AEUVertrags richten sich jedoch an den Staat. Wenigstens im Grundsatz sind die privaten Wirtschaftsteilnehmer (dh Bürger und Unternehmen) die Begünstigten und nicht die Verpflichteten der Grundfreiheiten. (Privatautonomes Handeln wird nicht durch die Grundfreiheiten, sondern durch die Wettbewerbsregeln der Art 101–105 AEUV gesteuert.) Orientiert man sich an diesem Grundsatz, sind Satzungen von Kapitalgesellschaften nicht am Beschränkungsverbot des Art 63 AEUV zu messen. Der EuGH hat den genannten Grundsatz jedoch in einigen Fällen durchbrochen und auch privatautonomes Handeln dem Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten unterworfen (→ allgem zu einer Drittwirkung von Grundfreiheiten § 7 Rn 52 f). Inwiefern er eine derartige Drittwirkung der Grundfreiheiten auf Gesellschaftsverträge erstrecken wird, lässt sich kaum abschätzen.81

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3. Außenwirtschaftsrecht: Meldepflichten Die Außenwirtschaftsrechte der EU-Staaten legen den Teilnehmern am grenzüberschreitenden Kapital- und Zahlungsverkehr umfängliche Meldepflichten auf. Im dt Recht ergeben sich diese aus der Außenwirtschaftsverordnung und dem Bundesbankgesetz. Da Meldepflichten den grenzüberschreitenden Kapital- bzw Zahlungsverkehr zwar nicht unterbinden, wohl aber belasten, stellt sich die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit Art 63 AEUV. Zur Beantwortung ist Art 65 I lit b AEUV heranzuziehen. Danach sind die Mitgliedstaaten berechtigt, „Meldeverfahren für den Kapitalverkehr zwecks administrativer oder statistischer Information vorzusehen“, was nach hA auch für den Zahlungsverkehr

81 Zu eventuellen Konsequenzen Grundmann/Möslein ZGR 2003, 317, 350–364. Vgl auch die Diskussion im amerikanischen Verfassungsrecht zu der Frage, ob dispositives staatliches Gesellschaftsrecht gegen die Interstate Commerce Clause der US-Verfassung, die die Freiheit des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs innerhalb der USA garantiert, verstößt, wenn es die Übertragung von Gesellschaftsanteilen und dadurch Übernahmen der Gesellschaft erschwert; siehe das Urt des Supreme Court, 481 US (United States Reports) 69 (1987) – CTS/Dynamics; sowie Buxbaum/Hopt Legal Harmonization and the Business Enterprise, 1988, 130–154; Buxbaum 75 California Law Review 29 (1987); v Wilmowsky JZ 1996, 590, 592 f, 595 f.

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gilt.82 Diese Bestimmung bewirkt jedoch nicht, dass jedwede Meldepflicht zulässig wäre. Es dürfen vielmehr allein solche Informationen erhoben werden, die die öffentliche Hand benötigt, um Allgemeinwohlbelange verfolgen zu können. Der Informationsbedarf muss gerechtfertigt, dh von einem legitimen Regelungsinteresse getragen sein. Diese Voraussetzung erfüllen zB solche Meldepflichten über Zahlungsvorgänge, mit denen sich Straftaten wie Steuerhinterziehung, Drogenhandel und Bildung terroristischer Vereinigungen aufdecken lassen.83 Ob die Meldepflichten, die das dt Außenwirtschaftsrecht für grenzüberschreitende Zahlungen und den grenzüberschreitenden Vermögensbestand auferlegt, von Art 65 I lit b AEUV gedeckt sind, erscheint zweifelhaft. Sie greifen allein im grenzüberschreitenden Kapital- und Zahlungsverkehr ein. Demgegenüber bezieht sich Art 65 I lit b AEUV auf solche Meldeverfahren, die für „den Kapitalverkehr“, dh in gleicher Weise sowohl für den innerstaatlichen als auch den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr gelten.84 Meldepflichten, die ausschließlich grenzüberschreitende Kapitalbewegungen erfassen, können allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn gerade der Grenzübertritt legitime Informationsbedürfnisse des Staats auslöst. Nahezu jedes Land erfasst die wirtschaftlichen Transaktionen zwischen In- und Ausland in der sog Zahlungsbilanz, um Kenntnisse über seine außenwirtschaftliche Verflechtung zu gewinnen.85 In diese Bilanz fließen die Daten ein, die durch die Meldepflichten des Außenwirtschaftsrechts erhoben wurden. Die Prüfung der Vereinbarkeit mit dem AEUV läuft folglich auf die Frage hinaus, welche Funktionen die Zahlungsbilanzen der einzelnen EU-Staaten in der Währungsunion noch wahrnehmen. Nach dem Eintritt in die dritte (und letzte) Stufe haben die einzelstaatlichen Zahlungsbilanzen erheblich an Bedeutung verloren.86 Da die außenwirtschaftlichen Transaktionen zwischen den Mitgliedstaaten der Währungsunion nicht mehr mit Devisentransaktionen, dh dem Umtausch inländischer in ausländische Zahlungsmittel und umgekehrt, verbunden sind, lassen sich den einzelstaatlichen Zahlungsbilanzen (insb den Devisenbilanzen, dh den Bilanzen der Devisenreserven) keine Aussagen mehr über die Änderung der Geldmenge im Währungsraum entnehmen. Nationale Zahlungsbilanzen sind in der Europäischen Währungsunion daher nicht mehr in der Lage, die geld- und währungspolitischen Entscheidungen (etwa über Wechselkurse und Währungsreserven) anzuleiten.87 Hierzu ist eine Zahlungsbilanz erforderlich (aber auch ausreichend), die aus der Perspektive der Währungsunion erstellt wird. Ob der beschriebene Funktionsverlust den nationalen Meldepflichten, die sich auf den grenzüberschreitenden Kapital- und Zahlungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten des Eurogebiets beziehen, die Rechtfertigung entzieht, müsste einmal genau untersucht werden. Diese Untersuchung hätte auch der Frage nachzugehen, ob eventuell verbliebene Funktionen nationaler Zahlungsbilanzen (etwa zur Ermittlung des einzelstaatlichen Inlands- und Sozialprodukts) ausreichen, die mit den Meldepflichten verbundenen Belastungen zu rechtfertigen. Aufschlüsse könnte auch ein

82 Kiemel in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 58 EGV Rn 21; Rohde (Fn 24) S 156 f. Anderer Auffassung: Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 65 AEUV Rn 48. 83 Vgl EuGH, Slg 1995, I-361, Rn 27 – Bordessa. 84 Vgl Smits FS Hahn, 1997, S 245, 253. 85 Zur Einführung in die Außenwirtschaftsrechnung s Stobbe Volkswirtschaftliches Rechnungswesen, 8. Aufl 1994, 236–247, und von Arnim Volkswirtschaftspolitik, 6. Aufl 1998, 112–141. 86 S hierzu Rose/Sauernheimer Theorie der Außenwirtschaft, 14. Aufl 2006, 31–40. 87 Hierüber etwa Rose/Sauernheimer (Fn 86) S 16–21.

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Vergleich mit den dt Bundesländern ergeben, die für ihre Wirtschaftspolitiken keine Zahlungsbilanzen benötigen.

4. Währungsrecht a) Geldpolitik Einige Bereiche des Kapitalverkehrs, wie insb die Kreditvergabe durch die Kreditinstitute, werden durch geldpolitische Maßnahmen beeinflusst. Die EZB steuert die Bargeldmenge mit ihrem Monopol zur Ausgabe von Banknoten (Art 128 AEUV) und die Buchgeldmenge mit den geldpolitischen Instrumenten der Art 18 bis 20 ESZB-Satzung (Offenmarkt- und Kreditgeschäfte, Mindestreserven, sonstige Maßnahmen).88 Ob diese Maßnahmen die Kapitalverkehrsfreiheit des Art 63 AEUV einschränken, wird kaum erörtert. Jedenfalls sind sie durch Belange des Allgemeinwohls gerechtfertigt: Indem sie die Ausweitung der Geldmenge begrenzen, tragen sie dazu bei, die Inflation zu bekämpfen und den Wert des Geldes zu erhalten (Art 119 AEUV, Art 127 I AEUV, Art 2 ESZB-Satzung).

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b) Wechselkurspolitik Zur Freiheit des Kapitalverkehrs gehört, dass sich die Wechselkurse zwischen der Unionswährung und anderen Währungen frei bilden können. Staatliche Festlegungen und andere Eingriffe in die Wechselkurse schränken den Kapitalverkehr ein und bedürfen daher der Rechtfertigung durch höherrangige Allgemeinwohlbelange.89 Dieser Rechtfertigungszwang gilt sowohl für Vereinbarungen, die die Union mit Drittstaaten (etwa im Rahmen des IWF) über die Wechselkurse gem Art 219 AEUV trifft, als auch für die Währungskäufe und -verkäufe, mit denen die EZB gem Art 127 I AEUV und Art 23 ESZB-Satzung in den Devisenmarkt eingreift, um den Wechselkurs des Euro zu beeinflussen, und schließlich auch für die Wechselkursmaßnahmen derjenigen Mitgliedstaaten, die in der dritten Stufe der Währungsunion einer Ausnahmeregelung unterfallen (Art 142 AEUV). Als Rechtfertigungsgrund kommt nur die Gewährleistung der Preisstabilität in Betracht (Art 127 I 1 AEUV). So können zB Interventionskäufe der EZB erforderlich werden, wenn umfangreiche Kapitalexporte den Außenwert des Euro verfallen lassen und dadurch den Inflationsdruck verstärken.

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5. Recht des Grundstücksverkehrs Der Verkehr mit Grundstücken ist vielfältig reglementiert. Einige Beschränkungen bewirken, dass bestimmte Personengruppen beim Zugang zu Grundstücken bevorzugt sind. Gerade diese Regelungen sollten es schwer haben, dem Rechtfertigungsdruck standzuhalten, den die Gewährleistung eines freien Kapitalverkehrs durch den AEU-Vertrag ausübt. Den Sorgen und Ängsten, die durch eine Gleichberechtigung beim Zugang zu Grund-

88 Überbl zu den geldpolitischen Instrumenten der EZB: European Central Bank The Single Monetary Policy in Stage Three, 2000, 4–6, 14–24; Haug in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg) Bankrechts-Handbuch, 4. Aufl 2011, § 123 Rn 68–74; s a Papathanassiou in: ebenda, § 134 Rn 64–108. 89 Nicht nachvollziehen lässt sich die Einschätzung, dass eine staatlich angeordnete Spaltung des Devisenmarkts (in einen Teil mit festgelegten Wechselkursen und einen freien Teil) keine Einschränkung des Kapitalverkehrs bewirke, sondern lediglich eine „Anomalie“ darstelle. So aber RL 88/361, Anhang V zu entspr Maßnahmen der Wirtschaftsunion Belgiens und Luxemburgs (s o Fn 34); vgl EuGH, Slg 1988, I-4369 ff – Lambert.

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eigentum in der Gesellschaft mitunter ausgelöst werden, konnte sich aber auch der EuGH nicht immer entziehen. a) Zweitwohnungen 33

In manchen Mitgliedstaaten ist der Erwerb von Grundeigentum beschränkt oder verboten, wenn das Risiko besteht, dass die Immobilie lediglich als Zweitwohnsitz genutzt werden wird. Darunter werden Häuser und Wohnungen verstanden, die nur wenige Wochen im Jahr bewohnt werden und in der übrigen Zeit leer stehen. Zweitwohnsitze werden dort als Problem empfunden, wo sie sich in großer Zahl bilden, also in touristischen Gebieten. Um dort die Entstehung von Zweitwohnsitzen zu verhindern, werden durchaus unterschiedliche Maßnahmen ergriffen. aa) Maßnahmen

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Das dt Städtebaurecht greift in die Entstehung von Eigentumswohnungen ein. Für Gebiete, die vom Fremdenverkehr geprägt sind, kann (durch kommunale Satzung) die Begr und Teilung von Wohnungseigentum verboten werden (§ 22 BauGB).90 Unerheblich ist, ob das Gebäude – nach der Schaffung von Wohnungseigentum – tatsächlich als Zweitwohnsitz genutzt werden würde.91 Auch in Österreich versucht man, die Verbreitung von Zweitwohnsitzen zu verhindern, indem man den Grunderwerb einschränkt. Anders als in Deutschland erfasst man jedoch jede Form des Grunderwerbs (also nicht nur Eigentumswohnungen) und stellt auf die geplante Nutzung ab: Der Übertragung eines Grundstücks wird die erforderliche Genehmigung versagt, wenn nicht sichergestellt ist, dass der Erwerber keinen Zweitwohnsitz schaffen wird.92 Es stellt sich die Frage, ob diese Beschränkungen des Grunderwerbs (und damit des Kapitalverkehrs) von zwingenden Allgemeininteressen gerechtfertigt sind. Nur dann stünden sie mit Art 63 I AEUV in Einklang und dürften auf den Grunderwerb durch Ausländer (oder genauer: Gebietsansässige anderer Staaten) angewendet werden. bb) Förderung des Wohls der Allgemeinheit

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Ob die Begrenzung von Zweitwohnungen das Wohl der Allgemeinheit (und nicht nur das einzelner Interessengruppen) fördert, ist noch nicht erschöpfend untersucht worden.93 Der EuGH hält es zum einen für denkbar, dass sich durch diese Maßnahme eine „vom Tourismus unabhängige Wirtschaftstätigkeit“ erhalten, dh die Abhängigkeit vom Tourismus verringern lasse.94 Hier irrt der Gerichtshof. Wenn Touristen nicht in Zweitwohnungen urlauben können, suchen sie sich andere Unterkünfte, etwa in Hotels. Maßnahmen gegen

90 Zur Erläuterung s zB Krautzberger in: Battis/Krautzberger/Löhr (Hrsg) Baugesetzbuch, 11. Aufl 2009, Kommentierung zu § 22. 91 BVerwG, ZfBR 1996, 48, 50. 92 S die Regelungen der Länder Tirol (EuGH, Slg 1999, I-3099 ff – Konle), Vorarlberg (EuGH, Slg 2003, I-4899 ff – Salzmann) und Salzburg (EuGH, Slg 2002, I-2157 ff – Reisch). 93 Zum Stand der Diskussion s ua: Fischer ZEuS 2000, 391, 411; Glöckner EuR 2000, 592 ff; Bachlechner ZEuS 1998, 519 ff; Knapp EWS 1999, 409 ff; Hammerl/Sippel RIW 1992, 883 ff. 94 EuGH, Slg 1999, I-3099, Rn 40 – Konle (Beschränkungen des Eigentumserwerbs für Freizeitwohnsitze nach dem Tiroler Grundverkehrsgesetz); bestätigt ua in Slg 2002, I-2157, Rn 34 – Reisch (Salzburger Grundverkehrsgesetz).

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Zweitwohnungen lenken den Tourismus lediglich in andere Kanäle, ohne ihn zu reduzieren. So hebt der dt Gesetzgeber ausdrücklich hervor, dass er mit diesen Maßnahmen das Ziel verfolgt, den Tourismus zu fördern: Sie sollen der „Sicherung der … Fremdenverkehrsfunktionen“ dienen (§ 22 I 1 BauGB); es soll eine Fremdenverkehrsstruktur erhalten werden, die darin besteht, dass „die ansässige Wohnbevölkerung in der Saison Fremdenzimmer bzw Ferienappartements vermietet“.95 Das gilt auch in Österreich: Dessen Beschränkungen für Zweitwohnsitze gelten dort nicht, wo Grundstücke kommerziell als Beherbergungsbetriebe genutzt werden sollen. Insofern dienen Begrenzungen von Zweitwohnungen dem Wirtschaftsinteresse einer einzelnen Gruppe, der Hotelbranche, und nicht dem Wohl der Allgemeinheit. Gehaltvoller ist das andere Regelungsinteresse, welches der EuGH gefördert sieht: die Erhaltung „einer dauerhaft ansässigen Bevölkerung“ und damit einer intakten Sozialstruktur.96 Je mehr sich Zweitwohnungen verbreiten, desto stärker verödet das betroffene Ortsgebiet außerhalb der Urlaubszeiten. Es entstehen Stadtviertel, welche die längste Zeit im Jahr nicht bewohnt werden und kein soziales Leben ermöglichen.97 Nach überwiegender, hier nicht hinterfragter Ansicht verdient die Erhaltung dauerhaft bewohnter Stadtviertel die Anerkennung als zwingendes Erfordernis.98 Dagegen sind viele weitere Belange, die zur Rechtfertigung von Maßnahmen gegen Zweitwohnungen noch vorgebracht werden (wie zB die Reservierung knappen Baulands und Wohnraums für die einheimische Bevölkerung oder die gleichmäßige Auslastung der teuren Verkehrswege),99 kaum solche der Allgemeinheit.100 cc) Verhältnismäßigkeitsprinzip Die Mittel, die zur Eindämmung von Zweitwohnsitzen in touristisch geprägten Gebieten ergriffen werden, müssen dem Gebot der Verhältnismäßigkeit genügen. Als problematisch erweisen sich dabei solche Maßnahmen, die die Eigentumsverhältnisse an den betroffenen Liegenschaften einer präventiven Kontrolle (durch eine Genehmigungspflicht) unterwerfen. Betrachten wir zunächst die österreichischen Landesregelungen, für die Übereignung eines Grundstücks die Genehmigung einer Grundverkehrsbehörde zu verlangen. Die Genehmigung wird nur dann erteilt, wenn die Behörde zu der Einschätzung gelangt, dass der Erwerber das Grundstück als Hauptwohnsitz nutzen wird. Diese Genehmigungs-

95 OVG Lüneburg, ZfBR 1983, 238, 240. 96 EuGH, Slg 1999, I-3099, Rn 40 – Konle. Vgl außerdem die (rechtlich nicht bindende) Gemeinsame Erklärung der Mitgliedstaaten zu Zweitwohnungen, ABl 1994 Nr C 241/382 (Schlussakte zum Beitritt von Österreich, Finnland und Schweden): „Keine Bestimmung des gemeinschaftlichen Besitzstands hindert die einzelnen Mitgliedstaaten, … Maßnahmen betreffend Zweitwohnungen zu treffen, sofern sie aus Gründen der Raumordnung, der Bodennutzung und des Umweltschutzes erforderlich sind und ohne direkte oder indirekte Diskriminierung von Staatsangehörigen einzelner Mitgliedstaaten in Übereinstimmung mit dem gemeinschaftlichen Besitzstand angewendet werden.“ 97 Zur Verödungsgefahr s a OVG Lüneburg, ZfBR 1983, 238 (Leitsatz); sowie BVerwG, DVBl 1994, 1149, 1151 (Störung der sozialen Infrastruktur). 98 S o Fn 96. – Zweifel könnten sich daraus speisen, dass schließlich auch Hotels und andere Beherbergungsbetriebe, zu deren Gunsten das Verbot von Zweitwohnsitzen wirkt, außerhalb der Saison leer stehen. 99 Schlussanträge GA La Pergola, EuGH, Slg 1999, I-3099, Rn 16 – Konle; OVG Lüneburg, ZfBR 1983, 238, 240; BVerwG, DVBl 1994, 1149, 1151; vgl auch Bachlechner ZEuS 1998, 519, 520. 100 Kritisch auch Glöckner EuR 2000, 592, 619 f.

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pflicht erachtet der EuGH für unverhältnismäßig: Der freie Kapitalverkehr werde stärker als erforderlich belastet.101 Da die Genehmigungsbehörde eine Prognose über die zukünftige Nutzung zu erstellen habe, verfüge sie über einen „weiten Beurteilungsspielraum, der einem freien Ermessen sehr nahe kommt“. Die Ausübung von Grundfreiheiten dürfe aber nicht in das Ermessen der Verwaltung gestellt werden. Ob die dt Regelung (§ 22 BauGB) einer Überprüfung ihrer Verhältnismäßigkeit standhalten würde, muss gleichfalls bezweifelt werden. Die dort aufgestellte (unwiderlegliche) Vermutung, dass in touristischen Gebieten jede Begr von Wohnungseigentum der Verbreitung von Zweitwohnungen Vorschub leiste, erscheint gewagt. Schließlich ist es keinesfalls ausgeschlossen, dass Eigentumswohnungen auch in Touristenregionen als Hauptwohnsitz genutzt werden.102 Als vertragskonforme Alternative empfiehlt der Gerichtshof, auf die tatsächliche Nutzung des Grundstücks abzustellen und Geldbußen sowie Zwangsmaßnahmen für den Fall vorzusehen, dass das Grundstück vorschriftswidrig lediglich als Zweitwohnung genutzt wird. Um solche Nutzungsbeschränkungen durchzusetzen, könnten die Mitgliedstaaten die Eigentümer zu Auskünften verpflichten und außerdem beim Eigentumserwerb die Erklärung verlangen, dass der Erwerber das Grundstück vorschriftsgem nutzen wird.103 Aufgrund dieser Rspr zeichnet sich ab, dass Mitgliedstaaten, die Zweitwohnungen verhindern wollen, entspr Nutzungsbeschränkungen verhängen sollten. Eingriffe in die Gestaltung der Eigentumsverhältnisse laufen dagegen Gefahr, mangels Eignung oder mangels Erforderlichkeit gegen Art 63 I AEUV zu verstoßen. Die Eigentumsverhältnisse an einem Grundstück oder Gebäude stehen mit dessen Nutzung (als Haupt- oder Zweitwohnsitz) in keinem Zusammenhang. Wird ein Grundstück oder eine Wohnung übereignet, können Nutzungsbeschränkungen (die zB in Raumplänen angeordnet sind) ebenso gut gegen den neuen Eigentümer durchgesetzt werden.104 Umgekehrt lassen sich Zweitwohnsitze nicht nur durch Eigentumserwerb, sondern auch durch Miete schaffen. dd) Dänemark

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Dänemark ist aller Probleme enthoben. Dieser Mitgliedstaat ist insoweit von der Beachtung des AEU-Vertrags freigestellt. Gem einem Prot zur Vertragsänderung von Maastricht darf er seine Rechtsvorschriften, die am 1.11.1993 für den Erwerb von Zweitwohnungen galten, ungeachtet ihrer Vereinbarkeit mit den unionsrechtlichen Grundfreiheiten auf Dauer beibehalten.105

101 EuGH, Slg 1999, I-3099, Rn 40–49 – Konle (Tiroler Grundverkehrsgesetz); Slg 2002, I-2157, Rn 37–39 – Reisch (Salzburger Grundverkehrsgesetz); Slg 2003, I-4899, Rn 45–52 – Salzmann (Vorarlberger Grundverkehrsgesetz). 102 Vgl den Sachverhalt zu BVerwG, ZfBR 1996, 48, 50. 103 Zum Erfordernis einer vorausgehenden Erklärung des Erwerbers s EuGH, Slg 2002, I-2157, Rn 35 f – Reisch; Slg 1999, I-3099, Rn 44–48 – Konle. 104 Man vergleiche auch die Verbote, Wohnraum in Büroraum umzuwandeln. Sie richten sich an den jew Eigentümer der Immobilie und werden nicht mit Beschränkungen der Eigentumsübertragung durchzusetzen versucht. 105 S das Prot betr den Erwerb von Immobilien in Dänemark, ABl 1992 Nr C 191/68. Ein Prot ist Bestandteil der europäischen Verträge und damit auch des AEU-Vertrags (Art 51 EUV). Auch Malta forderte in seinen Beitrittsverhandlungen mit der EU, dass seine Beschränkungen des Erwerbs von Zweitwohnungen von der Geltung der Vorschriften über den freien Kapitalverkehr auf Dauer ausgenommen würden; KOM (2001) 553 endg, 10.

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b) Einheimischenmodelle Einige Kommunen, auch in Deutschland, beschränken den Verkehr mit Grundstücken dahin, dass Kaufinteressenten, die in der Gemeinde bereits ansässig sind, beim Erwerb bevorzugt werden. Derartige „Einheimischenmodelle“ sollen verhindern, dass Einheimische beim Grundstückserwerb gegenüber finanzstärkeren auswärtigen Kaufinteressenten den Kürzeren ziehen. Wie der EuGH das hierzu eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland entscheiden wird,106 steht noch nicht fest. Eine vergleichbare belgische Regelung wertete er als Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit.107 Er wies ua daraufhin, dass mildere Maßnahmen, etwa Zuschüsse an finanzschwächere Kaufinteressenten, zur Verfügung stünden. Ob diese auf bereits ortsansässige Interessenten beschränkt werden dürften, ist allerdings umstritten.

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c) Landwirtschaftliche Grundstücke Für Grundstücke der Land- und Forstwirtschaft gelten in vielen Mitgliedstaaten besondere Verkehrsbeschränkungen. Diese kennzeichnet, dass der Grundstücksverkehr mit Anforderungen an die Struktur des einzelnen landwirtschaftlichen Betriebs oder an die Struktur des gesamten Sektors verknüpft wird. Für den erstgenannten Typ liefert das österreichische Landesrecht Bsp. Die Grundverkehrsgesetze von Tirol und Vorarlberg beschränken den Erwerb auf landwirtschaftliche Einzelunternehmer: Ein land- oder forstwirtschaftliches Grundstück darf nur erwerben, wer es selbst bewirtschaften wird und über die hierfür erforderlichen fachlichen Kenntnisse verfügt; außerdem muss er seinen st Wohnsitz auf dem Betriebsgelände nehmen; durch den Erwerb darf er schließlich die Grenze eines „mittleren und kleinen“ landwirtschaftlichen Grundbesitzes nicht überschreiten.108 Ob diese Regelung das Wohl der Allgemeinheit fördert, ist umstritten. Der EuGH bejaht dies im Grundsatz: „Die Erhaltung der landwirtschaftlichen Bevölkerung, die Wahrung einer [bestimmten] Aufteilung des Grundeigentums und die Förderung einer vernünftigen Nutzung der verfügbaren Flächen“ lägen im Allgemeininteresse.109 Allerdings müssten Ausnahmen möglich sein; nicht in jedem Fall dürfe die Eigenbewirtschaftung durch den Erwerber verlangt werden. Zu überzeugen vermag diese Einschätzung kaum. Die Interessen landwirtschaftlicher Einzelunternehmer lassen sich nicht mit dem Interesse der Allgemeinheit gleichsetzen.110 Auf den zweitgenannten Typ stößt man ua in Deutschland. Das deutsche Grundstücksverkehrsgesetz versucht, mit Hilfe einer Genehmigungspflicht auf eine bestimmte (wenn auch nicht näher beschriebene) Struktur des betroffenen landwirtschaftlichen Sektors hinzuwirken. Die Genehmigung zur Veräußerung eines land- oder forstwirtschaftlichen Grundstücks darf ua dann verweigert werden, wenn die beabsichtigte

106 Europäische Kommission, Presseerklärung IP/10/820 vom 24.6.2010. 107 EuGH, EuZW 2013, 507, Rn 44–60 – Libert. Vgl auch Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 63 AEUV Rn 185 f. 108 Tirol: §§ 4, 6 I lit b und c Tiroler Grundverkehrsgesetz von 1996, LGBl 1996 Nr 61; Vorarlberg: §§ 4, 5 I lit a und II lit d Vorarlberger Grundverkehrsgesetz von 1993, LGBl 1993 Nr 61; auch wiedergegeben in EuGH, Slg 2003, I-9743 ff – Ospelt. 109 EuGH, Slg 2003, I-9743, Rn 38–54 – Ospelt; ebenso ein Teil des Schrifttums, etwa Schneider ZfV 2000, 16, 24. 110 Ebenso Bachlechner ZEuS 1998, 519, 532 f.

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Veräußerung den Grund und Boden „ungesund“ verteilen würde.111 Auch bei dieser Regelung bestehen Zweifel, ob sie das Allgemeinwohl erhöht. Es ist nicht ersichtlich, warum staatliche Lenkung eher als der freie Markt in der Lage sein sollte, leistungsfähige Wirtschaftsstrukturen in der Landwirtschaft hervorzubringen. Dementspr erscheint auch das Vorkaufsrecht nach dem deutschen Reichssiedlungsgesetz von keinen zwingenden Gemeinwohlbelangen getragen. (Gerechtfertigt sind hingegen Pläne, die bestimmte Nutzungen – etwa zur Landwirtschaft – für die überplanten Flächen festlegen.) d) Grundstücke in Grenzgebieten und Gebieten von militärischer Bedeutung 41

Einige Mitgliedstaaten beschränken den Erwerb von Grundeigentum in Grenzgebieten und Gebieten von militärischer Bedeutung.112 Zu den Gründen, aus denen der (grenzüberschreitende) Kapitalverkehr eingeschränkt werden darf, gehört auch die äußere Sicherheit (Art 65 I lit b AEUV). Voraussetzung ist, dass die ergriffene Maßnahme zur Landesverteidigung geeignet und erforderlich ist. Dieser Anforderung werden Regelungen, die nach der Staatsangehörigkeit des Grundstückserwerbers unterscheiden und nur Ausländern den Grunderwerb erschweren oder untersagen, nicht gerecht. Der Übergang des Eigentums an einem Grundstück wirkt sich auf die Fähigkeiten zur Landesverteidigung nicht aus. Den Mitgliedstaaten stehen Möglichkeiten zur Verfügung, zur Landesverteidigung benötigte Grundstücke zu nutzen, unabhängig davon, wer deren Eigentümer ist.113

6. Kreditsicherungsrecht a) Grundsätze 42

Sicherungsrechte (wie Pfandrechte, Sicherungseigentum, Sicherungsabtretung) sind eine Form von Kapital. Obwohl die Kapitalverkehrsfreiheit (Art 63 I AEUV) sowohl die grenzüberschreitende Bestellung als auch die grenzüberschreitende Mobilität von Sicherungsrechten schützt, ist ein gemeinsamer Markt für Sicherungsrechte bislang nicht Wirklichkeit geworden. Man stelle sich nur vor, dass Sicherungsgut (dh eine mit einem Sicherungsrecht belastete Sache) von einem Mitgliedstaat in einen anderen verbracht wird. Der Grenzübertritt kann wie ein Fallbeil wirken: Das Sicherungsrecht geht entweder völlig unter, oder es wird von der neuen Rechtsordnung in einen eigenen Rechtstyp umgewandelt, womit Rechtsverluste oder -gewinne einhergehen können. Hierfür verantwortlich sind zwingende Regelungen, die die nationalen Zivilrechte auf zwei Ebenen treffen.114 Das

111 § 2 I 1, § 9 I Ziff 1, § 9 II Gesetz über Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur und zur Sicherung land- und forstwirtschaftlicher Betriebe (Grundstücksverkehrsgesetz). Einen Überbl zu diesem Gesetz geben Baur/Stürner Sachenrecht, 18. Aufl 2009, § 27 II 1. Zum hiermit verbundenen Vorkaufsrecht der Siedlungsunternehmen s Stürner in: Soergel (Hrsg) BGB, 13. Aufl, Bd 16, 2001, Vor § 1094 Rn 22–24. 112 Hinw finden sich bei Knapp EWS 1999, 409 ff. 113 Vgl EuGH, Slg 2000, I-5965, Rn 22 – Albore: „Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn … dargetan werden könnte, dass eine nichtdiskriminierende Behandlung der Staatsangehörigen aller Mitgliedstaaten reale, konkrete und schwere Gefahren für die militärischen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats mit sich brächte, denen nicht auf eine weniger einschneidende Weise begegnet werden könnte.“ Dass eine Gleichbehandlung von Ausländern Gefahren dieser Art heraufbeschwören wird, erscheint äußerst unwahrscheinlich. 114 Im Einzelnen s v Wilmowsky (Fn 13) S 122–133, 94–122.

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Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs

§ 12 IV 6

Sachrecht (dh das sachentscheidende Recht) beschränkt häufig die Zulassung dinglicher Sicherungsrechte. So lassen viele Mitgliedstaaten es zB nicht zu, den Eigentumsvorbehalt eines Warenverkäufers auf die Gegenstände zu verlängern, die nach einer Verarbeitung oder einer Weiterveräußerung an die Stelle der Kaufsache treten werden. Als weitere Zulassungsschranke wird häufig das Erfordernis eingesetzt, dass der Sicherungsgeber das Sicherungsgut nicht in Besitz behalten darf, sondern dem Sicherungsnehmer übergeben muss.115 Schließlich beschränken viele Staaten die Gegenstände, die belastet werden können, die Personen, die Sicherungsgeber oder Sicherungsnehmer sein dürfen, oder die Forderungen, deren Erfüllung gesichert werden kann.116 Auf der Ebene des Kollisionsrechts (dh derjenigen Regeln, welche die in internationalen Sachverhalten anzuwendende nationale Rechtsordnung bestimmen) werden Bestellung und Mobilität von Sicherungsrechten durch die zwingende Anknüpfung an den Lageort (sog Situsdoktrin) eingeschränkt. Danach sind die Rechtsverhältnisse an Sachen nach der Rechtsordnung desjenigen Staats zu beurteilen, in dem sich die Sache physisch befindet. Wird eine Sache über eine Grenze gebracht, wechselt automatisch das anzuwendende Zivilrecht. Außerdem wird den Parteien des Sicherungsgeschäfts dadurch verwehrt, das anzuwendende Recht selbst zu wählen. Die erwähnten hoheitlichen Eingriffe bedürfen der Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse, sollen sie auf Transaktionen angewendet werden, die unter dem Schutz einer EU-Grundfreiheit stehen. Diese Überprüfung legt eine Neuorientierung der mitgliedstaatlichen Kreditsicherungsrechte nahe.117 Nicht zu rechtfertigen sind zwingende Vorgaben für den Kern des Sicherungsrechts, der aus Verteilungsvorrecht und Verwertungsbefugnis besteht. Insoweit sollten im Sachrecht Privatautonomie (Gestaltungsfreiheit) und im Kollisionsrecht Parteiautonomie (Rechtswahlfreiheit) Platz greifen. Dem Allgemeinwohl dienen jedoch einzelne Anforderungen an das Sicherungsrecht. Es sind dies die Herstellung von Publizität, der Schutz bestimmter Gläubigergruppen (nämlich solcher Gläubiger, die dem Wettbewerb um Sicherungsrechte nicht ausgesetzt sein sollten), die Funktionsfähigkeit von Insolvenzverfahren, der Verkehrsschutz durch gutgläubigen Erwerb sowie der Verbraucherschutz.118 Um diesen Kranz legitimer Anliegen zu verfolgen, können Privat- und Parteiautonomie eingeschränkt werden. b) Beispiel: Sicherungsrechte in fremder Währung Den EuGH hat bislang erst eine Frage zum Kreditsicherungsrecht erreicht: Stehen Regelungen, die Sicherungsrechte nur in der inländischen Währung oder in bestimmten, abschließend aufgeführten Währungen zulassen, mit Art 63 I AEUV in Einklang?119 Solche Anforderungen werden vor allem zu Sicherungsrechten an Grundstücken gestellt. Soll

115 Im dt Recht siehe §§ 1205 f BGB. 116 Zu den sachrechtlichen Beschränkungen gehören außerdem Vorgaben zur Währung, in der die Höhe eines Sicherungsrechts festgelegt werden kann; s das Bsp des folgenden Abschnitts. 117 S v Wilmowsky (Fn 13) S 149–374. 118 Die Publizität von Sicherungsrechten hat der EuGH als zwingendes Erfordernis anerkannt; s EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 30 – Trummer. 119 EuGH, Slg 1999, I-1661 ff – Trummer (Klage auf Eintragung einer Hypothek in Deutscher Mark an einem Grundstück in Österreich); Slg 2001, I-173 ff – Westdeutsche Landesbank (Schadensersatzklage der Westdeutschen Landesbank gegen einen österreichischen Notar, der – noch vor dem EU-Beitritt seines Landes – eine Hypothek in Deutscher Mark in ein österreichisches Grundbuch hatte eintragen lassen; diese Hypothek war unwirksam).

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§ 12 V

Peter von Wilmowsky

etwa in Deutschland eine Grundschuld oder eine Hypothek bestellt werden, muss deren Höhe in Euro, in einer anderen Währung eines EU-Staats, in Schweizer Franken oder in US-Dollar festgelegt werden; anderenfalls entsteht kein Grundpfandrecht.120 Ähnliche Vorgaben machen die Zivilrechte anderer Mitgliedstaaten, wobei der Kreis der zugelassenen Währungen zum Teil enger (auf allein die Inlandswährung), zum Teil weiter (auf die Währungen aller OECD- oder IWF-Staaten) gezogen wird. Der dadurch bewirkte Ausschluss anderer Währungen kann den Kapitalverkehr belasten.121 Man denke an den Fall, dass eine Forderung gesichert werden soll, die auf eine andere Währung lautet. Wegen der Begrenzung der zugelassenen Währungen ist es dann nicht möglich, das Grundpfandrecht in derselben Währung wie die der gesicherten Forderung zu bestellen. Eine währungskongruente und damit vollständige Sicherung wird dadurch zumindest erschwert.122 Stimmen Forderung und Sicherungsrecht währungsmäßig nicht überein, trägt der Sicherungsnehmer das Risiko, dass seine Sicherung infolge späterer Wechselkursänderungen hinter die zu sichernde Forderung zurückfällt. Zwingende Gründe des Gemeinwohls, die diese Beschränkung des Kapitalverkehrs rechtfertigen würden, sind nicht ersichtlich.123 Die Kapitalverkehrsfreiheit des AEU-Vertrags steht daher zivilrechtlichen Regelungen entgegen, die die Währungen begrenzen, in denen ein Sicherungsrecht bestellt werden kann. Auf Sicherungsrechtsbestellungen, die unter dem Schutz des Art 63 I AEUV erfolgen, können solche Regelungen nicht angewendet werden. Insoweit müssen alle Währungen zugelassen werden.124

V. Zusätzliche Beschränkungen gegenüber Drittstaaten 44

Da der Kapital- und Zahlungsverkehr (anders als der sonstige Wirtschaftsverkehr) auch an den Außengrenzen der EU den Schutz der Grundfreiheit genießt (Art 63 AEUV), darf er nur eingeschränkt werden, wenn der AEU-Vertrag hierfür eine geschriebene oder ungeschriebene Rechtfertigung vorsieht. Die bislang behandelten Rechtfertigungsgründe (Art 65 AEUV und die zwingenden Erfordernisse) gelten für Maßnahmen, die den Kapital- bzw Zahlungsverkehr sowohl innerhalb der Union als auch im Verhältnis zu Drittländern einschränken. Darüber hinaus räumt der AEU-Vertrag der Union, teilweise auch den Mitgliedstaaten, verschiedene Möglichkeiten ein, den Kapitalverkehr mit Drittländern stärker einzuschränken als den unionsinternen Kapital- bzw Zahlungsverkehr. Im

120 § 28 S 2 GBO iVm § 1 Verordnung v 30.10.1997 über Grundpfandrechte in ausländischer Währung (BGBl I 1997, 2683). 121 Schefold in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Fn 88) § 115 Rn 318–333; Grothe Fremdwährungsverbindlichkeiten, 1999, 437, 445–449. 122 EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 25 f – Trummer; Schlussanträge GA La Pergola, Slg 1999, I-1661, Rn 12 – Trummer. 123 EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 29–31 – Trummer; Schlussanträge GA La Pergola, Slg 1999, I-1661, Rn 13–17 – Trummer; Schlussanträge GA Leger, EuGH, Slg 2001, I-173, Rn 31–33 – Westdeutsche Landesbank; Grothe (Fn 121) S 437, 445–449. Anderer Auffassung zB Rohde (Fn 24) S 172 f (Rechtfertigung durch „den Gesetzeszweck, der insb in der Gläubigersicherung durch Grund und Boden liegt“ – was immer das heißen soll). Ob der Verbraucherschutz Einschränkungen der Währung des Sicherungsrechts erfordert, ist eine Frage, die sich nur im Verhältnis zu Verbrauchern stellen kann. 124 Schlussanträge GA La Pergola, EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 16 – Trummer; Schlussanträge GA Leger, Slg 2001, I-173, Rn 30 – Westdeutsche Landesbank; ebenso Fischer ZEuS 2000, 391, 414.

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Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs

§ 12 V 1

Rahmen der Art 64 AEUV, Art 66 AEUV und Art 75 AEUV können die Außengrenzen der Union ganz oder teilweise geschlossen werden. Diese Beschränkungsmöglichkeiten bestehen nur im Verhältnis zu Drittstaaten, nicht für den Kapital- bzw Zahlungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten. Außerdem kommt in Betracht, dass die in Art 65 AEUV genannten Eingriffsgründe und die in Ergänzung hierzu entwickelten zwingenden Erfordernisse im Verhältnis zu Drittstaaten anders ausgelegt werden und auf diese Weise zusätzliche Beschränkungsmöglichkeiten gegenüber Drittstaaten eröffnen.

1. Begründungsfreie Beschränkungen nach Art 64 AEUV Die Tür, die der Art 63 I AEUV dem Kapitalverkehr mit Drittländern im Grundsatz öffnet, kann nach Maßgabe des Art 64 AEUV verschlossen gehalten (Abs 1) oder wieder geschlossen werden (Abs 2). Betroffen sind die wesentlichen Bereiche des Kapitalverkehrs: die sog Direktinvestitionen, zu denen langfristige Unternehmensbeteiligungen und Gesellschafterdarlehen zählen,125 die Investitionen in Grundstücke, der Kapitalerwerb für eine Niederlassung oder für die Erbringung von Finanzdienstleistungen und die Ausgabe von Wertpapieren (wie Aktien und Schuldverschreibungen). Die übrigen Formen des Kapitalverkehrs (wie zB die grenzüberschreitende Verbringung von Bargeld) liegen außerhalb des Geltungsbereichs. In den erfassten Bereichen erlaubt der Art 64 AEUV zum einen, dass die Union und die einzelnen Mitgliedstaaten diejenigen Beschränkungen weiter anwenden, die am 31.12.1993 im Verhältnis zu Drittstaaten in Kraft waren (Abs 1). Damit wird durchaus fragwürdigen protektionistischen Regelungen, die Bürgern und Unternehmen aus Drittstaaten zB eine maßgebliche Beteiligung an Banken, Versicherungen, Medienhäusern, Fluggesellschaften und Schifffahrtsunternehmen in der EU verwehren, Bestandsschutz verliehen.126 Zum anderen wird die Union (nicht auch ein einzelner Mitgliedstaat!) ermächtigt, den Kapitalverkehr mit Drittstaaten in den genannten Bereichen nach Belieben einzuschränken (Abs 2). Hierzu muss Einstimmigkeit im Rat erzielt werden (Art 64 II 2 AEUV). Im Gegensatz zu allen anderen Möglichkeiten der Einschränkung von EUGrundfreiheiten sind die beiden Ermächtigungen des Art 64 AEUV an keine inhaltlichen Voraussetzungen gebunden. Weder die beibehaltenen noch die neu verhängten Beschränkungen müssen Allgemeinwohlbelange fördern.127 Dahinter steht das Bestreben, der Union für Verhandlungen mit Drittstaaten über den Abbau von Kapitalverkehrsbeschränkungen den Rücken zu stärken: Könnte die Union die durch Art 63 AEUV be-

125 Den Ausdruck „Direktinvestitionen“ hat der AEU-Vertrag aus dem volkswirtschaftlichen Rechnungswesen übernommen. Die Direktinvestitionen bilden einen Posten der Kapitalbilanz, eines Teils der Zahlungsbilanz eines Landes. Um sie von ihrem Gegenstück, den Portfolioinvestitionen, abzugrenzen, orientiert man sich an den Richtlinien, die der IWF für die Außenwirtschaftsrechnung seiner Mitgliedsländer erstellt; s International Monetary Fund Balance of Payments and International Investment Position Manual, 6th edition 2009. Siehe auch die „Nomenklatur für den Kapitalverkehr“ in RL 88/361, Anhang I; Erläuterungen: Rohde (Fn 24) S 183–190; Schröder in: Albers (Hrsg) HdWW (Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft), Bd 4, 1978, Stichwort „Kapitalbewegungen, internationale II“. 126 Zu den beibehaltenen Maßnahmen s Kiemel in: vd Greoben/Schwarze, EUV/EGV, Art 57 EGV Rn 9–15; Hindelang (Fn 37) S 294–299; Honrath Umfang und Grenzen der Freiheit des Kapitalverkehrs, 1998, 131 f. 127 Zu beachten sind jedoch die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus OECD-Vereinbarungen, WTO-Regelungen und dem EWR-Abkommen.

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Peter von Wilmowsky

wirkte einseitige Öffnung nicht zurückhalten oder zurücknehmen, fehlte ihr die Verhandlungsmacht, um Drittstaaten zu reziproken Grenzöffnungen zu bewegen.128

2. Befristete Beschränkungen nach Art 66 AEUV 46

Zu lediglich befristeten Beschränkungen gegenüber Drittstaaten wird der Unionsgesetzgeber durch Art 66 AEUV ermächtigt. Anders als bei Art 64 AEUV kann jede Form des Kapitalverkehrs (einschließlich des Zahlungsverkehrs) eingeschränkt werden. Maßnahmen nach Art 66 AEUV setzen voraus, dass die Wirtschafts- und Währungsunion schwerwiegend gestört ist oder gestört zu werden droht und hierfür außergewöhnlich umfangreiche Kapitalbewegungen nach oder aus Drittstaaten verantwortlich sind. Schutzgut sind sämtliche Komponenten der Wirtschafts- und Währungsunion. Auf der Seite der Wirtschaftsunion, die sich auf eine „enge“ Koordinierung der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitiken beschränkt (Art 119 AEUV, Art 121 AEUV), sind etwa die Konjunktur-, Ordnungs- und Strukturpolitik zu nennen. Zur Währungsunion gehören vor allem die Geldpolitik und die Wechselkurspolitik, die – nach Maßgabe der Art 119 und 127 AEUV – von den Mitgliedstaaten auf die Union übergegangen sind. Die Ziele sowohl der Wirtschafts- als auch der Währungsunion sind stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen, gesunde monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz (Art 119 III AEUV). Fließt Kapital aus der Union in Drittstaaten oder aus Drittstaaten in die Union, wirkt sich dies auf verschiedene Komponenten der Wirtschafts- und Währungsunion (wie zB den Wechselkurs oder das Zinsniveau) aus. Diese Einflüsse sind erwünscht: Sie spiegeln den Zweck der Kapitalverkehrsfreiheit wieder, für eine optimale Allokation von Kapital nicht nur innerhalb der Union, sondern auch im Verhältnis zu dritten Ländern zu sorgen. Folglich können sie keine Einschränkungen des Kapital- oder Zahlungsverkehrs gegenüber Drittländern rechtfertigen. Erst wenn sie zu einer schwerwiegenden Störung werden, sind Eingriffe zulässig. Dem Art 66 AEUV liegt die Vorstellung zugrunde, dass die wohlfahrtssteigernden Wirkungen eines auch an den Außengrenzen der Union liberalisierten Kapitalverkehrs in Störungen umschlagen können. Wenig geklärt ist, wann dieser Punkt erreicht wird. Da von der Ermächtigung des Art 66 AEUV noch kein Gebrauch gemacht wurde, fehlt jedes Anschauungsmaterial. Das juristische Schrifttum sucht Zuflucht in Szenarien, die wie „unerwünschte Zinsentwicklungen“, „Währungsturbulenzen“, „starke Devisenspekulationen“, „extreme Ungleichgewichte der Zahlungsbilanz“ und „überhitztes Wachstum“129 notgedrungen recht diffus sind und die Antwort auf die Frage, wann die Ergebnisse von Marktprozessen nicht mehr hinzunehmen seien, letztlich schuldig bleiben. Als konkrete Störung ist immerhin denkbar, dass sich die Devisenreserven des ESZB erschöpfen.130 Solange sich die Wechselkurse des Euro frei bilden können (und daher keine Interventionspflichten des ESZB bestehen), sind derartige Defizite in der Devisenbilanz aber nicht zu befürchten.131 128 Man könnte daran denken, die Ermächtigungen des Art 64 AEUV an den mit ihnen verfolgten Zweck zu binden und auf solche Maßnahmen zu begrenzen, die geeignet, erforderlich und angemessen sind, Drittstaaten zu weiterer Liberalisierung ihrer Seite des Kapitalverkehrs zu veranlassen. Ansätze hierzu finden sich etwa bei Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 64 AEUV Rn 26; und Kiemel in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 57 EGV Rn 20; skeptisch jedoch Honrath (Fn 126) S 139. 129 S Honrath (Fn 126) S 224, 227. 130 Vgl Bandilla in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 143 AEUV Rn 9. 131 S Rose/Sauernheimer (Fn 86) S 16, 20 f.

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Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs

§ 12 V 4

Sollte die in Art 66 AEUV beschriebene Situation einmal eintreten, darf der Unionsgesetzgeber den Kapital- bzw Zahlungsverkehr mit dem Drittstaat höchstens sechs Monate lang einschränken. Bei einem Devisenmangel kommt zB ein Moratorium in Betracht, das es den Währungsinländern untersagt, Fremdwährungsverbindlichkeiten zu erfüllen.132 Dabei hat die Union die Verpflichtungen zu beachten, die sie in internationalen Abkommen der OECD, der WTO und über den IWF eingegangen ist.133

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3. Wirtschaftssanktionen nach Art 215 AEUV Der Kapital- und Zahlungsverkehr darf ferner eingeschränkt werden, um ein Wirtschaftsembargo gegen ein bestimmtes Drittland zu bewirken (Art 215 I AEUV). Zuständig ist die Union, für die der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet (Art 215 I AEUV). Die ergriffene Maßnahme muss in die GASP (Art 23–46 EUV) eingebunden sein. Dazu gehört, dass die Union (handelnd durch den Europäischen Rat und den Rat der Außenminister) beschlossen hat, die Wirtschaftsbeziehungen zu dem betr Drittland aus politischen Gründen auszusetzen oder einzuschränken. Dies kann durch einen (konzeptionellen) „Gemeinsamen Standpunkt“ (Art 29 EUV) oder eine (operative) „Gemeinsame Aktion“ (Art 25 lit b Ziff i und Art 28 EUV) geschehen, die idR Einstimmigkeit erfordern (Art 31 I EUV).134

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4. Weiter reichende Auslegung des Art 65 AEUV und der zwingenden Erfordernisse Die zwingenden Erfordernisse und die in Art 65 AEUV kodifizierten Gemeinwohlbelange können Beschränkungen sowohl des unionsinternen Kapital- und Zahlungsverkehrs als auch des Kapital- und Zahlungsverkehrs mit Drittstaaten rechtfertigen. Denkbar ist aber, dass die Tragweite eines Rechtfertigungsgrunds davon abhängt, ob das Verhältnis innerhalb der Union oder das Verhältnis zu Drittländern angesprochen ist. Im Außenverhältnis der Union kann die rechtfertigende Kraft eines staatlichen Eingriffsinteresses weiter reichen als im Innenverhältnis zwischen den Mitgliedstaaten.135 Als Bsp mögen die Anforderungen dienen, die das dt Zivilrecht an eine Bürgschaft stellt, wenn diese als Sicherheitsleistung (zB in einem Zivilprozess, § 108 ZPO) dienen soll. Hierfür lässt das BGB allein solche Bürgen zu, die in Deutschland ansässig sind (§§ 232 II, 239 I BGB). Dass diese gesetzliche Voraussetzung gegenüber Bürgen aus anderen EU-Staaten mangels Rechtfertigung nicht mehr angewendet werden darf, ist bereits gerichtlich entschieden worden.136 Die Beschränkung auf inländische Bürgen kann sich nicht auf den Schutz der öffentlichen Ordnung (Art 65 I lit b AEUV) berufen, weil aufgrund des EuGVÜ in den anderen EU-Staaten wie im Inland vollstreckt werden kann. Im Verhältnis zu Drittländern wird

132 Schefold in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Fn 88) § 117 Rn 39. 133 Zu diesen Schranken s Kiemel in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 59 EGV Rn 15 f; Glaesner in: Schwarze, EU-Komm, Art 66 AEUV Rn 6–8. 134 Über ergriffene Finanzsanktionen berichten Hindelang (Fn 37) S 311–322 und Schäfer BKR 2002, 1–3. 135 Kemmerer (Fn 22) S 289–293; ähnlich Usher The Law of Money and Financial Services in the European Community, 2nd edition 2000, 235. 136 OLG Düsseldorf, WM 1995, 1993; vgl auch EuGH, Slg 2002, I-1425, Rn 36–40 – Kommission/ Italien (italienische Vorschrift, dass eine erforderliche Sicherheitsleistung nur durch ein Kreditinstitut mit Sitz oder Niederlassung in Italien erbracht werden dürfe).

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anders zu entscheiden sein, stößt die Vollstreckung des Anspruchs aus der Bürgschaft dort doch auf größere Schwierigkeiten. Man kann mithin Unterschiede, die das Verhältnis zu Drittstaaten (im Vergleich zum Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten) prägen, bei der Auslegung der Rechtfertigungsgründe berücksichtigen. Das bedeutet jedoch nicht, dass (außerhalb von Art 64 AEUV) auf eine Rechtfertigung verzichtet werden könnte. An dem Rechtfertigungserfordernis (nach Art 65 AEUV) droht das Verbot zu scheitern, das nach dem dt AWG gegenüber dem Erwerb von Anteilen an dt Gesellschaften ausgesprochen werden kann. Erwirbt eine in einem Drittstaat ansässige Person 25 % oder mehr der Stimmrechte, kann das Bundesministerium für Wirtschaft den Erwerb verbieten, vorausgesetzt, der Erwerb gefährdet „die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“.137 Zwar werden dadurch die Eingriffsvoraussetzungen des Art 65 I lit b AEUV wortgleich wiederholt. Für eine Rechtfertigung reicht dies gleichwohl nicht aus. Um diese zu erreichen, muss das eingreifende Gesetz die Umstände konkretisieren, unter denen die nationale öffentliche Ordnung und Sicherheit durch einen EU-ausländischen Gesellschafter beeinträchtigt wird. Diese Konkretisierung der Verwaltungsbehörde zu überlassen, lässt die Wirtschaftsteilnehmer die Reichweite des Eingriffs nicht vorhersehen und könnte zu Willkür führen.138 Allerdings steht in Zweifel, ob die genannte Maßnahme überhaupt in die Freiheit des Kapitalverkehrs eingreift oder ob angesichts der Mindesthöhe des Anteilserwerbs (25 %) nicht vielmehr ausschließlich die Niederlassungsfreiheit angesprochen ist, die im Verhältnis zu Drittstaaten nicht gilt.

VI. Verhältnis zu den anderen Grundfreiheiten 51

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In welchem Verhältnis die Kapitalverkehrsfreiheit zu den anderen Grundfreiheiten des AEU-Vertrags steht, wird lebhaft debattiert. Viel spricht für eine kumulative Anwendung: Liegt eine Transaktion in den Schutzbereichen mehrerer Grundfreiheiten, kommen diese nebeneinander zur Anwendung (→ § 7 Rn 65).139 Dadurch wird ein umfassender Grundfreiheitsschutz gewährleistet. Legt man dieses Konzept zugrunde, wird die Anwendbarkeit der Vorschriften über die Kapitalverkehrsfreiheit nicht dadurch in Frage gestellt, dass auch eine andere Grundfreiheit des AEU-Vertrags Platz greift. Umgekehrt schließt die Geltung der Kapitalverkehrsfreiheit die Anwendung einer anderen Grundfreiheit ebenso wenig aus. Dient ein Kapitaltransfer der Errichtung oder dem Betrieb einer Niederlassung oder der Ausübung einer unselbständigen Arbeitstätigkeit, greift dann außer der Kapitalverkehrsfreiheit auch die Gewährleistung der freien Niederlassung bzw der Arbeitnehmerfreizügigkeit ein. Dieser Ansatz wird allerdings zunehmend in Frage gestellt. Gestützt auf gleichfalls nicht wenige Urteile des EuGH, vor allem jüngeren Datums, vertreten einige Autoren, dass

137 S § 7 II Nr 6 und § 28 II Nr 3 AWG (Entwurf) idF des Regierungsentwurfs v 20.8.2008. 138 Vgl Bundesregierung, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2007/2008, Rn 608–622. 139 S zB Tiedje/Troberg in: vd Groeben/Schwarze, Art 43 EGV Rn 8–31; Streinz ER, Rn 926 f; Müller (Fn 11) S 190–197; Glaesner in: Schwarze, EU-Komm, Art 65 AEUV Rn 8; Schwarze Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007, Rn 148; S Weber EuZW 1992, 561, 564 f; Glöckner EuR 2000, 592, 594–607; Haferkamp (Fn. 22) 2003, S 161–206; teilw auch Ohler (Fn 21) Art 56 Rn 95–197.

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auf eine Transaktion nur eine einzige Grundfreiheit zur Anwendung kommen könne.140 Um die Exklusivität einer Grundfreiheit herzustellen, plädieren sie dafür, den Grundfreiheitsschutz auf eine Grundfreiheit zu lenken und die anderen angesprochenen Grundfreiheiten zurücktreten zu lassen. Den Vertretern dieser Auffassung bereitet beträchtliche Schwierigkeiten, aus mehreren berührten Grundfreiheiten diejenige auszuwählen, der der Vorrang gebühren soll. Betrachten wir das Zusammentreffen mit der Niederlassungsfreiheit. Zu diesem kommt es dort, wo jemand ein Unternehmen gründet oder erwirbt, eine Zweigstelle errichtet oder eine andere selbständige Erwerbstätigkeit aufnimmt oder ausübt und hierfür Vermögensgegenstände (nämlich Gesellschaftsanteile, die Einfluss auf die Geschäftsleitung vermitteln, oder Produktionsmittel wie Maschinen und Grundstücke) erwirbt. Hält man mehrere Grundfreiheiten für kumulativ anwendbar, steht dieser Vermögenserwerb – man bezeichnet ihn als „Investition“, weil er unternehmerischen Zwecken dient – nicht nur unter dem Schutz der Kapitalverkehrsfreiheit, sondern auch unter dem der Niederlassungsfreiheit.141 Wer dagegen für eine Kanalisierung auf eine einzige Grundfreiheit eintritt, muss sich zwischen der Kapitalverkehrsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit entscheiden. Wenig überraschend schlagen die Vertreter der Exklusivitätsthese hierzu unterschiedliche Lösungen vor. Ein Teil von ihnen will der Kapitalverkehrsfreiheit den Vorrang einräumen und den Grundfreiheitsschutz des mit einer Niederlassung einhergehenden Vermögenserwerbs allein auf Art 63 AEUV stützen.142 Zur Begr beruft man sich auf den Vorbehalt, den das Niederlassungsrecht zugunsten der Bestimmungen über den Kapitalverkehr ausspricht (Art 49 II AEUV). Ein anderer Teil gibt demgegenüber der Niederlassungsfreiheit den Vorzug; für Kapitalbewegungen, die im Zusammenhang mit einer Niederlassung erfolgen, gelte allein das Kap über die Niederlassungsfreiheit.143 Letztgenannte Auffassung hätte zur Folge, dass der betreffende Kapitalverkehr mit Drittstaaten keinen Grundfreiheitsschutz genösse.144 Mit ähnlichen Problemen hat die Exklusivitätslehre in den Fällen zu kämpfen, in denen Kapitalverkehr und Arbeitnehmertätigkeit in einer Handlung zusammenfallen. Man denke zB an den Grundstückserwerb durch einen Wanderarbeitnehmer. Will man den Schutz dieser Transaktion einer einzigen Grundfreiheit exklusiv zuweisen, kommt man nicht umhin, auf die Motive des Wanderarbeitnehmers abzustellen. Nach diesem Ansatz würde die Arbeitnehmerfreizügigkeit die Regelungen des freien Kapitalverkehrs dort verdrängen, wo der Arbeitnehmer die Immobilie als Wohnung zu nutzen plant. Soll sie ihm dagegen als Geldanlage dienen, wären allein die Bestimmungen über den Kapitalverkehr anzuwenden.145 Diese Differenzierung ist weder sinnvoll noch durchführbar, weil die genannten Erwerbszwecke sich nicht ausschließen, sondern gleichzeitig verfolgt wer-

140 Etwa: Freitag EWS 1997, 186, 188; Fischer ZEuS 2000, 391, 400; Ohler WM 1996, 1801, 1802 f; anders später Ohler (Fn 21) Art 56 Rn 114–117. 141 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 49 AEUV Rn 129. 142 Kimms (Fn 29) S 141. 143 Fischer ZEuS 2000, 391, 401 f; Freitag EWS 1997, 186, 190 f; Ohler WM 1996, 1801, 1804; anders später Ohler (Fn 21) Art 56 Rn 114–117. 144 Zu dieser Wirkung im Steuerrecht vgl Schürmann in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 63 AEUV Rn 15. 145 So etwa Ohler WM 1996, 1801, 1803 f; Freitag EWS 1997, 186, 189. Ähnlich Schlussanträge GA Geelhoed, EuGH, Slg 2002, I-2161, Rn 59–74 – Reisch, für das Zusammentreffen von Kapitalverkehr und Dienstleistungserbringung.

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Peter von Wilmowsky

den können. Man sollte daher anerkennen, dass zB der Erwerb von Grundeigentum durch einen Wanderarbeitnehmer unter dem Schutz sowohl der Kapitalverkehrsfreiheit als auch der Arbeitnehmerfreizügigkeit stehen kann.146 Während der EuGH zunächst dem Konzept der parallelen Anwendbarkeit (Kumulation) zu folgen schien,147 hat er sich ab Mitte der 2000er Jahre des Öfteren für die ausschließliche Geltung einer von mehreren berührten Grundfreiheiten ausgesprochen.148 Als Entscheidungskriterium zieht er den Geltungsanspruch der beschränkenden (mitgliedstaatlichen) Regelung heran. So soll ausschließlich die Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV zur Anwendung kommen, wenn die zu prüfende Regelung nur für solche gesellschaftsrechtliche Beteiligungen gilt, die „einen sicheren Einfluss“ auf die in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft gewähren und die es ermöglichen, deren Geschäftstätigkeit zu bestimmen.149 Dass die gesellschaftsrechtliche Beteiligung zugleich einen Kapitalverkehr darstellt, soll zurücktreten und beim Grundfreiheitsschutz unberücksichtigt bleiben. Die Exklusivitätsthese verdient keine Gefolgschaft. Es gibt keine überzeugenden Kriterien, nach denen sich der Grundfreiheitsschutz auf eine von mehreren berührten Grundfreiheiten kanalisieren ließe. Eine derartige Kanalisierung erscheint auch nicht geboten. Im Verhältnis zur Niederlassungsfreiheit stellt Art 65 II AEUV sicher, dass Einschränkungen der Niederlassung, die mit dem Kap über die Niederlassungsfreiheit in Einklang stehen (wie zB Einschränkungen der freien Niederlassung für unionsfremde Personen), nicht über die Gewährleistung des freien Kapitalverkehrs ausgehebelt werden. Im Übrigen, etwa im Verhältnis zur Dienstleistungsfreiheit, lässt sich den mitgliedstaatlichen Interventionsinteressen auf der Ebene der Rechtfertigung (etwa nach Art 64–66 AEUV oder durch ein „zwingendes Erfordernis“) Rechnung tragen;150 das ist einer Verdrängung der Anwendbarkeit einer Grundfreiheit, hier des Kapitalverkehrs, vorzuziehen. Zuzustimmen ist mithin der Auffassung, dass in den Fällen, in denen ein Kapitalverkehr mit einem Warenverkehr, einer Dienstleistungserbringung, einer Niederlassung oder einer Arbeitsleistung einhergeht, zusätzlich zur Kapitalverkehrsfreiheit auch die jeweils andere berührte Grundfreiheit Anwendung findet.151

146 Zur Arbeitnehmerfreizügigkeit vgl Art 9 I VO 1612/68 (VO über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft). Dort wird der Art 45 AEUV dahin konkretisiert, dass ausländische Arbeitnehmer hinsichtlich der Wohnung, einschließlich der Erlangung des Eigentums an ihr, alle Rechte und Vergünstigungen wie inländische Arbeitnehmer genießen. 147 Nachw ua b Haslehner IStR 2008, 565, 573 f; Schürmann in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 63 AEUV Rn 12 f; Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 63 AEUV Rn 230. 148 Nachw ua b Haslehner IStR 2008, 565, 571 ff; und Schürmann in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 63 AEUV Rn 14. 149 Etwa: EuGH, Slg 2007, I-2107, Rn 33 und 101 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation; sowie EuGH, EuZW 2013, 507, Rn 91 und 98 – Test Claimants in the FII Group Litigation (II). Weitere Nachw in der vorangehenden Fn. 150 S eindrucksvoll Schlussanträge GAin Stix-Hackl, EuGH, Slg 2006, I-9521, Rn 126–154 und 160–185 – Fidium Finanz = JK 2007, EGV Art 49/16. Anderer Auffassung der EuGH in dieser Rs (keine Anwendbarkeit der Kapitalverkehrsfreiheit). 151 Nachw o in Fn 139.

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Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs

§ 12 VII

VII. Schluss Die Befreiung des Kapitalverkehrs von ungerechtfertigten Beschränkungen (negative Harmonisierung) bildet den ersten Schritt, die Aufteilung in nationale Märkte zu überwinden und EU-weite Kapitalmärkte zu entwickeln. Will man die Integration darüber hinaus vertiefen, muss man die verbleibenden, gerechtfertigten Beschränkungen einander angleichen (positive Harmonisierung).152 Von integrierten Kapitalmärkten verspricht man sich eine Steigerung der wirtschaftlichen Wohlfahrt: Indem den Anbietern von und den Nachfragern nach Kapital die günstigsten Abschlüsse ermöglicht werden, kann das Kapital die Verwendung erhalten, welche den größten Nutzen stiftet.

152 Über die Maßnahmen zur Vereinheitlichung der für den Kapitalverkehr geltenden mitgliedstaatlichen Regelungen berichten zB Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 63 AEUV Rn 246–346; Haag in: Bieber/Epiney/Haag, EU, § 11 Rn 151–155; Schürmann in: Lenz/ Borchardt, EUV/AEUV, Vorb Art 63–66 AEUV Rn 12–48; und Kiemel in: vd Groeben/ Schwarze, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 59–78. – Für den Zahlungsverkehr ist die RL 2007/64 über Zahlungsdienste hervorzuheben (ABl 2007 Nr L 319/1). Sie schuf ein einheitliches (ziviles) Vertragsrecht für weite Bereiche des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, indem sie den „Zahlungsdienstevertrag“ als neuen (Schuld-)Vertragstyp einführte.

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§ 13 Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit Thorsten Kingreen Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1985, 593 ff – Gravier; Slg 1998, I-2691 ff – Martínez Sala; Slg 1998, I-7637 ff – Bickel; Slg 2001, I-6193 ff – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1. Schrifttum: Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995; Ettl Der praktische Fall – Europarecht: Augen auf im Straßenverkehr, JuS 2003, 151 ff; Frenz GF, Rn 3901–4012; Hammerl Inländerdiskriminierung, 1997; Jarass GRCh, Art 21 Rn 33–53; Odendahl in: Heselhaus/Nowak GR, § 45 Rn 1–41; Plötscher Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003; Rossi Das Diskriminierungsverbot nach Art 12 EG-Vertrag, EuR 2000, 197 ff; Sachs in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 21 Rn 26–35; Schmahl Gleichheitsgarantien, in: Grabenwarter (Hrsg) Enzyklopädie Europarecht Bd 2: Europäischer Grundrechteschutz, 2014, § 15 Rn 60–80; Schweitzer Art 12 EGV – Auf dem Weg zum „allgemeinen“ Gleichheitssatz in: FS Rudolf, 2001, S 189 ff.

1

Fall: (nach EuGH, Slg 1997, I-1711 ff – Hayes) Der britische Staatsangehörige Hayes (H) verklagt die Firma Kronenberger (K) vor dem Landgericht Saarbrücken auf Zahlung des Restkaufpreises aus der Lieferung von Funktionsteilen für Aufbereitungs- und Recyclinganlagen. K verlangt, dass H ihr gemäß § 110 ZPO aF Sicherheit zu leisten habe. Nach § 110 ZPO aF haben Ausländer, die als Kläger vor deutschen Gerichten auftreten, wegen der Prozesskosten Sicherheit zu leisten. Das gilt nicht, wenn der Staat, dem der Kläger angehört, von einem Deutschen im gleichen Falle keine Sicherheit verlangt. Diese Voraussetzung sah das Landgericht Saarbrücken als erfüllt an und gab der Klage statt. Das aufgrund der Berufung der K befasste Oberlandesgericht Saarbrücken legt dem EuGH die Frage vor, ob § 110 ZPO aF gegen Art 18 I AEUV (ex-Art 12 I EGV) verstößt.

I. Rechtsquellen und systematische Einordnung 2

Das Unionsrecht enthält in Art 18 I AEUV und Art 21 II GRCh Verbote der Ungleichbehandlung wegen der Staatsangehörigkeit. Sie zielen auf die Überwindung des Fremdenstatus1 und die Behandlung der Unionsbürger in jedem Mitgliedstaat als Inländer. Art 18 I AEUV und Art 21 II GRCh sind besondere Gleichheitssätze, weil sie Ungleichbehandlungen nur aufgrund eines Differenzierungskriteriums, nämlich der Staatsangehörigkeit, verbieten und nicht in allen Lebensbereichen, sondern nur im Anwendungsbereich der Verträge gelten.2 Die tatbestandliche Einschränkung, dass das Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit nur „unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge“ zum Zuge kommt, kennzeichnet seine Nachrangigkeit gegenüber spezielleren Diskriminierungsverboten. Weil „unbeschadet“ vorbehaltlich meint,3 dürfen Art 18 I AEUV/Art 21 II GRCh „autonom nur in durch das Gemeinschaftsrecht [= Unionsrecht, T. K.] geregelten Fällen angewendet werden, für die der Vertrag [= die Verträge, T. K.] keine besondere

1 v Bogdandy in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 1. 2 Von daher ist die häufig zu lesende Bezeichnung „allgemeines Diskriminierungsverbot“ irreführend (Rossi EuR 2000, 197, 197). 3 EuGH, Slg 1977, 1495, Rn 11 – Sagulo; Slg 1996, I-161, Rn 11 – Perfili.

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Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit

§ 13 II 1

Regelung der Nichtdiskriminierung vorsieht“.4 Sie treten daher gegenüber allen Bestimmungen zurück, die das Kriterium der Staatsangehörigkeit aufgreifen,5 insb also den Grundfreiheiten (→ §§ 8, 9, 10, 11, 12),6 nicht aber etwa gegenüber Art 157 I AEUV, der auf das Geschlecht als verbotenes Differenzierungskriterium abstellt.7 Das Verhältnis zwischen Art 18 I AEUV und dem gleichlautenden Art 21 II GRCh ist noch wenig ausgeleuchtet. Mit dem Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit reagiert Art 18 I AEUV auf föderale Gefährdungslagen, die daraus resultieren, dass Gliedstaaten in einem föderalen Gemeinwesen tendenziell dazu neigen, ihre Bürger gegenüber Bürgern aus anderen Gliedstaaten zu bevorzugen. Art 18 I AEUV erklärt die Zugehörigkeit zu einem Mitgliedstaat für die Behandlung durch einen anderen Mitgliedstaat für irrelevant; er ist daher eine transnationale Integrationsnorm (→ § 21 Rn 2). Das unterscheidet ihn funktional von den Gleichheitsgrundrechten, die der (supra-)nationalen Legitimation von Hoheitsgewalt dienen.8 Insofern ist die nochmalige Erwähnung des Diskriminierungsverbotes im Grundrechtsteil (Art 21 II GRCh) überflüssig und angesichts unterschiedlicher Adressaten und Schranken (Art 51 I, 52 I GRCh) auch nicht ganz unproblematisch.9 Letztlich bleibt nur, ihr Verhältnis untereinander über Art 52 II GRCh zu lösen, was zur Folge hat, dass Art 21 II GRCh ebenso auszulegen ist wie Art 18 I AEUV. Die Frage, welche eigenständige Bedeutung Art 21 II GRCh dann noch haben soll, bleibt aber unbeantwortet.10

3

II. Prüfungsaufbau 1. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich Art 18 I AEUV schützt alle natürlichen Personen, die die Unionsbürgerschaft (Art 20 AEUV) besitzen. Bei juristischen Personen bemisst sich der persönliche Schutzbereich nach Art 54 AEUV.11 Unsicher ist, ob und ggf inwieweit Drittstaatsangehörige geschützt sind. Dafür sprechen zwar im Umkehrschluss Art 45 II und Art 49 I AEUV, die ausdrücklich auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten beschränkt sind; eine solche Einschränkung fehlt bei

4 EuGH, Slg 1996, I-929, Rn 20 – Skanavi. 5 Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 6. 6 Vgl EuGH, Slg 1989, 195, Rn 14 – Cowan; Frenz GF, Rn 3917 ff; Holoubek in: Schwarze, EUKomm, Art 18 AEUV Rn 49; für Idealkonkurrenz hingegen wohl Schweitzer FS Rudolf, S 189, 189 f. 7 v Bogdandy in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 58; Schmahl in: Grabenwarter (Hrsg) Enzyklopädie Europarecht Bd 2: Europäischer Grundrechteschutz, 2014, § 15 Rn 64. 8 Zur Unterscheidung zwischen transnationalen Integrations- und supranationalen Legitimationsnormen vgl ferner Pache in: Heselhaus/Nowak, GR, § 4 Rn 56 ff; Rossi EuR 2000, 197, 209. – Für die Grundrechtsqualität von Art 18 I AEUV hingegen Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 45 Rn 25 ff. 9 Vgl Grabenwarter EuGRZ 2004, 563, 567 f; Kingreen EuGRZ 2004, 570, 571 ff. 10 Vgl Jarass GRCh, Art 52 Rn 58 in Auseinandersetzung mit der in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 11 vertretenen Ansicht; ferner Schmahl (Fn 7), § 15 Rn 63. 11 v Bogdandy in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 29; krit: Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 45 Rn 17: Art 199 Nr 4 AEUV.

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Art 18 I AEUV. Gegen eine Berechtigung spricht allerdings die spezifisch auf den Binnenmarkt bezogene Funktion des Art 18 I AEUV. Anders als die – grds auch für Drittstaatsangehörige geltenden (→ § 14 Rn 42) – Unionsgrundrechte hat Art 18 I AEUV keine supranationale Integrationsfunktion, soll also nicht an die Stelle der nationalen Grundrechte treten, die, soweit Hoheitsrechte auf die Union übertragen wurden, nicht mehr anwendbar sind.12 Er soll vielmehr, wie alle Binnenmarktvorschriften, die transnationale Integration fördern und den Unionsbürgern in jedem Mitgliedstaat eine gegenüber Drittstaatlern qualifizierte Zugehörigkeit vermitteln. Diese hervorgehobene Stellung, die auch in der Unionsbürgerschaft (Art 20 AEUV) zum Ausdruck kommt, würde eingeebnet, wenn Drittstaatler durch die Verträge die gleichen Rechte eingeräumt bekämen.13 Im Einzelfall kann allerdings anderes gelten, wenn sich aus dem konkreten Sachgebiet, insb aus sekundärrechtlichen Regelungen, ergibt, dass insoweit auch Drittstaatler qualifizierten Schutz vor Ungleichbehandlungen wegen der Staatsangehörigkeit genießen sollen.14 6

Beispiele: Weil Art 18 I AEUV Drittstaatsangehörige nicht berechtigt, ist eine irische Regelung nicht zu beanstanden, die für die Besatzung auf Schiffen einen Mindestanteil von Angehörigen der Union fordert.15 Art 11 RL 2003/1916 erstreckt hingegen den Anspruch auf Gleichbehandlung auch auf langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige.

b) Sachlicher Schutzbereich 7

Sachlich ist Art 18 I AEUV auf den Anwendungsbereich der Verträge beschränkt. Das setzt nach Ansicht des EuGH voraus, dass eine „gemeinschaftsrechtlich [= unionsrechtlich, T. K.] geregelte Situation“17 vorliegt bzw der Fall „Berührungspunkte mit irgendeinem der Sachverhalte“ aufweist, „auf die das Gemeinschaftsrecht [= Unionsrecht, T. K.] abstellt“18. Dabei ist allerdings der „gegenwärtige Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts [= Unionsrechts, T. K.]“19 zu berücksichtigen.

8

Beispiele: In den Anwendungsbereich der Verträge fallen etwa Vorschriften, die für die Gründung einer Vereinigung eine Mindestzahl von Mitgliedern mit der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaates verlangen.20 Gleiches gilt für Vorschriften, die den Zugang zum Universitätsstudium regeln (etwa Zugangsbeschränkungen für nichtansässige Studierende,21 Einschreibeund Studiengebühren22) und die Migranten mit doppelter Staatsangehörigkeit beim Namensrecht benachteiligen.23

12 Zur supranationalen Integrationsfunktion Rn 1 f. 13 Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 18 AEUV Rn 36 ff; Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 45 Rn 18; Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 38; differenzierend v Bogdandy in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 31 ff. 14 Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 39. 15 EuGH, Slg 1988, 83, Rn 20 f – Pesca Valentia. 16 RL 2003/109 vom 25. November 2003 betr die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, ABl 2003 L 16/44. 17 EuGH, Slg 1989, 195, Rn 10 – Cowan. 18 EuGH, Slg 1982, 3723, Rn 16 – Morson. 19 EuGH, Slg 1988, 3161, Rn 15 – Lair; Slg 1988, 3295, Rn 18 – Brown. 20 EuGH, Slg 1999, I-3999, Rn 12 – Kommission/Belgien. 21 EuGH, Slg 2010, I-2735, Rn 31 ff – Bressol und Chaverot. 22 EuGH, Slg 1985, 593, Rn 31 – Gravier. 23 EuGH, Slg 2003, I-11613, Rn 24, 31 ff – Garcia Avello.

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Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit

§ 13 II 1

Hingegen fiel noch 1988 die finanzielle Förderung der Studierenden (BAföG) nicht in den Anwendungsbereich der Verträge, weil Bildungs- und Sozialpolitik als Sache der Mitgliedstaaten galt.

9

Beispiel: Frau Lair, eine französische Staatsangehörige, hatte in Deutschland zunächst 2 1/2 Jahre als Bankangestellte gearbeitet und war in den folgenden drei Jahren überwiegend arbeitslos oder befand sich in einer Umschulung; dazwischen lagen kurze Beschäftigungszeiten. Seit dem 1. Oktober 1984 studierte sie an der Universität Hannover Romanistik und Germanistik und beantragte Ausbildungsförderung nach dem BAföG. Nach § 8 BAföG wurde aber Ausbildungsförderung Ausländern nur geleistet, wenn sie sich vor Beginn des förderungsfähigen Teils der Ausbildung insg fünf Jahre im Geltungsbereich des Gesetzes aufgehalten haben und rechtmäßig erwerbstätig gewesen sind. Deutsche brauchten demgegenüber keine vorherige Erwerbstätigkeit nachzuweisen. Das war an sich eine eindeutige, nach Art 18 I AEUV (ex-Art 12 I EGV) verbotene Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit. Der EuGH hat indes entschieden, dass „beim gegenwärtigen Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts [= Unionsrechts, T. K.] eine Förderung, die Studenten für den Lebensunterhalt und die Ausbildung gewährt wird, grds außerhalb des Anwendungsbereichs des EWG-Vertrags iSv dessen Artikel 7 (= Art 18 I AEUV, T. K.] liegt. Sie fällt nämlich zum einen in den Bereich der Bildungspolitik, die als solche nicht der Zuständigkeit der Gemeinschaftsorgane [= Unionsorgane, T. K.] unterstellt worden ist […] und zum anderen in den der Sozialpolitik, die zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten gehört, soweit sie nicht Gegenstand besonderer Vorschriften des EWG-Vertrags ist“24.

10

Der EuGH sieht diese an den Kompetenzbestimmungen ansetzende Rspr mittlerweile als überholt an, obwohl sich die Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten nicht grds verändert hat.

11

Beispiel: Der französische Staatsangehörige Grzelczyk finanzierte sein Studium in Belgien in den ersten drei Studienjahren zunächst selbst. In seinem vierten Studienjahr war das wegen der zeitlichen Belastung nicht mehr möglich, er beantragte deshalb Sozialhilfe. Wäre Herr Grzelczyk belgischer Staatsangehöriger gewesen, wäre dieser Anspruch unproblematisch zu bejahen gewesen. Fraglich war, ob es als ungerechtfertigte Diskriminierung anzusehen war, dass ihm nur wegen seiner französischen Staatsangehörigkeit keine Sozialhilfe gewährt wurde. Nach der bis dahin geltenden Rspr (Rn 10) wäre dies zu verneinen gewesen. Nunmehr soll aber auch die finanzielle Förderung ausländischer Studierender, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, in den Anwendungsbereich des Vertrages (= der Verträge, T. K.) fallen.25 Der EuGH begründet dies ua damit, dass durch den Vertrag über die Europäische Union ein Kapitel über die allgemeine und berufliche Bildung sowie die Unionsbürgerschaft in den EG-Vertrag (= AEUV, T. K.) aufgenommen worden seien.26

12

Die Anknüpfung an Kompetenzbestimmungen zur Interpretation der Wendung „im Anwendungsbereich der Verträge“ überzeugt nicht: Aufgaben- und Befugnisnormen der Union besagen nichts darüber, welche Diskriminierungen durch die Mitgliedstaaten, die ja Ausübung mitgliedstaatlicher Kompetenzen sind, in den Anwendungsbereich der Verträge fallen. Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit gehen nur von den Mitgliedstaaten aus und treten daher auch nur dort auf, wo die Union gerade keine Kompetenzen hat.

13

24 EuGH, Slg 1988, 3161, Rn 14 – Lair; vgl ferner Slg 1988, 3295, Rn 17 – Brown. 25 EuGH, Slg 2001, I-6193, Rn 35 – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1. 26 EuGH, Slg 2001, I-6193, Rn 35 – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1.

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§ 13 II 1

Thorsten Kingreen

Deshalb fallen auch nach Meinung des EuGH Diskriminierungen bei der Sozialhilfe,27 im Zivilprozessrecht28 und im Straf(prozess-)recht29 in den Anwendungsbereich der Verträge, obwohl hier keine Anknüpfung an Kompetenzen der Union möglich ist. Weiterführend als ein kompetentieller ist daher ein materiell-rechtlicher Interpretationsansatz. Entscheidend ist dann nicht die Existenz von Kompetenzbestimmungen, sondern von sekundärem Unionsrecht, das auf der Grundlage der Kompetenznormen erlassen und von den Mitgliedstaaten angewendet wird. Es kommt also nicht auf Kompetenzen, sondern auf ihre Wahrnehmung an; das entspricht auch Art 51 I 1 GRCh. Mitunter lassen sich darüber hinaus bereits aus dem materiellen Primärrecht Reichweite und Grenzen des „Anwendungsbereichs der Verträge“ entnehmen.30 14

Beispiele: Der Umkehrschluss aus Art 22 I AEUV ergibt, dass Wahlen auf regionaler und nationaler Ebene nicht in den Anwendungsbereich der Verträge fallen. Das auf die eigenen Staatsangehörigen beschränkte Wahlrecht verstößt daher auch nicht gegen Art 18 I AEUV. – Art 21 I AEUV gewährleistet das Recht auf Freizügigkeit nur vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen. Er begründet damit nur ein Recht auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat, das durch die Freizügigkeits-Richtlinie RL 2004/3831 näher ausgestaltet und beschränkt wird, insb für den Fall, dass der Betreffende sozial bedürftig wird. Entscheidend ist nun, dass der so verstandene Art 21 I AEUV auch den Anwendungsbereich der Verträge iSv Art 18 I AEUV eröffnet, dies aber nur so weit, wie er selbst reicht.32 Das durch Art 18 I AEUV vermittelte Recht im Aufenthalt wird also durch das aus Art 21 I AEUV folgende Recht auf Aufenthalt zwar begründet, aber auch begrenzt, weshalb etwa an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Ungleichbehandlungen beim Bezug von Sozialhilfe oder von Studienstipendien zulässig sind (vgl auch Art 24 RL 2004/38). Das zuletzt genannte Beispiel belegt, wie im Zusammenspiel von Primär- und Sekundärrecht der für Art 18 I AEUV relevante Anwendungsbereich der Verträge konkretisiert wird.

15

Nicht in den Anwendungsbereich der Verträge fällt aus vertragssystematischen Gründen auch die sog Inländerdiskriminierung.33 Diese entsteht, wenn im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates für vergleichbare Sachverhalte unterschiedliche Regelungen gelten, weil der Mitgliedstaat aufgrund von Vorgaben des Unionsrechts (meist der Grundfreiheiten) für inländische Sachverhalte andere Regelungen erlässt oder aufrechthält als für Sachverhalte mit Auslandsbezug.34 Würde man darin, wie das insb von einigen Generalanwälten

27 EuGH, Slg 2004, I-7573, Rn 42 – Trojani. 28 Vgl dementsprechend ohne Erörterung der Kompetenzproblematik EuGH, Slg 1997, I-1711, Rn 17 – Hayes. 29 EuGH, Slg 1998, I-7637, Rn 16 – Bickel. 30 Ebenso Khan in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 12. 31 RL 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates v 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl Nr L 158/77. 32 Kingreen EuR 2007/Beiheft 1, 43, 60 f; ebenso Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 18 AEUV Rn 54. 33 EuGH, Slg 1986, 29, Rn 56 – Hurd; ebenso etwa Jarass GRCh, Art 21 Rn 40; Odendahl: in Heselhaus/Nowak, GR, § 45 Rn 23; Schmahl (Fn 7), § 15 Rn 71; Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 62. 34 Lackhoff/Raczinski EWS 1997, 109, 110; ausf: Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 17 ff.

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Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit

§ 13 II 2

vertreten wird,35 einen Anwendungsfall des Art 18 I AEUV sehen, so würde die zutreffende und auch vom EuGH geteilte Beschränkung der Grundfreiheiten auf Sachverhalte mit grenzüberschreitendem Bezug36 überspielt: Was die Grundfreiheiten für den transnationalen Sachverhalt bewirken würden, würde Art 18 I AEUV für den nationalen gleichsam nachvollziehen.37 Dem steht entgegen, dass die Grundfreiheiten leges speciales zu Art 18 I AEUV und daher insoweit abschließend sind. Dem Problem der Inländerdiskriminierung ist daher nur über das nationale Verfassungsrecht (Art 3 I, Art 12 I GG) beizukommen.38 Beispiel: Eine brandenburgische Brauerei braut unter Hinzufügung von Invertzuckersirup ein untergäriges Schwarzbier. Das verstößt gegen das deutsche Reinheitsgebot, das vorsieht, dass zur Bereitung von Bier ausschließlich Gerstenmalz, Hopfen, Hefe und Wasser verwendet werden dürfen. Andere Zusatzstoffe sind verboten. Das zuständige Ministerium lehnte es daher ab, der Brauerei eine Genehmigung für das Herstellen und Inverkehrbringen unter der Bezeichnung Bier zu erteilen; erlaubt wurde lediglich die Herstellung des Biers für den Export. Die Brauerei sieht darin einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit und gegen den allgem Gleichheitssatz, weil Brauereien aus anderen Mitgliedstaaten bereits seit dem EuGH-Urt zum deutschen Reinheitsgebot aus dem Jahre 1987 Bier auch ohne Beachtung des Reinheitsgebots in Deutschland vertreiben dürfen. Das Bundesverwaltungsgericht sieht in der Genehmigungsverweigerung einen Verstoß gegen Art 12 I GG und mahnt großzügigere Ausnahmen vom Reinheitsgebot an.39

16

2. Beeinträchtigung Beeinträchtigung ist jede Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit.

17

a) Normadressaten Normadressaten sind die Union und die Mitgliedstaaten.40 Ob Art 18 I AEUV Drittwirkung entfaltet, ist hingegen umstritten.41 Der EuGH hat zu dieser Frage noch nicht Stellung bezogen; für die Personenverkehrsfreiheiten nimmt er aber jedenfalls im Bereich der privatautonomen Rechtsetzung eine unmittelbare Drittwirkung an (→ vgl § 7 Rn 52 f). Dagegen spricht, dass so das Recht des Einzelnen auf Nichtdiskriminierung gegenüber der öffentlichen Gewalt zu einer Pflicht gegenüber allen Mitbürgern wird. Näherliegender

35 Schlussanträge GA Maduro, EuGH, Slg 2004, I-8027, Rn 44 ff – Carbonati Apuani; vgl bereits GA Tesauro, Slg 1994, I-3957, Rn 28 – Lancry ua. 36 Dazu näher Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 84 ff. 37 Vgl Hammerl Inländerdiskriminierung, 1997, 151 ff; Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 62 ff. 38 Vgl ÖstVerfGH, EuZW 2001, 219. 39 BVerwGE 123, 82, 85 f; dazu Riese/Noll NVwZ 2007, 516 ff. 40 Vgl nur Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 18 AEUV Rn 39 ff. 41 Für eine Drittwirkung v Bogdandy in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 27; Schmahl (Fn 7), § 15 Rn 67; und, wenn auch vorsichtig, Rossi EuR 2000, 197, 216 f; dagegen Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 18 AEUV Rn 44 f; Khan in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 4; und Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 43.

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§ 13 II 2

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ist es, die Fälle privaten Machtmissbrauchs entweder über das Kartellrecht (Art 101 f AEUV) oder über Schutzpflichten der Mitgliedstaaten zu verarbeiten.42 b) Arten der Beeinträchtigung 19

20

Art 18 I AEUV verbietet „nicht nur unmittelbare Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle Formen der mittelbaren Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen“43. Unmittelbare Diskriminierungen zeichnen sich durch eine tatbestandliche Anknüpfung an das verbotene Unterscheidungskriterium der Staatsangehörigkeit aus.

21

Beispiele: Eine unmittelbare Diskriminierung stellt es dar, wenn staatliche Museen den eigenen Staatsangehörigen niedrigere Eintrittspreise abverlangen als anderen Unionsbürgern44 und wenn Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten an staatlichen Universitäten zusätzliche Einschreibe- und Studiengebühren entrichten müssen.45 Gleiches gilt für Art 19 III GG, der den Grundrechtsschutz auf inländische juristische Personen erstreckt, weshalb es einer Anwendungserweiterung der Vorschrift auf juristische Personen im EU-Ausland bedarf.46

22

Die Prüfung, ob eine mittelbare Diskriminierung vorliegt, bereitet wegen der schwierigen Abgrenzung zu sonstigen, nicht diskriminierenden Beschränkungen oftmals Probleme.47 Der EuGH stellt in einer Entscheidung darauf ab, ob „die große Mehrzahl“ der von der Norm geregelten Fälle Angehörige anderer Mitgliedstaaten trifft.48 Das spricht dafür, dass es – wie bei Art 157 AEUV und bei den Grundfreiheiten49 – primär auf die tatsächlichen Auswirkungen einer Maßnahme ankommt, darauf also, ob eine besonders große Zahl der vor Diskriminierung geschützten Gruppe betroffen ist. Doch können – möglicherweise zufällige – tatsächliche Auswirkungen allein keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit begründen. Art 18 I AEUV will nämlich nicht generell Schlechterstellungen von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten verbieten, sondern nur solche aufgrund der Staatsangehörigkeit. Entscheidend ist daher der materielle Regelungsgehalt der möglicherweise mittelbar diskriminierenden Anforderung: Es kommt darauf an, ob die angegriffene Maßnahme Anforderungen enthält, die typischerweise nur oder zumindest leichter von In- als von Ausländern erfüllt werden können, ob sie also spezifisch auf die unterschiedliche Ausgangsposition von In- und Ausländern zugeschnitten ist. Der Normadressat muss maW in der Lage sein, die gestellte Anforderung mit anderen Gründen als mit dem der Staatsangehörigkeit zu begründen. Gelingt diese Begründung, so hat sie vor Art 18 I AEUV selbst dann Bestand, wenn faktisch mehr Aus- als Inländer betroffen sind.50

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Näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 111 ff. EuGH, Slg 2010, I-2735, Rn 40 – Bressol u Chaverot. EuGH, Slg 1994, I-911, Rn 10 – Kommission/Spanien. EuGH, Slg 1994, I-1593, Rn 19 – Kommission/Belgien. BVerfGE 129, 78, 94 ff. Vgl die ausführliche Analyse bei Plötscher Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, 114 ff. 48 EuGH, Slg 1994, I-117, Rn 16 – Owens Bank. 49 Vgl etwa EuGH, Slg 1989, 1591, Rn 12 – Allué I. 50 Zu diesem Verständnis der besonderen Gleichheitssätze als Begründungsverbote Pieroth/Schlink/ Kingreen/Poscher Grundrechte. Staatsrecht II, 30. Aufl. 2014, Rn 481 ff, für die Grundfreiheiten Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 73.

510

Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit

§ 13 II 2

Beispiele: Mittelbar diskriminierend wirken etwa alle Regelungen, die an den Wohnsitz oder ein Niederlassungserfordernis anknüpfen, weil diese Voraussetzungen für Ausländer regelmäßig schwerer zu erfüllen sind als für Inländer.51 Bejaht worden ist das etwa, wenn ein Mitgliedstaat kostenlose Autobahnvignetten an behinderte Personen mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat vergibt52 oder die Erlaubnis, Heißluftballonfahrten anzubieten, von einem Wohn-/Gesellschaftssitz im Inland abhängig gemacht wird.53 Eine mittelbare Diskriminierung ist etwa auch das Erfordernis eines im Inland zugelassenen Kraftfahrzeuges als Voraussetzung für eine straßenverkehrsrechtliche Bevorzugung.54 Entsprechendes gilt, wenn ein Mitgliedstaat die Gewährung von Sozialleistungen von einer förmlichen Aufenthaltserlaubnis abhängig macht, während Inländer lediglich ihren Wohnsitz oder tatsächlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat haben müssen.55 Verneint worden ist eine mittelbare Diskriminierung bei der Zweitwohnungssteuer.56

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c) Rechtfertigung Obwohl Art 18 I AEUV keine ausdrücklichen Schrankenbestimmungen enthält, ist anerkannt, dass jedenfalls mittelbare Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit gerechtfertigt werden können. Dabei wird auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aktiviert: Zu prüfen ist, ob die mittelbar diskriminierende Maßnahme durch „objektive Umstände gerechtfertigt ist“57 und in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck steht, der mit ihr verfolgt wird.58 Ungeklärt ist hingegen, ob auch unmittelbare Diskriminierungen gerechtfertigt werden können. In der Literatur wird Art 18 I AEUV insoweit teilweise als absolutes Diskriminierungsverbot verstanden, das einer Rechtfertigung nicht zugänglich sei. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut „jede Diskriminierung“ und dem systematischen Umstand, dass bei den Grundfreiheiten Rechtfertigungstatbestände vorhanden sind, die bei Art 18 I AEUV fehlen.59 Doch sind dies jeweils Argumente, die auch gegen die Rechtfertigungsmöglichkeiten bei mittelbaren Diskriminierungen sprechen müssten. Denn auch eine mittelbare Diskriminierung ist ja „Diskriminierung“ im Sinne von Art 18 I AEUV. Die Rspr des EuGH ist alles andere als einheitlich,60 scheint aber darauf hinaus zu laufen, dass unmittelbare Diskriminierungen zwar zu rechtfertigen, aber insoweit erhöhten Anforderungen ausgesetzt sind.61 In einer gewissen Parallelität zu der allerdings ihrerseits inkohärenten Rspr zu den Grundfreiheiten62 sollen unmittelbare Diskriminierungen lediglich aufgrund im Verfassungstext kodifizierter Rechtfertigungsgründe zu rechtfertigen sein, während bei mittelbaren Diskriminierungen auch sonstige Allgemeinwohlerwägungen zum Tragen 51 EuGH, Slg 1974, 153, Rn 11 – Sotgiu; Slg 1993, I-817, Rn 10 – Kommission/Luxemburg; Slg 2010, I-2735, Rn 45 – Bressol und Chaverot. 52 EuGH, Slg 2009, I-9117, Rn 28 f – Gottwald. 53 EuGH, Slg 2011, I-139, Rn 34, 37 – Neukirchinger = JK 2011, AEUV Art 18/1. 54 EuGH, Slg 2002, I-2965, Rn 18 – Kommission/Italien. 55 EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 65 – Martínez Sala. 56 VGH München, Urt. v. 27.3.2012, BeckRS 2013, 49687, Rn 17. 57 Vgl etwa EuGH, Slg 1994, I-467, Rn 17 – Mund & Fester. 58 EuGH, Slg 1998, I-7637, Rn 28 – Bickel. 59 Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 18 AEUV Rn 22. 60 Vgl Plötscher (Fn 47) 131 f. 61 Rechtfertigung einer unmittelbaren Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit etwa bei EuGH, Slg 2008, I-9705, Rn 58 – Huber. 62 Gundel Jura 2001, 79 ff; Kingreen in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, 705, 735 ff.

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§ 13 II 2

Thorsten Kingreen

kommen.63 Die Parallelität mit den Grundfreiheiten leuchtet grds ein.64 Allerdings ist nicht einsichtig, warum unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen unterschiedlich behandelt werden sollten65 (→ § 21 Rn 49). Die Differenzierung des EuGH fördert den versteckten Protektionismus, der Benachteiligungen wegen der Staatsangehörigkeit nur geschickt verschleiert, statt sie offen zu legen. Und für den benachteiligten Ausländer kann es ohnehin keinen Unterschied machen, ob er durch eine unmittelbar an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Maßnahme oder durch eine sonstige Maßnahme diskriminiert wird, die im Ergebnis wie eine Ungleichbehandlung wegen der Staatsangehörigkeit wirkt. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen sollten daher auch im Hinblick auf die Rechtfertigungsmöglichkeiten gleich behandelt werden. d) Rechtsfolgen eines Verstoßes 26

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Bei einem Verstoß gegen Art 18 I AEUV ist es Sache des Mitgliedstaates, ob er die bislang benachteiligte Person so behandelt wie die bislang bevorzugte, die belastende Regelung auch auf Letztere erstreckt oder beide auf eine dritte Art und Weise behandelt.66 Lösung: § 110 ZPO aF könnte gegen Art 18 I AEUV verstoßen (1) Fraglich ist, ob § 110 ZPO aF in den „Anwendungsbereich der Verträge“ im Sinne von Art 18 I AEUV fällt. Zwar ist es mangels einer Zuständigkeit der Union Sache der Mitgliedstaaten, das Zivilprozessrecht zu regeln. Doch besteht diese Zuständigkeit nicht schrankenlos. Insb verbietet Art 18 I AEUV Diskriminierungen, die im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Betätigung stehen. Obwohl § 110 ZPO aF als solcher nicht dazu bestimmt ist, eine kaufmännische Tätigkeit zu regeln, bewirkt er, dass ausländische Wirtschaftsteilnehmer weniger leichten Zugang zu den Gerichten dieses Staates haben als dessen eigene Staatsangehörige. Da das Unionsrecht diesen Wirtschaftsteilnehmern den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr im Gemeinsamen Markt garantiert, muss ihnen auch der Zugang zu den Gerichten eines Mitgliedstaates bei Rechtsstreitigkeiten, die sich aus ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit ergeben, unter denselben Bedingungen eröffnet sein wie den Staatsangehörigen dieses Staates (EuGH, Slg 1997, I-1711, Rn 14 – Hayes). Der Schutzbereich ist damit berührt. (2) Der Schutzbereich muss beeinträchtigt sein. Weil Deutschland von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten eine Sicherheitsleistung fordert, die es von den eigenen Staatsangehörigen nicht verlangt, liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor. (3) Fraglich ist, ob die Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist. Aus den og Gründen (vgl Rn 25) können auch unmittelbare Diskriminierungen gerechtfertigt werden. Voraussetzung ist allerdings, dass § 110 ZPO aF ein billigenswertes Ziel verfolgt und verhältnismäßig ist. Es ist schon zweifelhaft, ob § 110 ZPO aF geeignet ist, weil die Sicherheitsleistung von einem deutschen Kläger, der im Ausland ansässig ist, nicht verlangt wird, obwohl insoweit ebenfalls ein Vollstreckungsrisiko besteht. Im Übrigen steht sie in keinem Verhältnis zu dem angestrebten Ziel, weil sie auch nichtdeutsche Kläger, die in Deutschland ansässig sind, zur Sicherheitsleistung verpflichtet (EuGH, Slg 1997, I-1711, Rn 24 – Hayes). Die Beeinträchtigung kann daher nicht gerechtfertigt werden. § 110 ZPO aF verstößt gegen Art 18 I AEUV.

63 EuGH, Slg 2003, I-721, Rn 19, 21 – Kommission/Italien = JK 2003, EGV Art 49/7. 64 Rossi EuR 2000, 197, 212 f; vgl jetzt a v Bogdandy in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 23. 65 So a Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 41; Frenz GF, Rn 3994; Rossi EuR 2000, 197, 213 f. 66 Wie hier jetzt a Sachs in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 22 Rn 35.

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4. Teil: Die Grundrechte der Europäischen Union § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte Dirk Ehlers Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1963, 3 ff – van Gend & Loos; Slg 1964, 1251 ff – Costa; Slg 1969, 419 ff – Stauder; Slg 1970, 1125 ff – Internationale Handelsgesellschaft; Slg 1974, 491 ff – Nold; Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1; Slg 2001, I-1611 ff – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1; Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3; Slg 2004, I-9609 – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13; NJW 2013, 1215 ff – Melloni; NJW 2013, 1415 ff – Ákerberg Fransson = JK 2013, GRCh Art 51/1; BVerfGE 73, 339 ff – Solange II = JK 87, GG Art 24 I/1; 102, 147 ff – Bananenmarkt; NJW 2013, 1499 – Antiterrordatei. Schrifttum: Beutler in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 6 EUV Rn 39 ff; Bühler Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005; Frenz GR, 2009; Grabenwarter, Enzyklopädie Europarecht Bd 2: Europäischer Grundrechteschutz, 2014; Herdegen in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts Bd X, 2012, § 211 Grundrechte der Europäischen Union, S 195 ff; Heselhaus/Nowak GR, 2006; Jarass GR, 2005; Kingreen Ne bis in idem: Zum Gerichtswettbewerb um die Deutungshoheit über die Grundrechte EuR 2013, 446 ff; ders Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus JZ 2013, 801 ff; ders Die Unionsgrundrechte JURA 2014, 295 ff; Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657 ff; Mayer in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, nach Art 6 EUV; Streinz in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd VI/1, 2010, S 663 ff; Meyer, ChGr, 3. Aufl 2011; Peers/Harvey/Kenner/Ward The EU Charter of Fundamental Rights, 2014; Rengeling/Szczekalla GR, 2004; Schmittmann Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, 2007; Skouris in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd VI/1, 2010, § 157 Methoden der Grundrechtsgewinnung in der Europäischen Union, S 859 ff; Tettinger/Stern GRCh, 2006; Tridimas The general principles of EC law, 2007. Vgl ferner die Kommentierung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in den Kommentaren von Streinz EUV/AEUV, 2012; Calliess/Ruffert EUV/AEUV, 2011; Schwarze EUKomm, 2012; Jarass GRCh, 2. Aufl. 2013.

I. Eigenart und Stellung der Unionsgrundrechte im Gefüge des unionalen, internationalen und nationalen Rechts 1. Begriff der Unionsgrundrechte „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“.1 Dies gilt nicht nur in Bezug auf den Staat, sondern für alle Hoheitsträger. Um die Rechtsstellung der Menschen und ihrer Zusammenschlüsse zu gewährleisten, bedarf es grundsätzlicher Rechtsverbürgungen. Diese Aufgabe kommt heute den Grundrechten zu. Eine allgemein verbindliche oder auch nur gebräuchliche Definition von Grundrechten gibt es nicht. Im Folgenden werden unter Grundrechten Rechte des Individuums (und anderer Privatpersonen) gegen Hoheitsträger verstanden, die kraft des internationalen Rechts gelten oder auf der höchsten innerstaatlichen Normstufe garantiert werden, dem Einzelnen eine grundlegende Rechtsposition gegenüber den Hoheitsträgern einräumen und diesen im Falle der Zulässigkeit einer Beschränkung eine Rechtfertigung abverlangen. 1 Art 1 I Chiemseer Entwurf, Grundgesetz für einen Bund deutscher Länder, 1948.

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§ 14 I 2

2

Dirk Ehlers

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Grundrechte der Europäischen Union. Diese sind nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon2 im Wesentlichen in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) normiert worden (Rn 8). Die Charta verbürgt aber nicht nur (unmittelbar einklagbare) Rechte (und Freiheiten), sondern enthält auch (objektiv wirkende) Grundsätze (Rn 17 ff, 52). Bei ihnen handelt es sich nur um Grundrechte im weiteren Sinne, nicht um die Zuweisung subjektiver Berechtigungen.

2. Notwendigkeit der Gewährleistung von Unionsgrundrechten auf Unionsebene 3

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Bis zum Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon (Rn 2) kannten die Gemeinschaftsverträge (zunächst die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, sodann auch die der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft, später der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl) keinen geschriebenen Grundrechtskatalog mit Verbindlichkeit, sondern nur einzelne grundrechtliche Garantien. Ein Grundrechtskatalog wurde beim Abschluss der Verträge auch nicht für notwendig erachtet, weil man die Gemeinschaftsverträge ursprünglich als traditionelle völkerrechtliche Verträge eingestuft hat. Es zeigte sich jedoch alsbald, dass diese Wertung nicht zutraf. Zum einen wandten sich die Gemeinschaftsverträge nicht nur an die Mitgliedstaaten der Gemeinschaften, sondern auch unmittelbar an Privatpersonen. Zum anderen war den Gemeinschaften in einem sehr weiten Umfang die Kompetenz eingeräumt worden, für und gegen jedermann verbindliches Recht zu setzen und teilweise auch selber zu vollziehen. An der Begrenzung der Gemeinschaftsgewalt durch die die Freiheit und Gleichheit des Einzelnen schützenden Grundrechte führte deshalb kein Weg vorbei. Wesentliche Grundrechtsanstöße kamen aus den Mitgliedstaaten. Sie zielten darauf ab, das Handeln der Gemeinschaften an den nationalen Grundrechten zu messen. Darauf aufbauend haben der italienische Verfassungsgerichtshof (Corte Costituzionale)3, das BVerfG4 und weitere Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten5 in Grundsatzentscheidungen für sich das Recht in Anspruch genommen, sekundäres Gemeinschaftsrecht im Inland für unanwendbar zu erklären, wenn und soweit es (in qualifizierter Weise) mit den nationalen Grundrechten kollidiert (Rn 38). Der EuGH hat sich dem von Anfang an widersetzt, weil er das Gemeinschaftsrecht (heute Unionsrecht) als supranationale Rechtsordnung ansieht, dessen Anwendbarkeit nicht den Mitgliedstaaten überlassen bleiben kann, und weil eine Bindung des Gemeinschaftsrechts an nationales (Verfassungs-)Recht nicht mit dem von ihm postulierten und ohne jede Einschränkung vertretenen Vorrang des Ge-

2 3 4 5

Vertrag v 13.12.2007, ABl EU Nr C 306/1 v 17.12.2007. Corte Costituzionale, EuR 1974, 255, 262 – Frontini. BVerfGE 37, 271, 277 ff – Solange I. Vgl französischer Conseil Constitutionnel, JZ 2004, 969; spanisches Tribunal Constitucional v 13.2.2014, BOE v 11.3.2014, Nr 2650; vgl ferner Pernice Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäischen Verfassungsverbund, 2006; Grabenwarter in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 121, 124 ff; Schwarze Das Verhältnis von nationalem Recht und Europarecht im Wandel der Zeit, Band 2, 2013, 41 ff; Ehlers in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 11 Rn 29; sowie die Übersicht bei Schmitz ua http://www.iuspublicum-thomas-schmitz.unigoettingen.de/Lehre/Europa-Rspr-2.htm (zuletzt abgerufen am 3.7.2014).

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Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte

§ 14 I 3

meinschaftsrechts (Rn 38) vereinbar ist.6 Die Lösung konnte daher nur darin liegen, einen umfassenden und effektiven Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene (heute Unionsebene) zu garantieren. Punktuelle Gewährleistungen, wie sie etwa den Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 1 ff), dem allgemeinen Diskriminierungsverbot (heute Art 18 AEUV) oder der Anordnung eines gleichen Entgelts für Männer und Frauen (heute Art 157 AEUV)7 entnehmen lassen, reichten nicht aus. Da es zu diesbezüglichen Vertragsänderungen vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon nicht gekommen ist,8 entwickelte der EuGH gestützt auf seine Kompetenz zur Wahrung des Rechts (heute Art 19 I 2 EUV) grundrechtliche Verbürgungen in Gestalt ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsätze (→ § 1 Rn 27 ff). Nachdem in der Rechtssache van Gend & Loos (1963) herausgearbeitet worden war, dass der Einzelne auch ohne ausdrückliche Anordnung in den Gemeinschaftsrechtsverträgen Inhaber eines Gemeinschaftsrechts sein kann,9 ist in dem Fall Stauder 10 (1969) erstmals von „Grundrechte(n) der Person“ gesprochen worden. Zum Durchbruch gelangt ist die Anerkennung von Unionsgrundrechten in den Entscheidungen Internationale Handelsgesellschaft 11 (1970) und Nold 12 (1974). Auf der Basis dieser Rspr sind in der Folgezeit – nicht zuletzt befördert durch die kritische Rspr des BVerfG13 – die Unionsgrundrechte bereichsspezifisch ausgeformt und gefestigt worden. Gleichwohl spielten die Grundrechte in der Rspr des EuGH und des EuG eine ungleich geringere Rolle als die Grundfreiheiten (Rn 22). Insbesondere sind Maßnahmen des Gemeinschaftsgesetzgebers – anders als Vollzugsakte der EG-Kommission – nur selten wegen Verstoßes gegen Unionsgrundrechte für ungültig erklärt worden14 (wohingegen in Deutschland Parlamentsgesetze oftmals vom BVerfG wegen eines Grundrechtsverstoßes für nichtig oder nicht vereinbar mit den Grundrechten angesehen werden). Die grundrechtliche Zurückhaltung dürfte sich in Zukunft ändern, weil die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze, die in der GRCh der EU vom 7.12.2000 in der am 12.12.2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind, nunmehr gem Art 6 I EUV (in der Fassung des Lissaboner Vertrags) ausdrücklich anerkennt und dabei darauf verweist, dass die GRCh und die Verträge rechtlich gleichrangig sind. Die Grundrechte haben damit an Sichtbarkeit und Durchschlagskraft gewonnen.15

3. Geltungsgrund der Unionsgrundrechte a) Frühere Rechtslage Bis die Charta der Grundrechte der EU Bestandteil des Vertragsrechts wurde, basierte die Anerkennung der Unionsgrundrechte – von den punktuellen ausdrücklichen Gewähr-

6 Grundl EuGH, Slg 1964, 1251, 1270 f – Costa/ENEL. Näher dazu Craig/de Búrca EU, S 256 ff; Ehlers in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, ER, § 11 Rn 7, 12 f. 7 Vgl dazu EuGH, Slg 1976, 455, Rn 4 ff – Defrenne II. 8 Zur Aufnahme von Unionsbürgerrechten bereits in den EGV vgl aber → § 26. 9 EuGH, Slg 1963, 3, 25 – van Gend & Loos. 10 EuGH, Slg 1969, 419, 425 – Stauder. 11 EuGH, Slg 1970, 1125, Rn 4 – Internationale Handelsgesellschaft. 12 EuGH, Slg 1974, 491, Rn 13 – Nold. 13 Vgl BVerfG 37, 271 ff – Solange I. 14 Craig/de Búrca EU, S 372 ff. Vgl aber auch EuGH, Slg 2005, I-10423 – ABNA Ltd; Slg 2008, I-6351 ff – Kadi (Fall 3). 15 Thym JZ 2011, 148.

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§ 14 I 3

6

Dirk Ehlers

leistungen bereits im herkömmlichen Vertragsrecht abgesehen (Rn 4) – auf dem Richterrecht des EuGH (und des EuG). Der Gerichtshof leitete die Unionsgrundrechte im Wesentlichen aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten16 sowie aus den völkerrechtlichen Verträgen über den Schutz der Menschenrechte17 her. In letzterer Hinsicht stützte er sich maßgeblich auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die zu ihrer Auslegung ergangenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).18 Zur EMRK sind neben den Gewährleistungen der Art 1 bis 14 EMRK auch die Garantien der Zusatzprotokolle zu rechnen, jedenfalls soweit diese von allen (oder den meisten)19 Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind.20 Die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und die EMRK stellten keine Rechtsquellen (Geltungsgründe) des Unionsrechts dar, sondern fungierten als Rechtserkenntnisquellen (Entstehungsgründe für das Recht21), aus denen der EuGH auf der Grundlage einer wertenden Rechtsvergleichung22 die Unionsgrundrechte gewinnen konnte. Dies ließ dem Gerichtshof einen erheblichen Gestaltungsspielraum. So kam es für die Feststellung gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen nicht darauf an, was die Mehrheit der Mitgliedstaaten übereinstimmend anordnet. Auch war weder der maximale23 noch gar der minimale Grundrechtsschutz in den Mitgliedstaaten entscheidend.24 Vielmehr sollte gelten, „was sich bei einer kritischen Analyse der Lösungen, die sich nach der rechtsvergleichenden Umschau ergeben, als die beste Lösung darstellt“.25 Im Zweifel orientierte sich der EuGH an der EMRK26 (auch weil es schwierig ist, die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der zahlreichen Mitgliedstaaten zu ermitteln27, in Gestalt der EMRK ein einheitlicher Normtext zur Verfügung steht, alle Mitgliedstaaten der EU die EMRK

16 Erstmalig EuGH, Slg 1970, 1125, Rn 4 – Internationale Handelsgesellschaft. Vgl Craig/de Búrca EU, S 364 ff; Tridimas The general principles of EC law, 2. Aufl 2007, S 301 ff. 17 Erstmalig EuGH, Slg 1974, 491, Rn 13 – Nold; ferner Slg 2001, I-1611 ff – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1. 18 Vgl etwa die Übersicht bei Stumpf in: Schwarze, EU-Komm, 2. Aufl 2009, Art 6 EUV Rn 15 ff. 19 Für die Geltung unabhängig vom Ratifikationsstand aber Niedobitek, in Merten/Papier (Hrsg) Handbuch der Grundrechte, Bd VI/1, § 159 Rn 96 mwN. 20 Näher dazu Grabenwarter VVDStRL 60 (2000), 290, 328 f. 21 Zur Abgrenzung von Rechtsquellen und Rechtserkenntnisquellen vgl Ehlers in: Erichsen/ders (Hrsg) Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl 2010, § 2 Rn 6. 22 Vgl EuGH Slg 1979, 3727, 3745, Rn 17 – Liselotte Hauer; Gutachten 2/94, Slg 1996, I-1759, 1782, Rn 3 – EMRK-Beitritt; Pernice NJW 1990, 2409, 2414; Beutler in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 6 EUV Rn 63. 23 Vgl aber auch EuGH, Slg 1974, 491, Rn 13 – Nold, wonach der Gerichtshof „keine Maßnahmen als rechtens anerkennen (kann), die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Grundrechten“. Vgl auch EuGH, Slg 1982, 1575, Rn 18 – AM; Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst = JK 93, EMRK Art 8/1 (Fall 10). 24 Vgl hierzu Tridimas (Fn 16) S 311 ff. 25 So bereits Zweigert RabelsZ 28 (1964), 601, 611. 26 Vgl EuGH, Slg 2007, I-5305, Rn 29 – Ordre des barreaux francophones; Slg 2008, I-6351, Rn 283 – Kadi (Fall 3). 27 Näher dazu die Beiträge in: Tettinger/Stern, GRCh. Vgl aber auch zum großen Aufwand, den Generalanwälte und wiss Dienst des EuGH betreiben v Danwitz in: Grabenwarter, Enzyklopädie Europarecht Bd 2, Europäischer Grundrechteschutz, 2014, § 6 Rn 7 Fn 19; dens ZESAR 2008, 57, 59.

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Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte

§ 14 I 3

unterzeichnet und ratifiziert haben und an die Rspr des EGMR angeknüpft werden kann). Doch spielte die – die Verzahnung von Unionsgrundrechten und nationalen Grundrechten zum Ausdruck bringende – Rechtserkenntnisquelle der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen vor allem dann eine Rolle, wenn die EMRK ein bestimmtes Grundrecht – zB die Berufsfreiheit28 – nicht garantiert.29 Jedenfalls in einem Falle dürfte der EuGH ein eigenes Grundrecht – nämlich das Verbot einer Diskriminierung wegen des Alters – kreiert haben, obwohl dieses nur von wenigen Mitgliedstaaten ausdrücklich anerkannt war.30 Möglicherweise wollte der EuGH damit die heutige Gewährleistung des Art 21 GRCh vorwegnehmen. Die Verträge von Maastricht31 und Amsterdam32 haben an dieser Rechtslage nichts geändert, weil sie zwar Normierungen über die Achtung der Grundrechte enthielten (wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben33), es aber bei dem bloßen Charakter einer Rechtserkenntnisquelle blieb. Somit war die materielle Herleitung der Unionsgrundrechte nach wie vor eine Aufgabe des EuGH (und des EuG).

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b) Heutige Rechtslage (1) Charta der Grundrechte Der Umstand, dass es keinen geschriebenen Katalog von Unionsgrundrechten gab und der EuGH die Grundrechte im Einzelfall erst ausformen musste, ist weithin auf Kritik gestoßen. Gefordert wurde die Schaffung eines Grundrechtskatalogs. Der Europäische Rat (heute Art 15 EUV) hat deshalb im Jahre 1999 einen Konvent aus Repräsentanten der Staats- und Regierungschefs, des Kommissionspräsidenten, des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente (unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundesverfassungsgerichts- und Bundespräsidenten Herzog) damit beauftragt, einen entsprechenden Katalog auszuarbeiten. Auf seinem Treffen in Nizza hat er am 7.12.2000 die vorgelegte Charta der Grundrechte der Europäischen Union proklamiert.34 Rechtliche Verbindlichkeit kam der Proklamation nicht zu. In Laeken wurde mit Erklärung vom 15.12.2001 ein Verfassungskonvent unter dem Vorsitz des ehemaligen französischen Präsidenten Giscard d’Estaing eingesetzt und mit dem Entwurf eines Vertrages über die Verfassung von Europa beauftragt. Der Verfassungsvertrag, der die GRCh ohne nähere Diskussion in seinem Teil II nahezu unverändert übernommen hat, ist zwar von den Regierungen der Mitgliedstaaten unterzeichnet worden, aber nicht in Kraft getreten. Am 12.12.2007 wurde in Straßburg eine angepasste Fassung der Charta unterzeichnet. Mit Art 6 I UA 1 EUV idF

28 Zu einer Teilgewährleistung – Verbot der Zwangsarbeit – vgl Art 4 II EMRK. 29 Vgl EuGH, Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik; Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, passim. 30 Vgl EuGH, Slg 2005, I-9981, Rn 74 f – Mangold. Allerdings hatte die EG nach Art 13 EGV (heute 19 AEUV) die Aufgabe, eigene Vorkehrungen gegen eine Diskriminierung aus Gründen des Alters zu treffen. Dies war in der RL 2000/78/EG konkretisiert worden. 31 Vertrag v 7.2.1992, ABl EG Nr C 191/1 v 29.7.1992. 32 Vertrag v 2.10.1997, ABl EG Nr C 340/1 v 10.11.1997. 33 Vgl Art 5 II EUV des Vertrages von Maastricht und Art 6 II des Vertrages von Amsterdam. 34 ABl EG Nr C 364/1 v 18.12.2000. Zur Entstehungsgeschichte s auch Niedobitek in: Merten/Papier (Fn 19) Bd VI/1, § 159 Rn 1 ff.

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des Lissaboner Vertrages (Rn 2) sind die (wesentlichen) Grundrechte der EU kraft der Verweisung auf die GRCh mit Wirkung ab dem 1.12.2009 in das Primärrecht der EU übernommen worden, gelten also nunmehr rechtsverbindlich und nicht nur als Rechtserkenntnisquellen. Im Gegensatz zu Art 6 II EUV idF des Amsterdamer Vertrages achtet die EU nicht nur die Grundrechte, sondern anerkennt sie. Das könnte darauf hindeuten, dass die Grundrechte als dem EU-Recht vorausliegend angesehen werden35, ändert aber nichts daran, dass sie Bestandteile des Unionsrechts geworden sind. Dies bringt auch Art 6 I UA 1 Hs 2 EUV (wonach die Charta und die Verträge gleichrangig sind) unmissverständlich zum Ausdruck. Die Bezugnahme des EUV auf die GRCh ist allerdings verwirrend geraten. Statt auf die Charta insgesamt zu verweisen, bezieht sich die Anerkennung der Union „auf die Rechte, Freiheiten und Grundsätze“, die in der Charta niedergelegt sind (zu den Unterschieden vgl Rn 41 ff). Ausgeklammert wird somit die Präambel der GRCh. Doch kommt dem keine maßgebliche Bedeutung zu, weil die Präambel als Teil der Charta für deren Auslegung verbindlich bleibt.36 Aus der Gleichrangigkeit der GRCh mit dem sonstigen Vertragsrecht (Rn 8), ergibt sich, dass die Unionsgrundrechte weder dem sonstigen Vertragsrecht vorgehen noch dahinter zurückbleiben. Dies gilt auch im Verhältnis zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts (Rn 10). Im Kollisionsfall müssen die Normen des Primärrechts unter Zugrundelegung der Einheit der Unionsrechtsordnung (→ § 7 Rn 9) gem dem Prinzip der praktischen Konkordanz (→ § 7 Rn 14) miteinander in Einklang gebracht werden. Die „Angstklausel“37, dass die im Vertrag geregelten Zuständigkeiten unberührt bleiben (Art 6 I UA 2 EUV, 51 II GRCh) – keine Begründung, Erweiterung oder Änderung von Zuständigkeiten –, stellt nur eine Klarstellung dar. Soweit die Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte jedoch in den Verträgen geregelt sind, hat diese im Rahmen der dort festgelegten Bedingungen und Grenzen zu erfolgen (Art 52 II GRCh). Hieraus ergibt sich ein gewisser Vorrang der sonstigen Primärrechtsnormen (Rn 88).38 Umgekehrt kommt den nicht einschränkbaren Unionsgrundrechten bei der Harmonisierung mit dem anderweitigen Unionsrecht besonderes Gewicht zu. Gehören die in der GRCh kodifizierten Unionsgrundrechte zum Primärrecht, kommt eine Änderung nur im ordentlichen Änderungsverfahren nach Art 48 II-V EUV in Betracht. (2) Unionsgrundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts

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Neben den in der GRCh ausdrücklich kodifizierten Unionsgrundrechten bleiben die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sich sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben (Rn 5) gem Art 6 III EUV als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. Welche allgemeinen Rechtsgrundsätze gelten, bestimmt die Unionsgerichtsbarkeit. Der vor Inkrafttreten der GRCh anerkannte acquis communautaire ist weitestgehend in die GRCh eingeflossen. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze – die nicht mit den Grundsätzen der GRCh verwechselt werden dürfen (Rn 17 ff, 52) – sind als ungeschriebene Rechtsquellen des Primär-

35 Skouris in: Merten/Papier (Fn 19) Bd VI/1, § 157 Rn 4. 36 Vgl Streinz in: ders, EUV/AEUV, Präam GRCh Rn 6; Jarass GRCh, Präam Rn 1. Anders Schorkopf in Grabitz/Hilf, EU, Art 6 EUV Rn 21, wonach die Präambel der Charta nicht für die Anwendung und Auslegung der Charta herangezogen werden kann. 37 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 EUV Rn 13. 38 Jarass GRCh, Einl Rn 10.

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rechts anzusehen. Sie ergeben sich aus den Rechtserkenntnisquellen, also aus der EMRK und aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, und haben einen doppelten Charakter. Einerseits sind sie gem Art 52 III, IV GRCh bei der Auslegung der Charta-Rechte heranzuziehen (Rn 89 f). Andererseits können sie auch unabhängig von der GRCh wie in der Vergangenheit zur Gewinnung von Grundrechten beitragen. Soweit sich GRCh und allgemeine Rechtsgrundsätze überschneiden, haben letztere als eigenständige Rechtsquelle (statt nur als Rechtserkenntnisquelle für die Auslegung der Charta-Rechte) ihre Bedeutung verloren39, weil das geschriebene Recht dem ungeschriebenen vorgeht, der Charta also Anwendungsvorrang zukommt. Eine Einschränkung des Schutzniveaus der Charta durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze erscheint kaum vorstellbar und müsste sich jedenfalls an Art 52 I 1 GRCh messen lassen. Dagegen ist es nicht ausgeschlossen, aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen einen weitergehenden Schutz abzuleiten. So enthält die GRCh keine Gewährleistung einer allgem Handlungsfreiheit (iSd Art 2 I GG). Dagegen hat der EuGH in seiner Rspr eine solche Freiheit als allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkannt.40 Neben ihrer fortbestehenden Bedeutung für Altfälle (vor Inkrafttreten der GRCh)41 sind die als allgemeine Rechtsgrundsätze geltenden Unionsgrundrechte ferner für diejenigen Mitgliedstaaten relevant, die zur Anwendung der GRCh Vorbehalte in Gestalt von Protokollen oder Erklärungen abgegeben haben (Rn 15). Tritt die EU der EMRK nach Art 6 II EUV bei, wird die EMRK zwar integrierender Bestandteil des Unionsrechts, gehört aber nicht zum Vertragsrecht (→ § 2 Rn 21). Im Hinblick auf die Begründung eigenständiger (von der Charta unabhängiger) Unionsgrundrechte mit Primärrechtsrang wird der EMRK somit auch dann weiterhin Rechtserkenntnisquellencharakter zukommen.

4. Einzelne Unionsgrundrechte Wie sich Art 6 I UA 1 EUV entnehmen lässt, verbürgt die GRCh „Rechte, Freiheiten und Grundsätze“42. Inhaltlich gliedert sich die Charta in sieben Titel, die mit Würde des Menschen (Art 1–5 GRCh), Freiheiten (Art 6–19 GRCh), Gleichheit (Art 20–26 GRCh), Solidarität (Art 27–38 GRCh), Bürgerrechte (Art 39–46 GRCh), justizielle Rechte (Art 47–50 GRCh) und Allgemeine Bestimmungen (Art 51–54 GRCh) überschrieben worden sind (zu den Einzelheiten vgl → §§ 15 ff). Viele Gewährleistungen lehnen sich an die Garantien an, welche sich aus der EMRK, den sonstigen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, der vom Europarat beschlossenen Sozialcharta sowie den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, wobei die GRCh maßgeblich an der Rspr des EuGH und des EGMR anknüpft. Für die Grundrechte macht die GRCh diese insoweit nur sichtbar und systematisiert sie. Vergleicht man allerdings die Gewährleistungen mit den Verbürgungen der einzelnen Rechtsquellen (zB nur der EMRK oder nur des GG), gehen sie zu einem nicht unerheblichen Teil darüber hinaus. Beispielsweise enthält die GRCh ein Verbot des reproduktiven Klonens (Art 3 II lit d), ein Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst (Art 29) sowie einen Anspruch auf

39 Vgl auch v Danwitz in: Grabenwarter (Fn 27) § 6 Rn 19, wonach Art 6 III EUV nur noch als Residualkategorie verstanden werden sollte. 40 Vgl EugH, Slg 1987, 2289, Rn 15, 19 – Rau. Zu Bedenken gegen eine grundrechtliche Geltung vgl Jarass GRCh, Einl Rn 31. 41 Zur Vorwirkung vgl Rn 82. 42 Zur Abgrenzung vgl Rn 19.

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Elternurlaub (Art 33 II). Vergleichbare Verbürgungen finden sich in den zuvor erwähnten Rechtsquellen nicht. Die Charta bringt zahlreiche Parallelitäten, Verdoppelungen oder ggf sogar Verdreifachungen im Grundrechtsbestand mit sich. So wird die Freizügigkeit (Art 45 I GRCh) auch in Art 20 I UA 1 S 2 lit a AEUV und Art 21 AEUV, der Schutz personenbezogener Daten (Art 8 GRCh) in Art 16 AEUV, der Zugang zu Dokumenten (Art 42 GRCh) in Art 15 III AEUV oder das aktive und passive Wahlrecht (Art 40 GRCh) in Art 22 I AEUV garantiert. In solchen Fällen ist Art 52 II GRCh zu beachten (Rn 88). Teilweise gewährleistet die Charta Rechtspositionen, die jedenfalls von der EU mangels Zuständigkeiten gar nicht beeinträchtigt werden können – wie zB das Verbot der Todesstrafe (Art 2 II GRCh) oder das Recht auf Wehrdienstverweigerung (Art 10 II GRCh) – und die daher als Vorratsgrundrechte derzeit nur Symbolwirkung entfalten.43

5. Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte 14

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Die Charta-Rechte der EU sind mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon (Rn 2) kraft der Verweisung des Art 6 I UA 1 EUV sowohl unmittelbar geltendes Recht als auch unmittelbar anwendbares (keine Umsetzung erforderndes) Recht geworden.44 Dies gilt gem Art 51 I GRCh uneingeschränkt im Verhältnis zu den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, für die Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten des Unionsrechts dagegen „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ (näher dazu Rn 63 ff). Auf die Grundrechte, die als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind (Rn 10), trifft im Ergebnis nichts anderes zu. Die Bindung der Mitgliedstaaten an die GRCh war im Grundrechtskonvent 45 (Rn 8) und auch in den Jahren nach der Proklamierung der Charta46 Gegenstand erheblicher Auseinandersetzungen. Den Vertrag von Lissabon wurde das Protokoll Nr 30 über die Anwendung der Charta auf Polen und das Vereinigte Königreich beigefügt. Danach bewirkt die Charta keine Ausweitung der Befugnisse des EuGH oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder Maßnahmen Polens oder des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundfreiheiten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen (Art 1 I). Insbesondere werden mit Titel IV der Charta (Solidarität) keine für Polen oder das Vereinigte Königreich geltenden einklagbaren Rechte geschaffen, soweit Polen bzw das Vereinigte Königreich solche Rechte nicht in seinem nationalen Recht vorgesehen hat (Art 1 II). Wird in einer Bestimmung der Charta auf das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis Bezug genommen, findet diese Bestimmung auf Polen und das Vereinigte Königreich nur in dem Maße Anwendung, in dem die darin enthaltenen Rechte oder Grundsätze durch das Recht oder die Praxis Polens bzw des Vereinigten Königreichs anerkannt sind (Art 2). Mit dem Protokoll sollte Bedenken Rechnung getragen werden, die sich im Vereinigten Königreich vor allem gegen die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte richteten, während Polen in erster Linie einen grundrechtlichen Schutz von Abtreibungsregelungen, homosexuellen Partner-

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Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 51 Rn 42 f. Zur Unterscheidung von Geltung und Anwendung → § 7 Rn 7. Vgl Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 51 Rn 2 ff. Vgl Mayer in: Grabitz/Hilf/Nettesheim EUV/AEUV, nach Art 6 EUV, Rn 54.

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schaften und Gebietsansprüchen deutscher Staatsbürger abwehren wollte.47 Um eine Ratifizierung des Lissaboner Vertrags durch die Tschechische Republik sicherzustellen, hat der Europäische Rat (Art 15 EUV) im Jahre 2009 zugesagt, das Zusatzprotokoll bei der nächsten Vertragsform auf Tschechien auszudehnen. Davon verspricht sich Tschechien eine Abwehr von Klagen ehemaliger Vertriebener (Sudetendeutscher) auf Eigentumsrückgabe (Aufrechterhaltung der sog Benesch-Dekrete). Das Europäische Parlament (Art 14 EUV) hat sich auf seiner Sitzung am 22.5.2013 mit großer Mehrheit gegen die Ausdehnung ausgesprochen. Schließlich sind dem Lissaboner Vertrag verschiedene, die GRCh betreffende Erklärungen von Polen und dem Vereinigten Königreich beigefügt worden.48 Gem Art 51 EUV sind Protokolle Bestandteile der Verträge. Dagegen kommt Erklärungen (einschl der Schlusserklärungen zum Vertrag von Lissabon) keine Rechtsverbindlichkeit zu. Sie können nach Art 31 II WVRK nur für die Auslegung der Verträge und Protokolle herangezogen werden. Das Protokoll Nr 30 hat im Wesentlichen nur eine symbolische (innenpolitische) Bedeutung und schränkt die Charta-Rechte – jedenfalls außerhalb des Titels IV der Charta49 – nicht ein.50 Abgesehen davon, dass die Charta ohnehin nur die in der Union anerkannten Rechte, Freiheiten und Grundsätze bekräftigen und diese Rechte besser sichtbar machen, aber keine neuen Rechte oder Grundsätze schaffen will51, dürften sich aus dem Protokoll jedenfalls außerhalb des Titels IV der Charta keine zusätzlichen Anwendungsbeschränkungen ergeben. Es ist deshalb auch unzutreffend von einem „Opt-out“ zu sprechen.52 Zudem bleibt die Bindung aller Mitgliedstaaten an die Grundrechte, die als allgemeine Rechtsgrundsätze Teil des Unionsrechts sind (Rn 10), ohne jede Begrenzung bestehen.

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6. Subjektiv-rechtlicher und objektiv-rechtlicher Charakter der Rechte und Grundsätze Fall 1: (EuGH (GK), Urt v 7.5.2013, C-76/12 – Association de médiation sociale) Der französische Cour de cassation hat sich nach Art 267 AEUV an den EuGH mit der Frage gewandt, ob das in Art 27 GRCh anerkannte und durch die RL 2002/14 konkretisierte Grundrecht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden kann, um die Rechtmäßigkeit einer nationalen Maßnahme zur Umsetzung dieser Richtlinie überprüfen zu lassen.

Sowohl der EUV (Art 6 I UA 1 u 3) als auch die GRCh (Abs 7 der Präambel, Art 47 S 1, 51 I 2, 52 I, V) unterscheiden zwischen Rechten oder Freiheiten einerseits sowie Grundsätzen andererseits. Die Differenzierung zwischen Rechten und Freiheiten (freiheitlichen Grundrechten, nicht Grundfreiheiten iSd Art 26 II AEUV53) geht auf französische Tradition zurück. ISd Charta stellen Freiheiten nur einen Unterfall der Rechte dar.54 Der

47 48 49 50 51 52

Vgl Mehde EuGR 2008, 269, 271. Vgl die Erklärung Nr 61–65 (Sart II Nr 152). Vgl Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 51 GRCh, Rn 16; Jarass GRCh, Art 51, Rn 33. S auch EuGH, EuZW 2012, 231 – „N.S.“ verbundenen Rechtssachen C-411/10 und C-493/10. So die 6. Erwägung des Protokolls Nr 30. V Danwitz in: Grabenwarter (Fn 27) § 6 Rn 18 (allerdings mit Hinweisen darauf, dass die vom Gerichtshof gepflegte Methode während der Rechtsvergleichung vor neue Aufgaben gestellt werden könnte). 53 → § 7 Rn 10. 54 Jarass GR, § 7 Rn 1, § 40 Rn 6.

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Begriff des Rechts entspricht dem in Deutschland auch gebräuchlichen Terminus „subjektives Recht“.55 Dies bestimmt sich nach dem Schutzzweck der Norm. Dieser wiederum ist nach unionalen, nicht nationalen Maßstäben zu ermitteln.56 Zu den in Betracht kommenden Rechtsschutzmöglichkeiten vgl Rn 120 ff. Auch die Grundsätze sind zwar verbindliches Recht und nicht nur politische Programmsätze, vermitteln aber keine Rechte (insbesondere keine Ansprüche auf Erlass positiver Maßnahmen57), sondern enthalten lediglich objektiv-rechtliche Berücksichtigungspflichten.58 Setzt eine Klagebefugnis ein subjektives Recht voraus (wie dies regelmäßig in den Mitgliedstaaten der EU, nicht aber zB bei Klagen iSd Art 258, 259, 263 UA II, III, 265 UA I AEUV der Fall ist), reicht die Berufung auf einen Grundsatz nicht aus. Falls der Rechtsweg eröffnet ist – namentlich weil in (Grund-) Rechte eingegriffen wurde –, sind die Grundsätze dagegen ggf justiziabel. Die Grundrechtsadressaten (Rn 59 ff) müssen sich nämlich an die Grundsätze „halten“ und diese „fördern“ (Art 51 I 2 GRCh). Dies kann durch Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie durch Akte der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Rechts der Union in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten geschehen (Art 52 V 1 GRCh). Die Berücksichtigungspflicht kann zum Erlass solcher Akte zwingen.59 Umsetzungsakte sind alle Maßnahmen, die den normativen Gehalt eines Grundsatzes berühren, auch wenn sie nicht als solche bezeichnet worden sind.60 Gem Art 52 V 2 GRCh können die Grundsätze bei der Auslegung der Unionsakte61 oder mitgliedstaatlichen Akte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden. Das Können ist iSe Müssens zu verstehen. Mitgliedstaatliche Normen, die der Verwirklichung der Grundsätze entgegenstehen, sind von den nationalen Gerichten nicht zu beachten oder aufzuheben. Dies alles zeigt, dass es sich bei den Grundsätzen zwar nicht um Grundrechte, wohl aber um Grundrechtsnormen handelt.62 Welche Bestimmungen der Charta nur Grundsätze verkörpern, ist nicht geregelt worden. Die Differenzierung zwischen Rechten (Freiheiten) und Grundsätzen bestimmt sich nach der Auslegung der Rechtsnormen. Hierbei können auch die Bezugspersonen, die Bestimmtheit oder Unbestimmtheit der Norm sowie die mögliche finanzielle Belastung eine Rolle spielen.63 Soweit sich aus der EMRK oder den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Rn 10) Rechte ergeben, müssen die Gewährleistungen der Charta entsprechend interpretiert werden, dürfen also nicht dahinter zurückbleiben (Art 52 III, IV GRCh). Dementsprechend kann es auch auf die Rspr der Unionsgerichtsbarkeit vor Inkrafttreten der GRCh ankommen. Bloßen Grundsatzcharakter haben insbesondere viele Vorschriften des Titels IV der Charta (Solidarität). Die Erläuterungen des

55 Vgl zum deutschen Recht Scherzberg in: Erichsen/Ehlers (Fn 21) § 12 Rn 9 ff (zugleich mit Darstellung der Entwicklungstendenzen). 56 Zum Unterschied vgl Ehlers Die Europäisierung des Verwaltungsprozesses, 1999, 56 ff. 57 Erläuterungen GRCh zu Art 52 V. 58 Näher zum Ganzen Schmittmann Recht und Grundsätze in der GRCh, 2007, S 44 ff; Sagmeister Grundsatznormen, 2010, 265 ff; Schmidt Die Grundsätze iSd EU-Grundrechtecharta, 2010, 35 ff. 59 Jarass GR, § 7 Rn 32. 60 Vgl Schmittmann (Fn 58) S 45 ff. 61 Insoweit muss es nicht zwangsläufig um Durchführungsmaßnahmen gehen. Vgl Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 52 Rn 45a. 62 Vgl Schmidt (Fn 58) S 14 ff. 63 Vgl dazu auch Schmittmann (Fn 58) S 90 ff, 156 mw Kriterien.

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Präsidiums des Europäischen Konvents zur Charta (Art 52 VII GRCh) nennen als Grundsätze „beispielsweise“ die Art 25 (Rechte älterer Menschen), 26 (Integration von Menschen mit Behinderungen) und 37 GRCh (Umweltschutz). Wenn in Art 25 GRCh von einem Recht und in Art 26 GRCh von einem Anspruch die Rede ist, besagt dies noch nicht, dass die Charta selbst diese Rechte gewährt, vielmehr anerkennt und achtet die EU nur entsprechende Verbürgungen (der Mitgliedstaaten).64 Auch ansonsten bedeuten Achtungsklauseln – wie zB Art 22 GRCh (Achtung der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen) – oftmals nur, dass dem Rechtsgut in Abwägung mit anderen Zielsetzungen der gebührende Platz einzuräumen ist. Ein bloßer Grundsatzcharakter dürfte auch den Art 3 II lit a, 24, 27, 30, 31, 35, 36, 38 und 45 II GRCh zukommen. Nicht ausgeschlossen ist es, dass die Gewährleistungen der Charta gleichermaßen (nebeneinander) Rechte vermitteln und Grundsatzcharakter haben. Dies soll nach den Erläuterungen zur Charta „beispielsweise“ auf die Art 23 (Gleichheit von Männern und Frauen), 33 (Familien- und Berufsleben) und 34 GRCh (soziale Sicherheit und soziale Unterstützung) zutreffen. Wenn und soweit ein Recht vorliegt, scheidet ein bloßer Grundsatzcharakter aus.65 Im Zweifelsfall ist davon auszugehen, dass die Charta Grundrechte (und nicht bloße Grundsätze) garantiert.66 Lösung Fall 1: Da die nationale Regelung die RL 2002/14 umsetzt, findet Art 27 GRCh Anwendung. Aus dem Wortlaut der Vorschrift geht jedoch klar hervor, dass es sich nur um einen Grundsatz handelt, der, damit er seine volle Wirksamkeit entfaltet, „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ konkretisiert werden muss. Daher kann die Vorschrift als solche nicht in einem Rechtsstreit (zwischen Privaten) geltend gemacht werden. Hieran ändert sich nichts, wenn Art 27 GRCh in Zusammenhang mit den Bestimmungen der RL 2002/14 betrachtet wird. Reicht Art 27 GRCh für sich allein nicht aus, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, dass dieser als solches geltend machen kann, kann bei einer solchen Zusammenschau nichts anderes gelten.

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7. Geltungsrang der Unionsgrundrechte Kommt es zu Normwidersprüchen zwischen den Unionsgrundrechten (einschließlich der Grundsätze) und anderweitigen rechtlichen Inpflichtnahmen, stellt sich die Frage, welcher Rang den Unionsgrundrechten zukommt.

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a) Verhältnis zum primären Unionsrecht aa) Verhältnis zu den Grundfreiheiten Die primärrechtlich garantierten Grundfreiheiten des Unionsrechts stellen sowohl Diskriminierungs- als auch Beschränkungsverbote dar (→ § 7 Rn 24 ff, 30 ff). Man kann sie daher als besondere Formen des grundrechtlichen Gleichbehandlungsgebots und der grundrechtlichen Freiheitsrechte ansehen (Unionsgrundrechte iwS). Eigengearteten Charakter haben die Grundfreiheiten deshalb, weil sie sich in mehrfacher Hinsicht von den

64 Vgl auch Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 26 GRCh Rn 5, 8. 65 Vgl auch Jarass GR, § 7 Rn 28. 66 Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 52 Rn 45d. Zur Konkretisierung der Grundsätze vgl Rn 52.

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Unionsgrundrechten unterscheiden (→ näher dazu § 7 Rn 25, 31). Vor allem kommen die Grundfreiheiten anders als die Unionsgrundrechte nur bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts zur Anwendung (→ § 7 Rn 13 f). Ob die Kategorie der Grundfreiheiten irgendwann einmal als „eine Art Eierschale der EU-Evolution“ abgelegt werden kann,67 bleibt abzuwarten. Auf absehbare Zeit ist nicht damit zu rechnen. Auch bedürfte es dann weiterer Bestimmungen der Unionsgrundrechte über deren Anwendungsbereich und Schranken in den Fallgestaltungen, die bisher von den Grundfreiheiten erfasst werden. Keineswegs kann das in den Grundfreiheiten enthaltene Erfordernis eines grenzüberschreitenden Sachverhalts ersatzlos zugunsten einer Bindung aller Maßnahmen der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte aufgegeben werden, weil die Unionsgrundrechte ansonsten auch außerhalb des (bisherigen) Anwendungsbereichs des Unionsrechts gelten und den nationalen Grundrechtsschutz noch weitergehend verdrängen würden. Der Wegfall der Grundfreiheiten bei gleichzeitiger Aufnahme ihres Regelungsgehalts in die Unionsgrundrechte hätte nur formale, nicht inhaltliche Bedeutung. Die Unionsgrundrechte und die Grundfreiheiten haben als primärrechtliche Verbürgungen gleichen Rang. Soweit eine Dopplung vorhanden ist, wie es bei den in Art 15 II GRCh geschützten Rechten der Fall ist, die zugleich als Grundfreiheiten gewährleistet werden, sind die Grundfreiheiten gem Art 52 II GRCh als spezielle Regelung anzusehen (→ § 7 Rn 14). Dies dürfte dann auch auf die gem Art 6 III EUV als allgemeine Rechtsgrundsätze geltenden gleichgerichteten Unionsrechtsgrundrechte zutreffen.68 In anderen Fällen kann es zwar zu Überschneidungen zwischen den Unionsgrundrechten (namentlich des Art 15 I und 16 GRCh) und den Grundfreiheiten kommen, doch werden insoweit nicht die gleichen Rechte im Vertragsrecht geregelt, so dass die Vorschriften von vornherein nebeneinander zur Anwendung gelangen.69 Da die Grundfreiheiten idR konkreteren Gehalt haben, dürfte es sich empfehlen, im Normalfall zunächst von diesen auszugehen (→ § 7 Rn 14). Unionsgrundrechte und Grundfreiheiten können miteinander konkurrieren (also gleichgerichtete Schutzwirkungen entfalten) oder kollidieren. Selbst wenn Art 52 II GRCh zum Zuge kommt, verdrängen sich Unionsgrundrechte und Grundfreiheiten in keinem Falle vollständig. Fällt ein Verhalten in den Schutzbereich der Grundfreiheiten, müssen sich die Beeinträchtigungen an den (geschriebenen oder ungeschriebenen) Schranken, ggf der Wesensgehaltsgarantie sowie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen (→ § 7 Rn 111 f, 125 ff). Insoweit bestehen Gestaltungsspielräume (vor allem der Mitgliedstaaten). Bei der Grenzziehung ist das gesamte Unionsrecht einschließlich der Unionsgrundrechte zu beachten. Somit sind auch die Schranken der Grundfreiheiten „im Lichte der (Unions-)Grundrechte auszulegen“.70 Die Unionsgrundrechte verstärken dann in ihrer Funktion als Schranken-Schranke bzw als Auslegungsregeln für die Interpretation der Schrankenregelungen die durch die Grundfreiheiten selbst gewährten Garantien und entfalten eine den Binnenmarkt fördernde integrationsfreundliche Wirkung (→ § 7

67 So Dreier in: ders (Hrsg) GG, Bd I, 3. Aufl 2013, Vorb Rn 49. Einen Bedeutungsverlust der Grundfreiheiten (im Vergleich zu den Unionsgrundrechten) stellt Kingreen (JURA 2014, 295, 297) fest. Für eine klare Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten Gebauer Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, 346 ff. 68 AA Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 16. 69 Vgl a Jarass GRCh, Einl Rn 25. 70 Vgl EuGH, Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT; Slg 1997, I-3689, Rn 24 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1 = Fall 8 (Rn 71).

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Rn 123).71 Umgekehrt sind die Einschränkungen der Unionsgrundrechte auch am Maßstab der Grundfreiheiten zu beurteilen. Unionsgrundrechte und Grundfreiheiten können miteinander kollidieren, wenn und soweit sie unterschiedliche Rechtsgüter schützen. Eine solche Konstellation ist ua gegeben, wenn eine durch die Grundfreiheiten geschützte Betätigung im Einzelfall dem Wertgehalt eines Unionsgrundrechts nicht gerecht wird: zB die Freiheit des Warenverkehrs dazu benutzt wird, persönlichkeitsverletzende Schriften über die Grenze zu verbringen. Es bedarf dann einer verhältnismäßigen Zuordnung der freiheitsrechtlich geschützten unterschiedlichen Rechtsgüter im Rahmen einer Interpretation der Schrankenregelungen. Da sich aus den Unionsgrundrechten eine Schutzpflicht ergeben kann (Rn 45), ist ein Mitgliedstaat zur Wahrnehmung dieser Schutzpflicht uU sogar gehalten, die Ausübung einer Grundfreiheit zu beschränken.72 In der Rspr des EuGH ist diese Dimension nur zögerlich entfaltet worden.73 So hat der EuGH in seiner Bosman-Entscheidung74, in der es um die Zulässigkeit des europäischen Transfer-Systems im Profi-Fußball ging, der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 45 AEUV) unmittelbare Drittwirkung gegenüber den (privaten) Fußball-Verbänden zuerkannt (→ krit § 7 Rn 60; vgl auch → § 9 Rn 46), ohne zu einer Abwägung mit der in Art 11 EMRK sowie heute auch in Art 12 GRCh geschützten Vereinigungsfreiheit vorzudringen. Doch hat sich dies mittlerweile geändert. Beispielsweise hat der EuGH in der Schmidberger-Entscheidung das staatliche Nichteinschreiten gegen eine Blockade der Brenner-Autobahn trotz der damit verbundenen Einschränkung der Freiheit des Warenverkehrs für zulässig erachtet, weil die Demonstranten von der durch Art 10 und 11 EMRK (sowie durch die österreichische Verfassung75) gewährleisteten Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht haben.76 Ebenso hat der EuGH in seiner Omega-Entscheidung das die Dienstleistungsfreiheit beeinträchtigende Verbot von sog Laserdromes wegen der (von den deutschen Gerichten angenommenen) Verletzung der Menschenwürde als gerechtfertigt eingestuft.77 Schließlich kann das durch Art 7 und 8 GRCh geschützte Recht auf „Vergessenwerden“ das durch die Grundfreiheiten geschützte wirtschaftliche Interesse eines Suchmaschinenbetreibers überwiegen.78

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bb) Verhältnis zu den objektiven Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts Neben den als Grundrechte geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätzen iSd Art 6 III EUV (Rn 10), kennt das Unionsrecht auch objektive allgemeine Rechtsgrundsätze (→ § 7 Rn 19), die von der Rspr der Unionsgerichtsbarkeit gestützt auf Art 19 I UA 1 S 2 EUV (Wahrung des Rechts) entwickelt und heute vielfach im Vertragsrecht ausdrücklich kodifiziert worden sind. Die Unionsgrundrechte und objektiven Grundsätze des Unionsrechts gehören gemeinsam dem Primärrecht an, haben also gleichen Rang und müssen aufein-

71 Vgl auch Nowak in: Heselhaus/ders, GR, § 6 Rn 43; v Danwitz in: Grabenwarter (Fn 27) § 6 Rn 54. 72 Vgl EuGH, Slg 1991, I-4007, Rn 23 – Stichting. 73 Schindler Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, 2001, S 125 ff. 74 EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 92 ff – Bosman. 75 Zum Verhältnis von Unionsgrundrechten und nationalen Grundrechten in diesem Falle vgl Kadelbach/Petersen EuGRZ 2002, 213 ff; Schorkopf ZaöRV 2004, 125, 133 ff. 76 EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 77 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3 (→ § 8 Rn 17). 77 Vgl EuGH, Slg 2004, I-9609, Rn 40 – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13 (→ § 7 Rn 127). 78 EuGH (GK), Urt v 13.5.2014, C-131/12, Rn 68 ff – Google Spain.

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ander abgestimmt interpretiert werden. Konkurrenzprobleme ergeben sich kaum. Nicht wenige der allgemeinen Rechtsgrundsätze wie etwa Grundsätze der Gesetzmäßigkeit (Art 52 I 1 GRCh), der Verhältnismäßigkeit (Art 52 I 2 GRCh) oder einer guten Verwaltung (Art 41 GRCh) sind ohnehin in die GRCh übernommen (und teilweise als Rechte ausgestaltet) worden. Bedeutung können die objektiv geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätze vor allem bei der Prüfung der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen erlangen. So müssen beispielsweise die Grundrechtsbeeinträchtigungen auch den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes79 genügen. b) Verhältnis zum Sekundärrecht (Tertiärrecht) der EU 26

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Fall 2: (EuGH, Slg 2010, I-11063 – Schecke) Ein deutscher Landwirt hat aus Landwirtschaftsfonds der EU Agrarbeihilfen erhalten. Nach den einschlägigen sekundärrechtlichen Vorschriften (Art 44 a VO Nr 1290/2005 u VO Nr 259/2008) sind die Beträge, die jeder Begünstigte erhalten hat, zu veröffentlichen. Das angerufene nationale Gericht hat sich in einem Vorabentscheidungsersuchen (Art 267 AEUV) an den EuGH mit der Frage gewandt, ob die Veröffentlichungspflicht mit den Unionsgrundrechten vereinbar ist.

Nach der Normenhierarchie des Unionsrechts geht das Primärrecht (Vertragsrecht), zu dem auch die Unionsgrundrechte gehören, dem Sekundärrecht (Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse80) bzw dem Tertiärrecht (Durchführungsrecht81) vor. Das niederrangige Recht ist – selbst wenn eine Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist82 – grundrechtskonform auszulegen.83 Lässt sich eine Normkollision nicht beheben, ist es unwirksam. Geltungsvorrang bedeutet noch nicht Anwendungsvorrang. Ist das niederrangige Recht mit dem höherrangigen Recht vereinbar und ergeben sich aus beiden Rechtsquellen gleiche Rechtsfolgen, muss das niederrangige Recht angewendet werden, weil es idR konkreter als das höherrangige bestimmt, was rechtens ist.84 Lösung Fall 2: Die Pflicht zur Veröffentlichung personenbezogener Daten greift in das (in einem engen Zusammenhang mit Art 7 GRCh, Achtung des Privat- und Familienlebens, stehende) Unionsgrundrecht auf Schutz personenbezogener Daten ein (Art 8 I GRCh). Der Eingriff ist gesetzlich vorgesehen und dient dem Gemeinwohl (Wahrung der Transparenz). Fraglich ist, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art 52 I 2 GRCh) gewahrt wurde. Der EuGH betont, dass sich die Ausnahmen und Einschränkungen in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten auf das absolut Notwendige beschränken müssen. Darauf aufbauend differenziert er zwischen den Daten natürlicher und juristischer Personen. Im Verhältnis zu den juristischen Personen hält er die Veröffentlichungspflicht für gerechtfertigt. Hinsichtlich der Daten natürlicher Personen kommt er zu einem anderen Ergebnis. Die diesbezüglichen VO-Bestimmungen seien insoweit ungültig, als die Bestimmungen bei natür-

79 Vgl dazu Mayer in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, nach Art 6 EUV Rn 390 ff, 395 ff. 80 Art 288 II-IV AEUV. 81 Vgl Art 290, 291 AEUV. 82 EuGH, Slg 2005, I-9981 Rn 76 – Mangold. 83 Vgl EuGH (GK), Urt v 13.5.2014, C-131/12, Rn 68 – Google Spain. 84 Ehlers in: Erichsen/ders (Fn 21) § 2 Rn 94; → § 7 Rn 8.

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lichen Personen die Empfänger der Mittel sind, die Veröffentlichung personenbezogener Daten hinsichtlich aller Empfänger vorschreiben, ohne nach einschlägigen Kriterien wie den Zeiträumen, während derer sie solche Beihilfen erhalten haben, der Häufigkeit oder auch Art und Umfang dieser Beihilfen zu unterscheiden.

c) Verhältnis zur EMRK Die EMRK ist derzeit noch keine Rechtsquelle, sondern nur eine Rechtserkenntnisquelle des Unionsrechts (→ § 2 Rn 21). Als solche wirkt sie in zweifacher Hinsicht auf die Unionsgrundrechte ein. Zum einen haben die Rechte der Charta, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, gem Art 52 III 1 GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Zum anderen hat sich die Union bei der Gewinnung der Unionsgrundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts nach Art 6 III EUV neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten an der EMRK zu orientieren. Kommt es auf die Grundrechte an, die auch in der EMRK verbürgt sind, und liegt hierzu eine Rspr des EGMR vor, ist auch die Unionsgerichtsbarkeit gehalten, diese maßgeblich zu berücksichtigen. Eine strikte Bindung ergibt sich daraus nicht.85 So schließt Art 52 III 2 GRCh einen weitergehenden Schutz der GRCh nicht aus. Ebenso können die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten über die EMRK hinausgehen. Somit bildet der Standard der EMRK nur, zugleich aber auch immer, die Untergrenze.86 Umgekehrt sieht der EGMR den im Unionsrecht vorgesehenen Schutz der Grundrechte als prinzipiell gleichwertig mit der EMRK an und leitet daraus die (im Einzelfall widerlegbare) Vermutung ab, dass sich ein Konventionsstaat seiner Bindung an die EMRK nicht entzieht, wenn er lediglich den rechtlichen Verpflichtungen nachkommt, die sich aus seiner Mitgliedschaft in der Europäischen Union ergeben (→ § 2 Rn 53, 57). Der Verweis der GRCh und des Art 6 III EUV auf die EMRK ist nicht statisch (EMRK-Recht zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Lissaboner Vertrages), sondern dynamisch zu verstehen (Einbeziehung auch der künftigen Veränderungen).87 So spricht Art 52 III 1 GRCh davon, dass die der EMRK entsprechenden Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der genannten Konvention „verliehen wird“ (nicht verliehen worden sind). Zwar stoßen dynamische Verweisungen auch im Völkerrecht auf Bedenken, weil die Bindungswirkungen nicht vorhersehbar sind.88 Entsprechendes gilt grundsätzlich für das Unionsrecht. Doch sind dynamische Verweise auf bloße Rechtserkenntnisquellen unbedenklich. Tritt die EU der EMRK bei (Rn 32; → § 2 Rn 21 ff), wird sie ohnehin an das jeweils geltende EMRK-Recht gebunden. Welche Rechte der Charta dieselbe Bedeutung und Tragweite wie die EMRK-Rechte haben, ist in den Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents (Rn 53) zu Art 52 GRCh aufgelistet worden. Danach entsprechen sich die Unionsgrundrechte der Art 2/Art 2 EMRK, Art 4/Art 3 EMRK, Art 5 I, II/Art 4 EMRK, Art 6/Art 5 EMRK,

85 Dies gilt auch in Bezug auf einen Konflikt von EMRK-Bestimmungen und nationalem Recht, vgl dazu EuGH, NVwZ 2012, 950 ff – Kamberaj. 86 Craig/de Búrca EU, S 367, v Danwitz in: Grabenwarter (Fn 27) § 6 Rn 45. 87 Vgl auch zur GRCh Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 52 Rn 37. 88 Zum innerstaatlichen Recht vgl BVerfGE 47, 285, 311 ff; Clemens AöR 111 (1986), 63, 100 ff.

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Art 7/Art 8 EMRK, Art 10 I/Art 9 EMRK, Art 11/Art 10 EMRK89, Art 17/Art 1. ZP EMRK, Art 19 I/Art 4 4. ZP EMRK, Art 19 II/Art 3 EMRK, Art 48/Art 6 II, III EMRK und Art 49 I90, II/Art 7 EMRK. Andere Rechte der Charta entsprechen zum Teil der EMRK (Rn 33). Das Präsidium nennt die Art 9/Art 12 EMRK, Art 12 I/Art 11 EMRK, Art 14 I, III/Art 2 1. ZP EMRK, Art 47 II, III/Art 6 I EMRK und Art 50/Art 4 7. ZP EMRK. Im Falle eines Beitritts der EU zur EMRK, wird diese kraft des Beitrittsübereinkommens Bestandteil des Unionsrechts und damit Rechtsquelle des Unionsrechts im Rang zwischen Primär- und Sekundärrecht (→ § 2 Rn 23). Im Hinblick auf das Primärrecht (GRCh, Art 6 III EUV) bleibt die EMRK Rechtserkenntnisquelle (für die Auslegung bzw Gewinnung primärrechtlich geltender Unionsgrundrechte). Eine Verpflichtung zur rechtskonformen Auslegung des Primärrechts am Maßstab des nachrangigen Rechts gibt es nicht.91 Da das Primärrecht aber gebietet, sich dieser Erkenntnisquelle zu bedienen, kommt der EMRK weiterhin (und durch das Beitrittsübereinkommen zusätzlich abgestützt) ein quasi primärrechtlicher Rang zu (→ § 2 Rn 23).92 Nach Beitritt der EU zur EMRK genießt diese für den Unionsraum gegenüber den Mitgliedstaaten Anwendungsvorrang. Gleichzeitig entscheidet der EGMR letztverbindlich darüber, ob die EMRKRechte im Unionsraum gewahrt worden sind. d) Verhältnis zum internationalen Recht

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Fall 3: (EuGH, Slg 2008, I-6351 ff – Kadi = JK 2009, EGV Art 301/1) Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus mehrere Resolutionen auf der Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta verabschiedet. Darin ist ua vorgesehen, dass die Staaten verpflichtet sind, Gelder und andere wirtschaftliche Ressourcen von Unterstützern des Terrorismus „einzufrieren“. Der Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen hat die natürlichen und juristischen Personen sowie Einrichtungen, die als Unterstützer gelten, namentlich benannt. Daraufhin hat der Europäische Rat (Art 15 EUV) eine VO erlassen, welche die Einfrierung der Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen unter Nennung der als Unterstützer angesehenen Personen und Organisationen anordnet. Der in der Liste aufgeführte K hat Nichtigkeitsklage gegen die VO erhoben und sich ua auf eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie seines Eigentumsgrundrechts berufen. Nach Abweisung der Klage durch das EuG (Slg 2005, II-3649) wandte sich K mit einer Rechtsmittelbeschwerde an den EuGH.

Internationale Organisationen und Drittstaaten sind an die Unionsgrundrechte nicht gebunden, wie sich für die Rechte der Charta aus Art 51 I 1 GRCh und im Übrigen auch aus dem Völkerrecht ergibt. Schließt die EU (oder schließen die Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht) völkerrechtliche Verträge ab, handelt es sich um Handlungen der Union (oder der Mitgliedstaaten), die an den Unionsgrundrechten zu messen sind. Die von der Union geschlossenen Verträge binden diese und die Mitgliedstaaten völ-

89 Unbeschadet der Einschränkungen, mit denen das Unionsrecht das Recht der Mitgliedstaaten auf Einführung der in Art 10 I 3 EMRK genannten Genehmigungsverfahren eingrenzen kann. 90 Mit Ausnahme des letzten Satzes. 91 Vgl auch Jarass GRCh, Einl Rn 53a. 92 Vgl auch Jarass, EuR 2013, 29, 44.

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kerrechtlich sowie unionsrechtlich nach Maßgabe der Art 216 II AEUV.93 Die unionsrechtliche Bindung geht dem Sekundärrecht (Rn 27), ungeachtet des Grundsatzes der völkerrechtsfreundlichen Auslegung nicht aber dem Primärrecht und damit nicht den Unionsgrundrechten vor.94 Widersprechen frühere Übereinkommen der Mitgliedstaaten den Unionsgrundrechten, haben diese gem Art 351 II AEUV alle geeigneten Mittel anzuwenden, um die Unvereinbarkeit zu beheben. Soweit das Völkerrecht selbst die Menschenrechte schützt, ist dies gem Art 53 GRCh bei der Auslegung der GRCh zu beachten. Über die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht entscheidet der EuGH95 (vgl auch Art 267 I lit b) AEUV). Ist eine Übereinkunft geplant, kann ein Gutachten des EuGH eingeholt werden (Art 218 XI AEUV). Umstritten war, ob die Bindung an die Unionsgrundrechte auch auf die Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (zB zur Verhängung eines Embargos oder zum Einfrieren von Geldern und sonstigen finanziellen Vermögenswerten zwecks Bekämpfung des Terrorismus96) zutrifft. Beschränkungen (seien sie auch grundrechtlicher Art) laufen der bindenden Wirkung der Beschlüsse (vgl Art 25 sowie Kap VII UN-Charta) sowie dem Vorrang der Charta vor anderen Verpflichtungen (Art 103 UNCharta) zuwider, führen zu uneinheitlichen Anwendungen und bergen die Gefahr weiterer Beschränkungen anderer Mitglieder (namentlich im Bereich des Peacebuilding) in sich.97 Das EuG hat angenommen, dass eine EU-VO zur Einfrierung von Finanzmitteln betreffend die Taliban von Afghanistan dann nicht von der Unionsgerichtsbarkeit am Maßstab der Unionsgrundrechte überprüft werden darf, wenn die VO eine Resolution des Sicherheitsrates umsetzt und diese eine Liste der betroffenen Personen und Organisationen enthält. Zulässig sei nur die Überprüfung zwingenden Völkerrechts (ius cogens).98 Der EuGH ist dieser Betrachtungsweise zu Recht nicht gefolgt, weil ein effektiver Rechtsschutz gegenüber dem Sicherheitsrat auf UN-Ebene fehlt und die Unionsgrundrechte eine „grundsätzlich umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit sämtlicher Handlungen der Gemeinschaft (Union) im Hinblick auf die Grundrechte als Bestandteil der allgem Grundsätze des Gemeinschaftsrechts (heute auch der GRCh) gewährleisten müssen“99 (Fall 3).

93 Vgl Mögele in: Streinz, EUV/AEUV, Art 216 AEUV Rn 46. Zum Sonderfall des WTO-Rechts besteht keine unmittelbare Bindung an die GATT-Best; vgl EuGH, Slg 1999, I-8395, Rn 36 – Portugal/Rat = JK 2000, EGV Art 300/1. 94 EuGH, Slg 1992, I-6019, Rn 9 – Poulsen u Diva Navigation; Slg 1998, I-3655, Rn 45 – Racke; Slg 2008, I-6351, Rn 291 – Kadi (Fall 3). 95 Vgl EuGH, Slg 1974, 449, Rn 2, 6 – Haegeman. 96 Sog „smart sanctions“ oder „targeted sanctions“ (vgl Fall 3); zu Embargomaßnahmen der EU gegen Drittstaaten Streinz ER, Rn 1243 ff. 97 Näher zur Frage zu den rechtlichen Grenzen der Sicherheitsratsbefugnisse Herdegen VR, § 40 Rn 18; v Arnauld Völkerrecht, 2012, Rn 152; vgl auch IGH, ICJ Reports 1992, 3 (15 para 39) – Lockerbie. 98 Vgl EuG, Slg 2005, II-3649, Rn 221 ff – Kadi; Slg 2005, II-3533, Rn 272 ff – Yusuf. Vgl dazu v Danwitz, DVBl 2008, 537 ff. Allgem zum ius cogens Stein/v Buttlar VR, Rn 147 ff. 99 EuGH, Slg 2008, I-6351, Rn 326 – Kadi.

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Lösung Fall 3: Die Nichtigkeitsklage ist zulässig, weil die angegriffene VO der EG (heute: EU) K unmittelbar und individuell betrifft (Art 263 IV AEUV). Der Ansicht des EuG, dass Unionsrechtsakte, die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen mit Namenslisten100 umsetzen, wegen der völkerrechtlichen Bindungswirkung einer gerichtlichen Kontrolle der Unionsgerichte nur insoweit unterliegen, als es um die Vereinbarkeit mit den völkerrechtlichen Normen des ius cogens geht, ist der EuGH zu Recht nicht gefolgt. Grundrechte sind gem Art 6 III EUV integrale Bestandteile der allgem Rechtsgrundsätze (heute auch des geschriebenen Rechts gem Art 6 I EUV iVm der GRCh), deren Wahrung die Unionsgerichte zu sichern haben. Das Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Unionsrechts (Rn 34) schließt Rechtsschutz nicht aus, zumal dem UN-Recht dieses Erfordernis nicht entnommen werden kann. Die Möglichkeit, vom Unionsrecht zugunsten völkerrechtlicher Verpflichtungen abzuweichen (Art 215, 347 AEUV) entbindet nicht von der Beachtung der Unionsgrundrechte. Würde man die Verpflichtungen aus der UN-Charta in die Normenhierarchie der Unionsrechtsordnung einfügen, hätten sie zwar Vorrang vor dem Sekundär-, nicht aber vor dem Primärrecht (Art 216 II AEUV). Der Rechtsschutz durch die Vereinten Nationen selbst genügt nicht den Garantien eines gerichtlichen Rechtsschutzes. Er ist im Wesentlichen diplomatischer Natur. Da K nicht in der Lage war, sich gegen die Aufnahme in die Liste der VO zu wehren, verletzt diese sowohl seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und effektiven gerichtlichen Rechtsschutz als auch das Recht auf Achtung des Eigentums (heute Art 41 II lit a, 47 S 1, 17 GRCh). Ob auch zwingende Grundsätze des Völkerrechts Prüfungsmaßstab sein können, hat der EuGH offen gelassen.101

e) Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Recht (insbesondere zu den nationalen Grundrechten)

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Fall 4: (BVerfGE 102, 142) Auf der Grundlage einer Bananenmarkt-VO der EG (heute: EU) ist die Einfuhr von Bananen aus Drittstaaten in die Gemeinschaft (heute: Union) drastisch reduziert worden. Ein deutscher Importeur von Bananen aus solchen Staaten erhob gegen einen auf der Grundlage dieser VO erlassenen Kontingentierungsbescheid Klage vor einem deutschen VG. Der vom VG im Wege einer Vorabentscheidung angerufene EuGH hat entschieden, dass keine Bedenken gegen die Gültigkeit der VO bestehen (Slg 1995, I-3799 ff – Atlanta). Daraufhin hat das VG dem BVerfG gemäß Art 100 I GG die Frage vorgelegt, ob die VO mit Art 14 I, 12 I und 3 I GG vereinbar ist.

Unionsrecht kann grds nicht am Maßstab des nationalen Rechts gemessen werden. So liegt es nicht im Rahmen der deutschen Gerichtsgewalt, über die Gültigkeit von Handlungen der EU-Organe zu befinden.102 Etwas anderes könnte für die Anwendbarkeit von

100 Anders dürfte das EuG entschieden haben, falls die Resolution den Gemeinschaftsorganen einen Umsetzungsspielraum gibt, vgl EuG, Slg 2005, II-3649, Rn 258 – Kadi; Slg 2005, II-3533, Rn 328 – Yusuf. 101 Vgl auch Skouris in: Merten/Papier (Fn 19) Bd VI/1, § 157 Rn 41. 102 Vgl BVerfGE 22, 293, 295 ff; 37, 271, 281 f, wonach Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen Gemeinschaftsrecht unzulässig sind. Demgegenüber aber BVerfGE 89, 155, 175 = JK 94, GG Art 23/1; BVerfG-K, DVBl 2001, 1130 f, wonach das BVerfG nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen, sondern Grundrechtsschutz in Deutschland zu gewährleisten hat (dh wenn ein

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Unionsrecht im nationalen Rechtskreis gelten. Dem Unionsrecht kommt ein Vorrang vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten zu (→ § 7 Rn 11). Umstritten ist, ob der Vorrang uneingeschränkt gilt. Der EuGH bejaht dies in st Rspr (Rn 4), weil ansonsten die Geltung und Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung in Frage gestellt wäre. Unionsakte können danach nur an den Unionsgrundrechten, nicht aber an den nationalen Grundrechten gemessen werden. Die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten sehen dies vielfach anders (Rn 4). So darf die Bundesrepublik Deutschland nach der in der Lissabon-Entscheidung bestätigten103 Solange-Rspr des BVerfG104 nur innerhalb bestimmter Grenzen, die (heute) in Art 23 I GG umschrieben sind, Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen. Nimmt die Union Kompetenzen wahr, die ihr nicht übertragen worden sind (Grenze des Nichtübertragenen), oder verletzt das Unionsrecht den nach Art 23 I 1, 3 GG iVm Art 79 II und III GG unabdingbaren Standard des Grundgesetzes (Grenze des Nichtübertragbaren), ist das Unionsrecht bei Zugrundelegung der Rspr des BVerfG in der Bundesrepublik Deutschland nicht anwendbar. Vielfach wird hierfür das Bild einer Brücke nach Europa bemüht, auf der das BVerfG als Wächter steht, um die Einhaltung der genannten Anforderungen zu garantieren. Zum unabdingbaren, die Identität der geltenden Verfassungsordnung ausmachenden Standard des Grundgesetzes gehört ein ausreichender Grundrechtsschutz. Während das BVerfG in seiner Solange I-Entscheidung einen solchen Grundrechtsschutz auf Unionsebene noch vermisst hat, anerkennt es seit seiner Solange II-Entscheidung, dass im Hoheitsbereich der Europäischen Union ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen sei, das nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im Wesentlichen gleich zu achten sei. Deshalb werde das Gericht erst und nur dann im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit wieder tätig werden, wenn der als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz im Unionsrecht generell nicht mehr gewährleistet sei.105 Auch Art 23 I 1 GG verlange nur einen „im Wesentlichen vergleichbaren“ Grundrechtsschutz. Diese Hürde ist so hoch angesetzt, dass mit einer Überprüfung des (sekundären oder gar primären) Unionsrechts am Maßstab der deutschen Grundrechte kaum noch gerechnet werden kann. Dies gilt erst recht nach Inkorporation der GRCh in das (primäre) Unionsrecht. Tritt die EU der EMRK bei (Rn 32), kommt eine zusätzliche Sicherung hinzu. Nicht zu Unrecht ist davon gesprochen worden, dass das BVerfG – im Hinblick auf die Gewährleistung eines unionsrechtlichen Grundrechtsstandards – die Rolle eines „Reservisten“ ohne ernsthafte Aussicht auf Spieleintritt spielt.106 Komplizierter stellt sich die Rechtslage dar, wenn die Mitgliedstaaten der EU tätig werden. Die Mitgliedstaaten sind an die Unionsgrundrechte nach Art 51 I 1 GRCh „ausschließlich“ bei der Durchführung des Rechts der Union gebunden. Für die als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannten Grundrechte (Art 6 III EUV) gilt im Ergebnis nichts anderes. Geht das Handeln der Mitgliedstaaten auf zwingendes Unionsrecht zurück (wird

103 104 105

106

Akt Rechtswirkungen in Deutschland entfaltet). Näher zum Ganzen Dörr Der europäische Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, 2003, 176 ff; Walter AöR 129 (2004), 39 ff. BVerfGE 123, 267, 335 = JK 2010, GG Art 38 I/18. Vgl BVerfGE 37, 271, 277 ff – Solange I; 73, 339, 375 f, 387 – Solange II = JK 87, GG Art 24 I/1. Vgl auch BVerfGE 89, 155, 174 f – Maastricht = JK 94, GG Art 23/1; 102, 147, 162 ff – Bananenmarktordnung; 118, 79, 95 – Treibhausgas-Immissionsberechtigungen = JK 2008, ZuG § 12/1. Näher zu der Rspr Nettesheim Jura 2001, 686 ff. Krit zur generellen Betrachtungsweise statt zur Einzelfallkontrolle zu Recht Dederer JZ 2014, 313 ff. So der (frühere) Bundesverfassungsrichter Steiner FS Maurer, 2001, S 1005, 1013 mit Fn 43.

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es mit anderen Worten durch dieses determiniert), greift – jedenfalls in den Grenzen der Solange-Rspr des BVerfG – der Vorrang des Unionsrechts mit der Folge ein, dass kollidierendes nationales Recht, einschließlich der Grundrechte, nicht angewendet werden darf.107 Bleibt den Mitgliedstaaten ein Spielraum, können Unionsgrundrechte und nationale Grundrechte nebeneinander zur Anwendung gelangen (näher dazu Rn 74). Ist das Unionsrecht nicht einschlägig, obliegt die Wahrung der Grundrechte allein dem nationalen Recht (oder der EMRK).108 40

Lösung Fall 4: Tauglicher Gegenstand einer Vorlage nach Art 100 I GG können grundsätzlich nur deutsche Gesetze sein. Doch sind Vorlagen zur Prüfung, ob sekundäres Unionsrecht in Deutschland angewendet werden darf, dann „entsprechend Art 100 I GG“ zulässig (und erforderlich), wenn ihre Begründung im Einzelnen darlegt, dass die gegenwärtige Rechtsentwicklung zum Grundrechtsschutz im Unionsrecht (insb die Rspr des EuGH) den jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet. Das BVerfG verweist hierbei auf seine Solange II-Entscheidung. Auch Art 23 I 1 GG verlange keinen deckungsgleichen Schutz in den einzelnen Grundrechtsbereichen des GG durch das Unionsrecht, sondern begnüge sich mit einem dem GG im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz. Dem VG sei es nicht gelungen darzulegen, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rspr des EuGH nach Ergehen der Solange II-Entscheidung generell unter den als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz abgesunken sei. Daher ist die Vorlage als unzulässig zurückgewiesen worden.

II. Funktionen der Unionsgrundrechte 1. Gewährung von Freiheitsrechten 41

Ebenso wie die Grundrechte der EMRK (→ vgl § 2 Rn 25) sollen die Unionsgrundrechte – im engeren Sinne (dh iS unmittelbar einklagbarer subjektiver Rechte) – dem Einzelnen in erster Linie eine bestimmte Freiheitssphäre garantieren und ihm einen Anspruch auf Unterlassung nicht gerechtfertigter hoheitlicher Eingriffe in diese und auf Beseitigung bereits vollzogener, aber noch rückgängig zu machender rechtswidriger Eingriffe vermitteln. Freiheitsrechte stellen somit Abwehrrechte dar, die den status negativus (→ § 2 Rn 26) schützen sollen. Art 51 I 2 GRCh bringt dies dadurch zum Ausdruck, dass von einer Pflicht zur Achtung der Grundrechte gesprochen wird. Kommt eine Unterlassung oder Beseitigung nicht gerechtfertigter Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht mehr in Betracht, entspricht es dem Wertgehalt der grundrechtlichen Verbürgung, dass die Berechtigten grundsätzlich einen Anspruch auf Schadensersatz haben. Dieser bestimmt sich indessen idR109 nicht mehr nach den Unionsgrundrechten, sondern nach Art 340 II–III AEUV und gegenüber den Mitgliedstaaten nach der Rspr des EuGH.110 Geschützt wird

107 BVerfGE 118, 79, 95 f. Zur Nichtanwendbarkeit (statt Ungültigkeit) des mit Gemeinschaftsrecht kollidierenden nationalen Rechts vgl EuGH, Slg 1991, I-297, Rn 19 – Nimz; BVerfGE 75, 223, 244; 85, 191, 204 = JK 92, GG Art 3 II, Art 3 III/6. 108 Näher zum Ganzen Rn 59 ff. 109 Anders Art 6 GRCh iVm Art 52 III GRCh u Art 5 V EMRK, 41 III GRCh. 110 Grdl EuGH, Slg 1991, I-5357, Rn 35 – Francovich; Slg 1996, I-1029 Rn 31 – Brasserie du Pêcheur.

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Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte

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zumeist sowohl die positive als auch negative Freiheit (also zB die Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben).111 Die vom EuGH als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannten Freiheitsrechte sind heute weitestgehend in der GRCh der EU positiviert worden. Unter Freiheitsrechten sind allerdings nicht nur die Gewährleistungen des Titels II der Charta zu verstehen. Vielmehr verkörpern weitere Bestimmungen (wie zB die Art 1 ff) Freiheitsrechte. Die Verbürgungen reichen über diejenigen der EMRK hinaus. So enthält die Charta weitere Gewährleistungen und Präzisierungen: etwa Regelungen, welche die Einschränkbarkeit des Rechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit im Hinblick auf medizinische und biologische Maßnahmen ausformen (Art 3 II GRCh) oder das Recht auf Wehrdienstverweigerung (Art 10 II GRCh). ZT wird bewusst vom Text der EMRK abgewichen. ZB wird das Recht auf Eingehung einer Ehe und Gründung einer Familie (Art 9 GRCh) anders als nach Art 12 EMRK nicht nur auf Männer und Frauen (Personen verschiedenen Geschlechts112) bezogen. Neben Garantien wie zB nach Art der Art 8 GRCh (Schutz personenbezogener Daten) oder 13 GRCh (Freiheit der Kunst und Wissenschaft) wird über die EMRK hinausgehend auch die Berufsfreiheit (Art 15 GRCh) und unternehmerische Freiheit (Art 16 GRCh) geschützt. Der Kanon der Freiheitsrechte entspricht im Großen und Ganzen demjenigen des Grundgesetzes im nationalen Rechtskreis. Doch gibt es auch insoweit keine vollständige Deckung. So kennt das Grundgesetz kein ausdrückliches Recht auf Sicherheit (Art 6 GRCh). Andererseits enthält die Charta anders als das Grundgesetz kein Auffanggrundrecht iSd Gewährleistung einer allgem Handlungsfreiheit.113 Doch hat der EuGH der Sache nach ein Grundrecht der allgem Handlungsfreiheit als allgem Rechtsgrundsatz anerkannt.114 Näher zu den Einzelheiten vgl die folgenden Abschnitte.

2. Gewährung von Gleichheitsrechten Neben den Gleichheitssätzen der Art 2 u 9 EUV, dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV ggf iVm Art 21 AEUV (→ § 7 Rn 15), dem Diskriminierungsverboten der Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 24 ff ) und zahlreichen im AEUV geregelten speziellen Gleichheitssätzen (→ § 7 Rn 16 f ) enthält auch die GRCh sowohl einen allgemeinen Gleichheitssatz (Art 20), der zuvor schon als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt war115, als auch besondere Diskriminierungsverbote (Art 21–23). Da auf Gleichheitsverstöße mit einer Beseitigung der Benachteiligung, einer Ausweitung der Vergünstigung oder einer völligen Neuregelung reagiert werden kann (→ § 7 Rn 37), können sich aus einem Anspruch auf Gleichbehandlung sowohl Abwehr- als Leistungsrechte in Gestalt

111 Zur Frage, ob der negative Freiheitsschutz auch für das Recht auf Leben (Art 2 GRCh) gilt und ob sich aus diesem Recht auch ein Recht auf Sterbehilfe ergibt, vgl → § 3 Rn 50 sowie → § 15 Rn 17 ff. Bejahend Höfling in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 2 Rn 47 f. 112 Zur Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften nach der EMRK vgl Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 12 Rn 5. 113 Zur Frage, ob Art 6 I GRCh (Recht auf Freiheit) idS interpretiert werden kann, vgl → § 16 Rn 4 ff. 114 Vgl EuGH, Slg 1987, 2289, Rn 15 ff – Rau; Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst = JK 90, EWGV Art 173/2 (Fall 10); Slg 1989, 3165, Rn 16 – Dow. Anders wird die Rspr eingestuft von Jarass GR, § 2 Rn 16. Vgl auch Rengeling/Szczekalla GR, Rn 632 ff. 115 EuGH, Slg 1977, 1753, Rn 7 – Ruckdeschel; Slg 1982, 2745, Rn 11 – Edeka; Slg 2000, I-2737, Rn 39 – Karlsson.

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derivativer Teilhaberechte ergeben. Der EuGH erklärt bei Verstößen gegen den Gleichheitssatz die rechtswidrige Maßnahme nicht für unwirksam, sondern lässt sie fortbestehen, bis eine der Gleichbehandlung entsprechende neue Regelung getroffen wurde.116 Der Titel III der GRCh verbürgt neben den genannten Gleichheitssätzen auch soziale Rechte (Art 24–26), die besser dem Titel Solidarität (Rn 12, 50) zugeordnet worden wären. Näher zu den Gleichheitsrechten → §§ 21, 22.

3. Gewährung von Leistungsrechten 43

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Gem Art 51 I 2 GRCh sind die Unionsgrundrechte nicht nur zu achten, sondern auch zu „fördern“.117 Damit wird die leistungsrechtliche Komponente der Unionsgrundrechte angesprochen. Bei den Leistungsrechten kann es sich um Teilhaberrechte, Rechte auf Gewährung von Schutz oder originäre Leistungsrechte handeln (vgl auch → § 7 Rn 36 ff). Eine diesbezügliche Rspr der Unionsgerichtsbarkeit gibt es bisher kaum. Doch dürfte sich dies in dem Ausmaße ändern, in dem die Unionsgrundrechte praktische Relevanz erlangen. Teilhaberrechte zielen auf Beteiligungen auf bestehenden Einrichtungen oder ähnlichen Vergünstigungen ab. Sie können sich insbesondere aus den verschiedenen Gleichheitssätzen ergeben (Rn 42). Ferner kommt eine Teilhabe in Betracht, wenn die Unionsgrundrechte selbst einen Zugang gewähren, wie dies etwa auf die Art 14 I (Recht auf Bildung), 34 I (Recht auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung), 35 (Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge) und 36 GRCh (Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse) zutrifft. Sind entsprechende Vorkehrungen oder Maßnahmen getroffen worden, haben die Grundrechtsberechtigten einen Anspruch auf Beteiligung. Schließlich haben viele Bürger- und Verfahrensrechte (Rn 47 f) Teilhabecharakter. So lässt sich etwa das Wahlrecht bei den Kommunalwahlen (Art 40 GRCh) als Teilhaberecht ansehen. Wie aus den EMRK-Rechten (→ § 2 Rn 31) und den Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 38) – sowie den deutschen Grundrechten118 – können sich aus den Unionsgrundrechten Ansprüche auf Gewährung hoheitlichen Schutzes ergeben.119 Einerseits geht es um Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater, andererseits um hoheitliche Bereitstellungs- und Förderungspflichten. Letztere haben vielfach nur Grundsatz- (Rn 18) respektive objektiv-rechtlichen Charakter, korrespondieren also nicht mit einem unmittelbar einklagbaren subjektiven Recht. Einzelne Entscheidungen des EuGH lassen sich iSe grundrechtlichen Begründung von (jedenfalls mitgliedstaatlichen) Schutzverpflichtungen deuten.120 Wie sich ausdrücklich aus Art 51 I 2, II GRCh entnehmen lässt, begründen grundrechtliche Schutzpflichten keinen Kompetenztitel, sondern setzen einen solchen voraus (Grundsatz der

116 Vgl EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 26 – Schräder; Slg 2002, I-11915, Rn 42 – Cabarello; Slg 2006, I-7569, Rn 45 – Alonso; Slg 2008, I-105, Rn 38 – Navaro; Jarass GRCh, Art 20 Rn 4. 117 Vgl Ladenburger in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 51 Rn 17. 118 Vgl die Rspr-Nachw bei Sachs in: ders (Hrsg) Grundgesetz, 6. Aufl 2011, Vor Art 1 Rn 35. 119 Krit Ruffert Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996, S 59. 120 Vgl EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 74 – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3 (→ § 8 Rn 17); Slg 2004, I-9609, Rn 35 – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13 (→ § 7 Rn 127); ausf dazu Szczekalla Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, 459 ff.

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Parallelität von Kompetenzen und Grundrechtsschutz).121 Eine unionsrechtliche Schutzpflicht kommt somit nur in Betracht, wenn sich eine entsprechende unionsrechtliche Kompetenz nachweisen lässt. Geht es um ein Handeln der EU, muss das Subsidiaritätsprinzip (Art 5 III EUV, 51 I 1 GRCh) sowie der Grundsatz der kompetenziellen Verhältnismäßigkeit (Art 5 IV EUV) beachtet werden. Inhaltlich verpflichten Schutzpflichten zur Ergreifung effektiver Maßnahmen, nicht aber zur Durchführung bestimmter Handlungen.122 Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten haben somit erheblichen Gestaltungsspielräume.123 Die GRCh normiert teilweise ausdrückliche Schutzpflichten (zB Art 1 S 2, 24 I 1). In den meisten Fällen dürfte es sich um Grundsätze (Rn 18) respektive objektiv-rechtliche Verpflichtungen handeln. Das ist insbesondere der Fall, wenn auf das Unionsgrecht und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verwiesen wird (so etwa Art 27, 28, 30, 34, 35, 36 GRCh). Ein Anspruch auf originäre Leistungen – dh auf Schaffung noch nicht vorhandener Einrichtungen oder erstmaliger Leistungen – lässt sich aus der GRCh grds nicht herleiten.124 Doch kann anderes gelten. Dies trifft insbesondere auf die Bürger- bzw justiziellen oder Verfahrensrechte (Rn 48) zu: etwa das Recht auf Akteneinsicht (Art 41 II lit b GRCh), auf eine Korrespondenz in derselben Sprache (Art 41 IV GRCh), auf Zugang zu Dokumenten der Union (Art 42 GRCh), auf Zugang zu den Gerichten (Art 47 S 1 GRCh) oder auf Prozesskostenhilfe (Art 47 S 4 GRCh).125 Auch wenn die grundrechtlichen Gewährleistungen bloßen Grundsatzcharakter haben, muss dies noch nicht zwangsläufig jegliche subjektive Berechtigung ausschließen. So ist es vorstellbar, dass die Grundrechtsberechtigten (ebenso wie bei den Grundrechten) bei Verletzung des Untermaßverbots einen Anspruch auf Verschaffung haben. Teilt man diesen Ansatz, würde sich zB aus Art 29 GRCh, der jedem Menschen das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst garantiert, die Berechtigung ergeben, das Vorhandensein eines Dienstes (unabhängig von der Ausgestaltung im Einzelnen) verlangen zu können. Rspr und Lit haben sich dazu bisher – soweit ersichtlich – nicht geäußert. Generell kommt ein Anspruch auf originäre Leistung nur in Betracht, wenn die Vorenthaltung der Leistung dieselbe Wirkung wie eine Grundrechtsbeeinträchtigung hat.

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4. Gewährung von Verfahrensrechten Verfahrensrechte (→ ausf hierzu § 27) haben in der Unionsrechtsordnung eine bes große Bedeutung. Vielfach handelt es sich bei den Verfahrensrechten um Bürgerrechte und justizielle Rechte iSd Titel V und VI GRCh. Doch können sich auch aus sonstigen Unionsgrundrechten verfahrensrechtliche Konsequenzen ergeben (vgl auch → § 7 Rn 41). Dienen die Verfahrensrechte nur der Abmilderung von Grundrechtseingriffen – wie dies zB auf Eingriffe in das Recht auf Freiheit (Art 6 GRCh) zutreffen kann, weil solche Eingriffe nur rechtmäßig sind, wenn bestimmte verfahrensrechtliche Anforderungen eingehalten wer-

121 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 22, 26; Lindner DÖV 2000, 543, 549; Pernice DVBl 2000, 847, 852; Schmitz JZ 2001, 833, 840. 122 Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657, 676 f. 123 Vgl auch Jarass, AöR 110 (1985), 363, 395 – „Wesentlichkeitsschutz“. 124 Vgl Erläuterungen zu Art 52 V GRCh. 125 Nach Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 5 Rn 30, handelt es sich bei der Prozesskostenhilfe nicht um eine leistungsrechtliche Wohltat, sondern um die Kompensation eines Grundrechtseingriffs.

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den (→ § 16 Rn 5) – richten sie sich nicht auf positive Leistungen, sondern dienen nur der grundrechtlichen Abwehrfunktion.126 Inhaltlich gehen die Verfahrensrechte des Unionsrechts noch über die Verfahrensrechte der EMRK hinaus. So gilt das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht (Art 47 S 1 GRCh) entgegen Art 6 I 1 EMRK (→ § 2 Rn 37) nicht nur für Streitigkeiten im Zusammenhang mit zivilrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen oder strafrechtlichen Anklagen.127

5. Gewährung von Solidarität, von Bürgerrechten und justiziellen Rechten 48

Soweit die Unionsgrundrechte Solidaritätsverpflichtungen enthalten oder Bürgerrechte respektive justizielle Rechte gewähren (so die Titel IV-VI), handelt es sich nicht um eigengeartete Grundrechtsfunktionen, sondern entweder um Freiheits- (Abwehr-), Gleichheits-, Leistungs- bzw Verfahrensrechte oder um Grundsatznormen (Rn 19).

6. Unionsgrundrechte als Elemente objektiver Ordnung 49

Ebenso wie den EMRK-Rechten (→ § 2 Rn 40) und den Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 42) kommt den Unionsgrundrechten schließlich eine objektiv-rechtliche Bedeutung zu.128 Dies versteht sich von selbst für die Grundsätze (Rn 52), gilt aber auch dann, wenn die Unionsgrundrechte unmittelbar einklagbare subjektive Rechte enthalten. So muss der Gehalt der Unionsgrundrechte bei der Setzung und dem Vollzug von sekundärem Unionsrecht beachtet werden. Ferner ist das Unionsrecht und das nationale Recht unionsgrundrechtskonform auszulegen.129 Wiederum ist zu berücksichtigen, dass die Unionsgrundrechte die Kompetenzen der Union nicht zu erweitern vermögen (vgl auch Art 51 II GRCh). Zur Drittwirkung der Unionsgrundrechte vgl Rn 81.

7. Rechtsfolgen von Grundrechtsverstößen 50

Verstoßen Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der EU (Art 51 I 1 GRCh) gegen die Unionsgrundrechte, führt dies zur Rechtswidrigkeit oder Ungültigkeit der Maßnahmen, bei offensichtlichen und schwerwiegenden Rechtsverstößen zur rechtlichen Inexistenz.130 Da das Unionsrecht von der Vermutung der Rechtmäßigkeit der Unionsrechtsakte ausgeht131, entfalten auch rechtswidrige Akte Rechtswirkungen, solange sie nicht aufgehoben, im Rahmen einer Nichtigkeitsklage (Art 263 AEUV) für nichtig erklärt oder in Folge 126 Vgl auch Jarass GR, § 5 Rn 17. 127 Vgl EuGH, Slg 1986, 1339, Rn 23 – Les Verts. 128 Vgl auch Rengeling Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, 205 ff; Gersdorf AöR 119 (1994), 400, 402 ff. 129 Nach BGHZ 179, 27, soll eine unionsrechtskonforme (richtlinienkonforme) Auslegung auch über die Wortlautgrenze hinaus zulässig sein. Das nationale Recht müsse, wo dies nötig und möglich ist, unionsrechtskonform (richtlinienkonform) fortgebildet werden. Dieser Ansicht ist nicht zu folgen. Sie widerspricht auch der Rspr des EuGH (Slg 2008, I-2483, Rn 100 – Impact; EuZW 2012, 342, Rn 42 – Dominguez; NZA 2014, 193, Rn 39 – Association de médiation sociale). 130 Vgl auch Winkler Die Grundrechte der Europäischen Union, 2006, S 341 f. Näher zur Unterscheidung des Unionsrechts zwischen Rechtswidrigkeit, Nichtigkeit und Nichtakten Ehlers in: ders/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 8 Rn 10; ders in: Erichsen/ders (Fn 21) § 2 Rn 116. 131 EuGH, Slg 1994, I-2555, Rn 48 – Kommission/BASF; Slg 1999, I-4643, Rn 93 – Chemie Linz; Slg 2004, I-8923, Rn 18 – Kommission/Griechenland = JK 2005, EGV Art 90 I/1.

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Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte

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eines Vorabentscheidungsverfahrens (Art 267 AEUV) für ungültig erklärt worden sind.132 Somit entscheidet grundsätzlich allein die Unionsgerichtsbarkeit über die Aufrechterhaltung der Unionshandlungen. Bis zur Entscheidung der Unionsgerichte sind die Maßnahmen auch von den Mitgliedstaaten und ihren Gerichten als wirksam zu behandeln. Ausnahmen gelten für den einstweiligen Rechtsschutz, sofern gleichzeitig ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht worden ist.133 Stellen die Unionsgerichte eine Nichtigkeit oder Ungültigkeit fest, hat dies ex tunc-Wirkung, sofern die Gerichte gem Art 264 II AEUV nicht anderes bestimmen.134 Im Falle eine Zuwiderhandelns gegen die Gleichheitsgrundsätze ist die Unvereinbarkeit festzustellen. Ist ein Schaden entstanden, muss die EU gem Art 340 II, III AEUV Schadensersatz leisten. Dies setzt allerdings einen qualifizierten Rechtsverstoß voraus, der bei Grundrechtsverstößen angesichts der offenen Formulierung der Grundrechte vielfach fehlen dürfte.135 Die Annahme einer rechtlichen Inexistenz (die keine Nichtigkeitserklärung oder Ungültigkeitserklärung der Unionsgerichtsbarkeit voraussetzen würde) kommt nur in „ganz außergewöhnlichen Fällen“ in Betracht.136 Widerspricht das mitgliedstaatliche Recht den Unionsgrundrechten, ist jenes nicht anwendbar (Rn 39), selbst wenn die Kollision das nationale Verfassungsrecht betrifft.137 Alle staatlichen Stellen (einschl der Gerichte und der Verwaltungsbehörden138) haben dies zu berücksichtigen. Verletzungen können ebenso wie im Falle von Verstößen der Union gegen die Unionsgrundrechte eine Schadensersatzpflicht nach unionsrechtlichen Maßstäben auslösen.139

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III. Funktionen der grundrechtlichen Grundsatznormen Soweit die (geschriebenen oder ungeschriebenen) Unionsgrundrechte nicht unmittelbar einklagbare subjektive Rechte enthalten140, sondern nur Grundsatzcharakter haben (Rn 19), ergeben sich aus ihnen Prinzipien141 für die Gesetzgebung, Beurteilungsmaßstäbe für die Rechtsanwendung und Vollzugsgebote oder -schranken. Bei der Umsetzung der Prinzipien kommt den Gesetzgebungsorganen ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu, der sich erst dann zu einer bestimmten Handlungspflicht verdichtet, wenn andernfalls das sich aus den Grundsätzen ergebende Untermaßverbot142 verletzt wird (vgl auch Rn 46). Letzteres ist nur in seltenen Ausnahmefällen der Fall. Da die Grundsatznormen gleichen

132 Zum Vorabentscheidungsverfahren vgl EuGH, Slg 2010, I-11063, Rn 45 f – Schecke (Fall 2). 133 Vgl EuGH, Slg 1991, I-415, Rn 19 f – Süderdithmarschen; Slg 1995, I-3761, Rn 40 ff – Atlanta; Jarass GRCh, Einl Rn 59. 134 Dies gilt auch für den Fall einer Vorabentscheidung, vgl EuGH, Slg 2010, I-11063, Rn 93 – Schecke. 135 Jarass GRCh, Einl Rn 61. 136 Vgl EuGH, Slg 1994, I-2555, Rn 50 – Kommission/BASF. 137 Vgl BVerfGE 128, 226 – Fraport = JK 2011, GG Art. 1 III/8. 138 Vgl EuGH, Slg 1989, 1839, Rn 32 – Costanzo; Slg 1999, I-2517, Rn 30 – Ciola; Slg 2010, I-47, Rn 80 – Petersen; I-9849, Rn 61 – Fuß. 139 EuGH, Slg 1991, I-5357, Rn 33 ff – Francovich; Slg 1996, I-1029 – Brasserie du Pêcheur. 140 Zur Frage, ob es ein subjektives Recht im Falle eines Untätigbleibens gibt, vgl Rn 46. 141 Zur Wirkungsweise von Prinzipien vgl Dworkin Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, 54 ff; Alexy Theorie der Grundrechte, 3. Aufl 1996, 71 ff; Schmidt-Aßmann in: Hoffmann-Riem/ders/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2. Aufl 2012, § 5 Rn 7 ff. 142 Vgl auch Frenz GR, Rn 684 ff; Schmidt (Fn 58) 55 ff.

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Rang wie die Unionsgrundrechte (ieS) oder sonstigen Normen des Primärrechts haben, müssen sie mit diesen abgewogen werden, dürfen also nicht übermäßig primärrechtlich anderweitig geschützte Rechte oder Rechtsgüter zurückdrängen. Dies wäre etwa der Fall, wenn der Arbeitnehmerschutz vor Entlassung zu weitgehend die Rechte der Arbeitgeber beeinträchtigt. Demgemäß garantiert Art 30 GRCh nur einen Schutz vor „ungerechtfertigte[r]“ Entlassung. Einen Normbestandschutz iSe Rückschrittsverbots vermitteln die Grundfreiheiten nicht.143 Die Beurteilungsmaßstäbe sind bei der Auslegung des anwendbaren Rechts zum Tragen zu bringen. Die Grundsätze sind somit unmittelbar verbindliches Recht (Rn 18)144 und damit justiziabel, sofern ein Rechtsweg eröffnet ist (Rn 120 ff ). Gem Art 52 V 2 GRCh können (und müssen) sie vor Gericht „nur“ bei der Auslegung der Umsetzungsakte (der EU oder Mitgliedstaaten) und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden. Was die Grundsätze hergeben, hängt von ihrer Ausgestaltung (insbes ihrer Bestimmtheit) ab. Ein Vollzugsgebot enthalten die Grundsätze, wenn sie zu einem Handeln verpflichten, eine Vollzugsschranke, wenn das geplante Handeln die Grundsätze verletzen würde. Eine Missachtung der Grundsatznormen kann ebenso wie bei den Unionsgrundrechten ieS (Rn 50 f) eine Unions- oder Staatshaftung nach sich ziehen.

IV. Auslegung der Unionsgrundrechte 53

Für die Auslegung der Unionsgrundrechte einschließlich der Grundsätze gelten prinzipiell keine anderen Maßstäbe als für das Unionsrecht überhaupt. Aus der Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung ergibt sich, dass eine autonome Auslegung geboten ist.145 Stets sind die allgemeinen Interpretationsregeln (ausgehend vom Wortlaut über die Heranziehung der Genese bis zum systematischen Zusammenhang) zu berücksichtigen. Die Wortlautauslegung stößt deshalb auf Grenzen, weil es auf alle Amtssprachen (Art 55 EUV) ankommt. Lässt das Unionsrecht verschiedene Auslegungen zu, ist nach der Rspr des EuGH derjenigen der Vorzug zu geben, welche die Wirksamkeit der fraglichen Unionsrechtsvorschrift am effektivsten zur Geltung bringt.146 Für die Auslegung der Chartarechte ist zunächst die Präambel heranzuziehen, der nicht nur politisch-programatische, sondern rechtliche Bedeutung zukommt.147 Ferner ist der Würde des Menschen (Art 1 GRCh) stets Rechnung zu tragen, weil sie „das eigentliche Fundament der Grundrechte“148 bildet. Spezifische Auslegungsregeln enthält Art 52 II–VII GRCh (Rn 88 ff). Regelungen der Verträge gehen den in der Charta anerkannten Rechten vor (Art 52 II, vgl Rn 88). Soweit die Charta Rechte enthält, die der EMRK oder den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten entsprechen, dürfen sie keine geringeren Schutzwirkungen entfalten (Art 52 III–IV, 53 GRCh). Gleiches gilt für die internationalen Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art 53 GRCh). Verweist die Charta auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (wie dies in weitem Umfange bei den Grundsätzen der Fall ist),

143 144 145 146

AA Borowski in: Meyer, ChGR, Art 52, Rn 45 c; wie hier Schmidt (Fn 58) 195 ff. Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 14. Vgl Borchardt EU, Rn 399. Borchardt EU, Rn 400 m Hinw auf EuGH, Slg 2000, I-1129, Rn 21 – Kommission/Frankreich; I-1157, Rn 41 – EKW u Wein. 147 Streinz in: ders, EUV/AEUV, Präambel GrCh Rn 6; vgl aber auch Rn 8. 148 Erläuterungen zu Art 1 der Charta.

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Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte

§ 14 V 1

ist dem in vollem Umfang Rechnung zu tragen (Art 52 VI GRCh). Schließlich sind die (vom Präsidium des Grundrechtekonvents verfassten) „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ gebührend zu berücksichtigen (Art 6 I UA 3 EUV, 52 VII GRCh).149 Wie sich aus dem Vorspann der Erläuterungen ergibt, haben diese „keinen rechtlichen Status, stellen jedoch eine nützliche Interpretationshilfe dar, die dazu dient, die Bestimmungen der Charta zu verdeutlichen“. Somit sind die Erläuterungen nicht rechtsverbindlich.150 Zur Gewinnung und Präzisierung der Grundrechte, die gem Art 6 III EUV als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind, vgl Rn 10.

V. Berechtigte der Unionsgrundrechte Fall 5: (EuGH, Slg 2007, I-2749 ff – AGM = JK 2008, EGV Art 28/8) Das italienische Unternehmen AGM stellt Fahrzeug-Hebebühnen her und vertreibt sie innerhalb des Binnenmarktes. Im Zusammenhang mit einer Überprüfung durch das finnische Sozial- und Gesundheitsministerium erklärte der eingeschaltete verbeamtete Sachverständige L während des noch laufenden Verfahrens bei mehreren Gelegenheiten öffentlich und in den Medien, dass von den Hebebühnen Gefahren ausgehen. AGM verklagte den finnischen Staat und L wegen der eingetretenen Umsatzeinbußen zur gesamtschuldnerischen Zahlung von Schadensersatz. Das angerufene finnische Gericht möchte wissen, ob die Äußerung von L eine Behinderung des freien Warenverkehrs darstellt und ggf die Behinderung durch die Freiheit der Meinungsäußerung gerechtfertigt werden kann.

Soweit die GRCh Grundsätze festgelegt hat, gibt es keine Berechtigten, sondern allenfalls Begünstigte.151 Dagegen beziehen sich die Unionsgrundrechte ieS auf subjektive Berechtigungen (Rn 18). Als Berechtigte kommen natürliche sowie juristische Personen und Personenmehrheiten in Betracht.

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1. Natürliche Personen Wie sich aus Art 1 GRCh, der Rechtserkenntnisquelle des Art 1 EMRK, den allgem menschenrechtlichen Wurzeln der Unionsgrundrechte und der Notwendigkeit ergibt, bei der Übertragung von Hoheitsgewalt auf die Union keine grundrechtsfreien Zonen entstehen zu lassen, sind grds nicht nur die Unionsbürger (Art 9 EUV, 20 AEUV), sondern alle Menschen (einschl der Drittstaatsangehörigen, Staatenlosen sowie uU auch der nascituri sowie der Verstorbenen152) unabhängig von Alter und Geschäftsfähigkeit Träger der unmittelbar einklagbaren Unionsgrundrechte.153 Die GRCh bringt dies durch Wendungen wie „jeder Mensch“ (Art 2 I GRCh) oder „niemand darf“ (Art 2 II GRCh) zum Ausdruck. Sofern nur Rechte bestimmter Personengruppen geschützt werden, wie zB Rechte des Kindes (Art 24 GRCh), Rechte älterer Menschen (Art 25 GRCh), Menschen mit Behinderung (Art 26 GRCh), wird damit nur der personelle Gewährleistungsgehalt der Grundrechte umschrieben, nicht die Grundrechtsträgerschaft als solche geregelt. Das

149 150 151 152 153

ABl EU 2007 C 303/17. Vgl auch Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 52 GRCh Rn 20. Vgl Jarass GR, § 4 Rn 21. Str, vgl zur EMRK-Diskussion → § 2 Rn 43. Vgl Rengeling/Szczekalla GR, Rn 344.

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Alter und die Geschäftsfähigkeit sind nur für die Frage bedeutsam, wer berechtigt ist, die Unionsgrundrechte geltend zu machen. Die beurteilt sich nach Maßgabe der allgemeinen Prozessrechtsbestimmungen. Teilweise wird der Kreis der Berechtigten eingeschränkt. So kommen die Unionsbürgerrechte (Art 39 ff GRCh) nur den Unionsbürgerinnen und -bürgern zugute. Dagegen schützen einzelne Rechte, die in Titel V der GRCh normiert worden sind – wie das Recht auf eine gute Verwaltung (Art 41 GRCh), auf Zugang zu Dokumenten (Art 42 GRCh), auf Anrufung des Europäischen Bürgerbeauftragten (Art 43 GRCh), auf Einreichung von Petitionen (Art 44 GRCh) und auf Freizügigkeit sowie auf Aufenthalt (Art 45 II GRCh) –, auch bestimmte Drittstaatsangehörige oder gar alle Personen. Zumeist werden die Drittstaatsangehörigen gleichgestellt, die einen (rechtmäßigen154) Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der EU haben. Personelle Anknüpfungspunkte können sich auch aus der Bezugnahme auf das Unionsrecht und/oder die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ergeben. So wird die unternehmerische Freiheit (Art 16 GRCh) nicht jedermann zugestanden. Gewährt die EMRK keinen Grundrechtsschutz (wie dies für die Berufsfreiheit zutrifft) und berechtigen die Mehrzahl der mitgliedstaatlichen Verfassungen nur die eigenen Bürger155 schließt dies einen weitergehenden Schutz auch in personeller Hinsicht noch nicht aus (vgl auch Art 52 III 2 GRCh). Dementsprechend gesteht Art 15 GRCh die Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten neben den Unionsbürgerinnen und -bürgern in differenzierender Ausgestaltung auch den Staatsangehörigen dritter Länder und damit allen Personen zu.

2. Juristische Personen und Personenmehrheiten 56

Ähnlich wie im Falle einer Anwendbarkeit der EMRK (→ § 2 Rn 44) oder des deutschen Rechts (Art 19 III GG) ist eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen (und nicht rechtsfähiger oder teilrechtsfähiger) Personenmehrheiten (respektive Organisationen wie zB Stiftungen) im Unionsrecht zu bejahen, wenn die Grundrechte ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind.156 Der EuGH hat schon vor Inkrafttreten der GRCh in vielen Entscheidungen eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen anerkannt.157 Diese ist für private Organisationen und Personengruppen anzunehmen, sofern es sich nicht um höchstpersönliche Verbürgungen (etwa die Garantie der Menschenwürde, das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und auf Eingehung einer Ehe oder das Verbot der Folter) handelt. Die GRCh erwähnt die juristischen Personen nur gelegentlich (Art 42, 43, 44 GRCh), wobei auf den satzungsmäßigen Sitz158 in einem Mitgliedstaat abgestellt wird. Hieraus kann indessen gerade nicht gefolgert werden, dass den juristischen Personen in anderen Fällen die Grundrechtsberechtigung abzusprechen ist.159 Ein Anhaltspunkt für

154 Jarass GRCh, Art 51 Rn 55. 155 Zur Berufsfreiheit in Deutschland vgl BVerfGE 128, 226, Rn 49 – Fraport = JK 2011, GG Art 1 III/8. 156 In der Rspr des EuGH findet sich diese Formulierung nicht. Wie hier Rengeling/Szczekalla GR, Rn 390; Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 20. 157 Vgl etwa EuGH, Slg 1970, 1125, Rn 4 ff – Internationale Handelsgesellschaft; Slg 1980, 2033, Rn 17 ff – National Panasonic; Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder. 158 In Anlehnung an Art 54 I AEUV ist eine Gleichstellung anzunehmen, wenn die juristische Person ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union hat. 159 Ebenso Kober Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 2009, S 146; aA Knecht Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2005, S 213.

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die Anwendbarkeit der Grundrechte ergibt sich aus der Unterscheidung von Menschen und Personen.160 Wird von einem Mensch als Träger der Grundrechte gesprochen, scheidet eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen oder Personenvereinigungen aus. Umgekehrt bedeutet die Anknüpfung an eine Person noch nicht zwangsläufig, dass auch juristische Personen und Personenmehrheiten einbezogen sind. So steht das jeder „Person“ zugestandene Recht auf Achtung des Familienlebens (Art 7 GRCh) naturgemäß nicht juristischen Personen zu. Nicht zu folgen ist der Ansicht des EuGH, wonach sich juristische Personen auf den Schutz personenbezogener Daten (Art 8 I GRCh) nur berufen können, soweit der Name der juristischen Person eine oder mehrere natürliche Personen bestimmt.161 Vor allem können sich juristische Personen (und gleichgestellte Vereinigungen bzw Organisationen) auf die Wirtschafts-162, Verfahrens- und Rechtsschutzgarantien berufen. Anders als im Falle des Art 54 II iVm Art 62 AEUV muss kein Erwerbszweck verfolgt werden, weil der Grundrechtsschutz nicht von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängt. Aus der Transfer- respektive Kohärenz- oder Konkurrenzklausel – des Art 52 III GRCh (Rn 89) folgt, dass in jedem Falle dann von Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen oder Personenmehrheiten auszugehen ist, wenn die EMRK eine solche anerkennt (→ § 2 Rn 44 f ). Grundsätzlich keinen Schutz genießen die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU (einschließlich der verselbständigten Rechtsträger) sowie die staatlichen Organisationen und Personengruppen163, selbst wenn sich die Stellen oder Rechtsträger privatrechtlicher Organisations- oder Handlungsformen bedienen (→ § 2 Rn 45). Sie werden durch die Unionsgrundrechte in die Pflicht genommen, nicht aber berechtigt. Dagegen können die Grundfreiheiten auch staatlichen Rechtsträgern zugute kommen, wie Art 54 II AEUV zeigt (→ § 7 Rn 46). In Betracht kommt aber die Berufung auf die Verfahrens- und Prozessgrundrechte.164 Handelt es sich um gemischt zusammengesetzte Organisationen, stellt das Unionsrecht auf die Beherrschungsverhältnisse ab.165 Das spricht für die Annahme, dass staatlich beherrschte Gesellschaften mit privater Beteiligung – anders als dies vor der Fraport-Entscheidung des BVerfG166 vielfach im deutschen Recht angenommen wurde167 – an die Grundrechte gebunden sind, nicht aber durch diese geschützt werden. Ungeklärt ist, ob staatliche Rechtssubjekte (wie die Universitäten oder Hochschulinstitute168) verein-

160 Vgl auch Jarass GR, § 4 Rn 30; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 51, 53. 161 EuGH, Slg 2010, I-11063, Rn 53 – Schecke (Fall 2); krit Kühling/Klar JURA 2011, 771, 774. 162 Vgl auch Streinz ER, Rn 756. 163 Ebenso Rengeling/Szczekalla GR, Rn 392; Winkler (Fn 130) S 106 ff; Frenz GR, Rn 298 ff. 164 Vgl auch EuGH, Slg 1992, I-565, Rn 40 ff – Niederlande/Kommission; Winkler (Fn 163) S 107; Nowak in: Heselhaus/ders, GR, § 6 Rn 23. 165 Vgl auch die verallgemeinerungsfähige Regelung des Art 2 RL 2006/111/EG (Transparenz-RL). 166 BVerfGE 128, 226 – Fraport = JK 2011, GG Art 1 III/8. Das BVerfG hat angenommen, dass die von der öffentlichen Hand beherrschten gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen (in der Form des Privatrechts) einer unmittelbaren Grundrechtsbindung unterliegen. Im Gegenschluss folgt daraus, dass eine Grundrechtsberechtigung ausscheidet. Vgl auch bereits BVerfG-K, NJW 1990, 1783. 167 Vgl Dreier (Fn 67) Art 1 III Rn 71; Höfling in: Sachs (Fn 118) Art 1 Rn 104; aA aber BVerfG-K, NJW 1990, 1783. Vgl zum Ganzen Ehlers in: Wurzel/Schraml/Becker (Hrsg) Rechtspraxis der kommunalen Unternehmen, 3. Aufl 2014, B Rn 70. 168 Zum Europäischen Hochschulinstitut in Florenz vgl Rengeling/Szczekalla GR, Rn 395.

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zelt dem unmittelbar durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich zugeordnet werden können. Die Frage ist zu bejahen.169 Auch in der Gesellschaft wurzelnde Verbände nach Art der öffentlich-rechtlich korporierten Religionsgemeinschaften170 oder der Rundfunkanstalten171 kann der Grundrechtschutz nicht vorenthalten werden, da sie nicht oder nicht primär dem staatlichen Bereich zuzuordnen sind.

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Lösung Fall 5: Nach Art 4 der hier einschlägigen, Art 34 AEUV verdrängenden RL 98/37 dürfen Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen und die Inbetriebnahme von Maschinen, die den Bestimmungen dieser RL entsprechen, nicht verbieten, beschränken oder behindern. Eine Behinderung des Warenverkehrs setzt voraus, dass die Äußerungen von L dem finnischen Staat zuzurechnen sind. Um Äußerungen eines Beamten dem Staat zurechnen zu können, kommt es entscheidend darauf an, ob die Empfänger der Äußerung den Umständen nach annehmen dürfen, dass der Beamte die Äußerungen mit Amtsautorität macht oder ob es sich um eine private Meinung des Beamten handelt. Dies bestimmt sich nach den Umständen des Streitfalls. Nimmt man Ersteres an, können sich weder der finnische Staat noch L auf die auch im Unionsrecht garantierte Meinungsfreiheit (Art 11 GRCh) berufen, weil diese die Freiheit von Privaten, nicht die des Staates oder die der Repräsentanten des Staates schützt (Rn 57).

VI. Verpflichtete der Unionsgrundrechte 1. Europäische Union 59

Da die Hauptfunktion der Unionsgrundrechte die Begrenzung der Unionsgewalt ist, sind deren Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen, auch wenn sie rechtlich verselbständigt wurden, Verpflichtungsadressaten der Unionsgrundrechte (Art 51 I 1 GRCh). Der Begriff „Organe“ ist in den Verträgen festgelegt (Art 13 I UA 2 EUV).172 Der Ausdruck „Einrichtungen und sonstige Stellen“ wird in den Verträgen üblicherweise als Bezeichnung für alle durch die Verträge oder sekundären Rechtsakte geschaffenen Einrichtungen verwendet (so zB in Art 15 I, 16 II AEUV).173 Darunter fallen die Ämter der EU, die vertraglich verankerten Einrichtungen (wie die EZB174, die zahlreichen Agenturen der EU und die Ausschüsse)175. Die Bindung betrifft sämtliches Handeln der EU und ihrer Untergliederungen unabhängig vom Rechtscharakter der Handlung, so dass ein lückenloser Grundrechtsschutz gewährleistet wird.176 Erfasst werden auch das privatrechtliche177 und das völker-

169 Nowak in: Heselhaus/ders, GR, § 6 Rn 24; Frenz GR Rn 299. AA Fink EuGRZ 2001, 193, 199 f, unter Hinweis auf die Entscheidung des EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 17 – Hoechst = JK 93, EMRK Art 8/1, die aber nicht verallgemeinert werden darf. 170 Vgl Ehlers in: Sachs (Fn 118) Art 140 GG/Art 137 WRV Rn 25. 171 Vgl Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657, 687. Zum Grundrechtsschutz in den Mitgliedstaaten vgl Holznagel Rundfunkrecht in Europa, 1996, 132 ff. 172 Vgl auch Art 223 ff AEUV. 173 Erläuterungen zu Art 51 GRCh. 174 Art 127 ff AEUV. 175 Näher zum Organisationsrecht der EU auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts Ehlers in: Erichsen/ders (Fn 21) § 5 Rn 34 ff. 176 Vgl Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 51 Rn 21; Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 51 GRCh Rn 12. 177 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 5.

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rechtliche Handeln (Rn 34).178 Es gibt somit keine grundrechtsfreien Bereiche in der Union.179 Tatsächlich wurde das Sekundär- und Tertiärrecht (Rn 27) der EU bisher aber eher selten vom EuGH oder EuG an den Unionsgrundrechten gemessen (vgl aber auch Rn 4, 32). Doch zeichnet sich ein Wandel ab (Rn 115). Selbst wenn die Unionsverträge ausdrücklich nur eine grundrechtliche Bindung der Mitgliedstaaten vorsehen (Rn 60), kann für die Union nichts anderes gelten, weil es widersprüchlich wäre, wenn die Union den Mitgliedstaaten derartige Pflichten auferlegen dürfte, an die sie selbst nicht zu halten bräuchte. Dementsprechend darf auch die Wahrung der Grundrechte durch die Mitgliedstaaten nicht behindert werden.180 Zuständigkeiten der EU ergeben sich aus der Bindung an die Unionsgrundrechte nicht (Art 6 I UA 2 EUV, 51 I 2, II GRCh). Dies gilt auch für die in der Charta normierten Grundsätze (Rn 18). Für die als allgemeine Rechtsgrundsätze entwickelten Unionsgrundrechte (Art 6 III EUV) trifft nichts anderes zu. Trotz fehlender Verweisung auf Art 6 EUV und die GRCh (Art 108a I EAGV) dürfte auch die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) an die Unionsgrundrechte gebunden sein, weil das Handeln von den Unionsorganen ausgeht.

2. Mitgliedstaaten der Europäischen Union a) Besondere Unionsgrundrechte Soweit EUV und AEUV grundrechtliche Gewährleistungen enthalten, richtet sich die Bindung der Mitgliedstaaten an diese Grundrechte nach den jeweiligen Regelungen (vgl Art 52 II GRCh). So nehmen sowohl die Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 52) als auch die Unionsbürgerrechte (Art 20 II AEUV) und der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (Art 157 AEUV181) – nur oder auch – die Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten in Anspruch. Das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV gilt im Anwendungsbereich182 der Verträge mit verpflichtender Wirkung für die Mitgliedstaaten (→ § 7 Rn 15). Unter Mitgliedstaaten sind stets (auch im Hinblick auf die Charta-Rechte und die Grundsätze iSd Art 6 III EUV) alle staatlichen Rechtsträger und Stellen unabhängig von der Zuordnung zur Staatsgewalt (Legislative, Exekutive oder Judikative) und der Rechtsform des Auftretens zu verstehen, einschließlich der Vereinigungen mit privater Beteiligung, die von den Staaten beherrscht werden.183

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b) Charta-Grundrechte aa) Recht der Union Nach Art 51 I 1 bindet die GRCh die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der EU. Zum Unionsrecht ist das gesamte Primärrecht sowie das Sekundärrecht (VOen, Richtlinien und Beschlüsse184) und Tertiärrecht (Rn 27) der Union zu zählen. Dazu gehören auch die Rechtsakte der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli-

178 179 180 181 182 183 184

Vgl auch EuGH, Slg 1998, I-973 Rn 62 ff – Deutschland/Rat. Jarass GRCh, Art 51 Rn 6. Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 3 Rn 15; Jarass GRCh, Art 51 Rn 10. Zur Einklagbarkeit vgl → § 7 Rn 17. Vgl zum Begriff des Anwendungsbereichs Rn 65 ff. Insoweit gilt nichts anderes als für die Grundrechtsberechtigung (Rn 57). Art 288 II–IV AEUV.

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tik185, des Abschlusses von Abkommen mit Drittländern oder internationalen Organisationen (Rn 34), nicht aber die Regelungen zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), weil die EU insoweit keine Zuständigkeit besitzt und die Mitgliedstaaten daher nicht das Recht der Union durchführen186. Kommt es auf das Sekundär- oder Tertiärrecht der EU an, setzt dies voraus, dass hiervon Gebrauch gemacht wurde. Nicht ausreichend ist, dass ein Sachverhalt unionsrechtlich geregelt werden könnte.187 Erforderlich ist die Gültigkeit sowie die Anwendbarkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten. Für das Handeln der EU gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 I EUV). Über die Gültigkeit des Unionsrechts entscheidet ausschließlich die Unionsgerichtsbarkeit (Rn 120 ff). Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG kommt nach der Rspr des Gerichts nur in Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten führt.188 Vor Annahme eines Ultra-vires-Akts ist dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267 AEUV die Gelegenheit zur Entscheidung über die Gültigkeit (und Auslegung) der fraglichen Handlung zu geben.189 bb) Durchführung des Unionsrechts

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Fall 6: (EuGH NJW 2013, 1415 – Åkerberg Fransson (GK) = JK 8/13, GRCh Art 51/1) Der schwedische Staatsbürger F wurde wegen Hinterziehung der Mehrwertsteuer mit bestandskräftigem Bescheid zur Zahlung von Steuerzuschlägen verpflichtet. Später ist er vor einem schwedischen Gericht wegen Steuerhinterziehung angeklagt worden. Das Gericht hält die Anklage für unzulässig, weil er in dem zuvor genannten Verfahren bereits wegen derselben Tat „bestraft“ wurde und das Strafverfahren somit gegen das Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem) aus Art 4 ZP Nr 7 zur EMRK und Art 50 GRCh verstößt. Da in Schweden eine Gerichtspraxis existiert, wonach die schwedischen Gerichte Vorschriften, die gegen ein durch die EMRK oder die GRCh garantiertes Grundrecht verstoßen, nur angewendet lassen dürfen, wenn sich dieser Verstoß klar aus den betreffenden Rechtsvorschriften oder der entsprechenden Rspr ergibt, hat das Gericht das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen nach Art 267 AEUV angerufen.

Fall 7: (BVerfG, NJW 2013, 1499) Bf B hat beim BVerfG eine zulässige VB gegen das deutsche Antiterrordateigesetz (BGBl I 2006, 3409) eingelegt, das eine Verbunddatei verschiedener Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus eingeführt hat. Muss das BVerfG den EuGH ím Wege eines Vorabentscheidungsersuchens (Art 267 AEUV) anrufen, weil Anknüpfungspunkte zum Grundrecht auf Schutz personenenbezogener Daten gem Art 16 AEUV, 8 GRCh bestehen?

185 Vgl Ladenburger in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 51 Rn 33. 186 EuGH, NJW 2013, 29, Rn 105, 180 – Pringle = JK 4/13 AEUV Art 136/1. 187 EuGH, Slg 1997, I-2629, Rn 16 – Kremzow; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 87; Winkler (Fn 130) S 127 f. 188 BVerfG 126, 286, 304 = JK 12/10, GG Art 12/16. 189 Vgl dazu auch BVerfG EuZW 2014, 192 ff.

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Die Bindung der Mitgliedstaaten setzt ferner die „Durchführung des Rechts der Union“ voraus. Vor Inkrafttreten der GRCh hat der EuGH eine Bindung an die Unionsgrundrechte zumeist angenommen, wenn eine Regelung in den „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ (heute Unionsrechts) fällt.190 Teilweise hat er auch von „Durchführung“ des Unionsrechts gesprochen191, ohne daraus andere Rechtsfolgen abzuleiten. Dementsprechend sind insbesondere die Beschränkungen der Grundfreiheiten an den Unionsgrundrechten gemessen worden (→ § 7 Rn 14, 123), obwohl die Mitgliedstaaten insoweit nicht im Auftrag der EU, sondern zum Schutz eigener Interessen tätig werden. In der Literatur ist das Tatbestandsmerkmal der „Durchführung“ unter Berufung auf die Beratung im Grundrechtekonvent teilweise als bewusste Beschränkung einer Bindung an die Unionsgrundrechte im Vergleich zur früheren Rspr des EuGH interpretiert worden.192 Gedacht sei nur daran, dass die Mitgliedstaaten Unionsrecht umsetzen oder vollziehen. Insoweit handelten sie gewissermaßen als Agenten193 oder Treuhänder194 der Union. Dagegen seien beispielsweise Beschränkungen der Grundfreiheiten nicht als Durchführung des Unionsrechts anzusehen.195 Mache ein Mitgliedstaat berechtigter Weise von den Ausnahmeklauseln der Grundfreiheiten Gebrauch, sei er aus dem Anwendungsbereich des Unionsrechts entlassen. Für ein restriktives Verständnis der Bindung an die Unionsgrundrechte spreche auch, dass die Mitgliedstaaten „ausschließlich“ bei der Durchführung des Unionsrechts gebunden seien.196 Das BVerfG hat es ebenfalls für notwendig erachtet, dass die Mitgliedstaaten durch das Unionsrecht determiniert werden.197 Für eine Bindung an die Unionsgrundrechte reiche nicht „jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses“ aus (Fall 7). Der restriktiven Auslegung der mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung (im Vergleich zu früheren Rspr des EuGH) ist nicht zu folgen.198 Zunächst nötigt die Verwendung des Terminus „Durchführung“ nicht zu einer solchen Auslegung, zumal die anderen Sprachfassungen (implementing Union law/mettent en œuvre le droit de l’Union) eher weiter reichen, der EuGH bei seiner Rechtsprechung zu den Grundrechten die Bezeichnungen

190 Vgl EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf; Slg 1985, 2605, Rn 26 – Cinéthèque; Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT; Slg 1997, I-2629, Rn 15 – Kremzow; Slg 2003, I-3735, Rn 70 – Steffensen. 191 EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf; Slg 2000, I-2737, Rn 37 – Karlsson; Slg 2006, I-5769, Rn 105 – Parlament/Rat; Slg 2007, I-8361, Rn 78 – Möllendorf. 192 Huber, NJW 2011, 2385, 2387; Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 51 Rn 24a; Cremer EuGRZ 2011, 545, 551 f. 193 Zur Agency-Situation, – oftmals in Anknüpfung an EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf; vgl Ladenburger in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 51 Rn 26; Ruffert EuGRZ 1995, 518, 527 f; Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657, 680 ff. 194 Huber NJW 2011, 2385, 2386. 195 Vgl Cremer NVwZ 2003, 1452 ff; EuGRZ 2011, 545, 551 f; Kingreen EuGRZ 2004, 570, 576; ders in: Calliess/Ruffert EUV/AEUV Art 51 GRCh Rn 16 f; Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 51 GRCh, Rn 29. 196 Huber NJW 2011, 2385, 2387. 197 Vgl zum Kriterium der Determinination BVerfGE 121, 1, 15; 125, 260, 307; 129, 78, 90 f, BVerfG NJW 2013, 1499, 1500 (Fall 7). Nachdrücklich zustimmend unter Verweis auf eine sonst drohende Verfassungswidrigkeit Scholz DVBl 2014, 197, 202. 198 So auch der EuGH (Fall 6) u die hL (vgl statt vieler Jarass GRCh, Art 51 Rn 16 ff mwN). Craig/de Búrca EU, S 388 f.

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Durchführung und Anwendung eher als Synonyma verwendet hat (Rn 65) und der auch ansonsten im Unionsrecht verwendete Begriff der Durchführung199 nicht eindeutig iSe Einengung (etwa als Werkzeug der EU) festgelegt ist. Die Entstehungsgeschichte der Norm erlaubt keine klaren Rückschlüsse.200 Die gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents zur Charta (Art 6 I UA III EUV, 52 VII GRCh) verweisen auf die herkömmliche Rspr des EuGH und sprechen sowohl von „Anwendungsbereich“ als auch von „Durchführung“ des Unionsrechts, ohne zwischen diesen Formen zu differenzieren. Nach Satz 4 der Präambel der GRCh soll der Schutz der Grundrechte gestärkt (nicht aber geschwächt) werden. Zudem würde sich eine „Korrektur“201 der mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung kaum auswirken, weil sich die Gültigkeit des (sekundären und tertiären) Unionsrechts sowie die Auslegung des Unionsrechts stets (auch) nach den Unionsgrundrechten bestimmt, es im Falle einer Pflicht der Mitgliedstaaten zur Berücksichtigung des vorrangig geltenden Unionsrechts also bei einer mittelbaren Bindung der Mitgliedstaaten bleiben würde202 und sich unmittelbare oder mittelbare Bindungen nicht wesentlich unterscheiden.203 Schließlich ist nicht ersichtlich, welchen Sinn es haben sollte, den Anwendungsbereich der GRCh einzuschränken und damit die Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV mit ihrem gerade nicht restriktiven Anwendungsbereich wieder stärker aufleben zu lassen. In Übereinstimmung mit den Erläuterungen zur GRCh hat daher der EuGH in seiner grundlegenden Åkerberg-Fransson-Entscheidung festgestellt, dass die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zur Einhaltung der GRCh gem Art 51 I gilt, „wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“ (Fall 6). Das Unionsrecht wird somit durchgeführt iSd Art 51 I 1 GRCh, wenn es angewendet wird respektive angewendet werden muss. Lösung Fall 6: Gem Art 267 I lit a) AEUV entscheidet der EuGH über die Auslegung der Verträge und damit über die gem Art 6 I EUV in das Vertragsrecht inkorporierte GRCh. Die Charta müsste aber im Ausgangsstreit anwendbar sein. Das setzt eine Durchführung des Rechts der Union voraus (Art 51 I 1 GRCh). Zur Abgrenzung dieses Anwendungsbereichs greift der EuGH auf seine stRspr zu den nicht geschriebenen Unionsgrundrechten zurück und wendet diese auf die GRCh an. Aus ihr ergibt sich im Wesentlichen, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen (aber nicht außerhalb derselben) Anwendung finden. Sobald eine nationale Vorschrift in den „Geltungsbereich“ des Unionsrechts fällt, hat der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene EuGH somit dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Unionsgrundrech-

199 Näher dazu Ohler NVwZ 2013, 1433, 1434 (insbes mHinw auf Art 291 I AEUV). 200 Näher zur Diskussion im Grundrechtekonvent Borowsky in: Meyer ChGr Art 51 Rn 2 ff, 24a; v Danwitz in: Grabenwarter (Fn 27) § 6 Rn. 29 ff. Für eine Einschränkung des bisherigen acquis zB die Konventmitglieder Braeband (Frankreich), Goldsmith (VK) und Gnauck (Deutschland), anders aber zB Einem u Holoubek (Österreich). 201 Huber NJW 2011, 2385, 2387. 202 Näher zum Gebot unionsrechtskonformer Auslegung auch für die Mitgliedstaaten Ehlers in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, ER, § 11 Rn 34 ff. 203 Zur Differenzierung zwischen mittelbarer und unmittelbarer Grundrechtsbindung vgl auch Cirkel, Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2000, S 237 f; Vorauflage § 14 Rn 49.

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ten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert. „Da die durch die GRCh garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die GRCh garantierten Grundrechte“. Diese Definition des Anwendungsbereichs werde durch die bei der Auslegung zu beachtenden Erläuterungen zu Art 51 der Charta bestätigt. Erforderlich sei somit, dass der streitgegenständliche Sachverhalt als Durchführung des Unionsrechts eingeordnet werden kann. Die im Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sanktionen stehen im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung von Mitteilungspflichten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer. Nach der RL 2006/112 (Art 2, 250 I, 273) sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldete Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen. Das ergibt sich auch zu Art 4 III EUV. Schließlich verpflichtet Art 325 AEUV die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von rechtswidrigen Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten. Da die Eigenmittel der EU ua die Einnahmen umfassen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die nach den Unionsvorschriften bestimmte einheitliche Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage ergeben, erkennt der EuGH einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen und der zur Verfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union. Folglich seien steuerliche Sanktionen und ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung wegen unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer als Durchführung des Unionsrechts iSv Art 51 I GRCh anzusehen. Dass die nationalen Bestimmungen, die den steuerlichen Sanktionen und dem Strafverfahren zugrunde liegen, nicht zur Umsetzung der RL 2006/112 erlassen wurden (und die Union auf dieser Grundlage nicht dafür zuständig war, den Mitgliedstaaten strafrechtliche Vorgaben zur Sanktionierung von Steuerhinterziehung zu machen), ist für den EuGH unerheblich.In Beantwortung der Vorlagefrage führt der EuGH aus, dass Art 50 GRCh die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, strafrechtliche und nichtstrafrechtliche Sanktionen zur Ahndung derselben Tat zu kombinieren. Die Beurteilung, ob eine steuerliche Sanktion strafrechtlichen Charakter habe, obliege dem nationalen Gericht. Die ständige schwedische Gerichtspraxis, wonach die Verpflichtung der Gerichte zur Nichtanwendung von die GRCh verletzenden Vorschriften davon abhängig ist, dass sich dieser Verstoß klar aus den Best der GRCh oder aus der entspr Rspr ergibt, hält der EuGH für nicht vereinbar mit der Verpflichtung der nationalen Gerichte im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden und für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen.

Lösung Fall 7: Das BVerfG sieht keinen Anlass für ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH. Die angegriffenen Normen des Antiterrordateigesetzes seien schon deshalb (nur) an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen, weil sie nicht durch Unionsrecht determiniert würden. Demzufolge liege auch kein Fall der Durchführung des Rechts der EU gem Art 51 I 1 GRCh vor. Zwar beträfen die angegriffenen Vorschriften die Ermöglichung eines Datenaustauschs zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus Fragen, die zT auch Regelungsbereiche des Unionsrechts berühren. So kennt das Unionsrecht diverse Kompetenzund Rechtsgrundlagen im Zusammenhang mit der Terrorismusabwehr. Ebenso bestünden Anknüpfungspunkte zum Unionsrecht in Bezug auf die Pflichten zum Erlass von restriktiven Maßnahmen. Dies alles ändere nichts daran, dass die Einrichtungen und Ausge-

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staltungen der Antiterrordatei nicht durch das Unionsrecht determiniert werde. Aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Åkerberg Fransson (Fall 6) ergebe sich nichts anderes (Rn 71). ISe kooperativen Miteinanders zwischen BVerfG und EuGH dürfe dieser Entscheidung keine Lesart unterlegt werden, nach der diese offensichtlich als Ultra-viresAkt zu beurteilen wäre oder Schutz und Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer Weise gefährden würde (Art 23 I 1 GG), dass dies die Identität der durch das GG errichteten Verfassungsordnung in Frage stellen würde. Insofern dürfe die Entscheidung nicht in einer Weise verstanden und angewendet werden, nach der für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die GRCh niedergelegten Grundrechte und der Europäischen Union jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächlichen Auswirkungen auf diese ausreiche. Vielmehr führe der EuGH auch in dieser Entscheidung ausdrücklich aus, dass die Europäischen Grundrechte der Charta nur in „unionsrechtliche geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden“. Der Entscheidung des BVerfG ist nicht zu folgen. Wenn es auch um die Einwirkung des Unionsrechts geht (wie das BVerfG annimmt), hätte das BVerfG dem EuGH Gelegenheit geben müssen, dessen Auslegung zu erläutern, um die Reichweite zu bestimmen.

cc) Durchführungsbereich (Anwendungsbereich) des Unionsrechts 71

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Fall 8: (EuGH, Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 98, EGV, Art 30/1) Der in Deutschland ansässige Bauer-Verlag gibt eine auch in Österreich vertriebene Zeitschrift heraus, in der Kreuzworträtsel enthalten sind. Die Leser, welche die richtige Lösung einsenden, können an einer Verlosung teilnehmen und Geldpreise gewinnen. Anders als nach deutschem, ist nach österreichischem Wettbewerbsrecht eine solche Praxis verboten, um die Konkurrenzfähigkeit kleinerer Verlage gegenüber den Marktführern sicher zu stellen und die Medienvielfalt aufrecht zu erhalten. Ein kleiner österreichischer Verlag hat gestützt auf die österreichischen Wettbewerbsvorschriften gegen den Bauer-Verlag Klage erhoben, den Verkauf von Zeitschriften, die den Lesern die Möglichkeit der Teilnahme an Gewinnspielen einräumen, zu unterlassen. Das mit der Sache befasste österreichische Gericht hat dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob Art 28 EGV (heute 34 AEUV) dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats A entgegensteht, die es einem im Mitgliedstaat B ansässigen Unternehmen untersagen, eine dort hergestellte periodisch erscheinende Zeitschrift auch im Mitgliedstaat A zu vertreiben, wenn darin Preisrätsel enthalten sind, die im Mitgliedstaat B rechtmäßig veranstaltet werden. Fall 9: (EuGH (GK), NJW 2013, 1215 – Melloni) Gegen den in Italien in Abwesenheit wegen betrügerischen Konkurses strafrechtlich verurteilten spanischen Staatsangehörigen M haben die italienischen Behörden einen Europäischen Haftbefehl erlassen (Art 4a I des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten). Der sich in Spanien aufhaltende M hat das spanische Verfassungsgericht gegen seine Überstellung nach Italien angerufen. Dieses hat sich gem Art 267 AEUV an den EuGH gewandt, weil es wissen möchte, ob Art 53 GRCh dahin auszulegen ist, dass er dem vollstreckenden Mitgliedstaat gestattet, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilen Person von der Bedingung abhängig zu machen, dass die Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat einer Überprüfung unterworfen werden kann, um zu vermeiden, dass das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigerrechte, wie sie in seiner Verfassung garantiert sind, verletzt werden.

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Durchgeführt (iSv angewandt) wird das Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten, wenn ein Sachverhalt dem Unionsrecht unterfällt, das Recht nicht nur die Union selbst bindet und das Handeln der Mitgliedstaaten inhaltlich anleitet.204 Zu prüfen ist (ua) ob mit der nationalen Regelung „eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann“.205 Eine Durchführung liegt stets vor, wenn es um die Umsetzung oder den Vollzug zwingenden Unionsrechts durch die mitgliedstaatliche Legislative, Exekutive oder Judikative geht. Auch sofern Richtlinien und Beschlüsse nicht unmittelbar anwendbar sind, weil sie in nationales Recht umgesetzt wurden oder noch umzusetzen sind206, müssen sich die Rechtsakte der Mitgliedstaaten im Rahmen des Unionsrechts und damit zugleich der Unionsgrundrechte halten. Lässt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten keinen selbständig auszufüllenden Gestaltungsspielraum, sind die Unionsgrundrechte in den Grenzen der Solange-Rspr des BVerfG (Rn 38 f) alleiniger grundrechtlicher Prüfungsmaßstab. Das BVerfG spricht in solchen Fällen von einer Determination der Mitgliedstaaten.207 Soweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume eröffnet, wird von einem nichtdeterminierten Bereich ausgegangen. Insoweit wird das Verhalten der Mitgliedstaaten an den nationalen Grundrechten gemessen. Hieraus scheint das BVerfG den Schluss ziehen zu wollen, dass dann auch kein Fall der Durchführung des Unionsrechts iSd Art 51 I 1 GRCh vorliegt (vgl Fall 7). Dies würde bedeuten, dass sich unionaler und mitgliedstaatlicher Grundrechtsschutz nicht überschneiden (Trennungsthese208) und entweder nur die Unionsgrundrechte oder nur die mitgliedstaatlichen Grundrechte als Prüfungsmaßstab zum Zuge kommen. Eine solche Grenzziehung widerspräche indessen dem Unionsrecht. Auch wenn das Unionsrecht Gestaltungsspielräume eröffnet, sind diese nach stRspr des EuGH unionsrechtskonform auszufüllen.209 Zutreffend hat der EuGH in seiner grundlegenden Åkerberg-Fransson-Entscheidung (Fall 6) ausgeführt, dass es in Fällen einer nicht vollständigen Bestimmung durch das Unionsrecht zwar den Mitgliedstaaten freisteht, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, dies aber nur dann gilt, wenn „durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des

204 Ohler NVwZ 2013, 1433, 1444. 205 EuGH, C-206/13, Urt v 6.3.2014, Rn 25 – Siragusa. 206 Bei verspäteter Umsetzung einer RL sind die mitgliedstaatlichen Gerichte und Behörden verpflichtet, das innerstaatliche Recht jedenfalls ab dem Ablauf der Umsetzungspflicht so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und des Zwecks der betreffenden RL auszulegen. Falls das Vereitlungsverbot dies gebietet, sind die Mitgliedstaaten auch bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist zur richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet. Vgl EuGH, Slg 2005, I-9981, Rn 66 ff – Mangold; Ehlers in: Erichsen/ders (Fn 21) § 2 Rn 108, § 5 Rn 15 mwN. 207 Vgl Rn 66. 208 Thym NVwZ 2013, 889, 892; vgl auch Kingreen JZ 2013, 801, 802 (Alternativitätsthese). 209 Vgl etwa EuGH, Slg 2006, I-5769, Rn 104 f – Parlament/Rat. Ebenso Kühling in: v Bogdandy/ Bast Europ VfR, S 657, 682 f; Jarass GRCh, Art 51 Rn 23, 53 Rn 10 ff. AA Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art 51 GRCh Rn 10, 12.

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Unionsrechts beeinträchtig werden“.210 Besteht ein Spielraum, kommt es somit zu einer doppelten Grundrechtsbindung.211 Die Unionsgrundrechte legen den zu beachtenden Mindeststandard fest, soweit eine Regelung unionsrechtlich veranlasst ist. Im Übrigen bestimmt sich die Vereinbarkeit des mitgliedstaatlichen Rechtsaktes vorbehaltlich der Anerkennung des Vorrangs und der Wirksamkeit des Unionsrechts nach den nationalen Grundrechten. Ist das Unionsrecht abschließend, ist für einen weitergehenden nationalen Grundrechtschutz keinen Raum (Fall 9). Eine Bindung an die Unionsgrundrechte ist in Übereinstimmung mit der Rspr des EuGH (→ § 7 Rn 14, 123) auch im Hinblick auf die Einschränkung der Grundfreiheiten zu bejahen. Soweit die Unionsgrundrechte den Grundfreiheiten zuwiderlaufen, geht es um die Bestimmung und deren Reichweite (Anwendung). Im Falle einer Beschränkung der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten, machen diese zwar von ihrem primärrechtlich anerkannten Entscheidungsspielraum Gebrauch.212 Die Bindung der Mitgliedstaaten lässt sich aber damit begründen, dass der Schutzbereich der Grundfreiheiten eröffnet ist und es um das vom Unionsrecht zugelassene Ausmaß der Beschränkung geht.213 Hierüber entscheiden letztverbindlich die Unionsgerichte (und nicht die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten), unabhängig davon, ob von den geschriebenen Schranken der Grundfreiheiten Gebrauch gemacht wurde oder sich die Mitgliedstaaten auf die zwingenden Allgemeininteressen berufen haben.214 Demgemäß sind die mitgliedstaatlichen Beschränkungen der Grundfreiheiten – zugleich zum Zwecke einheitlicher Anwendung – auch im Lichte der Unionsgrundrechte auszulegen. Kommen die Grundfreiheiten nicht zum Zuge (weil beispielsweise die Mitgliedstaaten bloße Verkaufsmodalitäten geregelt haben) stellt sich die Frage einer Heranziehung der Unionsgrundrechte für die Begrenzung der Grundfreiheiten nicht.215 Lösung Fall 8: Gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens gem Art 267 I lit a AEUV bestehen keine Bedenken. Der grenzüberschreitende Vertrieb der Zeitschrift durch den BauerVerlag wird durch Art 34 AEUV geschützt. Bei den unterschiedslos geltenden österreichischen Wettbewerbsvorschriften, die den Verkauf der Zeitschrift untersagen, handelt es sich um produktbezogene Regelungen und nicht um Anforderungen an Verkaufsmodalitäten iSd

210 EuGH, NJW 2013, 1415 Rn 29 – Åkerberg Fransson (Fall 6), sowie Fall 9. Vgl auch das im Zeitpunkt der Drucklegung noch nicht entschiedene Urteil in der Rs C 316/13 – Fenoll zum Vorrang von Art 31 GRCh. 211 Vgl bereits Vorauflage § 14 Rn 51. Für eine umgekehrte Solange-Doktrin plädieren dagegen v Bogdandy/Kottmann/Antpöhler/Dickschen/Hentrei/Smrkolj ZaöRV 72 (2012), 45 ff. Dass der doppelte Schutz durch die Unionsgrundrechte und nationalen Grundrechte zu einer Halbierung der Allgemeininteressen und kollidierenden Grundrechte führen kann, befürchtet Kingreen JURA 2014, 295, 302. Vergleiche demgegenüber aber auch Lange, NVwZ 2014, 169. 212 Darauf abstellend Cremer EuGRZ 2011, 545 (551). 213 Vgl auch Cirkel (Fn 203) S 141 ff; Wallrab Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte 2002, S 90 ff; Schaller Die EU-Mitgliedstaaten des Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2003, S 50 f. 214 Zum letzteren Gesichtspunkt vgl Jarass, GRCh Art 51 Rn 21. 215 Insoweit offenbar aA EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 43, 48 ff – Herbert Karner; wie hier Ladenburger in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 51 Rn 37; Jarass GRCh, Art 51 Rn 21.

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Keck-Rspr.216 Die Regelungen stellen daher Maßnahmen gleicher Wirkung gem Art 34 AEUV dar und beschränken die Warenverkehrsfreiheit. Unterschiedslos geltende nationale Regelungen, welche die Grundfreiheiten beschränken, können durch zwingende Erfordernisse gerechtfertigt werden. Hierzu rechnet der EuGH die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt. Andererseits müssen sich Beschränkungen der Grundfreiheiten ihrerseits „im Lichte der allgem Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte“ beurteilen lassen. Die Mitgliedstaaten sind nach Auffassung des EuGH folglich bei der Beschränkung der Grundfreiheiten an die Unionsgrundrechte gebunden. Daher müsse der vorliegend durch das Verbot des Zeitschriftenvertriebs gleichzeitig bewirkte Eingriff in das in Art 11 GRCh (Art 10 EMRK) geschützte und von Unions wegen anerkannte Grundrecht der freien Meinungsäußerung des Bauer-Verlages ebenfalls gerechtfertigt werden können. Dies im Einzelnen zu entscheiden, sei Sache des nationalen Gerichts. Jedenfalls stelle ein umfassendes Vertriebsverbot einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit dar, weil es zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt mildere, gleich effektive Mittel gebe, wie etwa den Hinweis darauf, dass die Gewinnchance Lesern der Zeitschrift in Österreich nicht offen stehe. Bei Zugrundelegung dieser Ansicht verstößt ein umfassendes Vertriebsverbot sowohl gegen die Freiheit des Warenverkehrs als auch gegen das Unionsgrundrecht der Meinungsfreiheit.

Inhaltlich durch das Unionsrecht angeleitet wird das Handeln der Mitgliedstaaten auch in allen sonstigen Fällen, in denen die Mitgliedstaaten das Unionsrecht zu beachten haben. Dies kann angesichts der Ausstrahlungswirkung des Unionsrechts und der zahlreichen Politikbereiche, in denen die EU tätig wird, in einem sehr weiten Ausmaße der Fall sein. Deshalb drängt sich die alte Erkenntnis auf, dass derjenige, der Grundrechte auf verschiedenen Ebenen sät, Zentralisierung und Unitarisierung ernten wird.217 Hinzu kommt, dass selbst dann, wenn die mitgliedstaatlichen Grundrechte zur Anwendung gelangen, der Vorrang und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werden darf (Rn 73). So gestattet Art 53 GRCh den Mitgliedstaaten nicht, die Anwendung von mit der GRCh in Einklang stehenden Unionsrechtsakten aus Gründen des nationalen Grundrechtsschutzes zu verhindern (Fall 9). Ferner darf in mehrpoligen Rechtsverhältnissen eine über den Unionsstandard eines Grundrechtsträgers hinausreichende mitgliedstaatliche Begünstigung nicht zu Lasten eines anderen Grundrechtsträgers gehen, wenn dadurch dessen durch die GRCh verbürgter Schutz unterschritten wird.218 Prozessual werden nicht nur immer häufiger die Fachgerichte, sondern auch das BVerfG219 genötigt sein, eine Vorabentscheidung des EuGH nach Art 267 AEUV einzuholen, um die Vereinbarkeit mit der GRCh klären zu lassen. Nicht ganz zu Unrecht ist von der Gefahr einer Entthronung der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Unionsgerichtsbarkeit und einem Bedeutungsverlust der Grundrechte des Grundgesetzes (und anderer Staaten) gesprochen worden, wobei auf das Schicksal der deutschen Landesgrundrechte verwiesen wird.220

Vgl → § 7 Rn 99. Vgl zur Unitarisierungswirkung Steiner FS Maurer, 2001, S 1005, 1015. Zur parallelen Rechtslage nach der EMRK vgl → § 2 Rn 10. Zum bisher einmaligen Vorabentscheidungsersuchen des BVerfG vgl BVerfG, Beschluss v 14.01. 2014, 2 BvR 2728/13. 220 Gärditz in: Isensee/Kirchhof (Hrsg) Handbuch des Staatsrechts: Bd IX, 3. Aufl 2011, § 189 Rn 38 ff; Thym NVwZ 2013, 889, 895. 216 217 218 219

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Lösung Fall 9: Die Heranziehung der nationalen Grundrechte würde es einem Mitgliedstaat erlauben, die Anwendung von mit der GRCh vollständig im Einklang stehenden Unionsrechtsakten zu verhindern, wenn sie den in der Verfassung des Staats (Spanien) garantierten Grundrechten nicht entsprechen. Dies ist mit dem Vorrang des Unionsrechts nicht vereinbar. Auch Art 53 GRCh erlaubt es den Mitgliedstaaten nur, weitergehende nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, wenn dadurch der Vorrang des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird.221

Umso wichtiger ist es, auf die Grenzen dieser Europäisierung hinzuweisen. Eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte kommt nur in dem Ausmaße in Betracht, in dem das Unionsrecht für das Tun, Dulden oder Unterlassen der Mitgliedstaaten Bindungswirkungen entfaltet. Die Bindungen müssen eine hinreichende spezifische Verknüpfung zu mitgliedstaatlichen Handeln aufweisen. So ist der Umstand, dass eine mitgliedstaatliche Maßnahme eine staatliche Beihilfe darstellt und daher von Art 107, 108 AEUV beherrscht wird, noch kein ausreichender Grund, sie den Unionsgrundrechten zu unterwerfen.222 Besteht zwar eine Bindungswirkung, ist aber die Determinierungskraft des Unionsrechts gering (etwa weil den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume belassen wurden oder das Unionsrecht von vornherein nur die Berücksichtigung eines bestimmten Aspekts gebietet), können auch die Unionsgrundrechte keine volle Determinierung beanspruchen. Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit muss dann dem mitgliedstaatlichen Recht und dessen Grundrechten in weitem Umfange überlassen bleiben. Erhöht sich allerdings die Determinationskraft des Unionsrechts, steigt umgekehrt auch die Bedeutung des unionalen Grundrechtsschutzes, so dass die Eindringtiefe der Unionsgrundrechte variabel zu bestimmen ist.223 Zudem muss der Orientierung der GRCh an der EMRK Rechnung getragen werden (Art 6 I UA III EUV; 52 III GRCh). Der EGMR gesteht den Konventionsstaaten bei der Auslegung und Abwägung der EMRK-Rechte mit den vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeiten vielfach einen „margin of appreciation“ zu (→ § 2 Rn 120). Dies wird die Unionsgerichtsbarkeit – erst recht nach Beitritt der EU zur EMRK (Art 6 II 1 EUV; → § 2 Rn 21 ff ) – zu berücksichtigen haben, auch wenn Art 52 III GRCh einen weitergehenden Schutz nicht ausschließt. Geboten ist somit nicht ein strikter Grundrechtsdeterminismus des vorrangig geltenden Rechts, sondern eine Zuordnung der verschiedenen Grundrechtssphären, die von gegenseitigem Respekt und Zurückhaltung gem der Loyalitätsverpflichtung des Art 4 III EUV geprägt ist.224 Spiegelbildlich spricht

221 Das span tribunal constitucional ist mit Urt v 13.2.2014, BOE v 11.3.2014, Nr 2650 den Vorgaben des EuGH gefolgt. Es hat dabei seinen Ultra-Vires-Vorbehalt bekräftigt, vgl dazu schon Fn 5. 222 Landeburger, Fide-Report 2012, 1, 166 f; v Danwitz in: Grabenwarter (Fn 27) § 6 Rn 40. 223 Näher dazu Ohler NVwZ 2013, 1433, 1437 f. Vgl ferner Thym NVwZ 2013, 889, 894 (hiernach umfasst die Charta auch Sachverhalte, die nicht vom EU-Recht determiniert werden, gilt aber dennoch nicht uferlos). 224 Vgl a Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 17, wonach das Belassen größerer mitgliedstaatlicher Einschätzungs- und Abwägungsspielräume auch der eigenen Überlastung des EuGH Rechnung tragen würde und der EuGH gegenüber dem EGMR glaubwürdiger auf die großzügige Gewährung eines „margin of appriciation“ drängen könnte. Eine dezentrale Prägung des Grundrechtsschutz durch den EuGH macht der EuGH-Richter v Danwitz – unter Berufung auf die Urteile Schmidberger, Omega und Sayn-Wittgenstein – in: Grabenwarter (Fn 27)

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das BVerfGE von einem Kooperationsverhältnis (der beteiligten Gerichtsbarkeiten225) und (im Hinblick auf die Auslegung des Grundgesetzes sowie des Handelns der Bundesrepublik Deutschlands) von den Grundsätzen der Völkerrechtsfreundlichkeit, der Europarechtsfreundlichkeit und der Integrationsverantwortung226. c) Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV Für die Unionsgrundrechte, welche die Unionsgerichtsbarkeit der EMRK und/oder den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten entnommen hat oder noch zu entnehmen gedenkt (Art 6 III EUV), hat sich durch den Erlass der GRCh nichts verändert. Selbst wenn man Art 51 I 1 GRCh entgegen der EuGH-Rspr (Fall 6) restriktiv interpretieren würde, folgt daraus keine Zwangsläufigkeit für die Bestimmung der Reichweite der allgemeinen Grundsätze. Tatsächlich hat der EuGH die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten auch insoweit auf den Anwendungsbereich des Unionsrechts bezogen (Rn 65 ff), so dass es keine Unterschiede im Verhältnis zur GRCh gibt.

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3. Privatpersonen Während der EuGH unter bestimmten Voraussetzungen eine Bindung von Privatpersonen an die Grundfreiheiten angenommen hat (→ § 7 Rn 54 ff), liegt für die Unionsgrundrechte bislang keine dementsprechende Rspr vor.227 Eine unmittelbare Drittwirkung der Unionsgrundrechte ist vorbehaltlich abw Regelungen nach Art des Art 157 I AEUV abzulehnen.228 Eine unmittelbare Drittwirkung (die auch bei Richtlinien und allg Grundsätzen des Unionsrechts abgelehnt wird)229 würde die Rechte des Einzelnen gegenüber der öffentlichen Gewalt zu Pflichten gegenüber allen Mitbürgern verkehren und damit zu einer weitgehenden Beschränkung der Privatautonomie führen. Art 51 I 1 GRCh erwähnt die Privaten als Verpflichtungsadressaten gerade nicht. Eine Ausdehnung der Grundrechtsbindung würde den klaren Wortlaut der Vorschrift missachten. Es ist auch nicht ersichtlich, wie sich etwa der Gesetzesvorbehalt des Art 52 I 1 GRCh durch Private erfüllen ließe. Ferner nimmt auch die EMRK die Privaten nicht als Grundrechtsadressaten in die Pflicht (→ § 2 Rn 58). Dies ist bei der Interpretation der Unionsgrundrechte zu berücksichtigen. Nach Beitritt der EU zur EMRK (Art 6 II 1 EUV; → § 2 Rn 21 ff) kann erst recht nicht davon ausgegangen werden, dass eine unterschiedliche Grundrechtsbindung gelten soll. Eine

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§ 6 Rn 15. Vergleiche auch zur Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Interessen in der Rspr des EuGH Schwarze EuR 2013, 253 ff. BVerfGE 89, 155, 175. BVerfGE 123, 267 (Leitsatz 2a), 347. Mehr zur Integrationsverantwortung Voßkuhle Die Verwaltung 2010, Beiheft 10/2010, 229 ff; Schmahl FS Knemeyer, 2012, S 765 ff. Gegen eine Horizontalwirkung allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts EuGH, Slg 1993, I-5683, Rn 16 – Otto BV; Slg 1994, I-955, Rn 24 – Bostock. Vergleiche aber auch EuGH, Slg 2010, I-365 – Kücükdeveci. Ebenso Kober (Fn 159), S 180 ff; Winkler (Fn 130), S 164 f; Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657, 675 f; Sagmeister (Fn 58), S 324 f; Fuger NJW 2011, 2385, 2389; Jarass GRCh, Art 51 Rn 27 ff (der ebenso wie Krieger in Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 6 Rn 87 Ausnahmen für möglich hält); zweifelnd Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 51 GRCh Rn 22. Näher zum Ganzen mit Differenzierungen v Danwitz in: Grabenwarter (Fn 27) § 6 Rn 58 ff. AA Beutler in: vd Groeben/Schwarze, Art 6 EUV Rn 66. Vgl zu diesem Argument v Danwitz in: Grabenwarter (Fn 27) § 6 Rn 59.

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Übertragung der (ohnehin problematischen) Rspr zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten auf die Unionsgrundrechte (→ § 7 Rn 60) ist deshalb nicht angebracht, weil es nicht um die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes geht. Ist ein Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater in die Unionsgrundrechte geboten, kann dem – ebenso wie im deutschen Recht230 – auch anderweitig, insbesondere mit einer mittelbaren Drittwirkung der Unionsgrundrechte Rechnung getragen werden. Zum einen sind die staatlichen Normen des Privatrechts den Mitgliedstaaten zuzurechnen. Als solche unterliegen sie der Bindung an die Unionsgrundrechte. Sind sie damit nicht vereinbar, kommt das Anwendungsverbot des Unionsrechts (Rn 39) zum Tragen.231 Einer unmittelbaren Drittwirkung bedarf es insoweit nicht.232 Zum anderen enthalten die Unionsgrundrechte staatliche Schutzpflichten auch im Hinblick auf rechtswidrige Eingriffe von Privaten (Rn 45). Mögen auch eine Reihe von Normierungen der GRCh auch und gerade das Verhalten Privater betreffen, sollte an der lediglich mittelbaren Bindung festgehalten werden. Je stärker eine grundrechtliche Gewährleistung auf die Geltendmachung in Privatrechtsverhältnissen zugeschnitten ist, desto eher kommt die Zuerkennung einer mittelbaren Drittwirkung in Frage.233 Allenfalls wenn keine Einschränkungsmöglichkeiten vorgesehen werden (wie zB im Falle eines Verbots des Menschenhandels, Art 5 III GRCh, oder des Verbots der Kinderarbeit, Art 32 I 1 GRCh), wäre eine unmittelbare Drittwirkung erwägenswert. Doch dürfte auch insoweit eine mittelbare Drittwirkung ausreichen. Auch eine unmittelbare Bindung Privater an die Grundsätze ist nach Art 51 I 1, 2, V GRCh ausgeschlossen. Zudem bedürften diese ohnehin der legislativen Konkretisierung. ZB besagt das Ob eines Rechts auf Jahresurlaub (Art 31 II GRCh) nocht nichts über das Wie.234 Nicht als Private angesprochen werden Personen, denen die Befugnis zur Ausübung von Staatsgewalt übertragen worden ist. Deshalb unterliegen die Beliehenen235 bei der Durchführung des Rechts der Union der Bindung an die Unionsgrundrechte.

VII. Räumlicher und zeitlicher Geltungsbereich der Unionsgrundrechte 82

In räumlicher und zeitlicher Hinsicht bestimmt sich der Geltungsbereich der Unionsgrundrechte nach den allgemeinen Grundsätzen (→ § 7 Rn 65 f). Wie die Rechte der EMRK (→ § 2 Rn 62) entfalten auch die Unionsgrundrechte extraterritoriale Wirkungen, weil die Grundrechtsadressaten ihren grundrechtlichen Pflichten auch im Ausland nachkommen müssen. Dies gilt jedenfalls für die Abwehrfunktion, während für die Leistungsfunktion anderes gelten könnte.236 Treten neue Staaten der Union bei, gelten die Unionsgrundrechte ab dem Zeitpunkt des Beitritts, falls nichts anderes vereinbart worden ist. Übergangsfristen sind nur für die Geltung der Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 66), nicht für die Unionsgrundrechte vorgesehen worden. Die Hinnahme einer verspäteten Geltung der Unionsgrundrechte wäre auch nicht mit der Festlegung der EU auf Fundamentalprinzipien (Art 2, 7 EUV) vereinbar. Im Übrigen hat die Rspr auch eine Vorwirkung der

230 231 232 233 234 235 236

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Grundl BVerfGE 7, 198 ff. Vgl auch → § 7 Rn 60. Vgl auch EuGH, Slg 2005, I-9981 – Mangold; Slg 2010, I-365 – Kücükdeveci. V Danwitz in: Grabenwarter (Fn 27) § 6 Rn 62. V Danwitz in: Grabenwarter (Fn 27) § 6 Rn 63. Vgl dazu Burgi in Erichsen/Ehlers (Fn 21) § 7 Rn 31 ff; Jarass GRCh, Art 51 Rn 27. Vgl Jarass GRCh, Art 51 Rn 32.

Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte

§ 14 VIII

Chartagrundrechte angenommen.237 Soweit die GRCh entgegen ihrem Anliegen, die Grundrechte nur sichtbar zu machen (Rn 12), neue Grundrechtsgewährleistungen enthält, die sich nicht auf die EMRK oder die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zurückführen lassen, sind diese erst mit Inkrafttreten der Charta verbindlich geworden. Vor dem 01.12.2009 erlassene Dauerverwaltungsakte sowie Rechtsakte, die sich zum Zeitpunkt des späteren gerichtlichen Verfahrens noch in Kraft befanden, sind an der Grundrechte-Charta (GRCh) zu messen.238

VIII. Gewährleistungen, Beeinträchtigungen und Schranken der Unionsgrundrechte Zum Zwecke einer Förderung der „Grundrechtskultur“ hat die EU-Kommission eine Grundrechts-Checkliste erarbeitet, die bereits im frühen Statium der Vorschlagskonzeption greifen und auch während der Folgenabschätzung bis hin zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit der endgültigen Fassung des Entwurfs eines Rechtsaktes zum Tragen kommen soll.239 Die Checkliste hat folgenden Inhalt: 1. Welche Grundrechte sind betroffen? 2. Handelt es sich dabei um absolute Rechte (die in keinem Fall eingeschränkt werden dürfen – zB die Würde des Menschen und das Verbot der Folter)? 3. Wie wirken sich die verschiedenen ins Auge gefassten politischen Optionen auf die Grundrechte aus? Handelt es sich dabei um positive (Förderung der Grundrechte) oder negative Auswirkungen (Einschränkung der Grundrechte)? 4. Haben die Optionen sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die einschlägigen Grundrechte (zB eine negative Auswirkung auf die Freiheit der Meinungsäußerung und eine positive Auswirkung auf das geistige Eigentum)? 5. Sind etwaige Grundrechtseinschränkungen präzise und vorausschauend formuliert worden? 6. Für den Fall, dass es zu Grundrechtseinschränkungen kommen sollte: – Sind diese zur Verwirklichung eines Ziels von allgemeinem Interesse oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten Dritter (welcher?) erforderlich? – Stehen sie in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel? – Tragen sie dem Wesensgehalt der Grundrechte Rechnung?

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Die Checkliste orientiert sich stark an der Rechtsetzung der EU, nicht der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten, und ist im Übrigen zu wenig ausdifferenziert, um als allgemeines Schema für die Überprüfung der Grundrechtskonformität von Maßnahmen der Verpflichtungsadressaten verwendet zu werden.240 Um zu einer alle Gesichtspunkte berücksichtigenden Prüfung zu gelangen, ist zunächst dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Unionsgrundrechte nur zum Zuge kommen, wenn sie anwendbar sind. Da sich die Anwendbarkeit insbesondere auf das Handeln der Mitgliedstaaten nicht von selbst versteht, empfiehlt es sich, diese Frage vorab zu prüfen. Sodann ist auf das konkret in Betracht kommende Grundrecht einzugehen. Handelt es sich bei dem Grundrecht um ein subjektives Freiheitsrecht (Abwehrrecht) und nicht nur

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237 238 239 240

Vgl Vorauflage § 14 Rn 25. Vgl v Danwitz in: Grabenwarter (Fn 27) § 9 Rn 26. KOM (2010) 573; vgl dazu Wehlau/Lutzhöft EuZW 2012, 45 ff. Noch allgemeiner gehalten ist die Checkliste des Rates der Europäischen Union, v 18.5.2011, ST 10140/11.

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um einen Grundsatz (Rn 17 ff), lässt sich ebenso wie bei den EMRK-Grundrechten (→ § 2 Rn 67 ff ) und den Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 67 ff ) danach unterscheiden, ob der Schutzbereich (Gewährleistungsgehalt) berührt ist (Rn 87), eine Beeinträchtigung vorliegt (Rn 98) und die Beeinträchtigung zulässig oder nach den maßgeblichen Schrankenregelungen gerechtfertigt ist (Rn 99 ff).241 Geht es um Gleichheits-, Verfahrens-, Unionsbürgeroder (sonstige) Leistungsrechte, dürfte sich eine andere Prüfungsreihenfolge empfehlen. So ist sehr zweifelhaft, ob Gleichheitsverbürgungen wegen ihres bloß modalen Charakters überhaupt einen Schutzbereich haben. Daher dürfte es angezeigt sein, zweistufig vorzugehen und zu prüfen, ob eine Ungleichbehandlung vorliegt und sich diese ggf rechtfertigen lässt.242 Der allgemeine Gleichheitssatz (Art 20 GRCh) zeichnet sich durch relativ große Wertungsoffenheit aus. Auch wenn im Einzelnen vieles unklar geblieben ist, dürften die Anforderungen an die Rechtfertigung ähnlich wie im deutschen Verfassungsrecht243 je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengeren Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse unterschiedlich ausfallen. Eine strengere Prüfung erscheint sachgerecht, wenn nicht nur Sachverhalte, sondern Personengruppen ungleich behandelt werden.244 Die Diskriminierungsverbote (etwa des Art 21 GRCh) und besonderen Gleichheitssätze (etwa des Art 23 GRCh) enthalten wesentlich striktere Unterscheidungsverbote. Beispielsweise hat der EuGH die (in Art 5 II RL 2004/113/EG ausnahmsweise zugelassene) Berücksichtigung des Geschlechts bei der Berechnung von Prämien und Leistungen im Bereich des Versicherungswesens und verwandter Dienstleistungen aufgrund einer mathematischen Risikobewertung als Verstoß gegen Art 21 und 23 GRCh angesehen245, obwohl „Unisextarife“ für Frauen im Vergleich zu reinen Risikotarifen nicht nur günstiger (so für die Lebensversicherung), sondern auch ungünstiger (so für die Kfz-Versicherung) kommen können. Auch die Wirkungsweise des Gesetzmäßigkeitsprinzips (Art 52 I 1 GRCh) kann bei den Gleichheitsgrundrechten differieren.246 Bei Grundrechten, die auf eine Verfahrensgestaltung wie zB das Recht auf Akteneinsicht (Art 41 II lit b GRCh), auf Rechtsschutz (Art 47 GRCh) oder auf Leistung gerichtet sind – zB Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art 15 AEUV; 42 GRCh) –, spricht alles dafür, sogleich nach den Anspruchsvoraussetzungen zu fragen (statt zu untersuchen, ob das Unterlassen eine nichtgerechtfertigte Beeinträchtigung darstellt).247 Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Überprüfung von Freiheitsverstößen. Zu den Gleichheits-, Verfahrens-, Rechtsschutz- und Leistungsgrundrechten vgl die folgenden Abschnitte.

241 Ebenso Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657, 688 ff; Rengeling/Szczekalla GR, § 7 Rn 506. 242 Vgl demgegenüber aber Kingreen → § 21 Rn 7 ff. 243 BVerfGE 121, 108, 119, 124, 199, 219; 127, 224, 244. 244 Zum deutschen Recht vgl BVerfGE 103, 310, 318 f; 121, 317, 369. 245 EuGH, Slg. I 2011, 800 – Association belge des Consommateurs Test-Achats ua = JK 8/11 RL 2004/113/EG, Art 5 II 1. 246 Vgl Jarass GRCh, Art 52 Rn 48. 247 Zur Entbehrlichkeit einer Anhörung vor Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls vgl EuGH (GK), NJW 2013, 1145 – Radu.

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1. Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte Die Unionsgrundrechte sind nur anwendbar, wenn es um das Handeln eines Verpflichtungsadressaten der Grundrechte geht (Rn 59 ff) – dh der Europäischen Union oder eines Mitgliedstaates – und der räumliche und zeitliche Geltungsbereich der Grundrechte gegeben ist (Rn 82). Liegt zwingendes Unionsrecht vor, muss dieses zwar befolgt werden. Doch bedarf es auch in solchen Fällen insofern einer Heranziehung der Unionsgrundrechte, weil das Unionsrecht einheitlich ausgelegt werden (Rn 22 ff) und das Sekundärbzw Tertiärrecht mit den Unionsgrundrechten vereinbar sein muss (Rn 27).

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2. Schutzbereich der Unionsgrundrechte a) Sachlicher Schutzbereich der Charta-Rechte aa) Grundrechtlich geschützer Lebensbereich oder geschütztes Rechtsgut Der sachliche Schutzbereich der Freiheitsgrundrechte beschreibt den grundrechtlich geschützten Lebensbereich (also zB die Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, freie und friedliche Versammlung usw) oder das geschützte Rechtsgut (zB die Würde des Menschen, Art 1 GRCh; das Recht auf Eigentum, Art 17 GRCh). Der Schutzbereich ist nach unionsrechtlichen Maßstäben (Rn 53), nicht mitgliedstaatlichen, zu ermitteln.

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(1) Verhältnis zu den in den Verträgen geregelten Grundrechten (Art 52 II GRCh) Überschneiden sich die in der GRCh anerkannten Rechte mit denjenigen, die in den Verträgen geregelt sind, folgt die Ausübung gem Art 52 II GRCh im Rahmen der dort festgelegten Bedingungen und Grenzen. Die vertraglichen (subjektiven) Rechte müssen funktional äquivalent mit den Charta-Rechten sein.248 Dies trifft beispielsweise auf die Grundfreiheiten im Wesentlichen nicht zu (Rn 22 ff). Mit den vertraglichen Bedingungen sind die den Schutzbereich definierenden Regelungen, mit den Grenzen die für die jeweiligen, aus den Verträgen folgenden Rechten vorgesehenen Schranken gemeint.249 Grundsätzlich besteht zwischen den vertraglichen Rechten und Charta-Grundrechten Idealkonkurrenz. Bestehen jedoch unterschiedliche Schutzbereichsbestimmungen (oder Schrankenregelungen), gelten die vertraglichen Regelungen vorrangig. Sie sind dann in die GRCh hineinzulesen.250 Eine allgemeine Verdrängung der Charta-Rechte ist nicht geboten (Rn 9).251

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(2) Verhältnis zu den EMRK-Rechten (Art 52 III GRCh) Um die „notwendige Kohärenz“ zwischen der GRCh und der EMRK (einschl der Protokolle) zu schaffen252, bestimmt Art 52 III GRCh, dass die der EMRK entsprechenden Rechte (Rn 29) „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben. Ein weitergehender Schutz

248 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 8. 249 Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 52 GRCh Rn 12; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art 52 Rn 10. 250 Vgl zum Petitionsrecht (das allerdings kein Freiheits- sondern ein Verfahrens- oder Leistungsrecht darstellt) Art 227 AEUV mit zus Bedingungen im Vergleich zu Art 44 GRCh (vgl a Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 13). 251 Jarass GRCh, Art 52 Rn 58. 252 Erläuterungen zu Art 52 III GRCh.

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der Charta ist nach Satz 2 allerdings nicht ausgeschlossen. Die EMRK und die dazu ergangene Rspr des EGMR stellt zwar nur eine Rechterkenntnisquelle dar (Rn 29). Doch ist spätestens nach Beitritt der EU zur EMRK (Rn 32) damit zu rechnen, dass es im Überschneidungsbereich immer häufiger auf die Rspr des letztverbindlich entscheidenden EGMR ankommt (→ § 2 Rn 23). (3) Verhältnis zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art 52 IV GRCh) 90

Wenn es gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gibt, ist ihnen gem Art 52 IV GRCh Rechnung zu tragen. Damit soll sichergestellt werden, dass die ChartaRechte ein hohes Niveau bieten.253 Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sind Rechtserkenntnisquellen für die Auslegung der Charta-Rechte (vgl auch Rn 6). (4) Verhältnis zum (sonstigen) Unionsrecht sowie den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (Art 52 VI GRCh)

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Die GRCh verweist des Öfteren nicht nur auf die in den Verträgen geregelten Rechte (Art 52 II GRCh) und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art 52 IV GRCh), sondern auch auf das sonstige Unionsrecht (Art 16, 27, 28, 30, 34) sowie vor allem auch auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften (respektive Gesetze) und Gepflogenheiten (Art 9, 10 II, 14 III, 16, 27, 28, 30, 34, 36). Unter Gepflogenheiten dürften quasigesetzliche Normen (wie die privaten Normen des Arbeitsrechts) zu verstehen sein.254 Aus der Inbezugnahme ergibt sich eine erhebliche Normprägung der Gewährleistungen. Teilweise betrifft diese allerdings nicht die subjektiv-rechtlichen Verbürgungen (Rn 17), sondern die Grundsätze der GRCh (Rn 19; Fall 1), die vielfach ohnehin der normativen Umsetzung und Ausfüllung bedürfen. Soweit die subjektiv-rechtlichen Verbürgungen auf das Unionsrecht und/oder die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verweisen, könnte es sich um Ausgestaltungsvorbehalte handeln, die den Inhalt des Schutzbereichs mitbestimmen, so dass nur das geschützt wird, was mit den Bestimmungen übereinstimmt.255 Selbst wenn man dies annähme, wären die Union und Mitgliedstaaten nicht frei, den Schutzbereich zu minimalisieren oder gar leerlaufen zu lassen. Abgesehen davon, dass die Vorgaben des Art 52 III u IV GRCh stets eingehalten werden müssen, normiert die Charta selbst, was geschützt wird. Bleiben die unionalen oder mitgliedstaatlichen Regelungen dahinter zurück, müssten sich diese am Maßstab der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen lassen können. Vergleichend kann darauf hingewiesen werden, dass auch das BVerfG gesetzliche Inhaltsbestimmungen des Eigentums iSd Art 14 I 2 GG einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzieht.256 Eine Schutzbereichsbestimmung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Vorschriften und Gepflogenheiten würde allerdings erhebliche Probleme aufwerfen, schon weil der grundrechtliche Schutzbereich dann je nach Mitgliedstaaten differieren würde. Näher dürfte es liegen, den Verweis auf das Unionsrecht und/oder die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten als –

253 254 255 256

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Erläuterungen zu Art 52 IV GRCh. Jarass GRCh, Art 52 Rn 83. IdS wohl Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 Rn 49. Vgl zB BVerfGE 50, 290, 341; 53, 257, 292; 71, 230, 246 f; 74, 203, 214; 95, 64, 84 ff.

Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte

§ 14 VIII 2

sprachlich unbeholfenen – Hinweis auf die Einschränkbarkeit der Unionsgrundrechte zu deuten, die im Rahmen des Gesetzesvorbehalts und der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Geltung zu bringen sind.257 IdS hat sich auch der EuGH geäußert (Fall 11).258 Dementsprechend ist die Normierung des Art 52 VI GRCh zu verstehen. Die Vorschrift ist im Schrifttum als deklaratorisch259 und bloße Angstklausel260 bezeichnet worden. Dies dürfte zu weit gehen. Auch wenn der Bindungsgehalt für die subjektiv-rechtlichen Verbürgungen (anders als für die Grundsätze) nicht sehr hoch zu veranschlagen ist, kommt doch zum Ausdruck, dass den Gesetzgebern ein größerer Regelungsspielraum eingeräumt werden soll, der insbesondere bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Geltung zu bringen ist.261 So dürfen das Eherecht (Art 9) und das Recht der Kriegsdienstverweigerung (Art 10 II) in erheblichem Umfange von den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern bestimmt werden, sollten die Unionsgrundrechte überhaupt anwendbar sein (was eine Kompetenz der EU voraussetzen würde). (5) Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents Gem Art 52 VII GRCh sind die vom Präsidium des Europäischen Konvents verfassten Erläuterungen zur GRCh (Rn 53) von den Gerichten der Union (aber auch den sonstigen Organen, Einrichtungen und Stellen) sowie den Mitgliedstaaten „gebührend“ zu berücksichtigen.262 Hierbei handelt es sich um gewichtige Auslegungsgesichtspunkte, nicht aber um rechtsverbindliche Vorgaben (Rn 53).

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(6) Verhältnis zu den sonstigen Gewährleistungen der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art 53 GRCh) Nach Art 53 GRCh darf keine Bestimmung der Charta als Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen sein, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union, das Völkerrecht oder die Verfassung der Mitgliedstaaten anerkannt werden. Die Vorschrift tritt zu den Regelungen des Art 6 EUV, 52 GRCh hinzu. Sie hat für das Unionsrecht wegen der Verbürgungen der Art 6 II EUV, 52 III GRCh kaum Bedeutung. Das Völkerrecht ist nur von Belang, soweit es die Union oder alle Mitgliedstaaten bindet. Die EMRK ist einerseits Rechtserkenntnisquelle für die Unionsgrundrechte, andererseits nach Beitritt der EU zur EMRK auch Rechtsquelle (→ § 2 Rn 21 ff), die selbständig neben den unter gebührender Berücksichtigung der EMRK auszulegenden Unionsgrundrechten (Art 52 III GRCh) zu beachten ist. Auf die Verfassungen der Mitgliedstaaten kommt es vor allem dann an, wenn sie nicht „gemeinsame“ Verfassungsüberlieferungen (Art 52 IV GRCh) wiedergeben. Art 53 GRCh stellt keine Transferklausel dar, die andere Gewährleistungen der Menschenrechte und Grundfreiheiten in die Charta-Grundrechte inkorporiert und damit entweder einen Mindest257 Vgl idS auch Kober (Fn 159), S 227, 230; Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 52 Rn 46 c; Jarass GRCh, Art 52 Rn 85. 258 Vgl auch EuGH, Slg 2007, I-10779 Rn 44 – Transport Workers; I-11767 Rn 91 – Laval. 259 Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 52 Rn 46; Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 53 GRCh Rn 31. 260 Rengeling/Szczekalla GR, Rn 479; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 41. 261 Vgl a Jarass GRCh, Art 52 Rn 86. 262 Vgl a Art 6 I UA 3 EUV.

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schutz garantiert oder eine automatische Hochzonung auf das jeweils höchste Schutzniveau bewirkt.263 Vielmehr finden die parallelen Grundrechte nebeneinander Anwendung. Das führt im Überschneidungsfall zu einer Meistbegünstigung, weil die Berechtigten der Unionsgrundrechte sich auf die weiterreichenden Grundrechte berufen können.264 Doch darf die Meistbegünstigung weder den Vorrang noch die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen (Fall 9). Nach Beitritt der EU zur EMRK bindet diese die Organe der Union und die Mitgliedstaaten als Unionsrecht (Rn 32). Kommt es in mehrpoligen Rechtsverhältnissen zu Grundrechtskollisionen zwischen den Unionsgrundrechten und den nationalen Grundrechten, gilt das Meistbegünstigungsprinzip nicht uneingeschränkt, weil die Anhebung des Schutzstandards für einen Grundrechtsträger den nach dem Unionsrecht gebotenen, mit Vorrang geltenden Mindestschutz eines anderen betroffenen Grundrechtsträgers nicht unterschreiten darf (Rn 77). Lässt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten mehrere Umsetzungsmöglichkeiten (wie dies etwa auf die Entflechtung der Übertragungsnetze von Energieleitungen zutrifft265) und werden diese als unionsgrundrechtekonform angesehen, ist aber eine der Umsetzungsmöglichkeiten mit den nationalen Grundrechten unvereinbar (wie dies in Deutschland für das Ownership Unbundling teilweise angenommen worden ist266) steht nichts entgegen, wenn dem Mitgliedstaat eine der Wahlmöglichkeiten kraft des nationalen Verfassungsrechts verwehrt wird. (7) Konkurrenzen und Kollisionen der Unionsgrundrechte 94

Von einer Grundrechtskonkurrenz lässt sich sprechen, wenn ein Verhalten des Grundrechtsträgers mehrere Grundrechte betrifft, von einer Kollision, wenn die Grundrechte mehrerer Grundrechtsträger miteinander in Konflikt geraten.267 Im Falle einer Grundrechtskonkurrenz besteht grds Idealkonkurrenz, so dass die Grundrechte kumulativ anzuwenden sind. Anderes ist anzunehmen, wenn sich eine grundrechtliche Gewährleistung als spezieller erweist: so das Verbot der Folter (Art 4 GRCh) gegenüber dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art 3 GRCh) oder das Verbot der Zwangsarbeit (Art 5 II GRCh) gegenüber der negativen Berufsfreiheit (Art 15 GRCh268). Das allgemeinere Grundrecht tritt dann zurück.269 In seltenen Fällen kann ein Grundrecht den Schutzbereich eines anderen Grundrechts begrenzen. Bspw ist einem Berufsverbrecher oder einem Rauschgifthändler die Berufung auf die Unionsgrundrechte der Berufsfreiheit (Art 15 GRCh) oder unternehmerischen Freiheit (Art 16 GRCh) verschlossen, weil die Tätigkeit schlechthin der Garantie der Menschenrechte (Art 1 GRCh) zuwider läuft. Kollidiert der Grundrechtsgebrauch des einen Grundrechtsinhabers mit dem Grundrechtsgebrauch eines anderen (wie dies zB im Falle einer Kollision des Rechts auf Achtung des Privatlebens, Art 7 GRCh, mit der Kunstfreiheit, Art 13 GRCh, der Fall sein kann), sind die gegenläufigen grundrechtlich geschützten Interessen im Rahmen der Schrankenregelung (nichts des

263 Vgl Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 54 GRCh Rn 9; Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 53 GRCh Rn 3 ff; Niedobitek in: Merten/Papier (Fn 19) § 159 Rn 72 f. 264 Vgl statt vieler Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 53 GRCh Rn 3. 265 Vgl Art 9, 13 f, 17 ff RL 2009/72/EG. 266 Vgl Mayen/Karpenstein, RdE 2008, 33; Möllinger, Eigentumsrechtliche Entflechtung der Übertragungsnetze, 2009, S 237 ff. 267 Vgl statt vieler Jarass GRCh, Art 53 Rn 5 ff, ferner bereits Rn 23 f. 268 Frenz GR Rn 488. 269 Jarass GRCh, Art 53 Rn 6.

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Schutzbereichs) gem dem Prinzip der praktischen Konkordanz miteinander in Einklang zu bringen.270 So wäre in dem Beispielsfall zu fragen, ob sich die Einschränkung des Rechts auf Achtung des Privatlebens durch das kollidierende Grundrecht der Kunstfreiheit rechtfertigen lässt. Dementsprechend bestimmt Art 52 I 2 GRCh, dass der Schutz „der Rechte und Freiheiten anderer“ ein legitimer Grund für die Einschränkung von Grundrechten sein kann. bb) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Unionsgrundrechte Ebenso wie die Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 79) dürfen gem Art 54 GRCh auch die Unionsgrundrechte nicht missbräuchlich in Anspruch genommen werden. Die Vorschrift ist Art 17 EMRK nachgebildet worden (→ § 2 Rn 73). Nach den Erläuterungen zur Charta (Rn 53, 92), entspricht sie dieser Bestimmung. Vorgeschrieben wird, dass keine Bestimmung der Charta so auszulegen ist, als begründe sie das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als dies in der Charta vorgesehen ist. Das Missbrauchsverbot soll dem Schutz von Rechtsstaat und Demokratie dienen. Art 54 GRCh bezieht sich in erster Linie auf die Grundrechtsberechtigten (Rn 54 ff ). Handeln diese missbräuchlich, ist der Schutzbereich der einschlägigen Grundrechtsverbürgung (mangels Rechtsbegründung) nicht eröffnet.271 Wie die Anknüpfung an Art 17 EMRK und den dort auch als Adressaten des Missbrauchsverbots genannten Staat sowie die Handlungsmodalitäten „abschaffen oder einschränken“ zeigen, werden aber auch die Verpflichtungsadressaten (EU, Mitgliedstaaten) durch die Vorschrift in die Pflicht genommen.272 Insoweit wirkt das Missbrauchsverbot nicht als Schutzbereichsbegrenzung, sondern als Schranken-Schranke. Sie untersagt den Hoheitsträgern, die Möglichkeit der Grundrechtseinschränkung (Beeinträchtigung) zu missbrauchen. Die praktische Bedeutung des Missbrauchsverbots ist gering. An das Vorliegen eines Missbrauchs sind strenge Anforderungen zu stellen, so dass nur in krassen Ausnahmefällen von einem Missbrauch ausgegangen werden kann. Anders als dies in der Lit vertreten wird273, kann ein Missbrauch nicht von vornherein im Hinblick auf bestimmte Grundrechtsgewährleistungen (wie den Justizgrundrechten) ausgeschlossen werden.274 Ist missbräuchliches Handeln anzunehmen, führt dieses entgegen der Regelung des Art 18 GG nicht zur Grundrechtsverwirkung, sondern nur zu einer Versagung des Grundrechtsschutzes im Einzelfall. Für die Hoheitsträger dürfte das Missbrauchsverbot wegen der

270 Vgl a Jarass GR, § 5 Rn 33 f. Zur Abwägung zwischen den Unionsgrundrechten und den sonstigen rechtlich geschützten Interessen vgl EuGH (GK), C-131/12, Urt v 13.05.2014, Rn 81 – Google Spain. 271 AA Frenz GR Rn 486; Jarass GRCh, Art 54 Rn 3. Wie hier Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art 54 GRCh Rn 3. 272 AA Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 54 GRCh Rn 2 (mit Hinw darauf, dass Grundrechtsverpflichtete Befugnisse, aber keine Rechte haben); Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 54 GRCh Rn 3. 273 Rengeling/Szczekalla GR, Rn 504; Jarass GRCh, Art 54 Rn 2; Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 54 Rn 10. 274 ZB fehlt beim Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs das Rechtsschutzbedürfnis für die Einlegung eines Rechtsbehelfs. Für das deutsche Recht vgl Ehlers in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO Vorb § 40 Rn 98 ff.

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Schrankenregelungen des Art 52 I 2 GRCh noch weniger Bedeutung als für die Grundrechtsberechtigten haben. cc) Schutzbereich der ungeschriebenen Unionsgrundrechte 96

Soweit der EuGH vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon (Rn 2) Grundrechte als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt hat, fehlt es oftmals an einer genauen Umschreibung des Schutzbereichs. Stattdessen hat sich der EuGH zugleich der Rechtfertigungsprüfung zugewandt.275 Für die Kreierung neuer allgemeiner Rechtsgrundsätze grundrechtlicher Provenienz (Art 6 III EUV) ist erst recht eine genaue Konturierung des Schutzbereichs erforderlich, weil dargelegt werden müsste, warum die ChartaRechte oder die EMRK nicht einschlägig sind. b) Personeller Schutzbereich

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In personeller Hinsicht ist der Schutzbereich der Unionsgrundrechte berührt, wenn eine Grundrechtsberechtigung (Grundrechtsträgerschaft) der das Grundrecht in Anspruch nehmenden Person vorliegt (Rn 54 ff). Abzustellen ist auf das jeweils einschlägige Grundrecht, nicht nur darauf, wer überhaupt Grundrechtsberechtigter sein kann. So wird der Schutzbereich eines Unionsgrundrechts bspw nicht tangiert, wenn sich eine juristische Person auf ein höchstpersönliches Grundrecht (etwa das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit, Art 3 GRCh) beruft.

3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs der Unionsgrundrechte 98

Eine grundrechtlich geschützte Freiheit kann nur verletzt werden, wenn die Freiheit beeinträchtigt wird. Art 52 I GRCh spricht von Einschränkungen (engl/frz:limitation), was an die Beschränkungsverbote der Grundfreiheiten (engl: restrictions/frz: limitation bzw. restriction) erinnert (→ § 7 Rn 30 ff, 94 ff ). Der EuGH276 verwendet ebenso wie der EGMR (→ § 2 Rn 70) zT auch den Begriff des Eingriffs. Die Bezeichnungen dürften jedenfalls für die Freiheitsgrundrechte und die sich daraus ergebenden Abwehrrechte Synonyme darstellen. Für die Gleichheitsrechte sowie Leistungsrechte einschl der Rechte auf eine positive Verfahrensgestaltung oder die Gewährung von Rechtsschutz ist eine zweistufige Prüfung empfohlen worden (Rn 85). Hierbei entspricht eine Ungleichbehandlung respektive Vorenthaltung einer geschuldeten Leistung der Beeinträchtigungen. Ebenso wie auf dem Gebiet der EMRK (→ § 2 Rn 70), gibt es bisher keine elaborierte Beeinträchtigungsdogmatik.277 In jedem Fall setzt eine Beeinträchtigung das Handeln (oder Unterlassen) eines Verpflichtungsadressaten (Rn 59 ff) mit grundrechtsbelastender Wirkung voraus.278 In Deutschland wird im Hinblick auf die nationalen Grundrechte zwischen klassischen und mittelbar-faktischen Eingriffen unterschieden. Während sich die klassi-

275 Krit zu Recht Nettesheim EuZW 1995, 106 f; Huber Recht der Europäischen Integration, S 103; Pauly EuR 1998, 253 ff; Stieglitz Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, 2002, S 118 f, 145 f. 276 EuGH, Slg 2003, I-4989 Rn 74 – Österreichischer Rundfunk; Slg 2004, I-5257, Rn 98 f – Orfanopoulos; Slg 2004, I-7789, Rn 52 – Spanien/Parlament u Rat. 277 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 56. 278 Jarass GRCh Art 52 Rn 10.

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Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte

§ 14 VIII 3

schen Eingriffe handlungsbezogen durch die Merkmale Rechtsakt, Finalität des Handelns, Unmittelbarkeit der Bewirkung und/oder Handeln durch Befehl oder Zwang auszeichnen, wird bei den mittelbar-faktischen Eingriffen wirkungsbezogen auf den Erfolg abgestellt. Ausreichend soll sein, ob ein grundrechtlich geschütztes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird.279 Da die Grundrechte nicht Nachteilszuführungen jeglicher Art abwehren sollen, muss insoweit eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschritten werden.280 Dies kann durch Gesetz oder Einzelfallregelung geschehen. Ähnliche Probleme stellen sich im Unionsrecht. Dass klassische „Eingriffe“ die Unionsgrundrechte beeinträchtigen, unterliegt keinem Zweifel. Auf die Erheblichkeit der Nachteilszufügung kommt es insoweit nicht an. Eine Beeinträchtigung ist auch gegeben, wenn in grundrechtsrelevanten Bereichen ein präventives Verbot mit Genehmigungsvorbehalt besteht (bereits diese gesetzliche Regelung hat Eingriffscharakter) und die Genehmigung (etwa für eine unternehmerische Betätigung) verweigert wird (weil sich das präventive Verbot dann in ein endgültiges umwandelt). Auch wenn sich der grundrechtsverpflichtete Hoheitsträger privater Dritter bedient281, damit diese den Grundrechtsberechtigten Nachteile zufügen (zB Förderung eines privaten Vereins, der aggressiv gegen bestimmte Religionsgemeinschaften vorgeht282), liegt eine Beeinträchtigung vor.283 Den Rechtsakten sind die (im Unionsrecht in diesem Zusammenhang bisher eher selten relevant gewordenen) Realakte (zB negative Auskünfte) gleichzustellen, wenn diese unmittelbar und/oder gezielt die grundrechtliche Rechtssphäre betreffen.284 Da der EuGH ähnlich wie der EGMR (→ § 2 Rn 70) zu Recht von einem weiten Beeinträchtigungs- bzw Beschränkungsverständnis (etwa iSe Gleichsetzung mit Belastung) ausgeht, werden ferner auch mittelbare Auswirkungen hoheitlicher Maßnahmen auf die grundrechtlich geschützten Güter erfasst.285 Doch muss insoweit ebenso wie bei den Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 105) eine gewisse Nähebeziehung zwischen Maßnahme und beeinträchtigender Wirkung gegeben sein. Auch sind mittelbare Grundrechtseinwirkungen nur relevant, wenn sie eine gewisse Spürbarkeitsgrenze (Eingriffsschwelle) überschreiten.286 Den Charakter von Beeinträchtigungen haben auch Sekundärrechtsakte der Union, die noch der Umsetzung bedürfen, sofern die Umsetzungspflicht die Grundrechte beeinträchtigt (mögen die Berechtigten eine Grundrechtsverletzung auch erst nach Umsetzung oder unmittelbarer Anwendung der sekundärrechtlichen Bestimmungen geltend machen können). Ungeklärt ist bislang, ob ein Grundrechtseingriff auch dann in Frage kommen kann, wenn nur eine von mehreren vorgegebenen Umsetzungsoptionen die Unionsgrundrechte berührt.287 Dies dürfte auch wegen der Folgewirkungen für alle Mitgliedstaaten zu bejahen sein. An einer Grundrechtsbeeinträchtigung fehlt es ferner, wenn der Grundrechtsträger in zulässiger Weise in

279 280 281 282 283 284

Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, 29. Aufl 2013, Rn 253 ff. Ehlers JZ 2012, 623, 624 f. Vgl EuGH, Slg 1998, I-1953, Rn 28 – Metronome Musik. Vgl für das deutsche Recht dazu BVerwGE 90, 112. Näher zum ganzen Jarass GRCh, Art 52 Rn 14, 17. Vgl auch EuGH, Slg 1994, I-4737, Rn 23–X/Kommission; Slg 2003, I-4989, Rn 74 – Österreichischer Rundfunk. 285 Vgl EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 81 – Deutschland/Rat, Slg 1996, I-3953, Rn 22 f – Bosphorus; v Danwitz in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 Rn 32; Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 20; Frenz GR Rn 495. 286 AA Szczekalla (Fn 120) S 300 ff; Rengeling/Szczekalla GR, § 7 Rn 517. 287 Vgl dazu Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657, 690.

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die Beeinträchtigung einwilligt bzw auf seinen Grundrechtsschutz verzichtet hat. Teilweise knüpfen Unionsgrundrechte ausdrücklich an das Vorliegen einer Einwilligung an (Art 3 II lit a, 8 II GRCh). Unerheblich sind Einwilligung oder Verzicht aber, wenn keine Freiwilligkeit gegeben ist288 oder ihnen Unionsinteressen von erheblichem Gewicht entgegenstehen.289 Insb kann auf die Menschenwürde (Art 1 GRCh) niemals verzichtet werden. Unterliegen die Grundrechte der Ausgestaltung nach Maßgabe des Unionsrechts und/ oder der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten, handelt es sich nach der hier vertretenen Auffassung um Rechtfertigungsanforderungen (Rn 91). Würde man sie dem Schutzbereich der Unionsgrundrechte zuordnen, müsste von einer Beeinträchtigung ausgegangen werden, wenn das Untermaßverbot missachtet oder in eine nach bisherigem Recht bestehende grundrechtlich geschützte Position eingegriffen wird.

4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Unionsgrundrechte a) Einschränkbarkeit der Grundrechte 99

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Die Unionsgrundrechte gelten – grds – nicht uneingeschränkt. Anders als die EMRK (→ § 2 Rn 72 ff ) hat die GRCh davon Abstand genommen, für jedes einzelne Grundrecht Schrankenvorbehalte vorzusehen. Stattdessen enthält Art 52 I GRCh eine allgemeine (horizontale) Schrankenregelung290 für die in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten. Vereinzelt wird die Regelung durch besondere Schrankenregelungen der Einzelgrundrechte ergänzt (Art 8 II 1, 17 I 2 GRCh). Da es Art 52 I GRCh um die Art und Weise der Grundrechtsbeschränkung und nicht das Ob geht, schließt dies vorbehaltslos gewährleistete Grundrechte nicht aus.291 Dies bestimmt sich nach der jeweiligen Grundrechtsgewährleistung. Grundsätzlich sind alle Unionsgrundrechte einschränkbar. Anderes gilt zB für die Würde des Menschen (Art 1 GRCh), das Verbot der Folter und der Sklaverei (Art 4, 5 GRCh) oder das Verbot von Kollektivausweisungen (Art 19 I GRCh), (wie sich für das zuletzt genannte Grundrecht auch aus den vorbehaltslos gewährleisteten Garantien der Art 3, 4 I ZP Nr 4 zur EMRK iVm Art 52 III GRCh entnehmen lässt). In solchen Fällen kann es höchstens zu einer Begrenzung des Grundrechtschutzes auf der Tatbestandsebene kommen (etwa wenn und soweit sich die Grundrechtsnormierungen in Abwägung mit anderen Normierungen oder uU auch sonstigen Bestimmungen des Unionsrechts einengend interpretieren lassen292). Ob kollidierendes Unionsrecht die vorbehaltslos gewährleisteten Unionsgrundrechte einzuschränken vermag293, ist in der Rspr bisher nicht geklärt. Ohnehin könnte es sich nur um äußerst seltene Ausnahmen handeln (zB um eine restriktive Interpretation des Schutzbereichs der Menschenwürde). Die Zuordnung der allgemeinen Schrankenbestimmung des Art 52 I GRCh zu den in Absatz 2 und 3 getroffenen Regelungen (Rn 88 f ) ist umstritten. Teilweise werden die Schrankenbestimmungen der in den Verträgen (außerhalb der Charta) geregelten Rechte sowie die Schrankenbestimmungen der EMRK als leges speciales mit Art 52 I GRCh ver-

288 289 290 291 292 293

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Vgl EuGH, NVwZ 2014, 435 ff Rn 32 – Schwarz. Vgl auch Jarass GR, § 6 Rn 23. Ausf zur Schrankendogmatik Kober (Fn 159) S 192 ff. Vgl Winkler (Fn 130), S 248; Frenz GR Rn 498 f; Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 52 Rn 14. Vgl auch → § 2 Rn 72. Zur Rechtsfigur des kollidierenden Verfassungsrechts als immanente Grundrechtschranke der deutschen Grundrechte vgl Pieroth ua (Fn 279) Rn 327 ff.

Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte

§ 14 VIII 4

drängender Wirkung angesehen.294 Nach aA wird Art 52 I GRCh nur modifiziert.295 Die unterschiedliche dogmatische Einstufung dürfte sich idR nicht auswirken. Da Grundrechtseinschränkungen stets an der Wesensgehaltsgarantie und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen sind und Art 52 I GRCh dies ausdrücklich vorschreibt, liegt es näher, von einer bloßen Modifizierung der Vorschrift (statt einer völligen Verdrängung) auszugehen.296 Somit müssen zur Gewährung weitergehenden Grundrechtsschutzes iSv Art 52 III 2 GRCh neben den Schrankenregelungen iSd Art 52 I GRCh die spezifischen Einschränkungsvorbehalte der EMRK-Rechte kumulativ (als Rechtserkenntnisquellen) zur Anwendung gelangen.297 Die Best des Art 52 IV u VI GRCh stellen nur Auslegungsregeln dar. Soweit die Charta-Grundrechte auf das Unionsrecht und/oder die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verweisen, geht es um Maßstäbe, die bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu beachten sind (Rn 112). Für die ungeschriebenen Grundrechte iSd Art 6 III EUV (Rn 10 f), gelten die im Wege der Rechtsgewinnung eruierten Schranken. Werden neue Unionsgrundrechte kreiert, müssen mit Ausnahme der vorbehaltslos gewährleisteten Grundrechte die Rechtsgedanken des Art 52 I GRCh berücksichtigt werden. Im Folgenden muss es damit sein Bewenden haben, die formellen (Rn 104) und materiellen (Rn 107) Erfordernisse der allgem Schrankenregelungen sowie die SchrankenSchrankenregelungen (Rn 108 ff ) darzustellen.

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b) Gesetzesvorbehalt Fall 10: (EuGH, Slg 1989, 2859 ff – Hoechst = JK 90, EWGV Art 173/2) Die Hoechst AG hat gem Art 230 IV EGV (heute Art 263 IV AEUV) Nichtigkeitsklage gegen eine von der Kommission auf Art 14 III EWG-KartVO (Sartorius II Nr 165) – heute Art 20 KartellVerfO – gestützte Nachprüfungsentscheidung erhoben, auf deren Grundlage wegen des Verdachts von Kartellabsprachen die Geschäftsräume der Hoechst AG durchsucht werden sollen.

In seiner Hoechst-Entscheidung (Rn 103/Fall 10) hat der EuGH davon gesprochen, dass in allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung jeder natürlichen oder juristischen Person einer „Rechtsgrundlage“ bedürfen und „aus den gesetzlich vorgesehenen Gründen“ gerechtfertigt sein müssen. Das Erfordernis eines solchen Schutzes sei als allgem Grundsatz des Unionsrechts anzuerkennen.298 Damit übereinstimmend schreibt Art 52 I 1 GRCh ausdrücklich vor, dass jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und

294 Vgl Rengeling/Szczekalla GR, Rn 463, 473; Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 5; Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 52 Rn 13, 29; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 31. 295 Vgl insb v Danwitz in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 Rn 30 f; ferner Magiera in: Scheuing (Hrsg) Europäische Verfassungsordnung, 2003, S 117, 125 f; Beutler in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 6 EUV Rn 119; Molthagen Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, 2003, S 170 ff; Jarass GRCh, Art 52 Rn 22 ff; Becker in: Schwarze, EU-Komm Art 52 Rn 3; Schneiders Die Grundrechte der EU und die EMRK, 2010, S 218 ff. 296 AA noch Vorauflage § 14 Rn 66. 297 Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 5; Kingreen, JURA 2014, 295, 299. 298 EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst = JK 93, EMRK Art 8/1 (Fall 10).

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Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein muss (provided for by law/prévue par la loi). Eine Beeinträchtigung der Unionsgrundrechte ist somit nur durch oder aufgrund Gesetzes zulässig, vorausgesetzt, eine Beeinträchtigung kommt überhaupt in Betracht (Rn 98 ff). Welche Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt zu stellen sind, ist bisher noch nicht abschließend geklärt.299 Greift die Union selbst in die Unionsgrundrechte ein, ist eine Ermächtigungsgrundlage in einer EU-VO (Art 288 II AEUV), einer unmittelbar wirkenden Richtlinie300 (Art 288 III AEUV), einem an einen unbestimmten Adressatenkreis gerichteten, außenwirksamen Beschluss (Art 288 IV AEUV) oder – in Ausnahmefällen – eine sich unmittelbar aus dem Vertragsrecht selbst ergebende Befugnis zur Einschränkung der Unionsgrundrechte301 zu fordern. Einzelfallbeschlüsse (Art 288 IV AEUV) reichen ebenso wenig aus wie unverbindliche Empfehlungen und Stellungnahmen (Art 288 V AEUV).302 Im Hinblick auf die demokratischen und rechtsstaatlichen Wurzeln des Gesetzesvorbehalts reichen delegierte Rechtsakte der EU-Kommission iSv Art 290 AEUV dann nicht aus, wenn sie sich nicht hinreichend auf einen die Grundrechtsbeeinträchtigungen legitimierenden Basisrechtsakt des Rates zurückführen lassen (Art 290 I UA 2 AEUV).303 Ferner genügen Durchführungsrechtsakte iSd Art 291 AEUV nicht dem Gesetzesvorbehalt des Art 52 I 1 GRCh.304 Teilweise wird weitergehend verlangt, dass das Parlament – im Wege der Mitentscheidung (Art 294 AEUV), der Zustimmung (zB Art 86 I UA 1 S 2 AEUV) oder jedenfalls der Anhörung (zB Art 188 UA 1 AEUV) – an den Gesetzgebungsverfahren beteiligt gewesen sein muss.305 Eine so weitgehende Vorgabe lässt sich jedoch aus der GRCh nicht herleiten, zumal dann Sekundärrechtsakte auf der Grundlage der Art 103 I, 105 III oder 106 III AEUV nicht ausreichen würden.306 Wohl aber ist vorbehaltlich ausdrücklich abweichender Spezialregelungen anzunehmen, dass je gravierender die Grundrechtsbeeinträchtigung ist, desto eher das Parlament beteiligt gewesen und desto qualifizierter die Beteiligung und die Regelungsdichte ausgefallen sein muss.307 Insofern lässt sich von einer unionsrechtlichen Wesentlichkeitslehre sprechen, die an die Wesentlichkeitsrspr des BVerfG zum Verhältnis von Parlamentsrecht und administrativem Gesetzesrecht308 erinnert.

299 Für die Grundfreiheiten gilt entsprechendes (→ § 7 Rn 109). Näher zum Ganzen Bühler Einschränkung von Grundrechten nach der europäischen Grundrechtecharta, 2005, S 75 ff; Rieckhoff Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007, S 67 ff; Röder Der Gesetzesvorbehalt der Charta der Grundrechte der Union im Lichte einer europäischen Wesentlichkeitstheorie, 2007. 300 Kober (Fn 159), S 194 aA Rieckhoff (Fn 299) S 154 f; zweifelnd Jarass GRCh, Art 52 Rn 27. Entfaltet eine RL keine unmittelbare Wirkung, kommt erst der innerstaatliche Umsetzungsakt als Eingriffsgrundlage in Betracht. 301 Die Unionsgrundrechte können etwa nach Maßgabe der Wettbewerbsregelungen oder der Grundfreiheiten eingeschränkt werden. Grds bedarf das Primärrecht aber auch dann einer „gesetzlichen“ Konkretisierung. Vgl Frenz GR Rn 596 ff. 302 Vgl auch v Danwitz in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 Rn 33. 303 Vgl auch Jarass GR, § 6 Rn 37; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 62. 304 Ebenso Jarass GRCh, Art 52 Rn 27. 305 Näher dazu Rieckhoff (Fn 299) S 93 ff; Röder (Fn 299) S 27 f. 306 Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 25. 307 Vgl auch Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 52 Rn 20 a; Frenz GR Rn 523, 526; Kokott in: Merten/Papier (Fn 19) Bd I, § 22 Rn 28 f. 308 Vgl zB BVerfGE 40, 237, 249 f; 49, 89, 126; 83, 130, 142, 151 f; 95, 267, 307 f; 98, 218, 251 f; 108, 282, 311.

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Mitgliedstaatliche Beschränkungen der Unionsgrundrechte benötigen ebenfalls eine Ermächtigung durch oder aufgrund Gesetzes. Die EMRK überlässt es in einem gewissen Ausmaße den Staaten, darüber zu entscheiden, was unter einem Gesetz zu verstehen ist. So soll in dem Common-Law-Rechtskreis uU ungeschriebenes Recht ausreichen (→ § 2 Rn 76). Ob dies auch für das Unionsrecht gilt, ist nicht zweifelsfrei, im Ergebnis aber gleichwohl anzunehmen. Hierfür spricht auch die Transfer- bzw Kohärenz- oder Konkurrenzklausel des Art 52 III 1 GRCh.309 Verlangt wird nicht ein Gesetz im formellen Sinn (Parlamentsgesetz), sondern im materiellen Sinn (dh regelmäßig eine abstrakt-generelle Regelung). Stets müssen die Schrankenregelungen aus rechtsstaatlichen Gründen aber im innerstaatlichen Rechtskreis als (Außen-)Rechtsnorm angesehen werden,310 allgem zugänglich und so hinreichend bestimmt und vorhersehbar sein, dass die Bürger ihr Verhalten danach einrichten können (→ § 2 Rn 76). Darüber hinaus dürften die im jeweiligen innerstaatlichen Recht für Freiheitsbeschränkungen geltenden Maßstäbe (zB im Hinblick darauf, ob es eines Parlamentsgesetzes bedarf oder ob eine VO oder eine Satzung ausreicht) auch auf die Unionsgrundrechte anzuwenden sein.311 Lösung Fall 10: Bedenken gegen die Zulässigkeit der von der Hoechst AG gem Art 230 IV EGV (heute 263 IV AEUV) erhobenen Nichtigkeitsklage bestehen nicht. Begründet ist die Nichtigkeitsklage, wenn die Entscheidung der Kommission rechtswidrig ist. Das ist der Fall, wenn sie einer wirksamen Rechtsgrundlage entbehrt (1.) oder die wirksame Rechtsgrundlage rechtswidrig angewendet worden ist (2.). 1. Die Entscheidung der Kommission beruht hier auf Art 14 EWG-KartVO (heute Art 20 KartellVerfO), der die Kommission auch zur Durchführung von Durchsuchungen ermächtigt. Eine Überprüfung der VO am Maßstab des Unionsgrundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung (heute Art 7 GRCh) lehnt der EuGH mit der nicht überzeugenden Begründung ab, dass dieses Unionsgrundrecht nicht Geschäftsräume schützt312 (für einen Schutz der Geschäftsräume durch Art 8 EMRK dagegen die spätere Entscheidung des EGMR, NJW 1993, 718, Rn 29 ff – Niemitz). Jedoch sollen wegen entsprechender mitgliedstaatlicher Verfassungsüberlieferungen Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, die Schutz vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen bieten muss. Dies läuft auf die Anerkennung einer allgem Handlungsfreiheit hinaus. Die EWG-KartVO genügte nach Ansicht des EuGH diesen Anforderungen. 2. Da die Kommission Art 14 EWGKartVO (heute Art 20 KartellVerfO) auch grundrechtskonform angewendet hat, wurde die Nichtigkeitsklage zurückgewiesen.

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c) Verfolgung zulässiger Ziele Unionsgrundrechte dürfen nur aus Gründen beschränkt werden, welche „dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“ der Union313 oder „den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer“ tatsächlich entsprechen (Art 52 I 2 GRCh). Dies gilt auch für die Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV. Die Gemeinwohlziele können den Interessen der Allgemeinheit oder auch von Gruppen oder Einzelnen dienen (wie auch die Inbe-

309 310 311 312 313

Im Ergebnis ebenso Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 63. Vgl auch EGMR, EuGRZ 1984, 147, Rn 86 – Silver. Vgl auch Borowsky in: Meyer ChGr, Art 52 Rn 20; → § 2 Rn 76; § 7 Rn 109. Zum Wohnungsbegriff iSd Art 7 GRCh vgl → § 16 Rn 21. Vgl EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 18 – Wachauf; Slg 2000, I-2737, Rn 45 – Karlsson.

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zugnahme auf die Rechte und Freiheiten anderer zeigt).314 Die Gemeinwohlziele müssen in Anbetracht der Wertungen des Unionsrechts als legitim angesehen werden können. Anders als der EuGH oftmals bei den Grundfreiheiten betont (→ § 7 Rn 118), muss es sich nicht unbedingt um „zwingende“ Erfordernisse handeln. Da das Merkmal „zwingend“ jedoch mit dem Allgemeininteresse – und damit dem Gemeinwohl – gleichgesetzt wird, ergeben sich daraus in der Sache kaum Unterschiede.315 Das Abstellen auf die Zielsetzungen der EU bedeutet nicht, dass nur Aufgaben respektive Ziele der Union iSd Art 3 EUV verfolgt werden dürfen. Vielmehr kann es sich um sonstige Gemeinwohlinteressen handeln, die durch andere Vertragsbestimmungen (wie zB Art 4 II, 36, 101 f, 169 oder 346 AEUV316), das primärrechtkonforme Sekundärrecht317, das zwingende Völkerrecht (Rn 35) oder die mit internationalen Übereinkommen iSd Art 216 AEUV verfolgten Zielsetzungen geschützt werden. Soweit die Charta-Rechte auf das Unionsrecht sowie die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (Art 52 VI GRCh) verweisen (Rn 91), ergeben sich aus diesen Zielsetzungen für Einschränkungen. Hierzu gehören etwa die Belange des Gesundheitsschutzes (Art 35 S 2 GRCh) und des Umweltschutzes (Art 36 GRCh). Nichts anderes gilt für die in der GRCh positivierten Grundsätze (Art 52 V GRCh). Von großer Bedeutung sind ferner die zahlreichen in den Schrankentatbeständen der EMRK genannten Schutzgüter. Bestimmt sich der Grundrechtsschutz nach den Regeln der EMRK (Art 52 III GRCh), dürfen Einschränkungen nur zu den in den Schrankenbestimmungen vorgesehenen Zwecken erfolgen (Art 18 EMRK). Soweit die EU tätig wird, darf sie aber nur die ihr übertragenen Aufgaben wahrnehmen.318 Bei den Rechten und Freiheiten anderer handelt es sich um die kollidierenden Unionsgrundrechte319, die als Schranke (in seltenen Fällen als immanente Begrenzungen der Grundrechte320), fungieren. Die Mitgliedstaaten können sich ebenfalls auf die vom Unionsrecht anerkannten Gemeinwohlgründe sowie Rechte und Freiheiten anderer berufen, sind aber in diesem Rahmen befugt, selbständig ihre Interessen zu bestimmen.321 d) Schranken-Schranken 108

Dürfen die Unionsgrundrechte beschränkt werden, unterliegen die Schranken ihrerseits Gegenschranken. Als solche kommen die Wesensgehaltsgarantie, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie die Grundfreiheiten und sonstigen Primärrechtsbestimmungen in Betracht. aa) Wesensgehaltsgarantie

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Gem Art 52 I 1 GRCh muss jede Einschränkung der Ausübung der Charta-Rechte und Freiheiten den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Dies entspricht auch 314 315 316 317 318 319

Allgem zum Gemeinwohlerfordernis Ehlers in: Erichsen/ders (Fn 21) § 1 Rn 34 ff. Vgl auch Becker in: Schwarze EU-Komm, Art 52 Rn 5. Vgl Erläuterungen zu Art 52 GRCh. Jarass GRCh Art 52 Rn 31. Art 5 II, 6 I UA 2 EUV, 51 I 2 GRCh. Vgl a Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 28. Für einen Beispielsfall (Zuordnung der Rechte am geistigen Eigentum, Art 17 II GRCh und der unternehmerischen Freiheit Art 16 GRCh, vgl EuGH EuZW 2012, 261, Rn 41 ff – Belgische Vereiniging van Auteurs). 320 Vgl Rn 107. 321 Vgl näher zum Ganzen Bühler (Fn 299) S 235 ff.

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der Rspr des EuGH vor Inkrafttreten der Charta, gilt also auch für die Grundrechte iSd Art 6 III EUV322 und ebenso für die Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 125). Der EuGH hat etwa den Umgang eines leiblichen Vaters mit seinem Kind als zum Wesensgehalt des Art 24 III GRCh gehörend angesehen323 und die Ausweisung eines EU-Ausländers ohne weitere Prüfung als Verletzung der Wesensgehaltsgarantie des Art 18 EGV (heute 21 AEUV324) gewertet. Nicht in den Wesensgehalt von Art 7 und 8 GRCh fallen soll dagegen die Speicherung von Daten, auch wenn aus ihnen ein Persönlichkeitsprofil erstellt werden kann, solange nicht der Inhalt der Kommunikation gespeichert wird.325 Ob nur ein generellabsoluter Grundrechtskern oder auch ein individueller (auf den einzelnen Grundrechtsinhaber bezogener) und relativer (im Einzelfall zu ermittelnder) geschützt werden soll, ist bisher nicht hinreichend klar geworden. Vielfach wird Ersteres angenommen.326 Gewahrt ist die Wesensgehaltsgarantie bei Zugrundelegung dieses Verständnisses bereits dann, wenn die Grundrechtsnorm allgemein im Wesentlichen erhalten bleibt. Der Wesensgehaltsgarantie kommt in diesem Falle – ähnlich wie im deutschen Recht – nur noch geringe Bedeutung (neben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) zu. Wegen des Aufgehens in die Verhältnismäßigkeitsprüfung verliert sie vollständig ihre eigene Funktion, wenn man in ihr lediglich eine individuell im Einzelfall zu ermittelnde Kerngehaltsschranke sieht.327 Nach einem Ausspruch des Vorsitzenden der mit der Erarbeitung einer Charta beauftragten Grundrechtskonvents (Herzog), soll die Wesengehaltsgarantie schwierig zu bestimmen sein und deshalb nicht viel nützen, aber auch nicht schaden.328 bb) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Fall 11: (EuGH, EuZW 2013, 347 = JK 2014, AEUV 267/1 – Sky Österreich) Nach Art 15 der RL 2010/65/EG (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass jeder Fernsehveranstalter, der in der EU niedergelassen ist, zum Zwecke der Kurzberichterstattung einen fairen, angemessenen und diskriminierungsfreien Zugang zu Ereignissen hat, die von großem öffentlichen Interesse sind und die von einem der Rechtshoheit der Mitgliedstaaten unterworfenen Fernsehveranstalter exklusiv übertragen werden. Wird eine Kostenerstattung vorgesehen, darf diese nach Abs 6 der RL die unmittelbar mit der Gewährung des Zugangs verbundenen zusätzlichen Kosten nicht übersteigen. Sky Österreich GmbH hat die Exklusivrechte für die Ausstrahlung von Sportveranstaltungen erworben. Die GmbH wendet sich gegen die Verpflichtung, dem österreichischen Rundfunk (ORF) ein Kurzberichterstattungsrecht einzuräumen ohne Anspruch auf ein Entgelt zu haben.

322 Vgl zB EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 18 – Wachauf; Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Slg 2000, I-2737, Rn 58 – Karlsson; ferner Erläuterungen zu Art 51 GRCh. 323 EuGH, DÖV 2010, 1025, Rn 55 – McB. 324 EuGH, Slg 2006, I-2647 Rn 68 – Kommission/Belgien. 325 EuGH, C 293/12, Urt v 8.4.2014 – Digital Rights Ireland und C 549/12 – Seitlinger (Vorratsdatenspeicherung). 326 Vgl Rengeling/Szczekalla § 7 Rn 445 ff; Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 7 Rn 49 ff. 327 Vgl auch Becker in: Schwarze EU-Komm, Art 52 GRCh Rn 7. Näher dazu Schildknecht Grundrechtsschranken in der Europäischen Gemeinschaft, 2000, S 91 ff. 328 Vgl Bernsdorff/Borowsky DRiZ 2005, 188, 235.

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Fall 12: (EuGH, Slg 1994, I-4973 – Deutschland/Rat) Die (frühere) Bananenmarkt-VO hat die Einführung von Bananen aus Drittstaaten in die EU drastisch reduziert (vgl auch Fall 4). Ein Einführer von Drittlandbananen möchte wissen, ob dadurch seine Unionsgrundrechte des Eigentums (heute Art 17 GRCh) und der unternehmerischen Freiheit (heute Art 16 GRCh) verletzt werden.

Die Verhältnismäßigkeitskontrolle gehört zum „Kernstück“329 jeder Rechtfertigungsprüfung von Grundrechtsbeeinträchtigungen. Dies gilt für die Unionsgrundrechte ebenso wie für die EMRK (→ § 2 Rn 79 ff), die Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 126 ff) und die nationalen Grundrechte330. Art 52 I 2 GRCh verlangt, dass Einschränkungen unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehörte schon vor Inkrafttreten der Charta zu den in stRspr anerkannten allgemeinen Grundsätzen des Unionsgrundrechts331 und gilt somit nicht nur für die Charta-Rechte, sondern auch für die ungeschriebenen Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV. Verhältnismäßig (im weiteren Sinne) ist ein Grundrechtseingriff, wenn ein als solches zulässiges Mittel eingesetzt wird und dieses geeignet, erforderlich und angemessen für die Verwirklichung der mit ihm zulässigerweise angestrebten Zielsetzungen ist: dh der Verwirklichung der Zielsetzung dient, das am wenigsten belastende Mittel darstellt und auf einem gerechten Ausgleich zwischen den Gemeinwohlerfordernissen bzw den Rechten und Freiheiten anderer sowie den geschützten Belangen des Grundrechtsträgers beruht (näher zu den Einzelheiten → § 2 Rn 80; → § 7 Rn 130). Art 5 IV EUV und 52 I 2 GRCh nennen zwar ausdrücklich nur die Erforderlichkeit (necessary/nécessaire). Doch sind die anderen Elemente bereits Bestandteil des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes selbst. Auch setzt die Erforderlichkeit geeignete Maßnahmen voraus. Ferner entspricht eine Einschränkung der Unionsgrundrechte nur dann „tatsächlich“ (Art 52 I 2 GRCh) der verfolgten Zielsetzung, wenn sie sich zur Verwirklichung dieser Zielsetzung eignet.332 Des Weiteren erwähnen die Protokolle über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ebenfalls die Angemessenheit (wenn auch nur unter einem speziellen Gesichtspunkt).333 Ferner kann eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auf eine Abwägung der Nachteile zu dem erstrebten Erfolg nicht verzichten. Dies wird im Grundsatz auch vom EuGH anerkannt. Danach sind Maßnahmen nur rechtmäßig, wenn sie zur Erreichung der zulässigerweise mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maß-

329 Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 27. 330 Sachs in: ders (Fn 118) Art 20 Rn 145 ff. 331 Vgl etwa EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 18 – Wachauf; Slg 1994, I-4973, Rn 90 ff – Deutschland/ Rat = JK 94, EWGV Art 186/2; Slg 2000, I-2737, Rn 45 – Karlsson. Näher zum Verhältnismäßigkeitsprinzip des Unionsrechts und zur Rspr des EuGHs Tridimas (Fn 16) S 141 f; Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000; Koch Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003; v Danwitz EWS 2003, 393 ff. 332 Vgl auch v Danwitz in: Grabenwarter (Fn 27) § 6 Rn 67. 333 Vgl Nr 7 des Protokolls von 1997 und Art 5 des gleichnamigen Protokolls zum EUV und zum AEUV.

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nahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen334. Ferner müssen die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.335 Lösung Fall 11: Der EuGH hat angenommen, dass sich der Inhaber exklusiver Fernsehübertragungsrechte für Ereignisse von großem öffentlichen Interesse nicht auf den Schutz durch Art 17 I GRCh berufen kann, weil er noch keine geschützte gesicherte Rechtsposition erlangt habe. Wohl aber werde die unternehmerische Freiheit iSd Art 16 GRCh beeinträchtigt, weil der Inhaber exklusiver Fernsehübertragungsrechte nicht frei wählen kann, mit welchen Fernsehveranstaltern er eine Vereinbarung über die Einräumung eines Kurzberichterstattungsrechts schließt. Die unternehmerische Freiheit gelte jedoch nicht schrankenlos. Angesichts des Wortlauts des Art 16 GRCh, der sich von den anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten unterscheide (mit der Bezugnahme auf das Unionsrecht und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten), könne die unternehmerische Freiheit einer Vielzahl von Eingriffen der öffentlichen Gewalt unterworfen werden, die im allgemeinen Interesse die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken könnten. Die gesetzliche Grundlage war in Österreich vorhanden. Doch müsste der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt worden sein. Insoweit stellt der EuGH zunächst fest, dass der Wesensgehalt der unternehmerischen Freiheit nicht angetastet wird, weil der Inhaber exklusiver Fernsehübertragungsrechte an der Ausübung der unternehmerischen Tätigkeit als solcher nicht gehindert werde. Im Übrigen dürften die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Errichtung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Zwecke geeignet und erforderlich ist, wobei zu beachten sei, dass dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen sei und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen düften. Eine exklusive Vermarktung von Ereignissen von großem öffentlichen Interesse sei geeignet, den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen erheblich einzuschränken. Die RL ziele darauf ab, dass durch Art 11 I GRCh garantierte Grundrecht auf Information zu wahren und den durch Art 11 II GRCh geschützten Pluralismus durch die Vielfalt der Nachrichtenprogramme zu fördern. Dies stelle „unbestreitbar“ ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel dar. Das Recht zur Kurzberichterstattung sei auch zur Erreichung des angestrebten Ziels, die Öffentlichkeit über exklusiv vermarktete Ereignisse von großem Interesse zu informieren, geeignet. Was die Erforderlichkeit angehe, habe zwar „sicherlich“ eine Kostenerstattung vorgesehen werden können, welche die unmittelbar mit der Gewährung des Zugangs zum Signal verbundenen zusätzlichen Kosten übersteigt, um die Fernsehveranstalter, die Kurzberichte senden, an den Kosten für den Erwerb dieser Exklusivrechte zu beteiligen. Doch habe durch eine solche weniger belastende Regelung die Erreichung des verfolgten Ziels nicht genauso wirksam sichergestellt werden können, weil die Kostenbelastung Fernsehveranstalter davon abgehalten hätte, zum Zweck der Kurzberichterstattung um Zugang zu ersuchen. Schließlich prüft der EuGH, ob die Anforderungen angemessen zum Ausgleich gebracht worden sind, die sich aus dem Grundrecht auf Information einerseits und der unternehmerischen Freiheit andererseits ergeben. Dies wird im Ergebnis bejaht, insbesondere weil die Kurzberichterstattung ausschließlich im Rahmen allgemeiner Nachrichtensendunden erfolgen und nicht länger als 90 Sekunden dauern dürfe.

334 Vgl zB EuGH, C 293/12, Urt v 8.4.2014 – Digital Rights Ireland u C 594/12 – Seitlinger (Vorratsdatenspeicherung); s auch unten Rn 117. 335 So (zB) EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 21 – Schräder. Vgl auch EuGH Slg 1990, I-4023 Rn 13 – Fedesa; Slg 2001, I-5689 Rn 81 – Jippes; Slg 2006, I-7285 Rn 97 – Spanien/Rat.

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Dessen ungeachtet hat der EuGH in der Vergangenheit oftmals zu Unrecht nicht alle Komponenten der Verhältnismäßigkeit geprüft.336 Häufig ist nur kontrolliert worden, ob die ergriffenen Maßnahmen zur Verwirklichung der verfolgten Ziele geeignet sind. Vor allem unterbleibt vielfach eine Angemessenheitsprüfung.337 Soweit doch auf die Erforderlichkeit und Angemessenheit eingegangen wurde, verschwimmt teilweise die klare Zuordnung zu diesen Stufen der Verhältnismäßigkeit.338 Falls Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes berücksichtigt wurden, geschah dies idR selbständig und nicht im Rahmen der Angemessenheitsprüfung.339 Auch lässt es der EuGH zumeist bei einer abstrakten Bewertung der Interessen bewenden, ohne die individuelle Zumutbarkeit einzubeziehen.340 Die eher kursorische341 Prüfung der Kontrollmaßstäbe ging nicht selten mit einer weitgehenden Zurücknahme der Kontrolldichte einher342, weil nur dann darauf abgestellt wurde, ob eine Maßnahme offensichtlich ungeeignet343, die Beurteilung des Unionsgesetzgebers offensichtlich irrig344 oder eine Maßnahme offensichlich unverhältnismäßig ist345. Zwar ist nicht zu beanstanden, wenn im Unionsrecht nicht die zT überaus strengen Maßstäbe der in Deutschland gängigen Verhältnismäßigkeitsprüfung zugrunde gelegt werden, weil die Gestaltungsspielräume des (aus Vertretern der Mitgliedstaaten bestehenden) Unionsgesetzgebers und der Verwaltung nicht über Gebühr verkürzt werden dürfen (vgl auch → § 7 Rn 132) und auch der EGMR weite Beurteilungsräume anerkennt (→ § 2 Rn 80). Dennoch ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Vergangenheit bei der Grundrechtsprüfung unzureichend beachtet worden. Doch zeichnet sich eine (vorsichtige) Trendwende ab, weil verschiedene neuere Gerichtsentscheidungen tiefer gehende Verhältnismäßigkeitsprüfungen anstellen. So hat der EuGH im Jahre 2014 die Ungültigkeit der Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten wegen ihrer Unvereinbarkeit mit Art 7 und 8 GRCh festgestellt, weil es sich um einen Eingriff in großem Ausmaß und von besonderer Schwere in die betroffenen Grundrechte handelt, ohne dass gewährleistet ist, dass sich der Eingriff auf das absolut Notwendige beschränkt346 (vgl ferner auch Fall 2). Dazu beitragen dürfte die allgemeine Aufwertung der Unionsgrundrechte durch die GRCh, die damit einhergehende ausdrückliche Bindung an den Verhältnismäßigkeits336 Krit dazu Nettesheim EuZW 1995, 106 f; Huber EuZW 1997, 517, 521; Stein EuZW 1998, 261, 262; Pache EuR 2001, 475, 488 f; v Danwitz EWS 2003, 393, 394 ff; ders in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 GRCh Rn 19 f, 39 ff; Frenz GR Rn 627 ff. Vgl demgegenüber aber auch Kischel EuR 2000, 380, 398 ff; v Bogdandy JZ 2001, 157, 161 ff. 337 Vgl demgegenüber aber EuGH, Slg 2002, I-6279 Rn 42 – Carpenter; Slg 2003, I-5659 Rn 79 – Schmidberger; Slg 2004, I-5257 Rn 99 – Orfanopoulos. 338 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 69. Vgl für die Grundfreiheiten auch → § 7 Rn 132. 339 Frenz GR Rn 3012 ff. 340 Emmerich-Fritsche (Fn 331) S 216. Vgl aber auch EuGH, Slg 2003, I-5659 Rn 81 – Schmidberger (sämtliche Umstände des jeweiligen Einzelfalls); Slg 2010, I-4999 Rn 48 – Vodafone. 341 Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 30. 342 Vgl statt vieler v Danwitz in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 Rn 19. 343 EuGH, Slg 1989, 2237 Rn 20 ff – Schräder; Slg 1990, I-4023, Rn 13 ff – Fedesa; Slg 1996, I-795 Rn 31 – Frankreich/Kommission; Slg 2010, I-4999 Rn 52 – Vodafone. 344 EuGH, Slg 1994, I-4973 Rn 90 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2 (Fall 12). 345 EuGH, Slg 1994, I-5555 Rn 28 – Winzersekt; Slg 1995, I-3115 Rn 58 – Fishermen’s Organisations. 346 Vgl zB EuGH, C 293/12, Urt v 8.4.2014 – Digital Rights Ireland u Urt v 4.4.20134, C 592/12 – Seitlinger (Vorratsdatenspeicherung).

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grundsatz (Art 52 I 2 GRCh) sowie der Umstand, dass die Unionsgerichte nach Beitritt der EU zur EMRK (Rn 33) bei einer allzu „laschen“ Verhältnismäßigkeitsprüfung künftig damit rechnen müssen, vom EGMR korrigiert zu werden. Lösung Fall 12: Einen Eingriff in das Eigentumsrecht (heute Art 17 GRCh) verneint der EuGH, weil kein Wirtschaftsteilnehmer ein Eigentumsrecht an einen Marktanteil geltend machen könne. Der Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit (heute unternehmerische Freiheit gem Art 16 GRCh) diene Gemeinwohlzielen347 und sei deshalb verhältnismäßig, weil die Maßnahme zur Erreichung der agrarpolitischen Zielsetzung nicht „offensichtlich“ ungeeignet sei. Zwar lasse sich nicht ausschließen, dass das verfolgte Ziel durch weniger einschneidende Maßnahmen hätte erreicht werden können. Der EuGH könne jedoch nicht die Beurteilung des Rates in der Frage, ob die vom Unionsgesetzgeber gewählten Maßnahmen mehr oder weniger angemessen sind, durch eine eigene Beurteilung ersetzen, wenn nicht der Beweis erbracht werde, dass diese Maßnahmen zur Verwirklichung des verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet sind. Der Nachweis einer „offensichtlich irrige(n) Beurteilung“ des Gemeinschaftsgesetzgebers (heute Unionsgesetzgeber) sei dem Kl nicht gelungen. Daher greife die Rüge einer Verletzung des Rechts auf freie Berufsausübung (unternehmerische Tätigkeit) und der Nichteinhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht durch. Eine so oberflächliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit genügt jedenfalls heute nicht mehr den Anforderungen.

Im Einzelnen sind folgende Abwägungsgesichtspunkte hervorzuheben: In ähnlicher Weise wie bei den Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 130) hängt die Geeignetheit einer Maßnahme (insbesondere bei Gestaltungsspielräumen und der Prüfung der Gleichheitsverletzung) auch davon ab, ob die legitimen Zielsetzungen in kohärenter und systematischer Weise verfolgt werden.348 Die Erforderlichkeit mitgliedstaatlicher Maßnahmen entfällt nicht notwendigerweise schon dann, wenn ein anderer Mitgliedstaat weniger belastende Mittel gewählt hat. Dies prüft der EuGH teilweise auch im Rahmen der Angemessenheit.349 Bei der Prüfung der Angemessenheit ist auch auf den Einzelfall (Rn 114) und die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung abzustellen. Die gerichtliche Kontrolldichte der Verhältnismäßigkeit hängt maßgeblich davon ab, ob ein Gestaltungsspielraum (Beurteilungs- oder Ermessensspielraum) besteht. Ein solcher wird insbesondere angenommen, wenn es um komplexe Sachverhalte bzw Politikbereiche geht oder die Unionsgrundsätze auf das Unionsrecht und/oder die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verweisen (Rn 91, 107).350 Ein Einschätzungs- und Prognosespielraum kommt eher für die Gesetzgeber als für die Verwaltung in Betracht. Außerdem ist die Art des Grundrechtsschutzes von Bedeutung. Unionsgrundrechte, welche die Privatssphäre schützen und eng mit der Würde des Menschen zusammenhängen (wie etwa das Recht auf Leben, Art 2

347 Was im Hinblick auf die Nichtvereinbarkeit der Bananenmarkt-VO mit der WTO fraglich ist, vgl WTO-Panel, EuZW 1999, 431 ff. 348 Vgl auch EuGH, EuZW 2011, 767, Rn 85 – Fuchs; BAG NZA 2011, 1412, Rn 71 – Brachner. 349 Vgl Slg 2004, I-9609 Rn 37 f – Omega; RS 208/09, Rn 91 – Sayn-Wittgenstein; zur Parallelsituation bei den Grundfreiheiten vgl → § 7 Rn 133. 350 Näher zum Ganzen Jarass GRCh, Rn 42 f. Vgl auch Koch (Fn 331) S 527 ff und v Danwitz, Thoughts on Proportionality and Coherence in the Jurisprudence of the Court Justice in: FS Lindh, 2012, S 367, 377.

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GRCh, und die körperliche Unversehrtheit, Art 3 GRCh) erfordern im Falle ihrer Beeinträchtigung eine strengere gerichtliche Überprüfung.351 Ähnliches dürfte für die Unionsgrundrechte anzunehmen sein, die der Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 7 GRCh), dem Schutz personenbezogener Daten (Art 8 GRCh)352, der demokratischen Meinungsbildung (wie die Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, Art 11 GRCh, sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Art 12 GRCh) oder dem Rechtsschutz (Art 47 GRCh) dienen. Dagegen sind die Gestaltungsmöglichkeiten der EU und der Mitgliedstaaten größer, wenn der soziale Bezug größer ist, wie dies etwa auf die unternehmerische Freiheit (Art 16 GRCh) zutrifft. Soweit die Charta-Rechte der EMRK entsprechen, dürften sich die Unionsgerichte trotz der Zulässigkeit eines weitergehenden Schutzes (Art 52 III 2 GRCh) maßgeblich an der EGMR-Rspr orientieren. cc) Grundfreiheiten und sonstige Primärrechtsbestimmungen 118

Wegen der Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung können die Unionsgrundrechte ferner nur dann wirksam eingeschränkt werden, wenn die Maßnahmen auch mit dem sonstigen primären Unionsrecht, insbesondere den Grundfreiheiten (→ § 7), vereinbar sind.

5. Schematische Zusammenfassung 119

Schematisch zusammengefasst sollten die Freiheitsrechte der EU im Regelfall wie folgt geprüft werden: I. Anwendbarkeit des Unionsrechts 1. Handeln der EU (Rn 59) 2. Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten gleichzusetzen mit einem Handeln im Anwendungsbereich des Unionsrechts (Rn 65 ff) 3. Handeln im räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich der Unionsgrundrechte (Rn 82) II. Schutzbereich der Unionsgrundrechte (Rn 87 ff) 1. Sachlicher Schutzbereich a) Betroffenheit eines grundrechtlich geschützten Lebensbereichs oder Rechtsguts (Rn 87) b) Transfer der vertraglich anerkannten Rechte (Art 52 II GRCh) (Rn 88) c) Transfer der EMRK-Rechte (nach Maßgabe des Art 52 III GRCh) (Rn 89) d) Transfer der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art 52 IV GRCh) (Rn 90) e) Beachtung des sonstigen Unionsrechts, des Völkerrechts und der Verfassungen der Mitgliedstaaten (Art 53 GRCh) (Rn 93) f) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Unionsgrundrechte (Art 54 GRCh) (Rn 95) g) Ggf Zuordnung der Unionsgrundrechte im Falle von Konkurrenzen und Kollisionen (Rn 94) 2. Personeller Schutzbereich (Rn 97) Natürliche Personen, Unionsbürger, juristische Personen 351 Vgl auch Jarass GRCh, Art 52 Rn 43 m Rspr-Nachw. 352 Vgl zu Art 7 und 8 GRCh oben Rn 115.

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III. Beeinträchtigung des Schutzbereichs (Rn 98) 1. Eingriffe durch Rechtsakte 2. Eingriffe durch Realakte 3. Eingriffe durch mittelbar-faktische Eingriffe a) Hinreichende Nähe b) Spürbarkeit/Erheblichkeit IV. Rechtfertigung (Rn 99 ff) 1. Erfordernis einer Ermächtigungsgrundlage (Rn 104 ff) a) Im Falle eines Handelns der EU: (1) VOen, RLen, best Beschlüsse (Art 288 II–IV AEUV) (Rn 109) (2) Ggf Beteiligung des Parlaments (3) Hinreichende Regelungsdichte b) Im Falle eines Handelns der Mitgliedstaaten: (1) Gesetzliche Grundlage (2) Außenrechtsnormen, hinreichende Bestimmtheit, Vorhersehbarkeit Für Deutschland: Beachtung des Parlamentsvorbehalts 2. Verfolgung zulässiger Ziele (Rn 107) Gemeinwohlziele sowie Schutz der Rechte und Freiheiten anderer (Art 52 I 2 GRCh) a) Allgem Zielbestimmungen des EU-Rechts b) Schrankenbestimmungen der EMRK (über Art 52 III GRCh) c) Grundsatzbestimmungen der GRCh d) Zielbestimmung des sonstigen Unionsrechts e) Gemeinwohlziele der Mitgliedstaaten und Schutz der Rechte und Freiheiten anderer im Rahmen des Unionsrechts 3. Schranken-Schranken (Rn 108 ff) a) Beachtung der Wesensgehaltsgarantie (Art 52 I 1 GRCh) (Rn 109) b) Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art 52 I 3 GRCh) (Rn 110 ff) (1) Allgem Zulässigkeit des eingesetzten Mittels (2) Geeignetheit des Mittels (3) Erforderlichkeit des Mittels (4) Angemessenheit des Mittels (5) Beachtung von Gestaltungsspielräumen Namentlich nach Maßgabe von Grundsätzen (Art 52 V GRCh) und einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (Art 52 VI GRCh) c) Beachtung der Grundfreiheiten und der sonstigen Primärrechtsbestimmungen (Rn 118)

IX. Rechtsschutz 1. Gerichtlicher Rechtsschutz a) Rechtsschutz durch die Unionsgerichtsbarkeit aa) Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen Gem Art 19 I UA 1 S 2 EUV sichert der Gerichtshof der EU (Gerichtshof, Gericht und Fachgerichte) „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“. Dazu gehört, die Einhaltung der Unionsgrundrechte in Bezug auf die Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts (Art 51 I 1 GRCh) zu kontrollieren. Dies ist aber nur

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im Rahmen der Rechtsmittel möglich, die das Unionsrecht bereitstellt. Eine Verfassungsoder Grundrechtsbeschwerde kennt das Unionsrecht nicht. Rügt der Einzelne, dass eine Maßnahme der Union die Unionsgrundrechte verletzt, kommt eine Nichtigkeitsklage gem Art 263 IV AEUV in Betracht. Voraussetzung ist, dass eine an die natürliche oder juristische Person gerichtete oder sie unmittelbar und individuell betreffende Handlung oder ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter vorliegt, der sie unmittelbar betrifft und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht. Zu den Verordnungen sind keine Gesetzgebungsakte zu rechnen.353 Im Falle eines rechtswidrigen Untätigbleibens der Union (etwa der Missachtung einer grundrechtlichen Schutzpflicht) kann eine Untätigkeitsklage nach Art 265 AEUV erhoben werden, wenn die Union es unterlassen hat, einen anderen Akt als eine Empfehlung oder eine Stellungnahme an die natürliche oder juristische Person zu richten. Dagegen kennt das Unionsrecht bisher keinen allgemeinen Individualrechtsschutz gegen Normen (oder auf Erlass von Normen) sowie keine individuellen Leistungs- und sonstigen Feststellungsklagen.354 Dies ist insofern problematisch, als die Unionsgrundrechte auch unmittelbar durch das Sekundärrecht oder Tertiärrecht (Rn 26 ff) verletzt werden können, von einem Grundrecht iSe subjektiven Rechts (Rn 17) aber nur gesprochen werden kann, wenn die geschützten Interessen gerichtlich geltend gemacht werden können. Als Ausweg verweist der EuGH auf den Rechtsschutz der mitgliedstaatlichen Gerichte.355 Zwar ist es den mitgliedstaatlichen Gerichten nicht gestattet, über die Gültigkeit von Unionsrecht zu befinden. In Betracht kommt aber (jedenfalls in Deutschland) eine auf Nichtanwendung des Sekundär- oder Tertiärrechts gerichtete Feststellungsklage vor den nationalen Verwaltungsgerichten. Hält das Verwaltungsgericht den Sekundäroder Tertiärrechtsakt für primärrechtswidrig, muss es gem Art 267 AEUV den EuGH anrufen, selbst wenn es sich nicht um ein letztinstanzliches Gericht handelt.356 Der EuGH hat dann in dem Vorabentscheidungsverfahren auch über die Gültigkeit des Unionsrechts zu entschieden. Mittelbar lässt sich eine Überprüfung der Einhaltung der Unionsgrundrechte über eine Schadensersatzklage gem Art 268 AEUV erreichen. Zum Zusammenspiel mit dem Rechtsschutz nach der EMRK vgl → § 2 Rn 83 ff. Rügt der Einzelne, dass ein Mitgliedstaat bei der Durchführung des Rechts der Union (Art 51 I 1 GRCh) die Unionsgrundrechte verletzt hat, muss die nationale Gerichtsbarkeit angerufen werden (Rn 123). bb) Rechtsschutzmöglichkeiten der Unionsorgane und Mitgliedstaaten

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Widerspricht das Unionsrecht den Unionsgrundrechten, können die Unionsorgane und Mitgliedstaaten nach Maßgabe des Art 263 II AEUV Nichtigkeitsklage erheben. Ferner kann die EU-Kommission im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens gem Art 258 AEUV die Beachtung der Unionsgrundrechte durch die Mitgliedstaaten bei Durchführung des Unionsrechts durchsetzen. Dieselbe Möglichkeit steht den Mitgliedstaaten gem Art 259 AEUV zu, wenn sie der Auffassung sind, dass andere Mitgliedstaaten gegen Unionsgrundrechte verstoßen haben.

353 EuG, EuZW 2012, 395, Rn 50 – Kanatami; EuGH (GK), EuZW 2014, 22, Rn 52 ff – Kanatami. Vgl dazu Streinz EuZW 2014, 17 ff. 354 Näher dazu Ehlers in: ders/Schoch (Fn 130) § 6 Rn 26, v Danwitz in: Hatje/Müller-Graf (Hrsg) Enzyklopädie Europarecht Bd 1, § 13 Rn 24. 355 Vgl auch EuGH, Slg 2007, I-2271, 2316 f, Rn 38 f – Unibet. 356 Vgl EuGH, Slg 1987, 4199 – Foto-Frost.

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b) Rechtsschutz durch die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit Nach Art 19 I UA 2 schaffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Dies gilt auch im Hinblick auf die Durchsetzung der Unionsgrundrechte. Wird das Unionsrecht in den Mitgliedstaaten durchgeführt (Art 51 I 1 GRCh), kann sich Jedermann mit der Behauptung, dass seine Unionsgrundrechte verletzt worden seien, an die mitgliedstaatlichen Gerichte wenden.357 Die Unionsgrundrechte dürften als öffentlichrechtliche Normen anzusehen oder solchen Normen zumindest gleichzustellen sein,358 so dass idR regelmäßig der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist. Anderes gilt bei Zugrundelegung der deutschen Rspr359 aber, wenn das Rechtsverhältnis, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird, privatrechtlicher Natur ist. Dies ist der Fall, wenn sich die Verwaltung privatrechtlicher Handlungsformen bedient. Die ordentlichen Gerichte sind dann befugt und verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit nach § 13 GVG über die öffentlich-rechtlichen Bindungen (und damit die Unionsgrundrechte) des privatrechtlichen Verwaltungshandelns mitzuentscheiden.360 Greift ein nationales Parlamentsgesetz unmittelbar in die durch die Unionsgrundrechte geschützte Sphäre ein, ist Verfassungsbeschwerde, im Falle untergesetzlicher Normen verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage (gerichtet auf Nichtanwendung der untergesetzlichen Best), zu erheben. Die Gerichte müssen ex officio prüfen, ob nationale Rechtsakte gegen die Unionsgrundrechte verstoßen.361 Sind die Fachgerichte der Meinung, dass das durchzuführende Unionsrecht gegen die Unionsgrundrechte verstößt, müssen sie gem Art 267 AEUV den EuGH anrufen (Rn 120). Dieser entscheidet verbindlich. Zwingende unionsrechtliche Vorgaben unterliegen grundsätzlich keiner Überprüfung am Maßstab der nationalen Grundrechte (Fall 4), es sei denn, die Union hat außerhalb ihrer Kompetenzen gehandelt (Rn 38). Das mitgliedstaatliche Recht darf im Falle eines Verstoßes gegen das vorrangig geltende Unionsrecht (Rn 38 f) einschließlich der Unionsgrundrechte nicht angewendet werden. Die Pflicht zur Nichtanwendung trifft sowohl jedes nationale Gericht als auch jede Verwaltungsbehörde (Rn 51). Prüfungsmaßstab einer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG sind zwar nur die deutschen Grundrechte. Kollidiert ein in die deutschen Grundrechte eingreifendes nationales Parlamentsgesetz aber mit den Unionsgrundrechten, ist wegen der Unanwendbarkeit des Gesetzes zugleich eine Verletzung der deutschen Grundrechte gegeben.362 Eine konkrete Normenkontrolle an das BVerfG gem Art 100 I GG ohne selbstständige Klärung der Unionsrechtslage ist nach der Åkerberg Fransson-Rspr (Fall 6) ebenso unzulässig, wie ein Abstellen auf die Klarheit des Verstoßes gegen die Unionsgrundrechte.363 Kommt sowohl eine Unionsrechts- als auch eine Verfassungswidrigkeit in Betracht, geht das BVerfG nach nationalem Verfassungsrecht unter dem Gesichtspunkt der Entscheidungserheblichkeit

357 358 359 360

Zur Rolle der nationalen Gerichtsbarkeit vgl auch Abs 5 S 2 der Präambel der GRCh. Zu den Grundfreiheiten → § 7 Rn 138. Vgl zB GmS-OGB BGHZ 97, 312, 313 f; GmS-OGB BGHZ 108, 284, 286. Vgl BVerwG NVwZ 2007, 820 ff = JK 2007, VwGO § 40 I 1/37. Näher zum Streitstand Ehlers in: ders/Schoch (Fn 130) § 21 Rn 66 ff. 361 Einschr v Danwitz in: Grabenwarter (Fn 27) § 6 Rn 24. 362 Weitergehend Griebel DVBl 2014, 204 ff (der für eine Anwendungserweiterung des Art 93 I Nr 4a GG und eine Anerkennung der GRCh als unmittelbarer Prüfungsmaßstab der VB plädiert). 363 Vgl auch EuGH, Slg 2010, I-5665, Rn 53 ff – Melki u Abdeli.

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davon aus, dass eine Vorlage nach Art 100 I 1 GG an das BVerfG unzulässig ist, wenn das vorliegende Gericht nicht geklärt hat, ob das von ihm als verfassungswidrig beurteilte Gesetz in Umsetzung eines dem nationalen Gesetzgeber durch das Unionsrecht verbleibenden Gestaltungsspielraum ergangen ist. Das vorliegende Gericht muss hierfür jedenfalls ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 I AEUV einleiten, unabhängig davon, ob es ein letztinstantliches Gericht ist.364 Für den vorläufigen Rechtsschutz bestehen Besonderheiten (Rn 50). Auch dann bedarf es bei der Gewährung von Rechtsschutz wegen angenommener Ungültigkeit des Unionsrechts stets einer Vorlage an den EuGH. Gibt es Zweifel über die Auslegung des Unionsgrundrechts, können die Fachgerichte den EuGH nach Art 267 I lit a, II AEUV anrufen. Die letztinstanzlich entscheidenden Gerichte sind gem Art 267 III AEUV dazu verpflichtet. Anderes gilt, wenn die Rechtsfrage in einem gleichgelagerten Fall dem EuGH vorgelegt und entschieden worden ist, eine gesicherte Rspr des EuGH existiert oder die richtige Anwendung des Unionsrechts offenkundig ist (sog acte-clair-Doktrin).365 Der Rechtsschutzsuchende kann eine Vorlage anregen, aber nicht erzwingen. Kommt ein nationales Gericht der sich aus Art 267 AEUV ergebenden Verpflichtung nicht nach, stellt dies nicht nur eine Vertragsverletzung, sondern auch einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (nach Art 101 I 2 GG) dar366, der in Deutschland (anders als in den meisten anderen Mitgliedsstaaten) mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann.367 Das BVerfG prüft jedoch in st Rspr nur, ob die Zuständigkeitsregelung in unhaltbarer Weise gehandhabt wurde. Hierbei stellen die beiden Senate des BVerfG unterschiedliche Anforderungen. Während sich der Zweite Senat mit einer Willkürprüfung begnügt368, stellt der Erste Senat auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Handhabung der Vorlagepflicht nach Art 267 III AEUV ab.369 Ob dies dem unionsrechtlichen Effektivitätsgebot gerecht wird, ist sehr zweifelhaft.370 Nach der hier vertretenen Auffassung ist eine VB auch nicht wegen Missachtung des Grundsatzes der Subsidiarität unzulässig, wenn der Rechtsschutzsuchende das letztinstanzliche Gericht nicht auf die Vorlage an den EuGH hingewiesen hat.371 Rechtspolitisch spricht vieles dafür, einen einfachgesetzlichen Rechtsbehelf zur Durchsetzung der Vorlagepflicht in Gestalt eines Antragsrechts und eine Nichtvorlageregel einzu-

364 BVerfGE 129, 186, 198 ff. 365 Vgl Calliess NJW 2013, 1905, 1906; zur acte claire-Rspr EuGH, Slg 1963, 63, 81 – Costa; Slg 1982, 3415 Fn 16 – CILFIT; Slg 2005, I-8151 – International Transport. Zur Ablehnung einer Überprüfung der Vorlagefrage durch den EuGH, wenn offensichtlich ist, dass die von einem nationalen Gericht erbetene Auslegung des EU-Rechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangs des Rechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder der EuGH nicht über die notwendigen tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt vgl Borchardt EU, § 6 Rn 727. Zum vereinfachten Verfahren vgl Art 104 VerfO/EuGH zum beschleunigten Verfahren Art 104a VerfO/EuGH. 366 St Rspr seit BVerfGE 73, 339, 366 ff. Zu einem möglichen Verstoß gegen Art 19 IV GG oder das materielle Grundrechte BVerfGE 118, 79, 97 – Treibhausgasemissionsberechtigungen. 367 Näher zum Ganzen Thiemann JURA 2012, 902, 910, 912; Betz Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht, 2013. 368 BVerfGE 126, 286. 369 BVerfGE 128, 157. 370 Vgl Ehlers in: ders/Schoch (Fn 130) § 6 Rn 18 mwN. 371 AA aber BVerfG EuR 2008, 558; krit Terhechte EuR 2008, 567 ff.

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führen.372 Eine eigene Vorlage des BVerfG an den EuGH ist geboten, wenn kein fachgerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung steht (wie bei Verfassungsbeschwerden gegen unmittelbar in die Grundrechte eingreifende Parlamentsgesetze). Bislang hat das BVerfG den EuGH erst einmal angerufen (allerdings in einem Verfahren, in dem es nicht um die Unionsgrundrechte, sondern eine Ultra-vires-Kontrolle ging).373 Verstöße der nationalen Stellen (einschließlich der Gerichte) gegen die Unionsgrundrechte und die Best des Art 267 AEUV können eine Haftung wegen Verletzung des Unionsrechts nach sich ziehen.374 Soweit die nationalen Grundrechte neben den Unionsgrundrechten Anwendung finden oder gem Art 53 GRCh über diese hinausgehen, richtet sich der Rechtsschutz allein nach dem nationalen Recht.

2. Weitere Formen des Schutzes der Unionsgrundrechte Neben der Unionsgerichtsbarkeit sind die EU-Kommission (Art 17 EUV), das Europäische Parlament (Art 15 EUV), der Rat (Art 16 EUV) sowie die sonstigen Einrichtungen und Stellen der Union (insbes auch ihre Agenturen) verpflichtet, auf die Einhaltung der Unionsgrundrechte zu achten. Die Kommission hat eine Strategie zur wirksamen Umsetzung der GRCh entworfen, die ua eine Grundrechts-Checkliste (Rn 83) für die Maßnahmen der Kommission (insbes vor und während des Gesetzgebungsverfahrens) und einen jährlichen Bericht über die Anwendung der Charta vorsieht.375 Ferner wurde im Jahre 2007 eine Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA, European Agency for Fundamental Rights) ins Leben gerufen. Ziel der Agentur soll es sein, den relevanten Organen, Einrichtungen, Ämtern und Agenturen der Union und ihren Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts in Bezug auf die Unionsgrundrechte Unterstützung zu gewähren und ihnen Fachkenntnisse bereitzustellen, um ihnen die uneingeschränkte Achtung der Unionsgrundrechte zu erleichtern, wenn sie in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich Maßnahmen einleiten oder Aktionen festlegen.376 Zudem soll die unabhängige Agentur mit nichtstaatlichen Organisationen zusammenarbeiten. Das Europäische Parlament kann – ebenso wie der Europäische Bürgerbeauftragte (Art 43 GRCh) – insbes auf Petitionen reagieren, mit denen Bürger eine Verletzung der Unionsgrundrechte rügen. Im Falle einer schwerwiegenden Verletzung der Werte der Union durch einen Mitgliedstaat kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit nach vorheriger Beteiligung der anderen Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen (Art 7 EUV/354 AEUV). Zu diesen Verletzungen gehören auch und gerade die Zuwiderhandlungen gegen die Unionsgrundrechte.377 Beachtet werden müssen die

372 Vgl Rabe, FS Redeker, 1993, S 201, 206; Gundel EWS 2004, 8, 13 f; Schröder EuR 2011, 808, 826 f. 373 BVerfG JZ 2014, 341 ff; krit Heun, JZ 2014, 331 ff. 374 Vgl zu den Haftungsgrundlagen EuGH, Slg 1991, I-5357 – Francovich; Slg 1996, I-1029 – Brasserie du Pêcheur; Jarass GRCh, Einl Rn 70; Ehlers in: ders/Schoch (Fn 130) § 6 Rn 18. 375 KOM 2010, 573, S 6. 376 Art 2 VO (EG) Nr 168/2007; krit zur Beschränkung der Zuständigkeit auf den Durchführungsbereich des Unionsrechts Kingreen JURA 2014, 295, 304. 377 Vgl Jarass GRCh, Einl Rn 74.

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Unionsgrundrechte auch im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, wobei es maßgeblich auf die handelnden Instanzen ankommt, weil der Gerichtshof von dem in Art 275 II AEUV genannten Fall abgesehen nach Abs 1 der Vorschrift keine Zuständigkeit zur Überprüfung der Maßnahmen besitzt. Im Übrigen kommt es wegen der Mehrfachzuständigkeiten für den Europäischen Grundrechtsschutz häufig zu Überschneidungen (auch mit den Kompetenzen des Europarates)378.

378 Vgl Art 1 lit a der Satzung des Europarates (Sart II Nr 110). Näher zum Ganzen auch v Bogdandy in: Merten/Papier (Fn 19) Band VI/1, § 166.

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§ 15 Würde des Menschen Frank Schorkopf Der Schutz der Würde des Menschen steht exemplarisch für die Eigentümlichkeiten in der dogmatischen Entwicklung und Differenzierung des europäischen gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes. Die Würde des Menschen, zu der die Europäische Grundrechtecharta systematisch auch die Rechte auf Leben und Unversehrtheit sowie die Verbote der Todesstrafe, der Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit zählt (Art 1–5 GRCh), ist als Rechtssatz erst in neuerer Zeit – befördert durch die Ausarbeitung der Charta – im EURecht berücksichtigt worden. In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass insb Rechtsakte verstärkt auf die Menschenwürde auch als Tatbestandsmerkmal Bezug nehmen. Als Bezugspunkt für die häufig beschworene europäische Wertegemeinschaft1 ist die Menschenwürde seit längerem Grundstein der Rechtsgemeinschaft „Europäische Union“. Nach dem Vertrag von Lissabon steht die „Achtung der Menschenwürde“ ausdrücklich an erster Stelle der Werte, auf die sich die Union gründet (Art 2 EUV), mit der Folge, dass sich auch die Ziele der Union an deren Förderung maßgeblich ausrichten sollen (Art 3 I EUV). Die Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union folgt weiterhin primär den Sachverhaltsgestaltungen, die der EuGH zu entscheiden hat. Dementsprechend ist der grundrechtliche Gewährleistungsumfang fallbezogen. Die Fortentwicklung und Ausdifferenzierung des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes bedarf entsprechender grundrechtsrelevanter Sachverhalte. In den Bereichen, die die Charta im ersten Kapitel zusammenfasst, hatte der Gerichtshof bislang nur wenige Gelegenheiten, sich zu den Gewährleistungen zu äußern. Dabei scheint sich wegen der konkreten Bezugnahmen auf die entsprechenden Vorschriften der EMRK und die Rechtsprechungspraxis des EGMR die These zu bestätigen, dass eine grundsätzliche Konkordanz zwischen dem jeweiligen Schutzbereichsumfang in beiden Grundrechtsordnungen besteht. In einem fallorientierten, auf Leitentscheidungen beruhenden System, in dem es auch bewusste Differenzierungen zur Konventionspraxis gibt,2 bleibt es prinzipiell schwierig, sich bei der Darstellung der geltenden Grundrechtsstandards vom Einzelfall zu lösen. Wenn diese Unsicherheit in Bezug auf den geltenden Gewährleistungsumfang durch die Aufwertung der Grundrechtecharta zu einem rechtsverbindlichen Grundrechtskatalog beseitigt werden kann (s Art 53 GRCh), dann sicherlich in dem Abschnitt des europäischen Grundrechtekanons, der mit der „Würde des Menschen“ überschrieben ist.

1 Herdegen FS Scholz, 2007, S 139 ff; Schwarz Der Staat 2011, 533 ff; Calliess JZ 2004, 1033 ff jew mwN. 2 Deutlich erkennbare Unterschiede im Gewährleistungsumfang der Grundrechte bestehen beim Schutz vor Selbstbelastung, vgl dazu einerseits EuGH, Slg 1989, 3283, Rn 29 ff – Orkem; Slg 2002, I-8375, Rn 274 f – Limburgse Vinyl Maatschappij NV ua, andererseits EGMR Series A, Vol 256-A – Funke; RJD 1996-VI, 2044 – Saunders; NJW 2002, 499 J. B., sowie beim Schutz der Wohnung, vgl dazu § 16 Rn 2, 21 ff.

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I. Menschenwürde Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1991, I-4685 ff – Grogan; Slg 2001, I-7079 ff – Niederlande/ Parlament und Rat; Slg 2004, I-9609 ff – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13; Slg 2011, I-9821 ff – Brüstle = JK 2012, RL 98/44/EG Art 6/1. Schrifttum: Ekardt/Kornack „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, ZEuS 2010, 111 ff; Gröschner/Lembcke (Hrsg), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009; Walter Menschenwürde im nationalen Recht, Europarecht und Völkerrecht, in: Bahr/Heinig (Hrsg), Menschenwürde in der sekularen Verfassungsordnung, 2006, 127 ff; Ackermann Case C-36/02, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH v Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, CMLR 42 (2005), 1107 ff; Kersten Das Klonen von Menschen, 2004, 87 ff; Mastronardi Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit des Rechts, in: Marauhn (Hrsg) Die Rechtsstellung des Menschen im Völkerrecht, 2003, 55 ff; Frowein Human Dignity in International Law, in: Kretzmer/E Klein (Hrsg) The Concept of Human Dignity in Human Rights Discourse, 2002, 121 ff; Rau/Schorkopf Der EuGH und die Menschenwürde, NJW 2002, 2448 f; L V Schmidt Der Schutz der Menschenwürde als „Fundament“ der EU-Grundrechtscharta unter besonderer Berücksichtigung der Rechte auf Leben und Unversehrtheit, ZEuS 2002, 631 ff; Wallau Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010; Zimmermann Verbreitung von Informationen über Schwangerschaftsunterbrechungen und Europäische Menschenrechtskonvention, NJW 1993, 2966 ff. Rechtsakte: RL 2012/29 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI, ABl 2012 L 315/57; RL 2010/13 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste), ABl 2010 L 95/1; Bericht der Kommission über die Anwendung der Empfehlung des Rates vom 24.9.1998 zum Jugendschutz und zum Schutz der Menschenwürde und der Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.12.2006 über den Schutz Minderjähriger und den Schutz der Menschenwürde und über das Recht auf Gegendarstellung im Zusammenhang mit der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Industriezweiges der audiovisuellen Dienste und OnlineInformationsdienste – Schutz der Kinder in der digitalen Welt (KOM (2011) 556 endgültig); VO 562/2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl 2006 L 105/1.

1. Schutzbereich

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Fall 1: (EuGH, Slg 2001, I-7079 ff – Niederlande/Parlament u Rat) Das Europäische Parlament und der Rat erlassen eine Richtlinie, die die Mitgliedstaaten zum Schutz biotechnologischer Erfindungen durch ihr nationales Patentrecht verpflichtet. Die Richtlinie legt insb fest, welche Bestandteile von Erfindungen, deren Gegenstand Pflanzen, Tiere oder der menschliche Körper sein können, patentierbar sind und welche nicht. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen die Patentierbarkeit von gewerblich anwendbaren Erfindungen zur Herstellung, Bearbeitung oder Verwendung von biologischem Material vorzusehen. Die Niederlande sind der Ansicht, dass diese mitgliedstaatliche Verpflichtung zur Erteilung von Patenten auf Tiere, Pflanzen oder menschliche biologische Materie gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße. Sie beantragen deshalb beim EuGH, den Rechtsakt für nichtig zu erklären. In ihrer Klageschrift tragen die Niederlande ua vor, dass die Richtlinie die Menschenwürde und das Grundrecht der Unversehrtheit der Person verletze. Der menschliche Körper sei Vermittler der Menschenwürde. Die Erteilung von Patenten für isolierte lebende Bestandteile des menschlichen Körpers mache diese zu Objekten. Ferner enthalte die Richtlinie keine Bestimmungen, die unbeeinflusste Zustimmung des Spenders und des Empfängers menschlichen Materials sicherzustellen (vgl RL 98/44).

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Der Schutz der Menschenwürde ist zunächst der unausgesprochene Bezugspunkt der Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz auf Unionsebene. Seit dem Jahr 2000 hat diese Rechtsprechung eine Verbindungslinie zur Grundrechtecharta, die in Art 1 formuliert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Mit diesen Sätzen wird auch die der Europäischen Union übertragene Hoheitsgewalt in den Dienst des Menschen gestellt, bekennt sich die Union als politischer Herrschaftsverband zur Selbstzweckhaftigkeit des Menschen.3 Wenngleich die direkten Eingriffsbefugnisse der Union gegenüber dem Bürger in Zahl und Umfang (noch) überschaubar sind, ist die ausdrückliche Indienstnahme der überstaatlichen europäischen Gewalt für das Wohl des Einzelnen mit Blick auf das integrative, auf stetige Verdichtung der Lebensbeziehungen angelegte Konzept der Union (Art 1 II EUV) nicht gering zu schätzen. Die Entstehungsgeschichte, der das Grundgesetz zitierende Wortlaut und die Systematik der Vorschrift führen auch auf der europäischen Ebene zu zahlreichen Fragen, die aus dem staatsrechtlichen Kontext vertraut sind. Der Wechsel vom einzelfall- zum normgeleiteten Erkenntnisansatz, für den die Grundrechtskodifikation durch die Charta auch steht, führt aber gleichwohl nicht dazu, dass nunmehr aus Art 1 GRCh Maßstäbe für europäische Rechtssachverhalte deduziert werden könnten. Die Rechtsprechung bleibt erster Ansatzpunkt für die Sichtung konkreter Gewährleistungsinhalte. Als eigenständiges Schutzgut eines selbständigen Grundrechts hat die Menschenwürde in den Entscheidungen des Gerichtshofs bis in die jüngere Zeit kaum eine Rolle gespielt. Bereits die Entscheidung in der Rechtssache Stauder ist insoweit beispielhaft. Herr Stauder, der Kläger im Ausgangsverfahren, hatte die Ansicht vertreten, dass die Ausgestaltung des Bezugsrechts für verbilligte Butter zugunsten von Sozialhilfeempfängern die Menschenwürde verletze.4 Der Gerichtshof legte – ohne jedoch die Würde in den Gründen ausdrücklich zu erwähnen – die streitige Vorschrift unter Hinweis auf die „Grundrechte der Person“ dahingehend aus, dass die namentliche Bezeichnung des Bezugsberechtigten nicht ausdrücklich vorgeschrieben sei. In der Folgezeit erwähnte der EuGH die Menschenwürde in seiner Rechtsprechung fast ausschließlich im Zusammenhang mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der VO 492/2011. Die sechste Begründungserwägung dieses Rechtsaktes lautet:

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„Damit das Recht auf Freizügigkeit nach objektiven Maßstäben in Freiheit und Menschenwürde wahrgenommen werden kann, muß sich die Gleichbehandlung tatsächlich und rechtlich auf alles erstrecken, was mit der eigentlichen Ausübung einer Tätigkeit im Lohn – oder Gehaltsverhältnis und mit der Beschaffung einer Wohnung im Zusammenhang steht.“5 Nach stRspr des Gerichtshofs soll die VO 492/2011 die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sicherstellen, deren „Ausübung in Freiheit und Menschenwürde“ es erfordere, dass die

3 Zur Abkehr vom Kantschen Begriff der Würde durch Politik und Recht vgl v d Pfordten Zur Würde des Menschen bei Kant in: Jahrbuch für Recht und Ethik 14, 2006, 501, 514 ff. 4 EuGH, Slg 1969, 419 ff – Stauder, insb 421. Die erste ausdrückliche Bezugnahme enthält eine EuGH-Entscheidung aus Anlass der Entlassung einer transsexuellen Person, vgl EuGH, Slg 1996, I-2143, Rn 22 – P.: „Würde eine solche Diskriminierung toleriert, so liefe dies darauf hinaus, daß gegenüber einer solchen Person gegen die Achtung der Würde und der Freiheit verstossen würde, auf die sie Anspruch hat und die der Gerichtshof schützen muß.“ 5 VO 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl 2011 L 141/1.VO.

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bestmöglichen Bedingungen für die Integration der Familie des EG-Arbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat geschaffen werden.6 Insoweit müssten alle Hindernisse beseitigt werden, die sich der Mobilität der Arbeitnehmer entgegenstellten, insb in Bezug auf das Recht des Arbeitnehmers, seine Familie nachkommen zu lassen, sowie auf die Bedingungen für die Integration seiner Familie im Aufnahmeland. Dem Arbeitnehmer und seinen Familienangehörigen stünden deshalb die gleichen sozialen Vergünstigungen zu, wie sie der Aufnahmestaat seinen eigenen Staatsangehörigen gewähre. Die Freizügigkeits-Richtlinie aus dem Jahr 2004 nimmt auf diesen normativen Anspruch der Rspr ausdrücklich Bezug.7 Dass die Menschenwürde in der Vergangenheit auch in gemeinschaftlichen Rechtsakten – ausgenommen in der VO 1612/68 und Art 12 der Fernseh-Richtlinie8 aus dem Jahr 1989 – kaum erwähnt wurde, könnte seine Ursache darin haben, dass die Menschenwürde als Rechtsprinzip nicht allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bekannt ist. Da die Menschenwürde auf Unionsebene ihren sichtbaren Ausdruck vor allem in den bereits anerkannten Grundrechten auf Unversehrtheit der Person und Achtung des Privatlebens findet, könnte eine Anerkennung als eigenständiges Grundrecht – oder wenigstens als Rechtsgrundsatz – durch den EuGH von nur geringem zusätzlichem Erkenntniswert gewesen sein. Mit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Niederlande gegen Parlament und Rat hat sich diese Konzeption jedoch grundlegend verändert. In den Gründen der genannten Entscheidung heißt es: „Es obliegt dem Gerichtshof, im Rahmen der Kontrolle der Übereinstimmung der Handlungen der Organe mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts die Beachtung der Menschenwürde und des Grundrechts auf Unversehrtheit der Person sicherzustellen.“9 Der EuGH ordnet beide Normen als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ein.10 Diese Rechtsprechung hat der Gerichtshof in der Rechtssache Omega fortentwickelt. In diesem Vorabentscheidungsverfahren aus Deutschland hatte der Gerichtshof zu klären, inwieweit nationale Gerichte sich auf Wertungen ihres nationalen Verfassungsrechts stützen können, um Maßnahmen zu treffen, die zwar zum Schutze der öffentlichen Ordnung im jeweiligen Mitgliedstaat beitragen, aber zugleich auch Grundfreiheiten beeinträchtigen. Dem Ausgangsverfahren lag eine Verfügung der Stadt Bonn zugrunde, durch

6 EuGH, Slg 1990, I-4185, Rn 13 – Di Leo; Slg 2000, I-2623, Rn 20 – Kaba. 7 RL 2004/38, 5. Erwägungsgrund: „Das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sollte, wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden.“ 8 RL 2010/13 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste), ABl 2010 L 95/1. 9 EuGH, Slg 2001, I-7079, Rn 70 – Niederlande/Parlament u Rat, Hervorhebung hinzugefügt, bestätigt, Slg 2011, I-9821, Rn 33 – Brüstle = JK 2012, RL 98/44/EG Art 6/1. 10 Mit der Differenzierung zwischen „Beachtung der Menschenwürde“ und „Grundrecht auf Unversehrtheit“ wird keine rechtsdogmatische Unterscheidung eingeführt. Vielmehr zeigen die anderen Sprachfassungen des Urteils und insb die niederländische Verfahrenssprache, dass der Gerichtshof die Menschenwürde als Grundrecht einordnet. So ausdrücklich unter Hinweis auf Rau/ Schorkopf NJW 2002, 2448 und unter Bezugnahme auf die Differenzierung in der deutschen Sprachfassung GA’in Stix-Hackl in ihren Schlussanträgen, EuGH, Slg 2004, I-9609, Rn 90 – Omega, ausdrücklich Slg 2007, I-11767, Rn 94 – Laval.

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welche simulierte Tötungshandlungen im Rahmen eines Spiels mit der Begründung untersagt wurden, das geplante Geschäftsmodell verstoße gegen die öffentliche Ordnung, zu deren Schutzgütern auch die Menschenwürde zähle. Die Generalanwältin Stix-Hackl hat in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Omega vorgeschlagen, zum einen die in Rede stehende nationale Maßnahme anhand des Gemeinschaftsrechts zu beurteilen und zum anderen den vom Mitgliedstaat herangezogenen Rechtfertigungstatbestand der öffentlichen Ordnung entsprechend der Bedeutung und der Tragweite der Menschenwürde in der Gemeinschaftsrechtsordnung auszulegen.11 Der Gerichtshof ist dieser Konzeption in seinem schlanken Urteil gefolgt und sah die Beeinträchtigung des freien Dienstleistungsverkehrs durch die Verbotsverfügung als gerechtfertigt an. Die Reichweite des Begriffes der öffentlichen Ordnung dürfe nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig bestimmt werden. Gleichwohl hätten die Mitgliedstaaten einen Beurteilungsspielraum in Bezug auf die konkreten Umstände, unter denen sie sich zulässigerweise auch auf die öffentliche Ordnung berufen könnten. Die Gemeinschaftsrechtsordnung ziele unbestreitbar auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ab. Allerdings sei es nicht unerlässlich, dass die nationale Maßnahme einer allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung darüber entspreche, wie das betreffende Grundrecht oder berechtigte Interesse zu schützen sei.12 Seitdem die Menschenwürde durch die Europarechtspraxis entdeckt wurde, hat die Zahl der Bezugnahmen insb in Rechtsakten deutlich zugenommen, so dass sie auch zu einem Bezugspunkt für die rechtssetzenden Organe geworden ist. Dabei lassen sich einerseits Vorschriften nennen, in denen die Menschenwürde eine unmittelbar regelnde Funktion hat, wie beispielsweise das Gebot an die Grenzschutzbeamten der Mitgliedstaaten, „ihre Aufgaben unter uneingeschränkter Wahrung der Menschenwürde“ durchzuführen13 oder die Pflicht der Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass „Maßnahmen […] zum Schutz der Würde der Opfer bei der Vernehmung oder bei Zeugenaussagen zur Verfügung stehen.“14 Andererseits lassen sich Rechtsakte anführen, in denen die Menschenwürde – als Höchstwert der Union – durch Rechtssätze konkretisiert wird. Ein wichtiges Beispiel ist die Flüchtlingsschutz-Richtlinie aus dem Jahr 2011, deren ausdrückliches Ziel es ist, „die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen sowie die Anwendung der Art 1, 7, 11, 14, 15, 16, 18, 21, 24, 34 und 35 der Charta zu fördern.“15

11 Schlussanträge GA’in Stix-Hackl, EuGH, Slg 2004, I-9609, Rn 67 ff – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13. 12 EuGH, Slg 2004, I-9609 – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13. 13 Art 6 I der VO 562/2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl 2006 L 105/1: „Die Grenzschutzbeamten führen ihre Aufgaben unter uneingeschränkter Wahrung der Menschenwürde durch. Die zur Durchführung ihrer Aufgaben getroffenen Maßnahmen müssen – gemessen an den damit verfolgten Zielen – verhältnismäßig sein.“ 14 Art 18 der RL 2012/29 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI, ABl 2012 L 315/57. 15 16. Erwägungsgrund der RL 2011/95 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl 2011 L 337/9.

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2. Beeinträchtigung 11

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Die Menschenwürde und die ihr nahestehenden Gewährleistungen werden sowohl gegenüber Beeinträchtigungen durch die Unionsorgane als auch gegenüber Handlungen der Mitgliedstaaten gewährleistet. „Wie der Gerichtshof […] entschieden hat, ist, wenn ein Mitgliedstaat sich auf die Vertragsbestimmungen beruft, um eine nationale Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung einer vom Vertrag garantierten Freiheit zu behindern, diese im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Rechtfertigung im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insb der Grundrechte auszulegen.“16 Der EuGH ist nicht zuständig für die Überprüfung einer grundrechtsrelevanten Handlung, wenn der Prüfungsgegenstand eine nationale Regelung ist, die nicht in den Bereich des Unionsrechts fällt. Der Begriff „Bereich des Gemeinschaftsrechts“ bzw. Unionsrecht wird vom Gerichtshof allerdings zuweilen so weit ausgelegt, dass für den Beobachter in Fällen, in denen der EuGH seine Zuständigkeit annimmt, der Bezug eines Sachverhalts zum Unionsrecht kaum noch erkennbar ist.17

3. Rechtfertigung 13

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Die Menschenwürde kann auch nach der unionsrechtlichen Konzeption grundsätzlich nicht eingeschränkt werden, dh etwaige Beeinträchtigungen führen stets zu einer Verletzung dieses Rechts. Obwohl die Schranken-Klausel in Art 52 GRCh sich nach dem Wortlaut unterschiedslos auf alle Rechte und Freiheiten – und damit auch auf Art 1 GRCh – erstreckt, wird die Hervorhebung der Menschenwürde auch nach einem Inkrafttreten der Charta auf der Grundlage einer entsprechenden Auslegung Bestand haben („unantastbar“). Dieser prinzipielle „Automatismus“ führt bei Vorabentscheidungsverfahren zu heiklen Problemen, weil das unionsrechtliche Prüfungsprogramm je nach Prüfungsgegenstand unterscheiden muss und auf diesem Umweg eine Differenzierungsmöglichkeit einführt: Verstößt ein Akt der Unionsorgane gegen die Menschenwürde, so folgt daraus die Nichtigkeit der in Rede stehenden Handlung. Wird hingegen ein mitgliedstaatlicher Akt am Maßstab der Menschenwürde gemessen, etwa im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens, so würde eine binäre Lösung nach dem Muster von Bestandskraft/Nichtigkeit den Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde unionsweit unitarisieren. Das gilt nicht für den ethischen Kern des Rechts, sondern für dessen „kleineres Münzgewicht“ im Rechtsalltag. Das Problem spiegelt in aller Deutlichkeit die Rechtssache Omega (Rn 9). Aus der Perspektive deutscher Behörden und Gerichte verstößt das geplante Geschäftsmodell gegen die Menschenwürde; in Großbritannien war das Tötungsspiel zum Zeitpunkt der Untersagung nicht nur in der Praxis erprobt, sondern über Franchiseverträge und patentierte Technologie sogar exportfähig. Wie kann in dieser Konstellation ein Wertungswiderspruch vermieden werden, wenn das deutsche Verbot am Maßstab des EU-weiten Unionsrechts Bestand hat und gleichzeitig dasselbe „menschenwürdefeindliche“ Geschäftsmodell in Großbritannien erfolgreich praktiziert wird? Müsste eine unionsrechtliche Gewährleis-

16 EuGH, Slg 1992, I-2575, Rn 23 – Kommission/Deutschland = JK 92, EWGV Art 30/2 unter Hinweis auf Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT. 17 S etwa EuGH, Slg 2002, I-6279 ff – Carpenter = JK 2002, EGV Art 49/6 und Slg 2003, I-4989 ff – Österreichischer Rundfunk ua; → im Einzelnen § 16 Rn 39 ff.

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§ 15 II

tung der Menschenwürde nicht in allen EU-Mitgliedstaaten denselben Schutz gewähren? In der genannten Rechtssache hat die Generalanwältin zur Lösung dieses Problems vorgeschlagen, den Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde in die jeweils betroffene Grundfreiheit und den Abwägungsprozess im Rahmen der Verhältnismäßigkeit hineinzulesen.18 Dadurch wird die Zweck-Mittel-Relation derart zugunsten der Menschenwürde verschoben, dass die beschränkenden Maßnahmen des betroffenen Mitgliedstaats kaum je unverhältnismäßig sein werden. Der unitarisierende Zug dieser rechtsdogmatischen Konstruktion bleibt allerdings ebenso bestehen wie der Umstand, dass ein Geschäftsmodell in einem Mitgliedstaat gegen die Menschenwürde verstoßen kann und in einem anderen am Markt erfolgreich ist. Deshalb wäre es vorzugswürdig, in den seltenen Einzelfällen einer Kollision des Rechts auf Schutz der Menschenwürde und einer Grundfreiheit die unionsrechtliche Prüfungskompetenz auf eine Missbrauchskontrolle zu beschränken und den nationalen identitätsstiftenden Merkmalen einer Rechtsordnung (Art 4 II 1 EUV) einen Platz in der Unionsrechtsordnung einzuräumen.19 Dass die Menschenwürde als Grundrecht nicht eingeschränkt werden kann, ist eine Aussage, die die derzeitige Rspr so nicht trägt. So hat die Große Kammer des Gerichtshofs in der Rechtssache Laval unter anderem die Omega-Entscheidung dahingehend ausgelegt, dass die Ausübung des Grundrechts der Menschenwürde „mit den Erfordernissen hinsichtlich der durch den Vertrag geschützten Rechte in Einklang gebracht werden und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen [muss].“20 Auch die Menschenwürde wird dadurch zu einem Abwägungsgegenstand im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Diese Konzeption würde es einerseits ermöglichen, kollidierende Rechte auf Menschenwürde – etwa im Bereich der Biomedizin (Rn 25) – auszugleichen und in größtmöglichem Umfang, wenngleich in der Substanz verringert, zur Geltung zu bringen. Andererseits ginge mit dem Abwägungskonzept eine Relativierung des Rechts einher, die der Idee der Menschenwürde widerspricht. Die Rspr des Gerichtshofs steht in diesem Bereich noch nicht auf einer gesicherten dogmatischen Grundlage. Sie muss sich erst noch anhand weiterer Sachverhalte festigen. In jedem Fall sollten die genannten Entwicklungen nachdenklich machen, ob die Anreicherung des Wertes „Menschenwürde“ zu einem im Einzelfall abwägungsresistenten Grundrecht nicht zu einem unauflösbaren Dilemma führt, weil das Recht nur noch binäre Antworten geben kann, abhängig von der gerade maßgebenden Perspektive des jeweils fragenden Rechtsgutsträgers. Eine befriedigendere Antwort ließe sich mit der Annahme finden, dass die Menschenwürde durch die (Spezial-)Grundrechte rationalisiert wird, die dann in abwägungsfähige Beziehungen zueinander gesetzt werden können.21

II. Recht auf Leben und Unversehrtheit Schrifttum: Taupitz Menschenwürde von Embryonen – europäisch-patentrechtlich betrachtet, GRUR 2012, 1 ff; Müller-Terpitz Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007; H Jung Status und Schutz des Embryos, FS Schroeder, 2006, S 809 ff.

18 Vgl Schlussanträge GA’in Stix-Hackl, EuGH, Slg 2004, I-9609, Rn 103 ff – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13. 19 Zu den Auswirkungen der Rs C-34/10 – Brüstle s Rn 18. 20 EuGH, Slg 2007, I-11767, Rn 94 – Laval unter Hinw auf die Rechtssachen Schmidberger und Omega. 21 Vgl Di Fabio JZ 2004, 1, 5.

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1. Schutzbereiche 17

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a) Das Recht auf Leben und das Verbot der Todesstrafe (Art 2 GRCh) sind bislang in der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht verankert, was seinen Grund in dem Fehlen grundrechtsrelevanter europäischer Sachverhalte hat (Rn 2). Mit der Grundrechtecharta sind beide Gewährleistungen aus der EMRK in das EU-Recht inhaltsgleich übernommen worden: Nach Art 2 I 1 EMRK ist das Recht jedes Menschen auf Leben gesetzlich zu schützen, die Todesstrafe ist nach Art 1 6. ZP EMRK abgeschafft, was nach Inkrafttreten des 13. ZP ausnahmslos auch in Kriegszeiten und bei unmittelbarer Kriegsgefahr gilt.22 Das Präsidium des Konvents hat in seinen Erläuterungen ausdrücklich die Verbindung zur EMRK hergestellt, konnte dabei allerdings noch nicht das 13. ZP aus dem Jahr 2002 berücksichtigen. Da das Protokoll noch nicht für alle EU-Mitgliedstaaten in Kraft getreten ist, ist fraglich, ob es insoweit den einheitlich geltenden Schutzstandard auf EU-Ebene wiedergibt.23 Die Verzahnung mit der EMRK hat zur Folge, dass in der Praxis die Rechtsprechung des EGMR die Rechte konkretisiert. Das Recht auf Leben (Art 2 I GRCh) schützt die physische Existenz des Menschen. Es verpflichtet die Union und die Mitgliedstaaten bei der Anwendung des EU-Rechts, den Tod eines Menschen nicht „absichtlich“ herbeizuführen und die zum Schutz des Lebens von Personen unter ihrer Hoheitsgewalt notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.24 Mit anderen Worten umfasst der Gewährleistungsinhalt auch eine Schutzpflicht zugunsten des menschlichen Lebens.25 Durch diese Schutzpflichtdimension werden mittelbar auch Privatpersonen zu Grundrechtsverpflichteten. Damit ist das Problem aufgeworfen, wie sich das EU-Recht zum Schutz des ungeborenen Lebens verhält. Der EGMR hat dazu festgestellt, dass es unter den Konventionsstaaten weder einen Konsens über den Zeitpunkt des Lebensbeginns, noch über die Rechtsstellung des Embryos oder des Fötus gäbe. Er stellte deshalb im Jahr 2001 fest, dass „es zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder wünschenswert noch möglich [ist], abstrakt die Frage zu beantworten, ob das ungeborene Kind ein „Mensch“ iSv Art 2 EMRK ist.“26 Die Grundrechtslage in der Union ist seit dem Urteil des EuGH in der Rs Brüstle einen Schritt weiter. Zwar hat der EuGH in dem Verfahren nicht den Beginn des Lebensschutzes (Art 2 GRCh) geklärt. Mit der Definition

22 Prot Nr 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten bezüglich der Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen, SEV-Nr 187, das Protokoll ist am 1.7.2003 in Kraft getreten und für die EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Polen verbindlich (Stand: Mai 2013). 23 So aber Höfling in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 2 Rn 2, Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 2 Rn 4, 45; von den EU-Mitgiedstaaten hat Polen das Protokoll zwar unterzeichnet, noch nicht aber ratifiziert (Stand: Mai 2013). 24 EGMR, NJW 2010, 1865 Rn 28 – Colak u Tsakiridis; NJW 2005, 727, Rn 88 – Vo = JK 2005, EMRK Art 2 I 1/1; Slg 1998-III, S 1403 Rn 36 – L.C.B. 25 Vgl EuG, Slg 1995, II-3051 ff – Danielsson ua, in dem Eilverfahren ging es um die Aussetzung des Vollzugs einer Entscheidung der Kommission betreffend französische Atomtests. Der Antrag wurde unter anderem mit dem Argument begründet, dass die Kommission das Recht auf Leben der Antragsteller beeinträchtigt habe, indem sie sie nicht angemessen gegen die Gefahren für ihre Gesundheit durch eine mögliche Strahlenbelastung und für ihr Leben durch mögliche Flutwellen geschützt habe. 26 EGMR, NJW 2011, 2107 Rn 237 – A, B u C; NJW 2005, 727, Rn 85 – Vo = JK 2005, EMRK Art 2 I 1/1; zur gegenseitigen Beobachtung und Abstimmung von Verfassungsgerichten s Tomuschat FS 50 Jahre BVerfG, Bd 1, 2001, S 245, 276 ff.

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des menschlichen Embryos als „jede menschliche Eizelle vom Stadium ihrer Befruchtung an“, hat er eine Entscheidung im Zusammenhang des technischen Sujets der BiopatentRichtlinie getroffen, die nicht zwingend, aber sicherlich präjudiziell der weiteren Rechtsprechung eine Richtung vorgibt. Die Befruchtung sei geeignet, so das Argument des Gerichtshofs, den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Gang zu setzen.27 Wegen Art 52 Abs 3 S 2 GRCh kann die EU gegenüber der EMRK ein höheres Niveau des Grundrechtsschutzes behaupten. Dieser Lebensbereich war in der Rechtssache Grogan bereits Gegenstand einer Entscheidung des EuGH, so dass eine Antwort auf die Frage nach dem Schutz auch des ungeborenen Lebens für das EU-Recht durchaus von Bedeutung ist.28 In dem Vorabentscheidungsverfahren ging es um die Veröffentlichungen einer irischen Studentenvereinigung, die Informationen über rechtmäßige Abtreibungsmöglichkeiten im Vereinigten Königreich enthielten. Irland untersagte die Verbreitung der Informationen mit dem Hinweis, dass die irische Verfassung eine solche Unterstützung schwangerer Frauen beim geplanten Schwangerschaftsabbruch untersage. Der Gerichtshof fand einen Weg, der Abwägung der widerstreitenden Grundrechte, zum einen dem Recht auf Leben, so wie es von einem Mitgliedstaat definiert und für auf ungeborenes Leben anwendbar erklärt wurde, zum anderen der Freiheit der Meinungsäußerung, auszuweichen. Zwar handele es sich beim rechtmäßigen ärztlichen Schwangerschaftsabbruch um eine Dienstleistung iSd Art 50 EGV (57 AEUV). Nicht als eine Dienstleistung sei hingegen die Verbreitung von Informationen über eine wirtschaftliche Tätigkeit anzusehen, „wenn diese Informationen nicht im Auftrag eines Wirtschaftsteilnehmers verbreitet werden, sondern lediglich eine Inanspruchnahme der Meinungsfreiheit darstellen.“29 Die Beschränkung der Meinungsfreiheit falle nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und sei deshalb am Maßstab des nationalen Rechts zu beurteilen. Der Gerichtshof hat damit im Ergebnis die mitgliedstaatliche Regelung respektiert, die das ungeborene Leben in den Schutzbereich des Rechts auf Leben einbezieht, gleichwohl hat er über den Schutzbereich des korrespondierenden europäischen Grundrechts nicht entschieden. Die europäische Rechtslage spiegelt nicht nur den fehlenden Konsens, sondern auch das Konfliktpotential wieder, das mit diesen Sachverhalten einhergeht. Die Auffassung des EGMR, der ausdrücklich von einer Entscheidung zum Tatbestandsmerkmal „Mensch“ bei Art 2 EMRK abgesehen hat, ist sicherlich pragmatisch. Der nachvollziehbare Dissens zwischen den 47 Konventionsstaaten ist jedoch in die Grundrechtecharta der Union übertragen worden, die am Anwendungsvorrang des EU-Rechts teilnimmt und die nationalen Gewährleistungen teilweise ersetzt. Die Frage, ob ein ungeborenes Kind ein Mensch im Sinne des Art 2 I GRCh ist – wohlgemerkt auf der Prüfungsebene des Schutzbereichs –, zeigt deshalb auch die sichtbaren Grenzen der europäischen Wertegemeinschaft auf. An der Frage lässt sich ablesen, dass mit der Grundrechtecharta nicht bloß ein weiterer, das

27 EuGH, Slg 2011, I-9821, Rn 35 – Brüstle = JK 2012, RL 98/44/EG Art 6/1. Ansätze für eine Entwicklung autonomer unionaler Standards der Menschenwürde sieht Gärditz ZfL 2011, 136, 138; aA Taupitz GRUR 2012, 1, 4. 28 EuGH, Slg 1991, I-4685 ff – Grogan, zur Bedeutung des Sachverhalts im Zusammenhang mit dem irischen Referendum zum Vertrag von Lissabon s Kommission Flash Eurobaromter 245, Post-referendum Survey in Ireland, Juni 2008, 19, 26 f, 56 und Europäischer Rat, Schlussfolgerungen v 19.6.2009, Ziff 4 f, Anlage 1. 29 EuGH, Slg 1991, I-4685, Rn 26 f – Grogan.

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Schutzniveau anhebender Menschenrechtskatalog geschaffen wurde, sondern bestehende Gewährleistungen in ihrer Substanz auch verändert werden können. Der Schutzbereich des Rechts auf Leben verdeutlicht, dass das Verbot der Todesstrafe, das auch die Verurteilung zu dieser Strafe untersagt (Art 2 II GRCh), keinen eigenständigen Gewährleistungsinhalt hat, sondern eine besondere Schranke für die Rechtfertigung der Grundrechtsbeeinträchtigung ist. Es gehört zu den politischen Axiomen, auf die die Europäische Union ihr Selbstverständnis gründet. Die weltweite Abschaffung der Todesstrafe ist ihr erklärtes Politikziel.30 Es erlangt in der Europarechtspraxis Bedeutung im Zusammenhang mit den allgemeinen Außenbeziehungen und der Gemeinsamen Handelspolitik. So hat die Gemeinschaft im Jahr 2005 eine Verordnung erlassen, die die Ein- und Ausfuhr von Ausrüstungsgegenständen grundsätzlich untersagt, die außer zur Vollstreckung der Todesstrafe oder zum Zwecke der Folter und anderer grausamer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe praktisch nicht zu verwenden sind.31 Eine weitere erwähnenswerte Konkretisierung ist im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl enthalten. Der Rahmenbeschluss bekräftigt die mitgliedstaatliche Pflicht zur Einhaltung der Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze iSd Art 6 EUV aF (Art 2, 6 I und III EUV), richtet darüber hinaus jedoch nur eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten, Personen nicht in Staaten abzuschieben oder auszuliefern, in denen das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe droht (13. Begründungserwägung).32 b) Das Recht auf Unversehrtheit der Person (Art 3 GRCh) erfasst die Integrität des Menschen im Sinne der körperlichen Gesundheit und des geistigen Wohlbefindens (Art 3 I GRCh). Die EMRK enthält keine Parallelvorschrift, die Unversehrtheit wird durch die Teilgewährleistungen in Art 2 und 8 EMRK garantiert. Der Konvent hat sich bei diesem Grundrecht gleichwohl auch als Schrittmacher verstanden, der moderne Entwicklungen in der Medizin in den Schutzbereich einfangen wollte,33 ohne dass die rechtlichen Lösungen bereits einen bestehenden Konsens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen aufnehmen würden (Rn 25). Eine Reihe grundrechtsrelevanter Sachverhalte in der Europarechtspraxis betreffen Verfahren von Bediensteten der Gemeinschaft wegen Ersatzes der Schäden aus Dienstunfällen.34 Die Rspr hat in diesem Zusammenhang auch den Ersatz immaterieller Schäden, die aus Handlungen der Gemeinschaftsorgane entstanden sind, anerkannt.35 30 S dazu die Gemeinsame Erklärung des Europarats und der EU zum europäischen Tag gegen die Todesstrafe und zum Welttag gegen die Todesstrafe am 10.10.2010, Presse 271, 14658/1 und den Bericht des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) zu „Menschenrechte und Demokratie in der Welt: Bericht über das Handeln der EU im Jahr 2011“, Juni 2012, 37 ff. 31 VO 1236/2005 betreffend den Handel mit bestimmten Gütern, die zur Vollstreckung der Todesstrafe, zu Folter oder zu anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe verwendet werden könnten, ABl 2005 L 200/1, zuletzt geändert durch DVO 1352/2011, ABl 2011 L 338/31. 32 Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl 2002 L 190/1, zuletzt geändert durch Rahmenbeschluss 2009/ 299/JI, ABl 2009 L 81/24. 33 Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 3 Rn 1. 34 Vgl etwa EuGH, Slg 1999, I-5251 ff – Lucaccioni; Slg 1996, I-5501 ff – Royale belge SA; Slg 1987, 4923 ff – Jänsch; EuG, Slg 1992, II-469 ff – Colmant. 35 EuGH, Slg 1990, I-225, Rn 26 – Culin.

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Nicht ausdrücklich genannt wird das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit in der Entscheidung der Rechtssache Cowan.36 Da der EuGH jedoch ein mitgliedstaatliches Verhalten, das dieses Grundrecht verletzt, für unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht erklärte, ist diese Entscheidung für die behandelte Fragestellung dennoch relevant. Der Fall betraf die Rechtmäßigkeit von Diskriminierungen bei der Gewährung staatlicher Entschädigung für Opfer von Körperverletzungsdelikten. Nach Auffassung des EuGH ist es zwingende Folge der gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Freizügigkeit, dass Leib und Leben einer Person, die sich in einem Mitgliedstaat aufhält, in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen und den in diesem Mitgliedstaat wohnhaften Personen der Fall ist. Daraus folge ein Diskriminierungsverbot gegenüber Dienstleistungsempfängern, soweit es um den Schutz vor Gewalttaten und um den im nationalen Recht vorgesehenen Opferentschädigungsanspruch gehe.37 Im Bereich der Medizin und der Biologie umfasst der Schutzbereich – nach der Rspr – das Recht eines Spenders oder Empfängers menschlicher Bestandteile auf unbeeinflusste Willensentscheidung in voller Kenntnis der Sachlage.38 Die kodifizierte Fassung des Grundrechts in Art 3 II GRCh erweitert diese Thematik, indem für die Lebensbereiche Medizin und Biologie eine Pflicht zur Achtung von spezifischen exemplarisch genannten Ge- und Verboten eingeführt wird: Zum einen darf in die Integrität des Menschen in Anlehnung an die Biomedizin-Konvention des Europarates39 nur nach freiwilliger Einwilligung auf der Grundlage vorheriger Aufklärung eingeriffen werden (Art 3 II lit a GRCh); zum anderen werden die Verbote „eugenischer Praktiken“ mit dem Ziel der Selektion von Menschen, der komerziellen Verwertung des menschlichen Körpers und des reproduktiven Klonens genannt (Art 3 II lit a–d GRCh). Die Verbote der Eugenik und des reprodutiven Klonens legen die Schlussfolgerung nahe, dass der Schutzbereich des Grundrechts auch ungeborenes Leben einbezieht, worüber im Konvent jedoch keine Einigkeit bestand (Rn 18 ff ).40 Die europäische Wertegemeinschaft, die an dieser Stelle einen weißen Fleck in ihrem Kanon hat, überlässt eine Antwort den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und vertraut auf ein klärendes Wort des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.

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2. Beeinträchtigung Die Grundrechte auf Leben und Unversehrtheit werden sowohl gegenüber Beeinträchtigungen durch Unionsorgane als auch gegenüber Vollzugshandlungen der Mitgliedstaaten gewährleistet – es gelten die allgemeinen Lehren (→ § 14 Rn 47 ff ).

36 EuGH, Slg 1989, 195 ff – Cowan. 37 EuGH, Slg 1989, 195, Rn 17 – Cowan. Vgl dazu das Grünbuch der Kommission: Entschädigung für Opfer von Straftaten, KOM (2001) 536 endgültig. Die Entschädigungsfrage ist auch Gegenstand des Europäischen Übereinkommens über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten v 24.11.1983, ETS Nr 116, in Kraft getreten am 1.2.1988 sowie der RL 2004/80 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten, ABl 2004 L 261/15. 38 EuGH, Slg 2001, I-7079, Rn 78 – Niederlande/Parlament u Rat. 39 Vgl Art 5 des Übereinkommens zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin, SEV-Nr 164, dazu Taupitz (Hrsg) Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates, 2002; die Erläuterungen des Konvents-Präsidiums verweisen zusätzlich auf Art 7 I des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes. 40 Vgl Borowsky in: Meyer, ChGr, Art 2 Rn 8 ff, 30 ff.

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Eingriffe in die Rechte sind die Tötung eines Menschen und die körperliche oder seelische Schädigung durch Handlungen, die den Grundrechtsverpflichteten zugerechnet werden können. Der Aufzählung in Art 3 II GRCh lässt sich entnehmen, dass der ärztliche Heileingriff ohne Einwilligung, der kommerzielle Organhandel, reprodutives Klonen und „eugenische Praktiken“ in das Recht auf Unversehrtheit eingreifen.

3. Rechtfertigung 28 29

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Für die Rechtfertigung einer Beeinträchtigung gelten grundsätzlich die allgemeinen Lehren (→ § 14 Rn 65 ff ). Für das Recht auf Leben ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass die Übernahme des Gewährleistungsinhalts der EMRK auch die entsprechenden Schranken der Konvention in die Charta einbezieht (Art 52 III GRCh). Zwar hat der Gerichtshof in der Rechtssache Schmidberger am Rande bemerkt, dass das Recht jedes Menschen auf Leben oder das Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe keinerlei Beschränkung unterlägen,41 diese Auffassung ist jedoch schon nach der Schrankenregelung der Charta nicht nachzuvollziehen. Ausdrücklich bezieht das Präsidium des Konvents sich in den Erläuterungen zu Art 2 GRCh auch auf die korrespondiere Schrankenregelung in Art 2 II EMRK. Danach ist eine Tötung gerechtfertigt, wenn sie für die Grundrechtsverpflichteten unbedingt erforderlich ist, um (i) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen (Notwehr und Nothilfe), (ii) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder einen Gefangenen an der Flucht zu hindern oder (iii) eine Aufruhr oder einen Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen (Art 2 II lit a–c EMRK). Darüber hinaus kann hoheitliche Gewalt rechtmäßig tödliche Folgen haben, wenn sie auf der Grundlage von Art 15 EMRK im Kriegs- oder Notstandsfall im Rahmen des humanitären Völkerrechts ausgeübt wird. Es werden demnach Tatbestandsmerkmale definiert, die im Zusammenwirken mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eng begrenzte Ausnahmen vom Tötungsverbot zulassen. Das Verbot der Todesstrafe steht unter dem Vorbehalt des Art 2 6. ZP EMRK, wonach ein Staat diese Strafe für Taten vorsehen kann, die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen wurden. Diese Rechtfertigungsmöglichkeit besteht noch so lange, bis das 13. ZP zur EMRK für alle EU-Mitgliedstaaten in Kraft getreten ist (Rn 17). Beeinträchtigungen des Rechts auf Unversehrtheit sind auf der Grundlage der allgemeinen Schrankenklausel Art 52 I GRCh rechtfertigbar. Sie müssen eine gesetzliche Grundlage haben, den Wesensgehalt des Grundrechts und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Den Wesensgehalt verletzen könnten die drei Verbote, die Art 3 II lit b–d GRCh für den biomedizinischen Bereich ausspricht: Das Verbot eugenischer Praktiken, das Verbot der Gewinnerzielung aus menschlichem Gewebe und das Verbot des reproduktiven Klonens wären dogmatisch insoweit als Schranken-Schranke einzuordnen. Der Wortlaut des Art 3 GRCh ist jedoch nicht eindeutig. So spricht Abs 2 davon, dass im Bereich der Medizin und Biologie die Verbote zu beachten seien. Als Auslegungsvariante wäre zudem denkbar, dass es sich bei den Verboten teilweise auch um Tatbestandsausnahmen handelt, die dann allerdings auch für die thematisch einschlägige Berufs- und Wissenschaftsfreiheit gelten müssten – eine Überlegung, die sich wiederum nicht mit der Systematik vereinbaren lässt.42 Für eine Begrenzung der Rechtfertigungsmöglichkeit 41 EuGH, Slg 2003, I-5669, Rn 80 – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3. 42 Zur Kritik an der Vorschrift s Rixen in: Heselhaus/Nowak, GR, § 11 Rn 29 f; Grabenwarter DVBl 2001, 1, 3.

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spricht hingegen der Blick in die Biomedizin-Konvention des Europarates, die dem Konvent in besonderer Weise als Bezugspunkt für Art 3 II GRCh diente und die die Einschränkbarkeit insbesondere des Verbots der Gewinnerzielung für unzulässig erklärt.43 Zu beachten ist in jedem Fall, dass insbesondere das therapeutische Klonen von Art 3 II lit c GRCh nicht erfasst wird. Weniger strikt in der Diktion ist das Gebot der Einwilligung (Art 3 II lit a GRCh), das der näheren Ausgestaltung durch die jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen überantwortet wird. Die Delegation erlaubt es, unterschiedliche Regelungen für den Umgang mit einwilligungsunfähigen Personen und für Forschungsvorhaben zuzulassen. Lösung Fall 1: Im Rahmen der niederländischen Nichtigkeitsklage nach Art 263 AEUV (230 EGV) obliegt es dem EuGH, die Kontrolle der Übereinstimmung der Handlungen der Organe mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts wie der Beachtung der Menschenwürde und des Grundrechts der Unversehrtheit der Person sicherzustellen. Die Achtung der Menschenwürde wird grundsätzlich durch die Bestimmung der RL gewährleistet, wonach der menschliche Körper in den einzelnen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung keine patentierbare Erfindung darstellen kann (Art 5 I RL). Bestandteile des menschlichen Körpers sind als solche nicht patentierbar und ihre Entdeckung kann nicht geschützt werden. Gegenstand einer Patentanmeldung können nur Erfindungen sein, die einen natürlichen Bestandteil mit einem technischen Verfahren verknüpfen, durch das dieser im Hinblick auf eine gewerbliche Anwendung isoliert oder reproduziert werden kann. Nach Verabschiedung der Charta lässt sich für diese Rechtsposition auch Art 3 II lit c GRCh anführen. Das Ergebnis von Arbeiten an Sequenzen oder Teilsequenzen menschlicher Gene kann nur dann zur Erteilung eines Patents führen, wenn die Anmeldung eine Beschreibung zum einen der neuen Methode der Sequenzierung, die zu der Erfindung geführt hat, und zum anderen der gewerblichen Anwendung umfasst, die das Ziel der Arbeiten ist. Ohne eine solche Anwendung hätte man es nicht mit einer Erfindung zu tun, sondern mit der Entdeckung einer DNA-Sequenz, die als solche nicht patentierbar wäre. Die RL schützt somit nur das Ergebnis einer wissenschaftlichen oder technischen erfinderischen Tätigkeit. Beim Menschen natürlich vorkommende biologische Daten werden nur erfasst, soweit sie für die Durchführung und Verwertung einer besonderen gewerblichen Anwendung erforderlich sind. Schließlich werden Verfahren zum Klonen von menschlichen Lebewesen, Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität der Keimbahn des menschlichen Lebewesens und die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten von der Patentierbarkeit ausgeschlossen (Art 6 RL). Die RL fasst das Patentrecht in Bezug auf lebende Materie menschlichen Ursprungs demnach so streng, dass der menschliche Körper tatsächlich unverfügbar und unveräußerlich bleibt und somit die Menschenwürde gewahrt wird. Das Grundrecht auf Unversehrtheit der Person kann nicht gegen eine RL angeführt werden, die sich nur mit der Erteilung von Patenten befasst und deren Anwendungsbereich sich daher nicht auf Vorgänge vor und nach dieser Erteilung – sei es die Forschung oder die Verwendung der patentierten Erzeugnisse – erstreckt. Rechtliche Einschränkungen oder Verbote, die für die Entwicklung patentierbarer Erzeugnisse oder die Verwertung patentierter Erzeugnisse gelten, werden von der Erteilung eines Patents nicht berührt (14. Begründungs-

43 Art 26 II Biomedizin-Konvention (Fn 39).

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erwägung). Die RL soll restriktive Bestimmungen nicht ersetzen, die jenseits ihres Anwendungsbereichs die Achtung bestimmter ethischer Normen garantieren sollen. Dazu gehört auch das Recht des Menschen, durch Zustimmung in voller Kenntnis der Sachlage über sich selbst zu verfügen. Die Frage, ob das Recht auf Unversehrtheit der Person, das im Bereich der Medizin und der Biologie die unbeeinflusste Zustimmung des Spenders und des Empfängers von Bestandteilen menschlichen Ursprungs in voller Kenntnis der Sachlage umfasst (vgl Art 3 II lit a GRCh), stellt sich in der Regel im Zusammenhang mit der Verwendung menschlicher Bestandteile wie zB Transplantaten. Antworten auf die damit einhergehenden Probleme sind deshalb nicht im Patentrecht eines speziellen Sektors zu suchen.

III. Verbot der Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit Schrifttum: Zapatero Vom Kampf gegen die Sklaverei und den Menschenhandel hin zum Verbot des Menschenhandels, FS Hassemer, 2010, 929 ff; Meyer-Ladewig Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Kampf gegen Terrorismus und Separatismus, NVwZ 2009, 1531 ff; Renzikowski Die Reform der Straftatbestände gegen den Menschenhandel, JZ 2005, 879 ff; Herz Menschenhandel, 2005. Rechtsakte: RL 2011/36 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates, ABl 2011 L 101/1; Anhang II der RL 2005/85 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, ABl 2005 L 326/13; Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl 2002 L 190/1, zuletzt geändert durch Rahmenbeschluss 2009/299/JI zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist, ABl 2009 L 81/24.

1. Schutzbereiche 32

a) Das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art 4 GRCh) entspricht der gleichlautenden Garantie in Art 3 EMRK. Unter „Folter“ versteht das EU-Recht jede Handlung, durch die einem Menschen vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, um den Willen des Opfers oder eines Dritten zu beeinflussen. Eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ ist jede Handlung, durch die einem Menschen erhebliche körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden. In beiden Fällen müssen die Handlungen von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis vorgenommen werden. Ausgenommen sind Schmerzen oder Leiden, die sich aus gesetzlich zulässigen Strafen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind.44 Die Definitionen verdeutlichen, dass die beiden Tatbestandsvarianten in einem Steigerungsverhältnis zueinander stehen. Die Definitionen folgen der Art 3 EMRK konkretisierenden Rechtsprechung des EGMR, die sich wiederum an Art 1 der Antifolterkonvention der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1984 anlehnt.45

44 Vgl die Legaldefinitionen in Art 2 lit a und b VO 1236/2005 (Fn 31). 45 EGMR, NJW 2001, 56, 59 – Selmouni.

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Die Parallelisierung des Grundrechts mit der EMRK hat auch in diesem Fall zur Folge, dass Veränderungen des Schutzbereichs durch den EGMR auf die Union zu übertragen sind (vgl Art 52 III S 1 GRCh). Das Grundrecht steht in demselben politischen Kontext wie die Menschenwürde (Rn 1); zahlreiche Rechtsakte der Union, gerade im Bereich der Außenbeziehungen, enthalten spezielle Regelungen zu dieser Thematik. Exemplarisch zu nennen ist an dieser Stelle die Flüchtlings-Richtlinie der Gemeinschaft aus dem Jahr 2005, die die Anerkennung eines Drittstaates als sicherer Herkunftsstaat unter anderem davon abhängig macht, dass dort generell und durchgängig keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe zu befürchten sind.46 Die weitere politische Entwicklung der Europäischen Union könnte dazu führen, dass das Grundrecht möglicherweise auch direkt zu einem Maßstab für das Handeln von Unionsorganen wird, etwa im Bereich operativer Maßnahmen europäischer Polizei- und Grenzschutzbehörden oder europäischer Militärverbände. b) Das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit aus Art 5 I und II GRCh ist im Wortlaut identisch aus Art 4 I und II EMRK übernommen worden. Die bewusste Übernahme führt wiederum zum Transfer der korrespondierenden Gewährleisungsinhalte der EMRK in der jeweiligen Auslegung durch den EGMR (Art 52 III S 1 GRCh). Sklaverei ist der Zustand oder die Stellung einer Person, an der die mit dem Eigentumsrecht verbundenen einzelnen oder mehreren Befugnisse ausgeübt werden.47 Die Leibeigenschaft ist eine sklavenähnliche Praktik und wird in einem frühen völkerrechtlichen Übereinkommen beschrieben als „die Stellung einer Person, die durch Gesetz, Gewohnheitsrecht oder Vereinbarung verpflichtet ist, auf einem einer anderen Person gehörenden Grundstück zu leben und zu arbeiten und dieser Person bestimmte entgeltliche oder unentgeltliche Dienste zu leisten, ohne seine Stellung selbständig ändern zu können.“48 Nach den Erläuterungen des Konventspräsidiums, die auf die zitierten und weiteren völkerrechtlichen Instrumente Bezug nehmen, sind unter den Begriff „Leibeigenschaft“ weitere Handlungen, wie insbesondere Schuldknechtschaft, Frauenkauf und bestimmte Formen der Arbeit von Minderjährigen zu fassen. Diese Auslegung wird mit dem Hinweis begründet, dass die EMRK in der englischsprachigen Originalfassung den Begriff „servitude“ gebrauche, anstatt des engeren Begriffs „serfdom“, der in dem Zusatzabkommen zum Sklaverei-Übereinkommen aus dem Jahr 1956 verwendet werde. Das Vorbild der EMRK für das Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit (Art 4 II, III EMRK) ist das Übereinkommen Nr 29 der ILO über Zwangs- oder Pflichtarbeit aus dem Jahr 1930. Art 2 I des Übereinkommens definiert als Zwangs- oder Pflichtarbeit „jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.“ Vom Schutzbereich der Zwangs- oder Pflichtarbeit werden bestimmte Formen der Arbeit und Dienstleistungen ausgenommen. Ausgenommen sind danach die Arbeitspflicht von Strafgefan-

46 Anhang II der RL 2005/85 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, ABl 2005 L 326/13. 47 Vgl Art 1 I des Übereinkommens über die Sklaverei vom 25. September 1926, RGBl 1929 II, 63 = League of Nations Treaty Series, Bd 60, 253; zu weiteren völkerrechtlichen Gewährleistungen Marauhn in: Dörr/Grote/ders, KK, Kap 12 Rn 3. 48 Art 1 lit b des Zusatzübereinkommens über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken vom 7. September 1956, BGBl 1958 II, 203.

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genen und bedingt Entlassenen (lit a), der Wehr- und Ersatzdienst (lit b), Dienstleistungen bei Notständen und Katastrophenfällen (lit c) sowie übliche Bürgerpflichten (lit d), von denen Feuerwehr- und Deichdienste, aber auch die Inanspruchnahme privater Arbeitgeber für die Steuererhebung praktische Bedeutung haben.49 Mit dem Verbot des Menschenhandels in Art 5 III GRCh soll modernen Kriminalitätsformen Rechnung getragen werden, die für die Opfer im Ergebnis gleichbedeutend mit der Versklavung oder der Leibeigenschaft sind. Der Rat definiert „Menschenhandel“ in seinem Beschluss, mit dem er Europol errichtet hat, als Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung. Ausbeutung umfasst mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, die Herstellung, den Verkauf oder den Vertrieb kinderpornografischen Materials, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen.50 Die in Art 5 GRCh gewährleisteten Rechte sind in der Europarechtspraxis insbesondere in den Außenbeziehungen von Bedeutung. Die Kooperationsabkommen der Union mit Drittstaaten enthalten Menschenrechtsklauseln, die die Achtung der Menschenrechte zum wesentlichen Bestandteil des betreffenden völkerrechtlichen Vertrages macht. Dazu zählen etwa die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zur Zwangs- und Kinderarbeit. Die Menschenrechtsklauseln erlauben es der Union, Bedenken gegenüber den Vertragspartnern zu äußern und – nach einem entsprechenden Verfahren – das Kooperationsabkommen mit seinen Handelsvorteilen und Zuwendungen im Ergebnis zu suspendieren.51 Bereits vor dem angestrebten Beitritt der EU zur EMRK ist die neuere Rechtsprechung des EGMR von Bedeutung (Art 5 III iVm Art 53 GRCh), wonach EMRK-Vertragsparteien positiven Pflichten im Hinblick auf den Schutz gegen Menschenhandel unterliegen, die über die Kriminalisierung hinaus verbindlich formuliert sein müssen.52

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Das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe, der Sklaverei, der Zwangsarbeit und des Menschenhandels werden sowohl gegenüber Beeinträchtigungen durch Unionsorgane als auch gegenüber Vollzugshandlungen der Mitgliedstaaten gewährleistet – auch hier gelten die allgemeinen Lehren (→ § 14 Rn 47 ff). Eingriffe in die Rechte sind Handlungen, die in den Schutzbereich fallen und den Grundrechtsverpflichteten zugerechnet werden können.

49 Vgl EGMR, Sèrie A, Vol 291-B Rn 23 – Karlheinz Schmidt (Feuerwehrabgabe). 50 Anhang betreffend Art 4 I des Beschlusses des Rates zur Errichtung des Europäischen Polizeiamts (Europol), ABl 2009 L 121/37. 51 Hoffmeister Menschenrechts- und Demokratieklauseln in den vertraglichen Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft, 1998; Weiß Die Bedeutung von Menschenrechtsklauseln für die Außenbeziehungen und Entwicklungshilfeabkommen der EG/EU, 2000. 52 EGMR, NJW 2010, 3003, Rn 284 ff – Rantsev, in Bezug auf deliktsgeneigte Unternehmungen und Einwanderungsregeln, dazu Lindner ZAR 2010, 137 ff.

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3. Rechtfertigung Die EMRK gewährleistet das Folterverbot in Art 3 und das Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft in Art 4 I ohne die Möglichkeit der Beschränkung. Das Verbot ist aus Bürgersicht ein schrankenloses, „notstandsfestes“ Grundrecht, das heißt, von Art 3 und Art 4 I darf auch im Kriegs- und Notstandsfall nicht abgewichen werden (Art 15 II EMRK). Die vier Sachlagen in Art 4 III EMRK sind rechtsdogmatsich als Tatbestandsausnahmen konstruiert. Dagegen können Beeinträchtigungen des Verbots der Zwangsoder Pflichtarbeit in den von Art 15 II EMRK genannten Ausnahmefällen gerechtfertigt sein. Auf das Verbot des Menschenhandels in Art 5 III GRCh, dem keine Garantie in der EMRK entspricht, ist grundsätzlich die allgemeine Schranke der Charta anzuwenden (Art 52 I GRCh). Der Hinweis in den Erläuterungen des Konvents, der von der Literatur bestätigt wird, dass das Grundrecht wegen seiner Nähe zur Menschenwürde schrankenlos gewährleistet sei, lässt sich mit Wortlaut und Sytematik der Charta nicht vereinbaren und trifft zudem auf das ungeklärte Problem der möglichen Beschränkbarkeit auch der Menschenwürde (Rn 13 ff ). Die in der Sache berechtigte Aussage lässt sich dogmatisch besser dadurch absichern, dass jede Beeinträchtigung des Verbots des Menschenhandels bereits den Wesensgehalt dieses Rechts berührt. Eine Rechtfertigung, die in der Praxis ohnehin nicht denkbar erscheint, wäre nicht möglich.

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IV. Recht auf Asyl und Schutz des Aufenthalts Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1999, I-11 ff – Calfa. Schrifttum: Groß Migrationsrelevante Freiheitsrechte der EU-Grundrechtecharta, ZAR 2013, 106 ff; Groß/Tryjanowski Der Status von Drittstaatsangehörigen im Migrationsrecht der EU – Eine kritische Analyse, Der Staat 2009, 259 ff; Peek Die zukünftige Entwicklung des europäischen Einwanderungsund Asylrechts, ZAR 2008, 258 ff; Schorkopf (Hrsg) Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht, 2006; Kluth Reichweite und Folgen der Europäisierung des Ausländer- und Asylrechts, ZAR 2006, 1 ff; M Wollenschläger Das Asyl- und Einwanderungsrecht der EU, EuGRZ 2001, 354 ff. Rechtsakte: RL 2011/95 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl 2011 L 337/9; VO 343/2003, ABl 2003 L 50/1; RL 2003/9 über Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten, ABl 2003 L 31/18; RL 2004/83 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl 2004 L 304/12 (Aufhebung zum 21.12.2013); RL 2005/85 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, ABl 2005 L 326/13.

Die Charta gewährleistet im zweiten Teil unter der Überschrift „Freiheiten“ zwei Grundrechte, die aus systematischen Gründen in diesem Kapitel behandelt werden. Es handelt sich um das Recht auf Asyl (Art 18 GRCh) und das Recht auf Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung (Art 19 GRCh). Diese Rechte haben eine besondere Nähe zu der Garantie der Menschenwürde und ihren Konkretisierungen in den Art 2–5 GRCh, weshalb sie besser zu den Gewährleistungen des ersten Teils der Charta wie auch den korrespondierenden Rechten der EMRK passen. Dabei wird der Ausweisungs-, Abschiebungs- und Auslieferungsschutz als Recht auf Schutz des Aufenthalts zusammengefasst.

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Fall 2: (EuGH, Slg 1999, I-11 ff – Calfa) Frau C, italienische Staatsangehörige, wird während ihres Kreta-Urlaubes wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz von der Polizei verhaftet. Sie soll sich Rauschgift zum Eigengebrauch beschafft und es dann verwendet haben. Das Strafgericht verurteilt sie zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe und zur Ausweisung aus Griechenland auf Lebenszeit. Da kein wichtiger, insbesondere familiärer Grund für den Verbleib in Griechenland vorliegt, macht die Strafe es C unmöglich – vorbehaltlich der nach Ablauf von drei Jahren möglichen Gestattung durch Ermessensentscheidung des Justizministers – das Land wieder zu betreten. C möchte gegen diese Entscheidung auch mit den Mitteln des Europarechts vorgehen. Einem griechischen Staatsangehörigen, der demselben Tatvorwurf ausgesetzt ist, droht dagegen nur ein fakultatives Aufenthaltsverbot in bestimmten Teilen des griechischen Hoheitsgebiets und auch das nur, wenn der Beschuldigte zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden ist. In der Rechtsmittelinstanz macht C unter anderem geltend, dass es nach den Vorschriften des EG-Vertrages über den freien Dienstleistungsverkehr nicht zulässig sei, einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats pauschal auf Lebenszeit auszuweisen, weil Entsprechendes für griechische Staatsangehörige nicht vorgesehen sei.

1. Schutzbereiche 44

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a) Das Asylrecht, das heißt das Recht eines Menschen, bei einem (Mitglied-)Staat, der nicht sein eigener ist, um internationalen Schutz vor Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zu bitten, steht bereits nach dem Wortlaut von Art 18 GRCh unter einem Konkretisierungsvorbehalt. Es wird nach Maßgabe zum einen der Genfer Flüchtlingskonvention53 mit ihrem Zusatzprotokoll54 und zum anderen des EU-Vertrages und des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gewährleistet. Die Bindung der Union an das Völkerrecht wiederholt die bereits geltende einseitige Verpflichtung der Union auf die beiden Verträge, die Art 78 AEUV als Maßstab für das Entwicklungsgebot einer gemeinsamen Asylpolitik benennt. Der Vorbehalt zugunsten der primärrechtlichen Verträge irritiert dagegen, denn eine bloße „Gewährleistung nach Maßgabe“ widerspricht der Funktion eines Grundrechts, Maßstab für und nicht Ausdruck des Handelns von Trägern hoheitlicher Gewalt zu sein. Der Primärrechtsvorbehalt des Asylrechts erfüllt mehrere Funktionen. Zunächst ist das Protokoll Nr 24 zum Vertrag von Lissabon55 zu nennen, das die Asylgewährung für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats durch andere Mitgliedstaaten grundsätzlich ausschließt. Die Mitgliedstaaten gelten untereinander als sichere Herkunftsstaaten. Eine Ausnahme besteht unter anderem für den Fall, dass der Vorschlag eines Sanktionsbeschlusses gegen einen Mitgliedstaat (Art 7 EUV) unterbreitet wurde. Der im Rahmen der Regierungskonferenz unternommene Versuch, das Asylrecht innerhalb der Union insgesamt aufzuheben, scheiterte wegen Zweifeln an der Vereinbarkeit eines solchen Schritts mit den völkerrechtlichen Pflichten der Genfer Flüchtlingskonvention.56 Zwei weitere Protokolle

53 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951, BGBl 1953 II, 559 = UNTS, Bd 189, 137. 54 Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31.1.1967, BGBl 1969 II, 1293 = UNTS, Bd 606, 267. 55 ABl 2010 C 83/305. 56 Schorkopf Homogenität in der Europäischen Union, 2000, Ziff 261.

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zum Vertrag von Lissabon (Nr 21 und 22) behalten dem Vereinigten Königreich, Irland und Dänemark bestimmte Rechte in diesem Bereich vor, die die übrigen Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragen haben.57 Für die drei genannten Mitgliedstaaten ist deshalb stets zu prüfen, in welchem Umfang das Unionsrecht angewendet wird. Dieser Zustand differenzierter Integration des Politikbereichs „Asyl“ und das Fehlen einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik, mit entsprechender rechtlicher Ausgestaltung, führten zu der Entscheidung, das Asylrecht lediglich in dieser dogmatischen Konstruktion zu gewährleisten. Auch ein Ausweichen auf die EMRK kam in diesem Fall nicht in Betracht, weil die Konvention das Asylrecht de iure nicht kennt, sondern einzelne Schutzaspekte über Art 3 und 8 EMRK – im Ergebnis durchaus wirkungsvoll – garantiert.58 Der Wortlaut der Vorschrift („Das Asylrecht wird […] gewährleistet.“) hat Anlass gegeben, den Status der Vorschrift als subjektives Recht in Frage zu stellen. Der Meinungsstreit knüpft daran an, dass auf die Genfer Flüchtlingskonvention und ihr Zusatzprotokoll über das Zurückweisungsverbot (non-refoulement) verwiesen wird, die nach der verbreiteten Staatenpraxis und einer starken, wenn auch nicht unbestrittenen Literaturmeinung nur ein objektiv-rechtliches Gebot enthalten.59 Ausgenommen ist lediglich das Ausweisungs- und Zurückweisungsverbot (Art 33 Genfer Flüchtlingskonvention). Gegen diese Ansicht spricht der Sinn und Zweck der Charta, mit der individualschützende Rechte sichtbar gemacht und – wenn notwendig – geschaffen werden sollten; allerdings ist für den Wortlaut von Art 18 GRCh eine zurückhaltende Formulierung gewählt worden, die dem Entwicklungsprozess dieses Sachthemas und wohl auch Meinungsverschiedenheiten im Konvent Rechnung trägt. Dies spricht dafür, dass es in der Europäischen Union derzeit kein Grundrecht auf Asyl im Sinne eines subjektiven Rechts gibt. In der Europarechtspraxis wird das Asylrecht durch eine Reihe von Sekundärrechtsakten konkretisiert, die der Blaupause des justiz- und innenpolitischen Haager und seit 2009 des Stockholmer Programms des Europäischen Rates folgen, nach dem es bis spätestens zum Jahr 2014 ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) geben soll.60 Mit dem Stockholmer Programm trat zeitgleich der Vertrag von Lissabon in Kraft, der Entscheidungsverfahren der EU-Migrations- und Asypolitik verbessern und Zuständigkeiten klarer zuordnen soll (Art 78–79 AEUV). Nachdem sich alle zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1990 auf einen völkerrechtlichen Vertrag geeinigt hatten, in dem sie den zuständigen Staat für die Prüfung eines in einem EG-Mitgliedstaat gestellten Asylantrages bestimmten,61 sollten gleichwertige Verfahren für die

57 ABl 2010 C 83/295 u 299. 58 Zimmermann in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 27 Rn 34 ff; Mole/Meredith Asylum and the European Convention on Human Rights, Human Rights Files No 9, Council of Europe, 2010, 19 ff mwN zur Rspr-Entwicklung. 59 M Wollenschläger in: Heselhaus/Nowak, GR, § 16 Rn 32. 60 Rat, Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, ABl 2010 C 115/1; Kommission, Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms KOM (2010) 171 endgültig; Kommission, Aktionsplan für unbegleitete Minderjährige (2010–2014) KOM (2010) 213 endgültig; Schlussfolgerungen der 3018. Tagung des Rates (Justiz und Inneres) am 3./4.6.2010 mit der Forderung an die Kommission nur die Initiativen zu ergreifen, die voll und ganz mit dem Stockholmer Programm in Einklang stehen, Presse 161, 10630/10. 61 Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags (Dubliner Übereinkommen) vom 15.6.1990, BGBl 1994 II, 791.

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Prüfung von Asylanträgen eingeführt werden. Dies gelang im Jahr 1995 mit der Entschließung des Rates über Mindestgarantien für Asylverfahren.62 Seit dem Jahr 2000 wird mit einer Reihe von Sekundärrechtsakten eine Mindestharmonisierung der mitgliedstaatlichen Gesetzgebungen und eine Koordinierung der nationalen Asylregelungen angestrebt. Zu den wichtigsten Rechtsakten gehören die Richtlinien über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms,63 über Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern,64 über Mindestgarantien für die Asylverfahren65 und über Normen für die Verfahren der Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft.66 Über eine Verordnung werden die Kriterien und Verfahren festgelegt, nach denen der Mitgliedstaat bestimmt wird, der für die Prüfung eines Asylantrages zuständig ist.67 Mit der erstrebten Vergemeinschaftung dieser Thematik sollte das Asylrecht als subjektives Recht erstarken, was allerdings vor dem Hintergrund einer in dieser Hinsicht fehlenden gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten nicht selbstverständlich ist. Der Wortlaut der Charta, der bislang gegen den Status als subjektives Recht angeführt wird, ändert seinen Aussagewert nicht dadurch, dass die Union rechtspolitisch einen Entwicklungsschritt macht. 48

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b) Der Schutzbereich des Rechts auf Schutz vor Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung (Art 19 GRCh) besteht im Grunde in dem Recht auf Leben und Unversehrtheit des Menschen. Da diese Rechte in eigenständigen Grundrechten (Art 2–4 GRCh, Rn 17 ff) gewährleistet sind, wird deutlich, dass im Mittelpunkt von Art 19 GRCh bestimmte Modalitäten stehen, unter denen diese Rechtsgüter beeinträchtigt werden. Der Staat oder ein anderer verantwortlicher Träger hoheitlicher Gewalt greift in das Recht ein, indem er einen Menschen zur Ausreise aus dem Staatsgebiet auffordert (Ausweisung), dieses Ausreisegebot zwangsweise durchsetzt (Abschiebung) oder die Person auf Ersuchen zwangsweise aus dem Bereich inländischer Hoheitsgewalt entfernt und an eine ausländische Hoheitsgewalt überstellt (Auslieferung). Da der Europäische Haftbefehl – aus Perspektive der Union – die zwischenstaatliche Auslieferung durch das neues Rechtsinstitut der Übergabe einer Person zwischen der den Haftbefehl ausstellenden und der ihn vollstreckenden Justizbehörde ersetzt hat,68 fallen die Handlungen nach dem entsprechenden Rahmenschluss nicht in den Anwendungsbereich des Grundrechts. Bei diesen Handlungen ist es dem Träger hoheitlicher Gewalt untersagt, einerseits Kollektivausweisungen im Sinne abstrakt-genereller Massenausweisungen auf Grund der Staatsangehörigkeit vorzunehmen (Art 19 I GRCh), womit die parallele Gewährleistung aus Art 4 4. ZP EMRK in das Unionsrecht einbezogen wird.69 Andererseits darf niemand 62 63 64 65 66 67 68

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Entschließung des Rates über Mindestgarantien für Asylverfahren, ABl 1996 C 274/13. RL 2001/55, ABl 2001 L 212/12. RL 2003/9, ABl 2003 L 31/18. RL 2005/85, ABl 2005 L 326/13; die Art 29 I und 36 III der Richtlinie hat der EuGH für nichtig erklärt, Slg 2008, I-3189, Rn 43 ff – Parlament/Rat. RL 2004/83, Aufhebung zum 21.12.2013 durch RL 2011/95, ABl 2011 L 337/9. VO 343/2003, ABl 2003 L 50/1, so genannte „Dublin-II-Verordnung“, weil der Rechtsakt das Dubliner Übereinkommen aus dem Jahr 1990 (Fn 61) ersetzt. S die 5. Begründungserwägung und Art 9 ff des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (Fn 32); zu der Konzeption Vogel JZ 2001, 937 ff. Der EGMR sieht nach neuerer Rspr in der Rückführung von Flüchtlingen, die auf Hoher See von einer Vertragspartei durch extraterritorial ausgeübte Hoheitsgewalt aufgebracht worden sind,

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in einen Staat ausgewiesen, abgeschoben oder ausgeliefert werden, in dem speziell für den Betroffenen das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder ähnlicher Behandlung droht (Art 19 II GRCh). Bei dieser Rechtslage wird deutlich, dass das Grundrecht sich in der gegenwärtigen Europarechtspraxis auf die Außenbeziehungen der Union und ihrer Mitgliedstaaten beschränkt. Das Protokoll über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von EU-Mitgliedstaaten (Rn 45) entfaltet auch in diesem Fall seine Wirkung, denn bereits nach den Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft – wie auch für den Verbleib in der Union – sollen mitgliedstaatliche Zustände, wie sie Art 19 GRCh voraussetzt, ausgeschlossen sein. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die Heterogenität der EU-Mitgliedstaaten ein Maß erreicht hat, dass diese normative Annahme in Einzelfällen nicht mehr haltbar ist. Der EuGH hat vor dem Hintergrund der Lage in Griechenland und der vorlaufenden EGMRRechtsprechung festgestellt, dass ein Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ überstellt werden darf, wenn nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.70 Diese neuere Entwicklung stellt das politische Bemühen um ein unionsweites Gemeinsames Europäisches Asylsystem prinzipiell in Frage.

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2. Beeinträchtigung Der Schutzbereich des Asylrechts wird beeinträchtigt, wenn ein Asylsuchender aus dem Staat, in dem er Schutz vor Verfolgung sucht, ausgewiesen, oder bereits an der Grenze zurückgewiesen wird, mit der Folge, dass der Betroffene wieder in seinen Herkunftsstaat gebracht wird. Der Schutzbereich von Art 19 GRCh wird durch eine Ausweisung, Abschiebung oder Auslieferung beeinträchtigt (Rn 48 ff ).

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3. Rechtfertigung Auf das Asylrecht (Art 18 GRCh) und die Rechte auf Schutz vor Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung (Art 19 II GRCh), denen keine Garantien in der EMRK entsprechen, ist grundsätzlich die allgemeine Schranke der Charta anzuwenden (Art 52 I GRCh). Der Hinweis in den Erläuterungen des Konvents, der auch in diesem Fall von der Litera-

eine Kollektivausweisung iSv Art 4 Protokoll Nr 4, wenn diese ohne jede Prüfung der individuellen Lage eines jeden Beschwerdeführers durchgeführt worden ist, EGMR, NVwZ 2012, 809 ff – Hirsi Jamaa ua, dazu mit ausdrücklichem Bezug auf Art 19 I GRCh Weber ZAR 2012, 265, 269. 70 EuGH, NVwZ 2012, 417, Rn 94 – N.S. ua, das Urteil (Rn 88) folgt EGMR, NVwZ 2011, 413 – M.S.S.; in Deutschland wurde das Verfassungsbeschwerde-Verfahren 2 BvR 2015/09 mit Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG v 25.1.2011 eingestellt, nachdem das Bundesministerium des Innern das Bundesamt für Migration angewiesen hatte, generell von Überstellungen Asylsuchender nach Griechenland abzusehen und die Schutzgesuche im nationalen Verfahren zu prüfen. S dazu auch Europäischer Rat, Schlussfolgerungen der Tagung vom 23./24.6.2011, EUCO 23/1/11, Ziff 20–30 und Rat für Inneres und Justiz, Pressemitteilung zur 3151. Sitzung des Rates v 8.3.2012, Dok Nr 7308/12, 7–8, betreffend den Greek national action plan on asylum and migration.

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tur bestätigt wird (Rn 43 ff), dass die Grundrechte wegen ihrer Nähe zur Menschenwürde schrankenlos gewährleistet seien, lässt sich mit Wortlaut und Systematik der Charta nicht vereinbaren. Die in der Sache berechtigte Aussage lässt sich dogmatisch besser dadurch absichern, dass jede Beeinträchtigung der Rechte bereits deren Wesensgehalt berührt. Das Verbot der Kollektivausweisung (Art 19 I GRCh) zählt zu den schrankenlosen Gewährleistungen der EMRK, die allerdings nicht von der absoluten Schranke des Art 15 EMRK erfasst wird. Die kollektive Ausweisung wäre demnach in Kriegs- und Notstandszeiten möglich, soweit eine solche Maßnahme überhaupt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfüllen kann. Lösung Fall 2: Der EuGH sah in der griechischen Rechtslage einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit und die einschlägige Vorschrift der RL 64/221 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern. Die Ausweisung eines Unionsbürgers kann nur dann aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sein, wenn er nicht nur gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen hat, sondern sein persönliches Verhalten darüber hinaus eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Der EuGH war der Ansicht, dass das nicht der Fall sei, wenn die Ausweisung auf Lebenszeit aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung automatisch verfügt werde, ohne dass das persönliche Verhalten des Täters oder die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung berücksichtigt werde. In dieser Entscheidung kommt der Gedanke zum Ausdruck, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber Unionsbürgern und Staatsangehörigen bestimmter assoziierter Staaten wie der Türkei zwar prinzipiell möglich sind, dass diese aber nicht schlechter behandelt werden dürfen als die eigenen Staatsangehörigen des Aufnahmestaates. Eine Ausweisung ist konkret nur dann möglich, wenn Behörden und Gerichte den Einzelfall geprüft haben – pauschalierte Rechtsfolgen, die schematisch auf eine bestimmte Strafe folgen, sind ausgeschlossen. Der Fall zeigt, dass der in der Charta verbürgte Ausweisungsschutz (Art 19 GRCh) in der vorliegenden Sachverhaltskonstellation nicht einschlägig ist, dass das Unionsrecht im Ergebnis aber dennoch über das Binnenmarktrecht und das Diskriminierungsverbot auf Grund der Staatsangehörigkeit einen „Ausweisungsschutz“ bewirkt. Der Schutzbereich des EU-Grundrechts auf Ausweisungsschutz wäre nur dann betroffen, wenn dem Ausgewiesenen im Herkunftsstaat eine Gefahr für Leib und Leben drohte.

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§ 16 Höchstpersönliche Rechte Frank Schorkopf Den Schutz der Person erfassen die GRCh und die Rspr des Europäischen Gerichtshofs in mehreren selbständigen Gewährleistungen. Dazu gehören die bereits von der Rspr entwickelten Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens, auf Schutz der Wohnung, der Kommunikation und personenbezogener Daten sowie – in Ansätzen – die Religionsfreiheit. Mit der Entscheidung für die Kodifikation der europäischen Grundrechte sind diese Ansätze der Rspr aufgenommen, mit den Gewährleistungen der EMRK verzahnt und in die Systematik des zweiten Titels der GRCh unter der Überschrift „Freiheiten“ umgesetzt worden. In diesem Kap werden die in dieser Weise entstandenen Gewährleistungen des Rechts auf Freiheit und Sicherheit (I., Rn 3 ff), des Schutzes der Privatsphäre (II., Rn 14 ff ), des Schutzes personenbezogener Daten (III., Rn 38 ff), des Rechts auf Eheschließung und Familiengründung (IV., Rn 53 ff) und die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (V., Rn 61 ff ) ausgeleuchtet. Die weiteren Grundrechte, die zu diesem zweiten Teil der Charta zählen, werden in eigenständigen Kap behandelt (→ § 21); das Asylrecht sowie das Recht auf Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung (Art 18 u 19 GRCh) werden wegen der besonderen Nähe zur Menschenwürde an systematisch geeigneterem Ort, im Rahmen des vorangegangenen Kap (→ § 15) diskutiert. Mit der bevorstehenden Umstellung des Grundrechtsschutzes von der kasuistischen Methode der Rspr auf die systematische Katalogisierung im Rahmen der Charta, kann aus dem Blickfeld geraten, dass zahlreiche Gewährleistungen der Charta – zu denen auch einige der nachfolgend angesprochenen Rechte gehören – weiterhin keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Anwendungsbereich auf europäischer Ebene haben. Hinzu kommt, dass die inhaltliche Ausrichtung der Charta an der EMRK vor allem auch die Konventionspraxis in Form der Rspr des EGMR in das EU-Recht überträgt. Um Doppelungen in der Darstellung des Lehrbuchs gering zu halten und die unionsspezifische Bedeutung einzelner Grundrechte für die Tätigkeitsfelder der Union herauszustellen, orientiert sich die nachfolgende Beschreibung des geltenden Rechts an den – soweit vorhanden – Leitentscheidungen des EuGH zu den einzelnen Gewährleistungen.

I. Freiheit und Sicherheit Leitentscheidungen: EuGH, Slg 2005, I-5285 ff – Pupino = JK 2006, EUV Art 34 II/1. Schrifttum: Beukelmann Europäisierung des Strafrechts – Die neue strafrechtliche Ordnung nach dem Vertrag von Lissabon, NJW 2010, 2081 ff; Amelung Die Entstehung des Grundrechtsschutzes gegen willkürliche Verhaftung, Jura 2005, 447 ff; Calliess Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, DVBl 2003, 1096 ff; Riedel Die Habeas-Corpus-Akte, EuGRZ 1980, 192 ff; Zeder Europastrafrecht, Vertrag von Lissabon und Stockholmer Programm: Mehr Grundrechtsschutz?, EuR 2012, 34 ff.

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Fall 1: Handelsvertreter H ist dt Staatsangehöriger. Er lebt mit seiner Familie in Köln und arbeitet seit vielen Jahren für ein Unternehmen, das seine Produkte auch an Gewerbebetriebe in Frankreich und den BENELUX-Staaten vertreibt. Bei einer Vertriebsreise nach Frankreich wird H von der Polizei verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, an einem groß angelegten Betrug seines Arbeitgebers zum Nachteil französischer Kunden beteiligt zu sein. H beteuert seine Unschuld, wird aber wegen Fluchtgefahr dennoch in Untersuchungshaft genommen. Der franz Verteidiger, der von Hs Arbeitgeber beauftragt wird, verweist darauf, dass die Untersuchungshaft unverhältnismäßig sei und gegen die europ Grundrechte verstoße. Zwar bestehe die Möglichkeit, dass H nach seiner Freilassung nach Deutschland zurückkehre und sich damit vorübergehend der französischen Strafverfolgung entziehe. In Anbetracht der Möglichkeit, gegen H einen Europäischen Haftbefehl zu erwirken, der in Deutschland vollstreckt werden müsste, könnte H wieder nach Frankreich ausgeliefert werden. In Deutschland bestehe keine Fluchtgefahr, weil H einen festen Wohnsitz habe und in gesicherten Verhältnissen lebe. Dagegen verweisen die französischen Behörden auf das noch nicht abgeschlossene Ermittlungsverfahren und die Notwendigkeit, H für weitere Befragungen vor Ort zu haben.

1. Schutzbereich 4

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Das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art 6 GRCh), das am Beginn des zweiten Kap der GRCh über die höchstpersönlichen Freiheitsrechte steht, ist ein Grundrecht, dessen Inhalt sich aus Wortlaut und Systematik nicht erschließt. Der Satz „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit“ könnte das Kernrecht der Persönlichkeit umschreiben, eine umfassende allgem Handlungsfreiheit, die möglicherweise sogar den höchst aktuellen Zusammenhang im Blick hat, in welchem Maß von einer Gesellschaft Risiken und Gefahren ferngehalten werden müssen, damit individuelle Freiheit sich dauerhaft entfalten kann.1 Erst der Entstehungszusammenhang weist den Weg in Richtung auf die körperliche Bewegungsfreiheit und Integrität im Zusammenhang mit willkürlichen Freiheitsentziehungen durch hoheitliche, insb staatliche Gewalt. Art 6 GRCh übernimmt – inhaltsgleich – die entspr Garantie aus Art 5 EMRK, die häufig mit Bezug zu ihrem historischen Kontext auch als Recht auf habeas corpus bezeichnet wird, womit der Schutzbereich jedoch nur in seinem Kern beschrieben ist. Die Charta hat den ersten Satz des Art 5 I 1 EMRK übernommen, die Erläuterungen des Konvents verweisen darauf, dass das Grundrecht sowohl im Hinblick auf den Schutzbereich als auch auf die Schranken der EMRK entspricht. Der Schutzbereich umfasst zwei Gewährleistungen: Zum einen hat jeder Mensch das Recht, dass ihm nur auf gesetzlicher Grundlage und nur in den von Art 5 I lit a bis f EMRK (vgl Art 52 III iVm 6 GRCh) genannten Haftgründen die individuelle Bewegungsfreiheit entzogen wird. Zum anderen hat jeder Mensch, der festgenommen oder in Haft gehalten wird, einen akzessorischen Anspruch auf die in Art 5 II bis V EMRK genannten Garantien, die die Integrität des Betroffenen in hoheitlichem Gewahrsam sichern sollen.2 Der Wesensgehalt des Grundrechts liegt in dem Schutz des Einzelnen vor der Willkür staatlicher Gewalt mit Bezug zur körperlichen Bewegungsfreiheit. Darüber hinaus verweist Art 5 I EMRK nach der Rspr des EGMR aber auf das innerstaatliche Recht. Er ver-

1 Di Fabio NJW 2008, 421 ff; Isensee Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983. 2 EGMR, NJW 1989, 647, Rn 40 – Weeks; NJW 2005, 2207, Rn 170 f – Assanidzé.

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pflichtet die Konventionsstaaten, ihre jeweiligen materiellen und verfahrensrechtlichen Vorschriften einzuhalten.3 Die mit dem Sicherheitsbegriff angesprochene Schutzfunktion des Grundrechts umfasst das Recht des Betroffenen, in einer ihm verständlichen Sprache unverzüglich zu erfahren, was der Grund der Freiheitsentziehung ist und welche Beschuldigungen erhoben werden (Art 5 II EMRK); das Recht eines Untersuchungshäftlings, einem Richter vorgeführt zu werden und, bei fortdauernder Freiheitsentziehung, auf Durchführung eines abschließenden Verfahrens in angemessener Frist (Art 5 III EMRK) sowie das Recht, die Freiheitsentziehung von einem Gericht, das die Entlassung anordnen kann, überprüfen zu lassen (Art 5 IV). Im Fall einer konventionswidrigen Haft hat der Betroffene einen Entschädigungsanspruch (Art 5 V EMRK). Diese besonderen Rechte überschneiden sich teilweise mit den justiziellen Grundrechten (Art 47 ff GRCh → § 26), was auf die eigenwillige dogmatische Konstruktion der Charta zurückzuführen ist. Art 6 GRCh wäre aus systematischen Gründen besser Kap I der Charta zugeordnet worden. Überschneidungen ließen sich dadurch vermeiden, dass für die ein Straf- oder Disziplinarurteil vorbereitenden, freiheitsentziehenden Verfahren Art 6 GRCh (Art 5 EMRK) als lex specialis gegenüber den justiziellen Grundrechten eingeordnet wird. Da die Union über keine Zuständigkeiten verfügt, die Bewegungsfreiheit der Menschen unmittelbar einzuschränken, hat die Verweisung der EMRK auf die primäre (staatliche) Rechtsordnungsebene auf der Ebene des EU-Rechts kein Gegenstück. Dies kann sich durch weitere Kompetenzübertragungen auf die EU oder Rechtsentwicklung auf Grundlage der geltenden Verträge in Zukunft ändern – insoweit ist Art 6 GRCh ein „Merkposten“ für die Begrenztheit europäischer Hoheitsgewalt. Bis zu diesem Moment steht die Vorschrift exemplarisch für den politisch-symbolischen Wirkanspruch der Charta. Mittelbar wird der Schutzbereich des Art 6 GRCh bereits durch die gegenwärtige Rechtslage berührt. Art 1 I des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl4 verpflichtet die Mitgliedstaaten, jeden Europäischen Haftbefehl nach den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und den Vorgaben des Rahmenbeschlusses zu vollstrecken. Nach der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rs Pupino gilt der Grundsatz konformer Auslegung auch für Rahmenbeschlüsse, dh die Mitgliedstaaten haben ihr nationales Recht soweit wie möglich nach Wortlaut und Zweck des Rahmenbeschlusses auszulegen. Diese Verpflichtung der nationalen Behörden und Gerichte wird durch die allgem Rechtsgrundsätze begrenzt.5 Der Rahmenbeschluss stellt insoweit klar, dass die Pflicht zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Mitgliedstaaten nicht davon freistellt, die Grundrechte iSd Art 6 EUV zu achten. Damit wird deutlich, dass die Anwendbarkeit eines Rahmenbeschlusses – vergleichbar mit dem supranationalen Unions-

3 EGMR, NJW 2004, 2209 Rn 43 – Herz mwN. 4 Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl 2002 L 190/1, geändert durch Rahmenbeschluss 2009/299/JI, ABl 2009 L 81/24. 5 EuGH, Slg 2005, I-5285, Rn 42 ff – Pupino = JK 2006, EUV Art 34 II/1; dieser, aus der Rspr zu EG-Richtlinien entlehnte Grundsatz gilt, obwohl der Rahmenbeschluss ein Rechtsakt der intergouvernementalen Dritten Säule ist, vgl Giegerich ZaöRV 2007, 351, 371 ff. Nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon ist fraglich, ob die Handlungsform des Rahmenbeschlusses, die zur aufgelösten „3. Säule“ gehörte, unmittelbar anwendbar sein kann, dazu mit teleologischem Argument trotz Art 9 I des Übergangsprotokolls vorsichtig bejahend Wohlfahrt ZaöRV 2010, 523, 525.

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recht – die Anwendbarkeit der nationalen Grundrechte verdrängt. Es kommt bei entspr Sachverhalten in der Praxis zu Überschneidungen mit der EMRK, denn alle EU-Mitgliedstaaten sind Vertragsstaaten der Konvention und müssen insb den hier einschlägigen Art 5 EMRK ohnehin in ihrem nationalen Recht umsetzen. Art 6 GRCh hat insoweit die Funktion, die rechtsetzenden Organe der EU an die Gewährleistungen zu binden und für die legislative Konkretisierung Vorgaben zu machen. 2. Beeinträchtigung 9

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Die „Freiheitsentziehung“ ist der zentrale Begriff für die Frage, ob das Grundrecht auf Freiheit und Sicherheit beeinträchtigt ist. Der EGMR definiert ihn als Unterbringung einer Person an einem räumlich begrenzten Ort auf eine nicht unerhebliche Zeit, wobei der Betroffene in die Unterbringung nicht wirksam eingewilligt haben darf.6 An das zweitgenannte Kriterium der Einwilligung sind strenge Voraussetzungen zu stellen, es reicht nicht aus, dass sich der Betroffene in die Freiheitsentziehung, etwa in die Einlieferung in ein psychiatrisches Krankenhaus fügt. Die Beeinträchtigung des durch Art 5 II–V EMRK konkretisierten Schutzbereiches ergibt sich aus der Umkehrung der beschriebenen Schutzfunktionen. Mit Blick auf den Schutz der Freizügigkeit durch Art 45 GRCh, der in Art 2 ZP 4 EMRK seine Entsprechung in der Konvention findet, ist zwischen dem Entzug und der einfachen Beschränkung der Bewegungsfreiheit zu unterscheiden. Die Unterscheidungslinie verläuft entlang des Grades und der Intensität des Eingriffs, die Freizügigkeit bezieht sich dabei auf die räumliche Bewegungsfreiheit im Geltungsbereich der Rechtsordnung, während das habeas corpus-Recht vor der zwangsweisen Verbringung an einen bestimmten Ort schützt. Die Abgrenzung erfolgt nach dem konkreten Sachverhalt und berücksichtigt Umstände wie Art, Dauer, Auswirkungen und Umstände des Falles.7

3. Rechtfertigung 11

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Eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs ist unter drei Voraussetzungen gerechtfertigt: Die Freiheitsentziehung ist rechtmäßig, wenn (i) sie auf gesetzlich vorgeschriebenem Wege erfolgte, (ii) die materiellen und prozessualen Vorschriften des nationalen Rechts eingehalten wurden und (iii) ein Haftgrund vorlag. Die Haftgründe werden in Art 5 I lit a bis f definiert. Zulässig sind danach Freiheitsentziehungen auf Grund gerichtlicher Verurteilung (lit a), im Falle der Nichtbefolgung von Gerichtsentscheidungen oder einer gesetzlichen Handlungspflicht (lit b), zwecks Untersuchungshaft bei hinreichendem Tatverdacht, Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr (lit c), bei Minderjährigen zur Durchsetzung von Maßnahmen der Fürsorge oder von Jugendstrafe (lit d), zum Schutz der Allgemeinheit vor Krankheiten oder zum Eigenschutz von Sucht- und psychisch Kranken (lit e) oder um das unberechtigte Eindringen in das Staatsgebiet zu verhindern oder um Abschiebungen und Auslieferungen durchzusetzen (lit f). Die Freiheitsentziehung muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Die Prüfung orientiert sich an dem Ziel des Grundrechts, das Individuum gegen Willkür bei freiheitsentziehenden Maßnahmen zu schützen.8

6 EGMR, NJW-RR 2006, 308, Rn 74 – Storck, in der dt Übersetzung von Meyer-Ladewig. 7 EGMR, NVwZ 1997, 1102, Rn 42 – Amuur. 8 EGMR, Series A, Vol 33, Rn 58 – Winterwerp.

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Lösung Fall 1: Die Rechtsgrundlage für Hs Freiheitsentziehung ist das französische Strafverfahrensrecht. Es regelt ohne Vorgaben des EU-Rechts, unter welchen Voraussetzungen ein Beschuldigter in Untersuchungshaft genommen werden kann. Das französische Recht muss den Vorgaben des Art 5 EMRK entsprechen, dh es bedarf einer gesetzlichen Grundlage, eines Haftgrundes (Art 5 I lit c EMRK) und der Einhaltung der materiellen und prozessualen Vorschriften. Zwar liegt ein grenzüberschreitender Sachverhalt vor – H nimmt die Dienstleistungsfreiheit (Art 49 ff EGV = Art 56 ff AEUV) in Anspruch –, es existiert jedoch kein EU-Rechtsakt, der auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar wäre. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten zielt auf eine andere Sachverhaltskonstellation. Die zwischenzeitliche Überstellung von Frankreich nach Deutschland mit der Aussicht auf Rücküberstellung wäre zwar möglich, würde jedoch nicht die Voraussetzung der Erforderlichkeit erfüllen. Als milderes Mittel wäre dieses Vorgehen nicht ebenso effektiv, das Ziel der Strafverfolgung zu erreichen. Hinzu kommt, dass Deutschland die Auslieferung Hs insb dann verweigern könnte, wenn gegen H in Deutschland strafrechtlich ermittelt werden würde. Der Fall berührt das Problem, dass Unionsbürger, die einer Straftat im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verdächtigt werden, in dem sie nicht wohnhaft sind, in der Regel wegen Fluchtgefahr und fehlender Bindung zu dem betreffenden Mitgliedstaat in Untersuchungshaft genommen werden. Ein Beschuldigter, der in dem Mitgliedstaat wohnhaft ist, in dem er einer Straftat beschuldigt wird, würde in einer vergleichbaren Situation allerdings häufig einer weniger einschneidenden Überwachungsmaßnahme unterworfen. Solche Maßnahmen, wie etwa eine Meldeauflage, sind jedoch erst seit Erlass des Rahmenbeschlusses 2009/829/JI über die Anwendung – zwischen den EU-Mitgliedstaaten – des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft (ABl 2009 L 294/20) möglich. Der Rahmenbeschluss war bis zum 1.12.2012 in nationales Recht umzusetzen.

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II. Schutz der Privatsphäre Leitentscheidungen: EuGH, Slg 2010, I-11063 ff – Schecke ua; Slg 2006, I-3449 ff – Kommission/ Deutschland; Slg 2004, I-5257 ff – Orfanopoulos u Oliveri; Slg 2002, I-6279 ff – Carpenter = JK 2002, EGV Art 49/6; Slg 2002, I-9011 ff – Roquette Frères; Slg 1994, I-4737 ff – X/Kommission; Slg 1992, I-2575 ff – Kommission/Deutschland = JK 92, EWGV Art 30/2; Slg 1989, 2859 ff – Hoechst = JK 92, EWGV Art 30/2; Slg 1989, 3165 ff – Dow Chemical; Slg 1989, 195 ff – Cowan; Slg 1980, 2033 ff – National Panasonic; Slg 1982, 1575 ff – AM und S; Slg 1989, 1263 ff – Kommission/Deutschland. Schrifttum: Jarass Das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens, FamRZ 2012, 1181 ff; Tettinger/Geerlings Ehe und Familie in der europäischen Grundrechtsordnung, EuR 2005, 419 ff; Siemen Grundrechtsschutz durch Richtlinien / Die Fälle Österreichischer Rundfunk ua und Lindqvist, EuR 2004, 306 ff; Meyer/Kuhn Befugnisse und Grenzen kartellrechtlicher Durchsuchungen nach VO 1/2003 und nationalem Recht, WuW 2004, 880 ff; Breitenmoser Der Schutz der Privatsphäre gemäß Art 8 EMRK, 1986.

Das Recht auf Schutz der Privatsphäre (Art 7 GRCh) ist ein Grundrecht, das in der Rspr des EuGH unter Rückgriff auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und Art 8 EMRK seit längerem fest verankert ist.9 Es ist nunmehr durch Art 7 9 Vgl EuGH, Slg 1992, I-2575, Rn 23 – Kommission/Deutschland = JK 92, EWGV Art 30/2, unter Hinweis auf EuGH, Slg 1980, 2033 ff – National Panasonic; Slg 1994, I-4737, Rn 17 – X/Kommission; EuG, Slg 1994, II-179, Rn 48 – A.

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GRCh verbürgt, der die Gewährleistung der Konvention nahezu wortgleich in die Charta übertragen hat. Die Prägefunktion von Art 8 EMRK entfaltet sich bei diesem Grundrecht vor allem in der Unterteilung des Schutzbereichs in Teilaspekte des Gewährleistungsgehalts: Geschützt werden das Privatleben, zu dem der EuGH ausdrücklich das Recht auf Schutz des Arztgeheimnisses zählt,10 und das Familienleben, ein Recht, das in der Rspr zur Ausweisung von Unionsbürgern erheblich an Bedeutung zugenommen hat.11 Weitere Teilaspekte sind die in Art 7 GRCh ausdrücklich erwähnte Unverletzlichkeit der Wohnung12 und der Schutz der Kommunikation, der in Form der Vertraulichkeit des anwaltlichen Schriftverkehrs ein praktisches Anwendungsgebiet hat.13 Bei systematischer Betrachtung ist auch das Recht auf Schutz personenbezogener Daten eine Ausprägung der Achtung des Privatlebens – es wird in der Charta durch ein eigenständiges Grundrecht geschützt (Art 8 GRCh → § 16 Rn 38). Von einem allgem Persönlichkeitsrecht auf Unionsebene kann hingegen nicht gesprochen werden. Der EuGH bedient sich in seiner Rspr einer anderen Terminologie, die auf die Dogmatik der EMRK gegründet ist. Die in der Leitscheidung in der Rs Stauder verwendete Formulierung von den „Grundrechten der Person“ gibt für einen solchen Rückgriff auf das Begriffssystem des Grundgesetzes keinen Anlass. Der EuGH hat diese Formulierung in seinen nachfolgenden Entscheidungen nicht wieder aufgegriffen und die einzelnen Grundrechte zum Schutz der Privatsphäre im Wesentlichen unter dem „Dach“ des Art 8 EMRK entwickelt. Fall 2: (EuG, Slg 1992, II-2195 ff und EuGH, Slg 1994, I-4737 ff – X/Kommission) X wurde zu einem Auswahlverfahren für Schreibkräfte der Kommission zugelassen. Obwohl er die schriftliche Prüfung nicht bestanden hatte, forderte ihn die Generaldirektion Personal und Verwaltung auf, sich im Hinblick auf eine mögliche Einstellung als Bediensteter auf Zeit für einen Zeitraum von sechs Monaten gemäß den Beschäftigungsbedingungen einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. X ließ sich daraufhin von dem Vertrauensarzt der Kommission untersuchen. Es wurden klinische Untersuchungen und Laboruntersuchungen vorgenommen, den Vorschlag des ärztlichen Dienstes einen HIV-Test durchzuführen, lehnte X hingegen ab. Der Vertrauensarzt teilte X kurze Zeit später mit, dass er seine Einstellung aus ärztlicher Sicht nicht befürworten werde. Gleichzeitig forderte er X auf, ihm den Namen seines behandelnden Arztes mitzuteilen, damit er diesem den von ihm festgestellten Befund mitteilen könne. Die Generaldirektion Personal und Verwaltung teilte dem X mit, dass sie aufgrund der fehlenden körperlichen Eignung von seiner Einstellung Abstand nehme. Die Auswertung des medizinischen Befundes durch den behandelnden Arzt des X macht deutlich, dass der Vertrauensarzt der Kommission eine opportunistische Infektion, die das Endstadium von Aids (‚full blown Aids‘) anzeige, bei X diagnostiziert hatte. Die weitere verwaltungsinterne Untersuchung ergab, dass X zwar keinem verdeckten AidsTest, dafür aber einer Laboruntersuchung zur Bestimmung der Lymphozyten T4/T8 unterzogen worden war. Eine solche Untersuchung ist zur Beurteilung des Zustands des Immun-

10 EuGH, Slg 1992, I-2575, Rn 23 – Kommission/Deutschland = JK 92, EWGV Art 30/2. 11 EuGH, Slg 2006, I-3449 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2004, I-5257 ff – Orfanopoulos u Oliveri. 12 EuGH, Slg 1989, 2859 ff – Hoechst = JK 92, EWGV Art 30/2; Slg 1989, 3137 ff – Dow Benelux; Slg 1989, 3165 ff – Dow Chemical; Slg 2002, I-9011, Rn 27 ff – Roquette Frères. 13 EuGH, Slg 1982, 1575 ff – AM und S.

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systems des Patienten und nicht speziell zur Auffindung einer viralen oder bakteriellen Erkrankung bestimmt. Gleichwohl lässt sich durch den Test der Verdacht eines Vorliegens des Aids-Virus begründen. Die von X gegen die ablehnende Entscheidung der Kommission und mit dem Antrag auf Ersatz des immateriellen Schadens erhobene Klage vor dem Gericht erster Instanz blieb ohne Erfolg. X legte gegen die Entscheidung Rechtsmittel vor dem EuGH ein.

1. Schutzbereich a) Der Anspruch auf Achtung des Privatlebens schützt die Identität und Entwicklung der Person sowie das Recht, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt zu knüpfen und zu pflegen.14 Nach der Rspr des EGMR ist der Begriff „Privatleben“ umfassend zu verstehen und einer abschließenden Definition nicht zugänglich.15 Demzufolge unterliegt das Grundrecht der kasuistischen Konkretisierung, die von Fragen der Geschlechtsidentifikation, des Namens und der sexuellen Orientierung, über die Kenntnis der Abstammung bis hin zur öffentlichen Aufzeichnung von Bewegungsdaten und der Veröffentlichung von Bildern über Menschen reicht (vgl → § 3 Rn 3 ff ).16 In der Praxis des Unionsrechts hat diese Teilgewährleistung des Grundrechts bislang Bedeutung im Zusammenhang mit der Datenerhebung erlangt.17 Der Anspruch auf Achtung des Familienlebens gehört ebenfalls zu den Grundrechten des EU-Rechts, die der EuGH vor der Verabschiedung der Charta anerkannt hat. Es nimmt den Kernbereich des Privatlebens auf, primär das Miteinander von Eheleuten und Kindern (Art 9 GRCh), darüber hinaus aber auch weitere de facto familiäre Lebensgemeinschaften; nach der Rspr des EGMR ist entscheidend, ob enge persönliche Bindungen wirklich und tatsächlich vorhanden sind18 (→ § 3 Rn 9 ff). Der Gerichtshof hat das Grundrecht im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Art 8 EMRK entwickelt.19 Der Sachverhalt der Leitentscheidung betraf Art 10 III VO 1612/68.20 Die Vorschrift machte das Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen davon abhängig, dass der Arbeitnehmer über eine Wohnung verfügt, die in dem Gebiet, in dem er beschäftigt ist, den für die inländischen Arbeitnehmer geltenden normalen Anforderungen genügt. Dieser Regelung stand eine dt Rechtsvorschrift (§ 7 AufenthG/EWG aF) entgegen, die die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis für Familienangehörige von Wanderarbeitnehmern davon abhängig

14 EGMR, NJW 2003, 2145 Rn 29 – Odièvre. 15 EGMR, Series A, Vol 91, 11, Rn 22 – X u Y; NJW 2002, 2851 Rn 61 – Pretty = JK 2003, StGB § 216/5. 16 EGMR, NJW 2004, 2647 Rn 57 – von Hannover Nr 1 = JK 2005, EMRK Art 8/4. 17 EuGH, Slg 2010, I-11063 ff – Schecke ua, der EuGH prüfte die Verletzung der durch Art 7 und 8 GRCh anerkannten Rechte, da das Recht zum Schutz personenbezogener Daten (Art 8 GRCh) „in engem Zusammenhang mit dem in Art 7 der Charta verankerten Recht auf Achtung des Privatlebens“ stehe. 18 EGMR, NJW 2003, 809, Rn 150 – K u T; NJW 2011, 1421 ff – Schalk u Kopf, wonach die gleichgeschlechtliche Partnerschaft unter den Begriff des „Familienlebens“ fällt. 19 EuGH, Slg 1989, 1263 ff – Kommission/Deutschland, dazu die Besprechung von Watson ELRev 1989, 417 ff. 20 VO 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl 1968 L 257/2.

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machte, dass die Familien während der gesamten Dauer ihres Aufenthalts, und nicht nur zum Zeitpunkt der Wohnungsnahme, in angemessenen Wohnverhältnissen lebten. Auf Grund dieser Regelung hatte Deutschland nach Ansicht des Gerichtshofs gegen die Verpflichtung aus der Verordnung verstoßen. Das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens hat mittlerweile eine bedeutende Rolle bei der Auslegung der Grundfreiheiten und des sekundären Rechts erlangt. Das zeigt exemplarisch – wie die zitierte Leitentscheidung – die Rs Carpenter. In diesem Fall ging es um die Vereinbarkeit der Ausweisung der philippinischen Ehefrau eines britischen Staatsangehörigen, der im weiteren Sinn grenzüberschreitende Dienstleistungen erbrachte, mit dem Gemeinschaftsrecht.21 Der Gerichtshof kam in dem Vorabentscheidungsverfahren zu dem Ergebnis, dass Art 49 EGV (56 AEUV) im Lichte des Grundrechts auf Achtung des Familienlebens auszulegen sei. Deshalb dürfe der Ehegatte eines Dienstleistungserbringers aus dem Herkunftsmitgliedstaat grundsätzlich nicht ausgewiesen werden. Die Verweigerung der Einreise in das oder die Entfernung einer ausländischen Person aus dem Land, in dem ihre nahen Verwandten lebten, sieht der Gerichtshof als rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens.22 In der neueren Rspr zu entsprechenden Sachverhalten nimmt der Gerichtshof nicht auf Art 7 GRCh Bezug.23 Das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, wird in einem eigenständigen Grundrecht geschützt (Art 9 GRCh → § 16 Rn 54 ff ). b) Der EuGH hat in seiner Rspr auch ein Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung anerkannt, was durch den Wortlaut des Art 7 GRCh nunmehr sichtbar geworden ist – von der Warte der EMRK fällt dieses Recht in die weit verstandene Privatsphäre des Menschen. Der Schutzbereich umfasst in jedem Fall die Privatwohnungen natürlicher Personen; eine Ausdehnung des Schutzbereichs auf die Geschäftsräume von Unternehmen ist eine der interessanten Fragen im europäischen System des Grundrechtsschutzes. Der EuGH lehnte es lange Zeit ab, die Geschäftsräume in den Schutzbereich einzubeziehen,24 was deshalb bemerkenswert ist, weil diese Thematik gerade den wirtschaftsrechtlichen Bezug aufweist, dessen häufiges Fehlen im Übrigen die Entwicklung eines umfassenden Grundrechtskanons der Union erschwerte. Der EuGH begründet seine Auffassung damit, dass die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf Art und Umfang des Schutzes von Geschäftsräumen nicht unerhebliche Unterschiede aufwiesen. Eine Ausdehnung des Grundrechts auf Geschäftsräume lasse sich auch nicht aus Art 8 EMRK herleiten. Der Schutzbereich dieses Artikels erfasse lediglich den „Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs“ und diene lediglich der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Zudem liege zu dieser Fragestellung keine einschlägige Rspr des EGMR vor.25 Das Motiv für diese Auffassung liegt jedoch zugleich in dem Umstand, dass die Durchsuchung von

21 EuGH, Slg 2002, I-6279, Rn 41 ff – Carpenter = JK 2002, EGV Art 49/6, dazu die Besprechung v Mager JZ 2003, 204 ff. 22 EuGH, Slg 2004, I-5257, Rn 97 f – Orfanopoulos u Oliveri; Slg 2008, I-5157, Rn 107 ff – Jipa. 23 EuGH, Slg 2011, I-3375 ff – McCarthy, bezogen auf Ehegatten; Slg 2010, I-1107 ff – Teixeira, Slg 2011, I-1177 ff – Ruiz Zambrano, jeweils bezogen auf andere Familienangehörige. 24 EuGH, Slg 1989, 2859 ff – Hoechst = JK 92, EWGV Art 30/2; Slg 1989, 3137 ff – Dow Benelux; Slg 1989, 3165 ff – Dow Chemical. 25 Vgl EuGH, Slg 1989, 3137, Rn 28 f – Dow Benelux und Slg 1980, 2033, Rn 19 f – National Panasonic.

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Geschäftsräumen im europäischen Wettbewerbsrecht eine große Bedeutung hat und das Grundrecht deshalb eine Schranke für die effektive Anwendung des Kartellverfahrensrechts seitens der Kommission ist (Rn 23). Nachdem der EGMR Geschäftsräume in den Schutzbereich ausdrücklich einbezogen hat, ist die Abweichung offensichtlich geworden: Hatte der EGMR in dem Fall Niemitz die Räumlichkeiten einer Anwaltskanzlei in den Schutzbereich des Art 8 EMRK einbezogen,26 stellte er in seinem Urt im Fall Stes Colas Est ausdrücklich fest, dass der Schutzbereich von Art 8 EMRK unter bestimmten Umständen auch auf die Geschäftsräume, Niederlassungen und sonstigen Betriebsgrundstücke von Unternehmen zu erstrecken sei.27 Der EuGH hat die letztgenannte Entscheidung des EGMR zum Anlass genommen, die Kritik an der Divergenz der Schutzbereiche aufzunehmen und in seiner eigenen Rspr zu beantworten. In der Entscheidung in der Rs Roquette Frerès wird unter Hinweis auf die EGMR-Rspr anerkannt, dass „der Schutz der Wohnung, um den es in Art 8 EMRK geht, unter bestimmten Umständen auf Geschäftsräume ausgedehnt werden kann“. Zugleich wahrt der Gerichtshof aber auch seine Position, indem er darauf hinweist, dass „der Eingriffsvorbehalt nach Art 8 II EMRK bei beruflichen oder geschäftlichen Tätigkeiten oder Räumen sehr wohl weiter gehen könnte als in anderen Fällen.“28 Diese Aussage bezieht der EuGH auf den in seiner bisherigen Leitentscheidung in der Rs Hoechst anerkannten allgem Rechtsgrundsatz des Schutzes vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer natürlichen oder juristischen Person.29 Der Bezug auf Art 8 EMRK und die EGMR-Rspr zeigen, dass hiermit das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre angesprochen ist. Die Rechtsprechungslinien von EGMR und EuGH sind ein herausgehobenes Beispiel für die Kommunikation oberster Gerichtshöfe im Mehrebenensystem. Sie belegen aber auch die Prägefunktion der EMRK, die durch die institutionelle Verschränkung des EU-Grundrechtsschutzes mit der Konvention nunmehr auch mit ihren Einzelheiten bis in die Union hineinwirkt. Es bestehen jedoch weiterhin Unterschiede im Niveau des Grundrechtsschutzes, die sich auf die Ebene der Rechtfertigung einer Schutzbereichsbeeinträchtigung verschoben haben (Rn 30 ff ). c) Als vierte Teilgewährleistung bezieht das Recht auf Schutz der Privatsphäre die Kommunikation in den Schutzbereich ein. Der Begriff der „Kommunikation“ ersetzt mit Blick auf die technische Entwicklung den in Art 8 EMRK verwendeten Begriff der „Korrespondenz“. Das Grundrecht will in erster Linie das Vertrauen des Bürgers in die Übertragungswege von Informationen schützen, um den zwischenmenschlichen Austausch auch über die Distanz zu fördern. Im Zusammenhang mit einem Verwaltungsverfahren der Kommission nach der KartellVO hat der EuGH den speziellen Grundsatz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandanten entwickelt.30 Der Grundsatz, den der EuGH aus einem Vergleich der mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften herleitet, kann geltend gemacht wer-

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EGMR, EuGRZ 1993, 65, 66 – Niemitz = JK 93, EMRK Art 8/1. EGMR, ECHR 2002-III, Rn 41 – Stés Colas Est. EuGH, Slg 2002, I-9011, Rn 29 – Roquette Frères. EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst = JK 92, EWGV Art 30/2. EuGH, Slg 1982, 1575 ff – AM und S, zur Entstehung und Ratio der Entscheidung s Temple Lang in: Hoskins/Robinson (Hrsg) Essays for Judge David Edwards, 2004, 153 ff.

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den, wenn der Schriftwechsel im Rahmen und im Interesse des Mandantenrechts auf Verteidigung geführt wird und von unabhängigen Rechtsanwälten ausgeht, die nicht durch einen allgem Geschäftsbesorgungsvertrag an ihren Mandanten gebunden sind.31 Weiterhin ungeklärt ist die Frage, ob dieser Schutz auch auf die Korrespondenz zwischen der Unternehmensleitung und der – etwa mit Syndikusanwälten besetzten – Rechtsabteilung zu erstrecken ist. Einen weiter reichenden grundrechtlichen Bezug hat der EuGH in seiner Entscheidung bislang nicht hergestellt. Die Vertraulichkeit der Kommunikation ist allerdings ein wichtiger Leitgedanke der Rechtssetzung im Bereich Datenschutz geworden. So verpflichtet Art 5 I der RL 2002/58 (Rn 40) die Mitgliedstaaten, die Vertraulichkeit der mit öffentlichen Kommunikationsnetzen und öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten übertragenen Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch innerstaatliche Vorschriften sicherzustellen. Es seien insb das Mithören, Abhören und Speichern sowie andere Arten des Abfangens oder Überwachens von Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten grundsätzlich zu untersagen.

2. Beeinträchtigung 28

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Das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre wird sowohl gegenüber Beeinträchtigungen durch Unionsorgane als auch gegenüber Handlungen der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts gewährleistet – es gelten die allgem Regeln (Rn 11, → § 14 Rn 46 ff ). Ergänzend ist im Zusammenhang mit dem Teilschutzbereich der Achtung des Privatlebens auf die EGMR-Rspr hinzuweisen, nach der Art 8 EMRK nicht nur darauf zielt, den Einzelnen gegen direkte Eingriffe des Staates – oder eines Trägers hoheitlicher Gewalt wie der Union – zu schützen, sondern auch Schutz im Verhältnis von Privatpersonen untereinander gewähren soll. Aus Art 8 EMRK wird deshalb in besonderem Maße auch eine positive Verpflichtung herausgelesen, die Hoheitsträgern ein Handeln, insbes durch formelle Rechtsakte auferlegt (→ § 14 Rn 35).32

3. Rechtfertigung 30

Die inhaltsgleiche Übernahme von Art 8 EMRK führt dazu, dass eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs nach Art 52 III GRCh gerechtfertigt werden kann. Ein Eingriff in das Grundrecht ist nach der bisherigen Rspr des EuGH unter zwei Voraussetzungen gerechtfertigt: Erstens muss die Beschränkung tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Union entsprechen; zweitens darf sie „nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.“33 Der EuGH hat bislang einen regelmäßigen und generalisierenden Bezug auf die Schranken des Art 8 II EMRK und die dort aufgezählten zulässigen Ziele einer Grundrechtsbeschränkung (nationale oder öffentliche Sicherheit, wirtschaftliches Wohl des Landes, Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straf-

31 EuGH, Slg 1982, 1575, LS 3 und Rn 21 – AM und S; EuG, Slg 1990, II-163, Rn 13 – Hilti. 32 EGMR, NJW 2004, 2649, Rn 57 – von Hannover Nr 1 = JK 2005, EMRK Art 8/4; NJW 2012, 1053 Rn 98 – von Hannover Nr 2. 33 EuGH, Slg 1989, I-2237, Rn 15 – Schräder; Slg 1992, I-2575, Rn 23 – Kommission/Deutschland = JK 92, EWGV Art 30/2.

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taten, Schutz der Gesundheit, der Moral oder der Rechte und Freiheiten anderer) vermieden. Stattdessen wendete er die zitierte allgem Rechtfertigungsformel an, ohne dabei allerdings die materiellen Schrankenvorbehalte der EMRK aus den Augen zu verlieren. So entschied der EuGH, dass zu den Zielen, die eine Beschränkung des Rechts auf Achtung des Privatlebens rechtfertigen könnten, der Schutz der öffentlichen Gesundheit und des menschlichen Lebens gehören. Aus diesem Grund ist es den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaates erlaubt, im Interesse des Schutzes der öffentlichen Gesundheit die Einfuhr von Arzneimitteln, die im Einfuhrmitgliedstaat verschreibungspflichtig sind, zu kontrollieren. Diese Kontrollen müssen allerdings so ausgestaltet sein, dass sie den Erfordernissen, die sich aus dem Schutz der Grundrechte ergeben, entsprechen.34 Lösung Fall 2: Ein Bediensteter auf Zeit wird gemäß Art 13 der Beschäftigungsbedingungen vor der Einstellung durch einen Vertrauensarzt des Gemeinschaftsorgans untersucht, damit die Anstellungsbehörde die Gewissheit erhält, dass der Bewerber die Einstellungsvoraussetzungen erfüllt. Die Beschäftigungsbedingungen sehen vor (Art 12 II lit d), dass als Bediensteter auf Zeit nur eingestellt werden kann, wer die für die Ausübung seines Amtes erforderliche körperliche Eignung besitzt. Die Einstellungsuntersuchung dient einem legitimen Interesse der Gemeinschaftsorgane: Sie müssen in der Lage sein, ihre Aufgaben zu erfüllen. Dieses Interesse rechtfertigt jedoch nicht, dass eine Untersuchung gegen den Willen des Betroffenen vorgenommen wird. Verweigert der Betroffene, nachdem er aufgeklärt worden ist, seine Zustimmung zu einer Untersuchung, die nach Auffassung des Vertrauensarztes erforderlich für die Beurteilung der gesundheitlichen Eignung ist, sind die Gemeinschaftsorgane nicht verpflichtet, das mit seiner Einstellung verbundene Risiko einzugehen. Allerdings erfordert – nach Auffassung des EuGH – das Recht auf Achtung des Privatlebens, dass die Weigerung des Betroffenen umfassend berücksichtigt wird. Da es X ausdrücklich abgelehnt hatte, sich einem Aids-Test zu unterziehen, stand dieses Recht der Vornahme jedes Tests durch die Verwaltung entgegen, der zur Feststellung oder zum Verdacht eines Vorliegens dieser Krankheit – deren Aufdeckung X abgelehnt hatte – führen konnte. Der fragliche Lymphozytentest bot dem Vertrauensarzt jedoch ausreichende Anhaltspunkte, um auf eine mögliche Infektion mit dem Aids-Virus bei X zu schließen. Der EuGH hat das angefochtene Urt deshalb aufgehoben. Da die Sache entscheidungsreif iSv Art 54 I (Art 61 I nF) der Satzung des Gerichtshofs war, wurde die ablehnende Entscheidung, die dem X durch den Generaldirektor für Personal und Verwaltung mitgeteilt wurde, ebenfalls aufgehoben.

Eine größere Aufmerksamkeit in Bezug auf Einzelheiten verdienen die Voraussetzungen, unter denen der Eingriff in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung gerechtfertigt werden kann. Ausgangspunkt der in der Europarechtspraxis einschlägigen Sachverhalte kartellrechtlich veranlasster Durchsuchungen von Geschäftsräumen ist, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen sein muss und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Der EuGH hat diese Voraussetzungen bereits in seinen Entscheidungen zu Art 17 VO 17/62 – der ersten Kartellverordnung – konkretisiert.35

34 EuGH, Slg 1992, I-2575, Rn 24 – Kommission/Deutschland = JK 92, EWGV Art 30/2. 35 EuGH, Slg 1980, 2033, Rn 19 – National Panasonic, zuletzt Slg 2002, I-9011, Rn 22 ff – Roquette Frerès.

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Die im Jahr 2003 novellierte Kartellverfahrensordnung (VO 1/2003)36 nimmt diesen grundrechtlichen Maßstab auf und versucht, ihn weiter zu konkretisieren. Art 20 VO 1/2003 ermächtigt die Kommission, bei Unternehmen und Unternehmensvereinigungen alle erforderlichen Nachprüfungen vorzunehmen, um die Aufgabe, über die Einhaltung der Wettbewerbsregeln des Gemeinsamen Marktes zu wachen, zu erfüllen. Die Bediensteten der Kommission haben die Befugnis, (i) alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel zu betreten, (ii) die Bücher und sonstigen Geschäftsunterlagen zu prüfen, (iii) Kopien oder Auszüge aus diesen Büchern und Geschäftsunterlagen anzufertigen, (iv) betriebliche Räumlichkeiten und Bücher oder Unterlagen zu versiegeln und (v) mündliche Erklärungen an Ort und Stelle anzufordern. Die Kommission verfügt demnach über weit reichende Durchsuchungsrechte, um Beweismaterial für Verstöße gegen die europäischen Wettbewerbsregeln zu sammeln. Die Kartellverfahrensordnung enthält deshalb zahlreiche Vorgaben und Verfahrensregelungen – etwa einen Richtervorbehalt für die Durchsuchung (Art 21 III) und Anhörungsrechte (Art 27) –, um die Rechte der Betroffenen zu gewährleisten. So ist die Kommission zur Angabe von Gegenstand und Zweck der Nachprüfung verpflichtet, damit das betroffene Unternehmen in der Lage ist, den Umfang seiner Mitwirkungspflichten zu erkennen und zugleich seine Verteidigungsrechte zu wahren. Die Bedingungen für die Ausübung der Nachprüfungsbefugnisse der Kommission hängen ferner von dem gewählten Verfahren, der Haltung des betroffenen Unternehmens und der Beteiligung der nationalen Behörden ab. Erfolgt die Nachprüfung unter Mitwirkung der betroffenen Unternehmen, haben die Bediensteten der Kommission ua das Recht, sich die von ihnen angeforderten Unterlagen vorlegen zu lassen, die von ihnen bezeichneten Räume zu betreten und sich den Inhalt der Möbel zeigen zu lassen. Dagegen können sie sich nicht gewaltsam Zugang zu Räumen oder Einrichtungsgegenständen verschaffen oder die Beschäftigten des Unternehmens zwingen, ihnen den Zugang hierzu zu gewähren. Durchsuchungen können auch nicht ohne die Einwilligung der Verantwortlichen des Unternehmens vorgenommen werden. Widersetzt sich das betroffene Unternehmen einer Nachprüfung, können die Bediensteten der Kommission auf der Grundlage von Art 20 VI VO 1/2003 ohne Mitwirkung der Unternehmen nach allen für die Nachprüfung notwendigen Informationsquellen suchen. Zu diesem Zweck sind die nationalen Behörden einzuschalten, die der Kommission die erforderliche Unterstützung zu gewähren haben. Diese Unterstützung ist für den Fall vorgeschrieben, dass sich das Unternehmen ausdrücklich widersetzt, sie kann jedoch auch vorsorglich angefordert werden. Es ist insoweit Sache des einzelnen Mitgliedstaats, die Bedingungen zu regeln, unter denen die nationalen Stellen die Kommission unterstützen. Die für die Gewährleistung der Rechte der Unternehmen geeigneten Verfahrensmodalitäten bestimmen sich nach den Grenzen des nationalen Rechts, dh die Kommission hat

36 VO 1/2003 zur Durchführung der in den Art 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, zuletzt geändert durch VO 487/2009 zur Anwendung von Art 81 III des Vertrags auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Luftverkehr, ABl 2009 L 148/1. Diese Ermittlungsbefugnisse der Kommission gelten auch im Fusionskontrollverfahren, VO 139/2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, dazu Staebe/Denzel EWS 2004, 194, 198; vgl ferner Art 18 VO 4056/86 über die Einzelheiten der Anwendung der Art 85 und 86 des Vertrages auf den Seeverkehr, ABl 1986 L 378/4, berichtigt durch ABl 1988 L 117/34.

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die im nationalen Recht vorgesehenen Verfahrensgarantien zu beachten. Die nationalen Behörden und Gerichte (!) sind allerdings nach der Konzeption des Unionsrechts nicht befugt, die Notwendigkeit der angeordneten Nachprüfungen durch die Kommission zu beurteilen und die Übermittlung der in den Kommissionsakten enthaltenen Informationen zu verlangen. Dadurch soll die Ermittlungsprärogative der Kommission geschützt werden und – so ist wohl zu vermuten – ein kollusives Zusammenwirken der nationalen Behörden und Gerichte verhindert werden. Ein mitgliedstaatliches Gericht, das eingeschaltet wird um etwa einen Durchsuchungsbefehl auszustellen, hat jedoch das Recht und die Pflicht festzustellen, ob die Zwangsmaßnahme nicht willkürlich und unverhältnismäßig ist. Der EuGH hat in der Rs Roquette Frerès nun ausdrücklich unter Hinweis auf die EGMR-Rspr (Rn 23) darauf hingewiesen, dass diese Pflicht zur eigenständigen Vergewisserung in jedem Einzelfall bestehe. Die damit verbundene Problematik, dass die Kommission dem mitgliedstaatlichen Gericht nur widerwillig ausreichende Informationen zur Verfügung gestellt hat, ist durch eine Klarstellung des Gerichthofs gemildert worden. Das mitgliedstaatliche Gericht müsse sich vergewissern, dass ernsthafte Indizien vorliegen, die für den Verdacht eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln durch das betroffene Unternehmen ausreichen. Die Kommission müsse folglich Erläuterungen geben, in denen substanziiert dargelegt werde, dass sie in ihren Akten über ernsthafte Informationen und Hinweise verfüge, die den Verdacht von Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln durch das betroffene Unternehmen begründeten. Ein Aktenvorlagepflicht der Kommission bestehe hingegen nicht. Zudem sei das Gericht über die wesentlichen Merkmale der behaupteten Zuwiderhandlung zu informieren, um ihm zu ermöglichen, deren Schwere zu beurteilen. Diese Informationspflicht der Kommission umfasst die Ansicht zum relevanten Markt, die Natur der behaupteten Wettbewerbsbeschränkungen und das Ausmaß der vermuteten Verwicklung des betroffenen Unternehmens.37 Die Sach- und Rechtserwägungen der Kommission unterliegen dagegen der Rechtmäßigkeitskontrolle ex post ausschließlich durch das Gericht erster Instanz und den EuGH (Art 20 VIII, Art 21 III 2 VO 1/2003). Die Rechtsgrundlage für Ermittlungsmaßnahmen in anderen Räumlichkeiten als den Geschäftsräumen, dh insb in Privatwohnungen, modifiziert die Tatbestandsvoraussetzungen – jedenfalls nach dem Wortlaut – dahingehend, dass eine Durchsuchungsanordnung nur mit der vorherigen Genehmigung des einzelstaatlichen Gerichts des betreffenden Mitgliedstaats vollzogen werden kann (Art 21 III VO 1/2003).

III. Schutz personenbezogener Daten Leitentscheidungen: EuGH, Slg 2010, I-11063 ff – Schecke ua; Slg 2008, I-271 ff – Promusicae; Slg 2007, I-5305 ff – Ordre des barreaux francophones et germanophone ua; Slg 2003, I-4989 ff – Österreichischer Rundfunk ua; Slg 2003, I-12971 ff – Lindqvist. Schrifttum: Masing Herausforderungen des Datenschutzes, NJW 2012, 2305 ff; Kilian Subventionstransparenz und Datenschutz, NJW 2011, 1325 ff: Britz Die Europäisierung des grundrechtlichen Datenschutzes, EuGRZ 2009, 1 ff; Westphal Die neue EG-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, EuZW 2006, 555 ff; Siemen Grundrechtsschutz durch Richtlinien/Die Fälle Österreichischer Rundfunk ua und Lindqvist, EuR 2004, 306 ff.

37 EuGH, Slg 2002, I-9011, Rn 54 ff – Roquette Frerès, mit Anm v Feddersen EuZW 2003, 22 f, der auf den Zusammenhang mit der EGMR-Entscheidung in dem Fall Stés Colas Est hinweist.

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Rechtsakte: RL 95/46 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl 1995 L 281/31; RL VO 45/2001 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr, ABl 2001 L 8/1; RL 2002/58 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation), ABl 2002 L 201/37; RL 2002/58 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation, ABl 2002 L 201/37; RL 2006/24 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der RL 2002/58, ABl 2006 L 105/54; Rahmenbeschluss 2008/977/JI über den Schutz personenbezogener Daten, die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Stafsachen verarbeitet werden, ABl 2008 L 350/60.

1. Schutzbereich 38

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Fall 3: (EuGH, Slg 2003, I-4989 ff – Österreichischer Rundfunk ua) Frau N und Herr L, zwei leitende Angestellte der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt ORF, wendeten sich an österreichische Gerichte, um ihrem Arbeitgeber die Übermittlung von Daten über ihre Einkommen an den Rechnungshof untersagen zu lassen. Nach österreichischem Recht sind die der Kontrolle des Rechnungshofs unterliegenden Rechtsträger verpflichtet, diesem die gezahlten Bezüge und Ruhebezüge mitzuteilen, soweit sie einen im Jahr 2000 auf etwa 82.400,– Euro festgelegten Betrag überschritten. Zwar ist die Offenlegung der Namen der Betroffenen nach dem österreichischen Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen, jedoch hat sich der Rechnungshof der Lehrmeinung angeschlossen, die diesen Schritt für erforderlich hält. Der Rechnungshof nimmt die Einkommensdaten in seinen Jahresbericht auf, der dem Nationalrat, dem Bundesrat und den Landtagen übermittelt und auch der Allgemeinheit zugänglich gemacht wird. In den unteren Instanzen hatten N und L zunächst keinen Erfolg, in der Revisionsverhandlung vor dem Obersten Gerichtshof drangen sie jedoch mit ihrer Argumentation durch, dass die österreichische Verwaltungspraxis gegen die unmittelbar anwendbare Datenschutzrichtlinie RL 95/46 verstoße. Der Oberste Gerichtshof setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Fragen vor, ob die österreichische Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht, insb der RL 95/46 vereinbar sei und ob deren Vorschriften idS unmittelbar anwendbar seien, dass sich die Parteien auf sie berufen könnten, um die Anwendung zwingender Vorschriften des nationalen Rechts zu verhindern.

In der wegweisenden Entscheidung Stauder aus dem Jahr 1969 hat der EuGH die Individualisierung eines sozialhilfeberechtigten Bürgers mit den „Grundrechten der Person“ in Verbindung gebracht.38 In späteren Entscheidungen hat er festgestellt, dass die Gemeinschaftsorgane Informationen, die ihnen freiwillig, aber mit der Bitte um Wahrung ihrer Anonymität gegeben wurden, vertraulich zu behandeln haben. Bei dieser Pflicht handelt es sich um einen allgem Grundsatz, der mit einem Teilaspekt in Art 286 EGV (Art 16 AEUV) primärrechtlich verankert ist.39 Die zwei Beispiele zeigen, dass der Schutz personenbezogener Daten keineswegs ein Gedanke ist, der erst in jüngerer Zeit, im Zuge der technischen Entwicklung und der entspr Nachführung des Grundrechtsschutzes, vom Unionsrecht aufgenommen wurde.

38 EuGH, Slg 1969, 419 ff – Stauder, insb Rn 7. 39 EuGH, Slg 1985, 3539, Rn 34 – Adams.

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Dass es sich bei dem Schutz personenbezogener Daten mittlerweile um ein Unionsgrundrecht mit einem spezifischen Gewährleistungsumfang handelt, zeigt – neben Art 8 GRCh (Rn 43) – in erster Linie die umfangreiche Sekundärrechtssetzung auf europäischer Ebene. Nach der RL 95/4640 haben die Mitgliedstaaten das Recht der natürlichen Personen auf die Wahrung der Privatsphäre bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sicherzustellen. Die Richtlinie präzisiert den entspr Gewährleistungsgehalt von Art 8 I EMRK und des Europarats-ÜbK zum Schutz des Menschen bei der automatisierten Verarbeitung personenbezogener Daten v 28. Januar 1981, das von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wurde.41 Die RL 2002/5842 präzisiert und ergänzt den vorgenannten Rechtsakt im Hinblick auf die Verarbeitung personenbezogener Daten im Bereich der Kommunikation mit elektronischen Medien. Die Union sowie ihre Organe und Einrichtungen werden über Art 16 AEUV (Art 286 EGV) Art AEUVin die Verpflichtung zum Datenschutz nach Maßgabe der beiden Richtlinien einbezogen. Mit der VO 45/200143 wird als unabhängige Kontrollbehörde ein „Europäischer Datenschutzbeauftragter“ geschaffen, der die Einhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen in Bezug auf die Gemeinschaft überwachen soll.44 In Art 1 VO heißt es: „[Die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft] gewährleisten nach den Bestimmungen dieser Verordnung den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten und insb den Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten […].“ Die materiellen Regelungen dieser VO sind teilweise geeignet, den Schutzbereich des Grundrechts zu konkretisieren. Personenbezogene Daten dürfen rechtmäßig nur verarbeitet werden, wenn (i) die Verarbeitung für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die aufgrund des Primär- oder Sekundärrechts im öffentlichen Interesse oder in legitimer Ausübung öffentlicher Gewalt ausgeführt wird, oder (ii) die Verarbeitung für die Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung des Datenverarbeitenden erforderlich ist, oder (iii) die Verarbeitung für die Erfüllung eines Vertrags erforderlich ist, oder (iv) die betroffene Person ohne jeden Zweifel ihre Einwilligung gegeben hat oder schließlich (v) die Verarbeitung für die Wahrung lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person erforderlich ist. Generell untersagt ist die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen sowie die Verarbeitung von Daten über die Gesundheit oder das Sexualleben. Ferner hat die betroffene Person das Recht, nicht einer Entscheidung unterworfen zu werden, die für sie rechtliche Folgen nach sich zieht oder sie erheblich beeinträchtigt und die ausschließlich aufgrund einer automatisierten

40 Ausf die Kommentierung von Sobotta in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 16 AEUV Rn 36 ff. 41 Vgl a EuGH, Slg 2000, I-6751, Rn 33 f – Fisher, wonach die RL 95/46 auf Gemeinschaftsebene allgem Grundsätze übernahm, die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bereits anerkannt waren. Die Datenschutzrichtlinie wird ergänzt durch die RL 2002/58 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation). 42 RL 2002/58 Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation, mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Art 7 und Art 8 GRCh im zweiten Erwägungsgrund. 43 ABl 2001 L 8/1. 44 S dazu den Beschluss Nr 1247/2002/EG des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission v 1.7.2002 über die Regelungen und allgem Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Europäischen Datenschutzbeauftragten, ABl 2002 L 183/1.

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Verarbeitung von Daten zum Zwecke der Bewertung einzelner Aspekte ihrer Person ergeht. Eine betroffene Person verfügt ua auch über Auskunftsrechte, mit einem Anspruch auf Berichtigung fehlerhafter Daten sowie das Recht, unter bestimmten Bedingungen die Sperrung und Löschung der Daten zu verlangen. Die neuere Rspr des Gerichtshofs legt ferner den symbiotischen Zusammenhang zwischen dem unionsrechtlichen Datenschutzrecht und Art 8 EMRK offen. So sind nach der Leitentscheidung in der Rs Österreichischer Rundfunk die in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren Vorschriften der Datenschutzrichtlinie 95/46/EG im Lichte der Grundrechte, insb des Rechts auf Achtung des Privatlebens auszulegen.45 Eine nationale Regelung über die Verarbeitung personenbezogener Daten ist somit – nach Ansicht des Gerichtshofs – an den grundrechtlich aufgeladenen Vorschriften des Sekundärrechtsaktes zu messen, so dass es iE zu einer Art Grundrechtsschutz durch Richtlinien kommt.46 Mit der Charta ist das Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten in Art 8 GRCh durch eine eigenständige Vorschrift hervorgehoben worden. Das Grundrecht benennt zusätzlich eine Reihe von datenschutzrechtlichen Grundsätzen, zu denen die Zweckbindung der Datenverarbeitung (Art 8 II S 1 GRCh) sowie ein Auskunfts- und Korrekturrecht betreffend die eigenen Daten gehört (Art 8 II S 2 GRCh). Die Einhaltung des Grundrechts soll durch eine unabhängige Stelle überwacht werden (Art 8 III GRCh), eine organisationsrechtliche Garantie, die durch Art 28 I der Datenschutzrichtlinie 95/46/EG angeregt wurde und auch konkretisiert wird47.

2. Beeinträchtigung 44

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Der Schutz personenbezogener Daten wird durch jede Form der „Verarbeitung“ beeinträchtigt. Dieser Begriff wird von der Datenschutzrichtlinie definiert (Art 2 lit b RL 95/46). Er bezieht jeden Vorgang im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten ein, wie das Erheben, das Speichern, die Organisation, die Aufbewahrung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Benutzung, die Weitergabe durch Übermittlung, die Verbreitung oder jede andere Form der Bereitstellung, die Kombination oder die Verknüpfung sowie das Sperren, Löschen oder Vernichten solcher Daten. Eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs scheidet aus, wenn der Betroffene in die Datenverarbeitung einwilligt (Art 8 II S 1 GRCh). Dies setzt allerdings eine entspr Information über die Sachzusammmenhänge voraus.48 Eine bemerkenswerte Beeinträchtigung des Grundrechts durch die Union selbst war die RL 2006/24, die die Mitgliedstaaten unter anderem verpflichtete, Verkehrsdaten im

45 EuGH, Slg 2003, I-4989, Rn 68 – Österreichischer Rundfunk ua; s auch Slg 2010, I-11063 ff – Schecke ua, im dem Urteil verknüpft der EuGH den in der Charta verankerten Schutz personenbezogener Daten mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 7 GRCh), das in Art 8 EMRK gewährleistet ist und das nach EGMR-Rspr auch den Datenschutz erfasst (vgl Art 52 III GRCh). 46 Vgl dazu Siemen EuR 2004, 306, 316, dag krit Ruffert EuGRZ 2004, 466, 469 f. 47 EuGH, Slg 2010, I-1885 ff – Kommission/Deutschland = JK 2011, AEUV Art 26/1, s dazu Streinz JuS 2010, 556 ff; der EuGH überprüft bzgl der Organisation des Datenschutzbeauftragten die Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorgaben des Unionsrechts intensiv ohne den Mitgliedstaaten den grundsätzlich bestehenden Ermessenspielraum zu geben. 48 EuGH, Slg 2003, I-4989, Rn 74 – Österreichischer Rundfunk ua.

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Internetverkehr auf Vorrat zu speichern.49 Die Vorratsdaten durften nach Maßgabe mitgliedstaatlicher Regelungen an die zuständigen nationalen Behörden weitergegeben werden. Der EuGH hat die Richtlinie für ungültig erklärt und die Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung sowie die Gestattung des Zugangs der zuständigen nationalen Behörden zu diesen Daten als besonders schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten bewertet. Zwar sei der Wesengeshalt der beiden Grundrechte nicht berührt, da die Richtlinie die Kenntnisnahme des Inhalts elektronischer Kommunikation nicht gestatte. Der Unionsgesetzber habe aber mit der Richtlinie die Grenzen zur Wahrung de Verhätnismäßigkeitsgrundsatzes überschritten, da sich der Eingriff nicht auf das absolut Notwendige beschränke.50

3. Rechtfertigung Beschränkungen des Schutzbereichs sind gerechtfertigt, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt unangetastet lassen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen (Art 52 I GRCh); dass Daten nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke verarbeitet werden dürfen, ist eine zusätzliche Schranke, die das Grundrecht in Abs 2 S 1 GRCh selbst vorsieht. Die Zweckbindung soll die Datenverarbeitung für den Bürger vorhersehbar machen, so dass er sein Verhalten danach ausrichten kann. Die Datenschutzrichtlinie 95/46/EG enthält in Art 7 bis 9 und Art 13 zahlreiche Tatbestände, die legitime Zwecke für die Beschränkung des Schutzbereiches enthalten: Genannt werden unter anderem die Verarbeitung zwecks Vertragserfüllung und anderer rechtlicher Pflichten, zur Wahrung lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person sowie für die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten, die Wahrung eines wichtigen wirtschaftlichen oder finanziellen Interesses eines Mitgliedstaats oder der Europäischen Union und die nationale und die öffentliche Sicherheit sowie die Verteidigung der Mitgliedstaaten. Diese sekundärrechtlichen Konkretisierungen können auf Grund ihres Ranges in der Normenhierarchie allerdings den Gewährleistungsumfang des Grundrechts nicht verbindlich definieren, sie sind Anhaltspunkte für dessen Auslegung.51 Auf der Rechtfertigungsebene stellt sich in besonderem Maße die Frage, wie mit Grundrechtskollisionen umgegangen wird. Das Problem wird bereits von der Datenschutzrichtlinie angesprochen. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten, Ausnahmen vom Regelungsinhalt der Richtlinie, „die allein zu journalistischen, künstlerischen oder literarischen Zwecken erfolgen“, nur insofern vorzusehen, „als sich dies als notwendig erweist, um das Recht auf Privatsphäre mit den für die Freiheit der Meinungsäußerung geltenden Vorschriften in Einklang zu bringen“ (RL 95/46). Der Gerichtshof hat sich in der Rs Lindqvist mit dieser Sachverhaltskonstellation befasst.52 In dem Vorabentscheidungsverfahren ging es um das schwedische Strafverfahren gegen Frau Lindqvist, der vorgeworfen wurde, gegen die schwedischen Datenschutzbestimmungen verstoßen zu haben, indem sie

49 RL 2006/24 über die Vorratsspeicherung v Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der RL 2002/58, ABl 2006 L 105/54. 50 EuGH, C-293/12 u C-594/12, Digital Rights Ireland u Seitlinger ua. Die Ungültigkeitserkärung ist zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie wirksam geworden, weil der EuGH die zeitliche Wirkung seines Urteils nicht begrenzt hat. 51 Vgl Jarass GRCh, Art 8 Rn 11. 52 EuGH, Slg 2003, I-12971 ff – Lindqvist.

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auf ihrer Internetseite personenbezogene Daten über Personen veröffentlicht habe, die wie sie ehrenamtlich in einer Kirchengemeinde tätig seien. Der EuGH hatte unter anderem die Frage zu beantworten, ob die Datenschutzrichtlinie eine Regelung enthalte, die im Widerspruch zu den EU-Grundrechten steht. Zunächst stellte der Gerichtshof fest, dass die Datenschutz-Richtlinien der Gemeinschaft verhältnismäßig allgem gehalten seien, da sie auf unterschiedliche Situationen in allen Mitgliedstaaten Anwendung fänden. Deshalb enthielten sie Regelungen, die den Mitgliedstaaten den erforderlichen Beurteilungsspielraum beim Erlass der Umsetzungsmaßnahmen ließen. Es sei daher Sache der Mitgliedstaaten, bei der Umsetzung der Richtlinien darauf zu achten, dass sie sich auf eine Auslegung derselben stützten, die es ihnen erlaube, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten sicherzustellen. „Bei der Durchführung der Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinien haben die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit diesen Richtlinien auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung dieser Richtlinien stützen, die mit diesen Grundrechten oder den anderen allgem Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, wie etwa dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, kollidiert.“53 In der neueren Entscheidung in der Rs Promusicae, in der es um den Ausgleich des Schutzes personenbezogener Daten mit dem Recht auf Schutz des geistigen Eigentums und dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf ging, setzt der Gerichtshof diese Rechtsprechungslinie fort. Der Gerichtshof stellt in der Entscheidung fest, dass die Mitgliedstaaten aus dem Gemeinschaftsrecht nicht verpflichtet seien, das Urheberrecht in einem Zivilprozess dadurch effektiv zu schützen, dass sie die Offenlegung personenbezogener Daten gegenüber einem Kläger im nationalen Recht vorsehen. Das Gemeinschaftsrecht verpflichte die Mitgliedstaaten allerdings, die einschlägigen Richtlinien in einer Art und Weise in das nationale Recht umzusetzen, dass in einem zivilrechtlichen Prozess zwischen Rechteinhaber und Schädiger ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den widerstreitenden europäischen Grundrechten geschaffen werden kann.54 Im Ergebnis wird es demnach für die Rechtfertigung eines Eingriffs in das Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten entscheidend auf eine Gesamtabwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ankommen, die grundsätzlich von den Wertungen der Behörden und Gerichte auf der mitgliedstaaten Ebene geprägt wird.55 Die Aufforderung des Gerichtshofs zu „praktischer Konkordanz“ im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis betont die Funktion der Mitgliedstaaten, die das Unionsrecht anwenden, und sie steht für einen Verzicht auf unitarisierende Lösungen aus Luxemburg, weil unterschiedliche Abwägungsergebnisse in den Rechtsordnungen und damit ein Stück weit eine uneinheitliche Anwendung des Unionsrechts hingenommen werden. In der Rs. Schecke, die der Gerichtshof im Jahr 2010, nach dem Inkrafttreten der Chartagrundrechte entschieden hat, prüfte er die Veröffentlichungspflicht von Informationen über Empfänger von Agrarbeihilfen intensiv an den Grundrechten und erklärt die Veröffentlichung wegen Verstoßes gegen Art 7 und 8

53 EuGH, Slg 2003, I-12971, Rn 87 – Lindqvist, sa Slg 2007, I-5305, Rn 28 – Ordre des barreaux francophones et germanophone ua; Slg 2009, I-3889, Rn 56 – Rijkeboer. 54 EuGH, Slg 2008, I-271, Rn 70 – Promusicae. 55 Vgl die Schlussanträge v GA Kokott, EuGH, Slg 2008 I-9831, Rn 50 – Tietosuojavaltuutettu: „Eine Konkretisierung kollidierender Grundrechte obliegt den Gemeinschaftsgerichten vor allem, wenn grenzüberschreitende Aktivitäten im Vordergrund stehen.“

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GRCh für ungültig. Bemerkenswert an der Entscheidung ist, dass dem Unionsgesetzgeber nicht der übliche Ermessenspielraum gewährt wurde.56 Lösung Fall 3: Die Aufnahme von Einkommensdaten in Verbindung mit den Namen der Empfänger in einen Jahresbericht erfüllt nach Ansicht des Gerichtshofs den Tatbestand der „Verarbeitung personenbezogener Daten“ iSd RL 95/46. Die Weitergabe solcher Daten durch den Arbeitgeber an Dritte stellt einen Eingriff in die Privatsphäre iSv Art 8 EMRK dar, der nur gerechtfertigt werden könne, wenn er gesetzlich vorgesehen sei, eines der in diesem Artikel genannten berechtigten Ziele verfolge und in einer demokratischen Gesellschaft für die Erreichung dieses Zieles notwendig sei. Da die Offenlegung der Namen in dem nationalen Gesetz nicht vorgesehen sei, hätten die österreichischen Gerichte zunächst zu prüfen, ob dieses Vorgehen dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit entspreche. Die Voraussetzung eines berechtigten Zwecks sei hingegen klar erfüllt, weil die Offenlegung die sparsame und sachgerechte Verwendung öffentlicher Mittel durch die Verwaltung sicherstellen solle und damit auf das „wirtschaftliche Wohl des Landes“ abstelle. Im Hinblick auf die Erforderlichkeit hätten die nationalen Gerichte zu prüfen, ob die Veröffentlichung der Namen in Verbindung mit deren Einkünften notwendig sei und ob es nicht ausreichen würde, die Öffentlichkeit nur über die vertraglich vereinbarten Bezüge und andere geldwerte Vorteile zu unterrichten. Sollte der Oberste Gerichtshof die österreichische Regelung für unvereinbar mit der EMRK (!) halten, so könne sie auch nicht mit der RL in Einklang stehen. Sollte das Gericht dagegen zu dem Ergebnis gelangen, dass die Regelung im Hinblick auf das mit ihr verfolgte, im Allgemeininteresse liegende Ziel sowohl notwendig als auch angemessen sei, so hätte es weiter zu prüfen, ob das bereits erwähnte Erfordernis der Vorhersehbarkeit erfüllt sei. Zu der Frage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit der RL stellte der Gerichtshof fest, dass deren Vorschriften so genau seien, dass sich ein Einzelner vor den nationalen Gerichten auf sie berufen könne, um die Anwendung entgegenstehender Vorschriften des internen Rechts zu verhindern.

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IV. Recht auf Ehe und Familie Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1998, I-621 ff – Grant = JK 99, EGV Art 119/1; Slg 2001, I-4319 ff – Schweden/Rat; Slg 2004, I-541 ff – K.B.; Slg 2008, I-1757 ff – Maruko. Schrifttum: Isensee Europäische Familienpolitik als Kompetenzfrage, DVBl 2009, 801 ff; Bruns Die Maruko-Entscheidung im Spannungsfeld zwischen europäischer und nationaler Auslegung, NJW 2008, 1929 ff; Tettinger/Geerlings Ehe und Familie in der europäischen Grundrechtsordnung, EuR 2005, 419 ff; H A Wolff Ehe und Familie in Europa, EuR 2005, 721 ff; Thym Europäischer Grundrechtsschutz und Familienzusammenführung, NJW 2006, 3249 ff; Herzog Europäischer Grundrechtsschutz für Ehe und Familie, Bitburger Gespräche 2001, 7 ff.

Fall 4: (EuGH, Slg 2004, I-541 – K.B.) Frau K arbeitet seit 20 Jahren als Krankenschwester für den britischen National Health Service (NHS). Während dieser Zeit hat sie Beiträge in die Rentenversicherung des NHS geleistet, die unter anderem zugunsten des Ehegatten, der das verheiratete Mitglied überlebt, eine Hinterbliebenenrente gewährt. Frau K lebt seit mehreren Jahren in nichtehelicher

56 EuGH, Slg 2010, I-11063 ff – Schecke ua.

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Gemeinschaft mit Herrn R, den sie als Begünstigten einer Witwerrente benennen möchte. Herr R hatte jedoch eine Geschlechtsumwandlung vornehmen lassen, die seine geschlechtliche Zuordnung von weiblich zu männlich veränderte. Da das britische Recht eine Ehe als Verbindung ausschließlich zwischen Mann und Frau vorsieht, ein Transsexueller seine Geburtsurkunde mit dem ursprünglichen Geschlecht aber nicht anpassen kann, konnten Frau K und Herr R entgegen ihrem Willen nicht heiraten. Die Rentenversicherung des NHS verweigerte folglich Rs Begünstigung. Frau K klagte daraufhin vor den britischen Gerichten mit dem Argument, dass sie sich in Bezug auf ihr Arbeitsentgelt (vgl Art 141 EG = Art 157 AEUV) wegen des Geschlechts diskriminiert fühle. Der Court of Appeal als Berufungsgericht legte dem EuGH die Frage vor, ob der Ausschluss eines transsexuellen – ursprünglich weiblichen – Partners eines weiblichen Mitglieds des NHS-Rentensystems, wonach nur der Witwer des Mitglieds Ansprüche als berücksichtigungsfähiger Angehöriger hat, eine Diskriminierung auf Grund des Geschlechts darstelle.

1. Schutzbereich 54

Das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen (Art 9 GRCh), ist Art 12 EMRK nachgebildet; es wich bis zum Jahr 2011 von dieser Gewährleistung aber auch entscheidend ab, so dass zunächst ein eigenständiges EU-Grundrecht entstand. Die Menschenrechtskonvention benennt im Wortlaut von Art 12 „Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter“ als Grundrechtsträger und folgt damit der klassischen Vorstellung, dass eine Ehe die dauerhafte Verbindung zwischen Menschen mit verschiedenem biologischem Geschlecht, zwischen Mann und Frau ist.57 Der Wortlaut des Charta-Grundrechts wurde nach den Erläuterungen des Konventspräsidiums modernisiert, um Entwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, die die feste Lebensgemeinschaft zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts der Ehe teilweise oder vollständig gleichgestellt haben.58 Wie der Wortlaut des Grundrechts ausdrücklich feststellt, werden das Recht auf Eheschließung und Familiengründung nach der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung geschützt. Damit wird anerkannt, dass – wie auch der Gerichtshof in der Rs Maruko noch einmal betont hat – „die Gemeinschaft keine Zuständigkeit für den Familienstand“ hat.59 Lediglich die Entscheidung des EuGH in der Rs Grant60 enthält eine mittelbare Begriffsdefinition der Ehe (Lebensgemeinschaft zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechts).61 Der EGMR hat unter ausdrücklicher Berücksichtigung von Art 9 GRCh im Jahr 2011 entschieden, dass das in Art 12 EMRK garantierte Recht, eine Ehe einzugehen, nicht länger unter allen Umständen auf die Ehe zwischen zwei Partnern unterschiedlichen Geschlechts beschränkt ist. Die Entscheidung, ob eine gleichgeschlecht-

57 EGMR, Series A 1986, Vol 106, Rn 49 – Rees; Series A 1990, Vol 184, Rn 43 – Cossey. 58 S dazu EuGH, Slg 2001, I-4319, Rn 34 – Schweden/Rat: „Es steht jedoch fest, dass der Begriff Ehe nach in allen Mitgliedstaaten geltender Definition eine Lebensgemeinschaft zweier Personen verschiedenen Geschlechts bezeichnet.“ Neben den Unionsmitgliedern Spanien, Belgien und Niederlande haben seit 2009 auch Dänemark, Portugal, Schweden und Frankreich die gleichgeschlechtliche Ehe gesetzlich zugelassen. Im Vereinigten Königreich Großbritannien hat das House of Commons einem entsprechenden Gesetzesentwurf zugestimmt (Stand: Mai 2013). 59 EuGH, Slg 2008, I-1757, Rn 77 – Maruko. 60 EuGH, Slg 1998, I-621 ff – Grant = JK 99, EGV Art 119/1, dazu die Besprechung von Giegerich JZ 1998, 726 ff. 61 EuGH, Slg 1998, I-621, Rn 32 – Grant = JK 99, EGV Art 119/1.

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liche Ehe zugelassen werden soll oder nicht, überlässt der EGMR gleichwohl dem Recht des Konventionsstaats.62 Es handelt sich bei Art 9 GRCh deshalb um eine Institutsgarantie, die die Ehe, dh jedenfalls die unbefristete, von der Rechtsordnung anerkannte Verbindung zwischen zwei Menschen, und die Familie, dh das Recht Kinder zu zeugen, zu adoptieren und anzunehmen gewährleistet. Diese Form des Bekenntnisses der Unionsrechtsordnung zu Ehe und Familie ist als Bekenntnis zu einem freiheitlichen Gemeinwesen zu sehen, das sich gegen jede Form personaler Kollektivismen wendet (vgl Art 2 EUV, Art 10 AEUV). Weitergehende Handlungen im Zusammenhang mit Ehe und Familie, wie beispielsweise die Möglichkeit zur Scheidung oder das Miteinander in der oder mit Bezug zur Familie (Rn 18 ff) fallen in den Schutzbereich insb von Art 7 GRCh, ergänzend auch von Art 14 III, 24 und 33 GRCh. Der Kompetenzvorbehalt für Personenstandsfragen zugunsten der Mitgliedstaaten darf allerdings nicht zu der Schlussfolgerung verleiten, dass das Unionsrecht sich auf diesen Sachbereich nicht auswirkt. Die Konkretisierung des Familienstands durch das mitgliedstaatliche Recht wird vielmehr mittelbar beeinflusst. Dabei ist die Entscheidung in der Rs Eyüp, in der es um den Status der Lebenspartnerin eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen als Familienangehörige ging, eine Ausnahme am Maßstab der Billigkeit (ex aequo et bono) geblieben.63 Der Gerichtshof hat mit ihr nicht die Gleichstellung einer festen Beziehung zwischen nicht verheirateten Personen mit einer Ehe anerkannt.64 Grundlage der mittelbaren Einflussnahme ist in erster Linie das Verbot der Diskriminierung auf Grund des Geschlechts (Art 19 AEUV), das durch Richtlinien und im Bereich des Arbeitsentgeltes durch Art 157 AEUV konkretisiert wird. Unterscheidungen nach dem Kriterium des Geschlechts sind grundsätzlich unzulässig. Dies hat zur Folge, dass das europäische Recht hinsichtlich der Ehe, des Ledigen-, des Verwitwetenstandes und der übrigen Aspekte des „Familienstandes“ die Konzeption des jeweiligen Mitgliedstaates zwar übernimmt. Allerdings müssen diese innerstaatlichen Zuständigkeiten so ausgeübt werden, dass dabei nicht gegen die Rechtsordnung der Union verstoßen wird.65 Bei der Würdigung dieser Aussage müssen wir uns bewusst machen, dass mit der Akzeptanz von Instituten wie „Ehe“ und „Familie“ den Eheleuten und Familienangehörigen nicht lediglich ein Status iS eines Etiketts verliehen, sondern per definitionem die Möglichkeit zu rechtlichen Differenzierungen geschaffen wird. Die Rechtsordnung unterscheidet zwischen Verheirateten und Nichtverheirateten, zwischen Familien und Alleinstehenden. Entscheidet sich ein Mitgliedstaat beispielsweise aus gesellschaftspolitischen Gründen oder auf Grund verfassungsrechtlichen Auftrages für eine Förderung von Familien, wird einem bestimmten Personenkreis ein Vorteil gewährt, der einem anderen verweigert wird. Das Unionsrecht neigt dazu, eine solche rechtfertigbare Ungleichbehandlung als Diskriminierung einzustufen, mit der Folge, dass die mitgliedstaatliche Rechtsordnung unter Druck gerät, den Vorteil entweder überhaupt nicht mehr zu gewähren oder auf alle Personen zu erstrecken. Im Ergebnis kommt es deshalb im Grunde entscheidend darauf an, welche

62 EGMR, NJW 2011, 1421 Rn 61 – Schalk u Kopf. 63 EuGH, Slg 2000, I-4747, Rn 36 – Eyüp. 64 Das Urt des Gerichtshofs ist eine singuläre Entscheidung geblieben und wurde im Hinblick auf seine familienrechtlichen Ausführungen nicht wieder zitiert; ausdrücklich für eine Einordnung als Billigkeitslösung Generalanwalt Colomer in seinen Schlußanträgen, Slg 2004, I-541, Rn 60 – K.B. 65 EuGH, Slg 2008, I-1757, Rn 77 – Maruko.

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Zuständigkeiten die Union im Übrigen besitzt, denn diese sachlichen Zuständigkeiten liefern die Sachverhalte für den mittelbaren Einfluss auf das nationale Ehe- und Familienrecht. Der unmittelbaren Einf einer „Europäischen Ehe“, die beispielsweise für zwei Unionsbürger aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten denkbar wäre, steht der Wortlaut von Art 9 GRCh entgegen, der zudem noch einmal sichtbar macht, dass die Union über keine entspr Zuständigkeit verfügt.66 Das BVerfG hat in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon v 30. Juni 2009 die mitgliedstaatlichen Vorbehalte in diesem Bereich ausdrücklich herausgestellt.

2. Beeinträchtigung 58

Der Schutzbereich wird beeinträchtigt, wenn die Eheschließung und die Familiengründung verhindert, erschwert oder faktisch unmöglich gemacht werden. Bei Heiratsverboten ist es mit Blick auf das Problem der Zwangsehen denkbar, dass das Unionsrecht bei der Regelung von Einwanderungs-, Flüchtlings- und Asylfragen einen eigenständigen Anwendungsbereich für das Grundrecht hat.

3. Rechtfertigung 59

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Die Rechtfertigung von Schutzbereichsbeeinträchtigungen ist nach Art 52 I GRCh zu beurteilen. Es bedarf einer gesetzlichen Grundlage und der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ( § 14 Rn 65 ff). Art 9 GRCh verweist ausdrücklich auf die mitgliedstaatlichen Gesetze, die etwa vorsehen können, dass die Eheschließung ein Mindestalter der Heiratswilligen voraussetzt. Die besondere Eigenschaft von Art 9 GRCh als Institutsgarantie betont das Gebot, den Wesensgehalt des Grundrechts zu achten (Art 52 I S 1 GRCh). Er wäre etwa überschritten, wenn das EU-Recht unmittelbar oder mittelbar dazu führen würde, dass in der Union die Ehe zwischen mehr als zwei Personen (Mehrehe) anerkannt würde. Da die Definitionshoheit über die Begriffe „Ehe“ und „Familie“ bei den Mitgliedstaaten liegt, konkretisieren diese über die jeweilige Ausgestaltung ihrer Rechtsordnungen den Kern der beiden Rechtsinstitute. Diese Prägefunktion ist von den EUOrganen bislang akzeptiert worden.67 Lösung Fall 4: Der EuGH erklärte in seiner Entscheidung zunächst das Gemeinschaftsrecht für anwendbar, weil die in einem Betriebsrentensystem vorgesehene Hinterbliebenenrente, die von Leistungen eines Beschäftigten aus dem Arbeitsverhältnis abhänge, vom Tatbestand des Art 141 EG/Art 157 AEUV erfasst werde. Eine solche Leistung sei eine Vergütung, die ihren Ursprung in der Zugehörigkeit des Ehegatten des Hinterbliebenen zu dem Rentensystem habe. Dass bestimmte Vorteile, wie eine Hinterbliebenenrente, nur verheirateten Personen vorbehalten würden, sei eine Sache des nationalen Gesetzgebers oder folge aus der Auslegung des innerstaatlichen Rechts durch den nationalen Richter. Das Gemeinschaftsrecht sehe darin keine verbotene Diskriminierung auf Grund des Geschlechts. Der Gerichtshof

66 Dazu Dethloff AcP 2004, 544 ff; dies ZEuP 2007, 992 ff. 67 Vgl EuGH, Slg 2001, I-4319, Rn 33 ff – Schweden/Rat.

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setzt für seine weiteren Überlegungen bei der Ungleichbehandlung an, die darin liege, dass Frau K und Herr R rechtlich nicht in der Lage seien, miteinander die Ehe einzugehen. Sie könnten im Vereinigten Königreich unter keinen Umständen die Voraussetzungen der Ehe erfüllen. Darin sieht der Gerichtshof einen Umstand, der mit den Anforderungen des Art 141 EG/Art 157 AEUV unvereinbar sei. Ausdrücklich zitiert der EuGH die einschlägige Entscheidung des EGMR aus dem Jahr 2004, nach der die britische Rechtslage für Personen, die sich in einer Lage wie Herr R befinden, das Recht auf Eheschließung aus Art 12 EMRK verletze (vgl EGMR, NJW-RR 2004, 289 Rn 97–104 – Christine Goodwin). Ohne die Schlussfolgerung ausdrücklich zu ziehen, überträgt der Gerichtshof elegant diese Entscheidung in das Gemeinschaftsrecht, indem er sich bei der Auslegung von Art 141 EG/ Art 157 AEUV von der Straßburger Rspr leiten lässt.

V. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1974, 1337 ff – van Duyn; Slg 1976, 1589 ff – Prais. Schrifttum: H Weber Religionsrecht und Religionspolitik der EU, NVwZ 2011, 1485 ff; Krimphove Europäisches Religions- und Weltanschauungsrecht, EuR 2009, 330 ff; Ottenberg Der Schutz der Religionsfreiheit im internationalen Recht, 2009, 68 ff; Walter Religionsverfassungsrecht 2006, 403 ff; Heinig Die Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der europäischen Rechtsordnung, in: Müller-Graff (Hrsg) Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Europäischen Union, 2003, 125 ff; Waldhoff Kirchliche Selbstbestimmung und Europarecht, JZ 2003, 978 ff; Mückl Religionsund Weltanschauungsfreiheit im Europarecht, 2002.

1. Schutzbereich Die Charta gewährleistet in Art 10 das klassische Grundrecht der Gedanken-, Gewissensund vor allem der Religlionsfreiheit, das wortgleich aus der EMRK übernommen wurde (Art 10 I GRCh). Das Grundrecht wird als einheitliches Recht verstanden, in dessen Mittelpunkt die Religions- und Weltanschauungsfreiheit steht, ergänzt durch Gedanken- und Gewissensfreiheit, die sich jedoch erheblich mit der Meinungsfreiheit sowie den Rechten auf geistige Unversehrtheit und Privatsphäre überschneiden. Zusätzlich ist in die Charta das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen aufgenommen worden (Art 10 II GRCh), das in der Konvention nicht enthalten ist.

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a) Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Art 10 I GRCh) Obgleich sich in der Rspr des EuGH eine Reihe von Fällen nachweisen lassen,68 die einen Bezug zu „Religion oder einer anderen Form von Weltanschauung“ haben, werden die entscheidungserheblichen Fragestellungen jew im Zusammenhang mit den Regelungen über die Grundfreiheiten und das allgem Diskriminierungsverbot beantwortet, so dass es bislang nur in einer Entscheidung des Gerichtshofs einen Bezug zu dem Grundrecht auf

68 EuGH, Slg 1974, 1337 ff – van Duyn (Einreiseverweigerung einer Anhängerin der ScientologySekte); Slg 1986, 3097 ff – van Roosmalen (Sozialversicherungsschutz eines Missionars); Slg 1988, 6159 ff – Steymann (wirtschaftliche Betätigung oder Dienstleistung als Ausdruck religiöser Lebensgemeinschaft) und Slg 1989, 3851 ff – Torfaen Borough Council (Verkaufsverbot an Sonntagen).

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Religionsfreiheit gibt.69 In der Rs Prais70 hatte der EuGH über die Klage einer Engländerin jüdischen Glaubens zu entscheiden, die zu einem Auswahlverfahren für eine Stelle als Übersetzerin beim Rat eingeladen war, den konkreten Termin der schriftlichen Prüfung jedoch aufgrund religiöser Überzeugungen nicht wahrnehmen konnte. Die Teilnahme an einem späteren Prüfungstermin wurde ihr nicht gestattet. Die Parteien stritten darüber, ob ein neuer Termin für die Prüfung anzuberaumen gewesen wäre. Der EuGH stellte im Hinblick auf das Handeln des Rates fest: „wird ihm [dem Arbeitgeber] das durch die Konfession bedingte Hindernis rechtzeitig mitgeteilt, [so ist er verpflichtet,] alle sachgerechten Maßnahmen zu treffen …, um zu vermeiden, dass die Prüfungen an einem Tag veranstaltet werden, an dem ein Bewerber wegen seiner religiösen Überzeugungen nicht erscheinen kann […].“ Allerdings sei nicht davon auszugehen, dass das Beamtenstatut oder die erwähnten Grundrechte die Anstellungsbehörde verpflichten, einen Konflikt mit einer religiösen Forderung zu vermeiden, von deren Existenz sie nicht unterrichtet wurde.71 Religion und Weltanschauung sind zudem Schutzgüter der Antidiskriminierungspolitik der Union. Das bestehende Sekundärrecht untersagt die Diskriminierung unter anderem aus Gründen der Religion oder Weltanschauung in Beschäftigung, Beruf und Berufsausbildung.72 Die Kommission hat im Juli 2008 einen Richtlinienvorschlag veröffentlicht, der dieses Verbot auf den Sozialschutz einschließlich der Gesundheitsdienste, soziale Vergünstigungen, den Bildungssektor und den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen und zu denen auch Wohnraum zählt, ausdehnt.73 Außerhalb dieser überschaubaren Praxis auf der EU-Ebene wird der Schutzbereich durch die EMRK und die Rspr des EGMR geprägt. Das Grundrecht schützt das Recht, „eine Religion zu haben oder nicht“; sie beinhaltet die Freiheit, die eigene Religion einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich und im Kreis derer zu bekennen, die demselben Glauben anhängen. Der Wortlaut nennt mit Gottesdienst und Unterricht sowie mit dem Praktizieren von Bräuchen und Riten verschiedene Formen, in denen eine Religion oder

69 Vgl ausführlich Heinig Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, 380 ff und mit Anwendungsbeispielen S 468 ff. S a EuGH, Slg 1988, I-6159, Rn 9 – Steymann: „(A)ngesichts der Ziele der Gemeinschaft (fällt) die Teilnahme an einer auf Religion oder einer anderen Form der Weltanschauung beruhenden Vereinigung nur insoweit in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts (…), als sie als Teil des Wirtschaftslebens iSv Art 2 EWG-Vertrag angesehen werden kann.“ 70 EuGH, Slg 1976, 1589 ff – Prais. Dazu die Besprechungen v Pernice JZ 1977, 777 ff, Rengeling DÖV 1977, 409 f und Hartley ELRev 1977, 45 ff. 71 EuGH, Slg 1976, 1589, Rn 12/19 – Prais. 72 RL 2000/43 v 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl 2000 L 180/22; RL 2000/78 v 27. November 2000 zur Festlegung eines allgem Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl 2000 L 303/16. 73 Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, KOM (2008) 426; bemerkenswert in diesem Zusammenhang die Ausnahme in Art 3 II des RL-Entwurfs: „Einzelstaatliche Gesetze über den Ehe- oder Familienstand einschließlich der reproduktiven Rechte bleiben von dieser Richtlinie unberührt.“, dazu legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2.4.2009 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie, ABl 2010 C 137E/68 (Abänderung 50, Vorschlag für eine RL Art 3 II: „Durch diese Richtlinie wird die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten nicht verändert.“).

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eine Weltanschauung bekannt werden können.74 Dagegen werden politische Überzeugungen oder kommerzielle Werbung, die religiös motiviert oder begründet sind, nicht in den Schutzbereich einbezogen. Das Grundrecht gewährleistet zugleich, die Religion zu wechseln, dh der Bürger wird vor der Mitgliedschaft in Zwangsgemeinschaften geschützt, die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft soll auf individueller Überzeugung beruhen. Zwar mag die Entstehungsgeschichte des Art 10 GRCh die Auffassung unterstützen, dass der Schutzbereich keine Garantie der korporativen Religionsfreiheit enthält,75 dh des Rechts von Kirchen und Religionsgemeinschaften, sich zu bilden und selbstbestimmt zu handeln. Der Wortlaut von Abs 1 hat jedoch mit dem Hinweis auf die kollektive Religionsfreiheit, die öffentlich etwa in Form des Gottesdienstes ausgeübt wird, durchaus Anknüpfungspunkte für die Existenz dieses Rechts, das im Übrigen auch von Art 9 EMRK bestätigt wird.76 Nach Art 17 AEUV achtet die Union ausdrücklich den Status von „Kirchen und von religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften“ sowie von weltanschaulichen Gemeinschaften, wie er in den Mitgliedstaaten besteht. Die Vorschrift überträgt die Erklärung aus dem Jahr 1997 zum Vertrag von Amsterdam über den Status von Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften in das Primärrecht.77 Wie der EGMR in seiner Rspr betont, ist die Religionsfreiheit – in ihrer sekularen Ausformung als Weltanschauungsfreiheit – auch ein „wichtiges Gut für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige.“78 Das Recht der Eltern, ihre Kinder nach den eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen zu erziehen und unterrichten zu lassen, wird durch Art 14 III GRCh garantiert.

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b) Gedanken- und Gewissensfreiheit Die Gedankenfreiheit erfasst die Ergebnisse von Denkprozessen, dh von psychischen Vorgängen im Menschen, die noch nicht in sprachlicher Form ihren Ausdruck gefunden haben. Der Schutzbereich erfasst demnach alle Handlungen, die darauf gerichtet sind, diese Denkprozesse zu unterbinden und von außen zu determinieren. Das häufig erwähnte Anwendungsbeispiel der Manipulation des Menschen für einen bestimmten Zweck (Indoktrination) kann rasch die Schwelle zur Beeinträchtigung der geistigen Unversehrtheit überschreiten, so dass Art 3 I GRCh als spezielleres Grundrecht anwendbar wäre. Die Gewissensfreiheit schützt die menschliche Bewusstseinsinstanz, die Handlungen nach moralisch-ethischen Maßstäben, nach den Kategorien von „gut und böse“ beurteilt. Dieser innere Vorgang soll von äußerem Zwang freigehalten werden, was zu dem Problem führt, dass jedwede Rechtpflicht mit dem Hinweis auf das Gewissen abgewendet werden kann. Dieses Problem wird dadurch verringert, dass eine Gewissensentscheidung häufig nur dann akzeptiert wird, wenn der Betroffene den internen Vorgang substantiiert darlegt und glaubhaft macht.

74 EGMR, NVwZ 2003, 1489, Rn 92 – Refah. 75 Vgl Mückl in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 10 Rn 26 ff; Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 10 Rn 13 f. 76 EGMR, ECHR 2001-XII Rn 118, 123 – Metropolitanische Kirche von Bessarabien ua; NJW 2008, 495 Rn 72 – Scientology; NVwZ 2009, 509, Rn 61 – Zeugen Jehovas ua. 77 Hölscheidt/Mundt EuR 2003, 1083, 196 ff. 78 EGMR, NJW 2001, 2871 – Dahlab = JK 2002, EMRK Art 9/1; NVwZ 2011, 737 Rn 60 – Lautsi = JK 2011, EMRKZusProt Art 2/2.

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c) Recht auf Wehrdienstverweigerung (Art 10 II GRCh) 69

Eine besondere Ausformung der Gewissensfreiheit ist das Recht auf Wehrdienstverweigerung. Es wird in der jeweiligen mitgliedstaatlichen Konkretisierung anerkannt, auf Unionsebene ist es in den Kompetenzen nicht rückgebunden. Bemerkenswert ist, dass sich die Charta mit diesem Recht vom Kanon der EMRK-Gewährleistungen entfernt (vgl Art 4 III lit b EMRK).

2. Beeinträchtigung 70

Die Grundrechte zum Schutz der Persönlichkeit werden sowohl gegenüber Beeinträchtigungen durch Unionsorgane als auch gegenüber Handlungen der Mitgliedstaaten gewährleistet – es gelten die allgem Regeln (Rn 11, → § 14 Rn 46 ff).

3. Rechtfertigung 71

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Beim Maßstab für die Rechtfertigung von Schutzbereichsbeeinträchtigungen ist zwischen den beiden Absätzen zu unterscheiden. Die inhaltsgleiche Übernahme von Art 9 EMRK führt dazu, dass Beeinträchtigungen des Schutzbereichs der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art 52 II S 1 GRCh gerechtfertigt sein können. Art 9 II EMRK sieht insoweit vor, dass die „Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, […] nur Einschränkungen unterworfen werden [darf], die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ Der EGMR konkretisiert diese Schranke mit dem Hinweis, dass es in einer demokratischen Gesellschaft, in der mehrere Religionen innerhalb ein und derselben Bevölkerung nebeneinander bestehen, notwendig sein kann, Beschränkungen für diese Freiheit vorzusehen, die geeignet sind, die Interessen der unterschiedlichen Gruppen zu versöhnen und die Achtung der Überzeugung eines Jeden sicherzustellen.79 Der Staat muss sich neutral und unparteiisch verhalten, woraus die weitere Pflicht folgt, über die Legitimität religiöser Glaubensüberzeugungen nicht zu entscheiden. Der Staat muss aber auch sicherstellen, dass sich Gruppen mit gegensätzlicher Auffassung gegenseitig tolerieren.80 Die erwähnte EuGH-Entscheidung in der Rs Prais (Rn 62) ist ein Beispiel für die auch hier wiederum zentrale Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Für das Recht auf Wehrdienstverweigerung (Art 10 II GRCh) gilt hingegen die Schrankenregelung des Art 52 I GRCh. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs sind gerechtfertigt, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt unangetastet lassen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen (→ § 14 Rn 65 ff).

79 EGMR, Series A, Vol 260, Rn 33 – Kokkinakis; NJOZ 2010, 1193 Rn 62 – Dogru. 80 EGMR, NVwZ 2003, 1489, Rn 91 – Refah unter Hinweis auf EGMR, ECHR 2001-XII Rn 123 – Metropolitanische Kirche v Bessarabien ua; NJOZ 2010, 1193 Rn 62 – Dogru.

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§ 17 Kommunikationsgrundrechte Hermann Pünder I. Bedeutung und Rechtsgrundlagen Der Mensch ist als „zoon politikon“ auf ein Leben mit anderen angelegt.1 Für das Zusammenleben ist Kommunikation existenziell. Deshalb erstaunt es nicht, dass in Art 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 die freie Äußerung von Meinungen und Gedanken als „un des droits les plus précieux de l’homme“ bezeichnet wird.2 Als Mittel zur „Wahrheitsfindung“ auf dem „marketplace of ideas“3 ist der Kampf der Meinungen auch für die polis wichtig, denn „es zeigt sich“ – so Hegel –, „dass es ein anderes ist, was sich jemand zu Hause bei seiner Frau oder seinen Freunden einbildet, und wieder ein anderes, was in einer großen Versammlung geschieht, wo eine Gescheitheit die andere trifft“.4 Die Freiheit der Meinungsäußerung ist „eines der wesentlichen Fundamente einer demokratischen Gesellschaft und eine der wichtigsten Voraussetzungen für deren Fortschritt und für die Verwirklichung jedes einzelnen Individuums“.5 Die Bedeutung der geistigen Auseinandersetzung für den Einzelnen und die Gesellschaft hat sich auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh → § 14 Rn 24 ff) niedergeschlagen. Die Union ist eben nicht nur auf die Errichtung eines Binnenmarktes mit freiem Waren- und Dienstleistungsverkehr ausgerichtet, sondern auch auf kulturellen Austausch und politische Verbindung. Die Meinungs- und Informationsfreiheit wird einschließlich der Medienfreiheit und -pluralität in Art 11 GRCh geschützt (dazu II.). Als kollektiv ausgeübte Fortsetzung der individuellen Freiheiten erfasst Art 12 GRCh die Versammlungsund Vereinigungsfreiheit (III.). Spezifische Formen der Meinungsäußerung schützt schließlich die durch Art 13 GRCh garantierte Freiheit der Kunst und der Wissenschaft. Hierauf wird gesondert eingegangen (→ § 22). Zentrale Grundlagenregelung für die europäischen Grundrechte und damit auch für die Kommunikationsgrundrechte ist Art 6 EUV (→ § 14 Rn 10 f ).6 In Art 6 I EUV wird die GRCh als eine dem sonstigen Primärrecht gleichrangige Rechtsquelle benannt. Weitere Rechtsquellen sind nach Art 6 III EUV die EMRK (im vorliegenden Zusammenhang kommt es auf die Art 10 ff EMRK [→ § 4] an) und die – durch eine „wertende Rechtsvergleichung“ zu ermittelnden7 – „gemeinsamen Ver1 Aristoteles Politik, Buch I, 2; Buch III, 6. 2 Vgl a BVerfGE 7, 198, 208 – Lüth. Zur Bedeutung der Kommunikationsfreiheit im Überbl etwa Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, 86 ff mwN. 3 Vgl die „dissenting opinion“ des Supreme Court Justice Holmes in: Abrams v. United States, 250 U.S., 616, 630 (1919): „(T)he ultimate good desired is better reached by free trade in ideas – that the best test of truth is the power of the thought to get itself accepted in the competition of the market“. 4 Hegel Philosophie des Rechts, 1821, § 315. S a Kant Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798/1800, 395, 535 f (Verstand der anderen als „Probierstein“ der eigenen Ansichten). Zum Ganzen Wegener Der geheime Staat, 2006, 140 f. 5 EuGH, Slg 2001, I-1611 (erster Leitsatz) – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1 (→ Rn 4). 6 Jarass GRCh, Einl Rn 1. 7 Grundl Zweigert RabelsZ 1964, 601, 610 f. Aufgabe der Rechtsvergleichung ist es danach nicht nur, die verschiedenen Lösungen des nationalen Rechts zusammenzustellen, sondern a die „beste

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fassungsüberlieferungen“ der Mitgliedstaaten.8 Der Beitritt der EU zur EMRK wird in Art 6 II 1 EUV als verbindliches Ziel festgelegt und kompetenzrechtlich abgesichert. Auf die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen hatte der EuGH vor Inkrafttreten der GRCh – gestützt auf die Kompetenz zur Wahrung des Rechts (früher: Art 220 EG, jetzt: Art 19 EUV) – für die Herleitung und Konkretisierung der Unionsgrundrechte zurückgegriffen. Auf dieser Grundlage haben sich als Teil des Primärrechts die „Grundrechte aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ herausgebildet, die sich zum Teil mit den Charta-Grundrechten überschneiden und gem Art 6 III EUV gleichberechtigt neben diesen stehen.9 Kommunikationsgrundrechte sind ein Rechtmäßigkeitsmaßstab für das Handeln der – wie es in Art 51 I GRCh heißt – „Organe und Einrichtungen der Union“ und der Mitgliedstaaten „bei der Durchführung des Rechts der Union“.10 Allerdings ist die Formulierung „Durchführung des Rechts der Union“ missverständlich. Die Grundrechtecharta erfasst nicht nur den indirekten Vollzug und die Umsetzung des Unionsrechts in nationales Recht, sondern alle mitgliedstaatlichen Maßnahmen im Anwendungsbereich des Unionsrechts (→ § 14 Rn 48 ff). Der EuGH geht insofern recht weit.11 Insbesondere sind die Gewährleistungen nach der Rechtsprechung auch „Schranken-Schranken“ (→ § 7 Rn 104), wenn sich Mitgliedstaaten zur Beschränkung der Grundfreiheiten auf primärrechtlich vorgesehene Rechtfertigungsgründe (Art 36, 52 und 62 AEUV) oder „zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls“ (im Sinne der Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung → § 7 Rn 71, 8412) berufen.13 Insofern werden die Grundfreiheiten, die die Kommunikationsgrundrechte im wirtschaftlichen Bereich ohnehin parallel schützen,14 verstärkt.

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Lösung“ zu ermitteln. Zur Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode vgl etwa Häberle in: Berka/Häberle/Heuer/Lerche, Kunst u Recht im In- u Ausland, 1994, S 37, 49 f. Für die Aufhebung der Vorschrift nach Inkrafttreten der GRCh (weil sonst ein „lawyers paradise“ entstünde) Engel, 975, 1002. Näher Jarass GRCh, Einl Rn 28 ff; Schneiders Die Grundrechte der EU und die EMRK, 2010, 266 ff. Vgl für die EU-Verwaltung EuGH, Slg 2001, I-10269, Rn 12 – Cwik (→ Rn 12); Slg 2001, I-1611, Rn 37 ff – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1 (→ Rn 4); Slg 1990, I-95, Rn 12 ff – Maurissen (→ Rn 42); Slg 1989, 4285, Rn 16 – Oyowe u Traore; für legislative Tätigkeiten Slg 2006, I-11573, Rn 153 ff – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2007, EGV Art 95 I/4 (Rn 5); Slg 2006, I-8089, Rn 60 ff – Laserdisken (Rn 27); Slg 1992, I-5485, Rn 34 ff – Ter Voort (→ Rn 20); Slg 2003, I-12489, Rn 67 ff – RTL Television. Wie die Entscheidung des EuGH in der RS Åklagare, EuZW 2013, 302 ff = JK 2013, GRCh Art 51/1, in der es um die Mehrwertsteuer ging, zeigt, genügt es dem Gerichtshof schon, dass die einem Streit zugrundeliegenden Normen in irgendeinem Zusammenhang mit europäischem Primär- oder Sekundärrecht stehen. Vgl zu den angreifbaren Akten aus Sicht der Kommunikationsgrundrechte etwa Engel, 975, 990 f; Feise, Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, 108 ff; Kühling EuGRZ 1997, 296, 297 ff. Grundl EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8 – Rewe-Zentral-AG (Cassis de Dijon). Vgl EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 24 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1 (→ Rn 18); Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT; Slg 2002, I-6279, Rn 40 – Carpenter = JK 2002, EGV Art 49/6; Slg 2004, I-5257, Rn 97 – Orfanopoulos u Oliveri, z Recht auf Achtung des Familienlebens; Slg 2006, I-3449, Rn 107 f – Kommission/Deutschland. Vgl im Überbl Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 24 Rn 9; sowie V Schmitz Die kommerzielle Kommunikation im Binnenmarkt im Lichte der neueren Rspr zur Warenverkehrsfreiheit, 2000, 89 ff; Schwarze ZUM 2000, 779, 782 ff.

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Allerdings können Kommunikationsgrundrechte als „Schranken“ (→ § 7 Rn 98) auch eine Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten rechtfertigen.15 Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass die Unionsgrundrechte den gleichen Rang genießen wie die Grundfreiheiten.16 Es ist eine Art „praktische Konkordanz“ herzustellen; die Grundfreiheiten genießen keinen Vorrang.17 Schließlich kommt den Kommunikationsgrundrechten eine objektiv-rechtliche Bedeutung zu (→ § 14 Rn 39). Das Unionsrecht und das darauf beruhende nationale Recht müssen stets so ausgelegt werden, dass sie mit den Gewährleistungen der Kommunikationsgrundrechte im Einklang stehen.18 Im Gegensatz zum EGMR hat der EuGH eine Pflicht zum Schutz der Unionsgrundrechte – anders als hinsichtlich der Grundfreiheiten (→ § 1 Rn 51) – bislang noch nicht anerkannt.19 Dass für die Union nicht unmittelbar auf die Unionsgrundrechte zurückgegriffen werden kann, macht Art 51 I GRCh deutlich.20 Nötig ist ein anderswo verankerter Kompetenztitel (→ § 14 Rn 35).21 Wenn es eine EU-Kompetenz gibt, können Kommunikationsgrundrechte aber Schutzpflichten begründen. Bei deren Wahrnehmung kann die Rechtsprechung des BVerfG und des Straßburger Gerichtshofs Anregungen bieten.22

II. Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit Leitentscheidungen: EuGH, Slg 2003, I-12489 ff – RTL Television; Slg 2001, I-1611 ff – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1; Slg 2001, I-10269 ff – Cwik; Slg 1999, I-8877 ff – Wirtschafts- und Sozialausschuss; Slg 1999, I-7599 ff – ARD; Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1; Slg 1994, I-4795 ff – TV 10; Slg 1993, I-487 ff – Veronica Omroep Organisatie; Slg 1992, I-5485 ff – Ter Voort; Slg 1991, I-2925 ff – Elliniki Radiophonia Tileorassi (ERT); Slg 1991, I-4007 ff – Stichting

15 Vgl EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 74 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3 (→ Rn 38); Slg 2007, I-10779, Rn 45 – International Transport Workers’ Federation (→ Rn 43); Slg 2007, I-11767, Rn 93 – Laval (→ Rn 52); Slg 1991, I-4069, Rn 30 – Kommission/Niederlande (→ Rn 18); Slg 1991, I-4007, Rn 22, 23 – Stichting Collectieve (→ Rn 17); Slg 1993, I-487, Rn 9 f – Veronica Omroep (→ Rn 18); Slg 2008, I-505, Rn 42 – Dynamic Medien Verlag = JK 2008, EGV Art 28/10. 16 Vgl etwa Kadelbach/Petersen EuGRZ 2003, 693, 696. 17 Jarass GRCh, Einl Rn 10, Art 53 Rn 7; vgl a Gramlich DÖV 1996, 801, 808 ff; Preedy Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten, 2005, 177 f; Schulenberg in: Kämmerer/ Wyrzykowski (Hrsg) Verfassungsgebung für Europa, 2005, 287, 299 ff; anders Groß in: Vieweg (Hrsg) Perspektiven des Sportrechts, 2005, 37, 58 f; Vieweg/Röthel ZHR 166 (2002), 6, 26 ff. 18 EuGH, Slg 2003, I-12971, Rn 87 – Lindqvist (→ Rn 13, 20); Slg 1999, I-8877, Rn 14 ff – Wirtschafts- und Sozialausschuss; Slg 2001, I-1611, Rn 47 ff, 129 f, 147 f – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1 (→ Rn 4); Slg 2007, I-5305, Rn 28 – Ordre des barreaux francophones et germanophone; Slg 2006, I-2397, Rn 32–35 – Werhof. 19 Allenfalls lassen sich einige Entscheidungen – wie etwa das Urt in der Rs Schmidberger (EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 74 ff = JK 2003, EGV Art 28/3) – iS einer grundrechtlichen Begründung v Schutzverpflichtungen deuten. Vgl Feise (Fn 11) S 127 ff. 20 Vgl zum rechtspolitischen Hintergrund Engel, 975, 984 ff. 21 Näher etwa Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 25 f; sowie ausf Szczekalla Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen u europäischem Recht, 2002, 549 ff. In gewissen Umfang Schutzpflichten befürwortend Suerbaum EuR 2003, 390, 405 ff Im Hinblick auf die Kommunikationsgrundrecht der Versammlungsfreiheit Mann/Ripke EuGRZ 2004, 125, 131, zur Medienfreiheit Engel, 975, 996 f; Feise (Fn 11) S 123 ff. Zur Kompetenzverteilung im Medienbereich und zu Reformvorschlägen Schwarze AfP 2003, 209, 213 ff. 22 Allgem etwa Dietlein Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, und Classen JÖR 36 (1987), 29 ff.

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Collectieve Antennevoorziening Gouda; Slg 1991, I-4069 ff – Kommission/Niederlande; Slg 1989, 4285 ff – Oyowe u Traore; Slg 1985, 2605 ff – Cinéthèque; Slg 1984, 19 ff – VBVB u VBB („flämische Bücher“); Slg 2007, I-2749 ff – A.G.M.-COS.MET Srl = JK 2008, EGV Art 28/2; Slg 1991, I-4685 ff – Grogan; Slg 2004, II-1477 ff – Meister; Slg 2003, I-12971 ff – Lindqvist; Slg 2004, I-3025 ff – Karner; Slg 2006, I-11573 ff – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2007, EGV Art 95 I/4; Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3; Slg 2006, I-8089 ff – Laserdisken; Slg 2009, I-2629 ff – Damgaard; EuZW 2012, 261 – SABAM = JK 2012, GrCh Art17 II/1. Schrifttum: Bär Freiheit und Pluralität der Medien nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2005; Bernreuther Zur Interessenabwägung bei anonymen Meinungsäußerungen im Internet, AfP 2011, 218 ff; Dörr Der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Kontext des neuen EU-Verfassungsvertrages, FS Kiefer, 2005, 90 ff; Engel Die Europäische Grundrechtscharta und die Presse, ZUM 2000, 975 ff; Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006; Hong, Hassrede und extremistische Meinungsäußerungen in der Rechtsprechung des EGMR und nach dem Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, ZaöRV 2010, 73 ff; Institut für Europäisches Medienrecht Nizza, die Grundrechte-Charta und ihre Bedeutung für die Medien in Europa, 2001; Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, 1999; ders Grundrechtekontrolle durch den EuGH: Kommunikationsfreiheit und Pluralismussicherung im Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 1997, 296 ff; ders Kommunikationsfreiheit, Medienfreiheit in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23, § 24; Schmittmann/Luedtke Die Medienfreiheit in der Europäischen Grundrechtscharta, AfP 2000, 533 ff; Schwarze Medienfreiheit und Medienvielfalt im Europäischen Gemeinschaftsrecht, ZUM 2000, 779 ff; ders Die Medien in der europäischen Verfassungsreform, AfP 2003, 209 ff; Selmer Die Medien- und Informationsfreiheit in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, FS Nicolaysen, EUR 2002 (Beiheft 3), 29 ff; Sporn Das Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit in einer Europäischen Grundrechtscharta, ZUM 2000, 537 ff; Stock Medienfreiheit in der EU-Grundrechtscharta: Art 10 EMRK ergänzen und modernisieren!, 2000; ders Eine Grundrechtscharta für die Europäische Union: Wie sollte die Medienfreiheit darin ausgestaltet werden?; ZUM 2000, 533 ff; ders Medienfreiheit in der EU nur „geachtet“ (Art 11 Grundrechtecharta) – Ein Plädoyer für Nachbesserungen im Verfassungskonvent, EuR 2002, 566 ff.

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Fall 1: (gelehnt an EuGH, Slg 2001, I-1611 ff – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1) C, der Leiter des Kommissionsreferats für nationale und gemeinschaftliche Währungspolitik, veröffentlichte während eines längeren Urlaubs ein Buch, das unter dem Titel „The rotten heart of Europe. The dirty war for Europe’s money“ die Währungspolitik der Union und einzelne Kommissionsmitglieder heftig kritisierte. Da C die nach Art 17 des Beamtenstatuts erforderliche Zustimmung nicht beantragt hatte, wurde er von der Kommission ohne Aberkennung seines Ruhegehaltsanspruchs aus dem Dienst entfernt. C meint, dass die Entscheidung ihn in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt habe. Nachdem das EuG die Klage gegen die Disziplinarstrafe abgewiesen hatte, wandte sich C an den EuGH. Fall 2: (gelehnt an EuGH, Slg 2006, I-11573 ff – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2007, EGV Art 95 I/4) Die RL 2003/33 verbietet – von unbedeutenden Ausnahmen abgesehen – vollständig die Werbung für Tabakerzeugnisse in den Bereichen der Presse und des Rundfunks. Zudem wird Tabakunternehmen das Sponsoring für Veranstaltungen, die eine grenzüberschreitende Wirkung haben, untersagt. Deutschland hält die Richtlinie unter anderem wegen eines Verstoßes gegen die Presse- und Meinungsfreiheit für unionsrechtswidrig.

1. Die Normierung des Art 11 GRCh im Überblick 6

Nach Art 11 I 1 GRCh hat „jeder Mensch das Recht auf freie Meinungsäußerung“. Art 11 I 2 GRCh betont, dass dieses Recht „die Meinungsfreiheit und die Freiheit (einschließt), Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf

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Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben“. Schließlich erklärt Art 11 II GRCh, dass „die Freiheit der Medien und ihre Pluralität geachtet“ werden. In den als Anleitung für die Auslegung der Charta verfassten (allerdings nicht verbindlichen) Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents wird hervorgehoben, dass sich die Gewährleistung der Meinungsfreiheit bewusst an Art 10 EMRK orientiert.23 Da dies gem Art 52 III GRCh zur Folge hat, dass die Freiheiten in beiden Kodifikationen „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben, kommt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der im Interesse von Pluralismus und Toleranz den Schutzbereich der Kommunikationsgrundrechte weit fasst und Eingriffe nur unter engen Voraussetzungen als gerechtfertigt anerkennt (→ § 4), eine besondere Bedeutung zu. Das Unionsrecht darf den Mindeststandard der EMRK-Gewährleistungen jedenfalls nicht unterschreiten.24 Die Freiheit der Medien und die Achtung ihrer Pluralität werden in Art 10 EMRK nicht ausdrücklich erwähnt, sondern als Bestandteil der allgemeinen Meinungs- und Informationsfreiheit geschützt (→ § 4 Rn 17). Obwohl diese Konzeption auch der EuGH-Rechtsprechung25 und der Grundrechtserklärung des Europäischen Parlaments26 zugrunde liegt, setzte sich im Laufe der Verhandlungen zur Grundrechtecharta die Einschätzung durch, dass die Medienfreiheit vor allem wegen ihrer Bedeutung für die Demokratie eigenständig zu regeln ist.27 Dass es nicht bloß um die Übernahme der Judikatur des EGMR geht, wird auch dadurch deutlich, dass das Präsidium des Konvents auf die Rechtsprechung des EuGH bezüglich des Fernsehens28, das Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten29 und auf die der Förderung eines freien Informationsflusses und des Meinungsaustausches in der Union dienende Fernsehrichtlinie30 verweist.31 Die in Art 11 GRCh gewährleisteten Kommunikationsgrundrechte gehören zur „gemeinsamen Verfassungstradition“ der Mitgliedstaaten, auf die die Präambel zur Grundrechtecharta in Abs 5 verweist. Die Informationsfreiheit wird in den Mitgliedstaaten

23 Vgl Nr 1 der Erläuterungen des Präsidiums des Konvents CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7. 2003. 24 Ausführlich zu dem umstr Verhältnis von GRCh und EMRK Ziegenhorn Recht der EU-Grundrechtecharta. Genuin chartarechtlicher Grundrechtsschutz gemäß Art 52 Abs 3 GRCh, 2009; Schneiders Die Grundrechte der EU und die EMRK, 2011, 145 ff. 25 Vgl etwa EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 18 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. Dazu Kühling EuGRZ 1997, 296, 301 ff. 26 Europ Parlament Erklärung der Grundrechte u Grundfreiheiten v 12.4.1989, ABl EG 1989 Nr C, 51 (Art 5). Dazu Kühling (Fn 2) S 355 ff. 27 Vgl zur Entstehungsgeschichte Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 8 f; Feise (Fn 11) S 32 ff; Selmer EUR 2002 (Beiheft 3), 29, 34 ff; Sporn ZUM 2000, 537 ff; Stern in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 11 Rn 4 f; Stock EuR 2002, 566 ff, 571 f. 28 Verwiesen wird auf EuGH, Slg 1991, I-4007 ff – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ua. 29 ABl EG 1997 Nr C 340, 109. Dazu etwa Feise (Fn 11) S 67 ff; Hochhuth Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, 213 ff; Schwarze ZUM 2000, 779, 796 ff; Selmer, EUR 2002 (Beiheft 3), 29, 33 ff. 30 RL 89/552 des Rates v 3.10.1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- u Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl 1989 L, 23. Vgl Feise (Fn 11) S 70 ff; Schwarze ZUM 2000, 779, 793 ff. 31 Nr 2 der Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7.2003. Vgl dazu etwa Feise (Fn 11) S 48 ff.

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zumeist als Bestandteil der Meinungsfreiheit angesehen; während sich für die Medienfreiheit, namentlich für die Rundfunkfreiheit, in allen Mitgliedstaaten spezielle verfassungsrechtliche und/oder einfachgesetzliche Verbürgungen finden.32 Schließlich sind für die Interpretation von Art 11 GRCh die in der Präambel hervorgehobenen „gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten“ von Bedeutung. Dies gilt nicht nur für die EMRK. Zu denken ist auch an Art 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), an Art 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) und an den „free flow of information“ als allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts.33

2. Schutzbereich 9

Auf die Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit kann sich „jeder Mensch“, also auch jeder Angehörige von Staaten, die nicht Mitglied der Union sind, berufen.34 Drittstaatenangehörigen gegenüber sind jedoch Einschränkungen im Bereich der politischen Betätigung entsprechend Art 16 EMRK möglich.35 Dass das Kommunikationsgrundrecht auch Kindern zusteht, stellt Art 24 I 2 GRCh klar. Berechtigt sind auch juristische Personen (allgm → § 14 Rn 43).36 Dies gilt vor allem für Medienunternehmen. Der Staat selbst ist kein Träger von Grundrechten. Er kann sich auch nicht auf die Meinungsfreiheit seiner Bediensteten berufen, sofern diese für ihn handeln.37 Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die in einer „dualen Rundfunkordnung“ einen Auftrag zur „Grundversorgung“ haben,38 kommt die Medienfreiheit allerdings zu, soweit sie staatsfern sind und somit gegen hoheitliche Übergriffe geschützt werden müssen.39 Öffentlich-rechtlich korporierte Religionsgemeinschaften sind dem staatlichen Bereich von vornherein nicht zuzuordnen. a) Meinungs- und Informationsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechtecharta

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In sachlicher Hinsicht schützt Art 11 I 1 GRCh zunächst die Meinungsäußerungsfreiheit, zu der selbstverständlich auch die negative Freiheit gehört, seine Meinung nicht zu äußern.40 Schutz genießt grundsätzlich jede Äußerung ohne Rücksicht auf die Qualität und den Themenbereich.41 Ausdrücklich betont der EGMR, dass im Interesse einer 32 Vgl für Nachw Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 2. Ausf Kühling (Fn 2) S 207 ff. 33 Vgl Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 3 mwN. 34 Vgl Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 30. Implizit a EuGH, Slg 1989, 4285, Rn 15 f – Oyowe u Traore. 35 Jarass GRCh, Art 11 Rn 23. 36 Für eine Anwendung der Wertung des Art 19 III GG Hochhuth (Fn 29) S 251. 37 EuGH, Slg 2007, I-2749, Rn 72 – A.G.M.-COS.MET Srl = JK 2008, EGV Art 28/2. 38 Vgl BVerfGE 83, 238, 296 ff – 6. Rundfunkurteil. 39 S Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 21; Feise (Fn 11) S 106 f; Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 24 Rn 27; ders (Fn 2) S 377 ff; sowie etwa Dörr Die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Europa, 1997. 40 Vgl z negativen Kommunikationsfreiheit Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 23 f. 41 S z Rspr d EuGH → § 4 Rn 4 ff sowie zusammenfassend mit Blick auf Art 11 GRCh etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 12 Fn 192; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 6 ff; Vgl a BVerfGE 61, 1, 7 – Wahlkampf.

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offenen und pluralen geistigen Auseinandersetzung auch „verletzende, schockierende oder beunruhigende“ Meinungsäußerungen in den Schutzbereich fallen.42 Ob dies auch für rassistische Äußerungen gilt, ist in der Rechtsprechung des EGMR nicht klar.43 Nach manchen Entscheidungen ist in diesen Fällen – wegen des Missbrauchsverbots in Art 17 EMRK – der Schutzbereich schon gar nicht eröffnet.44 Damit werden freilich die Grenzen zwischen dem Schutzbereich und den Schranken der in Art 11 GRCh gewährleisteten Rechte verwischt.45 Zu Recht berücksichtigt der EGMR in anderen Entscheidungen den diskriminierenden Gehalt einer Äußerung erst auf der Rechtfertigungsebene.46 Dogmatisch führt auch die in Art 1 S 1 GRCh hervorgehobene Menschenwürde nicht zu einer tatbestandlichen Einschränkung. Es besteht kein Anlass von dem herkömmlichen dreistufigen Aufbau der Grundrechtsprüfung abzuweichen. Allerdings folgt aus Art 1 S 2 GRCh, wonach die Menschenwürde „zu achten und zu schützen“ ist, eine Schutzpflicht der Grundrechtsadressaten (→ § 15 Rn 4). Im Übrigen beschränkt sich der Schutz nicht auf den politischen Bereich, sondern erfasst etwa auch – der Straßburger Spruchpraxis (→ § 4 Rn 8) 47 und der Judikatur des UN-Menschenrechtsausschusses 48 entsprechend – kommerzielle Äußerungen.49 Zur sog commercial speech gehören alle Formen der Werbung, des Direktmarketings, des Sponsoring, der Verkaufsförderung und der Öffentlichkeitsarbeit.50 Kritische Äußerungen zu politischen Fragen und Stellungnahmen von Politikern sind besonders geschützt (Rn 23, 44 ff). Auf die Art der Meinungsäußerung kommt es nicht an. Geschützt werden alle denkbaren Kommunikationsformen, also auch Realhandlungen, die einen kommunikativen Gehalt haben (→ § 4 Rn 9).51 Für künstlerische Ausdrucksmittel ist die Kunstfreiheit nach Art 13 GRCh (→ § 18) lex specialis. Dass sich die Grundrechtsgewährleistungen nicht auf das sog forum externum beschränken, macht Art 11 I 2 GRCh deutlich, wonach die Meinungsäußerungsfreiheit die Meinungsfreiheit einschließt. Gemeint ist der – auch von der Gedankenfreiheit in Art 10 GRCh gewährleistete (→ § 16 Rn 68) – innere Prozess der Meinungsbildung im sog forum

42 Grundl EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 49 – Handyside. S a EGMR, EuGRZ 1991, 216, Rn 57 ff – Oberschlick; NJW 2012, 746 Rn 18 – Karttunen. 43 S zu dieser Frage ausf Hong ZaöRV 2010, 73 ff. 44 Vgl etwa EGMR, Series A Nr 298, Rn 35 – Jersild; ÖJZ 1999, 656 – Lehideux; NJW-RR 2011, 981 – Ruokanen ua. 45 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 5. 46 EGMR, ÖJZ 2000, 817 – Schimanek; NJW-RR 2011, 984 – Le Pen. 47 EGMR, EuGRZ 2002, 589, Rn 38 ff – Stambuk; EuGRZ 1996, 302, Rn 26 – markt intern Verlag GmbH u Beermann; EuGRZ 1990, 255, Rn 55 – Groppera Radio AG; HRLJ 1994, 184, Rn 35 f – Casado Coca (Werbeverbot für Anwälte); ECHR 2001-VI, 243 – VGT Verein gegen Tierfabriken. 48 MRA v 31.3.1993, Communications Nr 359/1989 und 385/1989, U.N.Doc CCPR/C/47/D/ 359/1989 u 385/1989/Rev 1 (1993), Rn 11.3–11.4 – Ballantyne, Davidson u McIntyre. 49 Vgl zur Wirtschaftswerbung Kühling (Fn 2) S 464 ff; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 708 ff, 724. Zur dt Verfassungslage BVerfGE 102, 347, 359 f – Benetton Schockwerbung, Schroeder ZLR 2012, 405, 416; sowie etwa Hochhuth (Fn 29) S 311 ff; s zur Arzneimittelwerbung EuGH, Slg 2009, I-2629, Rn 26 – Damgaard. 50 Vgl das Grünbuch der Kommission Kommerzielle Kommunikation im Binnenmarkt, KOM (96), 192 endg, und das Nachfolgedokument KOM (98), 121 endg. Zum betriebs- und gesamtwirtschaftlichen Kontext V Schmitz (Fn 14) S 29 ff. 51 Zu den geschützten Kommunikationsmitteln Kühling (Fn 2) S 388 ff.

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internum.52 Dies bietet einen Schutz vor gezielter Indoktrination durch die öffentliche Hand.53 Meinungen sind Werturteile.54 Allerdings werden auch Tatsachenäußerungen als „Informationen“ iSv Art 11 I 2 GRCh sowie Konzepte und Pläne als „Ideen“ geschützt.55 Da der Schutzbereich des Art 11 I GRCh „Meinungen, Informationen und Ideen“ umfasst, braucht – anders als im deutschen Recht56 – auf der Ebene des Schutzbereichs grundsätzlich nicht zwischen Meinungen und Tatsachenmitteilungen unterschieden zu werden (→ § 4 Rn 5).57 Der Wahrheitsgehalt von Informationen wird erst auf der Schrankenebene relevant; unwahre Äußerungen verdienen weniger Schutz.58 Dies ist vor allem für das Gegendarstellungsrecht von Bedeutung, wenn es um den „Schutz des guten Rufes“ geht (Rn 22). Ausdrücklich werden nur der „Empfang“ und die „Weitergabe“ von Informationen und Ideen geschützt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die aktive Informationsbeschaffung keinen Schutz genießt, denn diese ist eine grundlegende Voraussetzung für Meinungsbildung, Meinungsäußerung und Informationsverbreitung (→ § 4 Rn 12).59 Die Informationsfreiheit umfasst den gesamten Informationsprozess, also auch die Aufbereitung und Speicherung von Informationen bis hin zur Beschaffung und Nutzung von Anlagen, die den Empfang von an die Allgemeinheit gerichteten Informationen ermöglichen.60 Eine dem Informationsrecht korrespondierende behördliche Pflicht zur Information hat der EGMR abgelehnt.61 Der Schutzbereich der Informationsfreiheit wurde – wie im deutschen Recht (Art 5 I 1 GG)62 – auf den Empfang allgemein zugänglicher Informationen beschränkt (→ krit § 4 Rn 10 f ).63 Ein Recht auf Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission wird allerdings in Art 42 GRCh normiert.64

52 Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 12. 53 Vgl EGMR, EuGRZ 1976, 478, Rn 53 – Kjeldsen, Busk Madsen u Pedersen (Indoktrinierungsverbot in Schulen); EuGRZ 1994, 549, Rn 38 – Informationsverein Lentia; sowie etwa Astheimer Rundfunkfreiheit – ein europ Grundrecht, 1990, 53. 54 Vgl BVerfGE 61, 1, 7 – Wahlkampf. 55 Jarass GRCh Art 11 Rn 7–9. 56 Vgl z Frage, ob und inwieweit a Tatsachenbehauptungen unter die Meinungsfreiheit nach Art 5 GG fallen, BVerfGE 61, 1, 7 – Wahlkampf („Die Mitteilung einer Tatsache ist im strengen Sinne keine Äußerung einer Meinung … Durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt ist sie, weil und soweit sie Voraussetzung der Bildung einer Meinung ist“); sowie Hochhuth (Fn 29) S 344 ff; Pieroth ua Grundrechte, Rn 552 ff. 57 Vgl Hochhuth (Fn 29) S 253 („kein Raum für die deutsche Merkwürdigkeit“). 58 Vgl etwa BVerfGE 90, 241, 247 f – Auschwitzlüge = JK 94, GG Art 5 I 1/22; 99, 185, 197 – Scientology. Vgl zur Rspr des BVerfG und des EGMR, Kühling (Fn 2) S 148 f, 215 f. 59 Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 13. 60 EGMR, EuGRZ 1990, 261, Rn 47 – Autronic AG; EuGRZ 1992, 484, Rn 55 – Open Door and Dublin Well Woman (vgl dazu EuGH, Slg 1991, I-4685, Rn 25 u 31 f – Grogan). 61 EGMR, NVwZ 1999, 57, Rn 53 ff – Guerra ua. 62 Vgl etwa BVerfGE 90, 27, 32 f – Parabolantenne = JK 94, GG Art 5 I 1/21 ; 103, 44, 60 f – Gerichtsfernsehen = JK 2001, GG Art 5 I /28. 63 EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 41 – Lingens. Ausf Rengeling/Szczekalla GR, Rn 713 ff, 725. Krit Sporn ZUM 2000, 537, 540 f. 64 Vgl a Nowak DVBl 2004, 272 ff. Umfassend zur „Arkantradition“ und dem Informationsfreiheitsrecht Wegener (Fn 4), insb S 396 ff (zur Informationsfreiheit im Recht der EU).

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bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs In der naturgemäß kasuistischen Rechtsprechung des EuGH werden der Schutzbereich und die Grenzen der Meinungs- und Informationsfreiheit wenig klar bestimmt. Regelmäßig stellt der EuGH nur in knappen Worten die Betroffenheit des Grundrechts fest, um dann dessen Beschränkung zu bejahen. Erst im Rahmen der Rechtfertigung des Eingriffs setzt sich das Gericht mit den Umständen des Falles auseinander. Nichtsdestotrotz lassen sich den Entscheidungen einige genauere Aussagen zum Schutzbereich der Meinungs- und Informationsfreiheit entnehmen. Wichtige Entscheidungen betrafen das Dienstrecht der Union.65 In der Rs Oyowe und Traore hatte es die Kommission abgelehnt, die Kläger zu Kommissionsbeamten zu ernennen, weil sie gleichzeitig Redakteure des „AKP-Kurier“ waren. Diese Tätigkeit sei mit der Treuepflicht eines Beamten nicht vereinbar. Der EuGH verwarf diese Argumentation. Die Treuepflicht dürfe nicht so ausgelegt werden, dass sie im Widerspruch zur Freiheit der Meinungsäußerung stehe. Die Meinungsfreiheit sei ein Grundrecht, „dessen Wahrung der Gerichtshof innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung zu sichern hat und das besonders wichtig ist, wenn es sich (…) um Journalisten handelt, deren wichtigste Aufgabe es ist, völlig unabhängig (…) zu schreiben.“66 In weiteren Entscheidungen ging es um die Konkretisierung der allgemeinen Treuepflicht in Art 17 des Beamtenstatuts, wonach es Kommissionsbediensteten verboten ist, Texte, die sich auf die Tätigkeit der Union beziehen, ohne Zustimmung der Anstellungsbehörde zu veröffentlichen. In der Rs Connolly (Rn 4, Fall 1) machte das Gericht deutlich, dass der Schutzbereich der Meinungsfreiheit auch eröffnet ist, wenn Unionsbedienstete „mündlich oder schriftlich Ansichten äußern, die sich von denjenigen unterscheiden, die das Gemeinschaftsorgan, bei dem sie beschäftigt sind, vertritt, oder die diesen gegenüber Minderheitsmeinungen darstellen.“67 In der Rs Cwik ging es um einen ähnlichen Fall: Der Kläger hatte mit Zustimmung seiner Vorgesetzten einen Vortrag über die „wirtschaftspolitische Feinsteuerung“ in der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) gehalten. Die Veröffentlichung des Manuskripts wurde ihm mit der Begründung verboten, dass die Auffassungen nicht der Kommissionslinie entsprächen. Dem trat der EuGH unter Berufung auf die Meinungsfreiheit entgegen (Rn 30).68 Dass grundsätzlich auch die Kritik an Vorgesetzten geschützt ist, selbst wenn sie einen aggressiven und unsachlichen Ton hat, hob der Gerichtshof in der Rs Wirtschafts- und Sozialausschuss/E hervor (Rn 30).69 Schließlich entschied der Gerichtshof in der Rs Herbert Meister, dass die Meinungsfreiheit auch die Kritik an geplanten Umstrukturierungsmaßnahmen innerhalb einer Dienststelle erfasst.70 Die Beispiele zeigen, dass die Meinungsfreiheit in der Union weitreichend geschützt ist. Allgemein formulierte der Gerichtshof in der Rs Connolly unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des EGMR, dass die Gewährleistung nicht nur „für Informationen und Ideen (gilt), die Zustimmung erfahren oder die als harmlos oder unerheblich betrachtet werden, sondern auch für sämtliche Informationen und Ideen, die den Staat oder einen Bereich der Bevölkerung beleidigen, aus der Fassung bringen oder stören. Dies erfordern nämlich

65 66 67 68

Vgl Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 72 ff; dens (Fn 2) S 428 ff. EuGH, Slg 1989, 4285, Rn 16 – Oyowe u Traore. EuGH, Slg 2001, I-1611, Rn 43 – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1. EuGH, Slg 2001, I-10269, Rn 14 ff u 23 ff – Cwik. Vgl a schon EuG, Slg ÖD 2000, I-A-155 u II-713, Rn 66 ff – Cwik. 69 EuGH, Slg 1999, I-8877, Rn 14 f – Wirtschafts- u Sozialausschuss. 70 EuG, Slg 2004, II-1477, Rn 157 ff – Meister.

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die pluralistische Gesellschaft, die Toleranz und die Weite des Geistes, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht zu haben ist“.71 Dass die Meinungsäußerungsfreiheit nicht nur für Beamte, sondern vielmehr für das Arbeitsleben ganz allgemein gilt und mithin auch von Arbeitsgerichten zu beachten ist, hat der EGMR jüngst hervorgehoben und entschieden, dass eine Strafanzeige zum Zwecke des „Whistleblowing“ – also um Missstände beim Arbeitgeber offenzulegen – vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst wird.72 Abseits von Fällen zu den Dienstverhältnissen der Union hat sich der EuGH nur vereinzelt zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit geäußert. Der Entscheidung Lindqvist, in der es um ein schwedisches Strafverfahren ging, lässt sich entnehmen, dass auch die Verbreitung personenbezogener Daten im Internet in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt (→ § 16 Rn 49).73 Zu Recht hat der BGH – gelehnt an die weite Schutzbereichsdefinition des EuGH – in seiner Entscheidung AnyDVD auch das Setzen von „Links“ als geschützte Berichterstattung iSv Art 11 I GRCh anerkannt.74 In der Rs Ter Voort wurde vom EuGH die Versendung von Informationen über die therapeutische Wirkung von eingeführten Kräutertees als Ausübung der Meinungsfreiheit angesehen (Rn 20).75 Dass auch kommerzielle Meinungsäußerungen von der Meinungsfreiheit geschützt sind, veranschaulicht die Rs Karner, in der es um das österreichische Verbot ging, beim Verkauf von Waren aus einer Konkursmasse auf die Herkunft hinzuweisen, wenn die Waren zum Zeitpunkt des Verkaufs nicht mehr zum Bestand der Konkursmasse gehören. Mit dieser Regelung im Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb sollen Verbraucher vor dem Irrtum geschützt werden, dass die Waren wegen der Auflösung der Konkursmasse besonders günstig sind. Der EuGH lehnte eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit ab, indem er die Werbebeschränkungen als Verkaufsmodalität iSd Keck-Rechtsprechung (→ § 7 Rn 84 ff; § 8 Rn 39 ff )76 bezeichnete. Stattdessen wurde eine Verletzung der „Meinungsfreiheit im Geschäftsverkehr“ untersucht.77 Um den Umfang des grundrechtlichen Schutzes kommerzieller Kommunikation ging es auch in dem von Deutschland ua unter Berufung auf die Meinungsfreiheit angestrengten Verfahren über die Rechtmäßigkeit der sog Tabakwerbe-RL 98/43, die jede Form von Werbung für Tabakerzeugnisse in der Gemeinschaft verbot (Rs Deutschland/Parlament und Rat). In den Schlussanträgen betonte GA Fennelly unter Berufung auf den EGMR78, dass Informationen wirtschaftlicher Natur zwar nicht in derselben Weise wie politische, journalistische, literarische oder künstlerische Meinun-

71 72 73 74 75 76 77

EuGH, Slg 2001, I-1611, Rn 39 – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1. EGMR, EuGRZ 2011, 555, Rn 43 f – Heinisch = JK 2012, EMRK Art 10/3. EuGH, Slg 2003, I-12971, Rn 73, 86 ff – Lindqvist. BGHZ 187, 240, Rn 22 f – AnyDVD. EuGH, Slg 1992, I-5485, Rn 33, 36–38 – Ter Voort. EuGH, Slg 1993, I-6097 – Keck. EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 51 – Karner. Indirekt können a die Urt Slg 2003, I-12489, Rn 37, 68 – RTL Television, u Slg 2006, I-11573 ff – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2007, EGV Art 95 I/4, als Bestätigung für die Einbeziehung von Werbung in den Schutzbereich herangezogen werden, da die Kläger in diesen Fällen, in denen es um Vorgaben an die Werbung in den Medien ging, die Werbung als kommerzielle Form der Meinungsäußerung geltend machten und der EuGH nur ganz pauschal eine Beschränkung der Meinungsfreiheit annahm. In der Rspr des EGMR ist anerkannt, dass die Meinungsfreiheit a Werbung schützt. S EGMR, EuGRZ 2002, 589 – Stambuk. 78 EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 49 – Handyside.

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gen in einer liberalen Gesellschaft zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele beitragen. Die Grundrechte würden jedoch nicht nur wegen ihrer instrumentalen, gesellschaftlichen Funktion anerkannt, sondern auch deswegen, weil sie für die Autonomie, die Würde und die Persönlichkeitsentwicklung erforderlich seien. Die Freiheit der Bürger, ihre wirtschaftliche Betätigung durch Äußerungen zu fördern, flösse daher nicht nur aus ihrem Recht auf wirtschaftliche Betätigung und aus der allgemeinen Verpflichtung auf eine auf den freien Wettbewerb gestützte Marktwirtschaft, sondern auch aus ihrem ursprünglichen Anspruch als Menschen, Ansichten zu jeder Frage einschließlich der Qualität der Waren oder Dienstleistungen, die sie verkaufen oder erzeugen, auszudrücken und zu empfangen.79 Zu einer Stellungnahme des EuGH kam es nicht, weil der Gerichtshof die Richtlinie bereits wegen einer ungeeigneten Rechtsgrundlage für nichtig erklärte und die weiteren Klagegründe nicht mehr prüfte.80 In dem zweiten Tabakwerbeurteil, das die nach der ersten Entscheidung revidierte RL 2003/33 zum Gegenstand hatte (Rn 5, Fall 2), betonte der EuGH, dass die Presse- und Meinungsfreiheit mit den Zielen des Gesundheitsschutzes abgewogen werden müsse. Dabei komme den zuständigen Stellen ein Beurteilungsspielraum zu, der je nach Art der Tätigkeit, um die es geht, und je nach den verfolgten Zielen unterschiedlich sei. Im Ergebnis wurde das Werbeverbot als gerechtfertigt angesehen, da es nur die kommerzielle Freiheit der Meinungsäußerung im Geschäftsverkehr betrifft und zudem die inhaltlichen Beiträge der Journalisten von dem Verbot nicht berührt werden.81 Fragen der negativen Meinungsfreiheit warf eigentlich die Tabakprodukt-RL 2001/37 auf, die es den Mitgliedstaaten ermöglicht zu entscheiden, ob bei den Warnhinweisen die Behörde genannt wird, von der die Warnung stammt. In dem dazu ergangenen Urteil sprach der Gerichtshof die Meinungsfreiheit allerdings mit keinem Wort an.82 Dass die Meinungsfreiheit bei einer gemeinschaftlichen Ausübung nicht gegenüber der Versammlungsfreiheit zurücktritt, sondern beide Unionsgrundrechte parallel anzuwenden sind (näher Rn 37), macht die Entscheidung in der Rs Schmidberger deutlich, in der es um eine Versammlung ging, die die Brennerautobahn für mehrere Stunden lahm legte, um auf die Gefahren für den Lebensraum und die Gesundheit der Bevölkerung durch den Transitverkehr hinzuweisen (Rn 38).83 Die Informationsfreiheit hat in der Rechtsprechung bislang ein kümmerliches Dasein gefristet. Der Gerichtshof hatte zwar in der Rs Grogan die Gelegenheit, sich zur Reichweite des Schutzbereiches dieses Grundrechts zu äußern.84 Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens war das irische Verbot, Informationen über Kliniken zu verbreiten, die Schwangerschaftsabbrüche in anderen Mitgliedstaaten vornehmen. GA van Gerven betonte in seinen Schlussanträgen, dass aus der Dienstleistungsfreiheit in Übereinstimmung mit Art 10 EMRK das Recht folge, sich im eigenen Mitgliedstaat ungehindert Informationen über in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassene Erbringer von Dienstleistungen 79 Schlussanträge GA Fennelly, EuGH, Slg 2000, I-8423, Rn 153, vgl a Schroeder ZLR 2012, 405, 410. 80 EuGH, Slg 2000, I-8498 ff – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2001, EGV Art 95/1. 81 EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 155 f – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2007, EGV Art 95 I/4. 82 EuGH, Slg 2002, I-11453 ff – British American Tobacco u Imperial Tobacco. Ausf Koenig/Kühling EWS 2002, 12 ff. Vgl z dt Umsetzungsakt gegen die vorherige Etikettierungsrichtlinie 89/662, geänd durch RL 92/41, BVerfGE 95, 173, 181 ff = JK 97, GG Art 12 I/45. 83 EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 69 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3. Vgl zum Verhältnis der beiden Unionsgrundrechte a Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 90. 84 EuGH, Slg 1991, I-4685 ff – Grogan.

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zu beschaffen.85 Der Gerichtshof ging der Beantwortung der Frage nach einer Verletzung der Informationsfreiheit allerdings mit der (zweifelhaften) Begründung aus dem Weg, dass das Verhalten der Studenten, die entgegen dem Verbot solche Informationen veröffentlicht hatten, mit den ärztlichen Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten „zu lose“ verbunden sei, um in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit zu fallen. Da es nicht um die Anwendung von Gemeinschaftsrecht gehe, sei der Gerichtshof für die Prüfung mit den Grundrechten der Gemeinschaft nicht zuständig.86 Betroffen war die Informationsfreiheit dann aber in der Rs Laserdisken. Streitgegenstand war eine aus der Umsetzung von Sekundärrecht entstandene dänische Vorschrift, wonach sich das Recht der Urheber, über eine Verbreitung ihrer Werke in der EG zu entscheiden, nur dann erschöpft, wenn der Erstverkauf in der Gemeinschaft mit Zustimmung der Rechteinhaber erfolgt ist. Die Firma Laserdisken sah sich in ihrem Geschäftsmodell bedroht, weil sie Vervielfältigungsstücke von Filmen aus Drittstaaten an Privatkunden verkaufte. Um die Regelung zu Fall zu bringen, berief sich die Firma auf die Meinungsfreiheit der Unionsbürger. Der EuGH erkannte grundsätzlich an, dass die „Freiheit, Informationen zu empfangen“, in der Gemeinschaft geschützt ist, ließ die Informationsfreiheit allerdings im Ergebnis hinter dem Recht am geistigen Eigentum zurücktreten.87 Zu einem anderen Ergebnis kam der Gerichtshof in der Rs Sabam, in der es um die dem sozialen Netzwerk Netlog auferlegte Pflicht ging, ein Filtersystem für musikalische und audiovisuelle Werke einzurichten. Diese Pflicht hielt der EuGH ua wegen eines Verstoßes gegen die Informationsfreiheit aus Art 11 I GRCh für unzulässig. In der Abwägung maß er dem Recht am geistigen Eigentum eine geringere Bedeutung zu.88 Im Übrigen kann die Informationsfreiheit der Verbraucher auch im Zusammenhang mit Werbeverboten – etwa im Hinblick auf das „Plain Packaging“ von Tabakerzeugnissen – bedeutsam sein.89 b) Freiheit und Pluralität der Medien aa) Schutz in der Grundrechtecharta 15

Art 11 II GRCh enthält ein ausdrückliches Gebot zur Achtung der Freiheit und Pluralität der Medien und unterscheidet sich damit von Art 10 EMRK, der die Freiheit der Medien – wie erwähnt (Rn 7) – nur implizit als Ausdrucksform der Meinungsäußerungsfreiheit garantiert. Der Oberbegriff „Medien“ umfasst nicht nur Presse, Rundfunk und Film,90 sondern auch die neuen Medien der Massenkommunikation (Versand und Empfang elektronischer Nachrichten, Präsentation von Informationen und Meinungen auf Internetseiten, sog. Blogs, interaktive Diskussionsforen) und ist damit offen für mediale Weiterentwicklungen.91 In den Schutzbereich von Art 11 II GRCh fallen in Anlehnung an die

85 Schlussanträge GA van Gerven, EuGH, Slg 1991, I-4685, Rn 19 – Grogan. 86 EuGH, Slg 1991, I-4685, Rn 31 f – Grogan. Vgl dazu die Entscheidung des EGMR, EuGRZ 1992, 484 – Open Door and Dublin Well Woman. Aus der Lit etwa Kühling (Fn 2) S 124 ff. 87 EuGH, Slg 2006, I-8089, Rn 64 f – Laserdisken. 88 EuGH, EuZW 2012, 261, Rn 50 f – SABAM = JK 2012, GrCh Art 17 II/1. 89 Näher Schroeder ZLR 2012, 405 ff. 90 Vgl dazu etwa Dörr (Fn 39); dens FS Kiefer, 2005, S 90 ff; Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 24 Rn 18 ff. Zum Fernsehen als „psychologischer Sonderfall“ Hochhuth (Fn 29) S 302 f. 91 S nur Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 17. Für eine Abgrenzung z Telekommunikation, die sich auf die bloß technischen Aspekte der Kommunikationsübertragung beschränkt, Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 24 Rn 14 f.

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Rechtsprechung des EGMR alle Tätigkeiten, die mit der Medienarbeit in Zusammenhang stehen. Vor allem sind Journalisten nicht gehalten, Angaben zu ihren Quellen zu machen.92 Selbstverständlich schützt die Medienfreiheit nicht nur die reine Informationsvermittlung, sondern auch wertende Stellungnahmen.93 Andernfalls könnten die Medien ihre Rolle als „public watchdog“ nicht erfüllen.94 In den Schutzbereich fallen auch unterhaltende Beiträge. Die Medienfreiheit hat – entgegen der Rechtsprechung des BVerfG95 – nicht nur eine „dienende“ Funktion für die Meinungsbildung. Wie bei der Meinungsfreiheit (Rn 4 ff ) und bei der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Rn 33 ff) kommt es für die Schutzbereichseröffnung auf den Zweck der Medientätigkeit nicht an. Zu Recht hat das BVerfG im Hinblick auf die Berichterstattung über Caroline von Monaco aber erkannt, dass es auf der Rechtfertigungsebene im Rahmen der Abwägung mit kollidierenden Persönlichkeitsrechten von Bedeutung ist, „ob Fragen, die die Öffentlichkeit wesentlich angehen, ernsthaft und sachbezogen erörtert oder lediglich private Angelegenheiten, die nur die Neugier befriedigen, ausgebreitet werden.“96 Art 11 II GRCh verlangt, dass die „Pluralität“ der Medien „geachtet“ wird, und macht damit den – auch schon vom EuGH anerkannten (Rn 18) – objektiv-rechtlichen Gehalt des Unionsgrundrechts als Instrument zur Sicherung der Meinungsvielfalt deutlich. Der Pluralismus ist ein „medienrechtliches Leitmotiv“ in Europa.97 Ohne Medienvielfalt ist eine freiheitliche Demokratie nicht denkbar. Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität sind nach dem Wortlaut von Art 11 II GRCh bloß zu „achten“ („shall be respected“, „sont respectés“). Ursprünglich war von „Gewährleistung“ die Rede. Die Änderung, die vor allem auf den Druck der deutschen Bundesländer zurückzuführen ist,98 darf nicht als Minderung des Schutzes der Medienfreiheit interpretiert werden.99 Vor allem ändert die Formulierung nichts an der subjektiv-rechtlichen Qualität der Medienfreiheit. Es sollte nur dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Schutz der Medienpluralität vor

92 EGMR, NJW-RR 2011, 1266, Rn 59 ff mwN – Sanoma Uitgevers B.V.; Nr 16/1994/463/544, Rep 1996-II, Rn 39 – Goodwin. Aus dt Sicht etwa BVerfGE 20, 162, 176, 187 – Spiegel; 66, 116, 134 – Wallraff = JK 84, GG Art 5 I 2/3. 93 S etwa Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 22. 94 Vgl EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 23, 50 – Sunday Times; HRLJ 1992, 440, Rn 63 – Thorgeirson; EuGRZ 1995, 16, Rn 59 – Observer u Guardian; NJW 2004, 2647, 2650 – v Hannover Nr 1 = JK 2005, EMRK Art 8/4; NJOZ 2012, 335 Rn 141 – Campbell. Zur Bedeutung der Presse in historischer Perspektive Wegener (Fn 4) S 258 ff. 95 Vgl z Rundfunkfreiheit BVerfGE 83, 238, 295 f – 6. Rundfunkurteil. 96 BVerfGE 101, 361, 389 ff – Caroline v Monaco II. Vgl a EGMR, NJW 2004, 2647 ff – v Hannover Nr 1= JK 2005, EMRK Art 8/4; EuGRZ 2012, 278 – v Hannover Nr 2; sowie NJOZ 2012, 335 Rn 142 ff – Campbell; EuGRZ 2012, 294, Rn 91 ff – Axel Springer AG. Krit etwa Haug Bildberichterstattung über Prominente, 2011. 97 Dörr (Fn 39) S 38 ff. Ebenso Rengeling/Szczekalla GR Rn 731. Vgl a Kühling in: Heselhaus/ Nowak, GR, § 24 Rn 37 ff; dens (Fn 2) S 363 ff; Schellenberg Rundfunk-Konzentrationsbekämpfung zur Sicherung des Pluralismus im Rechtsvergleich, 1997. Aus dt Sicht zur „institutionellen Garantie“ der Pressefreiheit bereits BVerfGE 20, 162, 176 – Spiegel. 98 S Stock EuR 2002, 566, 575 f. 99 AA Schmittmann/Luedtke, AfP 2000, 533, 534. Vgl zu solchen Befürchtungen a Hoffmann-Riem EuGRZ 2002, 473, 481; Selmer, EUR 2002 (Beiheft 3), S 36 ff; Stock EuR 2002, 566, 577. Wie hier etwa Feise (Fn 11) S 120 ff; Schwarze AfP 2003, 209, 210 f; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 17.

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Verflechtungs- und Konzentrationsprozessen eine Aufgabe der Mitgliedstaaten bleibt.100 Die geänderte Begrifflichkeit hat nur eine klarstellende Funktion, da schon Art 51 II GRCh betont, dass die Charta weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union begründet und die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben nicht ändert.101 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 17

Der EuGH orientiert sich bei der Bestimmung des Schutzbereichs der Medienfreiheit an den wirtschaftlichen Grundfreiheiten.102 Daraus den Schluss zu ziehen, dass es nur um den Schutz kommerzieller Interessen geht, ist verfehlt. Die Medienfreiheit ist keine reine Unternehmerfreiheit, sondern ein umfassendes Kommunikationsgrundrecht.103 Um die vom EuGH sog Veröffentlichungsfreiheit ging es in der Rs Flämische Bücher. Verleger- und Buchhändlervereinigungen hatten eine vertikale Preisbindung und Alleinvertriebsrechte vereinbart. Dies wurde von der Kommission für mit dem Kartellverbot unvereinbar erklärt.104 Die Klägerinnen machten geltend, dass ihre Vereinbarung die Vielfalt der veröffentlichten Titel fördere, indem sie die Veröffentlichung schwer verkäuflicher Titel sicherstelle. Der EuGH wies diese Argumentation zwar zurück, machte aber deutlich, dass die Veröffentlichungsfreiheit grundsätzlich sowohl Verleger als auch Vertriebsunternehmen schützt.105 In der Rs Elliniki Radiophonia Tileorassi (ERT) stritt man um die Frage, inwiefern das Fernsehmonopol in Griechenland mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Der Gerichtshof entschied, dass die Rechtfertigungstatbestände zur Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit im Lichte der in Art 10 EMRK verbürgten Meinungsfreiheit auszulegen seien.106 Um die in der Fernsehrichtlinie vorgesehenen Maßnahmen gegen übermäßige Werbung ging es in der Rs RTL Television. Der EuGH erkannte an, dass die Ausstrahlung von Fernsehfilmen von der Meinungsfreiheit geschützt ist. Die Begrenzung der Werbeblöcke wurde allerdings als verhältnismäßig erachtet (Rn 28).107 Schon vorher hatte der Gerichtshof in den Rs Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda108 und ARD109 ent100 Nach Art 167 II AEUV darf nur die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in diesem Sektor gefördert werden. Vgl im Zusammenhang mit Art 11 II GRCh etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 19. 101 Insofern krit gegenüber der Änderung des Wortlauts Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 26. 102 Vgl EuGH, Slg 1991, I-4007, Rn 23 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ua; Slg 1993, I-487, Rn 9 ff – Veronica Omroep Organisatie; Slg 1997, I-3689, Rn 18, 26 f – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. 103 S etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 16; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 16; sowie Stock Medienfreiheit in der EU-Grundrechtscharta: Art 10 EMRK ergänzen und modernisieren!, 2000, 21 ff. 104 Die Kommission entschied auf Grundlage der alten KartellVO 17. Die Regelung des Art 81 I EGV galt damals noch als Art 85 EGV. 105 EuGH, Slg 1984, 19, Rn 34 – VBVB u VBB („flämische Bücher“). Dazu etwa Hochhuth (Fn 29) S 238. 106 EuGH, Slg 1991, I-2925, Rn 42 ff – Elliniki Radiophonia Tileorassi (ERT). 107 EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 70 ff – RTL Television. 108 EuGH, Slg 1991, I-4007, Rn 27 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ua. Ein Verweis auf die Entscheidung ist a in den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7.2003 (Nr 2) enthalten. 109 EuGH, Slg 1999, I-7599, Rn 50 – ARD. Dazu etwa Hochhuth (Fn 29) S 233 ff.

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schieden, dass der Schutz der Verbraucher vor einem Übermaß an kommerzieller Werbung und die Erhaltung einer bestimmten Programmqualität im Rahmen der Kulturpolitik Ziele seien, die Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen können. Um Werbung ging es schließlich auch in der Rs Deutschland/Parlament und Rat, in der das Verbot zur Werbung für Tabakwaren in Rundfunk und Presse in Frage stand (Rn 5, Fall 2). Indem der Gerichtshof die „Freiheit zur journalistischen Meinungsäußerung“ prüfte, erkannte er indirekt an, dass die Medienfreiheit zugleich auch die Finanzierung der Presse- und Rundfunkerzeugnisse schützt.110 Dass in der Union nicht nur die individuellen Rechte geschützt sind, sondern auch ein pluralistisches Mediensystem, in dem sich die verschiedenen gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und geistigen Strömungen entfalten, zeigen Gerichtsentscheidungen, in denen es um Anforderungen an Rundfunkbetreiber in den Niederlanden ging (Rs Stichting Collectieve, Kommission/Niederlande und Veronica Omroep).111 Der EuGH betonte, dass die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch eine auf ein pluralistisches Rundfunksystem ausgerichtete Kulturpolitik gerechtfertigt werden könne, weil das System „in einem Zusammenhang mit der durch Art 10 (EMRK) garantierten Meinungsfreiheit“ stehe. Die Pluralität der Presse rückte in der Rs Familiapress in den Vordergrund. Der Gerichtshof erklärte, dass das Verbot von Preisausschreiben in Presseerzeugnissen einen Verdrängungswettbewerb unter den Verlagen verhindern und damit die Medienvielfalt garantieren sowie die Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs unter Umständen rechtfertigen könne.112

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3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs Beim Grundrechtseingriff gelten keine Besonderheiten. Die Kommunikationsgrundrechte schützen – wie es in Art 51 I GRCh heißt – vor Beeinträchtigungen durch die Organe und Einrichtungen der Union und vor mitgliedstaatlichen Maßnahmen, wenn es um die „Durchführung von Unionsrecht“ (Rn 2) geht. Vor allem können die Grundfreiheiten nur im Einklang mit der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit beschränkt werden. Während der EuGH unter bestimmten Voraussetzungen eine Bindung von Privatpersonen an die Grundfreiheiten angenommen hat (→ § 7 Rn 52 f), kann dies für die Kommunikationsgrundrechte nicht gelten. In Art 51 I GRCh wird der Kreis der Grundrechtsverpflichteten abschließend bestimmt. Eine unmittelbare Drittwirkung gibt es grundsätzlich nicht (→ § 14 Rn 54).113 Ist ein Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater in die Kommunikationsgrundrechte geboten, muss dem durch Schutzpflichten Rechnung getragen werden (→ § 14 Rn 35), was allerdings eine anderweitig begründete Kompetenz der Normadressaten voraussetzt (Rn 3).

110 EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 153, 156 – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2007, EGV Art 95 I/4. 111 EuGH, Slg 1991, I-4007, Rn 22, 23 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ua; Slg 1991, I-4069, Rn 29 ff – Kommission/Niederlande; Slg 1993, I-487, Rn 9 f – Omroep. 112 EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 27 f – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. Ausf dazu Kühling EuGRZ 1997, 296 ff. 113 Anderes gilt, wenn Private wie etwa Berufsverbände eine staatsähnliche (etwa monopolartige) Stellung haben u die Verpflichtung staatlicher Instanzen keine angemessene Abhilfe schaffen kann. S EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman. Vgl Feise (Fn 11) S 114 ff; Kühling (Fn 2) S 377 ff.

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Als rechtfertigungsbedürftige Eingriffe sind nicht nur präventiv wirkende Verbote und nachträgliche Sanktionen zu werten, sondern jegliche Behinderungen der Kommunikation.114 Nur so kann sichergestellt werden, dass die Anforderungen an den Schutz der in Art 11 GRCh garantierten Kommunikationsgrundrechte nicht umgangen werden. Allgemein formulierte der EuGH unter Rückgriff auf Art 10 II EMRK in der Rs Connolly (Rn 4, Fall 1), dass die Freiheit zur Meinungsäußerung „mit Pflichten und Verantwortung“ verbunden ist und daher „Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen“ unterworfen werden kann.115 Dass der Beschränkungsbegriff weit zu fassen ist, verdeutlicht die Entscheidung in der Rs Ter Voort, in der es um eine Richtlinie ging, die die Zulassungsanforderungen für Arzneimittel regelt. Da die Bezeichnung des Produkts als Arznei zur Folge hat, dass die Ware nur unter erschwerten Bedingungen auf den Markt gebracht werden kann, prüfte der Gerichtshof das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Rn 13) und machte damit deutlich, dass die Gewährleistung grundsätzlich auch vor mittelbaren Beeinträchtigungen (→ § 14 Rn 64) schützt.116 Ansonsten lassen sich der Rechtsprechung nur wenige Aussagen über das eine Grundrechtsprüfung auslösende Ausmaß der Beeinträchtigung entnehmen. Häufig wird das Vorliegen einer Beschränkung unterstellt oder nur kurz angeprüft.117 Der Schwerpunkt der Untersuchung verlagert sich damit auf die Abwägung der widerstreitenden Interessen auf der Rechtfertigungsebene. Dass es bei Rechtsakten, die selbst Mechanismen zur Abwägung der widerstreitenden Interessen und Rechte vorsehen, von vornherein an einer Beeinträchtigung fehlt, macht die Entscheidung in der Rs Lindqvist deutlich, in der es um den Schutz vor der Verarbeitung und Verbreitung personenbezogener Daten ging. Der Gerichtshof hob hervor, dass die einschlägige Richtlinie viele Ausnahmen zulässt und zudem die Mitgliedstaaten zu Ausnahmeregelungen ermächtigt. Die Mitgliedstaaten müssten bei der Umsetzung der Richtlinie zwar darauf achten, dass die Grundrechte im konkreten Fall gewahrt werden, „die Bestimmungen der Richtlinie als solche“ würden jedoch „keine Beschränkung“ enthalten.118

4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen a) Rechtfertigung auf Grundlage der Grundrechtecharta 21

Art 11 GRCh enthält – anders als Art 10 II EMRK – keine ausdrückliche Normierung von Schranken. Daher ist Art 52 GRCh heranzuziehen. Allerdings ist für Beeinträchtigungen der in Art 11 I GRCh geschützten Meinungs- und Informationsfreiheit nicht die allgemeine Schrankenregelung des Art 52 I GRCH einschlägig, sondern als lex specialis Art 52 III GRCh.119 Da Art 11 I GRCh – wie erwähnt (Rn 6) – Rechte gewährleistet, die Art 10 I

114 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 27; Engel, 975, 992; Feise (Fn 11) S 144 ff; Kühling (Fn 2) S 162 f, 392 f. 115 EuGH, Slg 2001, I-1611, Rn 40 – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1. 116 EuGH, Slg 1992, I-5485, Rn 36 ff – Ter Voort. 117 Vgl nur EuGH, Slg 2006, I-8089, Rn 64 – Laserdisken; Slg 2003, I-12489, Rn 68 – RTL Television. 118 EuGH, Slg 2003, I-12971, Rn 84 f, 87, 90 – Lindqvist. 119 Das Verhältnis zwischen Art 52 I und III GRCh ist allerdings umstritten. Wie hier Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 14; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 28; Selmer EUR 2002 (Beiheft 3), S 38; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 13; Ziegenhorn Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta – Genuin chartarechtlicher

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EMRK entsprechen und damit „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben, finden die speziell auf das Sachgebiet abgestimmten Rechtfertigungsanforderungen des Art 10 II EMRK Anwendung.120 In den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents wird ausdrücklich betont, dass die Einschränkungen der Unionsgrundrechte nicht über die in Art 10 II EMRK vorgesehenen Einschränkungen hinausgehen dürfen.121 Dem entspricht Art 53 GRCh. Allerdings stellt Art 52 III 2 GRCh klar, dass ein weitergehender Schutz prinzipiell möglich ist. Nach Art 10 II EMRK ist „die Ausübung dieser Freiheiten mit Pflichten und Verantwortung verbunden“ und „kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafandrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind.“ Daraus ergibt sich ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt.122 Als legitime Eingriffszwecke werden die „nationale Sicherheit“, „territoriale Unversehrtheit“ und „öffentliche Sicherheit“, die „Aufrechterhaltung der Ordnung“, die „Verhütung von Straftaten“, der „Schutz der Gesundheit oder der Moral“, der „Schutz des guten Rufs“ (was für Schutzeingriffe durch Gegendarstellungsrechte von Bedeutung ist123) und der „Schutz der Rechte anderer“ (was sich in der Straßburger Spruchpraxis zunehmend als eine Art Generalklausel darstellt, → § 4 Rn 34 f)124 sowie die „Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen“ und die „Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung“ genannt.125 Allerdings ist die EMRK auf nationale Maßnahmen gerichtet. Bei Eingriffsmaßnahmen der Union muss der Eingriffszweck unionsrechtlich legitim sein, dh im Unionsrecht wurzeln oder zumindest angelegt sein.126 Geht es um Einschränkungsziele, die von Art 10 II EMRK nicht vorgesehen sind, ist ein erhöhter Argumentationsaufwand zu fordern.127 Zudem muss die Maßnahme verhältnismäßig – dh in den Worten von Art 10 II EMRK „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ – sein.128 Zu prüfen sind die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit des Grundrechtseingriffs (→ § 14 Rn 71). Insofern sind die Güter der Meinungsfreiheit und des verfolgten legitimen Zwecks gegenein-

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Grundrechtsschutz gemäß Art 52 Abs 3, 2009, 149 f. Für eine kumulative Anwendung Hilf in: Merten/Papier (Hrsg), Handbuch der Grundrechte, Band VI/1, § 164 Rn 47; Jarass GRCh, Art 11 Rn 17; Schneiders Die Grundrechte der EU und der EMRK, 2010, 22. Vgl für eine rechtspolitische Perspektive Engel, 975, 993 ff. Nr 1 d Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7.2003. Der EGMR versteht allerdings den Gesetzesbegriff weit; es sollen a untergesetzliche Normen und Richterrecht umfasst sein, sofern die Vorgaben zugänglich, vorhersehbar und bestimmt sind sowie ggf verfahrensrechtliche Absicherungen vorsehen. Siehe EGMR, NJW-RR 2011, 1266 Rn 81 ff – Sanoma Uitgevers B.V.; zum Richterrecht EGMR, EuGRZ 2011, 555 Rn 47 – Heinisch = JK 2012, EMRK Art 10/3. Vgl zur negativen Meinungsfreiheit bereits oben Rn 13; zum Gegendarstellungsrecht als „Schutzeingriff im Online-Zeitalter“ und zu den internationalprivatrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse („Rom II“) Rengeling/Szczekalla GR, Rn 728 ff. Zu Konflikten zwischen der Meinungsfreiheit und dem Ehrschutz aus dt Sicht etwa BVerfGE 90, 241, 248 – Auschwitzlüge = JK 94, GG Art 5 I 1/22. Vgl z den Konflikten der Pressefreiheit mit anderen Grundrechten Engel, 975, 1000 ff. Vgl im Zusammenhang mit dem Unionsgrundrecht Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 59 ff. S etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 14; Kühling (Fn 2) S 399 ff. Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 46. Ausf Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 47 ff; ders (Fn 2) S 400 ff.

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ander abzuwägen, wobei eine Vermutung für die Zulässigkeit einer Meinungsäußerung spricht (→ § 4 Rn 41). Dabei mag anonymen Stellungnahmen im Verhältnis zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein geringeres Gewicht zukommen als offenen Meinungsäußerungen.129 Der Verweis auf das in einer demokratischen Gesellschaft Notwendige hebt die politische Bedeutung der Meinungsfreiheit hervor. Politische Kommunikation wird privilegiert.130 Kommerzielle Äußerungen können – der Straßburger Spruchpraxis folgend (→ § 4 Rn 46 f ) – weitergehenden Beschränkungen unterworfen werden. Dass – wie es in Art 20 IPbürgR heißt – das „Eintreten für nationalen, rassistischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt angestachelt wird“, zum Ausgangspunkt der Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen genommen werden darf, ist selbstverständlich und wird durch den Verweis auf die „gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten“ in der Präambel der GRCh bestärkt.131 Sicherzustellen ist auch, dass die nach Art 1 GRCh „unantastbare Menschenwürde“ nicht durch Meinungsäußerungen verletzt wird.132 Die Schutzpflicht der Grundrechtsadressaten lässt sich – soweit eine Kompetenznorm gegeben ist (Rn 19) – auf Art 1 S 2 GRCh stützen, wonach die Menschenwürde „zu achten und zu schützen“ ist. Dass unwahre Äußerungen weniger Schutz verdienen, wurde bereits gezeigt (Rn 11). Was die in Art 11 II GRCh verankerte „Achtung der Freiheit der Medien und ihrer Pluralität“ angeht, fehlt es – wie erwähnt (Rn 15) – an einer wörtlichen Entsprechung in Art 10 EMRK. Die für Art 11 I GRCh einschlägige Schrankenregelung des Art 10 II EMRK könnte als spezielle Grundrechtsschranke iSv Art 52 III 1 GRCh nur zur Anwendung kommen, wenn man die Medienfreiheit als Teil der Meinungsäußerungsfreiheit ansieht.133 Dies würde freilich der Intention des Konvents, die Medienfreiheit gerade in Abgrenzung zu Art 10 EMRK als eigenständiges Grundrecht zu garantieren (Rn 6), nicht gerecht. Art 10 II EMRK, der ohnehin mit Blick auf die neuen Medien als „rückständig“ angesehen wird,134 ist damit nicht der richtige Maßstab für die Rechtfertigung von Beschränkungen der Medien. Vielmehr bestimmen sich die Voraussetzungen und Grenzen eines Grundrechtseingriffs nach den allgemeinen Schrankenregelungen des Art 52 I GRCh.135 Dies bedeutet, dass die zulässigen Eingriffszwecke nicht iSd Art 10 II EMRK beschränkt sind. Die Gründe müssen nur „den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer entsprechen“ (→ § 14 Rn 68).136 Bei der Prüfung des Verhältnismäßigkeits129 S Bernreuther, AfP 2011, 218 ff. 130 EGMR, NJW-RR 2011, 984 – Le Pen; vgl EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 42 – Lingens; Nr 2/1991/254/325, Series A/236, Rn 42 – Castells, sowie Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 51 ff. 131 Hinsichtlich rassistischer Meinungsäußerungen ist der EGMR insoweit deutlich restriktiver als das BVerfG, s dazu Hong ZaöRV 2010, 73, 125. 132 Vgl zur Abwehr rassistischer und neonazistischer Aussagen und zum Schutz der Menschenwürde Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 69 ff. 133 Für die Anwendung v Art 52 III S 1 GRCh Feise (Fn 11) S 156 ff; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 702. 134 Vgl Stock ZUM 2000, 533, 534; dens (Fn 86) S 77 ff. Dem folgend Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 31. 135 So a etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 20; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 31. 136 Vgl zu den verschiedenen legitimen Zielen im Überbl Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 24 Rn 68 ff.

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grundsatzes als „Schranken-Schranke“ sind ggf die Wertungen des Protokolls über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten und der Fernsehrichtlinie einzubeziehen (Rn 17). Zudem ist zu berücksichtigen, dass die freie politische Medientätigkeit – wie das BVerfG zur Presse erklärt hat137 – „für die moderne Demokratie unentbehrlich ist“. In der oft nur schwierig durchschaubaren europäischen Politik haben die Medien „als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern“ eine sogar noch größere Bedeutung als auf nationaler Ebene. Ohne Medien ist die europäische Integration nicht zu haben. Bei der Herleitung von Schutzpflichten zur Pluralismus-Sicherung ist freilich Vorsicht geboten. Die Gewährleistung in Art 11 II GRCh kann die politischen Ermessensspielräume der Gesetzgeber in der Union und in den Mitgliedstaaten nicht aushebeln.138 b) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Der Europäische Gerichtshof betont, dass die Kommunikationsgrundrechte „bestimmten durch Ziele des Allgemeininteresses gerechtfertigten Beschränkungen unterworfen werden (können), sofern diese gesetzlich vorgesehen sind, einem oder mehreren der nach Art 10 (EMRK) legitimen Zielen entsprechen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind, dh durch ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis gerechtfertigt sind und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen.“139

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aa) Gesetzliche Grundlage zur Verfolgung eines legitimen Ziels Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage wurde in der Rechtsprechung bisher kaum problematisiert. Lediglich in der Rs Connolly, in der es – wie erwähnt (Rn 4) – um dienstrechtliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit von EG-Bediensteten ging, mahnte der EuGH die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots an und betonte, dass nur solche Einschränkungen rechtmäßig seien, „die so genau formuliert sind, dass die Betroffenen ihr Verhalten, gegebenenfalls nach Einholung sachkundigen Rates, einrichten können“.140 Dass nur ansonsten rechtmäßige Rechtsakte der Union und der Mitgliedstaaten die Grundrechte beschränken können, verdeutlicht die erste Entscheidung zum Verbot der Werbung mit Tabakerzeugnissen (Rs Deutschland/Rat und Parlament). Die Prüfung einer Verletzung der Meinungsfreiheit hielt der EuGH für überflüssig, nachdem er festgestellt hatte, dass der EG in diesem Fall die Kompetenz für den Erlass des Verbots fehlt.141 Als legitime Eingriffsziele erkannte der Gerichtshof den Verbraucherschutz (Rs RTL142, Karner143 und Stichting Collective144), das Interesse der Zuschauer an Zugang zu Program-

137 BVerfGE 20, 162, 174 f – Spiegel. 138 Näher etwa Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 24 Rn 50 ff. 139 EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 50 – Karner; ebenso Slg 2003, I-5659, Rn 79 – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3; Slg 2006, I-8089, Rn 64 – Laserdisken; Slg 2006, I-11573, Rn 154 – Deutschland/Parlament u Rat. 140 EuGH, Slg 2001, I-1611, Rn 42 – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1. Allgem zu den formellen Anforderungen Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 24 S 398 ff. 141 EuGH, Slg 2000, I-8498, Rn 118 – Deutschland/Rat u Parlament. 142 EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 70 – RTL Television. 143 EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 52 – Karner. 144 EuGH, Slg 1991, I-4007, Rn 27 – Stichting Collective Antennevoorziening Gouda ua.

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men guter Qualität (RTL145) und die Lauterkeit des Handels (Karner146) an. Zudem können andere Unionsgrundrechte eine Einschränkung der Meinungs- und Informationsfreiheit rechtfertigen. Hier sind aus der Rechtsprechung insbesondere das Recht am geistigen Eigentum (Laserdisken147), Persönlichkeitsrechte (Lindqvist148) und der Gesundheitsschutz (Tabakurt in der Rs Deutschland/Rat und Parlament149) zu nennen. Schließlich wurden als unionsrechtlich legitime Eingriffszwecke die Durchsetzung der Grundfreiheiten (Schmidberger150), beamtenrechtlicher Treuepflichten (Oyowe und Traore151 [Rn 12], Connolly152 [Rn 4], Cwik153 [Rn 12], Wirtschafts- und Sozialausschuss 154 [Rn 12]) und vor allem die Aufrechterhaltung der Meinungsvielfalt (Familiapress 155) angesehen. bb) Abwägung 28

Nach der Rechtsprechung muss die getroffene Regelung „in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel stehen.“156 Betont wird, dass die Meinungsfreiheit in ihrem „Wesensgehalt“ nicht „angetastet“ werden darf (→ vgl dazu § 14 Rn 70).157 Hier wird eine „Schranken-Schranke“ deutlich, die in der Rechtsprechung bisher allerdings noch nicht zur Anwendung gekommen ist. Eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung, wie sie das deutsche Recht kennt, führt der Gerichtshof leider nicht durch.158 Es sind bloß Ansätze erkennbar.159 Meistens begnügt sich der EuGH damit, „die bestehenden Interessen abzuwägen“ und „anhand sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls“ festzustellen, ob das „rechte Gleichgewicht“ zwischen den widerstreitenden Interessen gewahrt worden ist.160 Maßgeblich ist für den EuGH die Intensität der Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit. So wurde in der Rs RTL die Begrenzung der Werbepausen als geringfügig angesehen, weil die Anforderungen nicht den Inhalt der Werbung beträfen und der Sender 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156

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EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 71 – RTL Television. EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 52 – Karner. EuGH, Slg 2006, I-8089, Rn 65 – Laserdisken. EuGH, Slg 2003, I-12971, Rn 79 ff – Lindqvist. EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 155 f – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2007, EGV Art 95 I/4. EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 78 – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3. EuGH, Slg 1989, 4285 – Oyowe u Traore. EuGH, Slg 2001, I-1611 – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1. EuGH, Slg 2001, I-10269 – Cwik. EuGH, Slg 1999, I-8877, Rn 15 – Wirtschafts- u Sozialausschuss. EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 24 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 50 – Karner; ebenso Slg 2003, I-5659, Rn 79 – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3; Slg 2006, I-8089, Rn 64 – Laserdisken; Slg 2006, I-11573, Rn 156 – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2007, EGV Art 95 I/4; ähnlich Slg 2001, I-1611, Rn 49 – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1; EuZW 2012, 261, Rn 43, 51 – SABAM = JK 12, GrCh Art 17 II/1. EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 80 – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3. Im Zusammenhang mit den Kommunikationsgrundrechten Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 84 ff. Krit zu dieser Vorgehensweise etwa Classen EuR 2008, 627 ff; Nettesheim EuZW 1995, 106 ff; Schulenberg (Fn 17) S 290 ff. Relativierend Kischel EuR 2000, 380 ff. Vgl EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 72 – RTL Television (hier spricht der EuGH v „Verhältnismäßigkeit“); Slg 1997, I-3689, Rn 27 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1 (Erforderlichkeitserwägungen). EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 81 – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3; ähnlich EuG, Slg 2004, II-1477, Rn 157 ff – Meister; EuGH, Slg 2001, I-1611, Rn 48 – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1.

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den Zeitpunkt der Werbung selbst bestimmen könne.161 Ähnlich argumentierte das Gericht in der Rs Deutschland/Rat und Parlament (Rn 5, Fall 2). Das Werbeverbot für Tabakprodukte wurde als ein geringer Eingriff in die Meinungsfreiheit angesehen, weil der Inhalt der journalistischen Beiträge nicht berührt sei.162 Grundsätzlich erkennt der EuGH einen Entscheidungsspielraum der zuständigen Stellen bei der Abwägung an.163 In der Rechtsprechung endet die Rechtfertigungsprüfung häufig mit der Bestimmung des den Eingriff legitimierenden Ziels und der Feststellung, dass die dazu ergriffenen Maßnahmen nicht offensichtlich ungeeignet waren. Diese bloße Evidenzkontrolle, die auf eine sorgfältige Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung verzichtet, wird zu Recht kritisiert. Allerdings hängt die Intensität der Gerichtskontrolle für den EuGH von den Umständen ab, in denen die Meinungsfreiheit ausgeübt wird. Der Gerichtshof betont, dass der Entscheidungsspielraum „je nach dem Ziel, das eine Beschränkung dieses Rechts rechtfertigt, und je nach der Art der Tätigkeit, um die es geht“, unterschiedlich sei. Wenn die Ausübung der Meinungsfreiheit nichts zu einer „Debatte von allgemeinem Interesse“ beitrage, beschränke sich die Kontrolle auf die Prüfung, ob der Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten Zielen steht.164 Vor allem wenn es um die „Meinungsfreiheit im Geschäftsverkehr“ geht, widmet der Gerichtshof der Abwägung mit den widerstreitenden Interessen des Verbraucher- und Gesundheitsschutzes unter Hinweis auf den Entscheidungsspielraum der zuständigen Stellen nur wenige Worte. Dies zeigen die Entscheidungen in den Rs RTL (Werbebeschränkung),165 Karner (Verbot missverständlicher Werbung),166 Deutschland/Rat (Verbot von Tabakwerbung, Rn 12, Fall 2)167 und Damgaard168, in denen eine Verletzung der Meinungsfreiheit jeweils verneint wurde. Im Fall Laserdisken wurde eine Verletzung der Informationsfreiheit mit der knappen Begründung abgelehnt, dass die Beschränkung der Informationsfreiheit „durch die Notwendigkeit gerechtfertigt (ist), die Rechte des geistigen Eigentums wie das Urheberrecht zu schützen“.169 In der Rs Ter Voort sah sich der EuGH nicht einmal mehr genötigt, die widerstreitenden Interessen gegeneinander abzuwägen. Er beließ es dabei, die Schranke des Art 10 II EMRK zu nennen und dabei als legitimes Ziel den Schutz der Gesundheit hervorzuheben.170 Zu einer umfassenden Abwägung unter dezidierter Betrachtung der Umstände des Einzelfalls kam es demgegenüber in Entscheidungen zur Meinungsfreiheit der EG-Beamten. In der Rs Connolly (Rn 4, Fall 1) betonte der Gerichtshof, dass die beamtenrechtliche Ermächtigung der Organe, die Zustimmung für Veröffentlichungen zu versagen, die Rechtsgrundlage für einen schwerwiegenden Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung

161 EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 72 – RTL Television. 162 EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 156 – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2007, EGV Art 95 I/4. 163 EuGH, Slg 2001, I-1611, Rn 49 – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1; Slg 2001, I-10269, Rn 19 – Cwik; ebenso der EGMR: NJW 2012, 745 Rn 20 – Karttunen; NJOZ 2012, 335, Rn 130, 150 – Campbell. 164 EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 51 – Karner; vgl a Slg 2003, I-12489, Rn 71 – RTL Television; Slg 2006, I-11573, Rn 155 – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2007, EGV Art 95 I/4. 165 EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 72 – RTL Television. 166 EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 52 – Karner. 167 EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 156 – Deutschland/Parlament u Rat = JK 2007, EGV Art 95 I/4. 168 EuGH, Slg 2009, I-2629 – Damgaard. 169 EuGH, Slg 2006, I-8089, Rn 65 – Laserdisken. 170 EuGH, Slg 1992, I-5485, Rn 38 – Ter Voort.

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schaffe. Da die Meinungsäußerungsfreiheit „eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft“ darstelle, dürfe die Zustimmung nur versagt werden, wenn die Veröffentlichung geeignet sei, „den Interessen der Gemeinschaften einen schweren Schaden zuzufügen“.171 Dass dieses Kriterium eng ausgelegt und den Unionsorganen nur ein sehr eingeschränkter Beurteilungsspielraum zugestanden wird, zeigt die Entscheidung in der Rs Cwik. Klargestellt wurde, dass der Schutz der Gemeinschaftseinrichtungen nur dann die Verweigerung der Zustimmung zur Veröffentlichung des Beamten rechtfertigen kann, wenn eine „konkrete anhand objektiver Umstände dargelegte tatsächliche Gefahr einer schweren Beeinträchtigung der Interessen der Gemeinschaft“ vorliegt. Der Gerichtshof verneinte dies im Fall, weil der Kläger keine Leitungsverantwortung getragen, sich mit seinem Manuskript an ein Fachpublikum gerichtet und sich die Kommission zu dem in Rede stehenden Zeitpunkt bereits öffentlich auf einen Standpunkt festgelegt habe.172 In der Rs Wirtschafts- und Sozialausschuss/E entschied das Gericht, dass die Meinungsfreiheit die Pflicht des Beamten zur Zurückhaltung nur dann nicht überwiege, wenn bei den Anmerkungen zu der Beurteilung des Vorgesetzten „grob beleidigende oder solche Ausdrücke verwendet werden, die den dem Beurteilenden geschuldeten Respekt in erheblichem Maße vermissen lassen.“173 Einer Abwägung der Informationsfreiheit und der Medienvielfalt mit dem Schutz der unternehmerischen Freiheit gem Art 16 GRCh (→ § 18) und dem Eigentumsrecht nach Art 17 GRCh (→ § 19) bedurfte es in der Rs Sky/Österreichischer Rundfunk. GA Bot räumte in seinem Schlussantrag dabei der Informationsfreiheit und Medienvielfalt Vorrang ein.174 Eine umfassende Interessenabwägung nimmt der Gerichtshof schließlich auch vor, wenn sich Grundfreiheiten und Grundrechte gegenüberstehen. Dies zeigt etwa – worauf später unter dem Gesichtspunkt der Versammlungsfreiheit näher einzugehen ist (Rn 37 f) – die Entscheidung in der Rs Schmidberger.

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Lösung Fall 1: Die Disziplinarmaßnahme der Kommission greift in den Schutzbereich des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung ein. Zu Recht stellte der Gerichtshof in der dem Fall zugrunde liegenden Rs Conolly fest, dass die Beamten und Bediensteten der Union diese Freiheit „auch auf den Gebieten (genießen), die von der Tätigkeit der Organe der Gemeinschaft erfasst werden“. Sie dürften daher „mündlich oder schriftlich Ansichten äußern, die sich von denjenigen unterscheiden, die das Gemeinschaftsorgan, bei dem sie beschäftigt sind, vertritt“. Allerdings kann die Meinungsäußerungsfreiheit iSd Art 10 II EMRK durch und aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, das einen zulässigen Zweck verfolgt und verhältnismäßig ist. Gesetzliche Grundlage für den Grundrechtseingriff ist Art 17 des als Verordnung (Art 249 II EG; jetzt: Art 288 II AEUV) erlassenen Beamtenstatuts. Danach ist für die Veröffentlichung von Texten, die sich auf die Tätigkeit der Gemeinschaft beziehen, eine Zustimmung erforderlich, die nur versagt werden darf, wenn die geplante Veröffentlichung geeignet ist, die Interessen der Gemeinschaft zu beeinträchtigen. Die Regelung dient der Funktionsfähigkeit der Institutionen der Union und damit dem Schutz „der Rechte ande-

171 EuGH, Slg 2001, I-1611, Rn 53 – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1. 172 EuGH, Slg 2001, I-10269, Rn 23 – Cwik (vgl a schon EuG, Slg ÖD 2000, I-A-155 u II-713, Rn 66 ff – Cwik). Ähnlich EuGH, Slg 2001, I-1611, Rn 62 – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1. 173 EuGH, Slg 1999, I-8877, Rn 15 – Wirtschafts- u Sozialausschuss/E. 174 Schlussanträge GA Bot, EuGH, Rs C-283/11, BeckRS 2012, 81387 – Sky Österreich = JK 2014, AEUV Art 267/1.

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rer“ iSv Art 10 II EMRK. Der EuGH betonte, dass die Vorschrift eng auszulegen ist, weil sie „die Möglichkeit eines schwerwiegenden Eingriffs in die Freiheit der Meinungsäußerung schafft, die eines der wesentlichen Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt“. Die Zustimmung dürfe nur versagt werden, wenn die Veröffentlichung geeignet ist, den Interessen der Gemeinschaft einen „schweren Schaden“ zuzufügen. Zu untersuchen bleibt, ob die Kommission Art 17 des Beamtenstatuts im konkreten Fall grundrechtskonform angewendet hat. Der EuGH erklärte, dass die Kommission die Meinungsfreiheit und die widerstreitenden Interessen „gegeneinander abwägen und dabei insbesondere den Grad der Beeinträchtigung der Interessen der Gemeinschaften berücksichtigen muss“. Wegen der besonderen Bedeutung des Rechts auf freie Meinungsäußerung kann allein darin, dass C die vorherige Zustimmung zur Veröffentlichung nicht beantragt oder eine abweichende Auffassung zum Ausdruck gebracht hat, kein schwerer Schaden für die Interessen der Union gesehen werden. Der Gerichtshof stellte darauf ab, dass C Mitglieder der Kommission „heftig kritisiert oder sogar beleidigt“ und „die grundlegenden Leitlinien der Politik der Gemeinschaft, (…) zu deren Umsetzung loyal beizutragen er von der Kommission gerade beauftragt worden war, in Frage gestellt“ habe. C habe „in nicht wiedergutzumachender Weise das Vertrauen zerstört, das die Kommission in ihre Beamten setzen darf, und somit die Aufrechterhaltung jeder Arbeitsbeziehung zu dem Organ unmöglich gemacht“. Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof die Entfernung aus dem Dienst als verhältnismäßig angesehen. Folglich war der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit gerechtfertigt. Da die Nichtigkeitsklage unbegründet war, ist das Rechtsmittel abgewiesen worden.

Lösung Fall 2: Das Verbot der Tabakwerbung und des Sponsoring beeinträchtigt die Finanzierung der Unternehmen und greift damit in den Schutzbereich der Presse- und Rundfunkfreiheit ein. Nach st Rechtsprechung können diese Freiheiten aber unter den Voraussetzungen des Art 10 II EMRK aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, das einen legitimen Zweck verfolgt und verhältnismäßig ist. Das Werbeverbot für Tabak dient zum einen dem legitimen Ziel des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung der Europäischen Union, indem es den Anreiz zum übermäßigen Rauchen verhindert. Zum anderen soll das einheitliche Verbot der Werbung den grenzüberschreitenden Verkehr von Presse- und Rundfunkerzeugnissen sicherstellen. Indem die RL die unterschiedlichen nationalen Vorschriften über die Zulässigkeit von Tabakwerbung vereinheitlicht und dabei von einem hohen Schutzniveau hinsichtlich der Gesundheit ausgeht, ist sie geeignet, die legitimen Ziele zu verfolgen. Bei der Frage der Erforderlichkeit der Regelung und bei der Abwägung der legitimen Ziele mit dem Eingriff in die Presse- und Rundfunkfreiheit kommt dem Parlament und dem Rat ein Entscheidungsspielraum zu. In der dem Fall zugrundeliegenden Rs Deutschland/Parlament und Rat betonte der Gerichtshof, dass dieser „je nach dem Ziel“, das mit der Regelung verfolgt wird, und „je nach der Art der Tätigkeit, um die es geht“, unterschiedlich sei. Ein Ermessensspielraum bestehe gerade „für den Gebrauch der Freiheit der Meinungsäußerung im Geschäftsverkehr, in einem Bereich, der so komplex und wandelbar ist, wie die Werbung.“ Mit dem Schutz der Gesundheit verfolgen das Europäische Parlament und der Europäische Rat ein Ziel von hohem Rang. Der Gerichtshof erklärte, dass der Eingriff in die Presse- und Rundfunkfreiheit gering sei, da „die Freiheit der journalistischen Meinungsäußerung als solche unberührt“ bleibe und redaktionelle Beiträge der Journalisten nicht betroffen seien. Zudem werde nur eine bestimmte – wenn auch bedeutende – Art von Werbung verboten und nicht die Werbung an sich, so dass die Finanzierung der Unternehmen nicht gefährdet sei. Die RL verstößt damit nicht gegen die Presse- und Rundfunkfreiheit.

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III. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit Leitentscheidungen: EuGH, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3; Slg 1999, I-4539 ff – Montecatini; Slg 1995, I-4921 ff – Bosman; Slg 1990, I-95 ff – Maurissen u Gewerkschaftsbund; Slg 1974, 933 ff – Allgemeine Gewerkschaft; Slg 1974, 917 ff – Gewerkschaftsbund; EuG, Slg 2001, II-2823 ff – Martinez; EuGH, Slg 1997, I-6959 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2; Slg 2000, I-2549 ff – Deliège; Slg 2006, I-6991 ff – Meca-Medina; Slg 2002, I-1577 ff – Wouters; Slg 1999, I-5751 ff – Albany; Slg 2007, I-10779 ff – International Transport Worker’s Federation; Slg 2006, I-2397 ff – Werhof; Slg 2007, I-11767 ff – Laval; Slg 1990, I-599 ff – Hecq; Slg 2000, I-2681 ff – Lethonen; Slg 2010, I-7091 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2010, I-7591 ff – UGT-FSP. Schrifttum: Däubler Die Koalitionsfreiheit im EG-Recht, in: FS Hanau, 1999, 489 ff; Hatje Parteiverbote und Europarecht, DVBl 2005, 261 ff; Huber Die politischen Parteien als Partizipationsinstrument auf Unionsebene, EuR 1999, 579 ff; Kadelbach/Petersen Europäische Grundrechte als Schranken der Grundfreiheiten – Anmerkung zum EuGH-Urt in der Rs Schmidberger/Republik Österreich (Brennerblockade), EuGRZ 2003, 693 ff; Lange/Schütz Grundstrukturen des Rechts der europäischen politischen Parteien iSd Art 138a EGV, EuGRZ 1996, 299 ff; Mann Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27, § 28; ders/Ripke Überlegungen zur Existenz und Reichweite eines Gemeinschaftsgrundrechts der Versammlungsfreiheit, EuGRZ 2004, 125 ff; Neßler Deutsche und europäische Parteien, EuGRZ 1998, 191 ff; Piepenschneider Die Rolle der europäischen Parteien, in: Franzius/Preuß (Hrsg) Europäische Öffentlichkeit, 2004, 237 ff; Ripke Europäische Versammlungsfreiheit, 2012; Tsatsos Europäische politische Parteien? – Erste Überlegungen zur Auslegung des Parteienartikels des Maastrichter Vertrages – Art 138a EGV, EuGRZ 2004, 45 ff.

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Fall 3: (gelehnt an EuGH, Slg 2006, I-2397 ff – Werhof) E hat ein Unternehmen gekauft. Der Arbeitsvertrag des dort tätigen Arbeitnehmers W verweist im Hinblick auf die Rechte und Pflichten in der Arbeitsbeziehung auf die Bestimmungen des zwischen dem Arbeitgeberverband und der Gewerkschaft geschlossenen Tarifvertrages. E ist nicht Mitglied des Arbeitgeberverbandes. Nach Art 3 der RL 77/187 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen gehen jedoch „die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs … bestehenden Arbeitsvertrag … auf den Erwerber über“. Als der Arbeitgeberverband der Branche und die Gewerkschaft nach dem Unternehmenskauf eine Änderung des Tarifvertrages vereinbaren, die den betroffenen Arbeitnehmern einen erheblichen Lohnanstieg beschert, will W davon profitieren. Er meint, dass die Richtlinie „dynamisch“ ausgelegt werden müsse. Demgegenüber ist E der Überzeugung, dass eine solche Auslegung gegen seine negative Koalitionsfreiheit verstößt. Fall 4: (gelehnt an EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman) Der belgische Berufsfußballspieler B möchte zu einem Verein in der französischen Liga wechseln. Die durch die Sportverbände aufgestellten Regelungen sehen allerdings vor, dass der aufnehmende Verein in einem solchen Fall dem bisherigen Verein eine Transfer-, Ausbildungsoder Förderungsentschädigung zahlen muss. Angesichts der hohen Ablöseforderung möchte der ursprünglich an der Beschäftigung von B interessierte französische Verein den Wechsel nicht mehr durchführen. B meint, dass ihn die Regelungen der Sportverbände in seiner Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigen. Demgegenüber pochen die Sportverbände auf die ihnen aus der grundrechtlichen Vereinigungsfreiheit zukommende Autonomie. Zudem betonen sie, dass die Transferregeln durch das Bestreben gerechtfertigt seien, das finanzielle und sportliche Gleichgewicht zwischen den Vereinen aufrecht zu erhalten und die Suche nach Talenten sowie die Ausbildung junger Spieler zu unterstützen. Die Cour d’appel Lüttich legt dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens gem Art 267 I lit a AEUV die Frage vor, ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit der Transferregelung der Sportverbände entgegensteht.

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1. Die Normierung des Art 12 GRCh im Überblick Art 12 GRCh garantiert die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit als Formen einer kollektiv ausgeübten Meinungsäußerungsfreiheit. Nach Art 12 I GRCh hat „jede Person das Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln und frei mit anderen zusammenzuschließen“. Hervorgehoben wird, dass dies „das Recht jeder Person umfasst, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten“. Die Normierung orientiert sich an Art 11 EMRK. Das Präsidium des Grundrechtekonvents betont, dass beide Bestimmungen „die gleiche Bedeutung“ haben.175 Hinsichtlich der Koalitionsfreiheit wird auch auf Art 11 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer verwiesen.176 Art 12 II GRCh erklärt, dass „politische Parteien auf der Ebene der Union“ dazu beitragen, „den politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zum Ausdruck zu bringen“. Insofern wird vom Präsidium des Grundrechtekonvents auf Art 224 AEUV (früher: 191 EGV) Bezug genommen (Rn 45).177 Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gehört iSd Präambel der Grundrechtecharta zur „gemeinsamen Verfassungstradition“ der Mitgliedstaaten. Zum Teil wird im nationalen Recht nicht nur die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, sondern auch die Koalitionsfreiheit ausdrücklich geschützt und der Mitwirkungsauftrag der politischen Parteien geregelt.178 Im Übrigen spiegeln die Gewährleistungen des Art 12 GRCh die in der Präambel erwähnten „gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten“ wider. Dies gilt nicht nur für Art 11 EMRK, sondern auch für Art 20 und Art 23 Nr 4 AEMR, Art 21 und 22 IPbürgR sowie hinsichtlich der Koalitionsfreiheit für Art 8 I lit a des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR).

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2. Schutzbereich Da auch die in Art 12 GRCh erwähnten Kommunikationsgrundrechte „jeder Person“ garantiert werden, können sich auch Drittstaatsangehörige darauf berufen (Rn 9). Für die Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs kann auf die Rechtsprechung des EGMR (→ § 4 Rn 59 ff) zurückgegriffen werden, weil Art 12 I GRCh die „gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie Art 11 EMRK haben soll.

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a) Versammlungsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechtecharta Die in Art 12 I GRCh garantierte Versammlungsfreiheit erfasst die Vorbereitung und Durchführung privater wie öffentlicher Zusammenkünfte mehrerer Menschen.179 Bloße Ansammlungen genießen freilich keinen Schutz.180 Die Zusammenkommenden müssen einen gemeinsamen Zweck verfolgen. Es werden ortsfeste Versammlungen geschützt oder

175 176 177 178 179 180

Nr 1 d Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/2003 REV 1, 14 f v 18.7.2003. Nr 2 d Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/2003 REV 1, 14 f v 18.7.2003. Nr 3 d Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/2003 REV 1, 14 f v 18.7.2003. Ausf hierzu mit Nachw Ripke Europäische Versammlungsfreiheit, 2012, S 266 ff. EGMR, EuGRZ 1980, 36, Rn 6 – Rassemblement jurassien u Unité jurassienne. Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 5.

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auch Umzüge, vor allem Demonstrationen. Die Zusammenkunft muss nicht organisiert sein. Auch Spontanversammlungen sind schutzwürdig.181 Im Unterschied zu Art 11 EMRK betont Art 12 GRCh ausdrücklich, dass die Versammlungsfreiheit „im politischen Bereich“ garantiert ist. Dies ist freilich selbstverständlich; denn Versammlungen sichern die Demokratie im Vorfeld der institutionellen politischen Entscheidungen (→ § 4 Rn 59).182 Weiter werden der – später unter dem Aspekt der Koalitionsfreiheit zu diskutierende (Rn 41 ff) – „gewerkschaftliche“ und schließlich noch der „zivilgesellschaftliche Bereich“ genannt. Der Verweis auf den zivilgesellschaftlichen Bereich macht klar, dass es nicht nicht um gesellschaftlich wichtige Fragen gehen muss. Versammlungen können wirtschaftliche, wissenschaftliche, kulturelle, soziale „oder andere Angelegenheiten“ zum Gegenstand haben.183 Deutlich wird, dass die Grundrechtecharta von einem weiten Versammlungsbegriff ausgeht.184 Genauso wie bei der oben erörterten Meinungsfreiheit (Rn 10) kommt es auf die Qualität und Thematik der Versammlung nicht an. Obwohl die Versammlungsfreiheit zu den Kommunikationsgrundrechten zählt, ist es – anders als viele meinen (→ § 4 Rn 61, mit Verweis auf EGMR, EuGRZ 1989, 522 Rn 12 – Plattform „Ärzte für das Leben“)185 – auch unerheblich, ob die Zusammenkommenden untereinander oder gegenüber Dritten Meinungen mitteilen, diskutieren oder symbolisch Ausdruck verleihen wollen. Wie bei der Vereinigungsfreiheit (Rn 39) genügt es, dass irgendein gemeinsamer Zweck verfolgt wird.186 Die Versammlungsfreiheit erfasst damit auch rein gesellschaftliche Zusammenkünfte. Auch einem gemeinsamen Happening – wie etwa der Love-Parade – darf der Grundrechtsschutz nicht versagt werden.187 Schutz genießen auch provozierende Versammlungen (→ § 4 Rn 60, 73 Fall 5).188 Allerdings darf die Zusammenkunft nicht gewalttätigen Zielen dienen oder einen gewalttätigen Verlauf nehmen, da nur „friedliche“ Versammlungen geschützt sind.189 Unfriedliche Ereignisse am Rand einer Demonstration oder Versuche von Extremisten, Versammlungen zu unterlaufen, reichen freilich nicht aus, um der Versammlung den Schutz zu entziehen.190 Im Gegenteil ist für den Schutz von Demonstrationen vor gewaltsamen Gegendemonstrationen zu sorgen.191 Insofern ist freilich zu beachten, dass eine unionsgrundrechtliche Schutzpflicht einen anderweitig begründeten Kompetenztitel voraussetzt (Rn 19). Schließlich muss das Tref-

181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191

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S Mann/Ripke EuGRZ 2004, 125 ff. Vgl z Art 11 EMKR EGMR, EuGRZ 1981, 559, Rn 57 – Young, James u Webster. Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 16; Jarass GRCh, Art 12 Rn 6. Rengeling/Szczekalla GR, Rn 737. Dies entspricht a dem weiten Versammlungsbegriff der EMRK, vgl dazu: EGMR, NVwZ 2011, 1375 ff – Alekseyev = JK 2012, EMRK Art 11/1. S etwa Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 5. Vgl Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 10. Krit gegenüber dem engen Versammlungsbegriff d BVerfG (etwa E 104, 92, 104 – Sitzblockade III) zB Pieroth ua Grundrechte, Rn 689 ff. EGMR, RJD 2001-IX Rn 86 – Stankov. Vgl dazu EGMR, NVwZ 2012, 1089 – Schwabe u M G; Mann/Ripke EuGRZ 2004, 125, 129 f; Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 8. Vgl EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 39 ff – Ezelin; EuGRZ 1981, 216, Rn 4 – Christians against Racism and Facism. EGMR, EuGRZ 1989, 522, Rn 32 – Plattform „Ärzte für das Leben“. Zu Art 12 GRCh Rixen in: Tettinger/Stern, ChGR, Art 12 Rn 13. Gegen eine Schutzpflicht Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 20.

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fen „frei“ sein.192 Staatlich angeordnete Versammlungen werden nicht geschützt. Im Übrigen umfasst Art 12 I GRCh die sog negative Versammlungsfreiheit, also das Recht, sich nicht mit anderen zu versammeln.193 Im Verhältnis zur Meinungsfreiheit ist zu differenzieren. Im Hinblick auf die Tätigkeit des Sich-Versammelns ist Art 12 I GRCh lex specialis, während in Bezug auf die Meinungsbildung und -äußerung im Laufe der Versammlung Art 11 I GRCh spezieller ist.194 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Der Europäische Gerichtshof hat die Versammlungsfreiheit recht detailliert in der Rs Schmidberger behandelt. Ein Transportunternehmer hatte vom Staat Österreich Ersatz für Schäden verlangt, die ihm dadurch entstanden waren, dass er die Brennerautobahn aufgrund einer genehmigten Demonstration für knapp 30 Stunden nicht nutzen konnte. Der Gerichtshof sah in dem Umstand, dass Österreich die Versammlung nicht verhindert hatte, eine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs in der Gemeinschaft und nahm eine Abwägung mit der Versammlungsfreiheit der Demonstranten vor (Rn 13).195 Konkrete Aussagen zum Umfang des Schutzbereiches fehlen zwar. Deutlich wird immerhin, dass Versammlungen besonders geschützt sind, bei denen es um für das öffentliche Leben Wichtiges – im konkreten Fall: um die Folgen des zunehmenden Transitverkehrs für die Gesundheit und die Umwelt – geht. Dass grundsätzlich auch Versammlungen mit ökonomischen Interessen geschützt sind, zeigt die Rs Montecatini, in der eine Geldstrafe der Kommission für Unternehmen aus dem Bereich der Polypropylen-Herstellung in Streit stand. Der Gerichtshof hob freilich hervor, dass die Versammlungsfreiheit ihre Grenze findet, wenn Zusammenkünfte einen Zweck verfolgen, der mit dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft nicht vereinbar ist.196 Auf der anderen Seite lässt sich der Entscheidung in der Rs Kommission/Frankreich entnehmen, dass Versammlungen, die vor allem den Handel zwischen den Mitgliedstaaten stören wollen, nicht in der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fallen sollen. Obwohl festgestellt wurde, dass Frankreich den innergemeinschaftlichen Handel dadurch beeinträchtigt hat, dass es die dauerhaften Attacken französischer Bauern auf Lebensmitteltransporte aus Spanien nicht verhinderte,197 wurde eine mögliche Rechtfertigung über die Versammlungsfreiheit vom Gerichtshof noch nicht einmal angesprochen. Dogmatisch überzeugend ist dies nicht.

192 Ebenso Jarass GRCh, Art 12 Rn 7. 193 Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 18; Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 3. 194 Jarass GRCh, Art 12 Rn 5; Ripke (Fn 178) S 607. Entsprechend differenziert a der EGMR. Vgl Urt v 12.09.2011, Nr 28955 (05, 28957/06, 28964/06 – Sanchez ua. Der EuGH wendet die Grundrechte hingegen parallel an (EuGH, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3). 195 EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 64, 72 ff, 78 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3. 196 EuGH, Slg 1999, I-4539, Rn 137 f – Montecatini; diese Entscheidung bestätigt insoweit EuG, Slg 1992 II-1155, Rn 319 f – Montedipe, welches ausdrücklich die Versammlungsfreiheit für einschlägig hält, obwohl die Vereinigungsfreiheit ebenfalls ein möglicher Rechtmäßigkeitsmaßstab hätte sein können. Der EuGH stellt in seinem Urt konsequent auf beide Grundrechte ab. 197 EuGH, Slg 1997, I-6959 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2.

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b) Vereinigungsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechtecharta 39

Die in Art 12 I GRCh garantierte Vereinigungsfreiheit schützt – im Unterschied zur Versammlungsfreiheit – jeden freiwilligen Zusammenschluss in Organisationen von gewisser Stabilität und einiger Dauer. Dies gilt selbstverständlich auch für wirtschaftliche Vereinigungen. Auf den Zweck des Zusammenschlusses kommt es nicht an. Gewährleistet ist nicht nur die Freiheit der Einzelnen, eine Vereinigung zu gründen. Vielmehr liegt ein Doppelgrundrecht vor, das auch die sog kollektive Vereinigungsfreiheit – dh die Tätigkeit der Vereinigung selbst – garantiert, soweit keine speziellen Grundrechtsnormen eingreifen.198 Dass dies auch dann gilt, wenn es nicht um die Koalitionsfreiheit geht,199 ergibt sich schon daraus, dass in Art 12 I GRCh der „gewerkschaftliche Bereich“ neben dem „politischen“ und „zivilgesellschaftlichen Bereich“ genannt wird. Zudem macht die Formulierung deutlich, dass die Vereinigungsfreiheit zwar in einem engen Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip steht,200 aber etwa auch bloß wirtschaftliche Zusammenschlüsse schützt. Da die Vereinigung „frei“ sein muss, werden öffentlich-rechtliche Zwangsvereinigungen nicht geschützt.201 Obwohl die sog negative Vereinigungsfreiheit in Art 12 I GRCh wie auch in Art 11 I EMRK nicht ausdrücklich erwähnt wird, ist die Freiheit, aus einer Vereinigung auszutreten oder ihr fernzubleiben, Bestandteil der Vereinigungsfreiheit.202 In Art 20 II AEMR wird ausdrücklich betont, dass niemand gezwungen werden darf, einer Vereinigung anzugehören. Allerdings soll die Freiheit, öffentlich-rechtlichen Korporationen fernzubleiben, wie im deutschen Recht nicht vom Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit umfasst sein.203 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs

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Zur Vereinigungsfreiheit gibt es eine vielfältige Judikatur. Dies liegt vor allem daran, dass der EuGH den Grundfreiheiten eine sog Drittwirkung zuspricht (→ § 7 Rn 52 f). Weil sozial mächtige Vereinigungen – in der Rechtsprechung ging es vor allem um Sportverbände, aber auch um Berufsvereinigungen und Gewerkschaften – an die Grundfreiheiten gebunden sind,204 stellt sich die Frage, ob Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten unter Berufung auf die Vereinigungsfreiheit gerechtfertigt werden können. In der Rs Bosman ging es um die Arbeitnehmerfreizügigkeit von Profisportlern (Rn 34, Fall 4). Man stritt um Verbandsregelungen, die den Vereinswechsel im Fußball von der Zahlung einer Ab-

198 S etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 15; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 28 Rn 10; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 12 GRCh Rn 11, 14. 199 Missverständlich insofern → § 4 Rn 77 mit Hinw auf EGMR, EuGRZ 1975, 562, Rn 38 f – Nationale Belgische Polizeigewerkschaft. 200 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 12 GRCh Rn 10. 201 Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 15. Differenzierend Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 11. 202 EGMR, Nr 24/1992/369/443, Rn 35 – Sigurjónsson; NJW 1999, 3695, Rn 103 – Chassagnou; EuGRZ 1981, 551, Rn 65 – Le Compte, Van Leuven u De Meyere. 203 Vgl Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 28 Rn 12; Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 11. Zur EMRK s EGMR, EuGRZ 1981, 551, Rn 65 – Le Compte, Van Leuven u De Meyere. 204 Näher zu den Sportverbänden als Adressaten der Grundfreiheiten Trennt Die Vergabe internationaler Sportveranstaltungen, 2012, S 55 ff.

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lösesumme abhängig machten, und um das Verbot, mehr als drei Ausländer pro Mannschaft in einem Spiel einzusetzen. Der EuGH betonte, dass sich der Sportverband auf die Vereinigungsfreiheit berufen kann. Allerdings seien die in Streit stehenden Verbandsregeln weder „erforderlich (…), um die Ausübung dieser Freiheit durch die genannten Verbände (…) zu gewährleisten“, noch stellten sie „eine unausweichliche Folge dieser Freiheit“ dar.205 In der Rs Deliège ging es um Regeln, die die Auswahl von Sportlern zu einem internationalen Turnier festlegen. Hier erkannte der EuGH die Verbandsautonomie an, ohne freilich – was eigentlich nahe lag – die Vereinigungsfreiheit anzusprechen. Die Grundfreiheiten der klagenden Sportlerin seien nicht beeinträchtigt, weil es die „natürliche Aufgabe der betroffenen Stellen“ sei, „geeignete Regeln aufzustellen und in Anwendung dieser Regeln eine Auswahl zu treffen.“206 In der Rs Meca-Medina wurden die Anti-DopingRegelungen des Internationalen Olympischen Komitees am Wettbewerbsrecht der Union gemessen. Auch hier sprach der Gerichtshof die Vereinigungsfreiheit allerdings nicht ausdrücklich an. Das Interesse der Verbände an einem fairen Ablauf der Wettkämpfe und am Schutz der Gesundheit der Sportler wurde aber herangezogen, um eine Ausnahme vom Kartellverbot zu begründen.207 Dass bei der Anwendung von Art 81 I EG (jetzt: Art 101 AEUV) der Gesamtzusammenhang und die Zielsetzung von Verbandsregeln gewürdigt werden müssen, hatte der Gerichtshof bereits in der Rs Wouters erkannt, wo es um eine Verordnung der niederländischen Rechtsanwaltskammer ging, die gemeinsame Sozietäten von Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern verbot. Die Verordnung wurde trotz ihrer wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen nicht dem Kartellverbot unterworfen, da die Regelung für das legitime Ziel der ordnungsgemäßen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs als erforderlich angesehen wurde.208 c) Koalitionsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechtecharta Die Koalitionsfreiheit wird in Art 12 I GRCh, soweit es um die Arbeitnehmerseite geht, gleich zweimal angesprochen. Betont wird, dass die Vereinigungsfreiheit auch für den „gewerkschaftlichen Bereich“ gilt und „das Recht jeder Person (umfasst), zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten“. Die Hervorhebungen bedeuten nicht, dass die Gegenseite schutzlos ist. Vielmehr fällt auch die Bildung und Betätigung von Arbeitgebervereinigungen in den Schutzbereich der allgemeinen Vereinigungsfreiheit.209 Aus Gründen der „Waffengleichheit“ ist eine einheitliche Auslegung geboten. Auch Art 28 GRCh setzt die Freiheit der Bildung von Arbeitgebervereinigungen voraus. Die Koalitionsfreiheit ist wie die allgemeine Vereinigungsfreiheit (Rn 39) ein Doppelgrundrecht. Sie umfasst einerseits das individuelle Recht, sich in Koalitionen zusammenzuschließen und sich entsprechend zu betätigen, sowie das Recht, Koalitionen fernzubleiben (Rn 33, Fall 3, sowie → § 4 Rn 84, 95). Andererseits wird das Recht der Gewerkschaften selbst geschützt, über ihre Organisation, das Verfahren ihrer Willensbil-

205 206 207 208 209

EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 79, 80 – Bosman. EuGH, Slg 2000, I-2549, Rn 67 – Deliège. EuGH, Slg 2006, I-6991, Rn 42 ff – Meca-Medina. EuGH, Slg 2002, I-1577, Rn 97 ff – Wouters. S nur Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 17; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 12 GRCh, Rn 14.

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dung und die Führung der Geschäfte nach innen und außen selbst zu bestimmen (→ § 4 Rn 88 ff ).210 Die kollektive Koalitionsfreiheit beinhaltet vor allem die Tarifautonomie, die aber in Art 28 GRCh spezieller geschützt ist, wonach „die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht (haben), Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen, sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen“. bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 42

Den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit hat der Europäische Gerichtshof bereits in den Rs Gewerkschaftsbund und Allgemeine Gewerkschaft bestimmt. Betont wurde, dass die Vereinigungsfreiheit das Recht der EG-Beamten umfasst, „frei Vereinigungen ihrer Wahl zu gründen“, und dass sich die Vereinigungen „zur Verteidigung der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder jeder erlaubten Tätigkeit widmen“ dürfen. Die Möglichkeit der Gewerkschaften, Rechte ihrer Mitglieder vor Gericht einzuklagen, wurde besonders hervorgehoben.211 Deutlich wird, dass auch die Koalitionsfreiheit – wie erwähnt (Rn 41) – ein Doppelgrundrecht ist. Konkrete Ausführungen zum Schutzumfang der Koalitionsfreiheit enthält die Entscheidung in der Rs Maurissen. Der Gerichtshof erklärte, „dass die Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen ihren Beamten weder verbieten können, Mitglied einer Gewerkschaft oder eines Berufsverbandes zu werden und an der Gewerkschaftsarbeit teilzunehmen, noch sie in irgendeiner Form wegen dieser Mitgliedschaft oder dieser Arbeit benachteiligen dürfen.“ Insbesondere dürfe der durch die Wahrnehmung gewerkschaftlicher Tätigkeit entstehende Ausfall an Dienstzeit nicht negativ bei einer Bewertung des Beamten wirken. Gemeinschaftsorgane müssten grundsätzlich hinnehmen, dass Gewerkschaftsangehörige „die ihnen zustehende Aufgabe wahrnehmen, nämlich unter anderem Aktionen zur Unterrichtung der Beamten und sonstigen Bediensteten durchführen, diese bei den Organen und Einrichtungen vertreten und an der Konzertierung mit diesen Organen und Einrichtungen in allen das Personal interessierenden Bereichen teilnehmen.“ Entscheidend sind freilich die Umstände des Einzelfalls. So entschied das Gericht, dass die Vereinigungsfreiheit noch nicht betroffen ist, wenn einem Beamten die Nutzung des internen Botendienstes zur Verbreitung von Gewerkschaftsinformationen untersagt wird. Auf der anderen Seite erklärte der Gerichtshof, dass die Vereinigungsfreiheit beeinträchtigt wird, wenn die Beamten zu wichtigen Gewerkschaftsversammlungen keine Dienstbefreiung erhalten.212 Der EGMR, dessen Auslegung der Vereinigungsfreiheit nach Art 11 EMRK über Art 52 III auch für Art 12 I GRCh Bedeutung hat (Rn 50), leitet aus der Vereinigungsfreiheit zum einen ein Recht zur Gründung von Gewerkschaften213 und zum anderenein Streikrecht für Beamte ab.214 Der EGMR betont, dass Art 11 II 2 EMRK, der Einschränkungen der Vereinigungsfreiheit für „An-

210 Vgl Däubler in: FS Hanau, 1999, S 489, 495. 211 EuGH, Slg 1974, 917, Rn 14, 17 – Gewerkschaftsbund; Slg 1974, 933, Rn 10, 13 – Allgemeine Gewerkschaft. 212 EuGH, Slg 1990, I-95, Rn 14, 15, 21, 30 ff – Maurissen; bestätigt durch EuG, Slg 1992, II-2377, Rn 13 – Maurissen. 213 EGMR, NZA 2010, 1425 – Demir u Baykara. 214 EGMR, NZA 2010, 1423 – Enerji Yapi-Yol Sen.

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gehörige der Staatsverwaltung“ erlaubt, eng auszulegen ist und dass die Vereinigungsfreiheit nicht in ihrem Wesensgehalt angetastet werden darf.215 Vor diesem Hintergrund wird sich das deutsche Streikverbot für Beamte nicht halten lassen,216 da der EGMR deutlich eine Abkehr vom statusbezogenen hin zu einem funktionsbezogenen Beamtenstreikverbot fordert. Allerdings sieht das BVerfG das Streikverbot für Beamte als einen „hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums“ iSd Art 33 V GG an.217 Die Verfassungsnorm ist jedoch hinreichend offen formuliert und lässt sich konventionsfreundlich interpretieren.218 Einer Verfassungsänderung bedarf es nicht, um den Vorgaben des EGMR zu folgen; denn auch § 31 I BVerfGG, der die Fachgerichte an die Entscheidungen des BVerfG bindet, lässt sich im Hinblick auf die EMRK auslegen. Die besondere Stellung der Koalitionsfreiheit wird auch in der Rs Albany deutlich. Der Gerichtshof entschied, dass Vereinbarungen, die zwischen den Sozialpartnern im Rahmen von Tarifverhandlungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen geschlossen worden sind, nicht unter die Bestimmungen des Wettbewerbsrechts fallen. Anlass war die Klage eines Textilunternehmens, das sich gegen den Antrag der Tarifparteien wandte, wonach der Staat die Mitgliedschaft in einem von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ins Leben gerufenen Betriebsrentenfonds für alle Unternehmen im Textilgewerbe verbindlich erklären sollte. Der Gerichtshof berief sich zwar nicht ausdrücklich auf die Koalitionsfreiheit, um Tarifverträge vom Wettbewerbsrecht freizustellen, betonte aber, dass das Unionsrecht den Dialog zwischen den Sozialpartnern und „ein hohes Maß an sozialem Schutz“ fördern wolle.219 In der Rs Kommission/Deutschland ging der Gerichtshof allerdings davon aus, dass tarifvertragliche Klauseln dem Anwendungsbereich von Richtlinien zum Schutz der Freizügigkeit nicht entzogen seien und dass das Grundrecht grundsätzlich im Einklang mit dem übrigen Unionsrecht auszuüben sei.220 In der Rs Werhof ging es um eine Richtlinie zur Fortgeltung von Kollektivverträgen bei einem Betriebsübergang (Rn 33, Fall 3). Der Gerichtshof erklärte unter Berufung auf die negative Vereinigungsfreiheit, dass der Erwerber des Unternehmens die nach dem Betriebsübergang erfolgten Veränderungen des Tarifvertrages nicht beachten müsse.221 In den Rs Laval und International Transport Worker’s Federation standen schließlich kollektive Maßnahmen von gewerkschaftlichen Organisationen in Streit, die ergriffen wurden, um Unternehmen zum Abschluss eines Tarifvertrages zu zwingen. Unter expliziter Berufung auf Art 28 GRCh

215 EGMR, NZA 2010, 1425 – Demir u Baykara. 216 AA etwa NdsOVG, NVwZ 2012, 1272, und OVG NW, NVwZ 2012, 890. Das BVerwG hat hiergegen jedoch die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage des verfassungsrechtlichen Streikverbots der Beamten vor dem Hintergrund der EGMR Rspr zugelassen, BVerwG, ArbuR 2013, 104. Für das Fortbestehen des deutschen Streikverbots a Lindner DÖV 2011, 305 ff; Schubert AöR 2012, 92 ff. Dagegen etwa Lörcher AuR 2009, 229, 241 f; Schlachter RdA 2011, 341; Gooren ZBR 2011, 400, 405 f; Werres DÖV 2011, 873 (880); Polakiewicz/Kessler NVwZ 2012, 841. 217 BVerfG, NJW 1958, 1228, 1229 f; NJW 1977, 1869; NVwZ 2007, 1396, 1399 f. 218 Für eine Verfassungsänderung NdsOVG, NVwZ 2012, 1272; Bitsch ZTR 2012, 78, 81; Seifert KritV 2009, 357, 374. 219 EuGH, Slg 1999, I-5751, Rn 54 ff, 64 ff – Albany. Eine pauschale Übertragung dieser Rspr auf die Grundfreiheiten lehnte der Gerichtshof jedoch ab, vgl EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 49 ff – International Transport Worker’s Federation. 220 EuGH, Slg 2010, I-7091 ff – Kommission/Deutschland. 221 EuGH, Slg 2006, I-2397, Rn 33 ff – Werhof.

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(Rn 41) betonte der Gerichtshof in beiden Fällen, dass „das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme als Grundrecht der Gemeinschaft anzuerkennen“ sei.222 Im Ergebnis waren die konkreten Maßnahmen aber nicht mit dem Unionsrecht vereinbar, da sie die Grundfreiheiten der betroffenen Unternehmen unverhältnismäßig beschränkten (Rn 53). d) Politische Parteien aa) Schutz in der Grundrechtecharta 44

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Indem Art 12 I GRCh hervorhebt, dass das Recht, sich zu versammeln und mit anderen zusammenzuschließen, „insbesondere im politischen Bereich“ geschützt ist, vollzieht die Grundrechtecharta eine Entwicklung nach, die der EGMR bereits vorgezeichnet hatte (→ § 4 Rn 81). Art 12 II GRCh betont darüber hinaus die besondere Bedeutung „politischer Parteien auf der Ebene der Union“, da diese „den politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zum Ausdruck bringen.“223 Der von der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ohnehin vermittelte Grundrechtsschutz der Parteien wird durch diese Normierung verstärkt.224 Weil die Vorschrift politischen Parteien im zusammenwachsenden Europa einen hohen Stellenwert einräumt, sind Eingriffe und insbesondere Parteiverbote nur unter strengen Voraussetzungen möglich.225 Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass von den Parteien ein erheblicher Beitrag zum Ausgleich des „demokratischen Defizits“ der Union zu erwarten ist, das seine Ursache nicht nur, aber vor allem in einer mangelhaften politischen Kommunikation auf europäischer Ebene hat.226 Um der Vielfalt politischer Interessenzusammenschlüsse in Europa, der Funktion der Parteien „als Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union“ und ihrem Beitrag zur Herausbildung „eines europäischen politischen Bewusstseins“ (Art 10 IV EUV) gerecht zu werden,227 muss der Begriff der politischen Partei weit gefasst werden.228 Allerdings geht es in Art 12 II GRCh nur um die – bislang in der Bevölkerung noch wenig profilierten – „Parteien auf der Ebene der Union“. Zu denken ist etwa an die Europäische Volkspartei, die Sozialdemokratische Partei Europas, die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, die Europäische Grüne Partei, die Allianz der Europäischen Konservativen und Reformisten oder die Partei der Europäischen Linken.229 Bei der Begriffsbestimmung liegt die Berücksichtigung der Definition in Art 2 und 3 der VO 2004/2003 über die Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene und ihre Finanzierung

222 EuGH, Slg 2007, I-11767, Rn 91 – Laval; Slg 2007, I-10779, Rn 44 – International Transport Worker’s Federation. 223 Allgem Pünder VVDStRL 72 (2013), 191, 203 f. 224 Vgl Rengeling/Szczekalla GR, § 18 Rn 747. Anders Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 21; Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 12 GRCh Rn 9; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 12 GRCh Rn 14 („geringer rechtlicher Gehalt“). 225 Ebenso Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 12 GRCh, Rn 17. 226 Vgl zu diesen Fragen etwa Neßler EuGRZ 1998, 191, 195 ff. 227 Vgl zur Bedeutung dieser Vorschrift Huber EuR 1999, 579 ff; Neßler EuGRZ 1998, 191, 192 ff. 228 Vgl Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 21a; Hatje DVBl 2005, 261 ff; Huber EuR 1999, 579, 591; Lange/Schütz EuGRZ 1996, 299, 300; Tsatsos EuGRZ 2004, 45 ff. Zu den Funktionen der Parteien Piepenschneider in: Franzius/Preuß (Hrsg), Europäische Öffentlichkeit, 2004, 237, 240 ff. 229 Zur Entwicklung d europ Parteien etwa Neßler EuGRZ 1998, 191 ff.

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nahe.230 Allerdings ist die sekundärrechtliche Beschränkung auf Parteien, die in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten durch EP-Mitglieder oder in nationalen oder regionalen Vertretungskörperschaften repräsentiert sind oder dort mindestens 3 % bei der Europawahl erhalten haben (Art 3 lit b VO 2004/2003), schon im Hinblick auf die Finanzierung aus dem Unionshaushalt (Art 4 ff VO 2004/2003) bedenklich.231 Für den grundrechtlichen Schutz kann es darauf nicht ankommen. Auch Parteien, die nur in einem einzigen Mitgliedstaat aktiv sind, müssen geschützt sein, wenn sie an Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen. Dasselbe muss für integrationskritische Parteien gelten (vgl dazu Art 3 lit c VO 2004/2003); denn das Demokratieprinzip fordert eine inhaltliche Neutralität in der politischen Auseinandersetzung um das richtige Ausmaß der europäischen Einigung. Nicht von Art 12 II GRCh erfasst werden freilich Parteien, die sich nicht an den Wahlen zum EP beteiligen, sondern ausschließlich auf nationaler Ebene tätig sind. Angesichts des eindeutigen Wortlauts („Parteien auf der Ebene der Union“) steht dem nicht entgegen, dass auch rein nationale Parteien auf die europäische Politik einen mittelbaren Einfluss haben, da sie über die nationalen Parlamente ihre Regierungen kontrollieren, die im Ministerrat und im Europäischen Rat die Geschicke der Union maßgebend bestimmen.232 Bloße Interessenverbände können sich nur auf die allgemeine Vereinigungsfreiheit (Rn 39 ff) nicht aber auf den besonderen Schutz als „politische Parteien“ berufen, da Interessenverbände den „politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ nicht umfassend, sondern nur im Hinblick auf Sonderinteressen zum Ausdruck bringen.233 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Der EuGH hat sich mit der Anwendung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit auf politische Parteien bislang nicht befasst.234 Allerdings stand in der Rs Martinez die Frage in Streit, ob sich Parlamentarier auch dann zu Fraktionen zusammenschließen können, wenn sie keine politische Zusammengehörigkeit aufweisen. Der EuGH bestätigte die Entscheidung des EuG, wonach das Interesse an einem funktionsfähigen Parlament die Beeinträchtigung der Vereinigungsfreiheit rechtfertigen kann.235 Dem ist zuzustimmen, wenn man bedenkt, dass es Hauptaufgabe der Fraktionen ist, die unterschiedlichen nationalen Interessen in den transnationalen Parteien zu bündeln und mit den europäischen Interessen in Einklang zu bringen.236

230 VO des Europ Parlaments u des Rates v 4.11.2003, ABl 2003 Nr 297/1, zuletzt geänd durch VO des Europ Parlamentes u des Rates v 18.12.2007, ABl 2007 Nr. 343/5. 231 Vgl etwa Ruffert in: Calliess/Ruffert, Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art I-46 Rn 13 ff. 232 S Hatje DVBl 2005, 261, 263. 233 Vgl Lange/Schütz EuGRZ 1996, 299, 302. 234 Vgl aber zur Verteilung von Mitteln für Informationskampagnen des EP EuGH, Slg 1986, 1339, Rn 20 ff – Parti ecologiste „Les Verts“. 235 EuGH, Slg 2003, I-13355, Rn 78 ff – Martinez; EuG, Slg 2001, II-2823, Rn 145 ff, 230 ff – Martinez. Vgl zum Problemkreis a Rengeling/Szczekalla GR, Rn 750. 236 Zur Funktion und Rechtsstellung der Fraktionen Neßler EuR 1997, 311 ff. Allgem Pünder VVDStRL 72 (2013), 191, 257 ff.

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3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs 47

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Hinsichtlich der eine Grundrechtsprüfung auslösenden Beeinträchtigungen kann auf die Erörterungen zur Meinungsfreiheit verwiesen werden (Rn 19 f). Wie sich Art 51 I GRCh entnehmen lässt, kann es um Beeinträchtigungen durch die Organe und Einrichtungen der Union und um mitgliedstaatlichen Maßnahmen bei der „Durchführung“ von Unionsrecht gehen. Der Kreis der Normadressaten ist damit abschließend bestimmt. Eine unmittelbare Drittwirkung gibt es nicht, auch nicht – anders als im deutschen Recht (Art 9 III GG) – für die Koalitionsfreiheit. Allerdings können sich aus den in Art 12 GRCh gewährleisteten Rechten – unter den oben erwähnten Voraussetzungen (Rn 3) – Schutzpflichten für die Grundrechtsverpflichteten ergeben. Störungen der Versammlungsfreiheit sind zu verhindern.237 Entsprechendes gilt für Beeinträchtigungen der Koalitionsfreiheit (→ § 4 Rn 85 mwN).238 Freilich werden in Art 153 V AEUV ohnehin wichtige Bereiche – das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht – dem Einfluss der in Titel X AEUV geregelten europäischen Sozialpolitik entzogen.239 Dass der EuGH wie bei den anderen Kommunikationsgrundrechten von einem weiten Eingriffsbegriff ausgeht, zeigt sich daran, dass er in seiner Rechtsprechung die Grundrechtsbeschränkung nur sehr kurz prüft oder gar überhaupt nicht explizit anspricht. Der Schwerpunkt der gerichtlichen Untersuchung liegt bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen auf der Rechtfertigungsebene. Die in Art 12 gewährleisteten Rechte schützen vor unmittelbaren und mittelbaren Beeinträchtigungen. Die Darlegungslast für das Vorliegen einer Grundrechtsbeeinträchtigung trägt allerdings der Kläger. So wies der EuGH in der Rs Hecq die Klage eines Beamten der EG gegen seine Umsetzung nach Luxemburg ua mit dem Argument ab, dass der Kläger nichts vorgetragen habe, was zu der Annahme berechtigen würde, dass die Umsetzung seine Gewerkschaftsarbeit in Brüssel beeinträchtigen und ihn damit in seiner Koalitionsfreiheit verletzen würde.240 Ebenso ging der Gerichtshof in der Rs UGT-FSP nicht davon aus, dass durch die Eingliederung eines neuen Betriebsteils mit eigener Arbeitnehmervertretung die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmervertreter des Stammbetriebes beeinträchtigt wird.241 Die Versammlungsfreiheit kann durch Aus- und Einreiseverbote beeinträchtigt werden.242 Manche meinen, dass Genehmigungserfordernisse keine Beschränkungen seien (→ § 4 Rn 65).243 Die Abkehr vom sonst gültigen weiten Eingriffsbegriff ist allerdings unnötig, denn Vorkehrungen für einen störungsfreien Ablauf der Zusammenkunft lassen sich ohne weiteres rechtfertigen.244 In die Vereinigungsfreiheit wird mittelbar eingegriffen, wenn an die Mitgliedschaft – etwa in Gewerkschaften und Parteien –245 Nachteile geknüpft werden.246

237 Ebenso Jarass GRCh, Art 12 Rn 11. 238 Vgl EGMR, EuGRZ 1981, 559 Rn 55 f – Young, James u Webster. Zu Art 12 GRCh Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 13. 239 Zu den Regelungsbefugnissen der Union Däubler (Fn 210) S 489, 498 ff. 240 EuGH, Slg 1990, I-599, Rn 30 – Hecq. 241 EuGH, Slg 2010, I-7591, Rn 55 – UGT-FSP. 242 Näher Rengeling/Szczekalla GR, Rn 740 ff. 243 S mit Hinw auf EGMR, EuGRZ 1980, 36, Rn 3 – Rassemblement jurassien u Unité jurassienne. 244 Vgl Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 28. 245 Zu möglichen Konflikten mit der Koalitionsfreiheit im Unionsrecht Däubler (Fn 210) S 489 ff. 246 Vgl Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 28 Rn 15.

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Unionsrechtliche Grenzen gibt es auch für nationale Parteiverbote und sonstige Beschränkungen, wenn es um die Teilnahme an Wahlen zum Europäischen Parlament geht. In dem später eingestellten Verbotsverfahren vor dem BVerfG (vgl Art 21 II GG) hatte die NPD beantragt, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob das Verbot mit dem Unionsrecht vereinbar wäre. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass die Entscheidung darüber, welche Parteien sich an der Wahl beteiligen dürfen, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle.247 Tatsächlich bestimmt sich gem Art 7 des „Direktwahlaktes“ das Wahlverfahren zum EP nach den „innerstaatlichen Vorschriften“. Dabei müssen die Mitgliedstaaten jedoch den Grundsatz der Loyalität gem Art 4 III EUV beachten, der die praktische Wirksamkeit des europäischen Wahlrechts, die Repräsentationsfähigkeit des EP und damit auch die „politischen Parteien auf der Ebene der Europäischen Union“ vor nicht vertragslegitimen und unverhältnismäßigen Einschränkungen schützt.248 Auf der anderen Seite kann sich aus dem Loyalitätsgebot sogar eine – nach Art 7 EUV zu sanktionierende – Pflicht der Mitgliedstaaten ergeben, im Sinne einer „streitbaren Demokratie“ gegen Parteien einzuschreiten,249 die die in Art 6 I EUV genannten Werte nicht achten.250 Gemeint sind die in der GRCh niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze.

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4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen a) Rechtfertigung auf Grundlage der Grundrechtecharta Für die Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ist – wie bei Art 11 GRCh (Rn 21) – nicht die allgemeine Schrankenregelung des Art 52 I GRCh maßgeblich, sondern als lex specialis Art 52 III GRCh.251 Da Art 12 I GRCh Rechte gewährleistet, die Art 11 I EMRK entsprechen und damit „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben, finden die Rechtfertigungsanforderungen des Art 11 II EMRK Anwendung.252 Wie bei den in Art 10 GRCh gewährleisteten Rechten gilt ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt (Rn 22). Legitime Eingriffszwecke sind nach Art 11 II 1 EMRK die „nationale und öffentliche Sicherheit“, die „Aufrechterhaltung der Ordnung“, die „Verhütung von Straftaten“, der „Schutz der Gesundheit oder Moral“ sowie der „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“. Geht es nicht um mitgliedstaatliche Maßnahmen, sondern um Beeinträchtigungen durch Einrichtungen der Union muss der Eingriffszweck unionsrechtlich legitim sein, dh im Unionsrecht wurzeln oder zumindest angelegt sein.253 Zudem muss die Maßnahme verhältnismäßig sein (Rn 23 f). Einschränkungen der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit für Angehörige der Polizei, der Streitkräfte und der Staatsverwaltung sind nach Art 11 II 2 EMRK – der Straßburger Spruchpraxis

247 BVerfGE 104, 214, 218 ff. 248 Ausf Hatje DVBl 2005, 261, 263 ff. 249 Zu den möglichen Maßnahmen zur Umsetzung des Konzepts einer streitbaren Demokratie Schorkopf Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich, 2001, 125 ff. 250 Hatje DVBl 2005, 261, 266 f; Schorkopf (Fn 249) S 131. Nicht so weitgehend Lange/Schütz EuGRZ 1996, 299, 301. 251 Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 19; Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 15; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 12 GRCh Rn 13. 252 Dies wird teilweise and gesehen mit der Folge, dass dort, wo die GRCh und die EMRK nicht deckungsgleich sind, die allgem Schrankenregelung des Art 52 I GRCh greift. S etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 19. 253 Ähnlich Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 15.

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folgend (→ § 4 Rn 81, 92 ff) – unter weniger strengen Voraussetzungen möglich; der sog Beamtenvorbehalt gilt auch für Unionsbedienstete. Allerdings ist angesichts der Bedeutung der Grundrechte eine restriktive Auslegung angebracht. Zudem müssen Beschränkungen eine gesetzliche Grundlage haben und verhältnismäßig sein. Für Beschränkungen zulasten der politischen Parteien auf Unionsebene gelten – wie erwähnt (Rn 44 ff) – wegen der Normierung in Art 12 II GRCh besonders strenge Anforderungen. In den Mitgliedstaaten können vor allem solche Parteien verboten werden, die gegen Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte kämpfen, insbesondere wenn sie rassistische, nationalsozialistische bzw faschistische Ziele verfolgen.254 Dagegen ist aus Sicht des Unionsrechts (vgl Art 6 I EUV) grundsätzlich nichts einzuwenden.255 Eine Verletzung des Loyalitätsprinzips (Rn 49) kommt erst in Betracht, wenn ein Mitgliedstaat sein Ermessen offenkundig und schwerwiegend überschreitet.256 Eine unionsrechtliche Verbotsregelung könnte sich auf Art 224 AEUV stützen.257 Maßgeblich müssten die in der GRCh verbrieften Rechte, Freiheiten und Grundsätze sein (Art 6 I EUV). Der Umstand, dass Parteien die europäische Integration nicht oder nur in einem geringeren Umfang anstreben, genügt vor dem Hintergrund des Demokratieprinzips für sich genommen zur Begründung eines Parteiverbots nicht (Rn 49).258 b) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs

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Als „dem Gemeinwohl dienende Ziele der Gemeinschaft“ wurden die Durchsetzung der Grundfreiheiten (Rs Bosman259, Lethonen260, Deliège261, Laval 262, International Transport Worker’s Federation263, Schmidberger 264) und des Wettbewerbsrechts der Union (Polypropylen-Kartell 265, Meca-Medina266) sowie das ordnungsgemäße Funktionieren des EU-Beamtentums (Rs Maurissen267 und Hecq268) und des Europäischen Parlaments (Rs Martinenz269) anerkannt. Die Rs Schmidberger, in der es um eine Kollision der Versammlungsfreiheit mit Grundfreiheiten ging, macht deutlich, dass der EuGH – wenn auch ohne eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung – wie bei den anderen Kommunikationsgrundrechten (Rn 28 ff) „die bestehenden Interessen“ abwägt und „anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalls“ prüft, ob das „rechte Gleichgewicht“ zwischen den widerstreitenden Interessen gewahrt

254 255 256 257 258 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269

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Vgl Hatje DVBl 2005, 263, 266; Schorkopf (Fn 249) S 124 ff (mwN). Zur Rspr des EGMR Schorkopf (Fn 249) S 128 f. So Hatje DVBl 2005, 263, 266. Vgl Schorkopf (Fn 249) S 131 ff; AA Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 15. And Hatje DVBl 2005, 263, 268. EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman. EuGH, Slg 2000, I-2681 ff – Lethonen. EuGH, Slg 2000, I-2549 ff – Deliège. EuGH, Slg 2007, I-11767 ff – Laval. EuGH, Slg 2007, I-10779 ff – International Transport Worker’s Federation. EuGH, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3. EuGH, Slg 1999, I-4539 ff – Montecatini. EuGH, Slg 2006, I-6991 ff – Meca-Medina. EuGH, Slg 1990, I-95 ff – Maurissen. EuGH, Slg 1990, I-599 ff – Hecq. EuG, Slg 2001, II-2823, Rn 233, 145 ff – Martinez; EuGH, Slg 2003, I-13355, Rn 78 ff – Martinez.

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worden ist. Die Intensität der durch die Versammlung auf der Brennerautobahn entstehenden Beeinträchtigungen des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten wurde mit dem Zweck, der Dauer und der Bedeutung der Versammlung abgewogen. Für den Vorrang der Versammlungsfreiheit war ausschlaggebend, dass die Demonstration zum Ziel hatte, über die gesundheitlichen Folgen des zunehmenden Transitverkehrs zu informieren und damit eine im „öffentlichen Leben wichtig erscheinende Meinung“ betraf. Zudem wurde hervorgehoben, dass die Versammlung zeitlich begrenzt war und es sich um eine einmalige, von den staatlichen Stellen genehmigte Aktion handelte.270 Für die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit sind die Rs Viking, Laval, International Transport Worker’s Federation und Kommission/Deutschland charakteristisch. Festgestellt wird zunächst, dass das „Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme als Grundrecht anzuerkennen ist“ und dass der Grundrechtsschutz für sich genommen „geeignet ist, eine Beschränkung (…) einer durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit“ zu rechtfertigen. Bei Laval und International Transport Worker’s Federation fand die Koalitionsfreiheit dann aber bei der Prüfung der Rechtfertigung keine Erwähnung mehr. Für den Gerichtshof war nur noch der Umstand von Bedeutung, dass die „kollektive (…) Maßnahme, die den Schutz der Arbeitnehmer (…) gegen ein etwaiges Sozialdumping zum Ziel hat, ein zwingender Grund des Allgemeininteresses im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs“ ist.271 Entsprechend wurden die Beschränkungen der Grundfreiheiten, die mit von Sportverbänden erlassenen Regelungen einhergehen, in den Rs Bosman (Rn 34, Fall 4) und Lethonen nicht direkt mit dem Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit abgewogen, sondern allein mit den hinter den Regelungen stehenden Zielen (Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Wettkampfablaufs, Wahrung eines Gleichgewichts zwischen den Vereinen, Förderung junger Spieler).272 Dass der Gerichtshof nicht die grundrechtliche Vereinigungsfreiheit als solche mit gegenläufigen Interessen abwägt, sondern nur solche Vereinsinteressen berücksichtigt, die zugleich „zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls“ darstellen, ist misslich, da die spezifischen Eigeninteressen der Verbände – insbesondere die wirtschaftlichen Interessen – auf diese Weise auf der Rechtfertigungsebene unberücksichtigt bleiben.273 Das Gericht verkennt, dass die Verbandsautonomie als solche grundsätzlich geschützt ist. Wie bei der Versammlungsfreiheit sollte der Schutz des Grundrechtes der Vereinigungsfreiheit unmittelbar in der Abwägung Berücksichtigung finden; Verbandsnormen können nicht nur aus Gründen des Allgemeininteresses, sondern auch durch „zwingende Verbandsinteressen“ gerechtfertigt werden. Dagegen wurde in der Rs Kommission/Deutschland die Dienstleistungsfreiheit als Grundfreiheit mit der Vereinigungsfreiheit aus Art 12 GRCh abgewogen.274 Der zugrunde liegende Sachverhalt betraf eine tarifvertragliche Norm, die öffentliche Arbeitgeber zur Einführung einer betrieblichen Altersversorgung verpflichtete.

270 EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 81, 83 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3. Vgl zum Fall etwa Hochhuth (Fn 29) S 242 ff; Kadelbach/Petersen EuGRZ 2003, 693 ff; Mann/Ripke EuGRZ 2004, 125 ff. Aus österreichischer Sicht Krist ÖJZ 1999, 241 ff. 271 EuGH, Slg 2007, I-11767, Rn 91, 93, 103 – Laval; Slg 2007, I-10779, Rn 43 f, 45, 77, 90 – International Transport Worker’s Federation. 272 EuGH, Slg 1995, I-04921, Rn 104, 106 – Bosman; Slg 2000, I-2681, Rn 53 ff – Lethonen. Vgl zur Berücksichtigung der von den Sportverbänden vertretenen öffentlichen Interessen im Rahmen der Rechtfertigungsgründe Streinz SpuRt 2000, 221, 227. 273 Vgl zur Kritik etwa Groß (Fn 17) S 54; Röthel EuR 2001, 908, 917; Vieweg/Röthel ZHR 166 (2002), 6, 30 ff.; Trennt (Fn 204) S 214 ff, 217 ff. 274 EuGH, Slg 2010, I-7091 ff – Kommission/Deutschland.

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Dabei sollte nach dem Tarifvertrag ein bestimmter privater Versorgungsträger beauftragt werden, ohne zuvor ein Vergabeverfahren nach den – die Dienstleistungsfreiheit konkretisierenden – Vergaberichtlinien durchzuführen. Der EuGH stellte fest, dass das von den Sozialpartnern im Tarifvertrag verfolgte Ziel der angemessenen Altersversorgung auch ohne Verstoß gegen das europäische Vergaberecht hätte erreicht werden können. Daher wurde die Durchführung der vergaberechtswidrigen tarifvertraglichen Bestimmungen als als Verstoß gegen das Unionsrecht angesehen und somit der Dienstleistungsfreiheit Vorrang gegenüber der aus der Koalitionsfreiheit fließenden Tarifautonomie eingeräumt.275

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Lösung Fall 3: Bei der Auslegung einer Richtlinie ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH dem Grundsatz der „Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung“ Rechnung zu tragen. Dies verlangt insb, dass das abgeleitete Gemeinschaftsrecht gemäß den „allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“ ausgelegt wird. In der dem Fall zugrunde liegenden Rs Werhof betont der Gerichtshof, dass die Vereinigungsfreiheit in Art 11 EMRK verankert sei und zu den Grundrechten gehöre, die in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden. Vor diesem Hintergrund wurde eine „dynamische Auslegung“ der in Streit stehenden Richtlinienregelung mit Hinweis auf das „Grundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit“ verworfen, weil andernfalls künftige Kollektivverträge auch für Unternehmenskäufer gelten würden, die dem Kollektivvertrag nicht angehören. E ist damit nicht an die Änderung des Tarifvertrags nach dem Betriebsübergang gebunden. W kommt die vereinbarte Lohnsteigerung nicht zugute. Lösung Fall 4: Zunächst müsste das Unionsrecht auf die in Streit stehenden Regelungen der Sportverbände überhaupt anwendbar sein. Insofern betonte der EuGH in der dem Fall zugrunde liegenden Rs Bosman, dass „nach den Zielen der Gemeinschaft die Ausübung des Sports insoweit unter das Gemeinschaftsrecht fällt, als sie zum Wirtschaftsleben iSv Art 2 EG gehört“ (jetzt: Art 3 III, IV EUV). Dies trifft auf die Tätigkeit von professionellen Fußballspielern zu. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 45 AEUV) verbietet sämtliche Regelungen, die die grenzüberschreitende Ausübung einer unselbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit verhindern, erschweren oder weniger attraktiv machen. Um die effektive Wirksamkeit der Grundfreiheit zu gewährleisten, gilt die Normierung nach Ansicht des EuGH „nicht nur für behördliche Maßnahmen“, sondern erstreckt sich „auch auf Vorschriften anderer Art, die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit dienen.“ Betont wird, dass „die Beseitigung der Hindernisse für die Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten gefährdet wäre, wenn die Abschaffung der Schranken staatlichen Ursprungs durch Hindernisse zunichte gemacht werden könnte, die sich daraus ergeben, dass nicht dem öffentlichen Recht unterliegende Vereinigungen von ihrer rechtlichen Autonomie Gebrauch machen“. Damit sind Sportverbände, obwohl sie keine staatlichen Einrichtungen sind, in unmittelbarer Drittwirkung an die Arbeitnehmerfreizügigkeit gebunden. Die Verpflichtung zur Zahlung einer Ablösesumme beschränkt den Zugang der betroffenen Profisportler zu den Märkten in anderen Mitgliedstaaten, weil die Transfersummen Vereine davon abhalten können, bestimmte Spieler zu verpflichten. Fraglich ist, ob die Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gerechtfertigt ist.

275 EuGH, Slg 2010, I-7091 ff – Kommission/Deutschland.

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Kommunikationsgrundrechte

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Insofern kommt die Vereinigungsfreiheit als Grundrecht der Sportverbände ins Spiel. Der EuGH erklärt zunächst, dass sich der in Art 11 EMRK verankerte Grundsatz aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und zu den in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten gehört. Dann untersucht der Gerichtshof, ob die Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ gerechtfertigt ist. Der Prüfungsmaßstab überzeugt nicht, weil sich Verbände auch dann auf die Vereinigungsfreiheit berufen können, wenn sie nur im Interesse der Verbandsmitglieder handeln. Im konkreten Fall machten die Sportverbände allerdings Gründe geltend, die zugleich dem Allgemeinwohl dienen. Ausdrücklich betonte der EuGH, dass „die Zwecke berechtigt sind, die darin bestehen, die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zwischen den Vereinen unter Wahrung einer bestimmten Chancengleichheit und der Ungewissheit der Ergebnisse zu gewährleisten sowie die Einstellung und Ausbildung junger Spieler zu fördern“. Demgemäß stellte sich die Frage, ob die Regelungen hinsichtlich der verfolgten Ziele mit Blick auf die damit verbundene Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit verhältnismäßig waren. Insofern entschied der Gerichtshof, dass die Transferregelung „kein geeignetes Mittel“ sei, um die Chancengleichheit zwischen den Vereinen sicherzustellen, da sie nicht verhindere, dass „die verfügbaren finanziellen Mittel ein entscheidender Faktor beim sportlichen Wettkampf sind“. Allerdings könne die Aussicht auf die Zahlung von Ablösesummen geeignet sein, Vereine zur Ausbildung junger Spieler zu ermutigen. In dieser Hinsicht stellte der EuGH jedoch darauf ab, dass die sportliche Zukunft junger Spieler kaum vorhersehbar sei und die Ablösezahlungen daher einen „Zufallscharakter“ hätten. Unter diesen Umständen könne „die Aussicht auf die Erlangung solcher Entschädigungen weder ein ausschlaggebender Faktor sein, um zur Einstellung und Ausbildung junger Spieler zu ermutigen, noch ein geeignetes Mittel, um diese Tätigkeiten, insbesondere im Fall der kleinen Vereine, zu finanzieren“. Folgt man dem, lässt sich die mit den Transferregelungen verbundene Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch unter dem Gesichtspunkt der Vereinigungsfreiheit der Sportverbände nicht rechtfertigen.

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§ 18 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung Hermann Pünder I. Bedeutung und Rechtsgrundlagen 1

Während die Freiheiten der Kunst und der Wissenschaft in der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht textlich, sondern nur als Ausdruck der dort in Art 10 garantierten Meinungsfreiheit geschützt sind (→ § 4 Rn 14, 16 – Fall 1; Rn 24, 29 – Fall 2),1 hat sich in den Beratungen zur Schaffung der Grundrechtecharta die Einsicht durchgesetzt, dass eine ausdrückliche Gewährleistung dieser besonderen Kommunikationsgrundrechte (→ § 17 Rn 1) angebracht ist.2 Demgemäß heißt es in Art 13 GRCh: „Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet“. Allerdings hat auch das Präsidium des Grundrechtskonvents den engen Bezug zur Meinungsfreiheit hervorgehoben, indem es betonte, dass sich die Gewährleistungen „in erster Linie aus der Gedankenfreiheit und aus der Freiheit der Meinungsäußerung“ ableiten, und erklärte, dass die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit den Einschränkungen unterworfen werden kann, die sich für die Meinungsfreiheit aus Art 10 II EMRK ergeben (Rn 12).3 Die Gewährleistungen des Art 13 GRCh gehören zum gemeineuropäischen Grundrechtsstandard. Allerdings gibt es im Detail der Gewährleistung unter den Mitgliedstaaten Unterschiede.4 Dies gilt vor allem für die Wissenschaftsfreiheit: Während manche Staaten die Wissenschaft umfassend verfassungsrechtlich schützen, gibt es anderswo nur einfachgesetzliche Verbürgungen. Zudem garantieren einige Mitgliedstaaten nur die Freiheit der Forschung, nicht aber die Lehrfreiheit. Es wurde vor diesem Hintergrund die Frage aufgeworfen, ob die Wissenschaftsfreiheit überhaupt zu den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ gehört, auf die für die Herleitung der Unionsgrundrechte lange Zeit vornehmlich zurückzugreifen war (→ § 17 Rn 1).5 Nach dem Inkrafttreten der GRCh hat sich das Problem 1 Vgl zur Kunstfreiheit EGMR, EuGRZ 1988, 543 ff – Müller; Series A, Nr 295-A, Rn 42 ff – Otto-Preminger-Institut; E 1996, 1913, Rn 36 – Wingrove; NJW 1984, 2753 – Sprayer v Zürich; zur Wissenschaftsfreiheit EGMR, ECHR 1998-VI – Hertel; NJW 2001, 1195, Rn 36 ff – Wille; Urt v 29.6.2004, Nr 64915/01 – Chauvy ua (aber mit Schwerpunkt auf die mit dem Verbot der Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Studie einhergehenden presserechtlichen Probleme). Für einen Überbl zu der Gewährleistung der EMRK etwa Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 5 ff. Rechtsvergleichend z Zusammenhang von Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992, S 116 f. 2 Vgl zur Entstehungsgeschichte etwa Bernsdorf in: Meyer, GRCh, Art 13 Rn 6 ff; Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 1 ff; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 26 Rn 64. 3 Vgl Nr 1 zu Art 11 GRCh der Erläuterungen des Präsidiums des Konvents CONV 828/1/03 REV 1 v 18.7.2003, S 14 f. 4 Vgl den Überbl von Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 17 ff; Glaser Der Staat 2008, 213, 221 ff; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 GRCh Rn 1. Zur Freiheit der Kunst in rechtvergleichender Sicht Häberle Die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, in Berka/Häberle/Heuer/Lerche, Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994, S 37, 49 ff. Ausf zur Wissenschaftsfreiheit Groß (Fn 1); Mann (Fn 2) Rn 19 ff. 5 Vgl Classen WissR 28 (1995), 97, 99 f; Caspar RdJB 2001, 165, 173; Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 283 („eher schwacher Schutz“); Fink EuGRZ 2001, 193 ff; Mann (Fn 2) Rn 49 f; 298, 318; Trute/Groß WissR 27 (1994), 203, 236 f; Wagner DÖV 1999, 129 ff.

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Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung

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erledigt. Im Hinblick auf die in der Präambel der Charta hervorgehobenen „gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten“ ist auf das Völkervertragsrecht hinzuweisen.6 In Art 19 II des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) wird die Kunstfreiheit dem Recht auf freie Meinungsäußerung zugeordnet. Die Wissenschaftsfreiheit wird nicht erwähnt. Nach Art 15 I lit a und c des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) hat jeder das Recht, „am kulturellen Leben teilzunehmen“ und „den Schutz der geistigen und materiellen Interessen zu genießen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen“. Zudem verpflichtet Art 15 III IPwskR die Vertragsstaaten, „die zu wissenschaftlicher Forschung und schöpferischer Tätigkeit unerlässliche Freiheit zu achten“. Im Übrigen lassen sich dem Atomwaffensperrvertrag (1968), dem Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin (1996), dem Antarktisvertrag (1959) mit dem Umweltschutzprotokoll (1991) sowie der Bioethik-Deklaration der UNESCO (1997) Anhaltspunkte für die Anerkennung der Forschungsfreiheit entnehmen.7 Das in Art 14 GRCh verankerte Recht auf Bildung ist eine Grundbedingung für die Persönlichkeitsentfaltung und für ein gelingendes Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft.8 Dies hat schon John Adams, der zweite Präsident der USA, hervorgehoben: „Liberty cannot be preserved without a general knowledge among the people who have a right from the frame of their nature to knowledge, as their great Creator who does nothing in vain, has given them understandings and a desire to know.“9 Angesichts der Bedeutung der Bildung erstaunt, dass das Bildungsrecht ursprünglich keinen Eingang in die EMRK gefunden hatte. Immerhin wurde das Grundrecht aber schon 1952 in das erste Zusatzprotokoll zur Konvention aufgenommen (Art 2 1. ZP EMRK).10 Mit der Kunstund Wissenschaftsfreiheit hängt das Recht auf Bildung eng zusammen. Im Grundrechtskonvent wurde sogar diskutiert, beide Gewährleistungen in einem Artikel zusammenzufassen.11 Zu Recht sah man schließlich davon ab. In Art 14 I GRCh wird jedem Menschen ein Recht auf schulische Bildung und – insofern über die ausdrückliche Gewährleistung in der EMRK hinausgehend12 – auf Zugang zur beruflichen Aus- und Weiterbildung garantiert. In Art 14 II GRCh wird hervorgehoben, dass das Recht auf Bildung auch die Mög-

6 S dazu im Überbl Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 13 Rn 3; Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 276 ff; Groß (Fn 1) S 177 ff; Haratsch in: Heselhaus/Nowak, GR, § 25 Rn 4; Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 22; Mann (Fn 2) Rn 55; Ruffert VVDStRL 65 (2006), 146, 166 ff. 7 Näher Wagner DÖV 1999, 129, 133 ff. 8 Zu den ideengeschichtlichen Grundlagen des Rechts auf Bildung zusammenfassend Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 ZP I Rn 4. Vgl a Lindner DÖV 2009, 306 f. 9 Adams Dissertation on the Canon and Feudal Law (1765), zit nach Peek (Hrsg) The Political Writings of John Adams, 1954, S 13. 10 Zur Entstehungsgeschichte Bannwart-Maurer Das Recht auf Bildung und das Elternrecht. Art 2 des ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1975, S 1 ff. 11 Vgl zur Diskussion Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 5 ff; Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 93 ff; Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 14 Rn 1 ff. 12 Das Recht auf Bildung in Art 2 S 1 1. ZP EMRK wird zum Teil so verstanden, dass es nur die schulische Bildung umfasst. Vgl Bannwart-Maurer (Fn 10) S 70; Günther (Fn 11) S 138 f. Weitergehend – freilich nicht die berufliche Bildung einbeziehend – Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 ZP I Rn 10 f.

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lichkeit umfasst, unentgeltlich am Pflichtschulunterricht teilzunehmen. Schließlich wird in Art 14 III GRCh einerseits – wieder über die ausdrücklichen EMRK-Gewährleistungen hinausgehend13 – die Freiheit zur Gründung privater Lehranstalten und andererseits – insofern Art 2 S 2 1. ZP EMRK fast wortgetreu folgend – das Recht der Eltern kodifiziert, „die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen“.14 Die in Art 14 GRCh normierten Gewährleistungen entsprechen – freilich in unterschiedlichem Umfang – den gemeineuropäischen Grundrechtsüberlieferungen.15 Die berufliche Aus- und Weiterbildung wird zudem durch Nr. 15 der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (GSGA) und Art 10 der Europäischen Sozialcharta (ESC) gewährleistet. Hinzu kommen völkervertragsrechtliche Verpflichtungen.16 Insofern ist vor allem auf die ausführliche Regelung in Art 13 IPwskR zu verweisen. Eine Garantie der Elternrechte enthält Art 18 IV IPbürgR. Im Übrigen sind für das Recht auf Bildung Art 28 I 1 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes (1989), Art 10 des UN-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1979) und Art 5 des UN-Übereinkommens gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen (1960) von Bedeutung. Die in Art 13 und 14 GRCh gewährleisteten Rechte binden gem Art 51 I GRCh nicht nur die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, sondern auch die Mitgliedstaaten „bei der Durchführung des Rechts der Union“. Insofern ist der EuGH bekanntermaßen sehr großzügig; die GRCh soll schon dann einschlägig sein, wenn die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts agieren (im Hinblick auf die Kommunikationsgrundrechte → § 17 Rn 2). Allerdings verfügt die Union in den Bereichen von Kunst, Wissenschaft und Bildung nur über eingeschränkte Kompetenzen: Bildung, Förderung der Kulturvielfalt und Forschung sind lediglich als Ziele der Politik der Union in Art 165 f, 167, 179 ff AEUV genannt, so dass diese Bereiche vornehmlich im Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten verbleiben.17 Das bedeutet nicht, dass die Gewährleistung der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit und des Rechts auf Bildung in der GRCh nur eine geringe Bedeutung hat. Denn die Normierungen dienen nicht nur dem unmittelbaren Grundrechtsschutz im Unionsrecht, sondern machen auch – wie es in der Präambel heißt – die „Grundlage gemeinsamer Werte“ deutlich, zu der auch das Bekenntnis zur Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie zum Recht auf Bildung gehört. Die Gewährleistungen in der GRCh haben eine Vorbildfunktion. Im Übrigen mögen die Garantien bedeutsam werden, sofern es später einmal zu Kompetenzerweiterungen der Union kommt.

13 Zur Frage, ob die EMRK das Recht zur Errichtung von Privatschulen garantiert Günther (Fn 11) S 248 ff. 14 In Art 2 S 2 1. ZP EMRK fehlt der Hinweis auf die „erzieherischen“ Überzeugungen. 15 Näher Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 2; Günther (Fn 11) S 163 ff (zum Recht auf Bildung), 212 ff, 219 ff (zum Zugang zur beruflichen Aus- und Weiterbildung), 232 ff (zum unentgeltlichen Pflichtschulunterricht), 253 ff, 265 ff (zur Gründung von Lehranstalten), 307 ff (zum Elternrecht); Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 14 Rn 20 ff; Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 39 Rn 24 ff. 16 Im Überblick Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 3; Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 39 Rn 21. Näher Günther (Fn 11) S 195 ff, 312 ff. 17 Näher im Hinblick auf die Wissenschaftspolitik Sasse VerwArch 104 (2013), 237, 240 ff.

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Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung

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II. Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art 13 GRCh) Leitentscheidungen: zur Kunstfreiheit EuGH, Slg 1968, 634 ff – Kommission/Italien; Slg 1979, 35 ff – ASBL; Slg 1985, 1819 ff – Steinhauser; Slg 1993, I-2239 ff – Fedicine; Slg 1993, I-5145 ff – Phil Collins; Slg 2002, I-5089 ff – Land Hessen; Slg 2003, I-2921 ff – Hoffmann; Slg 2003, I-12489 ff – RTL Television GmbH; zur Wissenschaftsfreiheit EuGH, Slg 1973, 679 ff – Kley; Slg 1974, 773 ff – Casagrande; Slg 1974, 791 ff – Guillot; Slg 1985, 593 ff – Gravier; Slg 1989, 1591 ff – Allué ua; Slg 1993, I-4309 ff – Allué ua; Slg 1993, I-5185 ff – Spotti; Slg 2001, I-1611 ff – Connolly = JK 2001 EGV Art 220/1; Slg 2002, I-1049 ff – Land NRW; Slg 2002, I-5811 ff – Mehrwertsteuerpflicht; Slg 2004, I-6427 ff – Kommission/Belgien; Slg 2005, I-5969 ff – Kommission/Österreich; Slg 2007, I-99 ff – Lyyski; Slg 2007, I-12231 ff – Jundt. Schrifttum: Britz Die Freiheit der Kunst in der europäischen Kulturpolitik, EuR 2004, 1 ff; Classen Forschungsförderung durch die EG und Freiheit der Wissenschaft, WissR 28 (1995), 97 ff; Fink Gewährt das Recht der Europäischen Gemeinschaften den wissenschaftlichen Hochschulen grundrechtliche Freiheit?, EuGRZ 2001, 193 ff; Geißler Staatliche Kunstförderung nach Grundgesetz und Recht der EG, 1995; Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992; Häberle Die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, in Berka/ Häberle/Heuer/Lerche, Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994, 37 ff; Hailbronner/Weber Die Hochschulen vor Europäisierung, Zentralisierung, Regionalisierung, WissR 30 (1997), 298 ff; Lindner Die Europäisierung des Wissenschaftsrechts, 2009; Ruffert Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, VVDStRL 65 (2006), 146 ff; Hoppe Die Kunstfreiheit als EU-Grundrecht, 2011; Sasse Die primärrechtlichen Vorgaben unionaler Wissenschaftspolitik, VerwArch 104 (2013), 237 ff; Trute/Groß Rechtsvergleichende Grundlagen der europäischen Forschungspolitik, WissR 27 (1994), 203 ff; Wagner Wissenschaftsfreiheit unter Regulierungsdruck, FS Meusel, 1997, 301 ff; Wagner Gibt es ein Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit im europäischen Gemeinschaftsrecht?, DÖV 1999, 129 ff; Wagner Rechtliche Rahmenbedingungen für die Wissenschaft und Forschung, 2000, 218 ff.

Fall 1: (gelehnt an OVG Münster, NVwZ-RR 2012, 682 = JK 2013, GRCh Art 13/1) Die E-GmbH möchte in China produzierte Glühlampen verkaufen, die nach der Haushaltslampen-VO 224/2009 zur Verringerung des Energieverbrauchs aus Gründen des Umweltschutzes in Europa nicht mehr vertrieben werden dürfen. Allerdings bezeichnet die E ihre Produkte als „Heatballs“ bzw „Kleinheizelemente“ und schreibt in der Produktinformation: „Heatball ist Aktionskunst! Heatball ersetzt die Glühbirne und ist Widerstand gegen den Bürger entmündigende Verordnungen.“ Die zuständige Behörde untersagt der E den Vertrieb der Produkte in Deutschland gem § 7 III S 2 Nr 6 EVPG. Hiergegen wendet sich die E mit dem Argument, der Vertrieb der „Heatballs“ sei eine grundrechtlich geschützte satirische Kunstaktion.

Fall 2: (gelehnt an EuGH, Slg 1973, 679 ff – Kley) K, ein habilitierter Diplomphysiker, war als Beamter der Europäischen Atomgemeinschaft EURATOM in der Forschungsanstalt Ispra in Italien auf dem Gebiet der Neutronenforschung tätig. Er leitete die „Abteilung Physik“ mit einem bedeutenden Forschungsstab. Im Rahmen einer Reorganisation der Forschungsanstalt sollten wichtige Forschungsaufgaben von einer anderen Abteilung übernommen werden. Dies lehnte K ua mit Hinweis auf seine eigenen Forschungsschwerpunkte ab. Nachdem K erfolglos eine außergerichtliche Beschwerde beim Präsidenten der Kommission eingelegt hatte, erhob er Klage vor dem EuGH.

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1. Schutzbereiche a) Kunstfreiheit aa) Schutz in der Grundrechtecharta 6

Die unionsgrundrechtliche Garantie der Kunstfreiheit trägt dem Umstand Rechnung, dass Kunst nicht nur ein Wirtschaftsfaktor ist, der durch die Grundfreiheiten geschützt wird (Rn 7), sondern auch eine Freiheitsbetätigung und darüber hinaus für die Union eine Integrationsfunktion hat.18 In „kulturanthropologischer“ Perspektive mag man auch den Menschenwürdegehalt der Kunstfreiheit hervorheben. Häberle betont: „Der Mensch verdankt seinen ‚aufrechten Gang‘ wesentlich der Kunstfreiheit.“19 Auf die Kunstfreiheit können sich nicht nur Künstler für ihren „Werkbereich“ berufen, sondern auch sog Kunstmittler, die etwa als Interpreten, Verleger, Galeristen und Produzenten im „Wirkbereich“ der Kunst tätig sind.20 Werk- und Wirkbereich stellen eine „unlösbare Einheit“ dar.21 Alle Rechtsordnungen haben es schwer, das zu bestimmen, was als Kunst bes Schutz genießt. In einer pluralen Gesellschaft darf der Schutzbereich der Kustfreiheit nicht zu eng gefasst werden. Der EGMR hat bisher vermieden, den Kunstbegriff zu definieren, aus der Gesamtbetrachtung seiner Rechtsprechung ergibt sich jedoch ein weites Begriffsverständnis, das von inhaltlicher Neutralität und formaler Offenheit geprägt wird.22 Dieses weite Schutzbereichsverständnis ist gem Art 52 III GRCh auch für die unionsrechtliche Kunstfreiheit maßgeblich. Die Definition des BVerfG im Mephisto-Beschluss bietet einen Anhaltspunkt (Rn 4, 14, Fall 1).23 Demnach ist das Wesentliche der künstlerischen Betätigung die „freie schöpferische Gestaltung“, in der „Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmen Formensprache zur unmittelbaren Anschauung gebracht werden“.24 Wertende Einengungen darf es nicht geben. Auch neue Kunstformen und -richtungen sind grundrechtlich geschützt. Die Offenheit des Kunstbegriffs korrespondiert allerdings mit der – gleich zu erörternden (Rn 12 f) – Möglichkeit, eine Beeinträchtigung der Kunstfreiheit zu rechtfertigen. Vom Präsidium des Grundrechtskonvents wurde ausdrücklich festgestellt, dass die von Art 13 GRCh geschützten Freiheiten nur unter Wahrung der in Art 1 GRCh gewährleisteten Menschenwürde ausgeübt werden dürfen.25 Dies führt freilich – wie bei den anderen Kommunikationsgrundrechten (→ § 17 Rn 10) – nicht zu einer tatbestandlichen Einschränkung des Schutzbe-

18 Vgl Britz EuR 2004, 1, 2 ff; Sommermann VVDStRL 65 (2006), 7, 24 ff. 19 Vgl Häberle (Fn 4) S 43 ff. 20 Vgl EGMR, Series A, Nr 295-A, Rn 55 f – Otto-Preminger-Institut, sowie etwa Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 GRCh, Rn 3. Restriktiver Haratsch (Fn 6) Rn 13. Zur „offenen Gesellschaft der Kunstinterpreten“ Häberle (Fn 4) S 68 ff. 21 BVerfGE 30, 173, 189 – Mephisto-Beschluss; E 67, 213, 224 – Anachronistischer Zug; E 77, 240, 253 f – Herrnburger Bericht. 22 S Hoppe Die Kunstfreiheit als EU-Grundrecht, 2011, S 48. 23 Sehr krit zur Zulässigkeit dieses Vorgehens Hoppe (Fn 22) S 86, 231. 24 BVerfGE 30, 173, 188 f – Mephisto-Beschluss. S a BVerfGE 67, 213, 226 – Anachronistischer Zug; E 83, 130, 138 – Josefine Mutzenbacher. Ebenso für Art 13 GRCh etwa Haratsch (Fn 6) Rn 11; Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 10 f; Jarass GR, Art 13, Rn 5; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 759; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 GRCh, Rn 3. 25 Vgl Erläuterung zu Art 13 GRCh des Präsidiums des Konvents CONV 828/1/03 REV 1 v 18.7.2003, S 16.

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reichs.26 Vielmehr ist aus Gründen der Transparenz auch insoweit an der herkömmlichen dreistufigen Prüfung der Unionsgrundrechte festzuhalten. Allerdings ergeben sich aus Art 1 S 2 GRCh, wonach die Menschenwürde „zu achten und zu schützen“ ist, innerhalb des Kompetenzbereichs der Normadressaten Schutzpflichten (Rn 10; zu den anderen Kommunikationsgrundrechten → § 17 Rn 3, 19). bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Die von Art 13 GRCh erfassten Grundrechte haben beim EuGH bislang kaum eine Rolle gespielt. Der Sache nach wird die Kunstfreiheit aber auch durch die wirtschaftlichen Grundfreiheiten geschützt.27 EuGH-Entscheidungen machen deutlich, dass Kunstgegenstände von der Warenverkehrsfreiheit (Art 34 ff AEUV) erfasst werden,28 künstlerische Darbietungen den Schutz der Dienstleistungsfreiheit (Art 56 ff AEUV) genießen29 und die innergemeinschaftliche Mobilität der selbständigen oder abhängig beschäftigten Künstler und Kunstmittler von der Freiheit des Personenverkehrs (Art 45 ff, 49 ff AEUV) geschützt wird.30 Zudem gibt es einige Entscheidungen, die sich mit dem Kunstsektor unter dem Gesichtspunkt des Diskriminierungsverbots beschäftigten.31

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b) Wissenschaftsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechtecharta Die Kunst- und die Wissenschaftsfreiheit sind als Ausdruck der Persönlichkeitsentfaltung eng miteinander verbunden.32 Entsprechend der vor allem auf Wilhelm v Humboldt zurückgehenden deutschen Tradition33 ist Wissenschaft der Oberbegriff für Forschung und Lehre.34 Was die Forschung angeht, die nach Art 13 S 1 GRCh „frei“ ist, kann man sich wieder an einer Definition des BVerfG orientieren, das „jegliches nie ganz abschließendes, nach Inhalt und Form ernsthaftes und planmäßiges Bemühen um Wahrheit“ als schutzwürdig ansieht.35 Weniger idealistisch formuliert, geht es um die „methodisch geleitete 26 Vgl Rengeling/Szczekalla GR, Rn 754. Gegen immanente Schutzbereichsbegrenzungen aus dt Sicht Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 146 f. 27 Vgl im Überbl und zum Verhältnis der Kunstfreiheit zu den Grundfreiheiten Geißler Staatliche Kunstförderung nach Grundgesetz und Recht der EG, 1995, S 189 ff; Haratsch (Fn 6) Rn 22 ff. 28 Vgl EuGH, Slg 1968, 634, 642 – Kommission/Italien. 29 Vgl EuGH, Slg 1979, 35 ff – Ministère Public u ASBL; Slg 1993, I-2239 ff – Fedicine. 30 Vgl EuGH, Slg 1985, 1819, Rn 3, 14 f – Steinhauser. 31 Vgl EuGH, Slg 1993, I-5145, Rn 27 f – Phil Collins; Slg 2002, I-5089, Rn 31 – Land Hessen; Slg 2003, I-2921 ff – Hoffmann; Slg 2003, I-12489 ff – RTL Television GmbH. S dazu etwa Rengeling/Szczekalla GR, Rn 755 f. 32 Vgl Häberle (Fn 4) S 70, und Ruffert VVDStRL 65 (2006), 146, 165 ff („Wissenschaft als Lebensform“). 33 Vgl etwa E. R. Huber Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd 1, 1957, 285 ff; sowie im Hinblick auf die Wissenschaftsfreiheit im Unionsrecht Mann (Fn 2) Rn 3 f. 34 BVerfGE 35, 79, 113 – Hochschulurteil. Zur dt Wissenschaftsfreiheit etwa Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 57 ff, 94 (zur Einheit von Forschung und Lehre); in rechtsvergleichender Perspektive Groß (Fn 1) S 37 ff. 35 BVerfGE 35, 79, 113 – Hochschulurteil. Wie hier Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 12. Im Hinblick auf das dt Recht Classen Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994, 72 ff; Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 60 ff, 71 ff; Ruffert VVDStRL 65 (2006), 146, 152 ff; Schulte VVDStRL 65 (2006), 110, 111 f.

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Generierung neuen Wissens“.36 Erfasst wird auch die Forschung abseits des main stream.37 Zudem kommt es nicht darauf an, ob die Forscher in staatlichen oder staatlich anerkannten Einrichtungen tätig sind. Vielmehr sind auch rein private Forschungsaktivitäten (etwa wissenschaftliche Nebentätigkeiten von Anwälten und Ärzten) und Forschungsarbeiten in Unternehmen geschützt, soweit die dort Tätigen über hinreichende wissenschaftliche Unabhängigkeit verfügen.38 Die wissenschaftliche Lehre ist Teil der nach Art 13 S 2 GRCh zu achtenden „akademischen Freiheit“. Dieser Begriff verweist – in Abgrenzung von der in Art 14 GRCh geregelten „Ausbildung“ (Rn 17) – auf die in wissenschaftlichen Hochschulen („Akademien“) institutionalisierten Erscheinungsformen der Lehre.39 Daraus kann man freilich nicht den Schluss ziehen, dass sich die grundrechtlich geschützte Lehre darauf beschränkt. Wie bei der Forschungsfreiheit kommt es nicht darauf an, ob die wissenschaftlich Lehrenden in staatlichen oder staatlich anerkannten Einrichtungen agieren. Es werden auch rein private Aktivitäten erfasst. Zur grundrechtlich geschützten Lehre gehört in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG jede wissenschaftlich fundierte Übermittlung der durch die Forschung gewonnenen Erkenntnisse.40 Alle, die eigenverantwortlich in wissenschaftlicher Weise tätig sind oder tätig werden wollen, können sich umfassend auf die in Art 13 GRCh gewährleistete Wissenschaftsfreiheit berufen. Der in Art 13 S 2 GRCh verwandte Begriff „akademische Freiheit“ macht weiter deutlich, dass sich die Wissenschaftsfreiheit als Doppelgrundrecht darstellt.41 Geschützt werden nicht nur Forschungs- und Lehrtätigkeiten einzelner Wissenschaftler, sondern auch die – öffentlichen oder privaten – Wissenschaftseinrichtungen als Institutionen. Dem entspricht, dass die Autonomie wissenschaftlicher Hochschulen in vielen Mitgliedstaaten üblich ist.42 In der Rs Kley, in der es um einen Beamten der Europäischen Atomgemeinschaft ging, der als habilitierter Diplomphysiker auf dem Gebiet der Neutronenforschung am Forschungsinstitut Ispra in Italien arbeitete (Rn 5, 15, Fall 2), hat der Generalanwalt Trabucchi die „besonderen Erfordernisse für die Arbeit einer Forschungsanstalt“ hervorgehoben und verlangt, dass „sowohl die Beachtung der Rechte des Einzelnen als auch die erforderliche Eigenständigkeit des Organs sichergestellt werden“.43 Der EuGH ging auf die damit aufgeworfenen Fragen zum Ausmaß der Wissenschaftsfreiheit allerdings nicht ein.

36 So Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 GRCh, Rn 6. 37 Vgl hierzu und zu den Grenzen BVerfGE 90, 1, 13 ff – „Wahrheit für Deutschland – Die Schuldfrage des Zweiten Weltkrieges“. 38 S nur Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 12. Z dt Recht Classen (Fn 35); Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 135 f; Ruffert VVDStRL 65 (2006), 146, 179. Krit Kleindiek Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft, 1998, 261 ff. 39 Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 13. 40 Vgl BVerfGE 35, 79, 112 f – Hochschulurteil; E 95, 193, 209 f – Hochschullehrer der DDR. Aus dt Sicht etwa Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 83 ff. 41 Dies war bislang nicht ganz zweifelsfrei. Vgl Classen WissR 28 (1995), 97, 99 f; Fink EuGRZ 2001, 193 ff; Hailbronner/Weber WissR 30 (1997), 298, 318; Trute/Groß WissR 27 (1994), 203, 236 f. Für eine institutionelle Autonomie nach ausf Länderberichten Groß (Fn 1) S 175. 42 So Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 13. Zur verfassungsrechtlichen „institutionellen Gewährleistung“ der Universitäten in Deutschland etwa BVerfGE 15, 256, 262 ff – Universität Gießen; E 35, 79, 114 ff – Hochschulurteil; sowie Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 29 ff. In rechtsvergleichender Perspektive Groß (Fn 1) S 40 ff. 43 EuGH, Slg 1973, 679, 693 – Kley. Dazu etwa Groß (Fn 1) S 173 ff; Mann (Fn 2) Rn 57 f.

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bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Allgemein muss festgestellt werden, dass der Luxemburger Gerichtshof in Rechtssachen mit einem wissenschaftsrelevanten Sachverhalt das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit – anders als die Generalanwaltschaft – nicht heranzieht.44 Dass das Diskriminierungsverbot iVm dem Recht auf Freizügigkeit einen Anspruch darauf vermittelt, beim Zugang zu wissenschaftlichen Hochschulen nicht wegen der Staatsangehörigkeit benachteiligt zu werden, hat der EuGH mehrfach betont. Dabei geht es in grundrechtlicher Perspektive allerdings regelmäßig nicht um die Wissenschaftsfreiheit der Studierwilligen, sondern um den nunmehr in Art 14 GRCh gewährleisteten Zugang zur Ausbildung (Rn 17). Die Wissenschaftsfreiheit ist nur dann einschlägig, wenn Forschungsaktivitäten – wie bei Promotionsstudiengängen oder im Rahmen einer Habilitation – im Vordergrund stehen. Dann können die Erkenntnisse des EuGH zum Zugang zu universitären Bildungseinrichtungen auf die Forschungsfreiheit des wissenschaftlichen Nachwuchses übertragen werden. Ob die Freiheit der Wissenschaft durch die ausdrückliche Gewährleistung in Art 13 GRCh in Zukunft eine größere eigenständige Bedeutung erhalten wird, bleibt abzuwarten. Immerhin sieht sich die Forschungsfreiheit vor allem im Umwelt-, Gesundheits- und Technikrecht der Union vielfältigen Regulierungen ausgesetzt.45

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2. Beeinträchtigungen der Schutzbereiche Hinsichtlich der möglichen Beeinträchtigungen der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit ergeben sich keine Besonderheiten. Wie bei den anderen Kommunikationsgrundrechten (→ § 17 Rn 19, 47 ff) gilt ein weiter Eingriffsbegriff. Gem Art 51 I GRCh schützen die Freiheiten vor jeglichen Beeinträchtigungen, die von Organen und Einrichtungen der Union sowie von den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts (→ § 17 Rn 2) ausgehen. Ggf. müssen die Hoheitsträger im Rahmen ihres Kompetenzbereichs (→ § 17 Rn 3) aufgrund einer Schutzpflicht einschreiten, wenn die Freiheit der Kunst oder der Wissenschaft durch Private (die allerdings ihrerseits auch Träger der Grundrechte sein können46) beeinträchtigt werden.47 Dabei ist das Spezifische der „Ressortforschung“ in außeruniversitären staatlichen Einrichtungen und der „Industrieforschung“ zu beachten.48 Zudem muss es Besonderheiten für das Nebentätigkeitsrecht geben.49 Im Hinblick auf die Kunstfreiheit wird von einer Verpflichtung zur „Vielfaltsvorsorge“ ausgegangen.50 Diese Einschätzung kann auf die Judikatur des EuGH zur Pluralität der Medien verwei-

44 Vgl EuGH, Slg 1973, 679 ff – Kley; Slg 1974, 791 ff – Guillot; Slg 2002, I-5811 ff – Mehrwertsteuerpflicht; sowie dazu Groß (Fn 1) S 173 ff; Mann (Fn 2) Rn 56 ff; Fink EuGRZ 2001, 193, 197 ff. 45 Vgl zur Bedeutung des Unionsrechts für die Forschung Wagner DÖV 1999, 129 ff. 46 Vgl zur „janusköpfigen Grundrechtssituation“ aus dt Sicht Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 19. 47 Vgl Britz EuR 2004, 1, 17 f; Haratsch (Fn 6) Rn 15. Zu Fragen einer mittelbaren Drittwirkung aus dt Perspektive Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 51 ff. 48 Vgl Classen (Fn 35) S 348 ff speziell zur Ressortforschung; Kleindiek (Fn 38) S 295 ff (zur Ressortforschung), 318 ff (zur Industrieforschung). 49 Vgl im Hinblick auf das dt Recht Classen (Fn 35) S 301 ff, 353 ff. 50 S Britz EuR 2004, 1, 17 f. Zur Verpflichtung des Staates zur Kunstförderung Geißler (Fn 27) S 46 ff.

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sen (→ § 17 Rn 17 f). Die „Gewährleistungsverantwortung“ in den Bereichen der Wissenschaft und Kunst liegt freilich vor allem bei den Mitgliedstaaten.51 Einen individualrechtlichen Anspruch auf Förderung verleihen die Rechte aus Art 13 GRCh jedenfalls nicht.52 Ausdrücklich betont Art 51 II GRCh, dass die Charta keine neuen Zuständigkeiten begründet. Allerdings gelten grundrechtliche Maßstäbe, wenn Kunst (vgl Art 6 II lit c, Art 167 AEUV) und Wissenschaft (vgl Art 179 ff AEUV) gefördert werden.53 Prinzipiell gefährden Fördermaßnahmen die grundrechtlichen Freiheiten zwar nicht, sondern nutzen ihnen.54 Bei der Gestaltung des Auswahlverfahrens ist der Grundrechtsschutz aber relevant.55 Um Willkür auszuschließen, müssen die Kriterien der Auswahlentscheidung vorab festgelegt werden. Zudem muss es Regeln über die sachverständige Besetzung der Auswahlgremien geben. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass inhaltlich-organisatorische Vorgaben in europäischen Forschungsförderungsprogrammen oder auch – was der sog Bologna-Prozess zeigt – hinsichtlich der Gestaltung von Studiengängen in Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit umschlagen können.56

3. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen 12

Obwohl Art 13 S 1 GRCh apodiktisch betont, dass Kunst und Forschung „frei“ sind, lassen sich Eingriffe in die Freiheiten rechtfertigen. Legt man die als Anleitung für die Auslegung der Charta verfassten Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents zugrunde, sind gem Art 52 III GRCh die Schranken des Art 10 II EMRK, der einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt enthält (→ § 17 Rn 21 ff, 50), und die dazu ergangene Judikatur des EGMR heranzuziehen, soweit sich die Gewährleistungen in Art 13 GRCh mit den Gewährleistungen in Art 10 EMRK decken.57 Sonst gilt die allgem Schrankenregelung des Art 52 I GRCh.58 Dass die akademische Freiheit nach Art 13 S 2 GRCh lediglich zu „achten“ ist, hat nicht einen schwächeren Schutz dieser Freiheit zur Folge. Entsprechend dem

51 Grundl zur Kategorie der Gewährleistungsverantwortung Schmidt-Aßmann in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Schuppert, Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, 11, 43 f. 52 So a Jarass GRCh, Art 13 Rn 12. 53 Vgl zur Kunstfreiheit Britz EuR 2004, 1, 7 ff; 21 ff; Geißler (Fn 27) S 172 ff; Häberle (Fn 4) S 83 ff; zur Wissenschaftsfreiheit Classen WissR 28 (1995), 97, 104 ff; Mann (Fn 2) Rn 51 ff; Schulte VVDStRL 65 (2006), 110, 123 f; Trute/Groß WissR 27 (1994), 203, 236 f, 242 ff; Wagner in: FS Meusel, 1997, S 301, 322 ff. 54 Zu den Bedenken gegenüber einer staatlichen Kunstförderung Geißler (Fn 27) S 34 ff; Sommermann VVDStRL 65 (2006), 7, 10 f. 55 Vgl Lindner Die Europäisierung des Wissenschaftsrechts, 2009, S 90 ff. 56 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 GRCh, Rn 12. Zum Bologna-Prozess etwa Hendler VVDStRL 65 (2006), 238, 260 ff; Pelzer Die Kompetenzen der EG im Bereich der Forschung, 2004, S 70, 72, 77 ff; Mager VVDStRL 65 (2006), 274, S 306 ff. 57 Kritisch zu der Frage, ob Art 10 EMRK auch die Forschungstätigkeit erfasse, weil diese kein kommunikativer Akt sei Mensching in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 10 Rn 24; Kotzur in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, ER § 38 Rn 44. 58 Vgl Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 13 Rn 13; Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 286. Für eine einheitliche Schrankenregelung gem Art 51 I GRCh Haratsch (Fn 6) Rn 18; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 GRCh Rn 10 f. Für eine kumulative Anwendung von Art 51 I und III GRCh Jarass GRCh, Art 13 Rn 13.

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Schutz der Medienfreiheit (→ § 17 Rn 24) wird nur deutlich, dass insoweit die mitgliedstaatlichen Kompetenzen Vorrang haben.59 Insbesondere können Grundrechtskollisionen Beeinträchtigungen der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit rechtfertigen. Vom EGMR ist die Freiheit der künstlerischen Äußerung gem Art 10 II EMRK zum Schutz der Moral und der religiösen Überzeugungen anderer für einschränkbar gehalten worden (→ § 4 Rn 14 ff, Fall 1).60 Auch der Schutz der Ehre und der Schutz hoheitlicher Symbole können zu rechtmäßigen Einschränkungen der Kunstfreiheit führen.61 Regelungsbedürftig ist auch die Forschungsfreiheit, da die Wissenschaft Teil der heutigen „Risikogesellschaft“ ist.62 Die biomedizinische Forschung wird durch eine detaillierte Regelung in Art 3 II GRCh erfasst. Diese Normierung enthält ein Einwilligungserfordernis und verschiedene Verbote (eugenische Praktiken, Gewinnerzielung mit Teilen des menschlichen Körpers, reproduktives Klonen von Menschen).63 Auch Belange des Tierschutzes können eine Rolle spielen.64 Die Kommission hat eine „Europäische Charta für Forscher“ formuliert und als Empfehlung an die Mitgliedstaaten gerichtet.65 Der Hinweis des Präsidiums des Grundrechtekonvents auf die Menschenwürde (Rn 6) macht deutlich, dass sich aus deren Beachtung Eingriffe in die Kunst- und Wissenschaft rechtfertigen lassen.66 Insofern besteht innerhalb der Kompetenzen der Normadressaten (→ § 17 Rn 3) sogar eine ausdrückliche Schutzpflicht, da nach Art 1 S 2 GRCh die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen“ ist. Lösung Fall 1: Ermächtigungsgrundlage für das Verbot, die als „Heatballs“ deklarierten Glühlampen zu verkaufen, ist § 7 III S 2 Nr 6 EVPG. Die Norm beruht auf der Haushaltslampen-VO, einer Verordnung iSv Art 288 II AEUV, die die EU zur Energieeinsparung aus Gründen des Umweltschutzes erlassen hat und bei deren Umsetzung die EU-Mitgliedstaaten keinen Spielraum haben. Zu untersuchen ist, ob die Haushaltslampen-VO, die Normierung in § 7 III S 2 Nr. 6 EVPG und die darauf fußende Untersagungsverfügung gegen die Kunstfreiheit verstoßen. Dabei ist nicht Art 5 III 1 GG maßgeblich; denn nach der Rechtsprechung des BVerfG kommt eine Prüfung am Maßstab der deutschen Grundrechte nicht in Betracht, solange die EU einen im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.67

59 S etwa Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 16; Sparr in: Schwarze, EU-Komm, Art 13 GRCh Rn 3; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 13 GRCh Rn 5. 60 Vgl EGMR, EuGRZ 1988, 543, Rn 34 ff – Müller; Series A, Nr 295-A, Rn 46 ff – Otto-Preminger-Institut (vgl dazu ausf Grabenwarter ZaöRV 55 (1995), 128 ff). 61 Vgl Haratsch (Fn 6) Rn 19 mwN. Zum Schutz der Bundesflagge BVerfGE 81, 278 ff. 62 Vgl Kleindiek (Fn 38). Vgl a Ruffert VVDStRL 65 (2006), 146, 193 ff („Wissenschaftsfreiheit im Risikoverwaltungsrecht“). 63 Vgl zu den Problemen etwa Ruffert VVDStRL 65 (2006), 146, 196 ff. 64 Vgl etwa RL 86/609 zur Annäherung der Rechts- u Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere. S a Herrer in: Caspar/Koch, Tierschutz für Versuchstiere – Ein Widerspruch in sich?, 1998, 33 ff. Aus dt Sicht Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 177. 65 ABl 2005 Nr L 75/67. Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 179 AEUV Rn 7, Art 13 GRCh Rn 13, sieht in der konkreten Ausgestaltung allerdings einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. 66 Vgl aus dt Sicht Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 166. 67 BVerfGE 102, 147, 162 f; 118, 79, 95.

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Das GG gewährt nur noch insoweit Schutz, als der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung über einen Gestaltungsspielraum verfügt.68 Da dies hier nicht der Fall ist, kommt es allein auf die nach Art 51 I GRCh anwendbare Gewährleistung in Art 13 S 1 GRCh an. Fraglich ist allerdings, ob der Vertrieb der „Heatballs“ überhaupt in den Schutzbereich der unionsrechtlichen Kunstfreiheit fällt. Insofern hat das OVG Münster in der dem Fall zugrunde liegenden Entscheidung – allerdings zu Unrecht im Hinblick auf Art 5 III 1 GG – ausgeführt, dass weder „eine freie schöpferische Gestaltung und Eindruckvereinbarung“ noch „ein unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers“ zu erkennen sei. Dass die Produktbeschreibung satirische Elemente aufweise, mache die Aktion selbst noch nicht zur Kunst. Selbst wenn man dem nicht folgt, wird die E nicht in ihrer Kunstfreiheit verletzt; denn die Freiheit der Kunst wird durch Art 13 S 1 GRCh nicht schrankenlos geschützt. Nach Einschätzung des Präsidiums des Grundrechtekonvents kann die Kunstfreiheit gem Art 52 III GRCh den Einschränkungen unterworfen werden, die sich für die Meinungsfreiheit aus Art 10 II EMRK ergeben, der ausdrücklich ua auf den Umweltschutz verweist (→ Rn 1). Wenn man das anders sieht, ergibt sich die Grundrechtsschranke aus Art 53 I GRCh, der Grundrechtseinschränkungen zu legitimen Zwecken unter den Voraussetzungen des Übermaßverbotes erlaubt. Nach beiden Auffassungen wäre die Beeinträchtigung der Kunstfreiheit gerechtfertigt. Die Haushaltslampen-VO ist zum Umweltschutz in der EU geeignet und erforderlich. Da dem Umweltschutz ein besonderes Gewicht zukommt, steht der Nachteil der E auch nicht außer Verhältnis zu den von der EU verfolgten Zielen.

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Lösung Fall 2: In der Fall 2 zugrunde liegenden Rs Kley hat der EuGH den Sachverhalt allein nach den Normen des Beamtenstatuts beurteilt und die Klage abgewiesen. Zu Recht wurde vom GA Trabucchi im Schlussantrag allerdings auch auf die Bedeutung der Wissenschaftsfreiheit hingewiesen. Aus heutiger Sicht wäre Art 13 GRCh einschlägig, da die Forschungsstelle Ispra iSd Art 51 I GRCh eine „Einrichtung“ der Union ist. Die veränderte Aufgabenzuweisung beeinträchtigt die Wissenschaftsfreiheit des K. Zu Recht machte der GA aber deutlich, dass sich aus den „praktischen und funktionellen Erfordernissen“ der EURATOM „zwangsläufig Einschränkungen für die Freiheit der wissenschaftlichen Beamten in der Wahl ihrer jeweiligen Tätigkeit und für das Interesse ihrer persönlichen Forschungen ergeben müssen. Ihre Arbeitsstätten sind keine Akademien und haben auch nicht die reine Forschung zum Gegenstand, wie es vielleicht in einem Universitätslaboratorium denkbar ist“. Vor diesem Hintergrund wurde die Wissenschaftsfreiheit des K nicht verletzt.

III. Recht auf Bildung (Art 14 GRCh) Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1974, 773 ff – Casagrande; Slg 1983, 2324 ff – Forcheri; Slg 1985, 593 ff – Gravier; Slg 1988, 379 ff – Blaizot; Slg 1988, 3161 ff – Lair; Slg 1988, 3205 ff – Brown; Slg 1988, 5365 ff – Humbel; Slg 1989, I-723 ff – Echternach u Moritz; Slg 1989, I-1425 ff – ERASMUS = JK 90, VEWG Art128/1; Slg 1989, I-1615 ff – Petra-Programm; Slg 1991, I-2757 ff – Comett II; Slg 2007, I-9161 ff – Morgan = JK 2008, EGV Art 18/2; Slg 2010, I-2735 ff – Bressol. Schrifttum: Bannwart-Maurer Das Recht auf Bildung und das Elternrecht. Art 2 des ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1975; Caspar Die EU-Charta der Grundrechte und das Bildungsrecht, RdJB 2001, 165 ff; Ennuschat Organisation der öffentlichen Schule. Trägerschaft, Rechtsform, Alternativmodelle, Die Verwaltung 2012, 331 ff; Glaser Die Studierfreiheit,

68 BVerfGE 121, 1, 15; 125, 260, 306 f.

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Der Staat 2008, 213 ff; Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007; Ruhs Zugang zur Bildung und Gleichbehandlung – der EuGH als Motor der Europäischen Bildungspolitik, ÖJZ 2002, 281.

Fall 3: (gelehnt an EuGH, Slg 2010, I-2735 ff – Bressol) Der Franzose B will im frankophonen Teil Belgiens Medizin studieren. Dort wurde aber, um den Zustrom französischer Studenten in medizinischen Bachelor-Studiengänge zu begrenzen, ein Dekret erlassen, wonach an nicht in Belgien ansässige Studenten höchstens 30 % der Studienplätze vergeben werden dürfen. Infolge dieser Quotierung wurde B der Zugang zu dem begehrten Studienplatz verwehrt. Dagegen beschritt er den Rechtsweg. Der belgische Verfassungsgerichtshof hatte Zweifel, ob das Dekret mit dem Unionsrecht vereinbar ist, und rief im Vorlageverfahren gem Art 267 III AEUV den EuGH an.

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1. Schutzbereiche a) Zugang zu Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungseinrichtungen (Art 14 I und II GRCh) aa) Schutz in der Grundrechtecharta Art 14 I GRCh gewährt ein Teilhaberecht auf diskriminierungsfreien Zugang zu Bildungs-, Aus- und Weiterbildungseinrichtungen. Zudem besteht das Recht auf eine freie Wahl zwischen verschiedenen Bildungsarten.69 Der Begriff der „Bildung“ umfasst – in Abgrenzung zu beruflicher Aus- und Weiterbildung – nur den allgemeinen schulischen Unterricht.70 Erfasst wird der Zugang zu Vor-, Primar- und Sekundarschulen.71 Bei der „Ausbildung“ geht es demgegenüber um das, was auf eine berufliche Tätigkeit iSv Art 15 GRCh vorbereitet.72 Dazu gehört nicht nur die Ausbildung im Betrieb und in der Berufsschule („duales System“), sondern auch die universitäre (Grund-)Ausbildung etwa in Bachelorund Master-Studiengängen, in denen die Studierenden – entgegen dem Humboldt’schen Ideal73 – kaum forschen.74 Anderes gilt für Promotionsstudenten. Weil hier die Forschung im Vordergrund steht, hat die Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit in Art 13 GRCh Vorrang (Rn 9). Der Begriff „Weiterbildung“ umfasst Schulungen im Rahmen der Berufstätigkeit und die Umschulung auf einen anderen Beruf.75 Es wird dem Umstand Rechnung getragen, dass „lebenslanges Lernen“ ein Gebot unserer Zeit ist. Neben den Akti-

69 Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 13. 70 Glaser Der Staat 2008, 213, 234; Jarass GRCh, Art 14 Rn 6; Kingreen in: Calliess/Ruffert, GRCh, Art 14 Rn 3. 71 AA Günther (Fn 11) S 142, der die Schulen des Sekundarbereichs der beruflichen Ausbildung zurechnet. 72 Vgl Günther (Fn 11) S 215; Jarass GRCh, Art 14 Rn 7; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 4. 73 Vgl Wilhelm v Humboldt Ueber die mit dem Koenigsberger Schulwesen vorzunehmende Reformen,1809, in: Flitner/Giel, Wilhelm von Humboldt – Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, Bd 4, 6 Aufl 2002, S 170: „Darum ist auch der Universitätslehrer nicht mehr Lehrer, der Studirende (sic!) nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst, und der Professor leitet seine Forschung und unterstützt ihn darin.“ 74 Vgl – allerdings ohne Differenzierung hinsichtlich der Art der universitären Studien – Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 14 Rn 9; Glaser Der Staat 2008, 213, 234. 75 Jarass GRCh, Art 14 Rn 7; Kingreen in: Calliess/Ruffert, GRCh, Art 14 Rn 4.

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vitäten des Zugangs zu Bildungseinrichtungen sind auch die Tätigkeiten der Bildungseinrichtungen selbst geschützt, um die Aushöhlung des Zugangsrechts zu verhindern.76 Es liegt wieder ein Doppelgrundrecht vor. Ob Art 14 I GRCh nicht nur ein Teilhaberecht, sondern auch ein Leistungsrecht begründet, auf dessen Grundlage staatliche Leistungen – wie etwa die Schaffung weiterer Bildungsstätten – verlangt werden können, ist umstritten. Für berufliche Bildungseinrichtungen ist die Frage zu verneinen, da ausdrücklich nur der „Zugang“ zur Aus- und Weiterbildung garantiert wird.77 Für den Schulunterricht legt der Wortlaut der Norm eine Auslegung als Leistungsrecht nahe; denn Art 14 I spricht umfassend von einem „Recht auf Bildung“.78 Daraus ergibt sich die Pflicht der Mitgliedstaaten, schulische Bildungseinrichtungen in ausreichendem Umfang vorzuhalten.79 Bei der Ausgestaltung des eigenen Bildungssystems ist den Mitgliedstaaten jedoch erheblicher Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Nur ein erheblicher Rückschritt hinter den bereits vorhandenen Standard verstieße gegen die Charta.80 Eng mit dem in Art 14 I GRCh normierten Recht auf schulische Bildung verbunden ist Art 14 II GRCh, der einen unentgeltlichen Pflichtschulunterricht garantiert. Es wird das in Art 21 GRCh verankerte Diskriminierungsverbot konkretisiert. Verhindert werden soll, dass Kinder und Jugendliche aus sozio-ökonomischen Gründen im Bildungsbereich benachteiligt werden.81 Gewährleistet wird allerdings nicht, dass auch das Unterrichtsmaterial kostenfrei zur Verfügung gestellt wird, solange alle diejenigen, die an dem Pflichtschulunterricht teilnehmen wollen, dies auch können.82 Zudem steht die Gewährleistung einem Schulgeld für Privatschulen nicht entgegen, auch wenn die Einrichtungen als „Ersatzschulen“ Pflichtunterricht anbieten.83 Obwohl Art 14 II GRCh in den Erläuterungen des Präsidiums rechtlich bloß als „Grundsatz“ iSv Art 52 V GRCh qualifiziert wird, liegt ein Grundrecht vor.84 In den Erläuterungen des Präsidiums heißt es dazu, der „Grundsatz“ besage lediglich, „dass in Bezug auf den Pflichtschulunterricht jedes Kind die Möglichkeit haben müsse, eine schulische Einrichtung zu besuchen, die unentgeltlichen Unterricht erteilt.“85 Dass der Union daraus keine neuen Komptenzen erwachsen, ergibt sich bereits aus Art 51 II GRCh. Grundrechtsträger sind alle Bildungswilligen ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit („jede Person“). Ob neben den Schulkindern auch deren Eltern legitimiert sind, wird

76 Jarass GRCh, Art 14 Rn 8. 77 Günther (Fn 11) S 227; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 5. 78 Günther (Fn 11) S 202; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 5; Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 39 Rn 38. 79 Für ein entsprechendes Leistungsrecht Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 1, 13; Jarass GRCh, Art 14 Rn 3; dag Caspar RdJB 2001, 165, 168; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 6. 80 Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 13; anders Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 6. 81 S Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 14. 82 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 3. 83 Dies wird in Erläuterung Nr 1 Abs 2 zu Art 14 GRCh des Präsidiums des Konvents CONV 828/1/03 REV 1 v 18.7.2003, S 17 ausdrücklich hervorgehoben. 84 Ebenso etwa Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 3; Jarass GRCh, Art 14 Rn 3. 85 Erläuterung Nr 1 Abs 2 zu Art 14 GRCh des Präsidiums des Konvents CONV 828/1/03 REV 1 v 18.7.2003, S 17.

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bezweifelt.86 Das in Art 14 III GRCh gewährleistete Elternrecht spricht allerdings dafür. Jedenfalls können die Sorgeberechtigten – wenn nötig – die Rechte der Kinder prozessual geltend machen.87 Grundrechtsadressaten sind nach Art 51 I GRCh die Organe und Einrichtungen der Union – etwa auch die „Europäischen Schulen“ oder das „Europäische Hochschulinstitut“ in Florenz88 – und die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts (Rn 3). Keine Bindung an Art 14 GRCh besteht, wenn die Mitgliedstaaten außerhalb des Unionrechts rein innerstaatliche Regelungen treffen. An private Bildungseinrichtungen richtet sich Art 14 I und II GRCh nicht.89 Ihnen gegenüber kann es jedoch über eine chartakonforme Auslegung der Privatrechtsvorschriften zu einer mittelbaren Drittwirkung der grundrechtlichen Gewährleistung kommen.90 Aus willkürlichen Gründen darf auch der Zugang zu privaten Bildungseinrichtungen nicht verwehrt werden. Im Übrigen ist aufgrund der Schutzpflicht auch zu verhindern, dass Eltern selbst die Bildungsrechte ihrer Kinder vereiteln (Rn 29).91 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Das Unionsrecht belässt gem Art 165 I und 166 I AEUV den Mitgliedstaaten die Zuständigkeit zur Ausgestaltung ihrer Bildungssysteme. Dass sie dabei die Grundfreiheit der Freizügigkeit und die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote zu beachten haben, hat der EuGH vielfach hervorgehoben.92 Das nunmehr ausdrücklich in Art 14 I GRCh verankerte Grundrecht auf Zugang zu Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungseinrichtungen wird durch die Rechtsprechung verstärkt. Schon im Jahr 1974 entschied der Gerichtshof in der Rs Casagrande, dass der (sekundärrechtlich normierte) Anspruch von Kindern von Wanderarbeitnehmern, diskriminierungsfrei am Schulunterricht des Gastlandes teilzunehmen, sich auch auf Ausbildungsförderungsmaßnahmen erstreckt, obwohl der Gemeinschaft keine Zuständigkeit für die Bildungspolitik zukommt.93 In der Rs Forcheri wurde betont, dass der Zugang zu Bildungsveranstaltungen, die der Berufsausbildung dienen, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.94 Dass auch Hochschulstudiengänge trotz ihrer akademischen Ausrichtung zur „beruflichen Bildung“ (Art 166 AEUV, früher: Art 128 EWGV, dann Art 150 EGV-Nizza) gehören, stellte der Gerichtshof in der Rs Blaizot klar.95 Dies muss auch für die grundrechtliche Verbürung in Art 14 I

86 Gegen einen eigenständigen Schutz der Eltern aus Art 14 I, II GRCh Jarass GRCh, Art 14 Rn 9; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 6. Dafür Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 17. 87 Jarass GRCh, Art 14 Rn 9. 88 Vgl Caspar RdJB 2001, 165, 179. 89 Jarass GRCh, Art 14 Rn 4; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 8. 90 Caspar RdJB 2001, 165, 168 f; Jarass GRCh, Art 14 Rn 4. 91 Vgl Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 17, 20; Caspar RdJB 2001, 165, 173. 92 Zuletzt EuGH, Slg 2010, I-2735, Rn 28 – Bressol; s a Glaser Der Staat 2008, 213, 234 ff; Sasse VerwArch 104 (2013), 237, 254 ff. Zur Entwicklung der Bildungskompetenzen der Union und zur Rolle des EuGH als Motor europäischer Bildungspolitik Ruhs ÖJZ 2002, 281 ff. 93 EuGH, Slg 1974, 773, Rn 6 – Casagrande; in seinen Urteilen Slg 1988, 3161 ff – Lair u Slg 1988, 3205 ff – Brown nahm der EuGH dies a für die Studienförderung an. 94 EuGH, Slg 1983, 2324, Rn 17 f – Forcheri. 95 EuGH, Slg 1988, 379, Rn 20 – Blaizot. Diese Rechtsprechung bestätigte der Gerichtshof a in den Urteilen Slg 1988, 3161 ff – Lair; Slg 1988, 3205 ff – Brown.

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GRCh gelten (Rn 17). In der Rs Echternach und Moritz machte der EuGH deutlich, dass sich das Diskriminierungsverbot auf „jede Form von Unterricht sowohl berufs- als auch allgemeinbildender Art“ erstreckt.96 In vielen Fällen ging es um den Zugang zu wissenschaftlichen Hochschulen. Dass es auch insofern nicht zu Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit kommen darf, ließ sich bereits der Entscheidung in der Rs Gravier aus dem Jahr 1985 entnehmen. Der EuGH stellte fest, dass eine Französin, die in Belgien ein Kunststudium absolvieren wollte und dafür Studiengebühren zahlen sollte, nicht schlechter gestellt werden durfte als belgische Studierende, die keine Studiengebühren zu zahlen hatten.97 In ähnlich gelagerten Fällen sah der EuGH in Zulassungsvoraussetzungen einen Verstoß gegen das allgem Diskriminierungsverbot. So wurde in Österreich von Bewerbern, die ihren Sekundarschulabschluss in einem anderen Mitgliedstaat erworben hatten, gefordert, dass sie auch die dortigen Zulassungsvoraussetzungen für den Studiengang erfüllen. Der EuGH erklärte, dass diese zusätzliche Bewerbungsvoraussetzung Interessenten aus anderen Mitgliedstaaten mittelbar gegenüber österreichischen Bewerbern diskriminiere, die lediglich die allgem Hochschulreife nachweisen müssen.98 Schließlich betonte der EuGH in der Rs Bressol, dass das Diskriminierungsverbot und das Recht auf Freizügkeit einer an den Wohnort anknüpfenden Zulassungsbeschränkungsregelung zu Medizinstudiengängen entgegenstehen kann (Rn 16, 30, Fall 3).99 In der Rs Morgan beschäftigte sich der Gerichtshof mit den früheren deutschen BAföG-Bestimmungen zur Ausbildungsföderung im Ausland. Nach dem damaligen Recht kam eine Unterstützung nur in Betracht, wenn die Ausbildung im Ausland die Fortsetzung einer mindestens einjährigen Ausbildung im Herkunftsstaat war. Der EuGH entschied 2007, dass diese Freizügigkeitsbeschränkung nicht durch das an sich legitime Ziel der Integration des Empfängers der Ausbildungsbeihilfen in die Gesellschaft des fördernden Staates gerechtfertigt sei, da zur Erreichung dieses Zieles mildere Mittel zur Verfügung stünden.100 Im Übrigen hat der EuGH mehrfach bestätigt, dass die Union Maßnahmen zur Förderung einer gemeinsamen Bildungspolitik (vgl heute Art 166 AEUV) – wie etwas das ERASMUS-Programm für Studierende oder das PETRA-Programm für die Berufsbildung – durchführen darf.101 b) Freiheit zur Gründung privater Lehranstalten

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Art 14 III HS 1 GRCh gewährleistet als lex specialis zur allgemeinen „unternehmerischen Freiheit“ in Art 16 GRCh und ergänzend zur grenzüberschreitenden Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (Art 49 und 56 AEUV) das Recht zur Gründung privater „Lehran96 EuGH, Slg 1989, I-723, Rn 29 – Echternach u Moritz. 97 EuGH, Slg 1985, 593, Rn 26 – Gravier. Vgl zur Arbeitnehmerfreizügigkeit a EuGH, Slg 1974, 773 ff – Casagrande; Slg 1989, 1591 ff – Allué ua; Slg 1993, I-4309 ff – Allué ua; Slg 1993, I-5185 ff – Spotti; Slg 2002, I-1049 ff – Land NRW; Slg 2007, 99 ff – Lyyski; vgl zur Dienstleistungsfreiheit EuGH, Slg 2007, 12231 ff – Jundt. Aus der Lit s etwa Fink EuGRZ 2001, 193, 192 ff; Hailbronner/Weber WissR 30 (1997), 298, 309 ff; Weberling WissR 24 (1991), 123, 126 ff. 98 EuGH, Slg 2005, 5969, Rn 41 ff – Kommission/Österreich = JK 2006, EGV Art 12 I, Art 149/3. Vgl zu Belgien Slg 2004, 6427, Rn 31 – Kommission/Belgien. 99 EuGH, Slg 2010, I-2735 ff – Bressol. 100 EuGH, Slg 2007, I-9161 ff – Morgan = JK 2008, EGV Art 18/2. 101 EuGH, Slg 1989, I-1425, Rn 21, 24 – Erasmus = JK 90, VEWG Art 128/1; Slg 1989, I-1615 ff – Petra; Slg 1991, I-2757 ff – Comett II.

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stalten“.102 Zwar ist diese Freiheit in Art 2 1. ZP EMRK nicht normiert, die Gewährleistung wird jedoch verbreitet aus dem dort verbürgten Recht auf Bildung abgeleitet.103 Art 14 III HS 1 GRCh schützt über seinen Wortlaut hinaus auch den Betrieb der Lehranstalten, da die Privatschulfreiheit sonst ein nudum ius werden könnte.104 Ob die Vorschrift nur Privatschulen betrifft oder auch private Hochschulen umfasst, lässt sich den Erläuterungen des Präsidiums nicht entnehmen. Der systematische Zusammenhang mit der von Art 14 I GRCh geschützten „beruflichen Ausbildung“, die auch die Hochschulebene erfasst (Rn 9, 17), spricht dafür, auch private Hochschulen als „Lehranstalten“ iSd Art 14 III HS 1 GRCh anzusehen.105 Wenn man dem nicht folgt, ergibt sich der Schutz für die Gründung und den Betrieb privater Hochschulen aus der Anerkennung der unternehmerischen Freiheit in Art 16 GRCh.106 Sofern es sich um wissenschaftliche Hochschulen handelt, ist zudem die Wissenschaftsfreiheit einschlägig, die sich – wie gesehen (Rn 8) – nicht auf staatliche Institutionen beschränkt. c) Erziehungs- und unterrichtsbezogenes Elternrecht Art 14 III HS 2 GRCh garantiert – Art 2 S 2 1. ZP EMRK folgend – das Recht der Eltern, „die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen“. Nach dem EGMR, dessen Entscheidungen gem Art 51 III GRCh auch für die Auslegung von Art 14 III HS 2 GRCh Bedeutungen haben, umfasst die „Erziehung“ den gesamten Prozess, „durch den in einer Gesellschaft die Erwachsenen ihre Überzeugungen, Kultur und andere Werte an die Jugend weiterzugeben sich bemühen“, während der „Unterricht“ sich „auf die Vermittlung von Wissen und auf die geistige Entfaltung bezieht“.107 Das in Art 14 III HS 2 GRCh garantierte Elternrecht ist allerdings mit Blick auf die in Art 24 GRCh normierten Rechte des Kindes auszulegen und tritt mit zunehmendem Alter des Kindes zugunsten des eigenen Selbstbestimmungsrechts zurück.108 Folglich wird die Grundrechtsgewährleistung zugunsten der Eltern vornehmlich im Bereich der Schulbildung relevant. Zudem darf die Ausübung des Elternrechts dem in Art 14 I GRCh verankerten Recht des Kindes auf Bildung nicht widersprechen (Rn 19).109 Art 14 III HS 2 GRCh gewährt den Eltern ausdrücklich nicht nur ein außerschulisches Erziehungsrecht, sondern auch ein unterrichtsbezogenes Recht hinsichtlich ihrer religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen. Insoweit ist die Vorschrift lex specialis zu den

102 Erläuterung Nr 2 zu Art 14 GRCh des Präsidiums des Konvents CONV 828/1/03 REV 1 v 18.7.2003, S 17. 103 Ennuschat Die Verwaltung 2012, 331, 335; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 22 Rn 92 mwN. AA Bannwart-Maurer (Fn 10) S 124, die von der Zulässigkeit eines staatlichen Schulmonopols ausgeht. 104 Vgl Jarass GRCh, Art 14 Rn 21; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 12. 105 Für ein weites Begriffsverständnis Günther (Fn 11) S 257; für eine Begrenzung auf Schulen Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 19 iVm Fn 293. 106 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 11. 107 EGMR, E 2, 53, 58 Rn 32 – Campbell u Cosans. 108 Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 20; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 15. 109 Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 20.

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in Art 10 GRCh gewährleisteten Freiheiten.110 Der Begriff der „weltanschaulichen Überzeugung“ umfasst nach der Rechtsprechung des EGMR jede Einstellung, die „in einer demokratischen Gesellschaft Achtung verdient“ und ein „gewisses Maß an Verbindlichkeit, Ernsthaftigkeit und Schlüssigkeit“ aufweist.111 Auch hat der EGMR klargestellt, dass die Überzeugungen der Eltern im gesamten Unterricht – also nicht nur im Religions-, sondern etwa auch im Sexualkundeunterricht als Teil der naturwissenschaftlichen schulischen Ausbildung – zu achten sind.112

2. Beeinträchtigungen der Schutzbereiche 25

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Hinsichtlich der möglichen Beeinträchtigungen der Rechte aus Art 14 GRCh gibt es wieder keine Besonderheiten. Es gilt ein weiter Eingriffsbegriff. Das von Art 14 I GRCh gewährleistete Recht auf Bildung wird beeinträchtigt, wenn einem Grundrechtsträger der Zugang zu den in den Schutzbereich fallenden und von Grundrechtsadressaten nach Art 51 I GRCh unterhaltenen Bildungseinrichtungen verwehrt wird.113 Allerdings darf der Zugang von diskriminierungsfreien Kriterien wie der persönlichen und fachlichen Eignung und entsprechenden Qualifikationen abhängig gemacht werden.114 Auch einschneidende Disziplinar- und pädagogische Maßnahmen – wie etwa der zeitweilige oder endgültige Ausschluss vom Unterricht115, die Entscheidung über die Nichtversetzung in die nächste Klasse oder die Überweisung behinderter Schüler in Sonderschulen mit speziellen pädagogischen Betreuungsmöglichkeiten – stellen Beeinträchtigungen des Rechts auf Bildung dar, die jedoch gerechtfertigt sein können.116 Zudem wird in das Grundrecht auf Bildung eingegriffen, wenn absolvierte Studien nicht anerkannt werden.117 Schließlich kann nach hier vertretener Auffassung auch die Nichtgewährleistung ausreichender unentgeltlicher Pflichtschulunterrichtsplätze eine Beeinträchtigung des Grundrechts aus Art 14 II GRCh bedeuten (Rn 18). Allerdings verfügt die Union insofern über keine einschlägigen Rechtsetzungskompetenzen, so dass die Vorschrift allenfalls in Zukunft praktisch anwendbar werden könnte. Beeinträchtigungen der in Art 14 III gewährleisteten Rechte durch Organe der Union oder die Mitgliedstaaten beim Vollzug von Unionsrecht sind nach der derzeitigen Kompetenzverteilung schwer vorstellbar.118 Die in Art 14 III HS 1 GRCh garantierte Freiheit zur Gründung privater Lehranstalten kann durch Verbote oder Beschränkungen beeinträchtigt werden.119 Insbesondere wäre ein staatliches Schulmonopol als Eingriff zu werten. Das Unterlassen staatlicher Förderung von Privatschulen stellt demgegenüber keinen Eingriff dar, da sich aus der Privatschulfreiheit kein Anspruch auf finanzielle Unterstützung ablei-

110 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 15. 111 EGMR, E 2, 53, 60 Rn 36 – Campbell u Cosans; RJD 1996-VI, 2312 ff Rn 25 – Valsamis. 112 EGMR, NVwZ 2008, 1217, 1218 Rn 84 – Folgerø ua; E 1, 203 ff – Kjeldsen, Busk Madsen u Pedersen. 113 Günther (Fn 11) S 202; Jarass GRCh, Art 14 Rn 10. 114 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 7. 115 Hierzu etwa EGMR, NVwZ 2006, 1389 – Sahin; E 2, 53, 63 Rn 41 – Campbell u Cosans. 116 Vgl Günther (Fn 11) S 202 ff; zu Art 2 1. ZP EMRK Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 ZP I Rn 17. 117 EGMR, E 1, 31 ff – Belgischer Sprachenfall; Jarass GRCh, Art 14 Rn 14. 118 Vgl Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 39 Rn 45. 119 Günther (Fn 11) S 276 f, Jarass GRCh, Art 14 Rn 26.

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ten lässt.120 Mit Beeinträchtigungen des Elternrechts aus Art 2 1. ZP EMRK hat sich der EGMR mehrfach befasst. So greift ein Schulverweis aufgrund der Weigerung der Eltern, körperliche Züchtigungen als Disziplinarmaßnahmen hinzunehmen, nicht nur in das Recht auf Bildung des Kindes, sondern auch in das Erziehungsrecht der Eltern ein.121 Ferner fällt die Gestaltung des schulischen Umfelds in den Schutzbereich des Erziehungsrechts. Das Anbringen eines Kruzifxes im Klassenzimmer sah der EGMR in der Rs Lautsi ua/Italien jedoch letztlich nicht als Eingriff in die Rechte der Eltern an, da nicht davon auszugehen sei, dass die Zurschaustellung eines religiösen Symbols die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Kinder beeinflusse. Allein die subjektive Empfindung der Eltern reiche nicht aus.122 Darüber hinaus wurde vom EGMR hervorgehoben, dass die Vermittlung von Informationen religiöser oder weltanschaulicher Natur nicht als Eingriff in das unterrichtsbezogene Erziehungsrecht der Eltern zu werten ist, sofern die Informationen sachlich, kritisch und pluralistisch weitergegeben werden.123 Das Erziehungrecht gebe den Eltern nicht den Anspruch auf Befreiung ihrer Kinder von einem solchen Unterricht.124 Allerdings werde das Erziehungsrecht verletzt, wenn der Staat in seinem Unterricht eine Indoktrinierungsabsicht verfolgt.125

3. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen Die Regelungen zum Recht auf Bildung in Art 14 I und II GRCh enthalten keine ausdrücklich normierten Schranken. Soweit Art 14 GRCh über die EMRK hinaus geht – dh im Hinblick auf die berufliche Aus- und Weiterbildung und den unentgeltlichen Pflichtschulunterricht (Rn 2) – gilt die allgemeine Schrankenregelung des Art 52 I GRCh.126 Hinsichtlich des Rechts auf Schulbildung sind über Art 52 III GRCh die bei Art 2 S 1 1. ZP EMRK anerkannten Schranken heranzuziehen.127 Zwar ist das Recht auf Schulbildung auch im 1. Zusatzprotokoll zur EMRK dem Wortlaut nach vorbehaltlos garantiert, jedoch hat der EGMR zutreffend hervorgehoben, dass das Recht „schon seiner Natur nach eine Regelung durch den Staat“ verlangt.128 Dabei bedarf es einer gesetzlichen Normierung, die ein berechtigtes Ziel verfolgt. Anders als bei Art 8 bis 11 EMRK enthält Art 2 S 1 1. ZP EMRK keine Aufzählung der Ziele, die eine Beeinträchtigung der Grundrechte rechtfertigen können. Es reicht aus, dass die verfolgten Ziele im öffentlichen Inte-

120 Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 19; Günther (Fn 11) S 276; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 8. 121 EGMR, E 2, 52, 62 ff – Campbell u Cosans. 122 EGMR, NVwZ 2011, 737, 740 Rn 66 – Lautsi = JK 2011, EMRKZusProt Art 2/2. 123 EGMR, E 1, 203, 213 Rn 53 – Kjeldsen, Busk Madsen u Pedersen; NVwZ 2008, 1217, 1218 Rn 84 – Folgerø ua. Zu Deutschland Schefold RdJB 1996, 309 ff. 124 EGMR, Urt v 11.09.2006, BeckRS 2008, 06621 – Konrad ua; NVwZ 2008, 1217, 1218 f Rn 84 – Folgerø ua; NVwZ 2010, 1353, 1354 – Appel-Irrgang ua. 125 EGMR, E 1, 203, 213 Rn 53 – Kjeldsen, Busk Madsen u Pedersen; EGMR, NVwZ 2008, 1217, 1218 Rn 84, 85 – Folgerø ua. 126 Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 16; Günther (Fn 11) S 245. 127 Günther (Fn 11) S 205. AA Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 9, der Art 52 I GRCh auf sämtliche Gewährleistungen des Art 14 GRCh anwenden will. Für eine kumulative Anwendung von Art 51 I und III GRCh Jarass GRCh, Art 14 Rn 15. 128 EGMR, E 1, 31, 36 – Belgischer Sprachenfall; zuletzt a EGMR, NVwZ 2006, 1389 Rn 154 – Sahin mwN.

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resse liegen und in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich sind.129 Die das Recht auf Bildung einschränkenden Mittel müssen verhältnismäßig sein.130 Daraus folgt, dass kein milderes Mittel zur Verfügung stehen darf und die Einschränkung im Hinblick auf den verfolgten Zweck angemessen sein muss.131 In der Rs Sahin/Türkei wurde eine Studentin von universitären Lehrverstaltungen ausgeschlossen, weil sie ein Kopftuch trug. Der EGMR betonte, dass das Recht auf Bildung zum Zwecke der Wahrung des säkularen Charakters der Universität in einem laizistischen Staat zulässigerweise eingeschränkt werden dürfe. Der Ausschluss vom Unterricht sei verhältnismäßig gewesen.132 Für die in Art 14 III HS 1 GRCh gewährleistete Freiheit zur Gründung privater Lehranstalten gilt, da es an einer Art 52 III GRCh entsprechenden Garantie in der EMRK fehlt, wieder die allgemeine Schrankenregelung des Art 52 I GRCh.133 Darüber hinaus steht die Freiheit gem Art 14 III HS 1 GRCh unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der „Achtung der demokratischen Grundsätze“ und der „einzelstaatlichen Gesetze, welche ihre Ausübung regeln“. Dabei handelt es sich nicht um Schutzbereichsbegrenzungen, sondern um zusätzliche spezifische Schrankenbestimmungen.134 Der Verweis auf die einzelstaatlichen Gesetze enthält einen Ausgestaltungs- und Regelungsvorbehalt und eröffnet den Mitgliedstaaten einen weiten Gestaltungsspielraum. Allerdings können sich aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gem Art 52 IV GRCh weitere Anforderungen für die Rechtfertigung von Eingriffen in die Privatschulfreiheit ergeben.135 Zudem müssen die einschränkenden Regelungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.136 Da das erziehungs- und unterrichtsbezogene Elternrecht aus Art 14 III HS 2 GRCh in seiner Bedeutung und Tragweite Art 2 S 2 1. ZP EMRK entspricht (Rn 2), gelten nach Art 52 III GRCh zunächst die dort anerkannten Schranken.137 In der Rechtsprechung des EGMR ist anerkannt, dass das Erziehungsrecht der Eltern mit dem eigenen Recht des Kindes auf Bildung in Einklang gebracht werden muss. Das – ohnehin vorwiegend fremdnützige138 – Elternrecht wird mit zunehmendem Alter und Reifegrad des Kindes eingeschränkt. Zudem sind nur diejenigen Überzeugungen der Eltern zu achten, die nicht im Widerspruch zu dem Recht des Kindes auf Bildung stehen (Rn 19, 24). Dementsprechend sah der EGMR das mit der Schulpflicht verbundene Verbot von Heimunterricht („home schooling“) in Deutschland mit dem Ziel der Integration der Kinder in die Gesellschaft als gerechtfertigt an.139 Zudem wurde entschieden, dass der obligatorische Ethik-Unterricht in Berlin nicht gegen das elterliche Erziehungsrecht verstößt.140 Den Mitgliedstaaten kommt ein Gestaltungsspielraum bei Festlegung und Auslegung der Regelungen des eige-

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Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 ZP I Rn 20; Günther (Fn 11) S 205 f. EGMR, E 1, 31, 49 – Belgischer Sprachenfall; NVwZ 2006, 1389 Rn 154–159 – Sahin mwN. Jarass GRCh, Art 14 Rn 16. EGMR, NVwZ 2006, 1389, 1396 Rn 158 ff – Sahin. Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 21; Jarass GRCh, Art 14 Rn 29; Kingreen in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 14; aA aber Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 39 Rn 47. Günther (Fn 11) S 291; Jarass GRCh, Art 14 Rn 31; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 76. Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 21; Günther (Fn 11) S 287 ff. Jarass GRCh, Art 14 Rn 30. Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 21; Günther (Fn 11) S 316. Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 15. EGMR, Urt v 11.09.2006, BeckRS 2008, 06621 – Konrad ua. EGMR, NVwZ 2010, 1353, 1354 – Appel-Irrgang ua.

Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung

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nen Bildungssystems zu.141 Das Elternrecht wird jedoch wegen Art 52 III GRCh nur insoweit zur Disposition der Mitgliedstaaten gestellt, als das Schutzniveau über das in Art 2 1. ZP EMRK garantierte Niveau angehoben wird. Eine Absenkung des Gewährleistungsumfangs ist nicht möglich.142 Lösung Fall 3: In der Fall 3 zugrunde liegenden Rs Bressol hat der EuGH nur geprüft, ob das belgische Dekret gegen das Freizügigkeitsrecht gem Art 21 AEUV und das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art 18 AEUV verstößt. Wenn man die großzügige Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Anwendungsbereich der GRCh zugrunde legt (Rn 3), wäre allerdings auch das nun in Art 14 I GRCh garantierte Teilhaberecht auf diskriminierungsfreien Zugang zur Universitätsausbildung zu untersuchen gewesen, da die innerstaatlichen Regelungen wegen Art 165 II AEUV, der die Förderung der Mobilität der Lernenden zum Ziel der Union erklärt, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen. Das vom EuGH Ausgeführte gilt aber auch im Hinblick auf Art 14 I GRCh. Die belgische Regelung bewirkt eine Ungleichbehandlung, da das Erfordernis der Ansässigkeit von inländischen Studieninteressierten leichter erfüllt wird als von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die typischerweise nicht in Belgien wohnen. Die mittelbare Diskriminierung könnte aber durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt sein. Zu Recht hat der EuGH festgestellt, dass dies nur dann der Fall ist, wenn das belgische Dekret geeignet ist, die Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung im Heimatstaat wurde vom Gerichtshof als legitimes Ziel anerkannt. Der Gesundheitsschutz sei ein hohes Gut und die Mitgliedstaaten hätten insofern einen besonderen Einschätzungsspielraum. Ob der Gesundheitsschutz die getroffene Regelung tatsächlich rechtfertigt, ließ der EuGH offen. Er verwies insofern auf die Zuständigkeit des nationalen Gerichts. Zu prüfen sei, ob der Schutz der öffentlichen Gesundheit wirklich durch eine etwaige Verringerung der Qualität der Ausbildung oder einen Mangel an ausgebildeten Ärzten in dem betreffenden Gebiet gefährdet wird. Zudem müsse untersucht werden, ob die Maßnahme zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung geeignet ist. Dabei sei ua an den Verbleib von Zugezogenen in dem Gebiet und an die Möglichkeit des Wegzugs von Einheimischen zu denken. Schließlich müsse die Angemessenheit der Maßnahme geprüft werden, wobei ua Alternativen zum Losverfahren in Erwägung zu ziehen seien.

141 EGMR, Urt v 11.09.2006, BeckRS 2008, 06621 – Konrad; so a EGMR Urt v 13.09.2011, 319/08, juris Rn 76 – Dojan. 142 Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 14 Rn 21; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 16.

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§ 19 Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit Matthias Ruffert Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1974, 491 ff – Nold = JK 99, EGV Art 215 II/1; Slg 1994, I-4973 ff – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 185/2, 186/2; EuZW 2013, 347, Rn 41 ff – Sky Österreich = JK 2014, AEUV Art 267/11. Schrifttum: Borrmann Der Schutz der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002; Glos Die deutsche Berufsfreiheit und die europäischen Grundfreiheiten, 2003; Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998; Rengeling Die wirtschaftsbezogenen Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, DVBl 2004, 453 ff; Sasse Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen durch die unternehmerische Freiheit gemäß Art 16 der Europäischen Grundrechtecharta, EuR 2012, 628; Schmidt Die unternehmerische Freiheit im Unionsrecht, 2010; Schwarze Der Schutz der unternehmerischen Freiheit nach Art 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, FS Stern, 2012, S 945; Schwier Der Schutz der „unternehmerischen Freiheit“ nach Artikel 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2008; Towara Das Recht auf Bildung gemäß Art 14 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: Odendahl (Hrsg) Europäische (Bildungs-)Union, 2011, S 75; Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000.

I. Schutzbereich 1. Funktion, Bedeutung und Quellen des Unionsgrundrechts der Berufsfreiheit 1

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Neben der Gewährleistung des Eigentums (→ § 26) ist das Grundrecht der Berufsfreiheit das zentrale wirtschaftliche Grundrecht.1 Nach dem vom dt Verfassungsrecht genährten Vorverständnis, das sich jedoch durchaus rechtsordnungsübergreifend fassen lässt, gewährleistet das Grundrecht jedem die Freiheit, seinen Lebensunterhalt durch eine dauerhafte Tätigkeit zu verdienen, mithin die wirtschaftliche Seite des „Strebens nach Glückseligkeit“ (pursuit of happiness) amerikanischer Herkunft. Indes lassen sich genauer Inhalt und Schranken der Gewährleistung in jeder durch Grundrechte geprägten oder beeinflussten Rechtsordnung nur unter Rückgriff auf ihre historisch gewachsene Wirtschaftsverfassung ermitteln.2 Das Schutzniveau des Grundrechts der Berufsfreiheit hängt von Sach- und Normstrukturen ab, die gleichsam im Vorfeld des Verfassungsrechts entstanden sind, was umso mehr für eine Grundrechtsordnung ohne verbindlichen, geschriebenen Grundrechtskatalog gilt. Im Unionsrecht entfaltet sich das Grundrecht der Berufsfreiheit in einem Spannungsfeld verschiedener normativer Grundentscheidungen, die sich bisweilen kaum miteinander vereinbaren lassen und eine effektive Gewährleistung des Grundrechts erschweren. Erster und wichtigster Ausgangspunkt ist das Binnenmarktziel. Grundfreiheiten und Rechtsangleichung bezwecken die Herstellung (binnen-)grenzüberschreitender Privatautonomie im gesamten Unionsgebiet, mithin die freie ökonomische Entfaltung der Wirt1 Vgl Jarass GR, § 21 Rn 2. 2 Vgl Pitschas Berufsfreiheit und Berufslenkung, 1983, S 249 ff, 253 ff; Uber Freiheit des Berufs, 1952, S 113 ff; Papier in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl 1994, § 18 Rn 5 ff und 34–36; Scholz in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar Bd II, 2009, Art 12 Rn 85–88.

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schaftssubjekte in der Union.3 Die Grundfreiheiten erreichen dies dadurch, dass sie einen grundsätzlichen Rechtfertigungszwang für solche mitgliedstaatlichen Regelungen hervorrufen, die zu einer Beschränkung grenzüberschreitender wirtschaftlicher Aktivität – Warenhandel, unselbständige Tätigkeit, Dienstleistung, Niederlassung, Kapitalfluss – führen.4 Mit Hilfe der Rechtsangleichung werden Hindernisse minimiert, die infolge der legitimen Wahrnehmung von Gemeinwohlbelangen durch mitgliedstaatliche Regelungen entstehen. Darüber hinausgehend soll die Wettbewerbspolitik Störungen der Wirtschaftsfreiheit durch private Übermacht auf dem Markt verhindern. Flankiert wird dieser Schutz grenzüberschreitender ökonomischer Betätigung schließlich durch die Währungsunion. Konsequent ist die Wirtschaftsverfassung der Union/Gemeinschaft seit dem Vertrag von Maastricht ausdrücklich dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet (Art 119 I, 120 S 2 AEUV); seit dem Vertrag von Lissabon explizit der sozialen Marktwirtschaft.5 Diese Orientierung verstärkt sich noch durch die Einbindung in die Welthandelsorganisation WTO (Art 11 I WTO-Übk), deren Ziel ebenfalls im Abbau von Handelsschranken besteht, wenn auch die einzelnen Wirtschaftssubjekte aus dem WTO-Recht (noch) keine Individualberechtigungen ableiten können. Elemente der Berufsfreiheit sind außerdem in wichtigen Menschenrechtsinstrumenten garantiert,6 und vor allem gewährleistet auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Art 15 I das Recht, einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben, sowie in Art 16 die unternehmerische Freiheit – unter Rückgriff auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten7. In ihrer Gesamtschau könnten sämtliche beschriebene Grundentscheidungen des Europarechts den idealen Nährboden für eine weitreichende Gewährleistung der Berufsfreiheit bieten. Gerade weil der Boden für die Berufsfreiheit so sicher scheint, musste sich keine der Leitentscheidungen des EuGH zum Grundrecht der Berufsfreiheit mit dem dargestellten Themenkreis befassen, sondern die überwiegende Spruchpraxis der Unions-/Gemeinschaftsgerichtsbarkeit, die auf die Berufsfreiheit Bezug nimmt, betrifft die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP).8 In ihr liegt der zweite Ausgangspunkt für den sachlich-normativen Rahmen der Gewährleistung eines Grundrechts der Berufsfreiheit im Unionsrecht. Kern der GAP sind die europäischen Marktordnungen nach Art 40 I UAbs 2 lit c AEUV. Die vollständige hoheitliche Regulierung der Agrarmärkte, wie sie diese Marktordnungen vor allem durch Preisfestsetzungen, Interventionen und die Zuteilung von Referenzmengen bewirken, sind grundsätzlich nicht verträglich mit einer übergreifenden und vorrangigen

3 Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, vor Art 30–37 EGV Rn 3. 4 S dazu Feger RdA 1987, 13, 16; Notthoff RIW 1995, 541, 544 f. 5 S nur Schliesky Öffentliches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl 2008, S 22 ff; Hatje in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 801, 809 ff; Ruffert in: ders (Hrsg) Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht, 2013, § 1 Rn 1 ff. Zur Diskussion einer Schwächung durch den Vertrag von Lissabon Kotzur in: Pernice (Hrsg) Der Vertrag von Lissabon: Reform der EU ohne Verfassung?, 2008, S 197. 6 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (GA Res 217A (III), GAOR, 3rd Sess, Part I, S 71 – Sart II Nr 19): Art 12 (Abwehrrecht gegen Eingriffe in Beruf), Art 23 Nr 1 (Recht auf Arbeit, freie Berufswahl, befriedigende Arbeitsbedingungen, Schutz vor Arbeitslosigkeit). Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNTS 993, 3 – Sart II Nr 21): Art 6 I (Recht, Lebensunterhalt durch frei gewählte Arbeit zu verdienen), Art 7 lit c (Möglichkeit beruflichen Aufstiegs). Vgl Stadler Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, 1980, S 100 ff. 7 S Tettinger NJW 2001, 1010, 1014. 8 Vgl Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, S 18.

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Gewährleistung privater wirtschaftlicher Betätigung, wie sie im Grundrecht auf Berufsfreiheit enthalten ist.9 Gleiches galt – mit Modifikationen – für die regulierten Kohle- und Stahlmärkte nach dem EGKSV.10 Dieser Systembruch hat dazu geführt, dass der EuGH bislang keine unions-/gemeinschaftsrechtliche Regelung im Rahmen der GAP wegen eines Verstoßes gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit aufgehoben hat. Namentlich im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation unterliege die Berufsfreiheit Beschränkungen.11 Die Konzentration auf das europarechtliche Sonderproblem GAP lenkt zugleich die Aufmerksamkeit von der grds Kollision zwischen Berufsfreiheit einerseits und nichtwirtschaftlichen sowie sozialen Gemeinwohlbelangen andererseits ab. Dies mindert – zu Unrecht – das Gewicht des dritten Ausgangspunktes. Als Wirtschaftsgrundrecht steht die Berufsfreiheit in einem engen Bezug zu den sozialen Gewährleistungen. Das aus der historischen Situation zu erklärende Unvermögen, soziale Fragen in der Formulierung von Menschenrechten und Grundfreiheiten aufzuarbeiten, führte nicht nur dazu, dass die Eigentumsgarantie erst im Zusatzprotokoll von 1952 Eingang in die EMRK fand, sondern auch, dass das Grundrecht der Berufsfreiheit überhaupt nicht in die EMRK aufgenommen wurde12 – sieht man von dem Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit ab, das nur einen Teilaspekt (ähnlich Art 12 II GG) betrifft,13 nicht jedoch die Berufsfreiheit allgem schützt. Zu berücksichtigen sind allerdings einzelne Gewährleistungen der Europäischen Sozialcharta (1961), die, obwohl in Art 6 III EUV nicht ausdrücklich erwähnt, zum Gemeingut der europäischen Grundrechtsüberlieferung gezählt werden muss (s a Art 151 I AEUV), freilich unter Beachtung ihrer nur relativen Verbindlichkeit nach Art 20 I Sozialcharta (→ § 5 Rn 62 ff).14 Die damit angesprochenen Gewährleistungsinhalte (Recht auf Arbeit, gerechte, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, Arbeitsentgelt, Bildung von Vereinigungen, Kollektivvereinbarungen, Jugendschutz, Schutz von Arbeitnehmerinnen, Berufsberatung, Ausbildung, soziale Sicherheit im weitesten Sinne) haben einen evidenten Bezug zur Idee sozialer Grundrechte. In dieser Weise ist auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union orientiert. Sie enthält in

9 Vgl Kluth Jura 2001, 371 ff. 10 Dazu nur die Leitentscheidung EuGH, Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold = JK 99, EGV Art 215 II/1. 11 EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Slg 1991, I-415, Rn 73 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen = JK 92, EWGV Art 177/2; Slg 1994, I-4973, Rn 78 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 185/2, 186/2; Slg 1994, I-5555, Rn 22 – SMW Winzersekt; Slg 1995, I-3115, Rn 55 – Fishermen’s Organisations; Slg 1997, I-4315, Rn 42 – Affish. EuG, Slg 2005, II-315 – Chiquita Brands. Mit Recht krit Rengeling DVBl 2004, 453 (458). Differenzierend Nowak in: Heselhaus/Nowak, GR, § 30, Rn 40. 12 Golsong in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, 1977, S 7, 9; Bartsch EuR 1979, 105, 109; Partsch in: Bettermann/Neumann/Nipperdey, Die Grundrechte I/1, 1966, S 235, 351; Nußberger in: Isensee/Kirchhof (Hrsg) Handbuch des Staatsrechts Bd X, 3. Aufl 2012, § 209 Rn 29; Borrmann Der Schutz der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, S 150 f. Zu möglichen für die Berufsfreiheit relevanten Inhalten Blanke in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 15 Rn 12 ff. 13 Stadler (Fn 6) S 105 f. Die EKMR hat es abgelehnt, die Vorschrift im Sinne einer allgem Garantie der Berufsfreiheit auszulegen, vgl EKMR, Nr 1468/62, Iversen/Norwegen Jahrbuch VI, S 278, 328; kritisch Partsch (Fn 12) S 347 f. 14 Birk in: Richardi/Wlotzke (Hrsg) Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht I, 2. Aufl 2000, § 17 Rn 94 (in der 3. Aufl 2009 nicht mehr erörtert); Gomien/Harris/Zwaak Law and practice of the European Convention on Human Rights and the European Social Charter, 1996, S 379; Blumenwitz NJW 1989, 621, 624.

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Art 15 I nicht nur das Grundrecht der Berufsfreiheit im klassischen Sinne, sondern überdies das „Recht zu arbeiten“. Drittstaatsangehörigen wird der Anspruch eingeräumt, unter Bedingungen wie die Unionsbürger zu arbeiten, sofern sie legalen Zugang zu den Arbeitsmärkten der Mitgliedstaaten haben. Eine ganze Reihe sozialer Rechte flankiert diese Gewährleistungen:15 Anhörung von Arbeitnehmern (Art 27), Kollektivverhandlungen bzw -maßnahmen (Art 28), Arbeitsvermittlung (Art 29), Kündigungsschutz (Art 30), gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen (Art 31), Verbot der Kinderarbeit bzw Jugendschutz (Art 32) sowie Mutterschutz (Art 33). Auch jenseits sozialpolitischer Vorgaben und Ziele16 ist an den Ausgleich zwischen Berufsfreiheit und Gemeinwohlbelangen zu denken, etwa im Bereich des Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutzes17 sowie der Koordinierung von Berufszugangsregeln im Binnenmarkt.18 Vor diesem Hintergrund sind die Gewährleistungen des Grundrechts der Berufsfreiheit in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als Rechtserkenntnisquellen (→ § 14 Rn 8) einzubeziehen.19 Nahezu alle geschriebenen Verfassungen der Mitgliedstaaten enthalten das Grundrecht.20 Auch das common law Englands verbürgt die Berufsfreiheit mit unterschiedlichen Bezeichnungen – right to work, right to earn a living, interest in pursuing a livelihood 21 –, und auch ohne ein geschriebenes Grundrecht ist die Berufsausübung im Interesse der Wirtschaftssubjekte in England weniger dicht reguliert als in Kontinentaleuropa.22 Ebenso ist die Berufsfreiheit in den Verfassungen wichtiger 2004 beigetretener Länder garantiert.23 In Frankreich wird die Unternehmerfreiheit (liberté d’entreprendre) in Art 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verortet, dem Recht, alles tun zu dürfen, was anderen nicht schadet.24 Aus zwei revolutionären Gesetzen von 1791 wurde 15 Vgl nur Mahlmann ZEuS 2000, 419, 432 f. 16 In diese Richtung etwa EuGH, Slg 1997, I-4475, Rn 73 – SAM Schiffahrt u Stapf. 17 Umweltschutz: EuGH, Slg 1985, 531, Rn 13 – ADBHU; Slg 1990, I-4071, Rn 28 – Marshall; Verbraucherschutz: Slg 1986, 2897, Rn 14 – Keller; Slg 1994, I-5555, Rn 25 – SMW Winzersekt; Schutz der Volksgesundheit: Slg 1997, I-4315, Rn 43 – Affish; Slg 2004, I-11893 ff – Swedish Match; Klimaschutz: EuG, Slg 2007, II-1507, Rn 87 f – Mebrom. 18 Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 272, im Anschluss an Bleckmann ER, Rn 590. 19 Allein auf diese zurückgreifend Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 271. Ausf Rechtsvergleich bei Schmidt Die unternehmerische Freiheit im Unionsrecht, 2010, S 70 ff. 20 Art 23 III Nr 1 Verf Belgiens; § 74 Reichsgrundgesetz Dänemarks; § 18 Verf Finnlands; Artt 5 I und 22 Verf Griechenlands; Artt 4 und 41 Verf der italienischen Republik; Art 11 V Verf des Großherzogtums Luxemburg; Art 19 III Verf des Königreiches der Niederlande; Art 6 I Staatsgrundgesetz Österreich 1867 (s Art 149 I B-VG); Artt 47 I, 61 I Verf der portugiesischen Republik; Art 35 I, 38 spanische Verf. Die einzelnen Bestimmungen sind allerdings in Geltungskraft und Tragweite heterogen: Günter (Fn 8) S 223. Zweifelnd – ohne umfassenden Rechtsvergleich – Besselink CMLRev 35 (1998) 629, 636 f, Fn 9, und – ihm folgend – Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 270. Ausführlicher Rechtsvergleich bei Nowak in: Heselhaus/Nowak, GR, § 30, Rn 18 ff. 21 S Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 46 f m Nachw aus der Rspr. Zur Rechtsnatur der Gewährleistungen Günter (Fn 8) S 52 ff, sowie Stadler (Fn 6) S 323 ff. Ähnlich das ungeschriebene Recht aus Art 40 III Nr 1 und 2 der irischen Verfassung (right to earn a living), vgl Günter (Fn 8) S 70 ff; Stadler (Fn 6) S 282 ff. 22 Ehlermann FS Budde, 1995, S 157, 171; ihm folgend Wunderlich (Fn 21) S 45. 23 Bulgarien: Art 48 III Verf 1991; Polen: Art 65 Verf 1997; Rumänien: Art 38 Verf 1991; Tschechien: Art 26 Grundrechts-Charta 1991. 24 S Wunderlich (Fn 21) S 52 ff. Der Conseil constitutionnel hat in der Entscheidung n° 98–401 DC vom 10.6.1998 die gesetzlich angeordnete Arbeitszeitverkürzung (Loi d’orientation et d’incitation relative à la réduction du temps de travail) für gerechtfertigt erklärt, weil der Gesetzgeber sich am

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der heute gültige allgem Rechtsgrundsatz der liberté du commerce et de l’industrie abgeleitet.25 Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die effektive Gewährleistung der beiden Freiheiten daran leidet, dass Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit Gesetzgeber und Behörden einen weiten Spielraum gewähren und die Verhältnismäßigkeitskontrolle reduzieren, wobei in der Tendenz die Kontrolldichte bei der liberté du commerce et de l’industrie höher ist als bei der liberté d’entreprendre.26 – Auch in Deutschland ist eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen. Art 12 I GG gewährt allen Deutschen das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen; die Verbote von Arbeitszwang und Zwangsarbeit in Art 12 II, Art 12 III GG haben nur geringe Bedeutung erlangt. Im Rahmen des Regelungsvorbehalts des Art 12 I 2 GG hat das BVerfG dem Gesetzgeber bisweilen einen außerordentlich weiten Spielraum zuerkannt und die Wahl der grundrechtsbeschränkenden Gemeinwohlbelange kaum kritisch hinterfragt.27 In neuerer Zeit entwickelte das BVerfG weitere Dimensionen der Berufsfreiheit aus Art 12 I GG. Bedeutsam ist das Teilhaberecht aus Art 12 I, Art 3 I GG bei der Vergabe von Studienplätzen.28 Was die Schutzfunktion betrifft, so geht das BVerfG in einzelnen Fällen über den rechtsstaatlichen Schutz der Berufsfreiheit hinaus und betreibt – rechtspolitisch motiviert – kompetenzwidrig sozialen Ausgleich zwischen widerstreitenden Rechtspositionen (Arbeitnehmer – Arbeitgeber), ohne dass es eine entsprechende gesetzgeberische Entscheidung, verfassungsrechtliche Grundlage oder methodisch-dogmatische Absicherung gäbe.29 Ist der Normbestand nicht vollständig homogen, wird die Entscheidung für ein bestimmtes Schutzkonzept in der Tendenz zu einer politischen Frage. Das wirtschaftspolitische Vorverständnis bestimmt die konkrete Form des Schutzes der Berufsfreiheit erheblich, sei es bereits bei der inhaltlichen Ausfüllung des Schutzbereichs, sei es auf der Schrankenebene oder bei der Bestimmung der Grundrechtsfunktionen. Diese Entscheidung zu treffen ist nicht Sache des Europarechtlers, wohl aber, ihre normative Grundlage transparent zu machen. Unter dieser Prämisse gehen die folgenden Ausführungen von der Notwendigkeit aus, dem abwehrrechtlichen Inhalt der Berufsfreiheit ein angemessenes Gewicht zu verschaffen, um ihn auf der Ebene der Rechtfertigung von Beeinträchtigungen mit anderen Gemeinwohlbelangen in Abwägung zu bringen, seien diese sozialer oder anderer Natur. Unmittelbar aus der Berufsfreiheit sollen keine sozialen Grundrechte hergeleitet werden: Ein Recht auf Arbeit ist bewusst nicht in die Grundrechte-Charta (2000/2007) aufgenommen worden30 und in der Europäischen Sozialcharta stark relati-

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„Recht auf Arbeit“ in der Präambel der Verfassung von 1946 orientiert habe. Insgesamt entspricht es einer ständigen Rspr des Conseil constitutionnel, zwischen unternehmerischer Freiheit und dem entsprechendne Gemeinwohlbelang abzuwägen („à la condition qu’il n’en résulte pas d’atteintes disproportionnées au regard de l’objectif poursuivi“); s zuletzt 2012-659 DC, 13 décembre 2012, Journal officiel du 18 décembre 2012, p 19861, texte n°4, cons 55. Günter (Fn 8) S 75; Stadler (Fn 6) S 265 ff; Wunderlich (Fn 21) S 54 f. Ausf Wunderlich (Fn 21) S 152 ff. S z Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers Manssen in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd I, 6. Aufl 2010, Art 12 Rn 126. BVerfGE 33, 303 ff. Ruffert Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S 434 ff, 462 ff. Grabenwarter DVBl 2001, 1, 5; Schmitz JZ 2001, 833, 841; Tettinger NJW 2001, 1010, 1014. Zudem ist nur in einigen Mitgliedstaaten (Belgien, Niederlande, Luxemburg, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, Finnland) die soziale Gewährleistung mit dem Freiheitsrecht verbunden; vgl die Nachw in Fn 19. S auch umfassend Körner Das internationale Menschenrecht auf Arbeit, Völkerrechtliche Anforderungen an Deutschland, 2004.

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viert. Die Beweggründe gegen seine Einführung, namentlich die Gefahr einer Schwächung der Grundrechte bei mangelnder Realisierbarkeit und die zwingende Notwendigkeit eines gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, sind hinreichend bekannt. Soziale Einzelgewährleistungen enthält die Charta im Solidaritätskapitel. Außerdem sind wesentliche Schutzansprüche in den Sozialvorschriften des AEUV und vor allem im auf seiner Grundlage ergangenen Sekundärrecht verbrieft: Gleichberechtigung, Arbeitsschutz, angemessene Arbeitsbedingungen, um nur einige Stichworte zu nennen.31 Das „Recht zu arbeiten“ in Art 15 I der Charta lässt sich so keinesfalls in ein „Recht auf Arbeit“ umdeuten.32 Dennoch ist es nicht inhaltsleer. Unbeschadet der allenfalls sehr begrenzten rechtlichen Verbindlichkeit der Charta enthält es das abwehrrechtlich wirkende Verbot hoheitlich veranlasster Behinderungen selbständiger oder unselbständiger Arbeit, verstärkt also den Rechtfertigungsdruck für hoheitliche Regelungen von Berufswahl und Ausübung.33 Im sozialpolitischen Kontext schreibt die Vorschrift den deutlichen, wenn auch kaum justitiablen Auftrag an die aus der Charta Verpflichteten (Art 51 GRCh) fest, für die realen Möglichkeiten der Berufsausübung zu sorgen, mithin das Ziel der Vollbeschäftigung anzustreben (in diese Richtung auch Art 145 ff AEUV34). Wählt man den abwehrrechtlichen Inhalt des Grundrechts der Berufsfreiheit als Ausgangspunkt, so erweist sich die planwirtschaftliche Organisation von Märkten nach Art der GAP als der eigentliche Anachronismus. Ob die GAP die zurückliegende Beitrittswelle und die vielleicht noch ausstehenden Beitritte in ihrer gegenwärtigen Gestalt überleben wird, lässt sich zumindest in Frage stellen. Bislang liefern agrarrechtliche Konstellationen das quantitativ wesentliche Fallmaterial für die Analyse des Grundrechts der Berufsfreiheit.

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2. Sachlicher Schutzbereich Fall 1: (EuGH, Slg 1987, 2289 ff – Rau) Die Kommission trifft im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse die Entscheidung, 900 Tonnen Butter aus Interventionsbeständen in 250 g-Packungen kostenlos mit jeweils einer Packung Markenbutter desselben Gewichts zu verteilen. Ziel der Maßnahme ist es, Erkenntnisse über das Verhalten der Verbraucher bei einer Senkung des Butterpreises zu gewinnen. Letztlich soll der „Butterberg“ abgebaut werden. M ist ein großer Margarineproduzent. Er wendet sich gegen die Entscheidung, weil sie gegen die Grundsätze freier Berufsausübung, die allgemeine Handlungsfreiheit und die Wettbewerbsfreiheit verstoße.

31 Oetker in: Richardi/Wlotzke (Hrsg) Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht I, 3. Aufl 2009, § 10 Rn 25 ff. 32 So auch Grabenwarter DVBl 2001, 1, 5; Jarass GR, § 20 Rn 219; Folz in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EVV, Art II 75, Rn 4. Ebenso wenig erscheint es möglich, aus dem Freiheitsrecht des Art 16 ein Recht auf Mittelstandsförderderung abzuleiten; so aber Tettinger NJW 2001, 1010, 1014. 33 Z primär abwehrrechtlichen Gehalt des Art 15 GRCh Jarass GRCh, Art 15 Rn 2. 34 Vgl Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 145 AEUV Rn 8 (differenzierend).

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Der Inhalt des sachlichen Schutzbereichs des Grundrechts der Berufsfreiheit ist vom EuGH bislang nicht abstrakt definiert worden,35 doch lässt sich eine solche Definition aus der Gesamtschau der bisherigen Rspr sowie der Grundrechts-Charta als Rechtserkenntnisquelle gewinnen. Danach enthält das Grundrecht der Berufsfreiheit im Unionssrecht die umfassende Gewährleistung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit.36 Dies wird durch die Garantien der Grundrechts-Charta unterstrichen, die nicht nur das Recht zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben enthält (Art 15 I GRCh), sondern auch die unternehmerische Freiheit anerkennt (Art 16 GRCh). Nicht zuletzt die Charta macht deutlich, dass es um eine eigenständige Gewährleistung und nicht lediglich um eine Ausprägung der allgem Handlungsfreiheit geht.37 Kennzeichnendes Merkmal für die der Garantie zuzuordnenden Tätigkeiten ist die Erwerbsabsicht. Dieses Merkmal findet sich parallel in der Rspr, die den Anwendungsbereich der allein wirtschaftsbezogenen Grundfreiheiten umschreibt, wobei der EuGH dort keine hohen Anforderungen stellt und eine Tätigkeit, die einen irgendwie gearteten ökonomischen Bezug aufweist, unter die einschlägige Grundfreiheit subsumiert (→ § 9 Rn 5 ff ).38 Auf die Dauer der Tätigkeit kommt es nur insoweit an, als der in der Charta gebrauchte Begriff des „Berufs“ auch in anderen Sprachen (occupation/profession/profesión/professione/profissão/beroep/erhverv) ein mehr als nur einmaliges oder kurzfristiges Tätigwerden suggeriert. Unternehmerische Freiheit geht darüber hinaus, so dass insgesamt der Dauerhaftigkeit ein geringeres Gewicht zukommt als bei der Interpretation des Berufsbegriffs nach Art 12 I GG.39 Wiederum parallel zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine Bagatellgrenze anzunehmen.40 Auf das Erlaubtsein kann es indes nicht ankommen. Erlaubnis und Verbot beruflicher Tätigkeit sind eine Frage von Beschränkungen und deren Rechtfertigung.41 Dieser umfassenden Gewährleistung der wirtschaftlichen Betätigung lassen sich die in der Rspr des EuGH bislang formulierten Einzelgewährleistungen zuordnen. Namentlich die Handelsfreiheit sieht der EuGH als geschütztes Grundrecht an.42 Nicht ganz konse35 S Wunderlich (Fn 21) S 105. 36 Ausdrücklich EuGH, Slg 1985, 2857, Rn 23 – Finsider. 37 And noch Schilling EuGRZ 2000, 3, 12; Wunderlich (Fn 21) S 106 f (ähnlich Günter (Fn 8) S 23), weist nach, dass die einzelnen Ausprägungen wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit nach der Rspr zur Berufsfreiheit gehören und keine bes Gewährleistungen enthalten (deutlich etwa EuG, Slg 1996, II-1707, 63 – Atlanta). Der Rückgriff auf die Rspr des BVerfG zur Abgrenzung zwischen Berufs- und Handlungsfreiheit (so Stadler (Fn 6) S 36 ff) sollte im Unionsrecht vermieden werden. Den Zusammenhang zwischen Artt 15 und 16 verdeutlicht ausf Schmidt (Fn 19) S 184 ff, sowie Schwarze in: ders, EU-Komm, Art 15 GRCh Rn 2. 38 S Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 9 ff, z insofern weiten Arbeitnehmerbegriff des EuGH. 39 Hier sind die Anforderungen ohnehin gering, vgl Wieland in: Dreier (Hrsg) Grundgesetz Kommentar Bd I, 2. Aufl 2004, Art 12 Rn 55. 40 Vgl dazu Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 11 ff. 41 In diesem Sinne auch Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 271. Differenzierend Wunderlich (Fn 21) S 72 f. And in der Tendenz Steindorff NJW 1982, 1902, 1904. 42 EuGH, Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold = JK 99, EGV Art 215 II/1; Slg 1985, 531, Rn 9 – ADBHU. Zutr stellt GAin Stix-Hackl, Schlussanträge Slg 2004, I-6911, Ziff 110, fest, dass es hier nur um terminologische Fragen, nicht um unterschiedliche Gewährleistungen geht.

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quent wird die notwendige Zuordnung der erwerbsbezogenen Vertragsfreiheit zur Berufsfreiheit vorgenommen.43 Hier geht der Gerichtshof vereinzelt noch von einer eigenständigen Verbürgung aus,44 sieht aber zutreffend die freie Wahl des Vertrags-(= Geschäfts-) Partners als Bestandteil der Berufsfreiheit an45. Zum Grundrecht auf Berufsfreiheit gehört auch die Wettbewerbsfreiheit.46 Angesichts der Bedeutung des freien Wettbewerbs im EGRecht sollten zurückhaltendere Äußerungen des EuGH jedenfalls auf der Schutzbereichsebene nicht überbewertet werden.47 Zusammengefasst formuliert, schützt das Unionsgrundrecht der Berufsfreiheit die freie wirtschaftliche Betätigung in allen ihren Ausprägungen.

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b) Abgrenzung zu anderen unionsrechtlichen Gewährleistungen aa) Eigentumsschutz In seiner Rspr differenziert der EuGH nicht immer präzise zwischen Eigentumsschutz (→ § 26) und Schutz der Berufsfreiheit.48 Dies überzeugt methodisch angesichts der unterschiedlichen Rechtserkenntnisquellen nicht (Art 1 1. ZP EMRK, Art 345 AEUV).49 Im Schrifttum wird überwiegend eine Abgrenzung am Maßstab der aus dem dt Verfassungsrecht stammenden Faustformel Bestandsschutz – Erwerbsschutz vorgeschlagen.50 Wenn man die Selbständigkeit der unionsrechtlichen Systembildung nicht aus den Augen verliert, ist gegen diese Parallelität nichts einzuwenden. Berufsfreiheit und Eigentumsgewährleistung stehen zueinander in Idealkonkurrenz. Der Schutzbereich der Eigentumsgarantie ist – gegebenenfalls neben dem der Berufsfreiheit – eröffnet, wenn es um die Nutzung der Produktionsstätte bzw Produktionsmittel geht. Allein die Berufsfreiheit steht im Raum, wenn Pflichten oder Verbote handlungs-, nicht substanzbezogener Art normiert werden. Abgabenverpflichtungen misst der EuGH nicht am Maßstab der Eigentumsgarantie.51 Folgt man dieser – im dt Verfassungsrecht jenseits von Erdrosselungssteuer und Halbteilungsgrundsatz anerkannten – Prämisse, ist jedenfalls eine Prüfung des Grundrechts der Berufsfreiheit veranlasst.52

43 Hierzu Ruffert (Fn 29) S 297 f mwN. 44 Sehr andeutungsweise in EuGH, Slg 1979, 1, Rn 20 – Sukkerfabriken Nykøbing; Slg 1999, I-6571, Rn 99 – Spanien/Kommission. 45 EuGH, Slg 1991, I-3617, Rn 13 – Neu. 46 EuGH, Slg 1987, 2289, Rn 15 – Rau, sowie auch Slg 1998, I-1953, Rn 28 – Metronome Musik, und ferner EuZW 2013, 347, Rn 41 ff – Sky Österreich = JK 2014, AEUV Art 267/1. 47 And wohl Wunderlich (Fn 21) S 109. 48 EuGH, Slg 1996, I-569, Rn 30 – Duff; Slg 1996, I-3953, Rn 21 f – Bosphorus; Slg 1997, I-4475, Rn 72 ff – SAM Schiffahrt u Stapf; Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik. Zweifelhaft auch Slg 1979, 3727, Rn 32 – Hauer. Vgl Beutler in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art F Rn 57. 49 Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 267. 50 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 131; ihm folgend Wunderlich (Fn 21) S 127. 51 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 15 GRCh Rn 20. 52 Wie hier Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 271, sowie – für das dt Verfassungsrecht – Hohmann DÖV 2000, 406 ff. Daher im Ansatz korrekt: EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder.

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bb) Andere Grundrechte 15

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Abgrenzungsschwierigkeiten im Verhältnis zu den unionsrechtlichen Kommunikationsgrundrechten (insbesondere Meinungsäußerungsfreiheit; → § 21) treten im Bereich der Werbung auf. Hier spricht wenig gegen ein differenzierendes Vorgehen, das beide Gewährleistungen im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes nebeneinander bestehen lässt, wenn die Werbung auch eine wertende Meinungsäußerung enthält.53 In Deutschland zeigt die Benetton-Rspr, welche Probleme die Ausklammerung der Kommunikationsfreiheiten aus der Wirtschaftswerbung bereitet hätte.54 Das hier vertretene Konzept entspricht auch der Rspr des EGMR, der die Werbung unter Art 10 EMRK subsumiert und nicht gänzlich vom Gewährleistungsinhalt der EMRK ausschließt, die kein Grundrecht der Berufsfreiheit kennt.55 Keine schwerwiegenden Probleme ergeben sich im Verhältnis zum Unionsgrundrecht der Vereinigungsfreiheit, das in Art 12 GRCh gewährleistet ist und das der EuGH in Orientierung an Art 11 EMRK schon seit langem anerkennt.56 Grundrechtskollisionen zwischen der Berufsfreiheit des einen (zB Arbeitnehmer) und der Vereinigungsfreiheit des anderen (zB Arbeitgeber) sind auf der Rechtfertigungsebene auszutarieren. Bei der in begrenztem Maße zulässigen Ableitung von Schutzpflichten aus dem Grundrecht der Berufsfreiheit ist zu berücksichtigen, dass die mit der Vereinigungsfreiheit verbundene Koalitionsfreiheit einen spezifischen Mechanismus zum Schutz von Arbeitnehmerrechten vorhält.57 Das Grundrecht der Berufsfreiheit ist schließlich als Freiheitsrecht neben unionsrechtlich gewährten Gleichheitsrechten anwendbar.58 Dies gilt für das spezielle Diskriminierungsverbot in Art 40 II AEUV59 ebenso wie für den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 20 GRCh; schon vorher als allgem Rechtsgrundsatz anerkannt).60 Das Konkurrenzverhältnis zu Art 18 AEUV richtet sich nach den für die Grundfreiheiten geltenden Grundsätzen (Rn 21 ff). Zu Art 157 AEUV und dem in dessen Zusammenhang ergangenen Sekundärrecht besteht kein echtes Konkurrenzverhältnis, weil Art 157 AEUV und die dazugehörigen Richtlinien keine Grundrechte ieS enthalten, sondern bes Vorgaben für die Ausgestaltung des mitgliedstaatlichen Rechts normieren, die unter bestimmten Voraussetzungen allerdings unmittelbare Wirkung entfalten. Gleiches gilt für Maßnahmen nach Art 19

53 Schlussanträge GA Fennelly, NJW 2000, 3701, Rn 152 ff – Tabakwerbung (der EuGH hat den grundrechtlichen Aspekt nicht aufgegriffen) = JK 2001, EGV Art 95/1; Jarass GRCh, Art 15 Rn 5; krit Hilf/Frahm RIW 2001, 128, 133; Hatje Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 1993, S 62; Perau Werbeverbote im Gemeinschaftsrecht, 1997, S 269 f; aA Wunderlich (Fn 21) S 129 f – Umfassend zur Beurteilung der Wirtschaftswerbung Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 464 ff. 54 BVerfGE 102, 347, 359 f. 55 Wunderlich (Fn 21) S 59 ff; Calliess EuGRZ 1996, 293 ff. 56 EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 79 – Bosman. 57 Richardi in: ders/Wlotzke (Fn 31) § 12 Rn 28. 58 Jarass GRCh, Art 15 Rn 5. 59 EuGH, Slg 1989, 1991, Rn 19 – Leukhardt; Slg 1990, I-4071, Rn 19 ff – Marshall; Slg 1991, I-415, Rn 66 ff – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Slg 1992, I-35, Rn 18 – Kühn; Slg 1994, I-4973, Rn 64 ff – Deutschland/Rat. 60 EuGH, Slg 1994, I-5555, Rn 30 ff – SMW Winzersekt; Slg 1995, I-3115, Rn 44 ff – Fishermen’s Organisations ua; Slg 1997, I-4315, Rn 41 ff – Affish; Slg 1997, I-4475, Rn 50 ff – SAM Schiffahrt u Stapf; EuG, Slg 1996, II-1707, Rn 41 ff, 59 ff – Atlanta. S bereits Stadler (Fn 6) S 36.

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AEUV, die vielmehr umgekehrt gemessen am Grundrecht der Berufsfreiheit verhältnismäßig sein müssen, um Bestand zu haben.61 cc) Vertrauensschutz Für den EuGH ist der Vertrauensschutz ein neben den Grundrechten geltender allgem Rechtsgrundsatz.62 Das Vertrauen auf eine bestehende Regelungsstruktur könnte aber auch innerhalb des Grundrechts der Berufsfreiheit bedeutsam sein.63 Insbesondere lehnt der EuGH ab, dass der einzelne Wirtschaftsteilnehmer auf den Fortbestand bestimmter Regelungen einer europäischen Marktordnung im Rahmen der GAP vertrauen kann, dass also einschneidende und verlustbringende Änderungen einer Marktordnung, die durch sie vorher gewährte Vorteile entziehen, als Eingriffe in die Berufsfreiheit zu bewerten sind.64 Die Unvereinbarkeit von planwirtschaftlich konzipierten Marktordnungen einerseits und der Gewährleistung der Berufsfreiheit als Abwehrrecht andererseits wurde eingangs aufgezeigt. Sie lässt sich auf der Stufe des Schutzbereichs nur so verarbeiten, dass zur Berufsfreiheit auch berufliche Betätigung gezählt wird, die durch Marktordnungen erheblich beeinflusst oder sogar erst ermöglicht wird. Richten sich Wirtschaftssubjekte auf einem hochgradig regulierten Markt ein, so wird das Maß ihrer Berufsfreiheit auch durch die vorhandene Regelungsstruktur bestimmt.65 Dies ist nicht gleichzusetzen mit einem absoluten Bestandsschutz: Notwendige Reformen in der Agrarpolitik werden immer auch zu Eingriffen in wirtschaftliche Positionen führen, die dann über das hinter der jeweiligen Reform stehende Gemeinwohlziel gerechtfertigt werden müssen.66 Eine gänzlich andere Situation ist gegeben, wenn erhebliche Einbußen durch die Einführung einer europäischen Marktordnung entstehen, wie dies 1993 auf dem Bananenmarkt der Fall war.67 Hier geht es nicht darum, dass Marktteilnehmer auf eine bestimmte Regelungsstruktur vertraut haben, sondern hier wird eine grds vorhandene Freiheit wirtschaftlicher Betätigung durch hoheitliche – gemeinschaftsrechtliche – Regelung genommen.68 Eine Minderung der Rechtsposition des Wirtschaftssubjekts ist allenfalls in der Abwägung auf Rechtfertigungsebene anzuerkennen, weil im Agrarsektor wegen Art 38 III AEUV mit Anh I stets mit einer hohen marktfernen Regulierungsdichte gerechnet werden muss.

61 Auf dem Prüfstand stehen hier: RL 2000/43, ABl 2000, Nr L 180/22 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft; RL 2000/78, ABl 2000, Nr L 303/16 zur Festlegung eines allgem Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. 62 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 EUV Rn 26. 63 Prüfung von Vertrauensschutz neben Berufsfreiheit: EuGH, Slg 1992, I-35, Rn 13 ff – Kühn. 64 EuGH, Slg 1979, 2749, Rn 22 – Eridiania; Slg 1987, 2289, Rn 18 – Rau. 65 Ähnlich Günter (Fn 8) S 19; Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 271 f, 275; Jarass GRCh, Art 16 Rn 17. Für Wirtschaftssubjekte außerhalb einer konkreten Marktordnung Hilf/Willms EuGRZ 1989, 189, 191. 66 So auch Wunderlich (Fn 21) S 118. 67 So Günter (Fn 8) S 22. And im Ausgangspunkt Wunderlich (Fn 21) S 117 f. 68 Daher prüft der EuGH auch einen Verstoß gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit: EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 78 ff – Deutschland/Rat.

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c) Konkurrenzverhältnis zu den Grundfreiheiten 21

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Die Grundfreiheiten, die in der Rspr des EuGH den Charakter von Beschränkungsverboten erhalten haben, wirken in diesem Sinne als besondere Berufsfreiheit der Marktbürger,69 so dass die Frage nach ihrem Verhältnis zum allgem Grundrecht der Berufsfreiheit aufgeworfen wird. Dieses Verhältnis kann sich nicht nach dem Adressaten beurteilen, denn anerkanntermaßen können beim gegenwärtig erreichten Stand des Unionsrechts sowohl die Mitgliedstaaten Verpflichtete der Unionsgrundrechte70 als auch die Union Verpflichtete der Grundfreiheiten sein (→ § 14 Rn 47 ff).71 Die Konkurrenz zwischen beiden Gewährleistungsformen ergibt sich vielmehr aus dem überragenden Gewicht des Binnenmarktziels für das gesamte Unionsrecht. Zur Herstellung grenzüberschreitender Privatautonomie sind die Grundfreiheiten lex specialis.72 Dies muss auch dann gelten, wenn man der im Schrifttum vertretenen Auffassung folgt, die die Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte ansieht.73 Das Ziel der Gewährleistung, Hindernisse in den grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen abzubauen, ändert sich durch diesen Perspektivenwechsel im Grundsatz nicht. Der Befund einer Spezialität der Grundfreiheiten vor dem Grundrecht der Berufsfreiheit gibt den gegenwärtigen Stand der europ Rechtsordnung wieder. Entspr greift Art 15 II der Charta die einschlägigen Grundfreiheiten auf.74 Ohne die Grundfreiheiten und die ihnen durch den EuGH über Anwendungsvorrang und unmittelbare Wirkung verliehene Dynamik wäre die Integration nicht erreichbar gewesen. Auf einem höheren Integrationsstand ist es denkbar, die Grundfreiheiten durch eine allgem Berufsfreiheit zu substituieren, so dass Eingriffe in grenzüberschreitende wirtschaftliche Tätigkeit nur eine besondere Form von Eingriffen in die Berufsfreiheit wären. Dann müsste die Berufsfreiheit jedoch ähnlich sicheren Schutz bereithalten wie gegenwärtig die Grundfreiheiten, und auch die Sicht auf den Verbund von unionaler und mitgliedstaatlicher Hoheitsgewalt würde sich grundlegend ändern. Lösung Fall 1: Die Produktion von Margarine ist eine wirtschaftliche Betätigung, so dass der Schutzbereich der Berufsfreiheit in der besonderen Ausprägung der Unternehmensfreiheit eröffnet ist. Der EuGH sieht zwar wirtschaftliche Positionen, die den Wirtschaftssubjekten aus einer

69 S EuGH, Slg 1987, 4097, Rn 14 – Heylens. Explizit Pernice Grundrechtsgehalte im Gemeinschaftsrecht, 1979, 174 f; Riegel AöR 102 (1977), 410, 430 ff. Zu weitgehend Borrmann (Fn 12) S 29 ff: Identität von Grundfreiheiten und Berufsfreiheit. 70 Für die Berufsfreiheit EuGH, Slg 1996, I-569, Rn 28 ff – Duff. 71 Grundl Schwemer Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, 1995. Zu Einzelnachweisen in der Rspr des EuGH und in Schlussanträgen der Generalanwälte s Wunderlich (Fn 21) S 93 f. 72 Wunderlich (Fn 21) S 104. AA Stadler (Fn 6) S 66: Grundfreiheiten als Zusatzgarantie zur Freizügigkeit. Siehe jetzt auch EuGH, Urt v 30.4.2013, Rs C-390/12, Rn 57–60 (Pfleger), dazu Ruttert JuS 2014, 662. 73 Explizit Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; differenzierend hingegen Hoffmann Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, S 29 ff. 74 Entgegen Grabenwarter DVBl 2001, 1, 5, sollte aus dem Wortlaut kein Verzicht auf einen grenzüberschreitenden Bezug hergeleitet werden; gemeint sind die Grundfreiheiten des AEUV (vorher: EGV) mit den entsprechenden Voraussetzungen, vgl die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONVENT 49 vom 11.10.2000, Dok Charte 4473/00, 17.

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Marktorganisation erwachsen, nicht als geschützt an. Zum Schutz der Berufsfreiheit von Unternehmen, die sich auf die GAP einrichten, sollte diese Argumentation jedoch aufgegeben und geprüft werden, ob die Beeinträchtigung des Schutzbereichs durch das Ziel der Maßnahme – hier: Untersuchung der Wirkungen einer bestimmten Vermarktungsform – gerechtfertigt ist.

3. Persönlicher Schutzbereich a) Unionsbürger Alle Unionsbürger sind Träger des Grundrechts der Berufsfreiheit. Die Charta stellt klar, dass der gemeineuropäische Bestand nicht zwischen selbständiger und unselbständiger Tätigkeit differenziert, auch wenn die Berufsfreiheit in einigen Mitgliedstaaten nur auf Selbständige bezogen ist und der EuGH sich bislang nur zur selbständigen Betätigung geäußert hat.75 Schon die Existenz der Arbeitnehmerfreizügigkeit bringt den grundsätzlichen Schutz nichtselbständiger Tätigkeit im Unionsrecht unzweifelhaft zum Ausdruck. Allein Angehörige des Öffentlichen Dienstes, die unter die Bereichsausnahmen der Art 45 IV, 51 mit 62 AEUV fallen, sind in Ermangelung einer Unionszuständigkeit aus dem persönlichen Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Grundrechts der Berufsfreiheit ausgenommen.76

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b) Juristische Personen Der Blick in die Charta zeigt auch, dass es fernliegend wäre, juristische Personen des Privatrechts aus dem persönlichen Schutzbereich des Grundrechts der Berufsfreiheit herauszunehmen, denn die unternehmerische Freiheit (Art 16 GRCh) muss auch Personen- und Kapitalgesellschaften gewährt werden, um sich als sinnvolle Gewährleistung darzustellen. In der Rspr des EuGH steht diese Erkenntnis außer Frage77. Was juristische Personen betrifft, die in engem Bezug zu einem Hoheitsträger – im dt Recht: juristische Personen des öffentlichen Rechts – stehen, so ist die Betrachtung zu differenzieren. Das die Grundrechtsberechtigung ausschließende „Konfusionsargument“ (kein Ineinsfallen von Grundrechtsträger und Grundrechtsverpflichtetem) gilt jedenfalls dann eindeutig, wenn es um eine durch die Union konstituierte rechtsfähige Einheit geht (zB eine selbständige Agentur78). Handelt es sich um eine juristische Person, hinter der mitgliedstaatliche Hoheitsgewalt steht, so ist zu beachten, dass durch die Gewährleistung von Grundrechtspositionen das Kompetenzgefüge zwischen Union und Mitgliedstaaten nicht vertragswidrig verschoben werden darf. Die Grundrechtsberechtigung lässt sich daher kaum begründen. Dies gilt auch für staatliche oder staatlich dominierte gemischt-wirtschaftliche Unternehmen, damit die präzisen primärrechtlichen Vorgaben (Art 14, 101–102, 106, 107– 109 AEUV) nicht durch ein ungeschriebenes Freiheitsrecht überspielt werden.79 75 76 77 78

Wie hier Wunderlich (Fn 21) S 111; Jarass GRCh, Art 15 Rn 6. Stadler (Fn 6) S 344; Wunderlich (Fn 21) S 120. Umfassend Sasse EuR 2012, 628. Zur Kompetenz der EU für ihre Errichtung Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 AEUV Rn 47 ff. 79 AA Notthoff Novellierungsversuche des Energiewirtschaftsrechts vor dem Hintergrund grundrechtlicher Normen, 1994, S 241 ff; Tettinger FS Börner, 1992, S 625, 637 ff; Wunderlich (Fn 21) S 122 f; Schwarze in: ders, EU-Komm, Art 16 GRCh Rn 4; wohl auch Bleckmann/Pieper HdbEU-

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c) Drittstaatsangehörige (einschließlich juristischer Personen) 27

Im persönlichen Schutzbereich ist schließlich die Zuordnung von Drittstaatsangehörigen fraglich, insb, wenn man aus der Perspektive des dt Verfassungsrechts argumentiert, das die Berufsfreiheit nur als Deutschengrundrecht gewährleistet und Ausländer auf die allgem Handlungsfreiheit verweist.80 Die Antwort auf diese – in der Praxis der EuGH-Rspr bislang kaum relevant gewordene – Streitfrage enthält Art 15 III GRCh:81 Staatsangehörige dritter Länder haben grds keinen unbegrenzt freien Zugang zum Binnenmarkt kraft Primärrechts oder einer Regelung der Charta.82 Dies ist völkerrechtskonform, denn das GATS gewährt Marktzugang gemäß Art XVI nur über ein System sektorspezifischer Positivlisten.83 Wenn Drittstaatsangehörige aber „im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten arbeiten dürfen“, so haben sie die gleichen Ansprüche wie Unionsbürger.84 Die Trennungslinie zwischen Grundrechtsberechtigung und ihrer Abwesenheit verläuft also nicht an der Außengrenze der Union, sondern zeichnet die Legalität der wirtschaftlichen Betätigung im Unionsgebiet nach.85 Dieses Konzept durchbricht möglicherweise entgegenstehende mitgliedstaatliche Traditionen, zumal es allein um das Unionsgrundrecht der Berufsfreiheit geht, das zuvörderst die Union, die Mitgliedstaaten jedoch nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts bindet.

II. Beeinträchtigung 28

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Fall 2: (EuGH, Slg 1994, I-5555 ff – SMW Winzersekt) Theo Trierweiler (T) ist Moselwinzer und stellt Sekt nach der „méthode champenoise“ her, dh, der Grundwein wird in der Flasche durch manuelles Rütteln versektet. Diese Methode ist aufwendiger als andere (zB die Versektung in Tanks), so dass T auf das Etikett den Hinweis „méthode champenoise“ aufdrucken lässt. Eine Ratsverordnung verbietet die Verwendung dieser Bezeichnung für Schaumwein, der nicht aus der Champagne (Frankreich) kommt. T sieht hierin einen Eingriff in seine Berufsfreiheit.

Beeinträchtigungen der Berufsfreiheit sind zunächst durch normative Regelungen möglich. Dabei sollte darauf verzichtet werden, die für das dt Verfassungsrecht entwickelte DreiStufen-Theorie auf das Unionsrecht zu übertragen.86 Der EuGH hat den Unterschied

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WirtschR Bd I, Rn 137 f. Das Argument der Gleichbehandlung im Wettbewerb trägt aufgrund der besonderen öffentlich-rechtlichen Bindungen öffentlicher und gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen nicht. Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 15 GRCh Rn 9, ähnlich Borchardt in: Lenz/ders, EUV/EGV, Art 220 EGV Rn 33. AA Bleckmann/Pieper HdbEUWirtschR Bd I, Rn 139 mwN. Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 265, verweisen das Problem auf die Schrankenebene. S bereits Art 153 I lit g AEUV (Amsterdam: Art 137 III, 4. Spstr EGV, Nizza: Art 137 I lit g EGV); dazu Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 153 Rn 21; Jarass GRCh, Art 15 Rn 9. Krit zu den Erläuterungen des Präsidiums in diesem Zusammenhang Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EVV, Art II-75, Rn 10. Jarass GRCh, Art 15 Rn 22, sieht in Abs 3 eine selbständige Verbürgung. S Art XVI ff GATS (ABl 1994 Nr L 336/184); dazu Koehler Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), 1999, S 116 ff. Erläuterungen des Präsidiums zu Art 15 III; Jarass GRCh, Art 15 Rn 25. Noch weitergehend Wunderlich (Fn 21) S 123 ff. So aber Notthoff RIW 1995, 541, 543.

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Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit

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zwischen Regelungen der Berufswahl und solchen der Berufsausübung nur angedeutet.87 Losgelöst von der dt Grundrechtsdogmatik kann man unterschiedlich starken Eingriffen in die Berufsfreiheit durch eine differenzierte Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung tragen, die auch beachtet, inwieweit der Grundrechtsträger von der Ausübung eines bestimmten Berufes gänzlich ausgeschlossen wird. Das Drei-Stufen-Konzept mag auf diese Weise eine heuristische Funktion entfalten, jedoch keine dogmatischen Kategorien zwingend vorgeben. Normative Regelungen können auch mittelbar beeinträchtigend wirken – was für die Aktivierung des Rechtfertigungszwanges hinreichend ist88 – wenn sie beispielsweise die Wettbewerbsposition eines Wirtschaftssubjekts verschlechtern. Auf dieser Grundlage sind auch nicht-normative Eingriffe denkbar, wie zB die Zahlung von Subventionen an Konkurrenten oder von Unionsorganen ausgesprochene Warnungen und Empfehlungen. Außerdem könnte durch unionsrechtlich veranlasste Konkurrenz öffentlicher Unternehmen (s Art 14 AEUV: Zugang zu Dienstleistungen von allgem wirtschaftlichen Interesse) in die Berufsfreiheit von privaten Wirtschaftssubjekten eingegriffen werden. Solcherlei Eingriffe haben allerdings die Rspr bislang noch nicht beschäftigt, weil das normativ hochgradig verdichtete Agrarrecht die Problemfälle dominiert. Schließlich ist die Unterscheidung von unmittelbaren und mittelbaren Eingriffen so wenig ergiebig, dass sie nicht vertieft werden sollte. Jede Beeinträchtigung, auch die nicht „berufsspezifische“, ist rechtfertigungsbedürftig. Lösung Fall 2: Herstellung und Vermarktung von Sekt ist eine wirtschaftliche Betätigung, die unter das Grundrecht der Berufsfreiheit fällt. Verpflichtungen zur Gestaltung des Etiketts greifen in die Freiheit der Berufsausübung ein, weil sie die Vermarktung des Sekts einschränkend regeln. Die Verpflichtung ist jedoch nicht unverhältnismäßig: Sie dient dem Verbraucherschutz, und es ist nicht ersichtlich, dass der Rat im Rahmen seines Rechtsetzungsermessens ein milderes Mittel zum Verbraucherschutz übersehen hätte. Der Wesensgehalt der Berufsfreiheit ist nicht berührt, da der Bestand der Berufsausübung erhalten bleibt.

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III. Rechtfertigung Fall 3: (EuGH, Slg 1998, I-1953 ff – Metronome Musik) Art 1 I der RL 2006/115 (ABl 2006 Nr L 376/28; im Ausgangsfall: RL 92/100, ABl 1992 Nr L 346/6) verpflichtet die Mitgliedstaaten, zugunsten des Inhabers des Urheberrechts das Recht vorzusehen, die Vermietung und das Verleihen von Originalen und Vervielfältigungsstücken urheberrechtlich geschützter Werke zu verbieten. Die Richtlinie ist in Deutschland ordnungsgemäß umgesetzt. Die „Metronome Musik GmbH“ ist Plattenfirma der Gruppe „Die Ärzte“ und beantragt vor dem zuständigen Landgericht, der „Music Point Hokamp GmbH“, die CDs gewerblich vermietet, im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, die CD „Planet Punk“ zu vermieten. Die „Music Point Hokamp GmbH“ macht im Vorlageverfahren eine Verletzung ihrer Berufsfreiheit geltend.

87 EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 32 – Hauer; Slg 1986, 2519, Rn 27 – Kommission/Deutschland; Slg 1986, 2897, Rn 9 – Keller; Slg 1994, I-5555, Rn 24 – SMW Winzersekt. Zu weitgehend daher Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 271; Stadler (Fn 6) S 345 ff, und – in der Tendenz – Bleckmann/ Pieper in: HdbEUWirtschR B I, Rn 86; wie hier hingegen: Wunderlich (Fn 21) S 112 f. 88 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 15 GRCh Rn 10 aE; Wunderlich (Fn 21) S 113 ff.

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1. Schranken der Berufsfreiheit 33

Schranken der Berufsfreiheit lassen sich im inhaltlichen Einklang mit der Rspr des EuGH aus der Gesamtschau der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, der EMRK sowie der GRCh (Art 52 I) formulieren. Danach sind Einschränkungen zulässig, wenn sie sich auf eine gesetzliche Regelung stützen können, dem Gemeinwohl (einschließlich der Rechte anderer) entsprechen, verhältnismäßig sind und den Wesensgehalt der Berufsfreiheit nicht beeinträchtigen.89

2. Anforderungen an eine unionsrechtskonforme Beschränkung der Berufsfreiheit a) Rechtsgrundlage 34

Beschränkungen des Grundrechts der Berufsfreiheit bedürfen einer Rechtsgrundlage (Art 52 I 1 GRCh).90 Dieses grundrechtsspezifische Erfordernis berührt das kompetenzorientierte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.91 Es ist bislang in der Rspr noch nicht ausdrücklich aufgegriffen worden, weil in keinem Fall Eingriffe ohne Rechtsgrundlage vorgenommen wurden.92 Unionsrecht muss generell so ausgelegt werden, dass es die Berufsfreiheit nicht beeinträchtigt.93 b) Verwirklichung des Gemeinwohls

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Das Gemeinwohlerfordernis füllt der EuGH in den überwiegenden Fallgestaltungen mit den Zielen der GAP (Art 39 I AEUV) aus. Auch im Übrigen ist eine strikte Orientierung an eindeutig normierten Unionszielen (Art 3 EUV) oder anderen unionsrechtlichen Normen angezeigt.94 Dient eine Regelung einem Unionschaftsziel nicht, obwohl die Unionsorgane dies vorgeben, so verstößt sie deswegen gegen die Berufsfreiheit.95 Hinzu treten völkerrechtliche Verpflichtungen der Union.96 Grundrechte anderer, die durch die GRCh (früher als allgem Rechtsgrundsätze) gewährleistet sind, können nur im Rahmen einer bestehenden Unionskompetenz geschützt werden (→ vgl § 14 Rn 68). Gemeinwohlbelange, die sich nur aus der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung ergeben, vermögen ein

89 EuGH, Slg 1986, 2897, Rn 8 – Keller; Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Slg 1990, I-4071, Rn 27 – Marshall; Slg 1991, I-415, Rn 73 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Slg 1992, I-35, Rn 16 – Kühn; Slg 1994, I-4973, Rn 78 – Deutschland/Rat; Slg 1995, I-3115, Rn 55 – Fishermen’s Organisations; Slg 1997, I-4315, Rn 42 – Affish; Slg 1997, I-4475, Rn 72 – SAM Schiffahrt u Stapf; Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik; EuG, Slg 1998, II-125, Rn 74 – Dubois et Fils; EuGH, Slg 2005, I-6451 ff – Alliance for Natural Health (Nahrungsergänzungsmittel); Slg 2004, I-7789, Rn 51 ff – Spanien u Finnland/Parlament u Rat; Slg 2004, I-6911, Rn 82 ff – Di Lenardo. S bereits Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold. 90 EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst; Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 272. 91 Wunderlich (Fn 21) S 186. Umfassend Rieckhoff Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007. 92 Vgl Wunderlich (Fn 21) S 185 f. 93 EuGH, Slg 1991, I-3617, Rn 12 – Neu. 94 EuGH, Slg 1998, I-1953, Rn 23 – Metronome Musik: Art 30, 151 EGV (Art 36, 167 AEUV); Rengeling (Fn 5) S 216. Tendenziell enger Wunderlich (Fn 21) S 197. 95 Schlussanträge GA Fennelly, NJW 2000, 3701, Rn 151 – Tabakwerbung = JK 2001, EGV Art 95/1. 96 EuGH, Slg 1998, I-1953, Rn 25 – Metronome Musik.

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Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit

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Handeln der Unionsorgane nicht zu rechtfertigen und können daher nur im Bereich der Bindung der Mitgliedstaaten Wirkungen entfalten.97 Missverständlich ist die vom EuGH verwendete Formulierung, wonach sich die Beschränkung der Berufsfreiheit aus ihrer gesellschaftlichen Funktion ergebe.98 Daran ist allein richtig, dass kein Grundrecht in seiner Ausübung losgelöst von den Rechten anderer, von der gesamten Rechtsordnung und von der Verfolgung legitimer (gesellschafts-)politischer Ziele gewährleistet werden kann. Unzutreffend wäre es, die Berufsfreiheit in eine „dienende Freiheit“ zu verwandeln, die nur im gesellschaftlich erwünschten Sinne ausgeübt werden könnte.99 c) Wesensgehaltsgarantie Äußerste Grenze für Beschränkungen des Grundrechts der Berufsfreiheit ist dessen Wesensgehalt (→ vgl § 14 Rn 70). Diese Schranken-Schranke ist bereits in der ständigen Rechtsprechung des EuGH etabliert100 und hat – für alle Grundrechte – Eingang in die Grundrechts-Charta gefunden (Art 52 I 1 GRCh). Um der Wesensgehaltsgarantie eine eigenständige Bedeutung zu erhalten, wie sie nicht zuletzt in der Charta ihren Ausdruck findet, ist sie vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz getrennt zu prüfen. Die neuere Rspr des EuGH deutet dies zutreffend an.101 Allerdings ist der absolut geschützte Bereich des Grundrechts der Berufsfreiheit im Rahmen der GAP kaum wahrnehmbar.

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d) Verhältnismäßigkeitsprüfung Bereits in der Rspr des EuGH entfaltet sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip sowohl als eigenständiges Prinzip als auch als Grundsatz im Rahmen der Grundrechtsschranken.102 Nunmehr ist es in Art 52 I 2 GRCh ausdrücklich als Schranken-Schranke verankert. Im Zusammenhang mit der Berufsfreiheit ist auf dieser Ebene eine Verhältnismäßigkeitsprüfung geboten und wird grds vom EuGH vorgenommen.103 Maßstäbe sind das Grundrecht der Berufsfreiheit auf der einen und der die Beschränkung rechtfertigende Grundsatz auf 97 Zurückhaltend wie hier auch Wunderlich (Fn 21) S 190 f; Günter (Fn 8) S 23 f, differenziert zwischen mitgliedstaatlichen und gemeinschaftlichen Gemeinwohlzielen, geht aber auf den Kompetenzaspekt nicht ein. 98 EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Slg 1992, I-35, Rn 16 – Kühn; Slg 1994, I-4973, Rn 78 – Deutschland/Rat; Slg 1994, I-5555, Rn 22 – SMW Winzersekt; Slg 1997, I-4315, Rn 42 – Affish; Slg 1997, I-4475, Rn 72 – SAM Schiffahrt u Stapf; Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik; verb Rs C-37/02 und C-38/02, Slg 2004, I-6911, Rn 82 – Di Lenardo; verb Rs C-184/02 und C-223/02, Slg 2004, I-7789, Rn 52 – Spanien u Finnland/Parlament u Rat; EuG, Slg 1998, II-125, Rn 74 – Dubois et Fils. S bereits EuGH, Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold = JK 99, EGV Art 215 II/1; Slg 1979, 3727, Rn 32 – Hauer. 99 Zu weitgehend Wunderlich (Fn 21) S 195. Wie hier bereits Meier DVBl 1974, 674 ff. 100 S o Fn 83. 101 EuGH, Slg 1990, I-4071, Rn 28 – Marshall; Slg 1994, I-4973, Rn 81 ff – Deutschland/Rat; Slg 1994, I-5555, Rn 24 – SMW Winzersekt; Rs C-544/10, EuZW 2012, 828 – Deutsches Weintor, Rn 54 ff; vgl Günter (Fn 8) S 29 ff. 102 Miteinander verbunden in EuGH, Slg 1995, I-3115, Rn 55 ff – Fishermen’s Organisations; Slg 1997, I-4315, Rn 29 ff – Affish. Vgl Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000, 399 ff; Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 273. 103 S zB EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 18 – Schräder; Slg 1991, I-415, Rn 76 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Slg 1996, I-3953, Rn 23 ff – Bosphorus.

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der anderen Seite. Die Prüfung folgt dem überkommenen dreigliedrigen Schema Geeignetheit-Erforderlichkeit-Angemessenheit.104 Innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung kann die geringere Eingriffsschwere von Ausübungsregelungen – verglichen mit Berufswahlbeschränkungen – berücksichtigt werden, ohne dass man die dt Grundrechtsdogmatik dem Unionsrecht überstülpen müsste. In dem Bestreben, Regelungen der GAP aufrechtzuerhalten, die strukturell im Gegensatz zu freier wirtschaftlicher Betätigung und damit zum Grundrecht der Berufsfreiheit stehen (Rn 1 ff), hat der EuGH den potentiellen Verstoß gegen das Grundrecht oft nur kursorisch geprüft und das individuelle, hinter dem Grundrechtsschutz stehende Interesse häufig nicht ausreichend berücksichtigt.105 Besonders eklatante Defizite offenbaren sich auf der Ebene der Kontrolldichte. Der EuGH erkennt den Unionsorganen einen grundsätzlich weiten Ermessens- und Prognosespielraum zu, dessen Weite im Rahmen wirtschaftspolitischer Maßnahmen, insbes solchen der GAP, besonders hervorgehoben wird.106 Nach diesem Kontrolldichtemaßstab können nur offensichtlich ungeeignete107 oder eindeutig nicht erforderliche108 Beschränkungen als unionsrechtswidrig gekennzeichnet werden, was bislang noch in keinem Fall aus der Rspr zur Berufsfreiheit vorgekommen ist. Dieser weite Spielraum soll sogar für mitgliedstaatliche Behörden gelten, wenn diese in den Vollzug des Unionsrechts einbezogen sind.109 Die deutliche Kritik an dieser Weite des Ermessens- und Prognosespielraums, wie sie vor allem im Anschluss an das Bananenmarkturteil110, aber auch an andere Entscheidungen, formuliert wurde,111 ist nicht unberechtigt. Die Kontrolldichte darf nicht in einer Weise reduziert werden, die dazu führt, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung ins Leere geht. Letztlich nimmt der Gerichtshof hier ein Rechtsschutzkonzept auf, das sich vornehmlich am Erhalt einer funktionsfähigen Verwaltung ohne übermäßige gerichtliche Einmischung orientiert.112 Die Festlegung der Kontrolldichte ist nicht mit Hilfe abstrakter, allgemeingültiger Formeln möglich. Der Evidenzmaßstab ist jedoch durch eine Kontrolle zu ersetzen, die an den Unionsgesetzgeber differenzierte Anforderungen der Plausibilität und konsistenten Begründung stellt. In diesen Kontext gehört auch die Einbeziehung von Härtefallregelungen auf der Ebene der Erforderlichkeit, wie sie der Gerichtshof bereits vollzieht.113 Die Gleichwertigkeit des Grundrechtsschutzes auf Unionsebene im Verhältnis 104 Jarass GR, § 20 Rn 15. 105 ZB EuGH, Slg 1996, I-569, Rn 30 – Duff; Günter (Fn 8) S 26 f; Pernice in: Grabitz/Hilf, EUV/ EGV, Art 164 EGV Rn 62b. 106 EuGH, Slg 1989, 1991, Rn 19 – Leukhardt; Slg 1994, I-4973, Rn 89 ff – Deutschland/Rat; Slg 1994, I-5555, Rn 21 – SMW Winzersekt. Streinz in: ders, EUV/EGV, Art 15 GRCh Rn 5, spricht von einem fast schrankenlosen Ermessen. 107 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 94 – Deutschland/Rat; Slg 1994, I-5555, Rn 22 – SMW Winzersekt. 108 EuGH, Slg 1994, I-5555, Rn 27 – SMW Winzersekt. 109 EuGH, Slg 1995, I-3115, Rn 57 f – Fishermen’s Organisations. 110 EuGH, Slg 1994, I-4973 ff – Deutschland/Rat. 111 Berrisch EuR 1994, 461, 466 ff; Everling CMLR 33 (1996) 401, 419 f; ders ZHR 162 (1998) 403, 417 ff; Heitsch EuGRZ 1997, 461, 467; Hohmann EWS 1995, 381 ff; Huber EuZW 1997, 517, 521; Kokott AöR 121 (1996) 599, 607 f; Nettesheim EuZW 1995, 106 ff; Pauly EuR 1998, 242, 256 ff; Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 273 f; Stein EuZW 1998, 262 ff; Storr Der Staat 36 (1997) 546, 565 ff. And in der Beurteilung Dony CDE 1995, 461, 486, 491. 112 Breuer Diskussionsbeitrag, VVDStRL 61 (2002), 430. 113 EuGH, Slg 1996, I-6065, Rn 26 ff – T. Port = JK 98, EGV Art 189/2; dazu Wunderlich (Fn 21) S 211 f.

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zum Grundrechtsschutz auf der Ebene des GG ist nur deswegen gewahrt, weil auch das BVerfG dem Gesetzgeber im wirtschaftsrechtlichen Bereich einen erheblichen Gestaltungsspielraum gewährt.114 Lösung Fall 3: Die gewerbliche Vermietung von CDs ist eine wirtschaftliche Betätigung im Schutzbereich des Grundrechts der Berufsfreiheit. Wird ihr Verbot kraft Gemeinschaftsrechts angeordnet, so beeinträchtigen die handelnden Gemeinschaftsorgane den Schutzbereich. Dies gilt auch, wenn sich das Verbot aus Richtlinienrecht ergibt, sofern dieses das mitgliedstaatliche Recht – wie im vorliegenden Fall – mit hinreichender Bestimmtheit vorzeichnet, so dass der Verstoß nicht dem Mitgliedstaat allein zugerechnet werden kann. Die Beeinträchtigung lässt sich jedoch unter Rückgriff auf das Gemeinwohlerfordernis des Schutzes geistigen Eigentums rechtfertigen. Dieses Gemeinwohlerfordernis findet seine Verankerung in Art 36 AEUV sowie auch in Art 167 II 4. Spstr AEUV, der die Förderung künstlerischen Schaffens vorsieht. Auch völkerrechtliche Verpflichtungen der Gemeinschaft aus dem TRIPS stützen die rechtfertigende Argumentation. Angesichts der offensichtlichen Gefahr des unberechtigten Kopierens ist die Regelung nicht unverhältnismäßig, und weil eine Lizenz zum Vermieten mit dem Schutzrechtsinhaber ausgehandelt werden kann, ist auch nicht jede Möglichkeit der Vermietung ausgeschlossen, die Wesensgehaltsgarantie also nicht verletzt.

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IV. Exkurs: Von der berufsbezogenen Bildung zum Grundrecht auf Bildung Über den Zugang zu beruflicher Aus- und Weiterbildung hinaus gewährleistet Art 14 I GRCh ein Recht auf Bildung und bezieht damit auch den schulischen Unterricht ein.115 Der Pflichtschulunterricht muss zudem nach der ausdrücklichen Regelung in Abs 2 kostenlos sein. Inhaltlich kann auf das Recht auf Bildung in Art 2 1. ZP EMRK Bezug genommen werden116. In diesem Kontext ist das Recht aus Art 14 I teilhaberechtlich zu verstehen.117 Ergänzend enthält Abs 3 die Freiheit zur Gründung von Privatschulen als lex specialis zu Art 16 GRCh,118 wobei die nähere Ausgestaltung dem mitgliedstaatlichen Recht überantwortet wird. Das Gebot, dabei demokratische Grundsätze zu achten, zielt offenbar darauf ab, dass keine Unterscheidung nach dem sozialen Status der Eltern erfolgen soll,119 wenngleich diese – selbstverständliche – Forderung an dieser Stelle nur in Grenzen mit dem Demokratieprinzip im Zusammenhang steht. Über den Ausgestaltungsvorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten werden schließlich auch Elternrechte im Bildungswesen allgemein gesichert.

114 Classen JZ 1997, 454, 455; Heitsch EuGRZ 1997, 461, 467 f; Zuleeg NJW 1997, 1201, 1203. Hier handelt es sich um ein gemeineuropäisches Phänomen: s o Fn 25, sowie Günter (Fn 8) S 227 ff. 115 Ausf Caspar RdJB 2001, 165. Zur Entstehungsgeschichte instruktiv Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 14 Rn 1 ff. 116 Zu den Schwierigkeiten bei der Herausarbeitung des Rechtfertigungstatbestandes s Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 9. 117 Statt vieler Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 39 Rn 38. 118 Erläuterungen des Präsidiums zur Charta der Grundrechte, ABl EG 2007, Nr C 303/17, 22; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 10. 119 S Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 12 aE.

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Trotz der umfangreichen grundrechtlichen Gehalte des Art 14120 ist das Potential der Gewährleistung gering angesichts der Verpflichtungsadressaten der Charta (einschließlich ihres Art 14) gemäß Art 51 I. Ein Eingriff durch die EU-Organe ist nur in Ausnahmefällen denkbar, und die mitgliedstaatliche Bindung wird vor allem in der Fallgruppe der Einschränkung von Grundfreiheiten relevant,121 die aber gerade im Rahmen von Art 51 I höchst umstritten ist (→ § 14 Rn 53).122 Der EuGH nimmt in seiner neueren bildungsbezogenen Rechtsprechung nicht auf Art 14 Bezug.123

120 Diese können hier nicht vollständig dargestellt werden; s nur Jarass GRCh, Art 14. 121 Vgl Folz in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, 2012, Art 14 GRCh, Rn 3. 122 Ruffert EuR 2004, 165, 176 ff. Auch Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 39 Rn 33 nimmt an, dass es selten zu einer Bindung der Mitgliedstaaten kommen wird. 123 Vgl nur EuGH, Slg 2007, I-6957 ff – Kommission/Deutschland sowie EuGH, Slg 2007, I-6849 ff – Schwarz u Gootjes-Schwarz (z einkommenssteuerlichen Abzugsrecht von Schulgeldzahlungen an Privatschulen).

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§ 20 Eigentumsgrundrecht Christian Calliess Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1979, 3727 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1; Slg 1994, I-4973 ff – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2; Slg 1998, I-8001 ff – Generics; Slg 1999, I-2603 ff – Nitratrichtlinie; Slg 2003, I-7411 ff – Booker Aquaculture Ltd; Slg 2003, I-11893 ff – Flughafen Hannover-Langenhagen; EuGH,Slg 2008, I-6351– Kadi. Schrifttum: Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der EU, 1998; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997; Rengeling Die wirtschaftsbezogenen Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, DVBl 2004, 453 ff; Jarass, Der grundrechtliche Eigentumsschutz im EURecht, NVwZ 2006, 1089; Becker, Market Regulation and the „Right to Property“ in the European Economic Constitution, YEL 2007, 254; Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008; ders Zu den Grenzen der Überformung mitgliedstaatlichen Eigentums durch den Unionsgesetzgeber – Überlegungen im Lichte von 345 AEUV in: Wittinger/Wendt/Ress (Hrsg) Festschrift für Wilfried Fiedler, 2012, 463; Ruffert, Zur Leistungsfähigkeit der Wirtschaftsverfassung, AöR 134 (2009), 198.

I. Einführung 1. Stellung und Bedeutung des Eigentumsgrundrechts im Unionsrecht Das unionsrechtliche Eigentumsgrundrecht hat seine ausdrückliche Formulierung in Art 17 GRCh gefunden: „Jede Person hat das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist“. Art 17 II GRCh erweitert den Schutzbereich explizit durch die Formulierung: „Geistiges Eigentum wird geschützt“. Das europäische Eigentumsgrundrecht zählt im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, den EU und Mitgliedstaaten bilden1, zu den zentralen Grundrechten. Dies nicht zuletzt aufgrund seiner Ausformung im Kontext der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), deren Integrationsansatz stark wirtschaftlich ausgerichtet war.2 Ohne die marktwirtschaftliche Vorbedingung eines gesicherten Privateigentums liefe eine Vielzahl der Bestimmungen des europäischen Wirtschaftsverfassungsrechts3 in die Leere. Bereits

1 Hierzu die Beiträge in Calliess (Hrsg) Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, 2007; Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 1 EUV Rn 36 ff. 2 Zur Bedeutung und Entwicklung der Eigentumsfreiheit in der EU: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32, Rn 10 ff; Winkler Die Grundrechte der Europäischen Union 2006, 442; Schwarze in: ders, EU-Komm, Art 17 GRCh Rn 1; Jarass NVwZ 2006, 1089 f; ders GRCh Art 17 Rn 2; Frenz GR, § 3 Rn 2771 ff; Cremer in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 1 ff; s zum Eigentumsschutz im Völkerrecht Kriebaum Eigentumsschutz im Völkerrecht, 2008; Schreuer/Kriebaum The concept of property in Human Rights Law and International Law in: LA Wildhaber 2007, S 743. 3 Dazu Ruffert Die Wirtschaftsverfassung im Vertrag über eine Verfassung für Europa, Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht, Vorträge und Berichte, Nr 144 Bonn 2004.

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im EWGV hatte das Schutzgut des Eigentums, so wie es in den Mitgliedstaaten gewährleistet ist, Anerkennung gefunden, indem schon damals der heutige Art 345 AEUV die Unberührtheit der mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen garantierte und der heutige Art 36 AEUV eine Ausnahme von der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs ua zum Schutz des geistigen und kommerziellen Eigentums festschrieb.4 Freilich konnte diesen Bestimmungen keine Eigentumsgarantie im Sinne eines subjektiven Rechts gegen Eigentumsbeeinträchtigungen durch die Union entnommen werden5, so dass der EuGH das Eigentumsgrundrecht schon früh als allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkannte und ausformte (dazu sogleich unter Rn 13). Inhaltlich entspricht Art 17 GRCh – trotz einiger Unterschiede in der Formulierung des Grundrechts – der Norm des Art 1 1. ZP EMRK.6 Funktionell ist das unionale Eigentumsgrundrecht zuvorderst als Abwehrrecht gegen hoheitliche Eingriffe ausgestaltet, weist aber auch eine Schutzdimension gegenüber privaten Übergriffen auf.7 Ergänzend garantiert Art 345 AEUV die Unberührtheit der mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen während Art 36 AEUV eine Ausnahme von der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs ua zum Schutz des geistigen und kommerziellen Eigentums zulässt.8

2. Abgrenzung zwischen Eigentums(grund)recht und Eigentumsordnung 4

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Im Zusammenspiel zwischen Art 345 AEUV und der Eigentumsgarantie des Art 17 GRCh muss zwischen Eigentumsrecht und Eigentumsordnung unterschieden werden.9 Während das Eigentumsrecht als Unionsgrundrecht in Art 17 GRCh unionsrechtlich konkretisiert ist, lässt der AEUV gemäß Art 345 AEUV „die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt“. Fraglich ist jedoch, welcher Aussagegehalt Art 345 AEUV konkret entnommen werden kann, bzw welche rechtlichen Aspekte unter den Begriff der mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen fallen, die zu bestimmen die Mitgliedstaaten ausweislich des Wortlauts des Art 345 AEUV alleinig kompetent sind. Bei der Lösung dieser Frage ist zu bedenken, dass sich in Art 345 AEUV das höchst problematische Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel der Harmonisierung des EU-Binnenmarktes über die entsprechenden Kompetenzgrundlagen einerseits sowie der fortbestehenden Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihre Eigentumsordnungen andererseits manifestiert.10

4 Vgl Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 2 u 5 ff; Depenheuer in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 17 GRCh Rn 16 (mwN). 5 Ausf zur Grundrechtsqualität der Vorgängervorschrift des Art 295 EGV (mit negativem Ergebnis) Thiel JuS 1991, 274 ff; ebenso Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 4; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997, 34 f. 6 Vgl die (freilich unverbindlichen) Erläuterungen zu Art 17 GRCh, Abl 2007 Nr C 303/02; s a Folz in: Vedder/Heintschel v Heinegg, EVV, Art II-77 Rn 2. 7 Jarass GRCh, Art 17 Rn 2, 29; ders NVwZ, 2006, 1089, 1090. 8 Depenheuer in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 17 Rn 16 mwN; s dazu a Frenz GR, § 3 Rn 2782 ff. 9 Vgl auch Streinz in: ders EUV/AEUV, Art 17 GRCh Rn 4; differenzierend: Heselhaus in: ders/ Nowak, GR, § 32 Rn 15 ff; ausf Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 28 ff; Akkermans/Ramaekers ELJ 2010, 292. 10 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 6.

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Fall 1: Nachdem die sog „Elektrizitätsrichtlinie“11 und die „Gasrichtlinie“12 nicht hinreichend zur angestrebten Belebung des Wettbewerbs der Energieversorgungsunternehmen (EVU) auf dem Strommarkt geführt haben, plant die Kommission weitere Entflechtungsmaßnahmen, um die Liberalisierung der Energiemärkte voranzutreiben. Insbesondere werden zwei Optionen zur Trennung der Energienetze von der Erzeugung diskutiert: Vorgeschlagen wird einerseits eine eigentumsrechtliche Entflechtung (sog Ownership Unbundling). Sie würde dazu führen, dass die Stromerzeugungssparte und das Stromversorgungsnetz nicht mehr ein- und demselben EVU gehören dürfen. Im Falle etwaiger Überlappungen wären deshalb – je nach unternehmerischer Opportunität – entweder die Eigentumsanteile am Stromnetz oder aber an der Stromerzeugungssparte zu veräußern. Andererseits käme die Einführung eines sog ISO-Modells (Independent System Operator) in Betracht. Es würde dem EVU anders als beim Ownership Unbundling die Möglichkeit bieten, das Eigentum am Stromversorgungsnetz zu behalten, ohne die Erzeugungssparte veräußern zu müssen. Das Netz wäre dann aber von einem (rechtlich wie wirtschaftlich) unabhängigen Systembetreiber (ISO) zu managen. Ihm obläge im Falle eines Netzausbaus zB die Planung, Konstruktion und Inbetriebnahme der neuen Infrastruktur, während der Netzeigentümer die dadurch erforderlich werdenden Investitionen zu tragen und etwaige Sicherheiten zu stellen hätte, ohne jedoch über die Notwendigkeit dieser Aufwendungen mitentscheiden zu dürfen. Freilich soll der Netzbetreiber dem Netzeigentümer aber einen angemessenen Anteil am erwirtschafteten Netzzugangsentgelt als Gegenleistung für die Netznutzung zukommen lassen. In den Mitgliedstaaten regt sich Widerstand gegen die vorgesehenen Maßnahmen. So sei insbesondere das geplante „Ownership Unbundling“ nicht unionskonform, da ein Zwang zur eigentumsmäßigen Trennung eines (staatlichen oder privaten) EVU von seinem Stromversorgungsnetz entgegen Art 345 AEUV die nationalen Eigentumsordnungen berühre. Aber auch das ISO-Modell verstoße gegen diese Vorschrift, da bei dessen Verabschiedung das Eigentum am Netz nicht mehr selbstständig genutzt werden dürfe und dadurch zu einer leeren Hülle ohne jeden Wert werde. Das ISO-Modell komme deshalb einer de-facto-Enteignung gleich und berühre die mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen somit ebenfalls in unzulässiger Weise. Sind die geplanten Maßnahmen mit Art 345 AEUV vereinbar?13

In der – bzgl Art 345 AEUV wenig ergiebigen – Rechtsprechung des EuGH14, findet sich wiederholt die Aussage, dass die Mitgliedstaaten bei der Regelung des Eigentumsrechts an die unionsrechtlichen Vorgaben gebunden seien.15 Dies bedeutet, dass selbst wenn bestimmte eigentums(ordnungs)rechtliche Aspekte in den Zuständigkeitsbereich der Mit-

11 RL 96/92 des Europäischen Parlaments und des Rates v 19.12.1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt – „Elektrizitätsrichtlinie“, ABl 1997, L 27/20. 12 RL 98/30 des Europäischen Parlaments und des Rates v 22.06.1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt – „Gasrichtlinie“, ABl 1998, L 204/1. 13 Zur Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz als Unionsgrundrecht vgl Calliess (Fn 9). 14 Ausf dazu Calliess (Fn 9) S 31 ff. 15 Vgl EuGH, Slg 1992, I-777, Rn 14 – Kommission/Italien; Slg 1992, I-829, Rn 18 f – Kommission/Vereinigtes Königreich; Slg 1993, I-5145, Rn 22 – Collins (Phil); dazu Ruffert in: Henneke (Hrsg) Kommunale Perspektiven im zusammenwachsenden Europa, 2002, 10, 19; vertiefend Calliess in: FS Fiedler, 2012, 463 ff.

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gliedstaaten fallen (bspw der Betrieb öffentlicher Fernmeldeanlagen16, die Ausübung mitgliedstaatlicher Befugnisse beim Erwerb von Eigentum17, die nicht marktgerechte Vergütung öffentlicher Postunternehmen mit Monopolstellung zugunsten privatrechtlicher Tochtergesellschaften18 oder Flughafengebühren19), jene nicht von den materiellen Vorgaben des Primärrechts befreit sind.20 Der Gerichtshof betrachtet Art 345 AEUV mithin nicht isoliert, sondern eingebettet in den Kontext der jeweils einschlägigen Vertragsbestimmungen.21 Die Norm wird damit unter einen allgemeinen Vorbehalt der Kompatibilität mit dem Unionsrecht, insbesondere den Grundfreiheiten und dem Nichtdiskriminierungsverbot gestellt.22 Im Schrifttum divergieren die Ansichten bezüglich der Auslegung des Art 345 AEUV.23 Eine weite Interpretation der Norm subsumiert unter den Begriff Eigentumsordnung alle das Privateigentum betreffenden verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten, womit nicht nur die Vorschriften bzgl der Rechte des Eigentümers beim Entzug des Eigentums gemeint sind, sondern ebenfalls auch jene betreffend die Ausübung und Nutzung des Eigentums.24 Diese Ansicht überzeugt jedoch schon deshalb nicht, weil ein solches Verständnis auf eine Gleichsetzung der Begriffe „Eigentumsordnung“ und „Sachenrecht“ hinausliefe, womit letztlich jede das Eigentum berührende Maßnahme von Art 345 AEUV erfasst wäre.25 Dann aber würden der Union – insbesondere im Bereich der Grundfreiheiten – Kompetenzen entzogen, die sie zur Verwirklichung des Binnenmarktzieles benötigt. So zeigt auch Art 36 AEUV im Hinblick auf das dort genannte kommerzielle Eigentum, dass mitgliedstaatliche Maßnahmen unverhältnismäßig sein können und damit der Einwirkung des Unionsrechts unterliegen.26 Eine andere Auffassung geht davon aus, dass der Union jede Entscheidung über die Eigentumsordnung und damit jeder formale Entzug von Eigentumspositionen versagt sein soll.27 An diese Auslegung anknüpfend will eine weitere Ansicht auf Grundlage des Art 345 AEUV nicht nur die formale Eigentumsentziehung, sondern jeden gleichgewichtigen unionalen Eingriff in den Kern des mitgliedstaatlich konstituierten Eigentumsgrund-

16 EuGH, Slg 1985, 873, Rn 21 f – Italien/Kommission. 17 EuGH, Slg 1999, I-3099, Rn 38 – Konle; bekräftigt in Slg 2003, I-4899, Rn 39 – Salzmann; Slg 2002, I-11453, Rn 69 – British American Tobacco und Imperial Tobacco. 18 EuG, Slg 2000, II-4055, Rn 77 – Ufex ua. 19 EuGH, Slg 2001, I-2613, Rn 58 f – Portugal/Kommission. 20 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 8. 21 Calliess (Fn 9) S 33. 22 Calliess (Fn 9) S 35; von einem weiteren Verständnis des Begriffs der „Eigentumsordnung“ ging GA Ruíz-Jarabo Colomer in seinen Schlussanträgen zu EuGH, Slg 2002, I-4731 ff Rn 56 – Kommission/Portugal = JK 2002, EGV Art 56/1 aus. Seiner Ansicht nach habe sich die von Art 295 EGV (Art 345 AEUV) geforderte Achtung der Eigentumsordnung der Mitgliedstaaten auf alle Maßnahmen zu erstrecken, die es dem Staat erlauben durch hoheitlichen Eingriff zur Gestaltung des Wirtschaftsgeschehens beizutragen. 23 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 9. 24 Bär-Bouyssière in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 295 EGV Rn 7; Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 345 AEUV Rn 2; Ludwigs Rechtsangleichung nach Art 94/95 EG-Vertrag, 2004, 265; Stumpf EuR 2007, 291, 295 ff. 25 Calliess (Fn 9) S 37. 26 Calliess (Fn 9) S 135. 27 Schmidt-Preuß EuR 2006, 463, 475; Koenig/Kühling in: Streinz, EUV/AEUV, Art 345 Rn 13.

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rechts untersagen.28 Unberührt bleiben soll allein die Befugnis der Union zum Erlass nutzungsbeschränkender Maßnahmen.29 Dem stehe auch die in Art 17 I 2 GRCh vorgesehene Entschädigungsregelung für Eigentumsentziehungen nicht entgegen, da sich diese Norm nur auf Enteignungen unionsrechtlicher Vermögenspositionen beziehe.30 Gegen diese Auffassung spricht aber schon, dass im Wortlaut des Art 17 GRCh keine Differenzierung zwischen mitgliedstaatlichen und unionalen Eigentumsrechten angelegt ist. Hinzu kommt, dass die wechselseitige Durchdringung und Verflechtung der mitgliedstaatlichen und europäischen Eigentumsordnungen innerhalb des unionalen Staaten- und Verfassungsverbunds zur Unerheblichkeit der genauen Herkunft der jeweiligen Rechtsposition führt.31 Im Ergebnis kann daher, insbesondere auch vor dem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund32 des Art 345 AEUV der Begriff der „Eigentumsordnung“ in Art 345 AEUV nur als „Eigentumszuordnung“ zu verstehen sein.33 Inhaltlich und methodisch überzeugend sowie vor allem der EuGH-Rechtsprechung korrespondierend erscheint deshalb der auch vom überwiegenden Schrifttum geteilte Ansatz, den Begriff der Eigentumsordnung im Rahmen von Art 345 AEUV in dem Sinne eng auszulegen, dass er nicht die gesamte mitgliedstaatliche Eigentumsrechtsordnung oder den Entzug eines mitgliedstaatlich konstituierten Eigentumskerns vor unionalen Zugriffen schützt, sondern sich speziell auf die Frage der Eigentumszuordnung von Unternehmen in öffentlicher oder privater Trägerschaft konzentriert.34 Der Normzweck von Art 345 AEUV ist insoweit darin zu sehen, dass Privatisierungs- oder Sozialisierungsmaßnahmen den Mitgliedstaaten vorbehalten sind; sie allein entscheiden gemäß ihren jeweiligen wirtschaftspolitischen Vorstellungen über eine wettbewerbskonforme Zuordnung des Eigentums. Davon unberührt bleibt aber die Befugnis der Union, den Umfang der Sozialpflichtigkeit des Eigentums festzulegen und dabei auch in den Bestand des Eigentums einzugreifen.35 Unionsmaßnahmen können so gesehen sogar enteignenden Charakter haben,36 ohne damit die grundsätzliche Entscheidungskompetenz der Mitgliedstaaten über die Eigentumszuordnung in Frage zu stellen.37 Art 345 AEUV untersagt daher nur solche Eigentumsentziehungen, die die Zuordnung in Privat- und Staatseigentum betreffen und sich dabei als Teilstücke eines Privatisierungsbzw Verstaatlichungskurses gesamter Branchen oder gar einer gesamten Volkswirtschaft darstellen.38 Die Norm beeinflusst jedoch nicht die Kompetenz des EuGH, Inhalt und Grenzen des unionsrechtlichen Eigentumsrechts nach Art 17 GRCh zu bestimmen.39 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

Storr EuZW 2007, 232, 235. Schmidt-Preuß EuR 2006, 463, 475; Linsmeier/Hamann et 5. 2007, 93, 96. Schmidt-Preuß EuR 2006, 463, 475. Calliess (Fn 9) S 135. Dazu Calliess (Fn 9) S 134; vertiefend Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 2; Hatje in: v Bogdandy, Europ VfR, 2003, 683, 735. Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 10. Calliess (Fn 9) S 41. Vgl Schlussanträge GA Mischo, EuGH, Slg 2003, I-11893, Rn 37 ff – Flughafen HannoverLangenhagen. Vgl Rn 42 ff. Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 11. Calliess (Fn 9) S 42. Depenheuer in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 17 Rn 16; Jetzinger Das Grundrecht auf Eigentum in den Transitionsstaaten des Balkan, 2006, 107; Wieland in: Dreier (Hrsg) GG-Kommentar, Art 14 Rn 22.

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Lösung Fall 1: Eigentumsrechtliche Qualifizierung des Ownership Unbundling Das sog Ownership Unbundling führt zu einer weitgehenden Abspaltung des Stromversorgungsnetzes vom Mutterkonzern. Er darf keine Anteile mehr halten und muss folglich seine Netzbeteiligung zum Großteil an Dritte abgeben. Den EVU bleibt es somit nicht unbenommen über das Netz zu verfügen oder es einer anderen, nicht untersagten Nutzung zuzuführen, weil der weit überwiegende Teil zu veräußern ist; mithin liegt ein Eigentumsentzug vor.40 So hat auch der EGMR eine „zwangsweise Eigentumsübertragung von einem Individuum auf ein anderes“ bei übergeordnetem Gemeinwohlzweck als Enteignung qualifiziert.41 Eigentumsrechtliche Qualifizierung des ISO-Modells Im Falle des ISO-Modells verbleibt das Netzeigentum juristisch gesehen beim bisherigen Eigentümer und wird lediglich von einem unabhängigen Unternehmen (ISO) betrieben und gemanaged. Da die EVU in dieser Variante nach wie vor frei über ihr Netzeigentum verfügen können, handelt es sich bei dieser Maßnahme um eine Beschränkung der Nutzung des Netzeigentums. Es ist aber zu bedenken, dass das Energienetz üblicherweise gerade nur zu dem Zweck errichtet wurde, es auch zu betreiben. Wenn demnach das Eigentum an den Energienetzen zu einer bloßen Hülle ohne jeden Wert verkommt ist es daher fraglich, ob hier überhaupt noch von einer Nutzungsbeschränkung gesprochen werden kann oder nicht vielmehr eine de-facto-Enteignung angenommen werden muss. Da jedoch der ISO nach Maßgabe der Kommission zumindest einen Teil seines Netzzugangsentgelts an den Netzeigentümer weiterzuleiten hat, ist das ISO-Modell im Ergebnis als bloße Nutzungsbeschränkung zu qualifizieren.42 Projektion auf Art 345 AEUV43 Auf dieser Grundlage ist nunmehr zu prüfen, ob das Ownership Unbundling als Eigentumsentzug bzw das ISO-Modell zumindest als Eigentumsbeschränkung unter Art 345 AEUV fallen. In diesem Zusammenhang ist zunächst im Wege einer abstrakten Betrachtung zu ermitteln, welche der obigen Eigentumsbeeinträchtigungen Teil der „Eigentumsordnung“ im Sinne des Art 345 AEUV sind. Vor dem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund44 des Art 345 AEUV, wie auch der EuGHRechtsprechung korrespondierend, muss der Begriff der „Eigentumsordnung“ in Art 345 AEUV richtigerweise als „Eigentumszuordnung“ verstanden werden45 und ist deshalb dahingehend auszulegen, dass er nicht die gesamte mitgliedstaatliche Eigentumsrechtsordnung oder den Entzug mitgliedstaatlich konstituierten Eigentums vor unionalen Zugriffen schützt, sondern sich speziell auf die Frage der Eigentumszuordnung von Unternehmen in öffentlicher oder privater Trägerschaft konzentriert.46 Der Sinn von Art 345 AEUV ist darin zu sehen, dass die EU mit ihren Maßnahmen keine Privatisierung oder Vergesellschaftung von Eigentum bezwecken oder bewirken darf. Davon unberührt bleibt aber die Befugnis der Union, den Umfang der Sozialpflichtigkeit des Eigentums festzulegen und dabei auch in

40 Zur Unterscheidung Nutzungsbeschränkung/Eigentumsentzug seitens des EuGH siehe die im Urteil Hauer (EuGH, Slg 1979, 3727 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1) gemachten Vorgaben (ausf s u Rn 13 ff). 41 EGMR, EuGRZ 1988, 341, Rn 40 f – James. 42 Vgl auch EuGH, Slg 2003, I-11893, Rn 55 ff – Flughafen Hannover-Langenhagen. 43 Ausf dazu: Calliess (Fn 9) S 59 ff. 44 Dazu Calliess (Fn 9) S 134; vertiefend Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 2; Hatje in: v Bogdandy, Europ VfR, 2003, 683 (735). 45 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 10. 46 Calliess (Fn 9) S 41.

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den Bestand des Eigentums einzugreifen.47 Nach alledem wird der unionsrechtlich veranlasste Entzug von mitgliedstaatlich konstituiertem Eigentum somit nicht generell von Art 345 AEUV untersagt. Zu klären bleibt nun, welche Entflechtungsmaßnahmen Art 345 AEUV verbietet. a) Ownership Unbundling aa) Zwang privater Unternehmen zur Veräußerung an private Netzbetreiber Diese von der Kommission vorgeschlagene Option zur Liberalisierung des Energiemarktes führt nicht zu einem Wechsel von privater zu öffentlicher Trägerschaft. Sie ist mithin mit Art 345 AEUV vereinbar. bb) Zwang staatlicher Unternehmen zur Veräußerung an private Netzbetreiber Umgekehrt steht Art 345 AEUV aber einer unionsrechtlich veranlassten Privatisierung einer durch ein öffentliches Unternehmen abgedeckten Wirtschaftsbranche entgegen, da es sich hierbei um eine vom status quo abweichende Regelung über die Eigentums(zu)ordnung in denjenigen Mitgliedstaaten handelt, in denen das Netz bisher im Eigentum staatlicher Unternehmen stand. Auch wenn im Rahmen des Ownership Unbundling nicht das gesamte vertikal integrierte staatliche Unternehmen privatisiert werden soll, so wird doch ein wesentlicher Bestandteil, das Netz, aus einem Unternehmen herausgelöst; es liegt mithin eine Teilprivatisierung vor, die wie die Privatisierung des gesamten Unternehmens eine dem Art 345 AEUV unterfallende Eigentumszuordnung darstellt. cc) Zwang privater Unternehmen zur Veräußerung an staatliche Netzbetreiber Die Verpflichtung die Netze an ein unabhängiges öffentliches Unternehmen (staatliche Netzbetreiber) zu übertragen, würde sich für die privaten EVU als Verstaatlichung und damit als Eigentumszuordnung im Sinne der herrschenden engen Auslegung des Art 345 AEUV darstellen. Auch dieser Weg ist damit dem Unionsgesetzgeber aufgrund der Kompetenzsperre des Art 345 AEUV verwehrt. dd) Zwang staatlicher Unternehmen zur Übertragung an staatliche Netzbetreiber Da das Eigentum an den Stromnetzen in dieser Konstellation nach wie vor in öffentlicher Hand bleibt, handelt es sich bei dieser „Entflechtungs-Option“ weder um eine Privatisierung noch um eine Verstaatlichung. Ein Zwang staatlicher Unternehmen zur Übertragung ihrer Netze an einen staatlichen Betreiber ist somit keine Eigentumszuordnung und mit Blick auf Art 345 AEUV nicht zu beanstanden. Allerdings wäre diese Maßnahmenvariante kein Fall eines zulässigen Ownership Unbundling im Sinne der Kommissionsvorschläge, weil der jeweilige Mitgliedstaat aufgrund seiner völkerrechtlichen Betrachtung als Einheit („ein- und dieselbe Person“) die Stromversorgungssparte und die Netzgesellschaft aufgrund seines hier wie dort beherrschenden Einflusses gleichermaßen kontrollieren würde. b) ISO-Modell Wenn – wie von der Kommission geplant – das Entflechtungsvorhaben für Unternehmen in staatlichem Eigentum und in privatem Eigentum gleichermaßen gelten soll, kommt für EVU in öffentlicher Hand unter Berücksichtigung der dargestellten Vorgaben des Art 345 AEUV allein das ISO-Modell in Betracht. Wie vorstehend geklärt, handelt es sich bei der ISO-Modell-Maßnahme um eine bloße Nutzungsbeschränkung. Da das jeweilige EVU im Rahmen der ISO-Lösung rechtlich gesehen das Netzeigentum, behält, fehlt es an einer Eigentumszuordnung, so dass die Kompetenzsperre des Art 345 AEUV auf Grundlage der herrschenden engen Auslegung insoweit nicht greifen kann.

47 Vgl auch Schlussanträge GA Mischo, EuGH, Slg 2003, I-11893, Rn 37 ff – Flughafen HannoverLangenhagen.

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II. Die Herleitung und dogmatische Struktur des unionsrechtlichen Eigentumsgrundrechts 13

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Fall 2: (EuGH, Slg 1979, 3727 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1) Die deutsche Winzerin Liselotte Hauer beantragte im Juni 1975 die Genehmigung zur Anpflanzung von Weinreben auf ihrem Grundstück in Bad Dürkheim. Die Genehmigung wurde ihr vom Land Rheinland-Pfalz ua mit der Begründung verweigert, dass die in der Zwischenzeit erlassene EG-VO 1162/76 über Maßnahmen zur Anpassung des Weinbaupotentials an die Marktbedürfnisse48 jede Neuanpflanzung von Weinreben für einen längeren Zeitraum untersage. In ihrer Klage vor dem Verwaltungsgericht machte die Winzerin ua geltend, dass ihr die Bestimmungen der EG-VO auch deswegen nicht entgegengehalten werden könnten, weil sie die in den Art 12 und 14 GG normierten Grundrechte der freien Berufsausübung und des Eigentumsschutzes verletzten. Das Verwaltungsgericht bat den EuGH mit Blick auf diese Frage um Vorabentscheidung. Lösung Fall 2: Grundlegend für den unionsrechtlichen Eigentumsschutz war vor der ausdrücklichen Regelung in Art 17 GRCh das Urteil des EuGH in der Rs Hauer 49. Denn hier erhob der EuGH erstmals einen „eigenen Anspruch bei der Formulierung einer gemeinschaftsspezifischen Eigentumsdogmatik“50. Obwohl es sich um eine ältere Entscheidung handelt, ist sie besonders geeignet, die – im Staaten- und Verfassungsverbund der EU auch weiterhin bedeutsame – methodische Vorgehensweise des EuGH bei der Herleitung des Eigentumsrechts und der Bestimmung seiner Schranken zu verdeutlichen. Den letztlich wird sich der EuGH bei der Auslegung des Eigentumsgrundrechts, vor allem bei der Bestimmung seiner Reichweite und Grenzen, an den Rechtserkenntnisquellen des Art 1 1. ZP EMRK und den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen orientieren. Das legen nicht nur die Wurzeln des Art 17 GRCh nahe, vielmehr weist auch Art 6 III EUV, der nach wie vor diese Rechtserkenntnisquellen in Bezug nimmt, in diese Richtung.

In seinem ersten Prüfungsschritt (unter Rn 14 des Urteils) nimmt der Gerichtshof auf sein Urteil in der Rs Internationale Handelsgesellschaft 51 Bezug und betont, dass die Frage einer etwaigen Verletzung der Grundrechte durch eine Handlung der Unionsorgane nicht anders als im Rahmen des Unionsrechts selbst beurteilt werden könne. Die Aufstellung besonderer, von der Gesetzgebung oder der Verfassungsordnung eines bestimmten Mitgliedstaats abhängiger Beurteilungskriterien würde, so der EuGH, die materielle Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen und hätte daher unausweichlich die Zerstörung der Einheit des Gemeinsamen Marktes und eine Gefährdung des Zusammenhalts der Unionzur Folge. Interessant erscheint, dass der EuGH in seinem ersten Prüfungsschritt maßgeblich auf die Wahrung des unionalen Besitzstandes und nicht auf den Grundrechtsschutz des Einzelnen abstellt. Erst in seinem zweiten Prüfungsschritt (Rn 15 des Urteils) hebt der EuGH unter Bezugnahme auf das erwähnte Urteil in der Rs Internationale Handelsgesellschaft und das Urteil in der Rs Nold 52 hervor, dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsät48 49 50 51 52

VO 1162/76. EuGH, Slg 1979, 3727 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1. Beutler EuR 1980, 130, 134. EuGH, Slg 1970, 1125 ff – Internationale Handelsgesellschaft. EuGH, Slg 1974, 491 ff – Nold.

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zen gehören, die der Gerichtshof zu wahren habe. Der Gerichtshof „hat“ insoweit von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten „auszugehen“. Die in dem Wort „hat“ liegende Verpflichtung wird durch das Wort „auszugehen“ wieder abgeschwächt. Folglich muss der EuGH sich mit der Verbürgung des in Frage stehenden Eigentumsgrundrechts in den Verfassungen der Mitgliedstaaten auseinandersetzen. Der EuGH hat jedoch nur von diesen „auszugehen“ und ist mithin nicht an die konkreten Ausprägungen des Grundrechts in den Verfassungen der Mitgliedstaaten gebunden. Andererseits bieten gerade die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten einen geeigneten Ansatzpunkt, um den europäischen Gehalt des Eigentumsgrundrechts zu ermitteln. Dies gilt um so mehr, als der (Haupt)Gesetzgeber der Union, der Ministerrat, sich aus Vertretern der nationalen Regierungen zusammensetzt. Insofern sollte jenen nicht die Möglichkeit gegeben werden, sich über den Ministerrat den durch die nationalen Grundrechte gezogenen Schranken der Gesetzgebung zu entziehen. Welcher Standard an Eigentum aber soll europarechtlich geschützt werden? Insoweit herrscht heute weitgehend Übereinstimmung, dass sich inhaltlich weder ein Minimalstandard noch ein Maximalstandard an Grundrechtsschutz in der Union praktisch realisieren lässt.53 Einerseits führt das gemeinsame Minimum zu einem zu geringen Schutz, der geeignet ist, auf nationaler Ebene den Vorrang des Unionsrechts in Frage zu stellen.54 Andererseits ist ein wünschenswerter Maximalstandard mit Blick auf das jeweils unterschiedliche Grundrechtsverständnis in den einzelnen Mitgliedstaaten nur schwer durchsetzbar.55 Zur Lösung dieser Problematik wird bei der Gewinnung und Konkretisierung der europäischen Grundrechte ganz überwiegend auf die Methode der wertenden Rechtsvergleichung zurückgegriffen.56 Auch wenn der EuGH bisher die Methode, mit der er allgemeine Rechtsgrundsätze und damit Grundrechte entwickelt, nicht ausdrücklich benannt hat, so ergibt sich doch aus den Schlussanträgen der Generalanwälte57 und Stellungnahmen in der Literatur58, dass im Wege „wertender Rechtsvergleichung“ die „beste Lösung“ für das Unionsrecht auf Grundlage nationaler und internationaler Grundrechtsverbürgungen gefunden werden muss. Anknüpfungspunkt für den EuGH ist insofern die Feststellung, dass sich die allgemeinen Rechtsgrundsätze in die Ziele und Strukturen des EU-Rechts einfügen müssen.59 Folglich tendiert der EuGH dahin, dass bei einer Divergenz zwischen den Normen der nationalen Rechtsordnungen diejenige Rechtsordnung heranzuziehen ist, deren Norm sich am besten in die Ziele und Strukturen des EU-Rechts einpasst.60 In einem dritten Schritt (Rn 17–19 des Urteils) prüft der EuGH dann auf dieser dogmatischen Grundlage das europäische Grundrecht auf Eigentum: „Das Eigentumsrecht wird in der Gemeinschaftsrechtsordnung gemäß den gemeinsamen Verfassungskonzeptionen der Mitgliedstaaten gewährleistet, die sich auch im Zusatzprotokoll zur Europäischen

53 54 55 56 57

Vgl Rengeling Grundrechtsschutz in der EG, 1993, 224 mwN; krit Bleckmann ER, 29 ff. Vgl die Solange-Rspr des BVerfGE 37, 271, 285; 73, 339, 387; Ress/Ukrow EuZW 1990, 499, 504. Rengeling (Fn 53) S 224 mwN. Ausf dazu Bleckmann ER, 52 ff/Rn 99 ff. Schlussanträge GA Gand, EuGH, Slg 1967, 361, 367 – Firma Kampffmeyer; Schlussanträge GA Roemer, Slg 1971, 987, 990 – Zuckerfabrik Schöppenstedt; ders, Slg 1973, 1254, 1258, 1273 – Werhahn; Schlussanträge GA Warner, Slg 1976, 352 – van de Roy. 58 Vgl nur Bleckmann ER, 52 ff/Rn 99 ff; Ress/Ukrow EuZW 1990, 499, 500, 502 f; Rengeling (Fn 53) S 228 mwN. 59 Vgl etwa EuGH, Slg 1970, 1125, Rn 4 – Internationale Handelsgesellschaft. 60 Bleckmann ER, 52 ff/Rn 99 ff.

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Menschenrechtskonvention widerspiegeln.“ Interessanterweise beginnt der EuGH seine Prüfung dann aber nicht mit einer Bezugnahme auf die mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen, sondern mit der Prüfung von Art 1 1. ZP EMRK. Unter Bezugnahme auf Art 1 II 1. ZP EMRK stellt der Gerichtshof abschließend fest, dass das Protokoll Einschränkungen der Benutzung des Eigentums grundsätzlich zulasse, diese aber auf das von den Staaten im Hinblick auf den Schutz des „Allgemeininteresses“ für „erforderlich“ gehaltene Maß beschränke. Diese Bestimmung erlaube indessen noch keine hinreichend genaue Antwort auf die vom vorlegenden Verwaltungsgericht aufgeworfene Frage. Deutlich wird einerseits, dass sich der EuGH in gewisser (nicht rechtlicher) Weise an die EMRK gebunden fühlt, obwohl die EU ihr (bisher) nicht beigetreten ist. Andererseits wird – insbesondere durch den abschließenden Satz – klargestellt, dass der EuGH die EMRK als bloßen Ausgangspunkt seiner Grundrechtsprüfung in Bezug nimmt. Sie ist nur eine „erste Hürde“, die die Unionsmaßnahme mit Blick auf den Grundrechtsschutz passieren muss. Die mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen können als „zweite Hürde“ jedoch zusätzliche Anforderungen des Grundrechtsschutzes stellen. Spätestens in der Rs Hoechst hat der EuGH allerdings unzweideutig die Gleichrangigkeit der beiden Rechtsermittlungsquellen festgestellt,61 die sich solchermaßen auch im Wortlaut des Art 6 III EUV wiederfindet. In einem vierten Prüfungsschritt (Rn 20–22 des Urteils) nimmt der EuGH nunmehr einen Vergleich der mitgliedstaatlichen Verfassungen mit Blick auf die Ausgestaltung des Eigentumsrechts vor: „Für die Beantwortung dieser Frage müssen auch die Hinweise beachtet werden, die den Verfassungsnormen und der Verfassungspraxis der Mitgliedstaaten zu entnehmen sind. Hierzu ist als erstes festzustellen, dass es dem Gesetzgeber nach diesen Normen und der erwähnten Praxis gestattet ist, die Benutzung des Privateigentums im Allgemeininteresse zu regeln.“ Die Bezugnahme auf alle Mitgliedstaaten und die Praxis verdeutlicht, dass der EuGH auch die britische ungeschriebene Verfassung sowie jene Verfassungen, die sich nicht ausdrücklich mit dem Problem befassen, einbezieht. Nachdem der EuGH auf drei ausdrückliche Verfassungsbestimmungen konkret Bezug genommen hat, stellt er fest, dass in sämtlichen Mitgliedstaaten zahlreiche Gesetzgebungsakte der sozialen Funktion des Eigentumsrechts konkreten Ausdruck verliehen hätten: „So gibt es in allen Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Land- und Forstwirtschaft, des Wasserrechts, des Umweltschutzes, der Raumordnung und des Städtebaus, die die Benutzung des Grundeigentums – zuweilen erheblich – einschränken. Insbesondere bestehen in allen Weinbauländern der Gemeinschaft zwar unterschiedlich strenge, aber zwingende Rechtsvorschriften in Bezug auf die Anpflanzung von Weinreben. In keinem der betreffenden Länder werden diese Vorschriften grundsätzlich als unvereinbar mit der Wahrung des Eigentumsrechts betrachtet.“ Das Ergebnis dieser vergleichenden Analyse dient dem EuGH dazu festzustellen, dass der eigentumsbeschränkende Inhalt der VO 76/1162 eine in den Mitgliedstaaten vorkommende und in gleicher oder ähnlicher Form als rechtmäßig anerkannte Einschränkung darstellt. In seinem fünften und sechsten Prüfungsschritt (Rn 23–30 des Urteils) untersucht der EuGH schließlich in einer die vorangegangene Prüfung ergänzenden Weise, ob a) „die in der umstrittenen Regelung enthaltenen Einschränkungen tatsächlich dem allgemeinen

61 EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 13 ff – Hoechst = JK 90, EWGV § 173/2; vgl Ress/Ukrow EuZW 1990, 499, 501.

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Wohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen“ und b) „ob sie nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff in die Vorrechte des Eigentümers darstellen, der das Eigentumsrecht in seinem Wesensgehalt antastet.“ Damit nimmt der EuGH auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip Bezug. Als allgemeiner Rechtsgrundsatz – basierend auf den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten62 – ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip in ständiger Rechtsprechung des EuGH als ungeschriebener Bestandteil des Unionsrechts anerkannt. Nunmehr ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip auch ausdrücklich in Art 5 IV EUV verankert.63 Sodann prüft der EuGH mit Blick auf den konkreten Fall zunächst, ob die Maßnahme dem allgemeinen Wohl dient. Hierfür legt er einen europäischen Maßstab zugrunde. Unter Bezugnahme auf die Präambel der Verordnung und die allgemeinen Ziele der jeweiligen Politik, hier der Agrarpolitik, bejaht er dies. Sodann nimmt er hinsichtlich des so gefundenen Gemeinwohlbelangs (Eindämmung von Überschüssen, Förderung der Weinqualität) mit positivem Ergebnis eine sehr knapp gehaltene und dogmatisch unscharfe, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit nicht klar trennende, Verhältnismäßigkeitsprüfung vor.

III. Das europäische Eigentumsgrundrecht im Einzelnen 1. Vorüberlegungen Wie im deutschen Verfassungsrecht zeichnet sich auch das Eigentumsgrundrecht auf Unionsebene durch einen sog normgeprägten Schutzbereich aus.64 Sein Schutzgegenstand muss – anders als zB im Falle der Meinungsfreiheit – normativ erst durch den Gesetzgeber (innerhalb bestimmter Grenzen, die vom BVerfG beispielsweise durch einen mit den Begriffen Privatnützigkeit und Institutsgarantie umschriebenen Kernbereich gezogen sind)65 geschaffen werden. Eigentum ist also eine Schöpfung der Rechtsordnung(en).66 Ganz in diesem Sinne macht auch Art 345 AEUV deutlich, dass die Inhaltsbestimmung dessen, was eigentlich zum Eigentum zählt, mithin vom Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts umfasst ist, im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund durch die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und die Normen des Unionsrechts gemeinsam bestimmt wird.67 Das unionsrechtliche Schutzgut des Eigentums setzt sich also, wie es Art 17 I 3 GRCh nahe legt, aus den Normen des nationalen und europäischen Rechts zusammen. Auch wenn Art 17 GRCh in Anlehnung an Art 1 1. ZP EMRK formuliert worden ist,68 so spielt die EMRK, respektive Art 1 1. ZP EMRK, bei der Bestimmung des Schutzbereichs eine untergeordnete Rolle. Denn mit Blick auf die Normprägung des Schutzbereichs kann die EMRK über den Wortlaut von Art 1 1. ZP EMRK hinaus nichts beisteuern; den 62 63 64 65 66

Vgl den Überblick bei Schwarze Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl 2005, 690 ff. Ausf Calliess Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der EU, 2. Aufl 1999, 116 ff mwN. Vgl auch Jarass GR, § 22 Rn 15; Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV Art 17 Rn 4. BVerfGE 58, 300 ff – Nassauskiesung. Ehlers VVDStRL 51 (1992), 211, 214 ff; Huber Politische Studien, Sonderheft 1/2000, 45, 46 f, 49 f mwN. 67 S a Jarass GR, § 22 Rn 7; anders Heselhaus, in: ders/Nowak, GR, § 32 Rn 16 u 36 (mwN), der auf der Grdl des Art 295 EGV (Art 345 AEUV) davon ausgeht, dass das EU-Eigentumsgrundrecht seine Normprägung im Wesentlichen durch die mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen erhält. 68 Vgl die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, wonach Art 17 GRCh Art 1 1. ZP EMRK entspr, ABl 2004 C 310/436 f, 457; s zur Diskussion im Konvent Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 17 Rn 6 ff.

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Inhalt des Eigentums prägende Rechtsnormen können der EMRK mangels eines eigenen, das Eigentum ausgestaltenden Gesetzgebers nicht entnommen werden.

2. Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts a) Persönlicher Schutzbereich 16

Auf die Eigentumsfreiheit können sich nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl natürliche als auch juristische Personen des Privatrechts berufen.69 Art 17 GRCh spricht insofern umfassend von „Person“. Die Frage, ob der Eigentumsschutz auch juristischen Personen des öffentlichen Rechts zusteht, wurde in der EuGH-Rechtsprechung bislang noch nicht thematisiert.70 In der Literatur wird dies unter bestimmten Voraussetzungen bejaht; zum Teil wird darauf abgestellt, ob Privatpersonen am Gesellschaftsvermögen beteiligt sind71 oder ob durch die betroffene juristische Person Hoheitsgewalt ausgeübt wird.72 Überzeugenderweise sollte aber auf die Vergleichbarkeit der Gefährdungslage abgestellt werden.73 Insoweit ist eine gewisse Distanz zum Staat ausschlaggebend, so wie dies etwa der Fall bei selbstständigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder gemischtwirtschaftlichen Unternehmen ist, die nicht befugt sind hoheitliche Gewalt auszuüben.74 b) Sachlicher Schutzbereich

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Fall 3: (EuGH, Slg 1994, I-4973 ff – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2) Durch die VO 404/93 wurde eine gemeinsame Marktorganisation für Bananen eingeführt. Nach deren Regelungen sollen Bananen aus den mit der EU über die Entwicklungspolitik assoziierten sog AKP-Staaten sowie solche, die innerhalb der EU einschließlich ihrer überseeischen Gebiete produziert wurden, den größten Teil des Bananenmarktes ausmachen; für aus Drittländern eingeführte Bananen werden Unionskontingente (Importquoten) festgelegt, die auf die Importeure aufgeteilt werden sollen. Gegen die Bananenmarktordnung erhob Deutschland Nichtigkeitsklage gem Art 263 AEUV ua mit der Begründung, dass diejenigen Importeure, die bisher Bananen in großem Umfang aus Mittelamerika eingeführt hätten, durch den mit den Importquoten verbundenen Entzug von Marktanteilen in ihrem Eigentumsgrundrecht verletzt seien.

Art 17 GRCh schützt das Sacheigentum,75 aber auch nichtkörperliche Gegenstände, etwa private Forderungsrechte76 und – wie Art 17 II GRCh deutlich macht – auch

69 EuGH, Slg 1979, 3727 Rn 14 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1; Slg 1980, 907 Rn 1, 88 ff – Valsabbia; Slg 1984, 4057 Rn 1, 21 ff – Biovilac; Slg 1989, 2237 Rn 2, 13 ff – Schräder. 70 Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32 Rn 60; ausf Korte FS Stober, 2008, S 127 ff. 71 V Milczewski (Fn 15) S 279 f. 72 Grabenwarter in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner GG-Kommentar, Anh zu Art 14, S 15. 73 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 54 zu Verfahrensrechten; Müller-Michaels (Fn 5) S 43. 74 So wie hier a Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32 Rn 60. 75 Schon EuGH, Slg 1979, 3727 Rn 17 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1; Rengeling DVBl 2004, 453, 459; Schwarze in: ders, EU-Komm, Art 17 GRCh Rn 3; zu Art 17 GRCh vgl Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 17 Rn 15; Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 17 GRCh Rn 15 ff; ausf Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der EU, 1998, 33 f. 76 Vgl Müller-Michaels (Fn 5) S 66 zu Art 1 1. ZP EMRK; Frenz GR, § 3 Rn 2826 ff.

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geistige Eigentumsrechte (Urheber-, Patent-, Verlags-, Marken- und sonstige Schutzrechte).77 Gemäß seinem Wortlaut schützt Art 17 GRCh nur rechtmäßig erworbenes Eigentum78. Es stellt sich daher die Frage, ob unrechtmäßig erlangtes Eigentum (bspw durch eine Straftat) aus dem Schutzbereich herausfällt. Dies wird man auf Grund des klaren Wortlauts der Norm wohl bejahen müssen.79 Blickt man freilich auf Art 1 1. ZP EMRK, so stellt man fest, dass dort eine entsprechende Einschränkung nicht vorhanden ist. Da die EMRK aber wiederum den Erwerbsvorgang als solchen nicht schützt80, bleibt der Unterschied für Art 17 GRCh im Ergebnis folgenlos81. Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH fällt das Vermögen als solches, etwa in Form von Geldleistungspflichten, nicht unter den Begriff des Eigentums.82 Hatte der EuGH zunächst noch offengelassen, ob Rechtspositionen öffentlich-rechtlicher Natur (zB Sozialleistungen83) vom Eigentumsschutz umfasst werden,84 so hat er dies in neuerer Rechtsprechung angenommen, wenn sie jedenfalls zum Teil auch auf Eigenleistungen des Berechtigten beruhen.85 Daran fehlt es bei kommerziellen Vorteilen als Folge von marktsteuernden Maßnahmen, wie der Zuteilung von Referenzmengen im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation.86 Auch bloße kaufmännische Interessen oder Aussichten, deren Ungewissheit zum Wesen wirtschaftlicher Tätigkeit gehört,87 wie etwa ein bestimmter Marktanteil,88 sind 77 Schon EuGH, Slg 1998, I-1953, Rn 21 ff – Metronome Musik; zuletzt EuGH, Slg 2008, I-271 – Promusicae; Günter (Fn 75) S 34 ff; Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 806; zu Art 1 1. ZP EMRK: Riedel EuGRZ 1988, 333, 334; Grabenwarter (Fn 72) S 13; Tettinger FS Bartenbach, S 43 ff; Jarass NVwZ 2006, 1089, 1091; eingehend Streinz in: ders EUV/AEUV, Art 17 GRCh Rn 24 f. 78 S dazu a Frenz GR, § 3 Rn 2877 ff; vgl jüngst zum geistigen Eigentum EuGH, EuZW 2012, 261 – SABAM= JK 2012, GRCh Art 17 II/1. 79 AA Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 17 GRCh Rn 16; Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 17 GRCh Rn 16; Jarass GR, § 22 Rn 7; ders GRCh, Art 17 Rn 7, wenn es nach dem einschlägigen Recht zu einem wirksamen Erwerb der Rechtspostion gekommen ist, wobei die Rechtswidrigkeit des Erwerbs bei der Beurteilung der Rechtfertigung bedeutsam sei. Weitergehend Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 808, wonach im Streitfall die Rechtmäßigkeit zu unterstellen sei. 80 KomMR, ZE v 11.4.1996 – 28390/95 – Alzbeta Pezoldova/Tschechische Republik (n v). 81 Jarass NVwZ 2006, 1089, 1090. 82 Deutl EuGH, Slg 1991, I-415, Rn 74 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen = JK 92, EWGV Art 177/2; aA Frenz GR, § 3 Rn 2856 ff; unklar hingegen EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 15 ff – Schräder; Depenheuer in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 17 Rn 37 f; Jarass NVwZ 2006, 1089, 1090; krit Günter (Fn 75) S 40 ff sowie Schilling EuZW 1991, 310 f. 83 S dazu a Frenz GR, § 3 Rn 2834 ff. 84 EuGH, Slg 1980, 1979, Rn 22 – Testa; Slg 1991, I-323 ff – Rönfeldt; gegen eine Einbeziehung GA M Darmon im Schlussantrag zu dieser Entscheidung (Rn 16); ausf zum Schutz öffentlich-rechtlicher Rechtspositionen: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32, Rn 46 ff. 85 EuGH, Slg 1991, I-5119, Rn 27 – von Deetzen; Slg 1994, I-955, Rn 19 – Bostock; Slg 1995, I-3875, Rn 14 – Country Landowners Association; EuG, Slg 1995, II-2071, Rn 99 – O’Dwyer; Depenheuer in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 17 GRCh Rn 24. 86 Nach EuGH, Slg 2003, I-14083, Rn 50 – Arcor unterfällt nur der entgeltliche Erwerb einer Referenzmenge dem Eigentumsgrundrecht; dazu Jarass GR, § 22 Rn 10 f; ders NVwZ 2006, 1089, 1091. 87 EuGH, Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold; Slg 1980, 907, Rn 89 – Valsabbia. 88 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 79 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2; s a EuG, Slg 1999, II-2743, Rn 74 – Fruchthandelsgesellschaft.

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nach bisheriger Rechtsprechung vom unionsrechtlichen Eigentumsschutz nicht umfasst. Freilich macht die Abgrenzung, etwa im Falle von wettbewerbssteuernden Maßnahmen der Union (zB Festlegung von Erzeugerquoten und Vermarktungsregeln) Schwierigkeiten. Zumindest immer dann ist das Eigentumsgrundrecht beeinträchtigt, wenn die Nutzung der Produktionsstätten und -anlagen des Gewerbebetriebes unmittelbar betroffen ist. So liegt es etwa bei Quoten für die Erzeugung von Stahl.89 Anders liegt es wiederum bei Maßnahmen, die (wie zB Mindestpreisregelungen90) nur die Vermarktung des Produktes, nicht aber die Nutzung des Eigentums an den Produktionsstätten und -mitteln selbst betreffen.91 Schließlich umfasst das Eigentumsgrundrecht auch den sog Dispositions- und Bestandsschutz, mithin das Vertrauen des Eigentümers auf den Fortbestand der vom Gesetzgeber geschaffenen Rechtslage, die ihm die Nutzung des Eigentums ermöglicht.92 Es handelt sich hierbei um die vom EuGH als „wohlerworbene Rechte“93 bezeichneten Rechtspositionen, die wiederum von den bloßen Erwartungen und Gewinnchancen abzugrenzen sind. Sie setzen einen auf Maßnahmen der Union oder der Mitgliedstaaten gegründeten Vertrauenstatbestand voraus.94 Ein solcher kann nach Auffassung des EuGH freilich dort nicht entstehen, wo Entscheidungen der Unionsorgane im Rahmen ihres Ermessens (insbesondere im Anwendungsbereich der Marktordnungen) verändert werden können.95 Die hiermit verbundene Relativierung des Eigentumsschutzes ist allerdings nicht unproblematisch. Denn der Umfang des Schutzes darf nicht davon abhängen, ob das Vertrauen auf die zukünftige Nutzung durch das Handeln der Union oder der Mitgliedstaaten durchbrochen werden kann. Von maßgeblicher Bedeutung muss das Gewicht des dem Eigentum entgegenstehenden Interesses sein, das im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung zu prüfen ist.96 Die Frage, ob der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb in seiner Gesamtheit (also über den Schutz der in ihm enthaltenen Produktionsmittel hinaus) von der Eigentumsgarantie umfasst ist, bleibt offen.97 Dies ist nicht weiter problematisch, vergegenwärtigt man sich, dass der Schutz des Gewerbebetriebes im Ergebnis nicht weiter reichen

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EuGH, Slg 1982, 4261, Rn 13 – Metallurgiki Halyps; Slg 1985, 2831, Rn 29 – Hoogovens Groep. EuGH, Slg 1980, 907, Rn 90 – Valsabbia. Günter (Fn 75) S 39. Rengeling (Fn 53) S 46. EuGH, Slg 1976, 1097, Rn 18, 20 – Elz; Slg 1979, 2749, Rn 22 – Eridiana. Nach Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32 Rn 43 bezeichnet die Figur der wohlerworbenen Rechte nicht den Vertrauensschutz als Aspekt eines Eingriffs in das Eigentumsgrundrecht, sondern werde separat von der Prüfung der Eigentumsfreiheit durch den EuGH angewandt. EuGH, Slg 1992, I-35, Rn 14 f – Kühn. EuGH, Slg 1979, 2749, Rn 22 – Eridiana; Slg 1982, 3745, Rn 27 – Faust; Slg 1992, I-35, Rn 13 – Kühn; Slg 1994, I-4973, Rn 79 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2. Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 17 GRCh Rn 8; ferner Besse JuS 1996, 396, 400 f; Huber EuZW 1997, 517, 521; Nettesheim EuZW 1995, 106 f. So Rengeling DVBl 2004, 453, 460; Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32 Rn 45; dafür: Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV Art 17 Rn 4; Rengeling (Fn 53) S 36, 46 f; Wetter Die Grundrechts-Charta des EuGH, 1998, S 145 ff unter Hinw auf EuGH, Slg 1984, 4057, Rn 21 ff – Biovilac sowie Thiel JuS 1991, 274, 279; Frenz GR, § 3 Rn 2806 ff; skeptisch mit Blick auf die zitierte Rspr Grabenwarter (Fn 72) S 13; Becker, YEL 2007, 267, 271.

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kann als der seiner im Einzelnen ja bereits vom Eigentumsgrundrecht geschützten Grundlagen, mithin in jedem Falle der Bestand des Unternehmens betroffen sein muss.98 Lösung Fall 3: In den Regelungen zur Bananenmarktordnung konnte der EuGH schon keine Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Eigentumsgrundrechts feststellen. Denn kein Wirtschaftsteilnehmer könne ein Eigentumsrecht an einem Marktanteil geltend machen, den er zu einem Zeitpunkt vor Einführung der gemeinsamen Marktorganisation besessen habe.99 Marktanteile seien „augenblickliche wirtschaftliche Positionen, die den mit einer Änderung der Umstände verbundenen Risiken ausgesetzt sind.“100 Ein Wirtschaftsteilnehmer könne auch kein wohlerworbenes Recht bzw auch nur berechtigtes Vertrauen auf Beibehaltung einer bestehenden Situation geltend machen, solange die Unionsorgane im Rahmen ihres rechtmäßigen Ermessens handelten.101

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3. Beeinträchtigung des Schutzbereichs Fall 4: (EuGH, Slg 1984, 3881 – Agricola Commerciale Olio) Durch EG-VO 71/81 wurde der Kauf von Olivenöl, das die italienische Interventionsstelle A im Rahmen der Verpflichtungen aus der Gemeinsamen Agrarpolitik im Zuge von Interventionsmaßnahmen aufgekauft hatte und das von der EG bereits mehrfach erfolglos zum Verkauf auf dem Markt angeboten worden war, zu einem äußerst günstigen Festpreis ermöglicht. Der vorgesehene Festpreis war offenbar so interessant, dass die Käufer unter den vielen Interessenten ausgelost werden mussten. K ging aus der Verlosung als Käufer hervor. Nachdem A und die Kommission sich nunmehr bewusst geworden waren, dass die Käufer infolge der nicht marktgerechten Festpreise für das Olivenöl mit außerordentlich hohen Gewinnen rechnen konnten, verzögerten sie zunächst die Übergabe der Ware. Sodann erließ die Kommission die VO 2238/81, mit der die VO 71/81 – und damit auch die Grundlage des Anspruchs von K auf Herausgabe des gekauften Olivenöls – „wegen der veränderten Marktlage und zur Vermeidung von schweren Störungen des Marktes aus übergeordnetem öffentlichen Interesse“ rückwirkend aufgehoben wurde. Durch VO 2239/81 wurde das Olivenöl dann erneut angeboten, diesmal aber nicht mehr zu einem Festpreis, sondern an den Meistbietenden unter Festsetzung eines Mindestverkaufspreises. Den ausgelosten Käufern, also auch K, wurde hierbei ein Vorkaufsrecht eingeräumt. Gegen die VO 2238/81 erhob K Nichtigkeitsklage.

Nach Art 17 GRCh liegt ein Eingriff vor, wenn eine eigentumsfähige Position entzogen oder ihre Nutzung, Verfügung oder Verwertung Beschränkungen unterworfen wird.102 Dieser Definition liegt die bisherige Rechtsprechung des EuGH zugrunde, wobei der

98 Müller-Michaels (Fn 5) S 39 f; Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 809; auch EuGH, Slg 1980, 907, Rn 90 – Valsabbia, scheint in diese Richtung zu tendieren. Nach Jarass GR, § 22 Rn 13 deutet EuGH Slg 2003, I-11893, Rn 55, 58 – Flughafen Hannover-Langenhagen darauf hin, dass Art 17 GRCh zum Tragen kommt, wenn die Existenz eines Unternehmens gefährdet ist. 99 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 79 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2. 100 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 79 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2. 101 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 80 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2. 102 Rengeling DVBl 2004, 453, 460; vgl zu Art 17 I 2, 3 GRCh: Grabenwarter (Fn 72) S 15 f; Dupp/Grzeszick in: König/Rieger/Schmitt, Europa der Bürger, 1998, 111, 119.

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EuGH selbst die der EMRK zugrundeliegende Konzeption des Eigentumseingriffs (vgl Art 1 1. ZP EMRK) übernommen hat.103 Mit Blick auf die Normprägung des Eigentumsgrundrechts ist aber bei Maßnahmen des Gesetzgebers zunächst zwischen eigentumskonstituierenden und eigentumsbeeinträchtigenden Normen zu unterscheiden, so dass nicht schon jede rechtliche Regelung, die das Eigentum betrifft, einen Eingriff darstellt. Wie eingangs bereits erwähnt, kann im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund das nationale Eigentum auch durch Unionsregeln mitgestaltet, -begrenzt und -erweitert werden.104 Dabei ist die generelle und pflichtneutrale Regelung der Nutzung des Eigentums durch den Unionsgesetzgeber solange kein Eigentumseingriff, wie sie sich nicht auf durch frühere eigentumskonstituierende Vorschriften entstandene Rechtspositionen erstreckt und die darin enthaltene Befugnis verkürzt.105 a) Beschränkungen des Eigentums

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Beschränkungen sind Maßnahmen, die das Eigentum nicht (auch nicht nur teilweise) entziehen, sondern nur seine Nutzung zeitlich, räumlich oder sachlich einschränken.106 Entsprechend der Eigentumsgarantie der EMRK und den mitgliedstaatlichen Ausformungen des Eigentumsgrundrechts ist der Gesetzgeber auch nach Art 17 I 3 GRCh befugt, die Benutzung des Privateigentums im Allgemeininteresse zu regeln. Demgemäß kann auch die unionsrechtliche Eigentumsgarantie keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern muss in Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden.107 Auch im Unionsrecht findet die Gewährleistung des Eigentums also eine Ergänzung durch das Prinzip der Sozialpflichtigkeit.108 Seine gesellschaftliche Funktion ist zugleich Rechtfertigung und Grenze für Nutzungsbeschränkungen des Eigentums. Eine Eigentumsbeschränkung kann zunächst unmittelbar durch eine Einzelfallregelung, also konkret-individuell, grundsätzlich aber auch durch eine Norm, also abstrakt-generell, erfolgen.109 Wenn die beanstandete Maßnahme den Kläger wie alle anderen betrifft, ihn also nicht in irgendeiner Weise heraushebt, tendiert der Gerichtshof freilich dazu, einen Eingriff abzulehnen.110 Zum Problem wird damit die Beurteilung nur mittelbar belastender Maßnahmen:111 Veränderungen der äußeren Wettbewerbsbedingungen durch Maßnahmen der Union (etwa Interventionsverkäufe von Magermilchpulver zu Billigpreisen zum Nachteil anderer Marktteilnehmer)112 oder die Abschaffung bisher bereitgehaltener Vermarktungsmöglich103 EuGH, Slg 1979, 3727 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1; vgl zur EMRK Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 1 1. ZP EMRK Rn 24 ff; Grabenwarter EMRK § 25 Rn 8 ff. 104 Vgl bereits Pernice Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979, 185. 105 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 153. 106 Jarass NVwZ 2006, 1089, 1093; zum Abgrenzungsproblem vgl etwa Müller-Michaels (Fn 5) S 74 f. 107 EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Slg 1998, I-7967, Rn 79 – Generics; EuG, Slg 2003, II-4653, Rn 170 – Van den Bergh Foods. 108 Dazu: Orfanidis Eigentumsproblematik und Mitbestimmung hinsichtlich der Europäischen Verfassung 2006, 52. 109 Zu weiteren möglichen Klassifizierungsansätzen Frenz GR, § 3 Rn 2953 ff. 110 EuGH, Slg 1994, I-5555, Rn 23 – SMW Winzersekt. 111 S dazu a Cremer in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap. 22 Rn 74. 112 EuGH, Slg 1984, 4057, Rn 22 – Biovilac; Slg 1987, 49, Rn 25 ff – Zuckerfabrik Bedburg.

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keiten113 sind vom EuGH bislang nicht als Eingriff qualifiziert worden. Auf der anderen Seite hat er aber wiederum die negativen Auswirkungen von Sanktionsmaßnahmen auf die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer als Eingriff angesehen.114 Sofern die mittelbaren Wirkungen der staatlichen Maßnahme zu einer unmittelbaren Nutzungs-, Verfügungsoder Verwertungsbeschränkung führen, lässt sich daher durchaus ein Eingriff annehmen; eine Existenzgefährdung ist insoweit nicht erforderlich.115 Im Übrigen ist ein Eingriff in die Berufsfreiheit (Art 15 GRCh) zu prüfen. b) Eigentumsentziehungen Der schärfstmögliche Eingriff, die Eigentumsentziehung als vollem und dauerhaften Verlust der Eigentümerstellung116 umfasst – wenn man sich an der EMRK orientiert – sowohl die formelle Enteignung durch Gesetz bzw aufgrund Gesetzes als auch sonstige Eigentumsbeschränkungen, die den Eigentümer faktisch ebenso wie eine formelle Enteignung treffen (de facto-Enteignungen).117 Es gibt bislang keine konkrete Rechtsprechung des EuGH zu Eigentumsentziehungen.118 Ungeklärt ist überdies, ob im Rahmen der unionsrechtlichen Eigentumsgarantie neben dem formalen Entzug von Eigentum auf Grundlage einer hoheitlichen Maßnahme gegebenenfalls auch sonstige für einzelne Eigentümer unzumutbare Eigentumsbeschränkungen in unmittelbarer Folge einer Unionsmaßnahme als sog de-facto-Enteignung anzuerkennen wären.119 Daran schließt sich die Frage an, welche Intensität ein Eingriff erreichen müsste, um unionsrechtlich als sog de-facto-Enteignung zu gelten. Erschwerend wirkt insofern die Tatsache, dass der EuGH Wirkung und Ausmaß eines Eingriffs in der Regel erst im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung untersucht.120 In Ermangelung richtungsweisender Judikatur fragt sich somit, wie eine Annäherung an den Enteignungsbegriff erfolgen kann.

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aa) Negativabgrenzung Möglich ist insofern zum einen eine Negativabgrenzung, denn ein Eingriff, der vom EuGH bereits als eine reine Nutzungsbeschränkung qualifiziert wurde, wird bei ähnlicher Sachlage erwartungsgemäß kaum eine Entziehung begründen können. So liegt nach jüngerer EuGH-Rechtsprechung in der hoheitlich angeordneten Vernichtung von Sacheigen-

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EuGH, Slg 1996, I-795, Rn 64 – Frankreich u Irland. EuGH, Slg 1996, I-3953, Rn 22 f – Bosphorus; Slg 2000, I-9541, Rn 59 – Invest. So aber Grabenwarter (Fn 72) S 17; wie hier v Milczewski (Fn 15) S 78. Jarass NVwZ 2006, 1089, 1092. EGMR, EuGRZ 1983, 523, Rn 63 – Sporrong u Lönnroth; ausf Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 1. ZP EMRK, 1996, 56 ff; Mittelberger EuGRZ 2001, 364; Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 11; Depenheuer in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 17 GRCh Rn 63; zum Begriff der de-facto Enteignung im Recht der EMRK: Reininghaus Eingriffe in das Eigentumsrecht nach Art 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK 2002, S 71. 118 Mit Verweis auf fehlende Enteignungsbefugnisse der EU Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 17 GRCh Rn 12; vgl auch Jarass GRCh, Art 17 Rn 5; Becker YEL 2007, 267, 277. 119 Zu dieser Frage Stellung nehmend: Calliess (Fn 9) S 51; gegen die Annahme einer „dritten Eingriffskategorie“ neben Entziehung und Beeinträchtigung des Eigentumsrechts: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32, Rn 18 f. 120 Müller-Michaels (Fn 5) S 47.

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tum keine Eigentumsentziehung.121 Konkret ging es in diesem Fall um die durch einen Mitgliedstaat im Rahmen der in einer Richtlinie vorgesehenen Bekämpfung von Tierseuchen angeordnete sofortige Schlachtung und Vernichtung des Fischbestandes einer Fischzuchtanlage. In dieser für die Eigentümer der Fischzuchtanlage höchst eigentumsrelevanten Maßnahme sah der EuGH lediglich eine Nutzungsbeschränkung, die – unabhängig von einem Verschulden der Eigentümer am Ausbruch der Krankheit – auch ohne Entschädigung mit dem Grundrecht auf Eigentum vereinbar sei. bb) Indirekte Aussagen des EuGH zur Abgrenzung 32

Zum anderen äußerte sich der EuGH in einigen Entscheidungen indirekt zu den Anforderungen an eine Enteignung. Insoweit ist wiederum auf das schon mehrfach zitierte, für das Eigentumsgrundrecht grundlegende Urteil Hauer zu verweisen (→ ausf Rn 12 ff).122 Hier führte der EuGH aus: „Im vorliegenden Fall kann das Neuanpflanzungsverbot unbestreitbar nicht als eine Maßnahme zur Entziehung des Eigentums angesehen werden, da es dem Eigentümer unbenommen bleibt, über sein Gut zu verfügen und es jeder anderen, nicht untersagten Nutzung zuzuführen“.123 Mit Bezug auf den Fall formuliert der EuGH hier also ein abstraktes Abgrenzungskriterium zwischen einer Eigentumsbeschränkung und einer Eigentumsentziehung. Demnach hält der EuGH offenbar erst dann die Schwelle zur Entziehung für überschritten, wenn das Recht des Eigentümers in der Form des Eigentumsgegenstandes selbst, der Verfügungsbefugnis oder aber sämtlicher Nutzungsmöglichkeiten dauerhaft beeinträchtigt ist. In zahlreichen weiteren Urteilen hat der EuGH diese grundlegenden Ausführungen bestätigt. So führte der Gerichtshof etwa in einem jüngeren Urteil, dass das Verbot einer bestimmten Bezeichnung für italienische Qualitätsweine zum Inhalt hatte, aus: „Dieses Verbot stellt keinen Entzug des Eigentums iSv Art 1 I 1. ZP EMRK dar, weil es nicht jede sinnvolle Art der Vermarktung der betroffenen italienischen Weine ausschließt“.124 cc) Förmliche Enteignung / de-facto-Enteignung

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Fraglich ist, ob der Gerichtshof ähnlich dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von der Möglichkeit einer sog de-facto-Enteignung ausgeht. Nach der Rechtsprechung des EGMR kann eine Eigentumsentziehung im Sinne der EMRK nicht nur in einer förmlichen Enteignung (formal expropriation/expropriation formelle) begründet sein, sondern auch dann vorliegen, wenn zwar die formale Eigentümerstellung unberührt bleibt, dem Eigentümer aber alle damit verbundenen Rechte genommen werden und damit die Eigentumsposition faktisch verschwindet.125 Offen bleibt insoweit die Position des EuGH. Fraglich ist zum Beispiel, ob gänzlich fehlende oder verlustbringende Entgelte Dritter für eine Eigentumsnutzung noch als Eigentumsbeschränkung anzusehen sind, oder aber hier die Grenze zu einer faktischen Enteignung überschritten ist. Für eine Einordnung als bloße Eigentumsbeschränkung könnte zwar die vorstehend zitierte Rechtsprechung des EuGH126 in der Rechtssache 121 122 123 124 125 126

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EuGH, Slg 2003, I-7411 ff – Booker Aquaculture Ltd. EuGH, Slg 1979, 3727 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1. EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 19 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1. EuGH, Slg 2005, I-3785, Rn 122 – Tocai. EGMR, Nr 7151/75 (1982) Rn 63; s dazu a Frenz GR, § 3 Rn 2900 ff. EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 19 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1.

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Hauer angeführt werden, da hier eine Eigentumsentziehung wie erwähnt abgelehnt wurde, weil der Inhaber das streitgegenständliche (Wein)Gut (wenn auch zu einem deutlich niedrigeren Preis127, so doch immerhin) noch verkaufen konnte. Zu bedenken ist freilich, dass es im Fall Hauer im Hinblick auf die untersagte Neuanpflanzung von Weinreben nicht um eine aktuell zur Ertragserwirtschaftung genutzte Eigentumsposition ging. Interessant sind daher zum Beispiel die Erwägungen des EuGH im Fall Flughafen Hannover-Langenhagen: „Was das Eigentumsrecht betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass die fehlende Befugnis des Leitungsorgans eines Flughafens zur Erhebung eines Zugangsentgelts entgegen der Auffassung des Flughafens nicht bedeutet, dass das Leitungsorgan aus seinen wirtschaftlichen Leistungen auf dem Markt der Bodenabfertigungsdienste, zu dem es Zugang zu gewähren hat, keinen Gewinn erzielen könnte. (…) Da die vom Flughafen vorgebrachte Rüge einer Verletzung des Eigentumsrechts somit auf der irrigen Prämisse beruht, dass ihm die Nutzung seines Flughafens zur Gewinnerzielung verwehrt werde, kann sie nicht durchgreifen.“128 Aus der Formulierung des EuGH, dass der Eigentümer „… nicht nur seine Kosten für das Zurverfügungstellen und den Unterhalt der Flughafeneinrichtungen decken, sondern auch eine Gewinnspanne erzielen kann“ lässt sich folgern, dass die Ermöglichung eines kostendeckenden und darüber hinaus (angemessen) gewinnbringenden Ertrags durch den Einsatz des Eigentums als Voraussetzung einer (zulässigen) Eigentumsnutzungsbeschränkung angesehen wird. Wäre dies nicht gewährleistet gewesen, hätte der EuGH wohl eine de-facto-Enteignung angenommen. dd) Zwischenergebnis Obgleich der EuGH bislang in keinem der von ihm entschiedenen Fälle eine Eigentumsentziehung angenommen hat, ist von der Existenz des Instituts der Eigentumsentziehung auszugehen. Dieses Ergebnis lässt sich aus der EuGH-Rechtsprechung ableiten und wird zudem vom Wortlaut des Art 17 GRCh gestützt. Lösung Fall 4: Die Nichtigkeitsklage von K gem Art 263 IV AEUV ist zulässig, insbesondere ist er durch die von der VO 2238/81 bewirkte Aufhebung der ursprünglichen VO 71/81 unmittelbar und individuell betroffen129, da sie seinen Übergabeanspruch auf das gekaufte Olivenöl zum Erlöschen bringt. Im Rahmen der Begründetheit ist zunächst zu prüfen, ob der K hier überhaupt eine Verletzung des nach Art 6 III zur Unionsrechtsordnung zählenden Eigentumsgrundrechts geltend machen kann. Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob K bereits Eigentum an dem Olivenöl erworben hat, da auch bereits vermögenswerte subjektive Rechte des öffentlichen Rechts als Eigentum anzusehen sind, wenn dadurch Rechtspositionen geschaffen sind, die denjenigen von Eigentümern nahe kommen. Ein solches wohlerworbenes Recht steht dem K in Form seines Übergabeanspruchs aus dem öffentlich-rechtlichen Vertrag gegen die Interventionsstelle zu. Der durch die angefochtene Verordnung bewirkte Entzug dieser Rechtsposition bewegt sich nicht mehr im Rahmen der Sozialbindung des Eigentums, sondern ist, weil er dem K den erworbenen Anspruch völlig nimmt, als Enteignung anzusehen. Ein solcher Eingriff bedarf aber nach Art 1 1. ZP EMRK und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten (Art 6 III EUV) einer gesetzlichen Grundlage, darf nur zum Wohle der

127 So Jarass GR, § 22 Rn 18. 128 EuGH, Slg 2003, I-11893, Rn 55 – Flughafen Hannover-Langenhagen I. 129 Dazu ausf Cremer in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 263 AEUV Rn 33 ff und 39 ff.

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Allgemeinheit vorgenommen werden und muss eine Entschädigungsregelung vorsehen. Dem K wurde zum Ausgleich zwar ein Vorkaufsrecht eingeräumt, aber zu wesentlich ungünstigeren Konditionen als im Ausgangsvertrag. Dieses kann daher die Enteignung nicht kompensieren bzw eine Entschädigungsregelung ersetzen.130

c) Kritik 37

An dieser Stelle offenbart sich bereits eine entscheidende dogmatische Schwäche des bisherigen unionsrechtlichen Eigentumsschutzes: Aufgrund der mangelnden Normierung der Bedingungen für die Begrenzung von Eigentumsrechten verlagert sich die Überprüfung von Eigentumsbeeinträchtigungen in der Regel auf die Ebene der Rechtfertigung der beanstandeten Maßnahme.131 Es findet also gewissermaßen eine Flucht in die Verhältnismäßigkeitsprüfung statt, die der Entwicklung einer in Schutzbereich, Schranken und Rechtfertigung ausdifferenzierten europäischen Eigentumsdogmatik abträglich ist. Es ist zu hoffen, aber auch davon auszugehen, dass der EuGH seine Eigentumsdogmatik auf der Grundlage des Art 17 GRCh verfeinern und präzisieren wird.

4. Rechtfertigung 38

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Fall 5: (EuGH, Slg 1999, I-2603 – Nitratrichtlinie) Bauer B fährt auf seinen Feldern und Weiden reichlich „Dünger“ in Form von Gülle aus. Diese Form der allgemein üblichen „Düngung“ ist mitursächlich für die mitunter hohen, die menschliche Gesundheit belastenden Nitratwerte des Wassers. Dem will die Nitratrichtlinie 91/676/EG vorbeugen. Ihr zufolge müssen die Mitgliedstaaten Flächen als „gefährdete Gebiete“ ausweisen, die in mit Nitrat verunreinigte Gewässer (Maßstab ist insoweit eine Nitratkonzentration von 50 mg/l) auswässern und so zur Verunreinigung beitragen. Für diese sind nationale Aktionsprogramme aufzustellen, die ua zeitliche und mengenmäßige Beschränkungen für die Aufbringung von Düngemitteln auf landwirtschaftliche Flächen vorsehen müssen. Gegen diese Aktionsprogramme wendet sich B vor dem Verwaltungsgericht, zum einen mit dem Argument, dass seine Flächen als gefährdete Gebiete ausgewiesen wurden, obwohl nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch andere Emittenten zu der Überschreitung beitrügen. Zum anderen griffen ihre Reglungen unverhältnismäßig in sein Eigentumsgrundrecht ein und verstießen gegen das Verursacherprinzip. Das VG legt dem EuGH diese Fragen zur Vorabentscheidung vor. Fall 6: (EuGH, Slg 1996, I-3953 – Bosphorus) Die F, eine türkische Flugzeugchartergesellschaft, hatte 1992 von der staatlichen jugoslawischen Flugzeuggesellschaft JAT Flugzeuge geleast. Eines der Luftfahrzeuge wurde von irischen Behörden auf dem Flughafen von Dublin in Anwendung der europäischen Sanktionenverordnung gegen Jugoslawien beschlagnahmt. Hiernach waren die mitgliedstaatlichen Behörden zur Beschlagnahme von Luftfahrzeugen berechtigt, wenn sich diese in jugoslawischem Eigentum befanden. Die F führte demgegenüber ihre Rechte aus dem Leasingvertrag

130 Vgl hierzu Schlussanträge GA Lenz, EuGH, Slg 1984, 3900, 3911 f – Agricola Commerciale Olio; der EuGH, Slg 1984, 3881, Rn 12 ff – Agricola Commerciale Olio, selbst kommt schon vor Prüfung der Enteignung zur Rechtswidrigkeit der Verordnung. 131 So die Kritik von Schilling EuZW 1991, 310, 311.

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an: Da sie weder einen Sitz in Jugoslawien habe, noch dort tätig sei, verletzte die Sanktion nicht nur ihre Eigentumsrechte, sondern sie sei auch offensichtlich unnötig und unverhältnismäßig, da der Eigentümer des fraglichen Luftfahrzeugs bereits durch das Einfrieren der von der klagenden Flugzeuggesellschaft gezahlten Leasingraten auf Sperrkonten bestraft worden sei.

Bei der Prüfung der Rechtfertigung ist nach dem Wortlaut des Art 17 I 2 GRCh wiederum zwischen der Entziehung des Eigentums als schwerstem Eigentumseingriff und Beschränkungen seiner Nutzung zu unterscheiden.132

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a) Rechtfertigung von Enteignungen Eine Enteignung ist unionsrechtlich – auch mit Blick auf Art 17 GRCh und Art 1 II 1. ZP EMRK – zunächst nur dann zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen ist und im öffentlichen Interesse liegt.133 Gesetzlich vorgesehen ist eine Enteignung, wenn sie durch einen der in Art 288 AEUV genannten Rechtsakte ermöglicht wird. Auch wenn es gemäß Art 345 AEUV auf den ersten Blick so scheint, als fehle es der Union für Enteignungen an einer Gesetzgebungskompetenz (→ ausf dazu Rn 4 ff), so hat die EU doch in manchen Bereichen (zB in der Landwirtschaft) so weitreichende Kompetenzen erhalten, dass diese sich auf individuelle Eigentumspositionen auswirken und im Einzelfall auch den Grad eines (zumindest faktischen) Eigentumsentzuges erreichen können.134 Der Begriff des öffentlichen Interesses entspricht im Wesentlichen dem Begriff des Allgemeininteresses in Art 1 I 2 1. ZP EMRK.135 Hierunter soll, mit Blick auf die Judikatur der Mitgliedstaaten, auch der Entzug des Eigentums zugunsten Privater fallen, soweit damit zugleich öffentliche Interessen verwirklicht werden.136 Ob es für die Rechtfertigung einer Eigentumsentziehung auch einer gesetzlichen Entschädigungsregelung bedarf, war lange Zeit unklar, ist mit Inkrafttreten der Grundrechtecharta aber nunmehr verbindlich geregelt:137 Blickt man in Art 17 I 2 GRCh, so ist dies – abweichend vom Wortlaut des Art 1 1. ZP EMRK – der Fall.138 Der EuGH hatte diese Frage bis dahin nicht eindeutig beantwortet: Einerseits sollten in Übereinstimmung mit der vom EuGH im Fall Hauer entwickelten Linie durch die wirtschaftliche Lage gebotene Produktionsbeschränkungen, selbst wenn sie die Rentabilität und Substanz eines Unternehmens beeinträchtigen und somit enteignenden Charakter haben können, keinen Verstoß gegen das Eigentumsrecht darstellen,139 andererseits wies der Gerichtshof aber darauf hin, dass es mit den Erforder-

132 Ebenso Art 1 1. ZP EMRK; grundl EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 19 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1. 133 Vgl auch Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 818; Jarass GR, § 22 Rn 19 ff; Frenz GR, § 3 Rn 2910 ff. 134 Vgl EuGH, Slg 2003, I-7411 ff – Booker Aquaculture Ltd; v Milczewski (Fn 15) S 30. 135 Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 1 1. ZP EMRK Rn 51 f. 136 EGMR, EuGRZ 1988, 341, Rn 40 ff – James; so a Jarass GR, § 22 Rn 21. 137 Zur neuen Rechtslage Frenz GR, § 3 Rn 2929 ff. 138 Trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Entschädigungsregelung in Art 1 I 2 1. ZP verlangt der EGMR idR eine Entschädigung bei staatlichen Enteignungen, vgl dazu Peukert in: Frowein/ Peukert, EMRK, Art 1 1. ZP EMRK Rn 68 ff; Cremer in: Dörr/Grote/Marauhn, KK, Kap. 22 Rn 60; ferner Fischborn, Enteignungen ohne Entschädigung nach der EMRK?, 2010. 139 EuGH, Slg 1982, 4261, Rn 13 – Metallurgiki Halyps; Slg 1985, 2831, Rn 29 – Hoogovens Groep.

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nissen des Grundrechtsschutzes unvereinbar sei, wenn eine Maßnahme der Union den Betroffenen „entschädigungslos um die Früchte seiner Arbeit und der von ihm … vorgenommenen Investitionen“140 bringt. Überdies prüfte der EuGH die Haftung der Union (damalig Gemeinschaft) für eine mögliche Eigentumsverletzung in anderen Fällen unter dem Gesichtspunkt der außervertraglichen Haftung nach Art 340 II AEUV.141 Auch vom EuG wurde offen gelassen, „ob es einen allgemeinen … Rechtsgrundsatz gibt, dass die Gemeinschaft denjenigen zu entschädigen hat, gegen den eine enteignende Maßnahme oder eine Maßnahme ergangen ist, durch die seine Freiheit, von seinem Eigentum Gebrauch zu machen, eingeschränkt wird“. Freilich hielt das Gericht eine Entschädigungspflicht im Hinblick auf enteignende Maßnahmen der Unionsorgane selbst für „vorstellbar“142. Nach der neuen Rechtslage sind Eigentumsentziehungen in Form von formellen Enteignungen schon beim Fehlen einer Entschädigungsregelung unverhältnismäßig und damit rechtswidrig.143 Hinsichtlich der – mit Blick auf die Kompetenzlage (ausf dazu Rn 4 ff) zuvorderst in Betracht kommenden – faktischen Enteignungen ist nach Art 17 I 2 GRCh eine gesetzlich vorgesehene Entschädigung zwar nicht Rechtfertigungsvoraussetzung144, jedoch kann aus der Rechtsprechung des EuGH zum Grundsatz des Vertrauensschutzes geschlossen werden, dass insoweit ein Entschädigungsanspruch aus Art 340 II AEUV in Betracht kommt.145 b) Rechtfertigung von bloßen Nutzungsbeschränkungen 43

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Bloße Nutzungsbeschränkungen des Eigentums sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH rechtmäßig, wenn sie „tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf die verfolgten Ziele unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.“146 Blickt man auf den Wortlaut von Art 17 I 2 GRCh und Art 1 II 1. ZP EMRK, so müssen Nutzungsbeschränkungen „nur“ zur Wahrung des Allgemeininteresses erforderlich sein. Ergänzend ist jedoch die allgemeine Schrankenregelung des Art 52 GRCh mitzulesen,147 so dass sich die Formel des EuGH auch hinsichtlich des Wesensgehalts – und damit in vollem Umfang – bestätigt sieht.148 Hinsichtlich der Rechtfertigung von Nutzungsbeschränkungen orientiert sich der EuGH an zwei Eckpunkten, zwischen denen die jeweilige Verhältnismäßigkeitsprüfung vermittelt. Er prüft die Nutzungsbeschränkung zunächst mit Blick auf ihr gemeinnütziges Ziel.149 Hierfür greift er neben den Regelungen des Rechtsakts auch auf dessen Begrün140 141 142 143 144 145 146 147 148 149

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EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf. EuGH, Slg 1984, 4057, Rn 11, 21 – Biovilac; Slg 1987, 49, Rn 25 ff – Zuckerfabrik Bedburg. EuG, Slg 1998, II-125, Rn 57 – Dubois et fils. Vgl auch EuGH, Slg 2005, I-3785, Rn 122 f – Tocai; EuG, Slg 1998, II-125, Rn 57 – Dubois et fils. AA, da die hiesige Differenzierung nicht vornehmend, Jarass GR, § 22 Rn 24. EuGH, Slg 1975, 533, Rn 44 – CNTA; Slg 1992, I-3061, Rn 12 ff – Mulder; ausdrücklich offenlassend EuG, Slg 1998, II-125, Rn 57 – Dubois et fils. StRspr, vgl nur EuGH, Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik; Slg 1998, I-7976, Rn 79 – Generics. Ausf dazu iZw mit dem Eigentumsgrundrecht: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32 Rn 58. So a Jarass GR, § 22 Rn 27; Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 823; and Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 17 Rn 19. Vgl EuGH, Slg 2005, I-5673, Rn 86 – Alessandrini.

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dungserwägungen zurück. Ob das so ermittelte, mit der jeweiligen Maßnahme verfolgte Ziel dem Allgemeinwohl dient, ist sodann anhand der Bestimmungen der Verträge zu überprüfen, generell etwa nach Art 3 EUV, ferner gemäß den besonderen Vorschriften über die verschiedenen Politikfelder der Union. Demgemäß hat der EuGH in seiner Rechtsprechung zum Eigentumsschutz als relevante Allgemeininteressen zB den Verbraucherschutz150, den Gesundheits- und Umweltschutz151, agrarmarktpolitischen Zielsetzungen der Union gem Art 39 AEUV152, sowie ua auch den Kampf gegen den internationalen Terrorismus153 anerkannt154. Ferner hat er im Fall Metronome die Rechtfertigung der aus urheberrechtlichen Erwägungen erfolgten Einführung eines ausschließlichen Verleihrechts für Compact Discs in der Union mit einem Verweis auf Art 34 AEUV untermauert, der den Schutz des Urheberrechts an Werken der Literatur und Kunst als Bestandteil des gewerblichen und kommerziellen Eigentums umfasse.155 Blickt man gem Art 6 II EUV zusätzlich auf die Rechtsprechung des EGMR, so dienen letztlich alle Maßnahmen, die legitime politische Ziele verfolgen, sei es auf wirtschaftlichem, sozialem oder sonstige öffentliche Belange betreffendem Gebiet, dem Allgemeininteresse.156 Der andere Eckpunkt ist die Antastung des Wesensgehalts des Eigentums.157 Der Wesensgehalt ist angetastet, wenn eine eigentumsbeschränkende Unionsmaßnahme zu einem Entzug des Eigentums oder dessen freier Nutzung führen würde158 oder es dem Betroffenen durch die fragliche Beschränkung praktisch unmöglich gemacht würde, seiner wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen.159 Unberührt bleibt der Wesensgehalt hingegen, wenn die Maßnahme „nur die Modalitäten der Ausübung (des Eigentumsrechts) betrifft, ohne dessen Bestand selbst zu gefährden“160, „wenn es den Wirtschaftsteilnehmern unbenommen bleibt, ihr Eigentum auf andere Weise zu nutzen.“161 Der Wahrung des Wesensgehalts korrespondiert also die Wahrung eines Kernbestands an Eigentum.162 Ein Eingriff in diesen Kernbestand wird vom EuGH danach bewertet, in welchem Umfang die Rechte des Eigentümers insgesamt beschränkt werden.163 Diese Beschränkungen dürfen insoweit keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen164, nicht

150 EuGH, Slg 1994, I-5555, Rn 20 – SMW Winzersekt. 151 EuGH, Slg 1999, I-2603, Rn 56 – Nitratrichtlinie; Tomuschat in: Ossenbühl (Hrsg) Eigentumsgarantie und Umweltschutz, 1989, 47 ff. 152 EuGH, Slg 1989, 1991, Rn 20 – Leukhardt; Slg 1994, I-4973, Rn 82 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2; Slg 1994, I-5555, Rn 21 – SMW Winzersekt. 153 EuGH, Slg 2008, I-6351, Rn 363 – Kadi. 154 S dazu a Frenz GR, § 3 Rn 2977 ff. 155 Nachweise bei Müller-Michaels (Fn 5) S 49. 156 EGMR, EuGRZ 1988, 341, Rn 45 – James ua, zum insoweit übereinstimmenden Begriff „öffentlichen Interesse“ in Art 1 I 2 1. ZP EMRK; aA Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32 Rn 79. 157 S dazu a Frenz GR, § 3 Rn 2992 ff. 158 EuGH, Slg 1984, 4057, Rn 22 – Biovilac. 159 EuGH, Slg 1998, I-7976, Rn 85 – Generics. 160 EuGH, Slg 1994, I-5555, Rn 24 – SMW Winzersekt. 161 EuGH, Slg 1992, I-35, Rn 17 – Kühn. 162 Dazu a Müller-Michaels (Fn 5) S 52 f. 163 Etwas genauer geprüft wurde das Vorliegen von Eingriffen in den Wesensgehalt zB in den Urteilen des EuGH, Slg 1991, I-5119, Rn 29 – von Deetzen; Slg 1992, I-35, Rn 17 – Kühn. 164 S zur Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den EuGH auch Jarass NVwZ 2006, 1089, 1094.

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tragbaren Eingriff darstellen.165 In diesem Zusammenhang ist auch die soziale Funktion des Eigentums zu berücksichtigen.166 Dieses genießt dort besonderen Schutz, wo es der Sicherung der persönlichen Freiheit des Einzelnen dient. Dementsprechend steigt die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers aber in dem Maße, in dem das Eigentum einen sozialen Bezug aufweist167, wie dies etwa im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation der Fall ist.168 Mit Blick auf diese Kriterien wird im Schrifttum zutreffend kritisiert, dass der EuGH einem relativen Verständnis des Wesengehalts zuneigt, demzufolge nur unverhältnismäßige Eingriffe den Wesensgehalt eines Grundrechts verletzen. Dann aber verliert die Wesensgehaltsgarantie gegenüber dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ihre eigenständige Funktion.169 Wenngleich die Frage nach einer Entschädigungspflicht bei Eingriffen in das Eigentumsgrundrecht aufgrund der Rechtsverbindlichkeit der GRCh zumindest im Hinblick auf Eigentumsentziehungen geklärt ist (→ Rn 41), so bleibt das Problem doch bezüglich bloßer Nutzungsbeschränkungen bestehen. Der ausdrückliche Wortlaut des Art 17 I 3 GRCh setzt für die Rechtmäßigkeit einer Nutzungsbeschränkung jedenfalls keine Entschädigungszahlung voraus. Dies ist auch insofern gerechtfertigt, als die Normierung bloßer Nutzungsregelungen der Sozialbindung des Eigentums entspricht.170 Offen bleibt jedoch, ob sich die Notwendigkeit zur Zahlung eines finanziellen Ausgleichs auch im Rahmen von Nutzungsbeschränkungen nicht uU dennoch mit Blick auf die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ergeben kann.171 Der EuGH hat diese Frage bislang unbeantwortet gelassen.172 Eine Nutzungsregelung kann aber im Ergebnis finanziell ausgleichsbedürftig sein, um die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit zu erfüllen, weil „Beschränkungen des Eigentums bei Fehlen einer Entschädigung einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen“.173 Lösung Fall 5: Im Kontext der nach Art 267 AEUV zulässigen Vorlage führt der EuGH, wie so oft, die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht im Rahmen der konkreten Grundrechtsprüfung (hier des Eigentums), sondern abstrakt vorweg durch. Später, bei der Prüfung des Eigentumsgrundrechts, verweist er nur noch auf deren Ergebnis.174 Da bei dieser Vorgehensweise der Prüfungsmaßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht auf das Verhältnis von Regelungsziel und Regelungseingriff bezogen wird, kann er für den zu entscheidenden Einzelfall keinen

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Vgl EuGH, Slg 1998, I-7967, Rn 79 – Generics; Slg 2005, I-5673, Rn 86 – Alessandrini. EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 20 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1. Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 155. EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 23 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1; Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Slg 1994, I-4973, Rn 78 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2; Slg 1997, I-1809, Rn 27 – Irish Farmers Association. Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 76; aA Müller-Michaels (Fn 5) S 53. Folz in: Vedder/Heintschel v Heinegg, EVV, Art II-77, Rn 9. Dafür Jarass NVwZ 2006, 1089, 1095. EuGH, Slg 2003, I-7411 ff – Booker Aquaculture Ltd.; Jarass NVwZ 2006, 1089, 1095. EuGH, Slg.2003, I-7411 Rn 79 – Booker Aquaculture Ltd; Frenz GR, § 3 Rn. 2985 f; Jarass GRCh, Art 17 Rn 39. EuGH, Slg 1999, I-2603, Rn 46–50, 57 – Nitratrichtlinie.

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konkreten Gehalt gewinnen und seine Steuerungskraft nicht effektiv entfalten. So kann das Ergebnis des EuGH nicht verwundern, wonach die Vorschriften der Nitratrichtlinie den Mitgliedstaaten hinreichende Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen, um für eine verhältnismäßige Umsetzung zu sorgen.175 Dogmatisch und im Ergebnis überzeugender hätte die Prüfung (von Verursacherprinzip, Eigentumsgrundrecht und Rechtfertigung des Eingriffs176) wie folgt umgekehrt werden müssen: Zunächst hätte der EuGH den Eingriff in das Grundstückseigentum des B durch die Düngebeschränkungen prüfen und – wie geschehen – bejahen müssen. Diesen Eingriff hätte er dann im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Regelungsziel Umwelt- und Gesundheitsschutz konkret in Bezug setzen müssen. Sodann hätte er Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Regelung prüfen können. Interessant ist, wie der EuGH den Hinweis des B auf das Verursacherprinzip behandelt: Es genüge die Feststellung, dass die Landwirte „nach der Richtlinie nicht verpflichtet sind, Belastungen zu tragen, die mit der Beseitigung einer Verunreinigung verbunden sind, zu der sie nicht beigetragen haben“. Es obliege den Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Richtlinie die anderen Verunreinigungsquellen zu berücksichtigen und den Landwirten keine Kosten für die Beseitigung der Verunreinigung aufzuerlegen, die in Anbetracht der Gegebenheiten nicht erforderlich sind. Entgegen dem herrschenden Verständnis177 betrachtet der EuGH hiermit das umweltrechtliche Verursacherprinzip explizit als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips und verweist auf die dazu bereits gemachten Ausführungen.178

c) Verhältnismäßigkeit und Kontrolldichte Bemerkenswert ist immer wieder, dass den Zielen der Union im Rahmen der konkreten Verhältnismäßigkeitsprüfung des EuGH ein relativ hohes Gewicht eingeräumt wird.179 So erfahren zB die eigentumsrelevanten Unionsakte im Bereich der Agrarpolitik bei der konkreten Prüfung der Verhältnismäßigkeit eine stark eingeschränkte Kontrolle durch den EuGH, der seine eigenen politischen Erwägungen nicht an die Stelle der durch die Rechtsetzungsorgane getroffenen Entscheidungen setzen will. Als exemplarisch können insoweit die Ausführungen im Bananen-Urteil gelten: „Diese Einschränkung der Kontrolle des Gerichtshofs ist insbesondere dann geboten, wenn sich der Rat veranlasst sieht, bei der Verwirklichung einer gemeinsamen Marktorganisation einen Ausgleich zwischen divergierenden Interessen herbeizuführen und auf diese Weise im Rahmen der in seine eigene Verantwortung fallenden politischen Entscheidung eine Auswahl zu treffen“. Zwar, fuhr der Gerichtshof fort, sei nicht auszuschließen, „dass andere Mittel in Betracht kommen konnten, um das angestrebte Ergebnis zu erreichen.“ Der Gerichtshof hält sich nach eigener Einschätzung aber nicht für befugt, „die Beurteilung des Rates in der Frage, ob die vom Gemeinschaftsgesetzgeber gewählten Maßnahmen mehr oder weniger angemessen sind, durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen, wenn der Beweis nicht erbracht ist, dass diese Maßnahmen zur Verwirklichung des verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet waren.“180 175 EuGH, Slg 1999, I-2603, Rn 50 – Nitratrichtlinie. 176 EuGH, Slg 1999, I-2603, Rn 51 ff – Nitratrichtlinie. 177 Dazu Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 35 ff und Delfs ZUR 1999, 322, 323: Kostenzurechnungsprinzip, das Grundrechtseinschänkungen rechtfertigen kann. 178 EuGH, Slg 1999, I-2603, Rn 51 f – Nitratrichtlinie. 179 Vgl auch Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 17 Rn 22; Jarass GR, § 22 Rn 32. 180 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 89 f, 91, 94 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2; Slg 1994, I-5555, Rn 21 – SMW Winzersekt; Slg 1989, 2237, Rn 22 – Schräder.

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Das weite Ermessen des Unionsgesetzgebers bei der Gestaltung der gemeinsamen Marktordnungen ist somit für die Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung prägend: Eine Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung ist nur in einigen Entscheidungen und auch dort höchstens in Ansätzen zu erkennen.181 In der Regel endet die Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Prüfung der Geeignetheit bzw der Erforderlichkeit. Führt der EuGH (ausnahmsweise) unter dem Stichwort „angemessenes Verhältnis“ eine Güterabwägung durch, beschränkt sie sich auf die Prüfung der Berechtigung des verfolgten Eingriffsziels und lässt eine Auseinandersetzung mit dem Grad und der Intensität der individuellen Betroffenheit vermissen.182 Dies führt zu einer – jedenfalls im Vergleich zur deutschen Rechtsprechung183 – nicht unerheblichen Zurücknahme der grundrechtlichen Kontrolldichte184, mit der Folge, dass die Berufung auf das Eigentumsgrundrecht – soweit ersichtlich – bislang nur in wenigen Fällen erfolgreich war.185 Jener, dem Unionsgesetzgeber bei der Auswahl der politischen Ziele vom EuGH eingeräumte weite Beurteilungsspielraum, wird ebenso wie die damit verbundene Rücknahme des Kontrollmaßstabs von der überwiegenden Meinung des deutschen Schrifttums zum Teil heftig kritisiert.186 So zutreffend die Kritik mitunter ist, so darf nicht übersehen werden, dass auch das BVerfG im Bereich komplexer wirtschaftpolitischer Maßnahmen des Gesetzgebers in aller Regel eine eher zurückhaltende Kontrolle ausübt (Vertretbarkeits- bzw Evidenzkontrolle).187 Im Übrigen ist zu bedenken, dass die in Deutschland übliche Kontrolldichte im Rechtsvergleich eher einer Ausnahme als die Regel darstellt.188 Lösung Fall 6: Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass die Sanktionsmaßnahme mittelbar eigentumsbeeinträchtigende Auswirkungen habe und dadurch F schädige, die für die Situation, die zum Erlass der Sanktionen geführt hat, nicht verantwortlich sei. Die Bedeutung der mit der

181 Dazu Jarass GR, § 22 Rn 31 ff. 182 Vgl nur exempl EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 23 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1; Slg 1994, I-4973, Rn 64 ff – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2; Slg 1994, I-5555, Rn 20 ff – SMW Winzersekt. 183 AA Kischel EuR 2000, 380 ff, der sich um den Nachw bemüht, dass die Kontrolle des EuGH hinter jener durch das BVerfG nicht zurückstehe. 184 So a Jarass GR, § 22 Rn 34 ff; ders GRCh, Art 17 Rn 38; ausf – und differenzierend – hierzu v Bogdandy JZ 2001, 157, 163 ff; zur Kontrolldichte im Gemeinschaftsrecht allgem Herdegen/Richter in: Frowein (Hrsg) Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, 1993, 209 ff; Schwarze in: ders/Schmidt-Aßmann (Hrsg) Das Ausmaß der gerichtlichen Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrecht, 1992, 211 ff. 185 EuGH, Slg 2008, I-6351, Rn 363 – Kadi; verb Slg. 2009, I-11393, Rn 94 – Hassan – Ayadi; auf drei weitere Fälle mittelbar – erfolgreicher Berufung auf das Eigentumsgrundrecht vor dem EuGH verweist Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32 Rn 13. 186 Vgl etwa Nettesheim EuZW 1995, 106, 107; Huber EuZW 1997, 517 ff; Stein EuZW 1998, 261 f; v Danwitz in: ders/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, S 215, 277 f; differenzierend v Bogdandy JZ 2001, 157, 163 ff; Becker, YEL 2007, 267, 282 f; aA Zuleeg NJW 1997, 1201 ff und Kischel EuR 2000, 380 ff; Pache in: Bruha/Nowak/Petzold (Hrsg) Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, 193, 220 ff. 187 Vgl etwa BVerfGE 30, 250, 263; E 38, 61, 87 ff sowie in gelungener Weise differenzierend BVerfGE 50, 290, 336 ff; näher Calliess Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, 262 ff, 276 f. 188 Hierzu die Beiträge in Frowein (Hrsg) Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, 1993.

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Eigentumsgrundrecht

§ 20 IV

Verordnung verfolgten Ziele könne jedoch selbst erhebliche negative Konsequenzen für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen. Angesichts eines für die internationale Völkergemeinschaft derart grundlegenden, dem Gemeinwohl dienenden Ziels, das dahin geht, den Kriegszustand in der Region und die massiven Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts in der Republik Bosnien-Herzegowina zu beenden, könne die Beschlagnahme des fraglichen Luftfahrzeugs, das Eigentum einer Person mit Sitz oder Tätigkeitsort in Jugoslawien ist, nicht als unangemessen oder unverhältnismäßig angesehen werden.189

IV. Würdigung der Bonität des europäischen Eigentumsschutzes Feststellen lässt sich insgesamt, dass Inhalt, Umfang und Grenzen des unionsrechtlichen Eigentumsgrundrecht – trotz mancher nach wie vor unklarer Fragen, insbesondere im Kontext der Enteignungsproblematik – durch die Rechtsprechung des EuGH sowie den seit dem Vertrag von Lissabon verbindlichen Art 17 GRCh klarere Konturen gewonnen haben.190 Dennoch lässt sich der Schutzbereich des Grundrechts auch künftig nur schwer konkretisieren. Somit wird die Konkretisierung des Eigentumgrundrechts auch weiterhin von der Rechtsprechung geprägt bleiben. Aufgrund des nunmehr geltenden europäischen Grundrechtskataloges ist jedoch zu hoffen, dass der EuGH sich der in der Literatur bemängelten, zu geringen Methodentransparenz191 stellt und seiner Grundrechtsrechtsprechung mehr Schärfe verleiht. Insoweit hat der EuGH die durch Art 6 III EUV nahegelegte Möglichkeit, auf die Erfahrungen der Mitgliedstaaten und des Straßburger EGMR zurückzugreifen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass sich mit Blick auf die Konkretisierung von Grundrechten die Vorgehensweise des EuGH nicht grundlegend von derjenigen nationaler Verfassungsgerichte unterscheidet.192 So musste zB auch das BVerfG das Eigentumsgrundrecht des Art 14 GG in einer sich entwickelnden Rechtsprechung konkretisieren.193 Folglich lag das Problem bisher weniger in der Grundrechtskonkretisierung durch den EuGH194, sondern vielmehr in der Verhältnismäßigkeitsprüfung, auf die der EuGH bislang – vielleicht wegen des unkonturierten Schutzbereichs – in der Regel zügig zusteuert. Zu Recht wurde auch insoweit immer wieder – zuletzt mit Blick auf das erwähnte Bananen-Urteil und das Schaumwein-Urteil – deutliche Kritik geübt. In beiden Entscheidungen hat der EuGH die Gründe, die der Unionsgesetzgeber zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs geltend machte einfach (unkritisch) übernommen und ohne weitere Gewichtung zugrunde gelegt. Bevor der EuGH die vom europäischen Gesetzgeber behaupteten Belange des Gemeinwohls in die Abwägung einstellt, müsste er also zunächst ihre sachliche Gültigkeit ebenso wie ihre verfassungsrechtliche Maßgeblichkeit und Gewichtigkeit überprüfen. Daran anknüpfend sollte der EuGH im Rahmen der Eingriffsprüfung das individuelle Grundrechtsinteresse des Betroffenen einer echten Bewertung zuführen.

189 EuGH, Slg 1996, I-3953, Rn 22 ff – Bosphorus. 190 Vgl etwa mit Blick auf das Eigentumsrecht den Überblick bei Rengeling (Fn 53) S 32 ff. 191 Streinz Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, 384 ff; aA Nettesheim EuZW 1995, 106, 107. 192 Rengeling (Fn 53) S 228 mwN; vgl dazu Calliess (Fn 187) S 269 ff. 193 Dazu Ehlers VVDStRL 51 (1992), 211, 214 ff; Wendt Eigentum und Gesetzgebung, 1985. 194 Ebenso Nettesheim EuZW 1995, 106, 107.

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§ 20 IV

Christian Calliess

Fehlt es daran, so ist es nicht verwunderlich, wenn eine wirkliche Abwägung gegen das Gemeinwohlinteresse in Entscheidungen des EuGH nur selten zu finden ist.195 Vielmehr überlässt der Gerichtshof die Einschätzung, ob ein Ziel dem Gemeinwohl der Union entspricht und die gewählte Maßnahme das mildeste geeignete Mittel darstellt, das noch im Verhältnis zum verfolgten Zweck steht, grundsätzlich dem Gesetzgebungsermessen des zuständigen Unionsorgans. Der dem Rat bei der Auswahl der politischen Ziele vom EuGH eingeräumte weite Beurteilungsspielraum und die damit verbundene weitgehend undifferenzierte Rücknahme des Kontrollmaßstabs auf „offensichtlich unverhältnismäßige“ Grundrechtsbeeinträchtigungen, die die „Grenzen des Ermessens“ des Rates überschreiten, sind unter Aspekten der in Art 2 und 19 I EUV zum Ausdruck kommenden Rechtstaatlichkeit der EU196 nicht unproblematisch.197

195 In der Hinsicht positive Ansätze zu finden in EuGH, Slg 2008, I-6351, Rn 355 ff – Kadi. 196 Ausf dazu Calliess Die neue EU S 288 ff; ders in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 EUV Rn 25 f. 197 So die zutr Kritik von Nettesheim EuZW 1995, 106, 107; ähnlich Huber EuZW 1997, 517 ff; Stein EuZW 1998, 261 f; differenzierend v Bogdandy JZ 2001, 157, 163 ff; aA Zuleeg NJW 1997, 1201 ff und Kischel EuR 2000, 380 ff.

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§ 21 Gleichheitsgrundrechte Thorsten Kingreen Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1977, 1753 ff – Ruckdeschel; Slg 1977, 1795 ff – Moulins Pont-àMousson; Slg 1982, 2745 ff – Edeka; Slg 2000, I-2737 ff – Karlsson. Speziell zu Art 157 AEUV: Slg 1976, 455 ff – Defrenne II; Slg 1978, 1365 ff – Defrenne III; Slg 1986, 1607 ff – Bilka; Slg 1990, I-1889 ff – Barber; Slg 1995, I-3051 ff – Kalanke; Slg 1997, I-6363 ff – Marschall = JK 98, GG Art 3 II/8; Slg 2000, I-69 ff – Kreil = JK 2000, EGV Art 141/2. Schrifttum: Althoff Die Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen der Rasse und der ethnischen Herkunft in der Europäischen Gemeinschaft, 2006; Chen Die speziellen Diskriminierungsverbote der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2011; Frenz GR, Kap 10; Jarass GR, §§ 24–28; Kingreen Theorie und Dogmatik der Grundrechte im europäischen Verfassungsrecht, EuGRZ 2004, 570 ff; Kischel Zur Dogmatik des Gleichheitssatzes in der Europäischen Union, EuGRZ 1997, 1 ff; Kugelmann Gleichheitsrechte und Gleichheitsgrundsätze, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd VI/1, § 160; Mohn Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, 1990; Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, §§ 42, 43; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 867–989; Sattler Allgemeiner Gleichheitssatz und spezielle Gleichheitssätze in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, FS Rauschning, 2001, S 51 ff; Schmahl, Gleichheitsgarantien, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht Bd. 2. Europäischer Grundrechteschutz, 2014, § 15. – Speziell zu Art 157 AEUV: Bieback Die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts, 1997; Haverkate/Huster Europäisches Sozialrecht, 1999, Rn 657 ff; Langenfeld Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990. Vgl im Übrigen die im Text zitierten Kommentierungen zu den Art 20-26 GRCh und zu Art 157 AEUV.

I. Überblick und Systematik Das europäische Unionsrecht enthält eine Vielzahl von Gleichheitsrechten. Ihre schon im nationalen Verfassungsrecht nicht einfache Kategorisierung1 wird im Unionsrecht durch die verfassungsrechtliche Mehrebenenstruktur von Union und Mitgliedstaaten und die daraus resultierenden Unterschiede im Hinblick auf ihre Funktion, Reichweite und Normadressaten zusätzlich erschwert. Einerseits werden die Gleichheitsgarantien als Unionsgrundrechte auf das Handeln der Unionsorgane erstreckt, weil die Mitgliedstaaten als Rechtsstaaten nur grundrechtlich gebundene Hoheitsgewalt auf die Union übertragen können (supranationale Legitimationsfunktion); andererseits enthalten sie mit der an die Mitgliedstaaten gerichteten Forderung, Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit zu unterlassen, eine conditio sine qua non für fairen Wettbewerb und die durch Art 26 AEUV vorgegebene Integration der nationalen Teilmärkte (transnationale Integrationsfunktion).2 Das Unionsrecht enthält also zwei Schichten subjektiv-öffentlicher Gleichheitsrechte:3 transnationale Integrationsnormen und supranationale Legitimationsnormen (Rn 2–6). Spiegelbildlich dazu gibt es die entspr Kompetenzbestimmungen: Art 18 II

1 Vgl etwa für das GG Sachs in: Isensee/Kirchhof (Hrsg) Handbuch des Staatsrechts Bd VIII, 3. Aufl 2010, § 182 Rn 8 ff.; für die unionsrechtlichen Gleichheitsrechte Schmahl (Lit.), § 15 Rn. 140 ff. 2 Vgl Chalmers ELR 19 (1994) 385, 397: „The non-discrimination principle is central to any market philosophy.“ 3 Kingreen EuGRZ 2004, 570, 573 ff; ebenso Pache in: Heselhaus/Nowak, GR, § 4 Rn 56 ff.

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Thorsten Kingreen

AEUV dient der transnationalen Integration, Art 19 AEUV der (supra-)nationalen Legitimation.

1. Transnationale Integrationsnormen 2

Transnationale Integrationsnormen reagieren auf die jedem föderalen System immanente Gefahr, dass ein Gliedstaat den Wettbewerb mit anderen Gliedstaaten durch die Bevorzugung seiner Mitglieder zu beeinflussen sucht; kurz gesagt: Sie reagieren auf föderale Gefährdungslagen. Die Gleichbehandlung aller Unionsbürger erreichen sie dadurch, dass sie die Zugehörigkeit zu einem Mitgliedstaat für die Behandlung durch einen anderen Mitgliedstaat für irrelevant erklären. Damit stehen sie für die historisch primäre Werkidee des europäischen Projekts, den Binnenmarkt und ihr Herzstück, die gegen mitgliedstaatlichen Protektionismus gerichteten Grundfreiheiten (→ vgl § 7 Rn 1) sowie das in Art 18 I AEUV enthaltene allgem Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit (→ vgl § 13).

2. Supranationale Legitimationsnormen 3

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Supranationale Legitimationsnormen haben hingegen die auch aus dem nationalen Verfassungsrecht bekannte Funktion, die Ausübung von Hoheitsgewalt zu begrenzen: Sie befriedigen den grundrechtlichen Legitimationsbedarf, den die Vorrang vor nationalem Recht und unmittelbare Geltung beanspruchende europäische Rechtsordnung ausgelöst hat (→ vgl § 14 Rn 3 f). Sie allein werden daher im Kontext der Unionsgrundrechte in diesem Kapitel behandelt. Ebenso wie die Verfassungen der Mitgliedstaaten kennt das Unionsrecht einen allgem Gleichheitssatz und bes Gleichheitssätze: Der allgemeine Gleichheitssatz (Art 20 GRCh) vermittelt gegenüber Maßnahmen der Unionw, soweit diese an die Stelle der Mitgliedstaaten getreten ist, in allen Lebensbereichen Schutz gegen jegliche unsachgemäße Differenzierung. Normadressat ist daher primär die Union; die Mitgliedstaaten nach den allgem, für die Unionsgrundrechte geltenden Grundsätzen (→ vgl § 14 Rn 48 ff) hingegen nur, wenn sie Unionsrecht durchführen (vgl auch Art 51 I 1 GRCh). Der allgem Gleichheitssatz wird ergänzt durch besondere Gleichheitssätze, die Gleichheit nur in bestimmten Lebensbereichen und/oder nach bestimmten Kriterien gewährleisten. Der historisch älteste bes Gleichheitssatz ist Art 40 II UAbs 2 AEUV.4 Danach ist innerhalb einer gemeinsamen Marktorganisation jede Diskriminierung zwischen Erzeugern und Verbrauchern auszuschließen. Besondere Gleichheitssätze finden sich in der Grundrechtecharta (Art 20, 22–26 GRCh; Rn 19 ff), vor allem aber auch im Sekundärrecht.5 Das ist deshalb wichtig, weil das gleichheitsorientierte Sekundärrecht die Mitgliedstaaten umfassend und nicht nur nach Maßgabe von Art 51 I GRCh bindet. Politisch wird die Union dadurch in die Lage versetzt, eine eigene gleichheitsorientierte Menschenrechtspolitik zu betreiben.6 Rechtsdogmatisch folgt daraus, dass die Rechtsprechung zu den sekundärrechtlichen Gleichheitsrechten von erheblicher Bedeutung ist für Struktur und Inhalte der Gleichheitsrechte im Unionsrecht.

4 Vgl EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 62 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 185, 186/2. 5 Vgl die Aufstellung unten Rn 22. 6 Kingreen EuR 2010, 338, 352 f.

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Gleichheitsgrundrechte

§ 21 II

Eine gewisse Sonderstellung hat Art 157 I AEUV mit dem an die Mitgliedstaaten gerichteten Postulat gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit. Historisch hat er einen Bezug zur transnationalen Integration: Sein Eingang in die Verträge geht maßgeblich auf Bestrebungen Frankreichs zurück, das eine derartige Bestimmung bereits bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaften kannte und Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen Mitgliedstaaten befürchtete, in denen das Gebot der Entgeltgleichheit nicht normiert war.7 Art 157 I AEUV knüpft allerdings nicht an das verbotene Differenzierungskriterium der Staatsangehörigkeit bzw des Grenzübertritts, sondern an das Geschlecht und damit an ein Kriterium an, das keinen spezifischen Bezug zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes aufweist. In der Praxis hat sich die Vorschrift daher auch zu einem Grundrecht fortentwickelt, das nicht allein der Verhinderung von Wettbewerbsverfälschungen dient.8 Im Unterschied zu Art 23 GRCh ist er aber nicht Maßstab für das Handeln der Union9 (bzw Unionsrecht durchführende Maßnahmen der Mitgliedstaaten), sondern allein an die Mitgliedstaaten adressiert.

6

II. Normstruktur und Prüfungsaufbau Gleichheitsrechte weisen eine von den Freiheitsrechten abweichende Normstruktur auf. Während die Freiheitsrechte lediglich das vertikale Verhältnis zwischen Bürger und Staat thematisieren, tritt bei den Gleichheitsrechten die horizontale Perspektive hinzu. Das freiheitsrechtliche zweipolige Verhältnis zwischen Bürger und Staat weitet sich beim Gleichheitssatz zu einer drei- bzw mehrpoligen Relation unter Einschluss eines Vergleichstatbestandes: Maßgebend ist nicht die Intensität einer Belastung, sondern die Ungleichheit ihrer Auferlegung. Ungeklärt ist, welche Konsequenzen daraus für den Prüfungsaufbau folgen.10 Während diese Frage für das Unionsrecht bislang kaum thematisiert wird, wird für die Gleichheitssätze des deutschen Verfassungsrechts meist eine zweistufige Prüfung favorisiert: Sie besteht aus der Feststellung einer Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte auf der ersten Stufe und der Frage nach ihrer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung auf der zweiten Stufe. Diese Abweichung von der Prüfung der Freiheitsrechte beruht auf der Prämisse, dass der dort praktizierte Dreischritt „Schutzbereich-Eingriff-Rechtfertigung“ (→ vgl § 14 Rn 58) die Normstruktur des Gleichheitssatzes nicht angemessen widerspiegelt: Der dreistufige Aufbau bilde das liberale Verteilungsprinzip ab, das eine dem staatlichen Zugriff grds vorausliegende, unbegrenzte Freiheitsgewährleistung die prinzipiell begrenzte staatliche Befugnis zu Eingriffen in diese Sphäre gegenüberstelle.11 Dieses RegelAusnahme-Modell lasse sich auf den Gleichheitssatz nicht übertragen, der zudem keinen Schutzbereich und daher auch keinen Eingriff in denselben kenne.12 7 Vgl Langenfeld Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, S 30 ff. 8 Ausdrückliche Qualifikation des Gleichbehandlungsgrundsatzes als „Grundrecht“ etwa in EuGH, Slg 2000, I-929, Rn 56 – Deutsche Post; krit Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 44 Rn 35 ff. 9 Zur Bindung der Union an den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter EuGH, Slg 1984, 1509, Rn 17 – Razzouk. 10 Dazu auch Frenz GR, Rn 3183 ff; Odendahl in Heselhaus/Nowak, GR, § 43 Rn 3 ff. 11 Vgl dazu etwa Böckenförde NJW 1974, 1529, 1537; Schlink EuGRZ 1984, 457, 467. 12 Vgl nur Bryde/Kleindiek Jura 1999, 36, 37 ff; Dreier in: ders GG Bd I, 3. Aufl 2013, Vorb Rn 151 ff; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher Grundrechte. Staatsrecht II, 30. Aufl 2014, Rn 462, 538.

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In dieser Gegenüberstellung liegt wohl eine Überbetonung der – sicherlich vorhandenen13 – Unterschiede: Denn auch das Gleichheitsrecht schützt bestimmte menschliche Verhaltensweisen vor grundloser Beeinträchtigung durch den Staat;14 nur dass sich seine Beeinträchtigung nicht aus der Beschränkung allein, sondern aus der Gleich- bzw Ungleichbehandlung gegenüber einem anderen Sachverhalt ergibt. Und auch das Verteilungsprinzip gilt: Denn für die Ungleichbehandlung von (unions-)verfassungsrechtlich wesentlich Gleichem (bzw die Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem) muss sich der Hoheitsträger nicht minder rechtfertigen als für den Eingriff in den Schutzbereich eines Freiheitsrechts. Dementspr findet auch der ursprünglich auf Freiheitsverkürzungen zugeschnittene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Prüfung der Rechtfertigung einer Gleich- bzw Ungleichbehandlung zunehmend Verwendung,15 auch bei den uniosrechtlichen Gleichheitsrechten.16 Einen Rationalitätsgewinn verspricht das klassische Schema „Schutzbereich-Beeinträchtigung/Eingriff-Rechtfertigung“ allerdings primär bei den Gleichheitssätzen, deren Anwendungsbereich in persönlicher oder sachlicher Hinsicht beschränkt ist.17 Hier ist es im Interesse einer Problemabschichtung und zur Klärung von Konkurrenzfragen sinnvoll, vor der Frage der Ungleichbehandlung zunächst den geschützten Lebensbereich/Personenkreis zu thematisieren.18 Beim allgem Gleichheitssatz und bei den bes Gleichheitssätzen, bei denen das Besondere nicht aus der Beschränkung auf einen bestimmten Lebensbereich oder Personenkreis, sondern allein aus der Beschränkung auf einzelne Differenzierungskriterien folgt (die systematisch der Beeinträchtigungsebene zuzuordnen sind), liegt hingegen eine zweistufige Prüfung näher. Unterschiede zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten gibt es bei den Rechtsfolgen: Während ein Eingriff in das Freiheitsrecht einfach abgestellt werden muss, kann die Ungleichbehandlung zweier Gruppen unterschiedlich behoben werden: Die eine Gruppe kann ebenso wie die andere, die andere ebenso wie die eine, und beide können auf eine neue, dritte Weise behandelt werden.19

III. Der allgemeine Gleichheitssatz 11

Der allgem Gleichheitssatz wird vom EuGH seit langem als Unionsgrundrecht anerkannt20 und findet sich nunmehr auch in Art 20 GRCh. Er wurde allerdings nicht, wie die Freiheitsrechte, aus den in Art 6 II EUV genannten Rechtserkenntnisquellen abgeleitet (→ vgl hierzu § 14 Rn 8), sondern meist in einen nicht ganz klaren Zusammenhang mit Art 40 II UAbs 2 AEUV gestellt,21 weil die meisten Entscheidungen den Bereich gemeinsamer Marktordnungen in der Landwirtschaft betrafen.22

13 Vgl etwa zur Problematik des Gesetzesvorbehaltes bei Gleichheitsrechten Jarass AöR 1995, 345, 375 ff. 14 Huster Rechte und Ziele, 1993, S 225 ff; Jarass AöR 1995, 345, 361 f, 365 ff. 15 Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn 12) Rn 470 ff. 16 Vgl Rengeling/Szczekalla GR, Rn 878 f. 17 → unten Rn 17 ff für Art 157 AEUV. 18 Vgl etwa für die Grundfreiheiten → § 7 Rn 67 ff sowie Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 75 f. 19 Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn 12) Rn 515. 20 Vgl zuerst EuGH, Slg 1977, 1753, Rn 7 – Ruckdeschel. 21 Dazu Rossi in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 20 GRCh Rn 2. 22 Ebenso Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 43 Rn 9.

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Gleichheitsgrundrechte

§ 21 III 1

Inhaltlich verbietet es der allgem Gleichheitssatz, dass „vergleichbare Sachverhalte in unterschiedlicher Weise behandelt und dadurch bestimmte Betroffene gegenüber anderen benachteiligt werden, ohne dass dieser Unterschied in der Behandlung durch das Vorliegen objektiver Unterschiede von einigem Gewicht gerechtfertigt wäre.“23

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1. Ungleichbehandlung Eine Ungleichbehandlung liegt vor, wenn vergleichbare Sachverhalte ungleich oder unterschiedliche Sachverhalte gleich behandelt werden.24 Gebunden sind die Union und nach Maßgabe von Art 51 I GRCh die Mitgliedstaaten. Hingegen entfaltet die Norm keine unmittelbare Drittwirkung.25 Die Prüfung der Ungleichbehandlung beginnt mit der Bildung von Vergleichsgruppen.26 Dadurch entsteht der Vergleichsmaßstab, der dem Gleichheitssatz seinen konkreten Inhalt gibt: Er entscheidet, was gleich und was ungleich ist. Der Vergleich setzt zumindest zwei Sachverhalte voraus, die im Hinblick auf bestimmte Gegebenheiten und Eigenschaften gleich sind, bei denen aber Ungleichheiten verbleiben. Die Vergleichbarkeit bedarf eines Bezugspunktes (tertium comparationis), der den gemeinsamen Oberbegriff bildet, unter dem die zu vergleichenden Personen und Personengruppen abschließend und vollständig sichtbar werden.27 Zum Beispiel kommt es für die Frage, ob Lebenspartnerschaften ebenso zu behandeln sind wie Ehen, nicht darauf an, ob diese generell vergleichbar sind, sondern darauf, ob sie gerade im Hinblick auf den konkreten Tabestand (etwa eine solziale Leistung) vergleichbar sind. Das hat der EuGH etwa im Hinblick auf die Witwerrente28 und für die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst29 bejaht, wobei stets maßgebend war, dass der nationale Gesetzgeber selbst Regelungen geschaffen hatte, die die Lebenspartnerschaft der Ehe gleichgestellt hatten. Für die Vergleichbarkeit von Produkten ist nach Ansicht des EuGH die Austauschbarkeit ein wichtiges Kriterium.30 Dafür sind die Sicht und das Verhalten der Abnehmer des Produkts maßgebend. Eng damit zusammenhängen dürfte der ebenfalls gelegentlich herangezogene Aspekt des Wettbewerbs zwischen den beiden Produkten.31 Viele Entscheidungen betreffen auch die Vergleichbarkeit zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen; dabei kommt es sowohl auf die rechtlichen Rahmenbedingungen als auch auf ökonomische Kriterien an.32 Die Vergleichbarkeit zwischen

23 So bereits EuGH, Slg 1962, 655, 692 f – Klöckner-Werke AG, wenn auch ohne Ableitung aus dem Grundrecht allgem Gleichheitssatz. 24 Vgl etwa EuGH, Slg 1993, I-3923, Rn 37 – Spanien/Kommission; Slg 1994, I-5555, Rn 30 – SMW Winzersekt; ferner etwa Graser in: Schwarze, EU-Komm, Art 20 GRCh Rn 3; Jarass GRCh, Art 20 Rn 7 ff. 25 Rossi in: Calliesss/Ruffert, EUV/AEUV, Art 20 GRCh Rn 12; Wernsmann JZ 2005, 224, 231. 26 Mohn Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, 1990, S 52 ff; Bsp aus der Rspr: EuGH, Slg 2000, I-2737, Rn 39 ff – Karlsson. 27 Rossi in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 20 GRCh Rn 20. 28 EuGH, Slg 2008, I-1757, Rn 65 ff – Maruko. 29 EuGH, Slg 2011, I-3591‚ Rn 42 ff – Römer; vgl dementsprechend etwa OVG Bremen, Urt v 16.5. 2013, BeckRS 2013 52298. 30 EuGH, Slg 1977, 1753, Rn 7 – Ruckdeschel; Slg 1977, 1795, Rn 14/17 – Moulins Pont-à-Mousson. 31 Etwa verneint in EuGH, Slg 1978, 1991, Rn 28/32 – Koninklijke Scholten-Honig. 32 Vgl etwa EuGH, Slg 1979, 2749, Rn 18 – Eridiana; Slg 1997, I-1961, Rn 37 f – Earl de Kerlast; Slg 1999, I-8395, Rn 92 f – Portugal/Rat = JK 2000, EGV Art 300/1.

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zwei Unternehmen kann aber selbst dann zu bejahen sein, wenn zwischen ihnen keine Wettbewerbsbeziehung besteht.33 Liegen vergleichbare Sachverhalte vor, ist zu prüfen, ob eine benachteiligende Ungleichbehandlung vorliegt. Die Funktion des grundrechtlichen Gleichheitssatzes als supranationale Legitimationsnorm (vgl Rn 3 ff) bringt es allerdings mit sich, dass insoweit nicht alle Ungleichbehandlungen relevant sind: Werden spezifisch grenzüberschreitende gegenüber inländischen Sachverhalten benachteiligt (sog föderale Gefährdungslagen), so sind das Diskriminierungsverbot und die Grundfreiheiten zu prüfen. Die Benachteiligung inländischer gegenüber grenzüberschreitenden Sachverhalten (sog Inländerdiskriminierung) fällt schon gar nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, sondern ist ggf am Maßstab des nationalen Gleichheitssatzes zu messen (§ 13 Rn 15). Schon tatbestandsmäßig keine Ungleichbehandlung liegt schließlich im Verhältnis zu einem anderen Sachverhalt vor, der rechtsfehlerhaft behandelt wurde (keine Gleichheit im Unrecht).34

2. Rechtfertigung 16

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Die Rechtfertigungsprüfung des EuGH ist uneinheitlich, übergreifende dogmatische Leitsätze fehlen. Das betrifft vor allem die Frage der Einbeziehung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, den der EuGH in einzelnen Urteilen jedenfalls ansatzweise prüft.35 Im Schrifttum heißt es sogar, dass der EuGH regelmäßig die Verhältnismäßigkeit der Differenzierung prüfe.36 Soweit sich dafür Nachweise finden, beziehen sie sich aber nur auf Entscheidungen zu Art 40 II UAbs 2 AEUV. Zum allgemeinen Gleichheitssatz gibt es hingegen keine verallgemeinerbaren Aussagen,37 die Rückschlüsse darauf zuließen, ob und ggf in welchen Fällen der EuGH einen Einbau des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in die Gleichheitsprüfung befürwortet. Die ungeklärte Anwendbarkeit des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Gleichheitsprüfung ist nicht nur ein terminologisches Problem.38 Denn die Unsicherheit beim Prüfungsmaßstab wirkt sich unmittelbar auf die gerichtliche Kontrolldichte aus, zu der generalisierbare Aussagen gerade aus diesem Grunde kaum möglich sind.39 Dass der Gesetzgeber tendenziell weniger starken Bindungen unterworfen ist als die Verwaltung,40 ist allenfalls eine Faustformel. Zwar zieht sich der EuGH bei der Kontrolle von Rechtsetzungsakten bisweilen auf eine Willkürkontrolle zurück,41 intensiviert aber anderenorts die gerichtliche Kontrolle, wenn er fordert, dass Maßnahmen im Rahmen einer Gemeinsamen Marktorganisation „nur aufgund objektiver Kriterien, die eine ausgewogene Verteilung der Vor- und Nachteile auf die Betroffenen gewährleisten, nach Regionen 33 EuGH, Slg 2008, I-9895, Rn 36 – Arcelor. 34 EuGH, Slg 1984, 3465, Rn 15 – Witte; Slg 1993, I-1307, Rn 197 – Ahlström Osakeyhtiö. 35 EuGH, Slg 1982, 2745, Rn 13 – Edeka – Zur Diskussion um die sog „neue Formel“ des Bundesverfassungsgerichts vgl etwa Brüning JZ 2001, 669 ff; eine Anlehnung an diese Rspr befürwortet Kischel EuGRZ 1997, 1, 5 f. 36 Vgl etwa Huber EuZW 1997, 517, 520; Mayer in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, nach Art 6 EUV Rn 224. 37 Vgl aber wiederum EuGH, Slg 1982, 2745, Rn 13 – Edeka, wo allerdings der Eindruck erweckt wird, als sei die Verhältnismäßigkeitsprüfung Bestandteil der Willkürkontrolle. 38 So aber Graser in: Schwarze, EU-Komm, Art 20 GRCh Rn 6. 39 Vgl Frenz GR, Rn 3206; Hölscheidt in: Meyer, GRCh, Art 20 Rn 16. 40 So Jarass GR, § 25 Rn 17 ff. 41 EuGH, Slg 1990, I-435, Rn 13 – Wuidart.

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und sonstigen Produktions- und Verbrauchsbedingungen differenzieren, ohne nach dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu unterscheiden“42, getroffen werden dürfen. Im Beamtenrecht wird regelmäßig eine substantiierte Darlegung der die Differenzierung legitimierenden Gründe verlangt.43 Als wichtiger Grund für eine Ungleichbehandlung wird etwa die Wiederherstellung der Wettbewerbsgleichheit zwischen Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern anerkannt.44

3. Rechtsfolgen eines Verstoßes Es ist Sache des Mitgliedstaates, ob er die bislang benachteiligte Person so behandelt wie die bislang bevorzugte, die belastende Regelung auch auf Letztere erstreckt oder beide auf eine dritte Art und Weise behandelt.45

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IV. Besondere Gleichheitssätze Besondere Gleichheitssätze finden sich in den Art 21, 23–26 GRCh sowie in Art 157 AEUV. Kein Grundrecht, sondern einen Grundsatz iSv Art 52 V GRCh enthält Art 22 GRCh.46 Er könnte die Prüfung einzelner Unionsgrundrechte, etwa die Religionsfreiheit (Art 10 I GRCh), die Meinungsfreiheit (Art 11 GRCh), die Kunstfreiheit (Art 13 GRCh) und das Gebot der Nichtdiskriminierung (Art 21 GRCh) auf der Rechtfertigungsebene dadurch beeinflussen, dass er nur solche Eingriffe zulässt, die das Gebot der Vielfalt wahren. Materiell bewirken die bes Gleichheitssätze eine „Anhebung des durch den allgem Gleichheitssatz allein begründeten minimalen Gleichheitsstandards.“47 Sie enthalten für bestimmte Lebensbereiche (etwa die arbeitsrechtliche Entgeltgleichheit, Art 157 AEUV) und/oder im Hinblick auf bestimmte verbotene Differenzierungskriterien (insb die in Art 21 I GRCh genannten Kriterien) Spezialbestimmungen im Verhältnis zum allgem Gleichheitssatz und gehen diesem im Umfang ihrer Reichweite vor.

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1. Nichtdiskriminierung, Art 21 GRCh Das Gebot der Nichtdiskriminierung verbietet unmittelbare und mittelbare Ungleichbehandlungen aufgrund der in Art 21 GRCh enthaltenen Merkmale. Diese sind, nach der Prüfung der Ungleichbehandlung, auf der Rechtfertigungsebene zu prüfen. Hier stellt sich nämlich die Frage, ob Ungleichbehandlungen aufgrund der verpönten Merkmale überhaupt einer Rechtfertigung zugänglich sind.48 Einerseits gilt zwar auch insoweit die allgem Schrankenregelung in Art 52 I GRCh, andererseits spricht Art 21 GRCh apodiktisch von einem Verbot. Der EuGH scheint, legt man seine Rspr zur Diskriminierung wegen des Geschlechts (s u Rn 48 ff) und wegen der Staatsangehörigkeit (→ § 13 Rn 43 f) 42 EuGH, Slg 1988, 4563, Rn 25 – Spanien/Rat; vgl ferner bereits Slg 1977, 1753, Rn 7 – Ruckdeschel; Slg 1977, 1795, Rn 14/17 – Moulins Pont-à-Mousson. 43 EuGH, Slg 2001, I-135, Rn 52 – Martínez del Peral Cagigal. 44 EuGH, Slg 1998, I-1023, Rn 81 – T Port = JK 98, EGV Art 189/2. 45 Dazu näher Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 43 Rn 35 ff. 46 Hölscheidt in: Meyer, GRCh, Art 22 Rn 16 ff; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 22 GRCh Rn 2; Ross in: Schwarze, EU-Komm, Art 22 GRCh Rn 3. 47 So für das Verhältnis der Gleichheitsrechte im Grundgesetz Sachs in: Isensee/Kirchhof (Hrsg) Handbuch des Staatsrechts Bd VIII, 3. Aufl 2010, § 182 Rn 17. 48 Hölscheidt in: Meyer, GRCh, Art 21 Rn 29.

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zugrunde, generell von einer Rechtfertigungsmöglichkeit auszugehen, wenn ein sachlicher Grund geltend gemacht wird. Man wird hier wohl differenzieren müssen, wobei das konkretisierende Sekundärrecht (Rn 22) wichtige Anhaltspunkte liefert: Bei einigen Merkmalen (wie etwa dem Alter) sind sachliche Gründe für Differenzierungen durchaus naheliegend, bei anderen Merkmalen (etwa Rasse, Hautfarbe) hingegen schlechterdings undenkbar. In allen Fällen kommt jedenfalls eine Rechtfertigung nur in Betracht, wenn die Ungleichbehandlung zum Schutz anderer durch die Verfassung geschützter Güter unvermeidlich ist; dazu bedarf es einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung.49 Das Grundrecht wird ergänzt durch Art 19 AEUV. Dieser begründet eine Kompetenz der Union, die erforderlichen Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen zu ergreifen.50 Die Union hat davon insb durch drei Antidiskriminierungs-Richtlinien Gebrauch gemacht, die gegenüber den Grundrechten den konkreteren und daher vorrangig heranzuziehenden Prüfungsmaßstab bilden (Anwendungsvorrang des Sekundärrechts). Sie haben durchweg Drittwirkung und damit das Potenzial zu einer nicht unerheblichen Beschränkung der Privatautonomie51 und der Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten (Rn 5): – Die RL 2000/43 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterscheidung der Rasse oder der ethnischen Herkunft52 verbietet Diskriminierungen wegen dieser Kriterien in wichtigen Lebensbereichen (insb Einstellung von Arbeitnehmern, Vermietung von Wohnraum). Der EuGH hat daher die Ankündigung eines Unternehmens, Angehörige bestimmter ethnischer Herkunft nicht einzustellen, weil die Kunden diese angeblich ablehnten, als rechtswidrig verworfen.53 – Die RL 2000/78 zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf54 verbietet Ungleichbehandlungen aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung. Sie ist sachlich auf das Arbeitsleben beschränkt, reicht also insoweit weniger weit als die RL 2000/43. Hervorzuheben ist insoweit erstens die Rechtsprechung zu Ungleichbehandlungen wegen des Alters.55 Der EuGH sieht Altersgrenzen im Arbeitsleben grundsätzlich als Diskriminierung an (und zwar auch, wenn jüngere gegenüber älteren Arbeitnehmern benachteiligt werden56) und prüft sodann, ob diese vernünftige und legitime Zwecke verfolgen, in sich kohärent sowie angemessen sind. Für die (ohnehin mittlerweile entfallene) Altersgrenze von 68 Jahren für Vertragszahnärzte (§ 95 Abs 7 S 3 SGB V aF) hat er die Begründung mit dem Schutz der Gesundheit der Patienten vor dem Nachlassen der Leistungsfähigkeit von Vertragszahnärzten nicht akzeptiert, da diese Altersgrenze nicht für Zahnärzte außerhalb des Vertragszahnarztsystems gelte (Kohärenzargument). Sie sei aber legitim, wenn sie die Verteilung der Berufschancen zwischen den Generationen innerhalb der Berufsgruppe der Vertragszahnärzte zum Ziel habe und unter Berück49 50 51 52 53

Rengeling/Szczekalla GR, Rn 912. Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 19 AEUV Rn 1. Vgl dazu Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 19 AEUV Rn 13. ABl 2000 L 180/22. EuGH, Slg 2008, I-5187 ff – Feryn sowie Lindner NJW 2008, 2750; vgl ferner EuGH, Slg 2008, I-5603 ff – Coleman. 54 ABl 2000 L 303/16. 55 Dazu etwa die kritische Analyse von Nettesheim EuZW 2013, 48 ff. 56 EuGH, Slg 2010, I-365 ff – Kücükdeveci; vgl auch den Vorlagebeschluss VG Berlin, ZESAR 2013, 232 (Abhängigkeit der Besoldung vom Lebensalter).

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sichtigung der Situation auf dem betreffenden Arbeitsmarkt zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sei, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen sei.57 Unangemessen war die tarifvertragliche Altergrenze von 60 Jahren für Piloten, weil die internationale Regelung ausreichend ist, wonach Piloten, die das 60. Lebensjahr vollendet haben, bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres weiterhin eingesetzt werden dürfen, wenn sie Mitglied einer Flugbesatzung sind, die aus mehreren Piloten besteht, die unter 60 sind.58 Nicht beanstandet hat der EuGH hingegen das Höchstalter von 30 Jahren für die Einstellung von Beamten der Feuerwehrlaufbahn.59 Einen zweiten Schwerpunkt in der Rechtsprechung bilden Diskriminierungen wegen der sexuellen Orientierung. Der EuGH sieht etwa in herablassenden Äußerungen des Geschäftsführers eines Profifußballclubs über Homosexuelle die widerlegbare Vermutung für eine diskriminierende Einstellungspraxis.60 Unter dem Aspekt des Verbots der Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung sind auch Ungleichbehandlungen von Lebenspartnerschaften gegenüber der Ehe jedenfalls dann nicht zu rechtfertigen, wenn der nationale Gesetzgeber sie als grundsätzlich vergleichbare Institute vorsieht (Rn 14). Auch das BVerfG hat nunmehr praktisch alle Benachteiligungen von Lebenspartnerschaften gegenüber Ehen als nicht durch Art 6 Abs 1 GG zu rechtfertigenden Eingriff in Art 3 Abs 1 GG angesehen.61 – Die RL 2004/113 zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen verbietet Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts. Sie weist damit eine gewisse Nähe auch zu Art 157 AEUV auf, wurde aber auf Art 19 I AEUV gestützt, da sie auch außerhalb des Arbeitslebens gilt; insb richtet sie sich gegen unterschiedliche Versicherungstarife für Männer und Frauen, die nach Art 5 Abs 2 RL 2004/113 nur zulässig sind, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts „auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten“ beruht.62

2. Gleichheit von Männern und Frauen, Art 157 I AEUV, 23 GRCh Fall 1: (nach EuGH, Slg 1998, I-621 ff – Grant = JK 99, EGV Art 119/1) Die South-West Trains Ltd (SWT), eine englische Eisenbahngesellschaft, gewährt ihren Angestellten und deren Angehörigen Fahrpreisvergünstigungen. Bei Abgabe einer eidesstattlichen Erklärung, dass mit der betr Person seit mindestens zwei Jahren eine „ernsthafte Beziehung“ besteht, können auch nichteheliche Lebenspartner in den Genuss dieser Vergünstigung kommen. Allerdings sehen die arbeitsvertraglich fixierten Bestimmungen Vergünstigungen nur für den Partner eines anderen Geschlechts, nicht aber bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften vor. Aus diesem Grunde weigerte sich die SWT, der Lebensgefährtin ihrer Angestellten Lisa Grant (G) Fahrpreisvergünstigungen einzuräumen. Daraufhin verklagte die G die SWT vor dem Industrial Tribunal Southampton. Diese legte dem EuGH die Frage vor, ob das Verhalten der SWT gegen Art 157 I AEUV verstößt.

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EuGH, Slg 2010, I-47, Rn 78 – Petersen. EuGH, Slg 2011, I-8003, Rn 63 f – Prigge = JK 2012, RL 2000/78/EG Art 4 I/1. EuGH, Slg 2010, I-1 ff – Wolf. EuGH, EuZW 2013, 469, Rn 40 ff – ACCEPT. BVerfGE 124, 199, 226; NVwZ 2012, 1304, 1307 ff; NJW 2012, 2719, 2721 f. EuGH, Slg 2011, I-773, Rn 17 ff – Association Belgedes Comsommateur Test-Achats = JK 2011, RL 04/113/EG Art 5 II/1.

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Fall 2: (nach EuGH, Slg 1996, I-243 ff – Lewark) Die Klägerin, Frau Lewark (L), ist mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden im Pflegebereich des in Deutschland ansässigen Dialysezentrums des B beschäftigt und gehört dort dem Betriebsrat an, der aus drei Mitgliedern besteht. Ihre Arbeitszeit verteilt sich gleichmäßig auf 4 Tage in der Woche. Im Pflegebereich des Dialysezentrums sind 21 Arbeitnehmer tätig, 7 Männer und 14 Frauen. Während bis auf einen alle Männer vollzeitbeschäftigt sind, sind 10 der 14 Frauen teilzeitbeschäftigt. L ist als einziges Mitglied des Betriebsrates teilzeitbeschäftigt. Vom 11.–15. November 1996 nahm sie aufgrund eines Beschlusses des Betriebsrates und mit Zustimmung des B an einer für die Betriebsratsarbeit erforderlichen Schulungsveranstaltung teil, und zwar auch am 13. November, an dem sie wegen ihrer Teilzeitbeschäftigung nicht bei B gearbeitet hätte. Gemäß § 37 II, VII BetrVG haben Mitglieder des Betriebsrates den Anspruch, ohne Minderung des Arbeitsentgeltes an Schulungen teilzunehmen. L verlangt aber darüber hinaus von B einen Ausgleich für die 7 Stunden, die sie an diesem für sie sonst freien Tag für die Schulung aufgebracht hat. Ihr dürfe gegenüber den vollzeitbeschäftigten Betriebsratsmitgliedern kein bes Opfer abverlangt werden. In der Weigerung des B sieht sie eine durch Art 157 I AEUV verbotene Diskriminierung. Nachdem Arbeits- und Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben hatten, legt das Bundesarbeitsgericht dem EuGH die Frage vor, ob Art 157 I AEUV den nationalen Gesetzgeber daran hindert, die Betriebsratsmitglieder lediglich vor denjenigen Einkommenseinbußen zu schützen, die sie sonst durch eine betriebsratsbedingte Versäumung der Arbeitszeit erleiden würden.

Ein Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts findet sich außer in Art 21 I GRCh auch in Art 23 GRCh und in Art 157 I AEUV. Während das Verbot in Art 21 I, Art 23 GRCh alle Lebensbereiche erfasst, beschränkt sich Art 157 I AEUV auf das Postulat des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit. Unterschiede bestehen auch im Hinblick auf die Adressaten: Während Art 21 I, Art 23 GRCh die Union umfassend, die Mitgliedstaaten hingegen nur bei der Durchführung des Unionsrechts binden (Art 51 I 1 GRCh), ist Art 157 I AEUV allein an die Mitgliedstaaten gerichtet. Die unionsrechtliche Bindung der Mitgliedstaaten beschränkt sich daher, wenn sie nicht Unionsrecht durchführen, auf den Bereich der arbeitsrechtlichen Entgeltgleichheit; die Bindung der Union ist hingegen insoweit unbeschränkt. Dieser Unterschied erklärt sich daraus, dass der historisch ältere Art 157 I AEUV transnationale Integrationswurzeln hat (s o Rn 6) und im Übrigen durch die mitgliedstaatlichen Gewährleistungen als nationale Legitimationsnormen ergänzt wird, während Art 21 I, 23 GRCh im Hinblick auf das Handeln der Union supranationale Legitimationsfunktion haben. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf den bislang die Rechtsprechungspraxis prägenden Art 157 AEUV. Dieser enthält in seinem Abs 1 das Grundrecht auf Nichtdiskriminierung wegen des Geschlechts. Abs 2 definiert den Begriff des „Entgelts“, Abs 3 enthält eine Ermächtigungsgrundlage für Maßnahmen zur Gewährleistung der Anwendung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichstellung von Männern und Frauen und in Abs 4 befindet sich eine an die Mitgliedstaaten gerichtete Öffnungsklausel für bestimmte Maßnahmen der „positiven Diskriminierung“.

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a) Schutzbereich Der Schutzbereich von Art 157 I AEUV umfasst das Arbeitnehmern gezahlte Entgelt.

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aa) Persönlicher Schutzbereich Die Beschränkung des persönlichen Schutzbereiches auf Arbeitnehmer folgt aus der Definition des Entgeltes in Absatz 2. Arbeitnehmer ist, in Anlehnung an die Begriffsbestimmung in Art 45 AEUV (→ vgl § 9 Rn 5 ff), jede Person, die „während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.“63 Es handelt sich um einen autonom unionsrechtlichen Begriff, so dass auch ein nach nationalem Recht Selbständiger im Einzelfall unionsrechtlich als Arbeitnehmer gelten kann; insb wenn ein Fall der Scheinselbständigkeit vorliegt.64 Geschützt sind alle tatsächlich innerhalb des Unionsgebietes abhängig Beschäftigten, also nicht nur Unionsbürger, sondern auch Drittstaatsangehörige.65 Auch öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse sind erfasst,66 und zwar selbst solche in den hoheitlichen Kernbereichen. Das ergibt ein systematischer Abgleich mit Art 45 AEUV, der in seinem Absatz 4 solche Tätigkeiten vom Anwendungsbereich der Vorschrift ausnimmt. Das wäre überflüssig, wenn diese nicht unter den Arbeitnehmerbegriff im Sinne von Art 45 I AEUV fallen würden. Arbeitnehmer sind daher nach der Rspr des EuGH etwa auch Polizeibeamte67 und Angehörige der Streitkräfte68. Der Arbeitnehmer muss nicht zwingend zugleich der Leistungsempfänger sein. Vielmehr kann sich auch ein Dritter, der selbst nicht Arbeitnehmer ist, auf Art 157 I AEUV berufen, wenn – wie etwa bei der Hinterbliebenenrente – der Entgeltanspruch seinen Ursprung im Arbeitsverhältnis hat.69

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bb) Sachlicher Schutzbereich In sachlicher Hinsicht gewährleistet Art 157 I AEUV Gleichheit im Hinblick auf das dem Arbeitnehmer geleistete Entgelt. Darüber hinausgehende, nicht auf das Entgelt beschränkte Diskriminierungsverbote können sich aus dem Sekundärrecht ergeben. Aus der Legaldefinition des Entgeltes in Art 157 II AEUV folgt, dass nicht nur die üblichen Grund- und Mindestlöhne und -gehälter, sondern auch alle sonstigen Vergütungen (Überstunden-, Feiertagszuschläge, Schichtzulagen, alle Arten von Gratifikationen), die ein Arbeitsverhältnis voraussetzen und auf der Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gründen,70 in den sachlichen Schutzbereich fallen. Entgelt sind damit alle

63 EuGH, Slg 1986, 2121, Rn 17 – Lawrie-Blum; vgl auch die Zusammenfassung der wesentlichen Elemente des Entgeltbegriffes bei Rust in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 141 EGV Rn 380 ff. 64 EuGH, Slg 2004, I-873, Rn 66 ff – Allonby. 65 Langenfeld Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, S 43 ff. 66 EuGH, Slg 1997, I-5253, Rn 17 ff – Gerster. 67 EuGH, Slg 1986, 1651, Rn 26 ff – Johnston, für den übereinstimmenden Arbeitnehmerbegriff in der RL 76/207, ABl 1976 Nr L 39/40. 68 EuGH, Slg 2000, I-69, Rn 18 – Kreil = JK 2000, EGV Art 141/2. 69 EuGH, Slg 1993, I-4879, Rn 12 ff – Ten Oever; Slg 2004, I-541, Rn 27 – K.B. 70 Vgl etwa Rebhahn in: Schwarze, EU-Komm, Art 157 AEUV Rn 11 f.

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im Zusammenhang mit der erbrachten Arbeit stehenden, dem Arbeitgeber zurechenbaren Gegenleistungen, und zwar ohne Rücksicht auf ihre Rechtsgrundlage.71 Die Gegenleistungen müssen also nicht im Arbeitsvertrag oder in Kollektivvereinbarungen wurzeln, sondern können auch aufgrund rechtlicher Vorschriften72 oder freiwillig getätigt worden sein.73 33

Beispiele: Unter den Entgeltbegriff fallen nach der Rspr des EuGH etwa das Weihnachtsgeld74, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall75, das Übergangsgeld76 sowie Abfindungs- und Entschädigungsleistungen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses77, ferner die Fortzahlung des Entgeltes an Betriebsratsmitglieder während externer Schulungen78 und sogar Fahrpreisermäßigungen für Bahnbedienstete nach Eintritt in den Ruhestand79.

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Art 157 AEUV setzt einen „engen Zusammenhang zwischen der Art der Arbeitsleistung und der Höhe des Arbeitsentgelts“80 voraus. Nicht in den sachlichen Schutzbereich fallen daher sonstige Arbeitsbedingungen, die nicht die Gegenleistung für die geleistete Arbeit betreffen, und zwar selbst dann nicht, wenn sie sich tatsächlich finanziell nachteilig auswirken.81 Schutz vor sonstigen arbeitsrechtlichen Ungleichbehandlungen gewährt aber die allgem Gleichbehandlungsrichtlinie RL 76/207,82 die neben abhängigen auch selbständige Beschäftigungen umfasst.83 Für die im Einzelfall schwierige, insb wegen der fehlenden Drittwirkung von Art 2 I RL 76/20784 aber bedeutsame Abgrenzung zwischen dem von Art 157 I AEUV erfassten Entgelt und den sonstigen, unter Art 2 I RL 76/207 fallenden Arbeitsbedingungen differenziert der EuGH wie folgt: Er bejaht den erforderlichen Zusammenhang mit der Entgeltzahlung, wenn sich die Gestaltung einer Arbeitsbedingung „quasi automatisch“ auf die Höhe des Entgeltes auswirkt, verneint ihn aber, wenn die Arbeitsbedingung nur die Möglichkeit des Einflusses auf das Entgelt eröffnet.85

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Beispiele: Eine Bestimmung des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT), die bei der Berechnung der Dienstzeit für den Aufstieg in eine höhere Vergütungsgruppe Teil- und Vollzeitbeschäftigte mit nachteiligen Wirkungen für die oft nur teilzeitbeschäftigten Frauen ungleich behandelte, fiel unter den Entgeltbegriff des Art 157 II AEUV, weil der Aufstieg in die nächste

71 Vgl Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 157 AEUV Rn 22. 72 Vgl bereits EuGH, Slg 1976, 455, Rn 40 – Defrenne II. 73 Vgl zusammenfassend etwa EuGH, Slg 1999, I-623, Rn 15 – Seymour-Smith; Slg 1999, I-7243, Rn 19 – Lewen. 74 EuGH, Slg 1999, I-7243, Rn 21 – Lewen. 75 EuGH, Slg 1989, 2743, Rn 7 – Rinner-Kühn. 76 EuGH, Slg 1990, I-2591, Rn 11 – Kowalska. 77 EuGH, Slg 1993, I-673, Rn 12 ff – Kommission/Belgien; Slg 1999, I-623, Rn 24 ff – SeymourSmith. 78 EuGH, Slg 1992, I-3589, Rn 13 f – Bötel; Slg 1996, I-243, Rn 22 f – Lewark. 79 EuGH, Slg 1982, 359, Rn 5 ff – Garland. 80 EuGH, Slg 1999, I-623, Rn 34 – Seymour-Smith. 81 Grundl bereits EuGH, Slg 1978, 1365, Rn 21 – Defrenne III. 82 RL des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen v 9.2.1976, ABl 1976 Nr L 39/40. 83 EuGH, Slg 1985, 1459, Rn 24 – Kommission/Deutschland. 84 Zur Drittwirkung von Art 157 I AEUV vgl Rn 39. 85 EuGH, Slg 1991, I-297, Rn 9 – Nimz; Slg 1997, I-5253, Rn 24 ff – Gerster.

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Gruppe automatisch erfolgte.86 Kein Entgelt im Sinne von Art 157 II AEUV regelte hingegen eine Bestimmung der bayerischen Laufbahnordnung, die zwar die Dienstzeit für Teil- und Vollzeitbeschäftigte unterschiedlich berechnete, daran aber nur die Folge der Aufnahme in eine Beförderungsliste knüpfte, welche keinen Anspruch, sondern nur die Möglichkeit einer Beförderung eröffnete.87 Entspr differenziert der EuGH bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses: Die Entschädigung wegen ungerechtfertigter Entlassung ist an Art 157 AEUV, die Voraussetzungen der Wiedereingliederung des Arbeitnehmers an der RL 76/207 zu messen.88 Auch sonstige Maßnahmen im Zusammenhang mit der Begründung eines Arbeitsverhältnisses, wie insb die sog Quotenregelungen bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst zugunsten von Frauen89 und die Beschränkung des Zugangs von Frauen zum Dienst mit der Waffe in der Bundeswehr90, misst der EuGH an Art 2 I RL 76/207 und nicht an Art 157 I AEUV.

Art 157 I AEUV erfasst ferner nur diejenigen Leistungen, die dem Arbeitgeber zumindest mittelbar zuzurechnen sind. Die Zurechenbarkeit wirft bei der Beurteilung von Altersversorgungssystemen bes Schwierigkeiten auf. Der EuGH differenziert wie folgt: Während betriebliche Altersversorgungssysteme unter Art 157 AEUV fallen, soll für die allgem Versorgungssysteme (in Deutschland also insb die soziale Rentenversicherung im SGB VI) nicht Art 157 AEUV, sondern allein die RL 79/791 gelten. Die Abgrenzung hat wegen der fehlenden Drittwirkung des Diskriminierungsverbotes in Art 4 I RL 79/792 und den in Art 7 RL 79/7 vorgesehenen Öffnungsklauseln, die den Mitgliedstaaten in Art 157 I AEUV nicht vorgesehene Abweichungen vom Gebot der Nichtdiskriminierung gestatten (dabei geht es insb um – mitunter nur vermeintlich – Frauen „begünstigende“ Regelungen der Mitgliedstaaten, insb im Zusammenhang mit dem Rentenzugangsalter)93, große praktische Bedeutung, verursacht aber aufgrund der Verzahnung von betrieblicher und allgem Altersversorgung mitunter erhebliche Friktionen.94 Für die Zurechnung kommt es im Rahmen der Altersversorgungssysteme entscheidend auf den betrieblichen Bezug der Versorgungsleistung an. Dieser hängt maßgeblich vom Einfluss des Arbeitgebers auf das Versorgungssystem ab. Der Umstand, dass ein Versorgungssystem auf gesetzlicher, der Vereinbarung der Parteien des Arbeitsvertrages entzogener Verpflichtung beruht, kann daher ein wichtiges Indiz für die Verneinung des betrieblichen Bezuges sein. Allein ausschlaggebend ist es aber nicht, weil der Grund der Leistung des Arbeitgebers im Prinzip unerheblich ist, sofern sie nur im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis erbracht wird.95 Das für den betrieblichen Bezug wesentliche Begriffspaar ist daher nicht „betrieblich-gesetzlich“, sondern „betrieblich-all-

86 EuGH, Slg 1991, I-297, Rn 9 – Nimz; vgl ferner Slg 1986, 1607, Rn 24 ff – Bilka; Slg 1990, I-2591, Rn 13 – Kowalska. 87 EuGH, Slg 1997, I-5253, Rn 23 f – Gerster. 88 EuGH, Slg 1999, I-623, Rn 25 ff, 37 ff – Seymour-Smith. 89 EuGH, Slg 1995, I-3051, Rn 12 ff – Kalanke; Slg 1997, I-6363, Rn 21 ff – Marschall = JK 98, GG Art 3 II/8; Slg 2000, I-1875, Rn 13 ff – Badeck; Slg 2000, I-5539, Rn 40 ff – Abrahamsson. 90 EuGH, Slg 2000, I-69, Rn 10 ff – Kreil = JK 2000, EGV Art 141/2. 91 RL des Rates zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit v 19.12.1978, ABl 1979 Nr L 6/6/24. 92 Zur Drittwirkung von Art 157 AEUV s u Rn 39. 93 Vgl Haverkate/Huster Europäisches Sozialrecht, 1999, Rn 729 ff. 94 Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 157 AEUV Rn 69. 95 EuGH, Slg 1994, I-4471, Rn 24/26 – Beune; Slg 1999, I-7243, Rn 20 – Lewen; Bieback in: Fuchs (Hrsg) Europäisches Sozialrecht, 6. Aufl 2013, Art 157 AEUV Rn 28 ff.

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gemein (sozial-)staatlich.“96 Der betriebliche Bezug der Versorgungsleistung ist zu bejahen, wenn der Arbeitgeber die Leistung ganz oder zum Teil, ggf auch zusammen mit Abzügen vom Lohn des Arbeitgebers, selbst finanziert und einen Einfluss auf die Bestimmung von Art und Umfang der zu erbringenden Leistung behält.97 Je weniger aber die Modalitäten der Beitragsleistung und der zu erbringenden Leistungen durch das konkrete Beschäftigungsverhältnis gestaltet werden und je stärker die finanzielle Beteiligung der öffentlichen Hand und der Einfluss allgem sozialpolitischer Erwägungen ist98 (die sich insb in solidarischer Umverteilung und in der Einbeziehung von Nicht-Arbeitnehmern äußern kann), desto mehr löst sich das System vom konkreten Beschäftigungsverhältnis mit der Folge, dass der betriebliche Bezug der Versorgungsleistung zu verneinen ist;99 so etwa bei Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherung.100 Wenn aber die Versorgungsleistung einen betrieblichen Bezug hat, so ist die konkrete Funktion der betrieblichen Alterssicherung im mitgliedstaatlichen Versorgungssystem ohne Belang. Er wird daher auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass das Versorgungssystem die soziale Rentenversicherung ganz oder zum Teil substituiert.101 b) Beeinträchtigung 38

Beeinträchtigung ist jede entgeltbezogene Ungleichbehandlung für gleiche oder gleichwertige Arbeit aufgrund des Geschlechts durch die Mitgliedstaaten oder private Arbeitgeber. aa) Normadressaten

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Normadressaten des Art 157 AEUV sollen neben den Mitgliedstaaten auch – was problematisch ist (→ § 13 Rn 18) – Privatpersonen sein; gebunden sind daher insb die Tarifvertragsparteien.102 Die Union ist hingegen nicht an Art 157 I AEUV, sondern an Art 23 GRCh gebunden (s o Rn 25). bb) Vergleichsgruppen

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Die Feststellung einer Ungleichbehandlung beginnt mit der Bildung der Vergleichsgruppen.103 Diese setzt einen Bezugspunkt voraus, der den gemeinsamen Oberbegriff bildet, unter den die rechtlich verschieden behandelten Personen fallen. Dieser Bezugspunkt wird in Art 157 AEUV mit „gleiche oder gleichwertige Arbeit“ umschrieben. Das Unionsrecht gibt zwar nicht vor, wie die Gleichwertigkeit der Arbeit festzustellen ist; im Interesse der einheitlichen Anwendbarkeit des Art 157 AEUV muss es aber einheitliche Kriterien geben, zumal das Verständnis in den Mitgliedstaaten insoweit erheblich differiert.104 Die Kommission hat daher ein ausführliches Klassifikationsschema entwickelt,105 das zur

96 97 98 99 100 101 102 103 104 105

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Bieback (Fn 95) Art 157 AEUV, Art 157 AEUV Rn 22. Grundl: EuGH, Slg 1990, I-1889, Rn 22 ff – Barber; Bieback (Fn 95) Art 157 AEUV Rn 28 –. EuGH, Slg 1990, I-1889, Rn 23 – Barber. Vgl den Kriterienkatalog bei Bieback (Fn 95) Art 157 AEUV Rn 28 ff. EuGH, Slg 1971, 445, Rn 7/12 – Defrenne I. EuGH, Slg 1990, I-1889, Rn 28 – Barber; Slg 1994, I-4389, Rn 71 – Coloroll Pension Trustees. EuGH, Slg 1999, I-7243, Rn 26 – Lewen; Slg 2004, I-11143, Rn 25 – Sass. Vgl allgem Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn 12) Rn 463 ff. Vgl Schlachter in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 13 Aufl 2013, Art 157 AEUV Rn 11. KOM (1994) 6 endg und KOM (1996) 336 endg.

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Definition beitragen kann, jedoch rechtlich unverbindlich ist. Einzelne Aussagen finden sich auch in der EuGH-Rspr: Die Gleichheit oder Gleichwertigkeit der Arbeit hängt danach weder von der subjektiven Einschätzung des Arbeitnehmers noch derjenigen des Arbeitgebers ab.106 Maßgebend sind vielmehr objektive Umstände wie die Art der Arbeit, die Ausbildungsanforderungen und die Arbeitsbedingungen.107 Keine gleiche oder gleichwertige Arbeit liegt vor, wenn die gleiche Tätigkeit von Arbeitnehmern mit unterschiedlicher Ausbildung ausgeübt wird.108 Vergleichbarkeit ist im Übrigen, wie bei jedem Gleichheitssatz, nur gegeben, wenn die beiden Fälle in den Zuständigkeitsbereich der handelnden Stelle fallen.109 Das bedeutet zwar nicht, dass zwingend nur Arbeitnehmer eines Arbeitgebers miteinander verglichen werden können, weil Ungleichbehandlungen auch in Rechtsnormen oder Kollektivvereinbarungen wurzeln können, die eine Vielzahl von Arbeitnehmern unterschiedlicher Arbeitgeber erfassen können. Allerdings muss die Ungleichbehandlung „auf ein und dieselbe Quelle zurückführen“ sein; anderenfalls „fehlt eine Einheit, die für die Ungleichbehandlung verantwortlich ist und die die Gleichbehandlung wiederherstellen könnte.“110

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cc) Arten der Beeinträchtigung Art 157 I AEUV verbietet unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts.

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(1) Das verbotene Differenzierungskriterium Geschlecht Art 157 AEUV ist nur auf Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts des Arbeitnehmers anwendbar. Das sind auch solche Umstände, die nur Angehörige eines Geschlechts erfüllen können, insb die Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes.111 Benachteiligungen wegen der gleichgeschlechtlichen Orientierung werden nicht erfasst.112 Sie können aber als Benachteilung wegen der sexuellen Orientierung unter die auf Art 19 I AEUV gestützte RL 2000/78 fallen (s o Rn 22).

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(2) Unmittelbare Diskriminierungen Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine entgeltbezogene Maßnahme explizit an das Geschlecht anknüpft.113

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Beispiele: Eine unmittelbare Diskriminierung liegt etwa vor, wenn Mutterschutzzeiten bei der Gewährung einer Gratifikation nicht als Beschäftigungszeiten114 und Kindererziehungszeiten bei der Rente nur für Mütter berücksichtigt werden.115 Gleiches gilt, wenn nur Beamtinnen

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106 107 108 109 110 111 112

Rebhahn in: Schwarze, EU-Komm, Art 157 AEUV Rn 15. EuGH, Slg 1995, I-1275, Rn 32 f – Royal Copenhagen; EuZW 2013, 381, Rn 27 ff – Kenny u a. EuGH, Slg 1999, I-2865, Rn 20 f – Angestelltenbetriebsrat der Wiener Gebietskrankenkasse. Vgl allgem Jarass in: ders/Pieroth, Grundgesetz Kommentar, 12 Aufl 2012, Art 3 Rn 9. EuGH, Slg 2002, I-7325, Rn 18 – Lawrence. Rebhahn in: Schwarze, EU-Komm, Art 157 AEUV Rn 21. Vgl EuGH, Slg 1998, I-621, Rn 47 – Grant = JK 99, EGV Art 119/1; Rebhahn in: Schwarze, EUKomm, Art 157 AEUV Rn 18; vgl dazu Fall 2. 113 Rebhahn in: Schwarze, EU-Komm, Art 157 AEUV Rn 20; Schlachter (Fn 104) Art 157 AEUV Rn 16. 114 EuGH, Slg 1999, I-7243, Rn 42 – Lewen. 115 EuGH, Slg 2001, I-9383, Rn 67 – Griesmar.

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das Recht haben, mit sofortigem Pensionsanspruch in den Ruhestand versetzt zu werden, wenn der Ehegatte eine Behinderung oder eine unheilbare Krankheit hat.116 Unmittelbare Diskriminierungen beinhalten insb auch sog positive Diskriminierungen, die Angehörige eines Geschlechts gezielt fördern.117 Art 157 IV AEUV und Art 23 II GRCh stellen klar, dass ihnen der europarechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz grds nicht entgegensteht;118 auch Art 3 II 2 GG lässt derartige Fördermaßnahmen grds zu. Hier geht es insb um Frauenquoten bei der Einstellung im öffentlichen Dienst: Starre Quoten, die Frauen automatisch bevorzugen, ohne auf die bes Situation eines konkurrierenden Mannes einzugehen, sind unzulässig.119 Enthalten sie eine individualisierte Öffnungsklausel, sollen sie hingegen zulässig sein;120 auch dann muss aber verhindert werden, dass weniger qualifizierte Bewerber vorgezogen werden.121 Positive Fördermaßnahmen müssen sich zudem stets an ihrer Zielgenauigkeit messen lassen: Wenn etwa die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben (Art 33 II GRCh) verbessert werden soll, müssen Kindererziehende, nicht Frauen gefördert werden.122

(3) Mittelbare Diskriminierungen 46

Der praktisch häufigste und schwierigste Fall sind mittelbare Diskriminierungen. Ihr Vorliegen wird in Anlehnung an Art 2 II RL 97/80 (sog Beweislastrichtlinie)123 ermittelt. Danach liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach geschlechtsneutral formulierte Vorschriften, Kriterien und Verfahren prozentual einen wesentlich höheren Anteil eines Geschlechts benachteiligen.124 Es reicht also aus, dass sich eine geschlechtsneutral formulierte Regelung statistisch überwiegend zum Nachteil eines Geschlechts auswirkt. Um diese tatsächlichen Auswirkungen zu ermitteln, darf nicht auf die absoluten Zahlen der jeweils betroffenen Arbeitnehmer eines Geschlechts abgestellt werden; vielmehr muss die Zahl der Betroffenen eines Geschlechts jeweils in Relation zu der Gesamtheit der Arbeitnehmer dieses Geschlechts gesetzt und innerhalb jeder Gruppe der prozentuale Anteil der Betroffenen ermittelt werden.125 Art 4 RL 97/80 verschiebt dabei die Beweislast auf den Beklagten, also den Arbeitgeber oder den Mitgliedstaat. Danach müssen Personen, die sich durch eine Diskriminierung wegen des Geschlechts für beschwert erachten, nur die Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer Diskriminierung vermuten lassen. Dies kann insb durch amtliche oder nicht-amtliche Statistiken geschehen. Dem Beklagten obliegt dann der Beweis, dass keine Diskriminierung vorgelegen hat. 116 EuGH, Slg 2001, I-10201, Rn 31 – Mouflin. 117 Nußberger in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 23 Rn 95 ff; Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 44 Rn 52; vgl dazu, auch rechtsvergleichend, etwa M Döring Frauenquoten und Verfassungsrecht, 1996. 118 Zur Auflösung der Inkongruenz zwischen den beiden Vorschriften Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 23 GRCh Rn 4. 119 EuGH, Slg 1995, I-3051, Rn 22 – Kalanke. 120 EuGH, Slg 1997, I-6363, Rn 32 f – Marschall = JK 98, GG Art 3 II/8. 121 EuGH, Slg 2000, I-5539, Rn 52 – Abrahamsson. 122 Vgl Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 6. 123 Richtlinie des Rates über die Beweislast bei Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts v 15.12.1997, ABl 1998 Nr L 14/6. 124 Vgl EuGH, Slg 1986, 1607, Rn 29 – Bilka; Slg 1996, I-243, Rn 28 – Lewark; Slg 1997, I-5253, Rn 30 – Gerster. 125 EuGH, Slg 1999, I-623, Rn 58 ff – Seymour-Smith; Slg. 2004, I-873, Rn 75, 80 ff – Allonvy; Slg. 2007, I-10573, Rn 37 ff – Voß.

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Beispiele: Eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts wird angenommen, wenn Teilzeitbeschäftigte schlechter gestellt werden als Vollzeitbeschäftigte, weil der Anteil der Frauen an den Teilzeitbeschäftigten typischerweise höher ist als der der Männer.126 Als Diskriminierung wurde daher etwa die Bezahlung geringerer Stundensätze für Teilzeitbeschäftigte127 und der Ausschluss der Teilzeitbeschäftigten vom Zugang zu einem betrieblichen Versorgungssystem128 angesehen. Sehr weitgehend erstreckt der EuGH das Diskriminierungsverbot auch auf die tatsächlichen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um in den Genuss des Schutzes einer Norm zu kommen:129 Eine Diskriminierung soll daher auch vorliegen, wenn das nationale Recht die Gewährung einer Leistung (hier: Hinterbliebenenrente) davon abhängig macht, dass die Betroffenen miteinander verheiratet sind, ihnen aber aufgrund einer Geschlechtsumwandlung die Möglichkeit eines Eingehens der Ehe verweigert wird. Hingegen ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, alle familienbedingten Unterbrechungen der Erwerbsbiographie auszugleichen.130 Keine mittelbare Diskriminierung soll auch das Abstellen auf die Anciennität sein.131

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Die EuGH-Rspr ist – ungeachtet ihrer sozialpolitisch meist überzeugenden Ergebnisse – dogmatisch unbefriedigend, weil sie mit der Konzentration auf die tatsächlichen Auswirkungen einer Regelung letztlich die Statistik zur Auslegungsmethode befördert.132 Grundrechte sind Individualrechte; die grundrechtliche Betroffenheit kann daher nicht davon abhängen, ob der Einzelne einer bestimmten Gruppe (hier: Frauen) angehört und in dieser Gruppe auch noch andere, möglicherweise sogar bes viele, betroffen sind, zumal offen bleibt, wo die prozentual relevante Grenze liegen soll.133 Problematisch ist dies insb für Personen, die nicht der mehrheitlich betroffenen Gruppe angehören, aber dennoch von den nachteiligen Folgen betroffen werden, etwa der wegen der Kindererziehung teilzeitbeschäftigte Mann. Er kann die nachteiligen Wirkungen einer unterbrochenen Erwerbsbiographie nicht mit der Benachteiligung aufgrund des Geschlechts begründen, weil die Regelung mehrheitlich Frauen und nicht Männer trifft. Letztlich geht es dem EuGH um das praktische Ergebnis: Arbeits- und beschäftigungspolitische Bedingungen, die zwar nicht am Tatbestand „Geschlecht“ sondern an der „Kindererziehung“ anknüpfen, realiter aber meistens Frauen treffen, sollen auf ihre sachliche Rechtfertigung hin überprüft werden. Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung löst sich der EuGH immerhin von der alleinigen Prüfung der tatsächlichen Auswirkungen und fragt, ob die beanstandete Regelung (die statistisch mehr Frauen als Männer betrifft) durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.134 Hier klingt das Verständnis des Art 157 I AEUV als Begründungsverbot an, das den Norm-

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126 Dazu umfassend Biermann Die Gleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten bei entgeltlichen Ansprüchen, 2000, S 162 ff; Saunders Gleiches Entgelt für Teilzeitarbeit, 1997, S 29 ff. 127 EuGH, Slg 1981, 911, Rn 13 – Jenkins. 128 EuGH, Slg 1986, 1607, Rn 29 ff – Bilka. 129 EuGH, Slg 2004, I-541, Rn 30 – K.B.; insoweit krit Classen JZ 2004, 513 f. 130 EuGH, Slg 1986, 1607, Rn 29 ff – Bilka. 131 EuGH, Slg 1989, 3199, Rn 24 f – Danfoss A/S; krit Krebber in: Calliess/Ruffert, Art 157 AEUV Rn 42. 132 Weniger krit Schlachter (Fn 104) Art 157 AEUV Rn 19, 23, die die Statistik als Methode zur Senkung der Beweisanforderungen für die Geschlechtsabhängigkeit einer Diskriminierung interpretiert. 133 Eher spekulativ daher Rust in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 141 EGV Rn 459. 134 Vgl etwa EuGH, Slg 1993, I-6185, Rn 32 – Kirsammer-Hack.

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adressaten verpflichtet, die Differenzierung ohne Rückgriff auf das verbotene Differenzierungskriterium „Geschlecht“ zu begründen.135 Gelingt diese Begründung, hat sie selbst dann Bestand, wenn sie im Ergebnis mehr Personen des einen als des anderen Geschlechts trifft.136 Das Begründungsverbot verbindet damit Fragen der Ungleichbehandlung bereits mit der Prüfung nach ihrer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, insb des Zweckes der Ungleichbehandlung. c) Rechtfertigung 50

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Art 157 AEUV enthält keine ausdrücklichen Schrankenbestimmungen. Trotzdem ist anerkannt, dass auch Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts gerechtfertigt werden können. Dabei wird zwischen unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen unterschieden: Während mittelbare Diskriminierungen grds gerechtfertigt werden können, wird die Ansicht vertreten, dass unmittelbare Diskriminierungen entweder gar nicht137 oder nur unter erschwerten Bedingungen138 zu rechtfertigen sind. Diese Differenzierung überzeugt nicht: Denn für den Einzelnen ist es gleichgültig, ob er durch ausdrückliche Anknüpfung an die Gruppe, der er angehört oder durch typischerweise diese Gruppe treffende Merkmale belastet wird.139 In neueren Urteilen gleichen sich die Rechtfertigungsmaßstäbe daher mit Recht an.140 Dass mittelbare Diskriminierungen gleichwohl eher rechtfertigungsfähig sind, liegt daran, dass die Rechtfertigungsprüfung hier auch als Korrektiv für den (zu) weiten Begriff der mittelbaren Diskriminierung dient.141 Die Rechtfertigungsprüfung besteht aus der Feststellung eines legitimen, auch von den Verträgen anerkannten Zieles der Ungleichbehandlung und der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme: So sieht der EuGH Benachteiligungen durch Arbeitgeber als gerechtfertigt an, wenn sie (1) einem „wirklichen unternehmerischen Bedürfnis“ entsprechen und (2) für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind,142 was insb dann der Fall sein dürfte, wenn substantiiert vorgetragen wird, dass mit der Maßnahme Arbeitsplätze oder gar der Fortbestand des Unternehmens gesichert werden können. Differenzierungen in Gesetzen und Tarifverträgen können durch beschäftigungs- und sozialpolitische Ziele gerechtfertigt sein, wenn sie zu deren Erreichung geeignet und erforderlich sind.143 Wegen der weitgehend fehlenden sozialpolitischen Zuständigkeit der Union haben die Mitgliedstaaten insoweit einen weiten Entscheidungsspielraum.144 Beispiele: Das Ziel, geringfügige Beschäftigung (vgl §§ 8, 8a SGB IV) zu erleichtern, kann die Herausnahme aus der Sozialversicherungspflicht rechtfertigen.145 Der auch durch Art 153 II 1 lit b) AEUV anerkannte Schutz kleiner und mittlerer Unternehmen kann Befreiungen von

135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145

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Vgl für Art 3 II und III GG Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn 12) Rn 481 ff. Ebenso für Art 3 II GG Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn 12) Rn 488. Classen JZ 1996, 621, 624. So Rebhahn in: Schwarze, EU-Komm, Art 157 AEUV Rn 22. Wie hier Kischel EuGRZ 1997, 1, 4 f vgl auch → § 13 Rn 25. Vgl etwa EuGH, Slg 2001, I-4961, Rn 63 ff – Brunnhofer. Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 44 Rn 59. EuGH, Slg 1986, 1607, Rn 36 – Bilka. EuGH, Slg 1989, 2743, Rn 14 – Rinner-Kühn. EuGH, Slg 1995, I-4625, Rn 33 – Nolte. EuGH, Slg 1995, I-4625, Rn 31 – Nolte.

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nationalen Kündigungsschutzregelungen rechtfertigen.146 Allgemeine Behauptungen, dass bestimmte Maßnahmen Einstellungen fördern, reichen aber nicht aus.147

d) Rechtsfolgen eines Verstoßes Nach allgem Grundsätzen ist bei einem Verstoß gegen Art 157 I AEUV die angegriffene Regelung/Maßnahme nicht anzuwenden. Dabei ist zu unterscheiden für die Zeit vor und nach der Anpassung der nationalen Maßnahme/Regelung an das Urt des EuGH: Bis zum Inkrafttreten einer neuen nationalen Regelung hat der betroffene Arbeitnehmer einen unmittelbar aus Art 157 AEUV folgenden Anspruch auf Leistung des dem bevorzugten Geschlecht gewährten Entgeltes.148 Dieser Anspruch bezieht sich grds auch auf in der Vergangenheit liegende Arbeitszeiten, allerdings aus Gründen der Rechtssicherheit und zur Vermeidung unverhältnismäßiger Belastungen nicht auf Zeiten vor dem 8.4.1976.149 Für Betriebsrenten ist die zeitliche Wirkung sogar auf die Zeit nach dem 17.5.1990 beschränkt, wenn nicht vorher rechtliche Schritte zur Wahrung der Rechte unternommen wurden.150 Das soll aber nur für die Leistungen selbst, nicht für die Voraussetzungen für den Anschluss an ein betriebliches Rentensystem gelten. Sobald eine neue Regelung/Maßnahme in Kraft ist, die das Urteil des EuGH umsetzt, ist allein diese maßgebend. Gemäß den für die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen Gleichheitssätze geltenden Grundsätzen (s o Rn 10) muss die Neuregelung die bislang dem einen Geschlecht gewährte Vergünstigung nicht auf das andere ausdehnen; zulässig ist vielmehr auch eine Abschaffung der Vergünstigung für das bislang begünstigte Geschlecht.151 Art 157 I AEUV verhält sich nur zur Gleichbehandlung, nicht zu dem Niveau, auf dem diese erfolgt. Lösung Fall 1: Die Weigerung der SWT, der Lebensgefährtin der G die Fahrvergünstigung zu gewähren, könnte gegen Art 157 I AEUV verstoßen. (1) Fraglich ist zunächst, ob der persönliche Schutzbereich berührt ist, weil die Vergünstigung nicht der Arbeitnehmerin G, sondern ihrer Lebensgefährtin gewährt werden soll. Doch wird zu Recht davon ausgegangen, dass der Arbeitnehmer nicht zwingend zugleich der Leistungsempfänger sein muss. Vielmehr kann sich auch ein Dritter, der selbst nicht Arbeitnehmer ist, auf Art 157 I AEUV berufen, wenn der Entgeltanspruch seinen Ursprung im Arbeitsverhältnis hat (EuGH, Slg 1993, I-4879, Rn 12 ff – Ten Oever). Da die Fahrpreisvergünstigung aufgrund des Arbeitsvertrages der G mit der SWT geleistet wird, wurzelt sie im Arbeitsverhältnis. Auch der sachliche Schutzbereich ist berührt, denn die Fahrpreisvergünstigung ist eine sonstige Vergütung im Sinne von Art 157 II AEUV (EuGH, Slg 1998, I-621, Rn 13 – Grant = JK 99, EGV Art 119/1). (2) Der Schutzbereich müsste beeinträchtigt sein. Art 157 I AEUV verpflichtet auch Privatpersonen. Die SWT ist daher taugliche Normadressatin. Als Beeinträchtigungsform kommt eine unmittelbare Diskriminierung in Betracht. Fraglich ist allerdings, wie die Vergleichs-

146 147 148 149 150 151

EuGH, Slg 1993, I-6185, Rn 32 ff – Kirsammer-Hack. EuGH, Slg 1999, I-623, Rn 76 – Seymour-Smith. EuGH, Slg 1991, I-297, Rn 21 – Nimz; näher Nicolai ZfA 1996, 481, 485 ff. EuGH, Slg 1976, 455, Rn 74 f – Defrenne II. EuGH, Slg 1990, I-1889, Rn 43 f – Barber. EuGH, Slg 1994, I-4389, Rn 30 – Coloroll Pension Trustees.

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gruppen zu bilden sind. Man könnte den Mann, der mit einer Frau zusammenlebt und die Frau, die, wie die G, mit einer Frau zusammenlebt, miteinander vergleichen. Diese werden ungleich behandelt, weil nur der Mann, der mit einer Frau zusammenlebt, in den Genuss der Vergünstigung kommt. Der Bezugspunkt des Vergleichs wäre das Zusammenleben mit einer Frau. Doch sind dies nicht die richtigen Vergleichsgruppen. Für die Vergleichgruppenbildung (Rn 14) kommt es entscheidend auf das mit einer Maßnahme/Regelung verfolgte Ziel an (vgl allgem Boysen in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar Bd I, 6 Aufl 2012, Art 3 Rn 62). Die Regelung über die Fahrpreisvergünstigung soll aber nicht zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen verschieden- und gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften differenzieren. Vergleichsgruppen sind daher die mit einem Partner des anderen Geschlechts und die mit dem gleichen Geschlecht zusammenlebenden Arbeitnehmer. Diese werden zwar ungleich behandelt, doch beruht diese Ungleichbehandlung weder auf dem Geschlecht der G noch ihrer Partnerin, sondern auf der geschlechtlichen Orientierung (aA GA Elmer, EuGH, Slg 1998, I-621, Rn 19 ff). Fraglich ist, ob auch Ungleichbehandlungen aufgrund der sexuellen Orientierung unter Art 157 I AEUV fallen. Für die Beurteilung dieser Frage kommt es nicht darauf an, dass gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften nicht unter das nunmehr auch in Art 9 GRCh geschützte Grundrecht der Ehe fallen (insoweit problematisch daher EuGH, Slg 1998, I-621, Rn 32 ff – Grant = JK 99, EGV Art 119/1). Denn die Fahrpreisvergünstigung wird ja nicht nur Verheirateten gewährt, knüpft also nicht an den Status, sondern an das Zusammenleben an. Gegen eine Einbeziehung der geschlechtlichen Orientierung spricht aber das systematische Argument, dass der AEUV in Art 19 I AEUV und die Grundrechtecharta in Art 21 I GRCh explizit zwischen „Geschlecht“ und der „sexuellen Ausrichtung“ unterscheiden. Dies wäre unnötig, fiele die „sexuelle Ausrichtung“ bereits unter das „Geschlecht“. Die Weigerung der SWT, der Lebenspartnerin der G Fahrvergünstigungen zu gewähren, ist daher keine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts und damit kein Verstoß gegen Art 157 I AEUV. Vertiefungshinweis: Andere unionsrechtliche Diskriminierungsverbote sind nicht anwendbar. Art 21 GRCh verbietet zwar Diskriminierungen wegen der sexuellen Orientierung, bindet die Mitgliedstaaten aber nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts (Art 51 I GRCh), das aber die Fahrpreisgestaltung von Verkehrsunternehmen nicht erfasst. Art 2 I RL 2000/78 gilt hingegen nicht, weil nicht das Arbeitsleben betroffen ist. In Betracht kommen daher allein Verstöße gegen nationales Verfassungsrecht, in Deutschland vor allem gegen Art 3 I GG (Rn 22), was allerdings voraussetzt, dass es sich um eine staatlich oder zumndest überwiegend staatlich beherrschte Gesellschaft handelt.

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Lösung Fall 2: § 37 II, VII BetrVG, der die Fortzahlung des Arbeitsentgeltes auf die Zeit beschränkt, in der das Betriebsratsmitglied im Betrieb hätte arbeiten müssen, könnte gegen Art 157 I AEUV verstoßen. (1) Der Schutzbereich müsste berührt sein. Problematisch ist, ob der Anspruch auf das Arbeitsentgelt während der Schulung „Entgelt“ im Sinne von Art 157 II AEUV ist. Denn die Zahlung des Arbeitgebers ist Lohnausgleich, nicht aber Entgelt für das Amt des Betriebsrates, das Ehrenamt ist und für das daher gerade kein Entgelt zu leisten ist. Man kann daher daran zweifeln, ob der Lohnausgleich Arbeitsentgelt ist, das aufgrund arbeitsvertraglich geschuldeter Arbeitsleistung zu zahlen ist (Wiese in: Wiese/Kreutz/Oetker/Raab/ Weber/Franzen, Gemeinschaftskommentar Betriebsverfassungsgesetz, 9 Aufl 2010, § 37 Rn 55; differenzierend Kort RdA 1997, 277, 281 f). Der EuGH betont demgegenüber, dass die rechtlichen Begriffe und Qualifizierungen des nationalen Rechts für die Anwendung des Art 157 I AEUV unerheblich seien. Der Lohnausgleich ergebe sich zwar nicht aus dem

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Arbeitsvertrag, werde aber aufgrund des Vorliegens eines Arbeitsverhältnisses gewährt, weil nur Arbeitnehmer des Betriebes Mitglieder des Betriebsrates sein könnten (EuGH, Slg 1996, I-243, Rn 20 ff – Lewark). (2) Der Schutzbereich müsste beeinträchtigt sein. Adressat ist hier die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat, der die – möglicherweise – unzureichende Lohnausgleichsvorschrift des § 37 II, VII BetrVG zu verantworten hat. Als Beeinträchtigungsform kommt eine mittelbare Diskriminierung in Betracht. Eine Ungleichbehandlung ist hier zweifelhaft, denn der in absoluten Zahlen geringere Lohnausfall für Teilzeitbeschäftigte gegenüber Vollzeitbeschäftigten ist nur die logische Konsequenz aus den unterschiedlichen Arbeitszeiten. Immerhin wird aber den Teilzeitbeschäftigten durch die Schulungsveranstaltung ein Freizeitopfer abverlangt, das die Vollzeitbeschäftigten nicht tragen müssen (so die Argumentation von GA Jacobs, EuGH, Slg 1996, I-252, Rn 26 – Lewark). Nur ist dieses Freizeitopfer genaugenommen kein Entgelt. Dennoch bejaht der EuGH – auf der Grundlage seiner Prämisse, dass der Lohnausgleich nach § 37 II, VII BetrVG selbst das Entgelt darstellt – eine Ungleichbehandlung, weil die teilzeitbeschäftigten Betriebsratsmitglieder bei gleicher Zahl geleisteter Stunden ein geringeres Gesamtentgelt bekämen als die vollzeitbeschäftigten Betriebsratsmitglieder (EuGH, Slg 1996, I-243, Rn 25 ff – Lewark). Diese Ungleichbehandlung beruhe auch auf dem Geschlecht, weil sowohl der Anteil der Frauen unter den Teilzeitbeschäftigten insg als auch unter den teilzeitbeschäftigten Betriebsratsmitgliedern prozentual erheblich unter den entspr Zahlen für Männer liege (EuGH, Slg 1996, I-243, Rn 28 f – Lewark). (3) Die Ungleichbehandlung könnte gerechtfertigt sein. Das setzt voraus, dass der Mitgliedstaat ein legitimes Ziel für die Ungleichbehandlung vorweisen kann und diese verhältnismäßig ist. Hier könnten sozialpolitische Ziele die Ungleichbehandlung rechtfertigen. In der ehrenamtlichen Ausgestaltung des Amtes des Betriebsrates kommt nämlich der Wille des deutschen Gesetzgebers zum Ausdruck, die Unabhängigkeit des Betriebsrates höher zu bewerten als wirtschaftliche Anreize für die Ausübung des Betriebsratsamtes. Das zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit zuständige (EuGH, Slg 1996, I-243, Rn 38 – Lewark) Bundesarbeitsgericht hält die Regelung auch für verhältnismäßig (BAGE 85, 224, 231 ff): Durch das Prinzip des Ehrenamtes werde die Unabhängigkeit der Betriebsräte gewährleistet. Es werde verhindert, dass das Betriebsratsmitglied durch den Einsatz von Freizeit für die Erledigung der Betriebsratsaufgaben seine Arbeitsvergütung erhöht und damit einen Vorteil erzielt, den andere betriebsangehörige Arbeitnehmer nicht erreichen können. Die Ungleichbehandlung sei auch erforderlich, denn mit der Zuerkennung von Entgeltansprüchen werde das Ehrenamtsprinzip insg und nicht nur für Schulungsveranstaltungen in Frage gestellt. § 37 II, VII BetrVG verstößt daher nicht gegen Art 157 I AEUV.

3. Rechte des Kindes (Art 24 GRCh); Rechte älterer Menschen (Art 25 GRCh); Integration von Menschen mit Behinderung (Art 26 GRCh) Art 24–26 GRCh stellen drei Gruppen als bes schutzbedürftig heraus (Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderung).152 Das ist durchaus innovativ: Während der Schutz behinderter Menschen immerhin in einigen nationalen Grundrechtstexten enthalten ist, werden Kinder meist nur reflexartig über die Rechte ihrer Eltern oder der Familie geschützt und wird die bes Schutzbedürftigkeit älterer Menschen meist auf die Sicherheit

152 Dazu ausführlich Schmahl (Lit.), § 15 Rn 81–139.

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der Rentenversicherungssysteme reduziert.153 Die Bedeutung dieser Grundrechte wächst insbesondere durch die sekundärrechtliche Rechtsetzung (Rn 22), weil diese den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit die Bindung der Mitgliedstaaten nach Maßgabe von Art. 51 I 1 GRCh auslöst. Äußerlich sind die Art 24–26 GRCh als Gleichheitsrechte nicht zu erkennen. Kinder, ältere und behinderte Menschen sind bereits über die Merkmale „Alter“ (das sich auch auf Kinder bezieht154) und „Behinderung“ in Art 21 I GRCh gegen Diskriminierungen geschützt. Die Gewährleistungen in den Art 24–26 GRCh gehen aber, was die Grundrechtsfunktionen angeht (→ § 14 Rn 28 ff), offenbar über gleichheitsrechtliche Gewährleistungen hinaus: Sie enthalten teils bes Freiheitsrechte (zB Art 24 I 2 und 3 GRCh als leges speziales zu Art 21 GRCh), sind teilweise aber auch als derivative Teilhaberechte (Art 25 GRCh: „Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben“; Art 26 GRCh: „Teilnahme am Leben der Gemeinschaft“) und als originäre Leistungsrechte (Art 24 I 1 GRCh: „Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge“) formuliert.155

153 Vgl die Nachweise bei Hölscheidt in: Meyer, GRCh, Art 24 Rn 6 ff, Art 25 Rn 3; Art 26 Rn 2 ff. 154 Meyer Das Diskriminierungsverbot des Gemeinschaftsrechts als Grundsatznorm und Gleichheitsrecht, 2002, S 72 f. 155 Zur Unterscheidung zwischen derivativen Teilhabe- und originären Leistungsrechten Murswiek in: Isensee/Kirchhof (Hrsg) Handbuch des Staatsrechts Bd IX, 3 Aufl 2011, § 192 Rn 1 ff.

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§ 22 Soziale Grundrechte Thorsten Kingreen Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1993, I-637 – Poucet and Pistre; Slg 1998, I-1831 – Decker; Slg 1998, I-1931 – Kohll; Slg 2001, I-5473 – Smits und Peerboms. Schrifttum: Bernsdorff Soziale Grundrechte in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, VSSR 2001, 1 ff; Blank Soziale Grundrechte in der Europäischen Grundrechtscharta, 2002; Dorfmann Soziale Gewährleistungen in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002; Frenz GR, Rn 3533–4415; Frenz Soziale Grundlagen in EUV und AEUV, NZS, 2011, 81; Geesmann Soziale Grundrechte im deutschen und französischen Verfassungsrecht und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2005; Iliopoulos-Strangas Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, 2010; Kingreen Die Universalisierung sozialer Rechte im europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR Beiheft 1/2007, 43; ders. Soziales Fortschrittsprotokoll. Potenzial und Alternativen, 2014; Pitschas Europäische Grundrechte-Charta und soziale Grundrechte, VSSR 2000, 207 ff; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 990 ff; Winner Die Europäische Grundrechtecharta und ihre soziale Dimension, 2005. Vgl im Übrigen die im Text zitierten Kommentierungen zu den Art 27–38 GRCh.

I. Allgemeiner Teil 1. Solidarität und soziale Rechte Kapitel IV der Grundrechtecharta der Europäischen Union trägt den Titel „Solidarität“. Das knüpft, nach der Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit in den Kapiteln II und III, an das dritte Losungswort der Französischen Revolution, die Brüderlichkeit, an, zu der ein enger ideengeschichtlicher Zusammenhang besteht.1 Die Sozialphilosophie umschreibt Solidarität als qualifizierte und damit auch exklusive Verbundenheit, die maßgeblich darauf beruht, dass individuelle Interessen und Rechte zugunsten der solidarisch verbundenen Gemeinschaft und des gemeinschaftlich verfolgten Ziels zurücktreten.2 Solidarität ist aber auch ein Rechtsbegriff, insb im Sozialrecht (vgl § 1 SGB V). Auch im europäischen Recht findet er vielfältige Verwendung und ist dabei keineswegs auf die Sozialpolitik beschränkt.3 Im Kapitel IV der Grundrechtecharta finden sich neben Normen mit arbeits- und sozialrechtlichem Bezug (Art 27–34 GRCh) Bestimmungen, deren Zusammenhang mit der Solidarität sich nicht auf den ersten Blick erschließt, etwa über den Gesundheits-, den Umwelt- und den Verbraucherschutz (Art 35 S 2, 37, 38 GRCh). Offenbar fungiert Solidarität hier als Oberbegriff, um eine gemeinsame Verantwortung für öffentliche Güter zu proklamieren, die sich nicht im freiheitlichen Wettbewerb der Kräfte realisieren lassen; darauf deutet auch die nochmalige Erwähnung der Daseinsvorsorge in Art 36 GRCh hin. Als Bauprinzip eines freiwilligen Zusammenschlusses ist die Solidarität vom Solidarprinzip als Rechtsprinzip eines Zwangszusammenschlusses zu unterscheiden:4 Grund1 Wildt in: Bayertz (Hrsg) Solidarität, 1998, 202 ff. 2 Vgl für Nachweise Kingreen Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund. Gemeinschaftsrechtliche Einflüsse auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003, S 244 ff. 3 Vgl etwa die „Solidarität zwischen ihren Völkern“ in der Präambel des EUV. 4 Kingreen (Fn 2) S 253 ff.

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rechtlich geschützt ist die Freiheit zur Solidarität, etwa in der allgem Vereinigungsfreiheit (Art 12 GRCh), aber auch durch einige in Kapitel IV gewährleistete Rechte, etwa die in Art 28 GRCh garantierte Koalitionsfreiheit und der Schutz der Familie in Art 33 GRCh, die jeweils durch das Prinzip der Freiwilligkeit des Zusammenschlusses gekennzeichnete Gemeinschaften schützen. Das Solidarprinzip ist hingegen ein Element eines mit obligatorischen Umverteilungswirkungen verbundenen Zwangszusammenschlusses (etwa einer obligatorischen Sozialversicherung)5 und steht als solches in einem Spannungsverhältnis zur grundrechtlichen Freiheit des Einzelnen, selbst darüber zu entscheiden, mit wem er sich wie solidarisch verbindet (etwa, indem er nicht Mitglied einer sozialen Krankenversicherung wird, sondern sich privat gegen Krankheit versichert). Dieser Zwang zur Solidarität ist ein Grundrechtseingriff, der der Rechtfertigung bedarf. Auch insoweit bietet das IV. Kapitel durchaus Ansätze: Mit dem Bekenntnis zur Notwendigkeit des Zugangs zu den Systemen der sozialen Sicherheit (Art 34 GRCh) und zu Dienstleistungen von allgem wirtschaftlichem Interesse (Daseinsvorsorge, Art 36 GRCh) benennt es verfassungsrechtliche Positionen, die in der Abwägung ein Gegengewicht zur grundrechtlichen Freiheit bilden, vom Zwang zur Solidarität verschont zu bleiben.6

2. Typologie und Dogmatik sozialer Rechte 3

Die Einbeziehung sozialer Rechte in die Grundrechtecharta war und ist politisch umstritten.7 Das liegt auch daran, dass es sich um einen nebulösen Sammelbegriff handelt, der, ebenso wie die Solidarität, vielfältige Assoziationen weckt. Grundrechtstheoretisch und -dogmatisch ist er kaum anschlussfähig. Um die Gehalte der Art 27–38 GRCh herauszuarbeiten, müssen daher zwei wichtige typologische Unterscheidungen getroffen werden. Erstens ist herauszuarbeiten, welche Normen auch Grundrechte und welche nur Grundsätze enthalten (Rn 4–8). Zweitens müssen die einzelnen Grundrechte den etablierten Grundrechtsfunktionen zugeordnet werden (Rn 9–15). a) Grundrechte und Grundsätze

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Das IV. Kapitel enthält nämlich neben Grundrechten auch Grundsätze.8 Grundrechte sind subjektiv-öffentliche Rechte, die den Einzelnen in die Lage versetzen, von einem Hoheitsträger zur Verfolgung eigener Interessen ein bestimmtes Verhalten verlangen zu können.9 Grundsätze enthalten hingegen keine subjektiven Rechte. Vielmehr handelt es sich nach Art 52 V 1 GRCh um Handlungsermächtigungen und gemäß Art 52 V 2 GRCh um Auslegungsregeln, die zur interpretatorischen Konkretisierung von Maßnahmen der Union und der Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten heranzuziehen sind. Die Unterscheidung zwischen Grundrechten und Grundsätzen hat damit erhebliche Bedeutung für die Reichweite der Bestimmungen des IV. Kapitels. Allerdings ist noch kaum geklärt, was Grundrecht und was Grundsatz ist.10 Da es sich um eine rechtstheoretische und rechtsdogmatische Unterscheidung handelt, greift ein eher rechtspolitisch

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Explizit etwa § 1 SGB V: „Krankenversicherung als Solidargemeinschaft“. Vgl daher auch EuGH, Slg 1993, I-637, Rn 18 – Poucet u Pistre. Vgl dazu etwa Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 27 GRCh Rn 2 ff. Dazu Rengeling/Szczekalla GR, Rn 993 ff. Vgl etwa Maurer Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl 2011, § 8 Rn 2. Dazu etwa Jarass GRCh, Art 52 Rn 72 ff.

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motivierter Ansatz zu kurz, der die „missliebigen“ sozialen Grundrechte in ihrer Gesamtheit zu Grundsätzen erklärt, um sie zu entschärfen. Eine Differenzierung lässt sich aber mithilfe der klassischen Auslegungsmethoden treffen:11 Schon von ihrem Wortlaut („Recht auf“, „Anspruch auf“, „muss gewährleistet sein“, „wird gewährleistet“) räumen danach die Art 27, 33, 34 II, Art 35 S 1 GRCh subjektivöffentliche Rechte ein, sind also Grundrechte. Art 32 GRCh ist zwar nicht als Recht formuliert, sondern als Schutzpflicht. Doch ist mittlerweile auch im Unionsrecht anerkannt, dass aus Schutzpflichten auch subjektiv-öffentliche Ansprüche auf Schutz folgen;12 daher kann der grundrechtliche Charakter des Art 32 GRCh nicht zweifelhaft sein. Gewisse Anhaltspunkte für die Frage, was Grundrecht ist und was Grundsatz, lassen sich im Wege genetischer Auslegung auch den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents entnehmen.13 Meist beschränken sie sich allerdings auf die apodiktische Feststellung, dass eine bestimmte Norm einen Grundsatz enthält.14 Auch „das Sozialrecht“ wird im Zusammenhang mit den Grundsätzen, undifferenziert und ohne normative Konkretisierung, erwähnt. Schließlich kann ausweislich der Erläuterungen „ein Charta-Artikel sowohl Elemente eines Rechts als auch eines Grundsatzes enthalten“15. Es ist zwar im Prinzip selbstverständlich, dass Normen, die subjektive Rechte vermitteln, regelmäßig auch Handlungsermächtigungen und Auslegungsmaximen beinhalten.16 Das Präsidium hat indes nicht diesen Umstand im Auge gehabt, weil die Erläuterungen gerade diejenigen Normen herausfiltern sollen, die nur Grundsätze enthalten. Gemeint ist vielmehr, dass die aufgeführten Bestimmungen mehrere selbständige Gewährleistungen enthalten, die teils Grundrechte, teils aber auch nur Grundsätze beinhalten.17 Insg sollte man die Bedeutung der lediglich vom Präsidium des Grundrechtekonvents verfassten Erläuterungen nicht überschätzen.18 Vor allem die systematische Auslegung erlaubt eine Abgrenzung zwischen Grundrechten und Grundsätzen. Man kann als Grundsätze alle Normen ansehen, die abw von der lex generalis in Art 51 I 1 GRCh nur die Union und nicht auch die Mitgliedstaaten verpflichten. Im Kapitel IV sind dies die Art 34 I und III, Art 35 S 2, Art 36 und 37 GRCh. Sie verdrängen insoweit den allgem Art 51 I 1 GRCh und schonen damit die Kompetenz der Mitgliedstaaten: Die genannten Bestimmungen knüpfen nämlich an individuelle Rechte oder Gemeinschaftsgüter an, die ganz oder jedenfalls vorwiegend bereits durch das mitgliedstaatliche Recht geschützt werden. Die Charta setzt also insoweit Rechte vo-

11 Vgl zum Folgenden Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 16 f; vgl ferner etwa Frenz GR, Rn 441 ff und Schmittmann Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, 2007, S 81 ff – Ausführliche Analyse aller vertretenen Ansätze: Sagmeister Die sog Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, 2010, S 338 ff. 12 Vgl Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 23 ff. 13 Für die Relevanz der genetischen Auslegung vor allem Borowsky in: Meyer, ChGR, Art 52 Rn 45d. 14 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl 2004, Nr C 310/445 f, 459. 15 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl 2004, Nr C 310/459. 16 Vgl für die Grundrechte des Grundgesetzes Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher Grundrechte. Staatsrecht II, 30. Aufl 2014, Rn 84 ff. 17 Vgl allgem Jarass GRCh, Einl Rn 50; speziell für Art 34 GRCh Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34 GRCh Rn 4, 6, 15. 18 Vgl etwa Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 52 GRCh Rn 20; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 43.

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raus, begründet sie aber nicht. Wären die Mitgliedstaaten an diese Normen auch grundrechtlich gebunden, würden durch die Charta Gemeinwohlgüter zu individuellen Rechten (zB Art 37, 38 GRCh) bzw einfache subjektiv-öffentliche Rechte im nationalen Recht zu europäischen Verfassungsrechten (zB Art 34 I und III, Art 36 GRCh) befördert. Mit der von Art 51 I 1 GRCh abw Nichterwähnung der Mitgliedstaaten wird also deren Zuständigkeit geachtet, selbst über den normhierarchischen Status und die Reichweite subjektivöffentlicher Rechte zu bestimmen. Das hat auch Auswirkungen auf die Union: Sie hat die in den Mitgliedstaaten gewährleisteten Rechte bei allen ihren Maßnahmen zu achten und den ebenfalls vor allem durch die Mitgliedstaaten gewährleisteten Schutz von Gemeinschaftsgütern zu respektieren. Sie wird dadurch aber, ebenfalls aus Rücksicht auf die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten (Art 51 II), nicht zur Adressatin von Rechten. Die in Art 51 I 2 GRCh angeordnete Bindung der Mitgliedstaaten auch an die Grundsätze der Charta läuft dadurch nicht leer: Denn sie bezieht sich auf die Grundrechte, soweit sie zugleich Grundsätze sind (vgl Rn 6), aber eben nicht auf diejenigen Bestimmungen, die nur Grundsätze enthalten. Ebenso wie die anderen Kapitel der Charta enthält damit auch der Abschnitt „Solidarität“ überwiegend Grundrechte. Keine Grundrechte, sondern nur Grundsätze sind danach allein Art 35 S 2, Art 36, 37 und 38 GRCh. Jeweils verpflichten sie nur die Union, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die dort genannten Ziele zu achten, Art 52 V 1 GRCh. Darüber hinaus sind sie bei der Auslegung von Rechtsakten der Union und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit heranzuziehen, Art 52 V 2 GRCh. b) Grundrechtsfunktionen

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Fall 1: (nach EuGH, Slg 2007, I-10779 ff – Viking Line = JK 2007, EGV Art 43/9) Viking Line, ein finnisches Fährunternehmen, betreibt unter anderem das Fährschiff M/S Rosella, das unter finnischer Flagge auf der Route zwischen Helsinki und der estnischen Hauptstadt Tallinn verkehrt. Im Jahre 2003 wollte sie die mit Verlusten arbeitende Rosella umflaggen und aus Kostengründen unter estnischer Fahne verkehren lassen. Die für die Besatzung zuständige finnische Gewerkschaft erhob gegen dieses Vorhaben, insb wegen der drohenden Lohnkürzungen und Entlassungen, Einwände und schaltete den europäischen Verband der Transportarbeitergewerkschaften (ITF) ein. Dieser übersandte den Mitgliedsgewerkschaften ein Schreiben mit dem Inhalt, dass keine der ITF angeschlossenen Gewerkschaften mit Viking Line Tarifverhandlungen führen durfte. Zuwiderhandlungen hätten Sanktionen durch die ITF nach sich ziehen können, im schlimmsten Fall hätte der Ausschluss aus dem Gewerkschaftsverband gedroht. Viking Line hatte damit praktisch keine Möglichkeit, mit einer estnischen Gewerkschaft Vertragsverhandlungen über die Konditionen der Beschäftigung der Besatzung nach einer Umflaggung zu führen. Sie sieht darin eine Beeinträchtigung ihrer Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit und erhebt Klage mit dem Ziel, die ITF zu verpflichten, das Rundschreiben zurückzuziehen.

Soweit das IV. Kapitel der Grundrechtecharta Grundrechte enthält, kann man in einem sehr allgem Sinne von sozialen Rechten sprechen; 19 das knüpft an frühere europäische Proklamationen der Grundrechte an.20 Soziale Grundrechte bedeuten für viele Mitgliedstaa-

19 Mayer in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, nach Art 6 EUV Rn 258 ff; Riedel in: Meyer, ChGr, Vorbem vor Art 27 ff Rn 31 ff. 20 Vgl etwa Zuleeg EuGRZ 1992, 329 ff.

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ten, neben Großbritannien und den skandinavischen Ländern etwa auch für Deutschland, verfassungsrechtliches Neuland. Grundrechte sind gemäß dem traditionellen, in den Menschenrechteerklärungen des 18. und 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kommenden Verständnis zuvörderst bürgerliche Rechte, die die Freiheit des Einzelnen vor staatlichem Zugriff schützen; hinzu treten politische Teilhaberechte, allen voran das Wahlrecht. Soziale Grundrechte hingegen thematisieren die Frage der faktischen Freiheit, dh der tatsächlichen Voraussetzungen, die der Staat zu schaffen hat, damit grundrechtliche Freiheit überhaupt ausgeübt werden kann; insoweit sind sie der Fortentwicklung des liberalen zum sozialen Rechtsstaat geschuldet. Das verändert den Blick auf den Staat, der nicht als Widersacher, sondern als Garant von Freiheit auftritt. Mit sozialen Grundrechten verbindet sich freilich auch die Befürchtung, dass die normative Kraft der Grundrechte durch unrealistische Versprechen in Gestalt von Ansprüchen etwa auf Arbeit und Wohnung gefährdet wird, da diese nur unter dem „Vorbehalt des Möglichen“21 gewährt werden können. Es wird die Gefahr beschworen, dass soziale Grundrechte das Verfassungsrecht zum alleinverbindlichen Maßstab für das sozial Gerechte befördern und dadurch den Diskurs über den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft vom Parlament in die Gerichte verlagern.22 Die berechtigten Bedenken gegen so verstandene soziale Grundrechte treffen die Art 27 ff GRCh allerdings nicht. Das zeigt eine Abschichtung nach Grundrechtsfunktionen, also danach, wie sich Grundrechte auf die Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Staat auswirken können. Dabei ist die Erkenntnis entscheidend, dass soziale Grundrechte in ihrer begrifflichen Unschärfe nicht eine bestimmte Grundrechtsfunktion (nämlich die der Leistungsrechte) besetzen, sondern letztlich als Sammelbegriff für alle Grundrechte mit sozialpolitischen Implikationen fungieren; die rechtsdogmatische Aussagekraft einer Einordnung als „soziales Grundrecht“ ist dementspr gering. Lässt man daher die Grundrechte des IV. Kapitels durch einen nach Grundrechtsfunktionen differenzierenden Verteiler laufen, so zeigt sich, dass die Kritik nicht die sozialen Grundrechte selbst, sondern lediglich eine einzelne Grundrechtsfunktion, nämlich das originäre Leistungsrecht, trifft.23 Teilweise schreiben die Art 27 ff GRCh einen sozialen Mindeststandard fest, den sie auch gegen staatliche Eingriffe in Stellung bringen. Solche klassischen Abwehr- und Schutzgewährrechte gewährleisten Art 28 GRCh mit der Koalitionsfreiheit, Art 27 GRCh mit der Arbeitnehmermitbestimmung, Art 30 GRCh mit dem Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, Art 31 GRCh mit der Gewährleistung gerechter und angemessener Arbeitsbedingungen und Art 32 GRCh mit dem Schutz von Kindern und Jugendlichen. Jeweils wird hier der in allen Mitgliedstaaten gewährleistete sozialstaatliche Mindeststandard gegen hoheitlichen Zugriff in Schutz genommen bzw aktiver hoheitlicher Schutz zur Sicherung dieses Mindeststandards eingefordert. Dieser soziale Mindeststandard bildet, nicht anders als bei den Freiheitsrechten, den Schutzbereich des Grundrechts, in den der Staat eingreift, wenn er ihn verkürzt oder keine ausreichenden Schutzmaßnahmen zu seiner Sicherung ergreift. Insoweit handelt es sich also um soziale Abwehr- und Schutzgewährrechte, die der üblichen Prüfungstrias „Schutzbereich – Eingriff – Rechtfertigung“ folgen. 21 Formulierung von BVerfGE 33, 303, 333. 22 Vgl etwa Murswiek in: Isensee/Kirchhof (Hrsg) Handbuch des Staatsrechts Bd IX, 3. Aufl 2011, § 192 Rn 55 ff mwN auf die Diskussion in Deutschland. 23 Seifert, EuZA 2013, 299, 301 ff; zur „Notwendigkeit klarer Begriffe“ in diesem Kontext auch Haverkate/Huster Europäisches Sozialrecht, 1999, Rn 645 ff.

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Lösung Fall 1: Die ITF könnte mit ihrer Anordnung, keine Tarifverhandlungen mit Viking Line zu führen, gegen die Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV) verstoßen. (1) Voraussetzung ist zunächst, dass Art 49 AEUV anwendbar ist. Das ist deshalb zweifelhaft, weil der EuGH Tarifverträge unter Berufung auf die sozialpolitischen Bestimmungen des EG-Vertrages [= AEUV, T.K.] vom Anwendungsbereich des Kartellrechts ausgenommen hat (EuGH, Slg 1999, I-5751, Rn 60 – Albany). Der EuGH prüft, ob sich dieser Anwendungsausschluss auch auf die Grundfreiheiten erstreckt und zieht insoweit auch die Koalitionsfreiheit (Art 28 GRCh) heran. Diese schützt insb die Durchführung einer kollektiven Maßnahme einschließlich des Streikrechts. Doch kann seine Ausübung bestimmten Beschränkungen unterworfen werden: „Denn wie in Art 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erneut bekräftigt wird, werden die genannten Rechte nach dem Gemeinschaftsrecht [= Unionsrecht, T.K.] und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten geschützt. Außerdem kann das Streikrecht […] nach finnischem Recht u a dann nicht ausgeübt werden, wenn der Streik gegen die guten Sitten, das innerstaatliche Recht oder das Gemeinschaftsrecht [= Unionsrecht, T.K.] verstoßen würde“ (EuGH aaO, Rn 44). Der Gerichtshof verweist zudem auf seine st Rspr, die die Ausübung der Grundrechte an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bindet, wenn sie zu Grundfreiheitseingriffen führt (EuGH aaO, Rn 46). Im Ergebnis dispensiert daher die Koalitionsfreiheit nicht vom Anwendungsbereich einer Grundfreiheit, sie kann jedoch im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung (dazu gleich (3)) ein Gegengewicht zu dieser bilden. (2) Es muss ein Eingriff in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit vorliegen. Das Rundschreiben kann Viking Line davon abhalten, von seiner Niederlassungsfreiheit in Estland Gebrauch zu machen. Art 49 AEUV ist daher betroffen. Fraglich ist, ob in den Schutzbereich eingegriffen wurde. Das ist deshalb problematisch, weil die Beeinträchtigung hier nicht vom Mitgliedstaat, sondern von einem privatrechtlich organisierten Gewerkschaftsverband ausgeht (dazu auch Pießkalla NZA 2007, 1144, 1145 ff). Doch gilt Art 49 AEUV nicht nur für Akte der staatlichen Behörden, sondern erstreckt sich auch auf Regelwerke anderer Art, die die abhängige Erwerbstätigkeit, die selbständige Arbeit und die Erbringung von Dienstleistungen kollektiv regeln sollen (EuGH aaO, Rn 33). Der EuGH begründet das mit dem Umstand, dass die Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten teilweise durch Gesetze oder Verordnungen und teilweise durch Tarifverträge und sonstige Maßnahmen, die von Privatpersonen geschlossen bzw vorgenommen werden, geregelt werden. Es bestehe daher die Gefahr, dass eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit auf Maßnahmen der öffentlichen Gewalt zu Ungleichheiten führen würde (EuGH aaO, Rn 34). Damit liegt ein Eingriff in die Niederlassungsfreiheit vor. (3) Der Eingriff könnte aber gerechtfertigt sein. ITF könnte sich auch insoweit darauf berufen, das Rundschreiben in Ausübung ihrer auch in Art 28 GRCh garantierten Koalitionsfreiheit verfasst zu haben, die dann mit der Niederlassungsfreiheit von Viking Line abgewogen werden müsste. Der EuGH erwähnt das Grundrecht im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung aber überraschenderweise nicht mehr, sondern fragt, ob der Eingriff zum Schutz von anerkannten Allgemeininteressen, zu denen auch der Schutz der Arbeitnehmer gehöre, gerechtfertigt werden kann. Die Beeinträchtigung muss daher insb verhältnismäßig sein. Die Feststellung, ob das Rundschreiben tatsächlich dem Schutz der Arbeitnehmer gedient habe, sei Sache des nationalen Gerichts. Dieses habe insb zu prüfen, ob die Arbeitsplätze durch das Umflaggen ernsthaft gefährdet sind und ob die von der Gewerkschaft betriebene kollektive Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (EuGH aaO, Rn 83 f).

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Einige Grundrechte des IV. Kapitels enthalten gleichheitsrechtlich strukturierte Teilhaberechte. Teilhaberechte gewährleisten gleichberechtigten Zugang zu bereits bestehenden sozialen Systemen, etwa zu einem Arbeitsvermittlungsdienst (Art 29 GRCh), zu den Systemen der sozialen Sicherheit (Art 34 II GRCh) und zur Gesundheitsvorsorge und ärztlichen Versorgung (Art 35 S 1 GRCh). In jeder Verweigerung des Zugangs liegt dann eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung, die gemäß dem für Gleichheitsrechte empfohlenen Prüfungsaufbau (→ § 21 Rn 7 ff ) geprüft werden kann. Von den derivativen Teilhaberechten zu unterscheiden sind originäre Leistungsrechte, die Ansprüche auf Schaffung noch nicht existierender Einrichtungen und Vorkehrungen oder die Leistung bestimmter Lebensgüter enthalten.24 Sie allein sind es, die sich den geschilderten Bedenken aussetzen. Die Kritik an der Figur der sozialen Grundrechte beruht also letztlich auf dem Widerstand gegen originäre Leistungsrechte. Nicht jedes soziale Recht ist aber ein solches Leistungsrecht; im Gegenteil findet sich im IV. Kapitel überhaupt kein solches Recht: Die Art 29 und 30 GRCh etwa gewähren kein Recht auf Arbeit, sondern nur ein Recht zu arbeiten, ein Recht auf Zugang zu einem bereits bestehenden Arbeitsvermittlungsmonopol und Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung. Als soziales Leistungsrecht kann man allenfalls den außerhalb des IV. Kapitels enthaltenen Anspruch auf Prozesskostenhilfe nach Art 47 III GRCh ansehen. Doch wird damit ein Recht gewährt, das zur Wahrnehmung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz unabdingbar 25 und bereits im Unionsrecht (Art 76 EuGH-VerfO bzw Art 94 EuG-VerfO) anerkannt ist.

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3. Die Achtung und grenzüberschreitende Erweiterung sozialer Rechte durch das Unionsrecht Die Gewährung sozialer Rechte setzt die Kompetenz zur Rechtsetzung voraus, die im Sozialrecht nach wie vor überwiegend bei den Mitgliedstaaten liegt (vgl Art 153 AEUV). Diese Kompetenzabhängigkeit sozialer Rechte ist auch der Grund dafür, dass die Grundrechte des IV. Kapitels weitgehend auf die „einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ (Art 27, 28, 30, 34, 36 GRCh) verweisen. Die Grundrechte der Charta binden nämlich primär die Union, die Mitgliedstaaten hingegen nur bei der Durchführung des Unionsrechts, dh sie entfalten ihre Wirkung nur, wenn die Union tätig werden darf. Das Unionsrecht gewährt daher regelmäßig keine sozialen Rechte. Es verpflichtet die Union aber, die sozialen Rechte zu achten (Rn 17 f) und erfüllt außerdem die Funktion, die in den Mitgliedstaaten gewährleisteteten sozialen Rechte auf grenzüberschreitende Sachverhalte auszudehnen (Rn 19 f ). Die Achtungsverpflichtung wird dadurch erfüllt, dass die Union nach Art 9 AEUV im Rahmen ihrer Politiken bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen den Erfordernissen eines hohen Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung trägt. Diese sozialstaatliche Achtungsverpflichtung steht nicht im Gegensatz zum Binnenmarktziel, sondern wird als deren notwendige Ergänzung angese24 Vgl zur Unterscheidung zwischen Teilhabe- und Leistungsrecht Pierot/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn 16) Rn 60 ff. 25 Vergleichbarer Fall im Grundgesetz: Art 7 IV GG, denn die Privatschulfreiheit ist ohne einen Anspruch auf finanzielle Förderung eine leere Hülse.

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hen. Der Lissabonner Vertrag hat die Akzente bei der Bestimmung der Ziele der Union dezent verschoben.26 Art 3 EUV, die „verfassungsrechtliche Grundnorm des Integrationsprogramms“27, hebt in seinem Abs 3 zwar nach wie vor das Ziel hervor, einen Binnenmarkt zu errichten, dessen Herzstück die Grundfreiheiten sind (Art 26 II AEUV). Er stellt den Binnenmarkt aber deutlicher als die Vorgängerbestimmungen Art 2 EUV und Art 2 EGV in den Dienst auch sozialpolitischer Zielsetzungen. Leitprinzip des sozial eingehegten Binnenmarktes ist nach Art 3 III 1 S 2 EUV eine in „hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“. Im gleichen normativen Atemzug werden auch die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung, sowie die Förderung sozialer Gerechtigkeit und des sozialen Schutzes als Ziele der Union genannt (Art 3 III 2 EUV). Das Ziel eines „freien und unverfälschten Wettbewerbs“ findet sich hingegen nur noch im Protokoll Nr 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb. Die unmittelbare normative Verknüpfung des Binnenmarktes mit der Notwendigkeit einer aktiven Sozialpolitik verdeutlicht, dass die Wirtschaftsverfassung der Union ein spezifisch europäisches Sozialmodell etablieren soll, das gleichermaßen auf ökonomische Freiheit und Prosperität wie auf sozialen Ausgleich baut. Die Zielbestimmung des Art 3 EUV bewegt sich zwar auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau. Sie verpflichtet die Union und ihre Organe zwar dazu, in Konfliktfällen einen Ausgleich zwischen den Zielsetzungen herbeizuführen, lässt sich aber eher schwer zu konkreten Einzelaussagen verdichten.28 Sie sind aber etwa eine Richtschnur für die Rechtsprechung.29 Daher müssen Binnenmarktvorschriften so ausgelegt werden, dass der in den Mitgliedstaaten gewährleistete soziale Schutz nicht beeinträchtigt wird. 18

Beispiel: Der EuGH hatte in mehreren Fällen zu entscheiden, ob Sozialversicherungsmonopole und der mit ihnen einhergehende Versicherungszwang mit Art 101, 102, 106 AEUV vereinbar ist. Fraglich war dabei insb, ob diese als Unternehmen im kartellrechtlichen Sinne anzusehen waren. Der EuGH hat dies bei denjenigen Systemen verneint, die auf dem Solidarprinzip beruhten, dh insb auf einem Ausgleich zwischen Besser- und Schlechterverdienenden sowie zwischen Gesunden und Kranken. Er hat damit zugleich die Entscheidung des betroffenen Mitgliedstaates, ein solidarisches Versicherungssystem mit Versicherungspflicht zu etablieren, hingenommen, ohne es auf seine Rechtfertigung hin zu überprüfen.30

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Das Unionsrecht achtet die in den Mitgliedstaaten gewährleisteten sozialen Rechte aber nicht nur, sondern dehnt sie auch auf grenzüberschreitende Sachverhalte aus.31 Es ermöglicht damit grenzüberschreitende soziale Teilhabe. So zielt die Wanderarbeitnehmerverordnung VO 883/2004 (→ § 9 Rn 26) darauf ab, diejenigen Hindernisse im mitgliedstaatlichen Sozialrecht zu beseitigen, die geeignet sind, den Einzelnen von der Wahrnehmung seiner grenzüberschreitenden Freizügigkeit abzuhalten. Das geschieht nicht durch Harmonisierung, sondern durch Koordinierung der nationalen Sozialrechtsordnungen. Die Verordnung stellt zu diesem Zweck, insoweit vergleichbar mit dem Internationalen Privatrecht, Kollisionsregeln auf, die bei grenzüberschreitenden Sachverhalten zur Vermeidung von

26 BVerfGE 123, 267, 426 ff; Nowak EuR Beiheft 1/2011, 21, 33 ff; Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 29 Rn 2 f; Pernice/Hindelang EuZW 2010, 407, 410; Rebhahn (Lit.), § 16 Rn 13 ff. 27 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 EUV Rn 1. 28 Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 3 EUV Rn 5. 29 Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 3 EUV Rn 7. 30 EuGH, Slg 1993, I-637, Rn 9 ff – Poucet u Pistre. 31 Vgl zur Systematik Kingreen EuR 2010, 338, 346 ff.

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Doppelbelastungen und -begünstigungen über das anwendbare Recht entscheiden. Nach Art 11 I VO 883/2004 unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, daher den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates. Für abhängig Beschäftigte und selbstständig Erwerbstätige ist das nach Art 11 III lit a) VO 883/2004 vorbehaltlich abweichender Regelungen in den Art 12–16 VO 883/20043 der Beschäftigungsort. Die Wanderarbeitnehmerverordnung enthält ferner wichtige Sachregeln, die verhindern, dass Grenzübertritt und Staatsangehörigkeit zu sozialrechtlichen Brüchen und Benachteiligungen führen: Ein Verbot der sozialrechtlichen Diskriminierung von EU-Ausländern, den Grundsatz der Tatbestandsgleichstellung, der fingiert, dass bestimmte sozialrechtlich relevante Ereignisse, die in einem Mitgliedstaat eingetreten sind, so behandelt werden, als seien sie im Gebiet des zuständigen Staates verwirklicht worden, ferner das Gebot der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten und schließlich den Grundsatz des Leistungsexports.32 Die Wanderarbeitnehmerverordnung sichert die durch die Personenverkehrsfreiheiten (Art 45, 49 AEUV) gewährleistete grenzüberschreitende Erwerbstätigkeit sozialrechtlich ab. Der EuGH hat darüber hinaus aus den Produktverkehrsfreiheiten (Art 34, 56 AEUV) Ansprüche auf die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen abgeleitet, die nicht durch den Tatbestand der Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat bedingt ist.33 Mittlerweile ist die Patienten-Richtlinie RL 2011/24 in Kraft getreten, die die Rechtsprechung des EuGH kodifiziert, in einzelnen Punkten aber auch von dieser abweicht.34

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Beispiel: Art 17 VO 883/2004 ermöglicht eine umfassende Inanspruchnahme von Leistungen in einem anderen als dem Versicherungsstaat, jedoch nur bei dauerhaftem Aufenthalt in diesem Staat. Begibt sich der Versicherte hingegen nur zum Zwecke der Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung in einen anderen Staat (etwa weil er sich davon Kostenvorteile in Gestalt von geringeren Zuzahlungen verspricht), sind die Voraussetzungen des Art 20 II 2 VO 883/2004 derart streng, dass eine Leistungsinanspruchnahme regelmäßig nicht in Betracht kommt. Insoweit folgt dann aber unmittelbar aus den Grundfreiheiten (und nunmehr aus Art 7 der Patienten-Richtlinie RL 2011/24) ein Anspruch auf Leistungsinanspruchnahme, der aber anders ausgestaltet ist als derjenige aus der Wanderarbeitnehmerverordnung.35

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Aus den Art 18 I, Art 20 I, Art 21 I AEUV folgert der Gerichtshof ferner, dass Unionsbürger, die sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, grds auch sozialrechtlich gleichbehandelt werden müssen (→ § 23 Rn 86 ff). Auch hier werden also die nach mitgliedstaatlichem Sozialrecht gewährleisteten Rechte durch das Unionsrecht ausgeweitet: Während aber Wanderarbeitnehmerverordnung und Patienten-Richtlinie ein vorhandenes Sozialrechtsverhältnis im Herkunftsstaat auf grenzüberschreitende Sachverhalte erweitern, also eine territoriale Erstreckung anordnen, begründen die Art 18 I, Art 20 I, Art 21 I AEUV im Zielstaat ein neues Sozialrechtsverhältnis, erweitern also den Kreis der Berechtigten in dem Umfang, in dem die soziale Leistung Inländern im Zielstaat gewährt wird. Auch hier ist die Rechtsprechung des EuGH mittlerweile kodifiziert wor-

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32 Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 48 AEUV Rn 14 ff. 33 EuGH, Slg 1998, I-1831 ff – Decker; Slg 1998, I-1931 ff – Kohll; Slg 2001, I-5473 ff – Smits u Peerboms; Slg 2003, I-4509 ff – Müller-Fauré; Slg 2004, I-2641 ff – Leichtle; Slg 2006, I-4325 ff – Watts = JK 2007, EGV Art 49/15; Slg 2007, I-3185 ff – Stamatelakis = JK 2008, EGV Art 49/18. 34 Dazu etwa Wollenschläger EuR 2012, 149, 172 ff. 35 Dazu näher Kingreen in: Becker/Kingreen (Hrsg) SGB V Gesetzliche Krankenversicherung, 4. Aufl 2014, § 13 Rn 36 ff.

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den: Nach Art 24 I RL 2004/38 besteht ein grundsätzlich unbeschränkter und damit auch sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch aller Unionsbürger; bei Leistungen der Sozialhilfe besteht dieser nach Art 24 II RL 2004/38 aber erst nach drei Monaten und bei Studienbeihilfen sogar erst nach fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalts (= Daueraufenthalt).

II. Besonderer Teil: Die einzelnen sozialen Grundrechte Leitentscheidungen: EuGH, Slg 2007, I-10779 – Viking Line; Slg. 2007, I-1767 – Laval; Slg 2008, I-1989 – Rüffert; Rs. C-176/12, Urt v 15.1.2014 – Association de mèdiation sociale. Schrifttum: Bayreuther, Das Verhältnis zwischen dem nationalen Streikrecht und der EU-Wirtschaftsverfassung, EuZA 2008, 395; Bungenberg, Soziale Rechte, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht Bd 2. Europäischer Grundrechteschutz, 2014, § 17; Fütterer, Das Koalitions- und Streikrecht im EU-Recht nach dem Wandel der Rechtsprechung des EGMR zur Koalitionsfreiheit gemäß Art 11 EMRK (Demir und Baykara und andere), EuZA 2011, 505; Junker, Europäische Vorschriften zum Tarifvertrag, EuZA 2014, 1; Heuschmid, Der Arbeitskampf im EU-Recht, in: W Däubler (Hrsg), Arbeitskampfrecht, 3. Aufl 2011, § 11; Kamanabrou, Arbeitsrecht im Binnenmarkt, EuZA 2010, 157; Kingreen, Soziales Fortschrittsprotokoll, 2014; Rödl, Transnationale Lohnkonkurrenz: ein neuer Eckpfeiler der „sozialen“ Union, in: A Fischer-Lescano/F Rödl/C Schmid (Hrsg), Europäische Gesellschaftsverfassung, 2009, S 145; Rebhahn, Rechte des Arbeitslebens (Art 27 bis 33 GRC), in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht Bd 2. Europäischer Grundrechteschutz, 2014, § 16; Seifert, Die Bedeutung von EMRK und GRCh für das deutsche kollektive Arbeitsrecht, EuZA 2013, 205; ders, Zur Horizontalwirkung sozialer Grundrechte, EuZA 2013, 299; Somek, Sozialpolitik in Europa: Von der Domestizierung zur Entwaffnung, EuR Beiheft 1/2013, 49.

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Die in der Charta gewährleisteten Grundrechte lassen sich nicht nur dogmatisch (Rn 3 ff), sondern auch thematisch typologisieren. Die Art 27–33 GRCh begründen im Wesentlichen arbeitsverfassungsrechtliche Garantien, Art 34 GRCh enthält eine sozialverfassungsrechtliche Schutzbestimmung, wohingegen die Art 35–38 GRCh keine genuin sozialen Rechte garantieren, sondern wichtige Gemeinwohlgüter schützen. Zentrale Bezugsquellen der Art 27–34 GRCh sind erstens die vom Europarat 1961 beschlossene Europäische Sozialcharta (ESC), eine die EMRK ergänzende völkerrechtliche Vereinbarung außerhalb des gemeinschafts-/unionsrechtlichen Kontexts, die 1996 revidiert wurde (sog Revidierte Europäische Sozialcharta = RESC) und zweitens die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (GSGA), die 1989 von allen Staats- und Regierungschefs der damaligen Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Großbritannien proklamiert wurde, aber nicht rechtsverbindlich ist. Oftmals gibt es zudem mittlerweile einschlägiges Sekundärrecht, das nach allgemeinen Regeln (→ § 7 Rn 8) den sachnäheren Maßstab enthält, wenn und soweit es anwendbar ist. Eine weitere Gemeinsamkeit der in Art 27–34 GRCh enthaltenen Rechte besteht darin, dass sie mit Ausnahme von Art 28 GRCh keine Entsprechungen in der EMRK haben. Das ist für die Auslegung von nicht unerheblicher Bedeutung. Während die Bezugsquellen die Herkunft einer Grundrechtsnorm erklären und als solche allenfalls Anhaltspunkte für die Auslegung liefern können, gilt für die EMRK Art 52 III GRCh. Die EMRK ist danach nicht nur eine Bezugs-, sondern eine Rechtserkenntnisquelle, die die systematische Auslegung des Unionsgrundrechts maßgeblich bestimmt.36 Wichtig ist diese Unterscheidung auch für die Rechtfertigungsprüfung: Da die sozialen

36 Dazu näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 19 ff.

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Grundrechte mit Ausnahme von Art 28 GRCh keine Entsprechung in der EMRK haben, gilt stets nur der allgemeine Schrankenvorbehalt des Art 52 I GRCh, während für Art 28 GRCh auch insoweit Art 52 III GRCh maßgebend ist.37

1. Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen, Art 27 GRCh Art 27 GRCh knüpft an Art 21 RESC sowie Nr 17 und 18 GSGA an. Es ist umstritten, ob die Norm nur einen Grundsatz iSv Art 52 V GRCh oder ein Grundrecht enthält.38 Für den Charakter als Grundrecht spricht, dass einem funktional bestimmten Kreis von Berechtigten eine Rechtsposition eingeräumt wird und die amtliche Überschrift ausdrücklich von einem „Recht“ spricht. Große praktische Bedeutung dürfte dieser Streit nicht haben, weil die Norm in ihrem Schutzbereich zwar einen Unterrichtungs- und Anhörungsanspruch einräumt, aber nicht selbst regelt, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen dieser bestehen muss. Insoweit verweist sie nämlich neben den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften auch auf das Unionsrecht: Hier gibt es zahlreiche sekundärrechtliche, Art 27 GRCh konkretisierende Bestimmungen, die die Anhörungs- und Unterrichtungsansprüche näher ausgestalten, etwa bei Massenentlassungen oder beim Übergang von Unternehmen.39 Allgemein wird man in Anlehnung an Art 21 RESC aus Art 27 GRCh den Anspruch ableiten können, regelmäßig oder zu gegebener Zeit in einer verständlichen Weise über die wirtschaftliche und finanzielle Lage des beschäftigenden Unternehmens unterrichtet zu werden und rechtzeitig zu beabsichtigten Entscheidungen gehört zu werden, welche die Interessen der Arbeitnehmer erheblich berühren könnten, insbesondere zu Entscheidungen, die wesentliche Auswirkungen auf die Beschäftigungslage im Unternehmen haben könnten. Adressaten der Norm sind nach Maßgabe von Art. 51 I GRCh Union und Mitgliedstaaten. Art. 27 GRCh entfaltet aber keine Drittwirkung 40. Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Eingriffen gilt Art 52 I GRCh. Ein legitimes Ziel, das die Beschränkung des Auskunfts- und Informationsanspruchs rechtfertigen kann, sind namentlich das Berufs-/Unternehmensgeheimnis und die Persönlichkeitsrechte (vgl auch Art 21 RESC).

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2. Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen, Art 28 GRCh Die Grundrechtecharta schützt die Koalitionsfreiheit in zwei auch systematisch getrennten Bestimmungen. Art 12 I GRCh schützt die Koalitionsfreiheit dem Grunde nach, dh als Recht, eine Koalition zu gründen und ihr beizutreten, Art 28 GRCh hingegen die Koalitionsbetätigungsfreiheit, und zwar speziell das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen.41 Das Grundrecht stützt sich ausweislich der Charta-Erläuterungen auf Art 6 ESC und Nr 12–14 GSGA. Anders als bei den anderen sozialen Grundrechten wird zudem Art 11 EMRK unter Einschluss der dazu ergangenen Rechtspre-

37 Zum problembeladenen Verhältnis zwischen Art 52 I und III GRCh Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 38. 38 Nachweise zum Streitstand bei Jarass GRCh Art 27 Rn 3. 39 Vgl die Aufstellung bei Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 27 GRCh Rn 16 f. 40 EuGH, Rs. C-176/12 v. 15.1.2014, Rn. 45 ff. – Association de médiation sociale; dazu Forst, FA 2014, 66. 41 Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 28 Rn 12 f.

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chung des EGMR als Rechtserkenntnisquelle genannt;42 merkwürdigerweise ist diese Entsprechung aber in die Erläuterungen zu Art 52 GRCh nicht aufgenommen worden.43 In den sachlichen Schutzbereich von Art 28 GRCh fallen das Aushandeln und der Abschluss von Tarifverträgen, aber auch Arbeitskampfmaßnahmen. Der EuGH betont unter Hinweis auf die EGMR-Rechtsprechung, dass „kollektive Maßnahmen sowie Tarifverhandlungen und Tarifverträge […] eines der Hauptmittel der Gewerkschaften zum Schutz der Interessen ihrer Mitglieder sein können.“44 Geschützt ist aber auch die Aussperrung als Arbeitskampfmittel der Arbeitgeber.45 Persönlich sind nicht nur die jeweiligen Verbände geschützt, sondern auch die einzelnen Arbeitnehmer und Arbeitgeber.46 Über die Aussage, dass auch im Unionsrecht Tarifvertrags- und Arbeitskampfrechte grundsätzlich geschützt sind, geht Art 28 GRCh allerdings nicht hinaus. Insbesondere die Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Eingriffen ist daher weitgehend auf die Hinzuziehung von anderen Normen angewiesen, namentlich von Art 11 EMRK und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EGMR (Art 52 III GRCh).47 Insoweit ist etwa die Frage umstritten, ob sich aus der EGMR-Rechtsprechung 48 ein Streikrecht auch für Beamte ableiten lässt, das dann auch für die Auslegung von Art 28 GRCh relevant wäre und einen erheblichen Konflikt mit der in Deutschland herrschenden Auslegung von Art 33 V GG heraufbeschwören würde.49 Erhebliches Potenzial für die Rechtfertigungsprüfung hat ferner der Verweis in Art 28 GRCh auf das Unionsrecht und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten; er birgt aber auch die Gefahr einer Relativierung des Grundrechts durch einfaches Recht. So hat das sekundäre Unionsrecht Bedeutung für die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Koalitionsbetätigungsfreiheit Eingriffe in die Personenverkehrsfreiheiten zulässt.50 Beispielsweise regelt etwa die Entsende-Richtlinie 51 die Anwendung von arbeitsrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten auf die Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern, die von einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Arbeitgeber zur Erbringung von Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden (Art 1 RL 96/71). Sie hält die Mitgliedstaaten an, dafür Sorge zu tragen, dass die in ihren Rechts-/Verwaltungsvorschriften oder den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen geregelten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen auch auf entsandte Arbeitnehmer angewendet werden(Art 3 I RL 96/71).

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Erläuterungen, ABl 2007 C 303/26. Genannt wird hier nur Art 12 I GRCh, vgl Erläuterungen, ABl 2007 C 303/34. EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 86 – Viking Line = JK 2007, EGV Art 43/9. Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 28 GRCh Rn 17. Jarass GRCh Art 28 Rn 10. Da der EGMR auch das Völkervertragsrecht in die Auslegung von Art 11 EMRK einbezieht, könnte auch dieses für die Auslegung von Art 28 GRCh relevant werden, vgl Heuschmid in: Däubler (Hrsg) Arbeitskampfrecht, 3. Aufl 2011, § 11 Rn 24 ff. Vgl namentlich EGMR, NZA 2010, 1425 ff – Demir u Bakayara So BVerwG, NVwZ 2014, 736, 739 ff (= JK 10/2014) das den statusbezogenen Beamtenbegriff des Art. 33 V GG für unvereinbar hält mit dem funktionsbezogen ansetzenden Art. 11 II EMRK. Dazu Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 28 GRCh Rn 22 ff. RL 96/71 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl 1997, Nr L 18 S 1.

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Beispiel (EuGH, Slg 2007, I-11767 ff – Laval): Arbeitnehmer des lettischen Bauunternehmens Laval wurden zur Errichtung einer Schule im schwedischen Vaxholm auf eine Baustelle der Baltic, einer 100 %igen Tochterfirma von Laval in Schweden entsandt. Da es in Schweden keinen gesetzlichen Mindestlohn und auch keine Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen gab, verlangten die schwedischen Gewerkschaften von Laval den Abschluss eines Tarifvertrages bzw den Beitritt zum bestehenden Tarifvertrag (der vor allem einen Mindestlohn vorsah). Laval schloss hingegen nach dem Scheitern der Verhandlungen in Schweden einen Tarifvertrag mit einer lettischen Gewerkschaft ab, bei der die meisten der nach Schweden entsandten Arbeitnehmer beschäftigt waren. Die schwedische Gewerkschaft leitete daraufhin nach schwedischem Recht zulässige, kollektive Maßnahmen in Gestalt von Blockaden ein, die schließlich dazu führten, dass die Gemeinde vom Vertrag mit Laval zurücktrat. Der EuGH sah darin einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV), welcher zwar grundsätzlich durch die Koalitionsbetätigungsfreiheit (Art 28 GRCh) und das daraus folgende Recht auf kollektive Maßnahmen gerechtfertigt werden kann. Insoweit kam es darauf an, ob die schwedischen Gewerkschaften auch berechtigt waren, solche Bedingungen durch Streiks durchzusetzen, die in nicht allgemein geltenden Tarifverträgen enthalten sind. Insoweit kam es auf die Auslegung von Art 3 VII RL 96/71 an. Danach steht zwar Art 3 I RL 96/71 solchen Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen nicht entgegen, die für die Arbeitnehmer günstiger sind. Dem Wortlaut der Vorschrift lässt sich aber die einschlägige Vergleichsgruppe für diesen Günstigkeitsvergleich nicht entnehmen:52 Ist damit gemeint, dass auch solche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen durchgesetzt werden können, die über den gesetzlichen oder allgemeinverbindlichen tarifvertraglichen Standard im Aufnahmeland (also in Schweden) hinausgehen? Diese Ansicht hatten namentlich die Generalanwälte Mengozzi und Bot vertreten.53 Oder handelt es sich bei Art 3 VII RL 96/71 um eine kollisionsrechtliche Norm, die in den Entsendungsfällen nur das anwendbare Recht festlegt, indem es besagt, dass die über die RL 96/71 erstreckten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Aufnahmestaat das zulässige Höchstniveau für die entsandten Arbeitnehmer darstellt? Für diese letztere Variante entscheidet sich der EuGH: Art 3 VII RL 96/71 erlaube es dem Aufnahmemitgliedstaat nicht, die Erbringung einer Dienstleistung in seinem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen eingehalten werden, die über die zwingenden Bestimmungen dieses Staates hinausgehen.54 Nur die Einhaltung dieser Bestimmungen können die Gewerkschaften also durch kollektive Maßnahmen durchsetzen.

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3. Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst, Art 29 GRCh Art 29 GRCh bildet mit dem Anspruch auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst einen wichtigen Baustein zur Erreichung des Ziels der Vollbeschäftigung (Art 3 III 2 EUV). Er enthält damit zugleich eine wichtige Ergänzung und Abstützung des Grundrechts der Berufsfreiheit (Art 15 GRCh).55 Wesentliche Bezugsquelle des Grundrechts ist Art 1 Nr 3 ESC,56 während die in den Erläuterungen gleichfalls genannte Nr 13 GSGA hier nicht passt, weil es nicht um Kollektivverhandlungen, sondern um den individuellen Anspruch auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst geht. Konkretisieren-

52 Vgl für Nachweise zum diesbezüglichen Meinungsstreit vor der Laval-Entscheidung Tscherner Arbeitsbeziehungen und europäische Grundfreiheiten, 2012, 203, 266 ff. 53 Schlussanträge GA Mengozzi, EuGH, Slg 2007, I-11767, Rn 198 – Laval; Schlussanträge GA Bot, Slg 2008, I-1989, Rn 83 ff – Rüffert. 54 EuGH, Slg 2007, I-11767, Rn 80 f – Laval. 55 Riedel in: Meyer, ChGr, Art 29 Rn 6. 56 Erläuterungen, ABl 2007 C 303/26.

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des Sekundärrecht existiert hier nicht, was erklärt, dass die Vorschrift keinen diesbezüglichen Ausgestaltungsvorbehalt enthält. Sachlich bezieht sich die Vorschrift auf vorhandene Arbeitsvermittlungsdienste, begründet aber keine Verpflichtung, diese zu errichten.57 Die primär an das Grundrecht gebundene Union wäre dafür auch gar nicht zuständig; die Mitgliedstaaten müssen lediglich jedermann den Zugang gewähren; ihnen kann aber wegen Art 51 II GRCh ebenfalls keine Errichtungsverpflichtung auferlegt werden. Allerdings hält Art 29 GRCh die Unionsorgane dazu, bei der Schaffung und Auslegung des Unionsrechts die Funktionsfähigkeit von Arbeitsvermittlungsdiensten nicht zu beeinträchtigen. 31

Beispiel: Das (nicht mehr bestehende) Arbeitsvermittlungsmonopol der früheren Bundesanstalt für Arbeit und der damit einhergehende Ausschluss privater Arbeitsvermittler verstößt nicht grundsätzlich gegen Art 101 AEUV. Anders ist es aber, wenn sie nicht in der Lage ist, die Nachfrage auf dem Markt nach Arbeitsvermittlungsleistungen zu befriedigen.58

4. Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung, Art 30 GRCh 32

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Art 30 GRCh enthält ein Grundrecht und nicht nur einen Grundsatz.59 Grundrechtliche Bezugsquelle von Art 30 GRCh ist Art 24 RESC. Die Erläuterungen nennen darüber hinaus die RL 2001/23 über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen und die RL 80/987 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, die durch die RL 2002/74 geändert wurde.60 Das ist deshalb wichtig, weil auch hier der grundrechtliche Schutz wieder nach Maßgabe ua des sekundären Unionsrechts gewährleistet wird.61 Sachlich schützt das Grundrecht Arbeitnehmer vor ungerechtfertigten Entlassungen. Für die schwierige Frage, wann Entlassungen gerechtfertigt sind und wann nicht, dürfte es maßgeblich auf das nationale Kündigungsschutzrecht und die dazu ergangene Rechtsprechung ankommen. Eine Entlassung ist darüber hinaus aber immer ungerechtfertigt, wenn sie mit einem der in Nr 3 des Anhangs zu Art 24 RESC genannten Gründen erfolgt (Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft, Betätigung als Arbeitnehmervertreter, Klage gegen den Arbeitgeber, Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Familienstand, Familienpflichten, Schwangerschaft, Religion, politische Anschauung, nationale oder soziale Herkunft, Mutterschafts-/Elternurlaub, vorübergehende Abwesenheit wegen Krankheit62). Weitere Verbotstatbestände enthält Art 1 RL 2000/78 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, die nach ihrem Art 3 I lit c) auch für die Beschäftigungs- und Entlassungsbedingungen und damit auch für Kündigungen gelten.63 Grundsätzlich verbotene Entlassungsgründe sind danach

57 Ross in: Schwarze, EU-Komm, Art 29 GRCh Rn 2, 5. 58 EuGH, Slg 1991, I-1979, Rn 25 – Höfner u Elser. 59 HM, vgl nur Jarass GRCh Art 30 Rn 2; and Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 30 GRCh Rn 6. 60 Erläuterungen, ABl 2007 C 303/26. 61 Näher zu den sekundärrechtlichen Konkretisierungen Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 30 GRCh Rn 6 f. 62 Für die familienbezogenen Verbotstabestände dürfte allerdings Art 33 II GRCh vorrangig sein, vgl Frenz GR, Rn 3835. 63 Dazu EuGH, Slg 2006, I-6471, Rn 4 – Chacón Navas.

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neben den bereits genannten auch Behinderung,64 sexuelle Ausrichtung und Alter, wobei altersbedingte Entlassungen (etwa im Rahmen einer Sozialauswahl) nach Art 6 RL 2000/78 gerechtfertigt werden können. Adressaten der Norm sind nach Maßgabe von Art 51 I GRCh Union und Mitgliedstaaten. Eine Bindung der Arbeitgeber – die angesichts des Wortlauts und des Sinn und Zwecks der Norm an sich nahe läge, schließlich sind sie es, die ggf Arbeitnehmer entlassen! – wird unter Hinweis auf Art 51 I GRCh teilweise abgelehnt.65 Methodisch zwingend ist diese Auslegung nicht, wenn man Art 30 GRCh als lex specialis gegenüber dem allgemeinen Art 51 I GRCh ansieht.66 Selbst wenn man dies aber anders sähe, müsste Art 30 GRCh jedenfalls bei der Auslegung des einfachen Rechts Berücksichtigung finden.67 Die besseren Gründe sprechen daher für eine (zumindest mittelbare) Drittwirkung von Art 30 GRCh.

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5. Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Art 31 GRCh Art 31 GRCh enthält zwei grundrechtliche Gewährleistungen68 mit unterschiedlichen Bezugsquellen. Die Gewährleistung gesunder, sicherer und würdiger Arbeitsbedingungen (dazu Art 156 AEUV) in Abs 1 stützt sich auf die RL 89/391 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz. Die Erläuterungen erwähnen ferner Art 3 ESC, Art 26 RESC und Nr 19 GSGA. Der angemessene Arbeitsbedingungen (Höchstarbeitszeit, Ruhezeiten, Urlaub) gewährleistende Abs 2 geht auf die RL 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sowie auf Art 2 ESC und Nr 8 GSGA zurück.69 Insbesondere zum Arbeitszeit- und Urlaubsrecht gibt es mittlerweile reichhaltige Rechtsprechung des EuGH, die auch für die Auslegung von Art 31 II GRCh fruchtbar gemacht werden kann.

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Beispiele: Der EuGH hatte zu entscheiden, ob die ärztlichen Bereitschaftsdienste in Krankenhäusern unter den Begriff der Arbeitszeiten nach Art 2 RL 93/104 fallen oder als Ruhezeiten gelten. Der EuGH sieht die Bereitschaftsdienste (anders als die Rufbereitschaft, die keine Anwesenheit im Krankenhaus voraussetzt) wegen der Pflicht zur Anwesenheit und der ggf erforderlichen Leistungserbringung als Arbeitszeiten an.70 Diese Entscheidung hat die zuvor bestehende Praxis beendet, dass Ärzte nach dem regulären Dienst noch Nachtbereitschaften in den Krankenhäusern auf sich nehmen müssen. – Wesentlichen Einfluss hat die Rechtsprechung des EuGH auch auf die Frage, ob der Jahresurlaub bei Krankheit entfällt oder nachgeholt/ abgegolten werden kann/muss.71

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64 Zur möglichen Rechtfertigung EuGH, Slg 2006, I-6471, Rn 51 – Chacón Navas. 65 Frenz GR, Rn 3846 f und wohl auch Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 30 GRCh Rn 5. 66 Wie hier allgem auch Iliopoulos-Strangas Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, 2010, S 967 ff, 977 ff. 67 Das entspricht der Idee der mittelbaren Drittwirkung, vgl dazu Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn 16) Rn 196 ff. 68 Es handelt sich auch hier nicht um einen bloßen Grundsatz nach Art 52 V GRCh, vgl Jarass GRCh Art 31 Rn 2. 69 Erläuterungen, ABl 2007 C 303/26. 70 EuGH, Slg 2003, I-8415, Rn 44 ff – Landeshauptstadt Kiel. 71 Dazu EuGH, Slg 2009, I-179 ff – Schultz-Hoff und Slg 2011, I-11757 ff – KHS sowie etwa Gehlhaar NJW 2012, 271 ff und Höpfner RdA 2013, 16, 18.

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Aus den gleichen Gründen wie bei Art 30 GRCh (Rn 34) verpflichtet Art 31 GRCh nicht nur Union und Mitgliedstaaten, sondern auch die Arbeitgeber selbst, entfaltet also (mittelbare) Drittwirkung.72

6. Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz, Art 32 GRCh 38

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Art 32 GRCh enthält im Wesentlichen zwei Gewährleistungen: Ein absolutes Verbot der Beschäftigung von Kindern (Abs 1) und die Verpflichtung, Jugendlichen am Arbeitsplatz einen besonderen Schutz angedeihen zu lassen (Abs 2). Ausweislich der Erläuterungen stützt sie sich auf Art 7 ESC, die Nrn 20 bis 23 GSGA sowie die RL 94/33 über den Jugendarbeitsschutz.73 Die Vorschrift begründet nicht nur einen Grundsatz (Art 52 V GRCh), sondern ein subjektives Grundrecht.74 In den persönlichen Schutzbereich von Abs 1 fallen, wie Abs 1 S 2 (Ende der Schulpflicht) und die vorstehend genannten Bezugsquellen belegen, Kinder bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres, während unter die in Abs 2 geschützten Jugendlichen Personen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres fallen. Der Begriff „Kind“ wird hier also anders verwendet als bei Art 24 GRCh, der alle Personen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, also auch Jugendliche, umfasst.75 Sachlich ist das Arbeitsverbot des Abs 1 grundsätzlich umfassend; es erfasst auch geringfügige Beschäftigungen und die Ausbildung.76 Abs 2 lässt Arbeit von Jugendlichen zwar zu, ist aber so auszulegen, dass Jugendliche gegenüber sonstigen Arbeitnehmern privilegiert und ihrem Entwicklungsstand entsprechend zu behandeln sind; wichtige Anhaltspunkte enthalten insoweit insb die Art 8–12 RL 94/33. Verpflichtet sind nicht nur die Union und die Mitgliedstaaten, sondern aus den bei Art 30 GRCh genannten Gründen (Rn 34) auch private Arbeitgeber. Eine Rechtfertigung von Eingriffen in Abs 1 kommt vor allem unter den Voraussetzungen des Art 4 II RL 94/33 in Betracht. Danach können die Mitgliedstaaten aber vorsehen, dass das Verbot der Kinderarbeit nicht gilt für kulturelle und ähnliche Aktivitäten sowie für Kinder, die mindestens 14 Jahre alt sind und im Rahmen eines Systems der dualen Ausbildung oder eines Betriebspraktikums arbeiten sowie für bestimmte leichte Arbeiten.

7. Familien- und Berufsleben, Art 33 GRCh 41

Der auf Art 16 I ESC gestützte77 Abs 1 schützt die Familie als rechtliche, soziale und wirtschaftliche Gemeinschaft und entfaltet damit namentlich im Bereich das Steuer- und Sozialrechts Rechtswirkungen. Das grenzt ihn zugleich von Art 9 GRCh ab, der die Familie eher als Ausprägung des Persönlichkeitsrechts, als emotionale Gemeinschaft schützt. Unter den Begriff der Familie fallen alle Lebensgemeinschaften mit Kindern so-

72 And etwa Schlussanträge GA Trstenjak, EuGH, Rs C-282/10, v 8.9.2011, Rn 80 ff – Dominguez. Für eine mittelbare Drittwirkung Perner Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht, 2013, 178 f, und Seifert, EuZA 2013, 299, 309 f. 73 Erläuterungen, ABl 2007 C 303/26. 74 Zur Begründung näher Frenz GR, Rn 3939 ff und Riedel in: Meyer, ChGr, Art 32 Rn 10. Die Frage ist str, and die hM, vgl etwa Ross in: Schwarze, EU-Komm, Art 32 GRCh Rn 3. 75 Frenz GR, Rn 3950 ff u Rn 3958 ff; Jarass GRCh Art 32 Rn 5. 76 Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 32 GRCh Rn 2. 77 Erläuterungen, ABl 2007 C 303/27.

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Soziale Grundrechte

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wie sonstige Lebens- und Beistandsgemeinschaften, die die Funktionen der Familie übernehmen.78 Die Vorschrift enthält ein Grundrecht, nicht nur einen Grundsatz.79 Abs 2 kann sich auf mehrere sekundärrechtliche Regelungen im Unionsrecht stützen: Die RL 92/85 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (sog Mutterschutz-Richtlinie) und die Richtlinie RL 96/34 zu der von der UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub (Elternurlaubs-Richtlinie); ferner lehnt sie sich an Art 8 ESC und Art 27 RESC an.80 Es handelt sich um ein Grundrecht und nicht um einen Grundsatz.81 Beim sachlichen Schutzbereich ist zu differenzieren: Während Var 1 und 2 das insgesamt 14 Wochen vor und nach der Geburt umfassende Stadium der Mutterschaft arbeitsrechtlich schützen,82 gewährleistet Var 3 den darüber hinausgehenden Elternurlaub. Jeweils wird damit das Ziel verfolgt, Familien- und Berufsleben miteinander in Einklang zu bringen.

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8. Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung, Art 34 GRCh Art 34 GRCh erhält das für die Gewährleistung sozialer Sicherheit durch entsprechende Sicherungssysteme zentrale Grundrecht. Er enthält aber in seinen Absätzen 1–3 recht unterschiedliche Gewährleistungen: Abs 1 stützt sich auf die Art 153, 156 AEUV sowie auf Art 12 ESC und auf Nr 10 GSGA.83 Er bezieht sich auf mitgliedstaatliche Leistungen der sozialen Vorsorge (Rn 2), die in Deutschland im Rahmen der fünf Sozialversicherungszweige der Arbeitslosenversicherung (SGB III), Krankenversicherung (SGB V), Rentenversicherung (SGB VI), echten84 Unfallversicherung (SGB VII) und Pflegeversicherung (SGB IX), erbracht werden. Sie enthält kein Grundrecht, sondern einen Grundsatz (Art 52 V GRCh),85 der die Organe der Union anhält, im Rahmen der Setzung und Auslegung des Unionsrechts die Notwendigkeit sozialer Sicherungssysteme zu berücksichtigen. Sie ist insoweit auch Ausdruck des europäischen Gesellschaftsmodells, das für ein – natürlich nicht immer spannungsfreies – Nebeneinander von sozialstaatlicher Daseinsvorsorge und supranationaler Freiheit steht.86 Insoweit stärkt und bestätigt Abs 1 das Sozialstaatsprinzip als Bestandteil eines europäischen Verfassungsverbundes (Rn 17).87

78 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 3; immer noch am traditionalistischen Familienbegriff festhaltend Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 33 GRCh Rn 3. 79 Zur Begründung näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 2; and als hier etwa Jarass GRCh, Art 33 Rn 3. 80 Erläuterungen, ABl 2007 C 303/27. 81 Zur Begründung dieser hM näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 5. 82 Näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 8. 83 Erläuterungen, ABl 2007, Nr C 303/27. 84 Die unechte Unfallversicherung gehört hingegen systematisch in den Bereich der sozialen Fürsorge, vgl etwa Becker in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg) Besonderes Verwaltungsrecht Bd 3, 3 Aufl 2013, § 78 Rn 4. 85 Zur Begründung dieser hM näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34 GRCh Rn 3. 86 Mitteilung der Kommission „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“, ABl 1996, Nr C 281/4. 87 Kingreen (Fn 2) S 378 ff.

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Abs 2 begründet ein Grundrecht auf Gleichbehandlung beim Zugang zu Sozialleistungen.88 Daher sind, wie sich dann des Näheren aus den Bezugsquellen ergibt, insbesondere Staatsangehörigkeitserfordernisse in Sozialleistungstatbeständen unionsrechtlich regelmäßig rechtfertigungsbedürftig.89 Der Konvent stützt Abs 2 auf Art 12 IV (Gleichbehandlung bei Ansprüchen aus der sozialen Sicherheit, insbesondere Zusammenrechnung von Versicherungs- und Beschäftigungsjahren) und Art 13 IV ESC (Gleichbehandlung bei der Fürsorge) sowie auf Nr 2 GSGA (Gleichbehandlung der Arbeitnehmer beim sozialen Schutz des Aufnahmelandes). Genannt werden zudem die mittlerweile durch die VO 883/2004 ersetzte VO 1408/71 (sog Wanderarbeitnehmerverordnung), die vor allem die sozialen Sicherungssysteme iSv Abs 1 erfasst, sowie die durch die VO 492/2011 ersetzte VO 1612/68.90 Insbesondere diese sekundärrechtlichen Rechtsakte sind maßgebend für die nähere Ausgestaltung des Gleichbehandlungsanspruches (s Rn 19–22). Bezugsquellen von Abs 3, der ebenso wie Abs 1 einen Grundsatz, kein Grundrecht beinhaltet,91 sind Art 13 ESC (Recht auf Fürsorge), Art 30 RESC (Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung), Art 31 RESC (Recht auf Wohnung) und Nr 10 GSGA (sozialer Schutz).92 Die Vorschrift knüpft, in Abgrenzung zu Abs 1, an die Leistungen der sozialen Fürsorge an, also an diejenigen Vorschriften des nationalen Rechts, die soziale Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Daseins vorsehen, in Deutschland etwa das Recht der sozialen Grundsicherung (SGB II, SGB XII, WoGG).93 Sekundärrechtlich hat zudem die Freizügigkeits-Richtlinie RL 2004/38 erhebliche Bedeutung. Sie steht in einem engen Zusammenhang mit der Rechtsprechung des EuGH zu den aus den Unionsbürgerrechten abgeleiteten sozialen Teilhaberechten (→ § 23 Rn 83 ff).

88 Zum Charakter von Art 34 II GRCh als Grundrecht etwa Frenz GR, Rn 4140 ff und Ross in: Schwarze, EU-Komm, Art 34 GRCh Rn 7. 89 Kingreen Soziale Rechte und Migration, 2010, 24 ff, 35 ff; für ein konkretes Beispiel etwa Kingreen SGb 2013, 132, 134 ff und BayVBl 2014, 289 ff. 90 Erläuterungen, ABl 2007, Nr C 303/27. 91 AllgM, vgl nur Ross in: Schwarze, EU-Komm, Art 34 GRCh Rn 11. 92 Erläuterungen, ABl 2007, Nr C 303/27. 93 Vgl zur auch insoweit maßgebendenden Systematik des Sozialrechts, das beitragsfinanzierte Vorsorge- und steuerfinanzierte Fürsorgeleistungen unterscheidet, Becker/Kingreen/Rixen in: Ehlers/ Fehling/Pünder (Hrsg) (Fn 84), § 75 Rn 14 ff.

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§ 23 Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse Christian Calliess Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1989, 803 ff – Saeed Flugreisen u Silver Line Reisebüro; Slg 1993, I-2533 ff – Corbeau; Slg 1994, I-1477 ff – Almelo; Slg 1997, I-5815 ff – Kommission/Frankreich; Slg 1998, I-6821 ff – BFI-Holding; Slg 2003, I-4581 ff – Kommission/Spanien; Slg 2003, I-7747 ff – Altmark Trans. Schrifttum: Frenz Konkretisierungsbedürftige Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse? GewArch 2011, 16; Mann Das Recht auf Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse ZögU 2005, 174; Knauff Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon EuR 2010, 725; Krajewski Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse als Element europäischer Sozialstaatlichkeit EuR Beiheft 1/2013, 109; Ruffert, Zur Leistungsfähigkeit der Wirtschaftsverfassung, AöR 134 (2009), 198.

I. Einführung Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse leisten einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der EU.1 Dementsprechend betonte die Kommission in einer Mitteilung aus dem Jahre 1996 zu den Leistungen der Daseinsvorsorge 2 in Europa, dass Solidarität und Gleichbehandlung in einer offenen und dynamischen Marktwirtschaft zu den Grundwerten gehören und die Leistungen der Daseinsvorsorge zur Verwirklichung dieser Ziele beitragen. Bis zur Einführung von Art 16 EGV3 (heute Art 14 AEUV) durch den Vertrag von Amsterdam fehlte im Unionsrecht eine explizite Regelung zur Einordnung gemeinwirtschaftlicher Dienste, die heute den Status eines unionalen Verfassungswertes genießen.4 Die Regelung des (heutigen) Art 106 II AEUV war insoweit zu unspezifisch und in ihrem Anwendungsbereich zu beschränkt. Art 14 AEUV – als eine mit Art 36 GRCh gleichrangige Vorschrift (vgl Art 6 I EUV) hat das Spannungsverhältnis zwischen den durch öffentliche, gemeinwohlverpflichtete Unternehmen geprägten Wirtschaftsordnungen und den stärker wettbewerbsorientierten und privatwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsordnungen zum Gegenstand und ist insofern ein Kompromiss, als er die Daseinsvorsorge weder zur eigenständigen Aufgabe der Union erklärt, noch sie aus dem Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln (Art 93, 106 II, 107 II und III AEUV) ausschließt. Art 119 I AEUV bestimmt, dass die Wirtschaftspolitik der Union dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist.5 In vielen Mitglied1 Klotz in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 16 EGV Rn 1. 2 Mitteilung der Kommission KOM (1996) 443 endg v 11.9.1996, ABl EG 1996 Nr C 281/3. 3 BGBl II 1999, 296; zur Entwicklung des Primärrechts öffentlicher Dienstleistungen Krajewski EuR Beiheft 1/2013, 109, 112. 4 Krajewski EuR Beiheft 1/2013, 109, 114; Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 7. 5 Allgem zur europäischen Wirtschaftsverfassung Mussler Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft im Wandel, S 16 ff; Everling in: FS Mestmäcker, S 365 ff; Behrens in: Brüggemeier (Hrsg) Verfassungen für ein ziviles Europa, S 73.

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staaten besteht jedoch ein wichtiger öffentlicher Wirtschaftssektor, der leicht in ein Spannungsverhältnis zu den Zielen des Binnenmarktes geraten kann. Gleichwohl wird dieser seit dem Vertrag von Lissabon nicht mehr allein durch das übergreifende Ziel einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen offenen, sondern nunmehr auch sozialen Marktwirtschaft definiert wird (vgl Art 3 III EUV).6 Vor allem in den romanischen Ländern, in denen Aufgaben der Daseinsvorsorge traditionell öffentlichen Unternehmen übertragen werden, die nicht gewinnorientiert, sondern mit dem Ziel arbeiten, eine flächendeckende Versorgung aller Nachfrager zu einem erschwinglichen Preis zu gewährleisten, spielt dieser Aspekt eine Rolle, aber auch unter dem Sozialstaatsprinzip Deutschlands. Solche Unternehmen oder auch staatliche Stellen, die diese Aufgaben ausführen, werden von den Staaten mit Monopolen ausgestattet oder gegen privaten Wettbewerb durch Sonderrechte abgeschirmt.7 In Frankreich wurde die besondere Rolle dieser Unternehmen unter dem Begriff des „service public“ zusammengefasst, in Deutschland spiegelt sie sich im Begriff der Daseinsvorsorge8. Die Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, von denen Art 14 und 106 II AEUV sprechen, können insofern als eine Unterkategorie der Daseinsvorsorge angesehen werden. Die Aufnahme des im Grundrechtekonvent besonders heftig kritisierten9 Art 36 GRCh in die Charta ist vor allem auf Anregung und beharrliches Drängen der französischen Delegierten zurückzuführen10, die der spezifischen Ausprägung der französischen Wirtschaftsordnung11 mit ihrer besonderen Verantwortung des Staates für die angemessene Versorgung mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse auch unter Inkaufnahme erheblicher Wettbewerbsbeschränkungen- und letztlich verzerrungen Rechnung tragen wollten.12 Art 36 GRCh steht im Einklang mit Art 14 AEUV,13 gewährt jedoch kein subjektives Recht im Sinne eines „echten“ Grundrechts.14 Die Erläuterungen zur GRCh legen vielmehr dar, dass es sich primär um einen objektivrechtlichen Grundsatz handelt.15 Obschon sich keine vergleichbare Norm in anderen Menschen- bzw Grundrechtskonventionen oder

6 Krit zu dieser Akzentverschiebung in der EU Ruffert, AöR 134 (2009), 198 ff. 7 Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 1. 8 Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 2; ausf zur Daseinsvorsorge Doerfert JA 2006, 316 mwN; Koenig/Paul in: Streinz, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 27 („… zu Abkürzungszwecken sinnvoll, kann allerdings Missverständnisse hervorrufen …“). 9 S nur Mann ZögU 2005, 174, 178. 10 Frenz GR, § 7 Rn 4269; Riedel in: Meyer, ChGr, Art 36 Rn 3; Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 8 f. 11 Vgl dazu Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 5; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 34 Rn 12 ff; krit Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art 36 GRCh Rn 1 („trojanisches Pferd“). 12 Service public als „élément de l’identité nationale“ vgl Wernicke in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 24 mwN. 13 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/27. 14 Frenz GR, § 7 Rn 4271; Riedel in: Meyer, ChGr, Art 36 Rn 3; Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 19; Rengeling/Szczekalla, GR, § 29 Rn 1029 („Bekenntnis zu bestimmten Formen der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse“); aA „Abwehrgrundrecht“ mit Verweis auf den Wortlaut Knauff EuR 2010, 725, 739 mwN. 15 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/27; vgl auch Frenz GR, § 7 Rn 4273 ff.

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den Verfassungen der Mitgliedstaaten finden lässt, begründet Art 36 kein neues Recht16 und kann von den Gerichten bestenfalls als Erkenntnis- und Auslegungsmittel für Art 14 und 106 II AEUV17 herangezogen18 aber auch als Abwägungsgesichtspunkt Berücksichtigung finden.19 Darüber hinaus statuiert Art 36 GRCh allenfalls noch ein subjektives, derivatives Teilhaberecht20 auf gleichberechtigten Zugang zu derartigen Diensten.21 Der EuGH hat sich in seiner Rechtsprechung indes noch nicht direkt mit Art 36 AEUV auseinandergesetzt und hat sich auch nicht dazu veranlasst gesehen, gelegentliche Bezugnahmen in Schlussanträgen von Generalanwälten22 aufzugreifen und auszuführen.

II. Die Gewährleistungen im Einzelnen Fall: (EuGH, Slg 1993, I-2533 – Corbeau) Herr C, ein belgischer Gewerbetreibender, erbringt im Bereich der Stadt Lüttich und Umgebung eine Dienstleistung, die in der Abholung von Postsendungen beim Absender und in der Verteilung dieser Sendungen vor dem Mittag des Folgetages besteht, sofern sich die Empfänger innerhalb des betreffenden Gebiets befinden. Sendungen, die an Empfänger außerhalb dieses Gebiets gerichtet sind, holt er beim Absender ab und verschickt sie per Post. Die belgischen Rechtsvorschriften über das Postmonopol (Moniteur Belge v 30./31.12. 1956, S 8619 und Moniteur Belge v 14.8.1971, S 9510) verleihen der Regie des Postes, einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, das ausschließliche Recht, im gesamten Königreich alle Postsendungen zu sammeln, zu befördern und schließlich zu verteilen. Die Bestimmungen sehen für jeden Verstoß gegen dieses ausschließliche Recht strafrechtliche Sanktionen vor. Das daraufhin von der Regie des Postes angerufene Tribunal Correctionel Lüttich setzte das Verfahren auf Grund seiner Zweifel über die Vereinbarkeit der Vorschriften mit Unionsrecht aus und bat den Gerichtshof um Vorabentscheidung.

16 Vgl nur Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 36 GRCh; Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 GRCh Rn 2. 17 Zu den Vorgaben durch Art 14 und 106 AEUV für Art 36 GRCh ausf Mann in: Heselhaus/ Nowak, GR, § 34 Rn 7 ff. 18 Koenig/Paul in: Streinz, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 22; Wernicke in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 16; Mestmäcker/Schweitzer in: Immenga/Mestmäcker, Europäisches Wettbewerbsrecht, Art 31, 86 Rn 23; Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 30. 19 Knauff EuR 2010, 725, 729; Krajewski DÖV 2005, 665, 668; Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 GRCh Rn 4. 20 Koenig/Paul in: Streinz, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 22; Jarass GRCh, Art 36 Rn 2; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 34 Rn 28. 21 Kühling in: v Bogdandy (Hrsg) Europäisches Verfassungsrecht, S 583, 604; Schwarze, Einführung in: ders (Hrsg) Daseinsvorsorge im Lichte des Wettbewerbsrecht, 2001, S 9, 14. 22 S nur Schlussanträge GA Alber, EuGH, Slg 2001, I-4109 Rn 94 – TNT; GA Jacobs, Slg 2001, I-8089 Rn 175 – Ambulanz Glöckner = JK 02, EGV Art 82/1 sowie Slg 2003, I-13769 Rn 124 – GEMO; GA Poiares Maduro, Slg 2006, I-6295 Rn 26 – FENIN/Kommission.

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1. Diensleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse a) Dienstleistungen 7

Der Begriff der Dienstleistungen23 von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse korrespondiert dem des Art 1424 wie auch Art 106 II AEUV 25, wobei unschädlich ist, dass einmal von „Diensten“ und einmal von „Dienstleistungen“ gesprochen wird. Insofern werden alle „marktbezogene[n] Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Mitgliedstaaten mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden“26 hiervon erfasst. Von dieser Umschreibung ausgehend ist der Dienstleistungsbegriff folglich weit zu begreifen27 und beinhaltet schließlich auch die Lieferung von Sachen.28 b) Allgemeines wirtschaftliches Interesse

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Das allgemeine wirtschaftliche Interesse wird von den Mitgliedstaaten im Rahmen ihres Ausgestaltungsspielraums determiniert und ist im Wesentlichen ebenfalls weit zu verstehen.29 Insofern werden im Rahmen einer Überprüfung durch EU Gerichte lediglich offenkundige Bewertungsfehler beanstandet.30 Da es insoweit weder auf eine Gewinnerzielungsabsicht noch auf eine privatrechtliche Organisation ankommt, werden demgemäß auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten oder die staatliche Arbeitsvermittlung erfasst.31 Die Leistung sollte jedoch marktbezogen32 und nicht ausschließlich im privaten, sondern zumindest auch im öffentlichen Interesse stehen. Privat- oder Partikularinteressen33 sowie rein kulturellen, sozialen oder karitativen Zwecken dienende Tätigkeiten sind somit nicht von „allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“.34 Die klassischen Leistungen der Daseinsvorsorge auf die der Einzelne essentiell angewiesen ist wie etwa Wasserver- und 23 S auch die insofern nur Anhaltspunkte für Art 36 GRCh liefernde Legaldefinition in Art 57 AEUV. 24 Vgl dazu auch das gem Art 51 EUV zum Primärrecht zählende Protokoll Nr 26 über Dienste von allgemeinem Interesse ABl 2008 C 115/308; hierzu Krajewski EuR Beiheft 1/2013, 109, 117 f. 25 Frenz GR, § 7 Rn 4280; Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 3; Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 GRCh Rn 5. 26 Europäische Kommission ABl 1996 C 281/3; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 34 Rn 22. 27 Jarass GRCh, Art 36 Rn 6; vgl auch Koenig/Paul in: Streinz, EUV/AEUV, Art 106 AEUV Rn 46. 28 Riedel in: Meyer, ChGr, Art 36 Rn 10; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 34 Rn 21; Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 21; zum Begriff „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ und seiner Funktion s auch Krajewski, Grundstrukturen des Rechts öffentlicher Dienstleistungen, 2011, S 99 ff. 29 Europäische Kommission Mitteilung zu Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa ABl 2001 Nr C 17/4 Rn 22; Koenig/Paul in: Streinz, EUV/AEUV, Art 106 AEUV Rn 47; Schlussanträge GA Dutheillet de Lamothe, EuGH, Slg 1971, 723, 739 – Muller u Hein. 30 Frenz GR, § 7 Rn 4281; Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 17; vgl EuGH, Slg 1997, I-5815 Rn 55, 56 – Kommission/Frankreich. 31 Riedel in: Meyer, ChGr, Art 36 Rn 11; Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 3; vgl zum Aspekt der „wirtschaftlichen“ Interessen ferner Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 23. 32 Grünbuch zu Diensten von allgemeinem Interesse v 21.5.2003 KOM (2003) 270 endg Rn 16. 33 S bereits EuGH, Slg 1974, 313 Rn 23 – BRT II; Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 22; Riedel in: Meyer, ChGr, Art 36 Rn 10; aA Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 34 Rn 23 mwN. 34 Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 106 AEUV Rn 39; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 34 Rn 24 mwN.

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Abfallentsorgung35, Postdienste36, Strom-37 und Gaslieferung38 sowie Telekommunikation39 und Verkehrsdienste40 fallen regelmäßig hierunter. Kennzeichnend sind insbesondere die weiträumige, gleichmäßige Versorgung ohne Rücksicht auf die Wirtschaftlichkeit jedes einzelnen Vorgangs41. Ebenfalls sind Kriterien wie Kontinuität, Qualität, Erschwinglichkeit der Dienste sowie Nutzer- und Verbraucherschutz für den Begriff des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses bedeutsam.42 Die Rspr 43 des EuG hat dem weiten Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten dogmatische Konturen verliehen, indem sie klargestellt hat, dass eine Dienstleistung von Gemeinwohlinteresse im europarechtlichen Sinne immer nur dann gegeben ist, wenn der konkreten Aufgabe ein universaler und obligatorischer Charakter zukommt und diese qua Hoheitsakt (Gesetz, Verwaltungsakt, Leistungsvereinbarung) einem Unternehmen übertragen wurde. Ein Kontrahierungs- oder Leistungszwang für einen Dienstleister stellt insoweit ein typisches (wenn auch nicht zwingendes) Merkmal für den gemeinwirtschaftlichen Charakter einer Dienstleistung dar.44 Lösung Fall: Eine Organisation wie die Regie des Postes, der die ausschließliche Befugnis zur Sammlung, Beförderung und Verteilung von Postsendungen übertragen wurde, ist als ein Unternehmen anzusehen, dem vom betreffenden Mitgliedstaat ausschließliche Rechte iSv Art 106 I AEUV gewährt wurden. Daher dürfen die Mitgliedstaaten in Bezug auf Unternehmen, denen sie besondere oder ausschließliche Rechte gewähren gemäß Art 106 I AEUV keine den Wettbewerbsregeln des Vertrags widersprechenden Maßnahmen treffen oder beibehalten. Diese Bestimmung ist indes iVm Art 106 II AEUV zu lesen. Die Regie des Postes ist mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut, die in der Verpflichtung besteht, die Sammlung, die Beförderung und die Verteilung von Postsendungen zugunsten sämtlicher Nutzer, im gesamten mitgliedstaatlichen Hoheitsgebiet, zu einheitlichen Gebühren und in gleichmäßiger Qualität sowie ohne Rücksicht auf Sonderfälle und auf die Wirtschaftlichkeit jedes einzelnen Vorgangs sicherzustellen. Der EuGH entschied in der Rs Corbeau jedoch, dass ein auf ein Monopol gestütztes Dienstleistungsgebot dann gegen Unionsrecht verstößt, wenn das Verbot sich noch auf weitere Dienstleistungen erstreckt, die von den im Allgemeininteresse erbrachten Dienstleistungen abtrennbar sind und dadurch das wirtschaftliche Gleichgewicht des Monopolinhabers nicht in Frage gestellt wird.45

35 EuGH, Slg 2000, I-3743 Rn 75 – Sydhavnens. 36 EuGH, Slg 1993, I-2533 Rn 15 – Corbeau; Slg 2000, I-825 Rn 44 – Deutsche Post II = JK 2000, EGV Art 86/1. 37 EuGH, Slg 1994, I-1477 Rn 48 – Almelo. 38 Riedel in: Meyer, ChGr, Art 36 Rn 11. 39 EuGH, Slg 1991, I-5941 Rn 22 – GB-INNO-BM. 40 Grundl EuGH, Slg 2003, I-7747 Rn 87 ff – Altmark Trans; vgl auch Blanke DVBl 2010, 1333, 1335. 41 EuGH, Slg 1993, I-2533 Rn 15 – Corbeau; EuG, Slg 1996, II-649 Rn 116 – Métropole télévision; Slg 1997, II-229 Rn 67 – FFSA. 42 Vgl Grünbuch zu Diensten von allgemeinem Interesse v 21.5.2003 KOM (2003) 270 endg Rn 49. 43 EuG, Slg 2008, II-81 – BUPA; Zu Elementen eines Paradigmenwechsel in der EuGH Rspr nach dem Lissabon-Vertrag Krajewski EuR Beiheft 1/2013, 109, 121 ff. 44 EuG, Slg 2008, II-81 Rn 186–190, 202–203 – BUPA. 45 EuGH, Slg 1993, I-2533 Rn 19, 21 – Corbeau.

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2. Zugang 11

Der Begriff und die Bedeutung des Zugangs war im Grundrechtekonvent besonders umstritten.46 Im Ergebnis muss der „Zugang“ zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, dem Charakter dieser Dienstleistungen entsprechend, denknotwendig ein allgemeiner sein. Mithin bedeutet dies einen gleichberechtigten Zugang für jeden Nutzer oder Verbraucher.47 Zugleich impliziert diese Bedeutung, dass es auf die Dienstleistungsempfänger ankommt, nicht aber auf die Erbringer, die allenthalben von Art 15 und/oder 16 der Grundrechte-Charta erfasst werden und Rechte ableiten können. Unter „Zugang“ ist damit allenfalls die „Teilhabe“ im Sinne einer Gleichbehandlung der Dienstenutzer zu verstehen.48 Die Zugangsgewährleistung statuiert also kein Recht auf eine konkrete Dienstleistungserbringung; sie gibt aber ein Recht darauf, in den Genuss einer angebotenen Dienstleistung zu kommen.49 Seine Gewährleistung ist wiederum Aufgabe europäischer und (im Rahmen von Art 51 I GRCh) auch mitgliedstaatlicher Gesetzgebung im Rahmen einschlägiger sekundärrechtlicher Vorgaben.50

3. Anerkennung und Achtung 12

Art 36 spricht davon, dass die Union den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse wie er durch die einzelstaatlichen Rechstvorschriften und Gepflogenheiten im Einklang mit den Verträgen geregelt ist „anerkennt und achtet“. In erster Linie findet in dieser Formulierung der Umstand Berücksichtigung, dass in den Mitgliedstaaten eine unterschiedliche Ausgangslage herrscht.51 Der Entstehungsprozess von Art 36 GRCh ist denn auch hinsichtlich seiner Formulierung von einer wechselvollen Geschichte geprägt, die im Ergebnis mit „anerkennt und achtet“ nicht nur in einem unionalen Kompromiss mündet, sondern auch einen terminologischen Gleichklang innerhalb der Charta (Art 25, 26, 34 I, III GRCh) erreicht. Letztlich bedeutet „anerkennen“ mehr als nur „achten“, weil damit nicht lediglich ein teilnahmsloses Interesse angezeigt wird. Vielmehr geht die in der Achtung enthaltene Wertschätzung durch eine Anerkennung in eine aktive gutheißende und bestätigende Haltung über.52 Hierin ist gleichwohl keine Bestandsgarantie oder gar ein „Verschlechterungsverbot“ gegenüber mitgliedstaatlicher Sozialstandards verkörpert, das Liberalisierungsschritte der Union a priori ausschließt.53

46 Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 GRCh Rn 4. 47 Frenz GR, § 7 Rn 4282; Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 GRCh Rn 4; Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 24. 48 Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 25. 49 Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 34 Rn 25. 50 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 5. 51 Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 34 Rn 26. 52 Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 34 Rn 26; aA Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 30: „Beide Vokabeln verlangen … ein (passives) Unterlassen denn ein aktives Tätigwerden der EUOrgane“. 53 Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 31; wohl auch Riedel in: Meyer, ChGr, Art 36 Rn 12; aA Frenz GR, § 7 Rn 4302, 4304; Knauff EuR 2010, 725, 739; Meyer/Engels ZRP 2000, 368, 371.

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Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse

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4. Förderung des Zusammenhalts in der Union Die Anerkennung und Achtung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse dient letztendlich dem Ziel54 den sozialen und territorialen Zusammenhalt innerhalb der Union zu fördern und lehnt sich im Wortlaut an Art 14 AEUV („… in Anbetracht ihrer Bedeutung bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts …“) an. Die Förderung des territorialen Zusammenhalts findet vor allem dadurch statt, dass durch die flächendeckende Versorgung mit elementar wichtigen Allgemeindiensten auch entlegene Gebiete erreicht werden.55 Diese Zweckrichtung verdeutlicht den Stellenwert gemeinwirtschaftlicher Dienste insbesondere auf unionaler Ebene gerade auch vor dem Hintergrund, dass die effiziente und qualitativ einwandfreie Erbringung gemeinwohlorientierter Dienstleistungen im Laufe der Entwicklung zu einem „Kern des Europäischen Gesellschaftsmodells“56 avanciert ist und die soziale Flankierung des Binnenmarktes gewährleitstet verstanden werden kann.57 Warum in Art 36 GRCh lediglich der „soziale und territoriale“ nicht aber der „wirtschaftliche“ Zusammenhalt erwähnt ist wie in einigen anderen, einen eigenen Politikbereich der Union (Art 174 ff AEUV) bildenden Vorschriften, ist unklar, könnte aber darauf zurückzuführen sein, dass einem Automatismus einer EU-finanzierten Förderung entgegengewirkt werden sollte.58

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III. Abschließende Würdigung Die Kommission bezeichnet die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse als „Grundsäulen…, auf denen das europäische Gesellschafts- (und) Sozialmodell gründet“.59 Sie stehen dessen unbenommen jedoch zugleich in einem latenten Spannungsverhältnis zwischen europäischem (Binnen-)Markt und (Mitglied-)Staat.60 Die Bestimmung des Art 36 GRCh ist zwar kein Grundrecht im „klassischen“ Sinne, da sie kein Recht formuliert, sondern auf bereits bestehende (unterschiedliche) mitgliedstaatliche Zugangsrechte abstellt. Sie gewährt im Vergleich zu den Vorgaben des Art 14 AEUV aber insoweit ein „Mehr“, als sie die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nicht nur in deren Bedeutung und Stellenwert achtet und der EU ein entsprechendes Berücksichtigungs- und Abwägungsgebot auferlegt.61 Sondern vielmehr sichert Art 36 GRCh, und darin liegt sein über Art 14 AEUV hinausgehender Gehalt, das Interesse an

54 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 4; Frenz GR, § 7 Rn 4294. 55 Frenz GR, § 7 Rn 4296; Wernicke in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 33. 56 Europäische Kommission Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa KOM (2000) 580 Zusammenfassung Rn 7. 57 Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 33; Kämmerer NVwZ 2002, 1041. 58 Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 33; Frenz GR, § 7 Rn 4294 begründet dies mit der Bedeutung der Dienstleistungen von allgem wirtschaftlichem Interesse als solchen, deren Anerkennung und Achtung grundsätzlich einem wirtschaftlichen Zweck diene. 59 Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse v 12.5.2004, KOM (2004) 374 endg Rn 2.1; dazu Deuster EuZW 2004, 527, 528. 60 Zur Möglichkeit von Wettbewerb und Daseinsvorsorge König EuZW 2001, 481; Nettesheim in: Hrbek/Nettesheim (Hrsg) Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge S 52; Klotz in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 16 EGV Rn 28; Frenz EuR 2000, 901, 905. 61 Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 34 Rn 28; ähnlich Krajewski EuR Beiheft 1/2013, 109, 115.

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sowie den Zugang zu einer qualitativ und preislich angemessenen diskriminierungsfreien Allgemeinversorgung mit öffentlichen Dienstleistungen.62 Nicht zuletzt unterstreicht Art 36 GRCh damit, ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips, (Art 5 III EUV), die diesbezügliche Gestaltungsbefugnis der Mitgliedstaaten, die sich jedoch wiederum „im Einklang mit den Verträgen“ (insb Art 14 und 106 AEUV) zu halten hat.63 Kritisiert wird insoweit, dass der Grundrechtekonvent mit Art 36 GRCh sein Mandat zur Kodifikation des EU-Grundrechtsbestandes überschritten habe64 und die vertragliche Verankerung des „service public“ als vertragliche Anerkennung des französischen colbertistisch-staatsdirigistisch geprägten Wirtschaftsmodells auf Ebene der EU interpretiert werden könne.65 Zum Problem würde dies allerdings erst dann, wenn in staatlicher Trägerschaft befindliche französische Unternehmen oder durch Sonderregelungen protegierte staatliche Monopolunternehmen die Chancen des Binnenmarktes in Form der sich öffnenden Märkte der Nachbarstaaten nutzen, während der französische Markt insoweit über den „service public“ für die europäische Konkurrenz verschlossen bleibt.66 Indem die Wirtschaftsverfassung der EU jedoch zugleich dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet bleibt (Art 119 I AEUV)67, konstituiert sie insoweit zwar ein Spannungsverhältnis, zu dessen Auflösung sie jedoch mit den Instrumenten zur Verwirklichung des Binnenmarktes, den Grundfreiheiten und dem Wettbewerbsrecht, zugleich beiträgt.

62 Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 34. 63 Str s Krajewski EuR Beiheft 1/2013, 109, 115; zur Erweiterung des Verständnisses des Verhältnisses zwischen Unionsrecht und öffentlichen Dienstleistungen durch Art 36 GRCh Szyszczak The Regulation of the State in Competitive Markets, 2007, S 221. 64 Deutlich Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 34 Rn 3; ders ZögU 2005, 174, 179; ebenso Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 6. 65 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 6; s a Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 1 ff; Löwenberg Service Public und öffentliche Dienstleistungen in Europa, 2001 S 127; ähnlich Mann ZögU 2005, 174, 184. 66 So Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 6; ders in: Fehling/Ruffert (Hrsg) Regulierungsrecht, § 2 Rn 7. 67 Vgl dazu Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 6.

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§ 24 Umweltschutz Christian Calliess Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1988, I-4607 – Dänische Pfandflaschen; Slg 1992, I-4431 – Kommission/Belgien; Slg 2001, I-2099 – Preussen Elektra; Slg 2004, I-7613 – Van de Walle; EGMR, EuGRZ 1995, 530 – López Ostra. Schrifttum: Riedel in: Meyer (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl 2011, Art 37; Calliess in: Calliess/Ruffert (Hrsg) EUV/AEUV, 4. Aufl 2011, Art 37 GRCh; ders Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001; Durner/Walter (Hrsg) Rechtspolitische Spielräume bei der Umsetzung der Århus-Konvention, 2005; Epiney Zu den Anforderungen der Aarhus-Konvention an das europäische Gemeinschaftsrecht, ZUR 2003, 176; Frenz Handbuch Europarecht, Band 4, 2009, Rn 4310 ff; Gärditz, Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz im Umweltrecht, NVwZ 2014, 1 (5 f); Kahl Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, 1993; Meyer-Ladewig Das Umweltrecht in der Rechtsprechung des EGMR, NVwZ 2007, 25; Orth Ein Grundrecht auf Umweltschutz in Europa?, 2007; Sauer, Rechtsschutz in Umweltangelegenheiten im Umbruch?, ZUR 2014, 195 ff; Schlacke, Zur fortschreitenden Europäisierung des (Umwelt-)Rechtsschutzes, NVwZ 2014, 11 ff; Wegener, Rechte des Einzelnen, Die Interessentenklage des im europäischen Umweltrecht, 1998.

Fall: Die A wohnt in der spanischen Stadt S. Dort hatte B, ein großer ortsansässiger Batteriehersteller, eine Abfallbehandlungsanlage ohne die nach spanischem und europäischem Recht erforderliche Genehmigung, aber mit konkludenter Duldung der S, in Betrieb genommen. In der nur 30 Meter vom Wohnhaus der A entfernten Anlage wurden auch bei der Batterieproduktion anfallende Chemikalien behandelt. Bei A und ihrer Familie traten in der Folgezeit Gesundheitsbeschwerden auf. Diese, so der Verdacht von A, rührten von den Emissionen der Anlage her. Alle Bemühungen der A, Informationen über die Gefährlichkeit der Anlagen-Emissionen von den Behörden zu erlangen bzw die Durchführung des erforderlichen Genehmigungsverfahrens und Vorkehrungen zum Schutze ihrer Gesundheit zu erreichen, blieben erfolglos. A beruft sich daher vor dem nationalen Gericht auf ihr „Umweltgrundrecht“ aus Art 37 GRCh.

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I. Einführung Art 37 GRCh ist unter hohem Zeitdruck aus Art 174 EGV (Art 191 AEUV) einerseits und aus Art 2 und 6 EGV (Art 11 AEUV) andererseits „zusammengebastelt“ worden. Zudem wurde – ohne konkrete Bezugnahme – auf die Verfassungsbestimmungen einiger Mitgliedstaaten verwiesen.1 Hintergrund der „Konstruktion“ des Art 37 GRCh ist die Tatsache, dass man sich im Konvent nicht auf ein echtes Umweltgrundrecht einigen konnte, gleichwohl aber den Umweltschutz in der GRCh aus Gründen der Bürgernähe berücksichtigen wollte. Den Normierungsprozess begleiteten lebhafte Debatten. Die Positionen reichten von dem Vorschlag, gemäß dem sog. „Kölner Mandat“2 ein Recht auf Umweltschutzmaßnah1 Wiederholt in der Erläuterung zu Art 37 GRCh, ABl 2007 Nr C 303/27; s dazu konkret Riedel in: Meyer, ChGr, Art 37 Rn 3. 2 Beschluss des Europäischen Rates vom 4. Juni 1999, abgedruckt in Bernsdorff/Borowsky Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S 59 f.

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men zu verankern, bis zur Ablehnung eines Individualrechts, da ansonsten eine Prozessflut befürchtet wurde.3 Dominierend war innerhalb des Konvents jedoch eine große Skepsis gegenüber den Rechten des dritten „Korbes“, den sozialen Rechten, so dass man sich auf dem Gebiet des Umweltschutzes nicht darauf einigen konnte, Individualrechte zu begründen. Ein erster Vorschlag des Konventspräsidiums vom 16. Mai 2000 lautete: „Der Schutz der Umwelt, der die Erhaltung, den Schutz und die Verbesserung der Umweltqualität, den Schutz der menschlichen Gesundheit sowie die umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen umfasst, wird durch die Politiken der Union sichergestellt.“4 In der Begründung betonte das Präsidium konsequenterweise den Charakter der Norm – unter Anlehnung an Art 174 EGV (Art 191 AEUV) – als Grundsatz, nicht als individuelles Recht.5 Auch dem jetzigen Wortlaut nach handelt es sich bei Art 37 GRCh um eine staatzielartige Bestimmung6, die dem Einzelnen kein subjektives Recht auf die Sicherstellung eines hohen Umweltschutzniveaus verleiht.7 Als ein Art 20a GG vergleichbares Staatsziel8 lässt sich die Norm in der Charta der Grundrechte nicht sinnvoll entfalten.9 Auf den Umweltschutz bezogene subjektive Teilgewährleistungen sind vielmehr in anderen Bestimmungen der Charta – wie dem Grundrecht auf Leben (Art 2 GRCh) und Gesundheit (Art 3 GRCh) oder in der Menschenwürde (Art 1 GRCh) – zu suchen.10

II. Die Vorgaben der Norm 1. Hohes Umweltschutzniveau 6

Der Begriff „hohes Umweltschutzniveau“11 in Art 37 GRCh entspricht fast wörtlich Art 191 II 1 AEUV. Dem Begriff des hohen Schutzniveaus12 in Art 114 III AEUV korrespondierend führte der Vertrag von Maastricht die Verpflichtung der damaligen EG auf einen hohen Schutzstandard im Rahmen jeder einzelnen umweltpolitischen Maßnahme –

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S insb Protokoll der 15. Sitzung des Konvents in Bernsdorff/Borowsky (Fn 2) S 341, 342. Art 44 CHARTE 4316/00 CONVENT 34 v 16. Mai 2000. Wiederholt in der Erläuterung zu Art 37 GRCh, ABl 2007 Nr C 303/27. Jarass ZUR 2011, 563, 565; And evtl in Verbindung mit Individualgrundrechten vgl Riedel in: Meyer, ChGr, Art 37 Rn 4; Rengeling/Szczekalla GR, § 32 Rn 1053; Meßerschmidt Europäisches Umweltrecht, 2011 § 2 Rn 40. Käller in: Schwarze, EU-Komm, Art 37 GRCh, Rn 1; Frenz GR, § 8 Rn 4319; so letztlich auch Orth Ein Grundrecht auf Umweltschutz in Europa?, 2007, S 266. Dazu Calliess Rechtsstaat und Umweltstaat, S 104 ff; ebenso Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 37 GRCh Rn 2; Käller in: Schwarze, EU-Komm, Art 37 GRCh, Rn 1; Jarass GRCh, Art 37 Rn 2 weist der Vorschrift den Charakter einer Leistungsgewährleistung in Form einer Schutzpflicht zu. Ebenso Käller in: Schwarze, EU-Komm, Art 37 GRCh Rn 1; dag die selbständige Bedeutung des Art 37 GRCh bejahend Bungenberg in: Fastenrath/Nowak (Hrsg) Der Lissabonner Reformvertrag, 2009, S 205, 213. Orth (Fn 7) S 278 („Teilsubjektivierung des Art 37 GRCh“); Frenz GR, § 8 Rn 4316; Rest in: Tettinger (Hrsg) EGRCH, 2006, Art 37 Rn 22. Näher dazu auch Frenz EuR 2009 Beiheft 1, 232, 241 ff. Dazu ausf Krämer ZUR 1997, 303.

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nicht nur der gesamten Politik – ein.13 Der Umweltbegriff beinhaltet die Medien Luft, Boden und Wasser sowie Pflanzen, Tiere und auch den Menschen.14 Darüber hinaus wird die vom Menschen gestaltete natürliche Umwelt einbezogen; der Tierschutz freilich nur, sofern es sich um wildlebende Tiere handelt.15 Die Frage des Schutzniveaus ist eng mit der Frage verknüpft, welchen Rang der Umweltschutz im Verhältnis zu anderen vertraglichen Zielen und Belangen einnimmt. Ausdrückliche Stellungnahmen des EuGH gibt es zu dieser Problematik nicht, so dass sich nur aus Einzelfälle betreffenden Urteilen Rückschlüsse ziehen lassen. Wirft man einen Blick in das Primärrecht und betrachtet die Entscheidung Dänische Pfandflaschen,16 in der der Umweltschutz vom EuGH erstmals zur Rechtfertigung von Beschränkungen des freien Warenverkehrs im Binnenmarkt herangezogen wurde, in Zusammenschau mit nachfolgenden Urteilen17 bis hin zur Prüfung des deutschen Rücknahmesystems für Getränkeverpackungen,18 so lässt sich eine Tendenz des EuGH erkennen, die Belange des Umweltschutzes in der Abwägung mit sonstigen Vertragszielen als zumindest gleichrangig zu behandeln. Eine begrenzte Stärkung des Umweltschutzes lässt sich dem Fall Wallonische Abfälle19 sowie dem Urteil Preussen Elektra20 zum deutschen Stromeinspeisungsgesetz entnehmen.21 Insoweit hat der EuGH seine hergebrachte Dogmatik, dass diskriminierende Maßnahmen nicht durch zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden können, aufgegeben, um den Zielen des Umweltschutzes besondere Geltung zu verschaffen.22 Blickt man auf Urteile zum Sekundärrecht, so lässt sich bereichsspezifisch sogar ein relativer Vorrang des Umweltschutzes konstatieren:23 Im Leybucht-Urteil24 machte der Gerichtshof deutlich, dass Eingriffe in die besonderen Schutzgebiete nur dann zulässig sein können, wenn es sich um außerordentliche Gründe des Gemeinwohls (im konkreten Fall: Schutz von Leib und Leben der Menschen vor Überschwemmungsgefahr) handelt, die „Vorrang vor den mit der Richtlinie verfolgten Umweltbelangen haben“. Dementsprechend wies der EuGH in der Santona-Entschei-

13 AA Krämer ZUR 1997, 303 f; Jans/v d Heide Europäisches Umweltrecht, S 34 ff; Breier in: Lenz/Borchardt (Hrsg) EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 14; Käller in: Schwarze, EU-Komm, Art 191 AEUV Rn 21; Nettesheim in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 61. 14 Jarass GRCh, Art 37 Rn 6; Riedel in: Meyer, ChGr, Art 37 Rn 10; Rest in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 37 Rn 18. 15 Vgl EuGH, Slg 2001, I-5689 Rn 71 – Jippes; Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 37 GRCh Rn 4; Jarass GRCh, Art 37 Rn 6; Nettesheim in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 52; aA Riedel in: Meyer, ChGr, Art 37 Rn 10. 16 EuGH, Slg 1988, I-4607 – Kommission/Dänemark. 17 Vgl zB EuGH, Slg 1998, I-4301 Rn 36 ff – Safety Hi-Tech; Slg 1998, I-4355 Rn 34 ff – Bettati; Slg 2003, I-1553 – Kommission/Luxemburg. 18 EuGH, Slg 2004, I-11705 – Kommission/Deutschland. Dazu Seyr EurUP 2005, 96. 19 EuGH, Slg 1992, I-4431 – Kommission/Belgien. 20 EuGH, Slg 2001, I-2099 – Preussen Elektra; Koenig/Kühling NVwZ 2001, 768; Gündisch NJW 2001, 3686. 21 Nowak VerwArch 2002, 368; ähnlich Faber NuR 2002, 140. 22 Dazu auch Frenz NuR 2002, 204. 23 Kahl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 35; Scherer/Heselhaus in: HdBEUWirtschR, Bd 2 O Rn 32. 24 EuGH, Slg 1991, I-883 – Kommission/Deutschland.

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dung25 das Vorbringen der spanischen Regierung, wonach die in der Vogelschutzrichtlinie festgelegten ökologischen Erfordernisse anderen Interessen, etwa sozialer oder wirtschaftlicher Art, unterzuordnen oder zumindest mit diesen Interessen abzuwägen seien, zurück.26 Dies wird bestätigt im Urteil Van de Walle des EuGH, in dem dieser als Abfall im Sinne der Abfallrichtlinie27 auch das infolge eines unbeabsichtigten Ausbringen von Kraftstoffen verunreinigte Erdreich ansieht: Nur durch eine extensive Interpretation des europäischen Abfallbegriffs könne dem Anspruch der Union, in der Umweltpolitik auf ein hohes Schutzniveau hinzuwirken, Rechnung getragen werden.28 Von einem Teil der Literatur werden die Urteile so gedeutet, dass der EuGH zumindest tendenziell von einem relativen Vorrang der Umweltschutzziele ausgehe.29 Unter Hinweis auf die Querschnitts- oder Integrationsklausel des Art 11 AEUV, die die Umweltverträglichkeit zu einem allgemeinen Rechtsgebot erhebe, wird seit jeher die Auffassung vertreten, dass der Umweltschutz im Konfliktfall grundsätzlich Vorrang vor anderen Unionszielen habe.30 Demgegenüber wird – unter Berufung auf das Urteil des EuGH in der Rs Dänische Pfandflaschen31 von anderer Seite die Meinung vertreten, dass von einer Gleichrangigkeit der ökologischen und ökonomischen Zielsetzungen des Vertrages, die im Konfliktfall im Wege praktischer Konkordanz aufzulösen sei, ausgegangen werden müsse.32 Durch Auslegung der Art 100a III und Art 130t EWGV (heute Art 114 und 193 AEUV) sowie in Zusammenschau mit weiteren umweltrelevanten Vertragsbestimmungen entwickelte die Literatur33 einen Grundsatz des bestmöglichen Umweltschutzes als Handlungsanweisung für den Unionsgesetzgeber sowie als Interpretationsregel des Unionsrechts.34 Allgemein gesprochen wird dem Grundsatz eine primärrechtliche Gewichtsverlagerung zugunsten des Umweltschutzes, die Begründung eines relativen Vorrangs (im Zweifel), beigemessen, in dessen Folge die Abwägung des Zielkonflikts zwischen umweltpolitischen Anliegen und anderen Zielsetzungen bis zu einem gewissen Grad vorweggenommen seien, so dass der Gestaltungsspielraum des Unionsgesetzgebers entsprechend eingeschränkt werde.35 Anknüpfend an den Grundsatz des bestmöglichen Umweltschutzes werden im Schrifttum verschiedene konkrete Ausstrahlungswirkungen (Handlungs-, Kooperations-, subjektive Rechtsstellungs-, Präferenz-, Abwägungs-, Auslegungs-, Supple25 26 27 28 29

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EuGH, Slg 1993, I-4221 – Kommission/Spanien. Bestätigt durch EuGH, Slg 1996, I-3805 – Lappelbank. RL 75/442 EWG, Abl 1975 Nr L 194/47. EuGH, Slg 2004, I-7613 – Van de Walle; Slg 2002, I-3533 Rn 23 – Palin Granit Oy; Jochum NVwZ 2005, 140; Murswiek JuS 2005, 361; Versteyl NVwZ 2004, 1297. Zuleeg NJW 1993, 31, 35; Krämer Environmental Protection and Article 30 EEC Treaty CMLRev 1993, 111, 123; Kahl ThürVBl 1994, 225, 227; ausf ders Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S 166 ff; ders in: Streinz, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 29 ff. Scheuing EuR 1989, 152, 177, 179; wohl auch Zuleeg NJW 1993, 31, 35 mwN. EuGH, Slg 1988, I-4607 Rn 8 ff – Kommission/Dänemark. Everling in: Behrens/Koch (Hrsg) Umweltschutz in der EG, S 29, 38 f; Rengeling/Heinz JuS 1990, 613, 615; Nettesheim in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 122. Impulsgebend Zuleeg NVwZ 1987, 280, 283 f; ähnlich Scheuing EuR 1989, 152, 167, 178 f; Krämer EuGRZ 1988, 285, 288: Pernice NVwZ 1990, 201, 206 f; Hailbronner in: Calliess/Wegener (Hrsg) Europäisches Umweltrecht als Chance, S 15, 26 ff. Präzisiert und fortentwickelt bei Kahl (Fn 29) S 10 ff und 55 ff; Schröer Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Umweltschutzes, S 128 ff; Wiegand DVBl 1993, 533; Epiney/Furrer EuR 1992, 369, 388. So Epiney Umweltrecht in der EU, S 119 f.

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mentierungs- und Kompetenzregel) formuliert, die das Umweltrecht der EU in der Interpretation prägen.36 Der Begriff der „Verbesserung der Umweltqualität“ ist wortgleich mit Art 3 III EUV37 bzw an Art 191 I AEUV angelehnt. Das Erfordernis der Qualitätsverbesserung weist darauf hin, dass sich die Umwelpolitik nicht auf konservierende Maßnahmen beschränken darf, sondern – auch im Interesse künftiger Generationen – eingetretene Schäden beseitigen und verlorengegangene Umweltqualität restaurieren muss (zB mit Reinigung von Flüssen, Renaturierung von Landschaften).38

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2. Vorgaben des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung Die Formulierung „müssen in die Politik der Union einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden“ korrespondiert weitgehend dem Wortlaut der Querschnittsklausel des Art 11 AEUV. Insoweit ergeben sich keine auslegungsrelevanten Abweichungen zu Art 11 AEUV. Bereits durch das Zusammenspiel der AEUV-Präambel und Art 3 EUV steht die Verpflichtung der Union auf den Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung außer Frage.39 Der Grundsatz bezeichnet ein Leitbild, dessen Zielvorstellungen insbesondere auf die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro im Juni 1992 und die dort beschlossene Rio-Deklaration samt Agenda 21 verweisen. Die mit der Aufgabe der Entwicklung von langfristigen Umweltstrategien für eine nachhaltige Entwicklung betraute World Commission on Environment and Development (WCED) definiert den Begriff des „sustainable development“ im Sinne von „development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs“.40 Er verbindet die Erkenntnis, dass ökonomische, ökologische und soziale Entwicklungen notwendig als innere Einheit anzusehen sind.41 Nachhaltige Entwicklung umfasst daher eine umweltgerechte, an der Tragekapazität der ökologischen Systeme ausgerichtete42 Koordination der ökonomischen Prozesse sowie soziale Ausgleichsprozesse. Im Zentrum steht dabei die Sicherung der ökologischen Leistungsfähigkeit: Um spätere Generationen bezüglich der Umweltqualität und der Versorgung mit Ressourcen nicht schlechter zu stellen, ist der natürliche Kapitalstock zumindest konstant zu halten.43 Hieran anknüpfend sind erneuerbare Ressourcen nur in dem Umfang zu verbrauchen, wie sich sich regenerieren, erschöpfbare Rohstoffe nach strengem Maßstab nur 36 Kahl (Fn 29) S 92 bis 307. 37 S dazu Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 EUV Rn 39. 38 Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 37 GRCh Rn 6; Kahl (Fn 29) S 19 f; ders in: Streinz, EUV/AEUV, Art 6 AEUV Rn 55. 39 Zu den diesbezüglich vormals bestehenden Unklarheiten seit dem Vertrag von Maastricht s Calliess in: Baumeister (Hrsg) Wege zum ökologischen Rechtsstaat, S 71, 77 f; Haigh/Kraemer ZUR 1996, 11. 40 Für eine Anwendbarkeit dieser Definition auch im Bereich des AEUV auch Breier in: Lenz/ Borchardt, EUV/AEUV, Art 11 AEUV Rn 10. 41 Ebenso Kahl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 11 AEUV Rn 18; Jarass GRCh, Art 37 Rn 7. 42 Jarass GRCh, Art 37 Rn 7; Rest in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 37 Rn 22; Riedel in: Meyer, ChGr, Art 37 Rn 12. 43 Ausf Schröder AVR 34 (1996), 251, 260 ff; Jarass ZUR 2011, 563, 656; Ruffert ZUR 1992, 208, 209; Frenz/Unnerstall Nachhaltige Entwicklung im Europarecht insb S 155 ff; Calliess (Fn 8) S 141 ff.

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in dem Maße zu verbrauchen wie sie gleichwertig durch regenerative Ressourcen ersetzt werden können und mit Schadstoffemissionen dergestalt zu verfahren, dass sie die natürliche Abbaukapazität nicht übersteigen.44 Nach Konzeption und Intention wird Art 11 AEUV und damit schließlich auch Art 37 GRCh zu einem maßgeblichen Instrument der Umsetzung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung im Unionsrecht.45 Der Grundsatz ist – trotz möglicher materieller Konkretisierungen über das Vorbeuge-, das Ursprungs- und das Verursacherprinzip46 und insbesondere über das Vorsorgeprinzip47 als umweltrechtlichem Leitprinzip48 – ein Relationsbegriff, der einzelfallbezogener, auch prozeduraler Umsetzung bedarf. Den Weg hierfür weist die rechtlich verbindliche49 Querschnittsklausel des Art 11 AEUV, die – den Ansätzen von Rio-Deklaration (Grundsatz 4) und Agenda 21 (Kapitel 8) entsprechend – in geradezu idealer Weise den Vorgaben des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung Rechnung trägt, indem sie Umweltvorsorge und wirtschaftliche/soziale Entwicklung in rechtlich verbindlicher Weise zueinander in Bezug setzt und einen prozedural abgesicherten Ausgleich auf Grundlage der beschriebenen materiellen Vorgaben verlangt. Art 37 GRCh lässt sich insofern genau wie Art 11 AEUV als primärrechtliches Gebot zur Durchführung einer strategischen, nicht nur auf Einzelmaßnahmen, sondern auf Politiken, Programme, Pläne und Gesetze ausgedehnten Umweltverträglichkeitsprüfung verstehen, die im Gesetzgebungsprozess der EU institutionell abgesichert sein muss.50

III. Schlussfolgerungen 15

Art 37 GRCh unterstreicht exemplarisch die in der GRCh mitunter festzustellende Tendenz, dass insbesondere in Titel IV „Solidarität“ – entgegen den wiederholten Vorgaben des Europäischen Rats51, der mit Blick auf die Sorge vor Kompetenzerweiterungen nur „echte“ Grundrechte in die Charta aufgenommen sehen wollte – im Gewande von Grundrechten daherkommende „Staats-“ bzw. Unionszielbestimmungen Eingang gefunden haben.52 Solche rein objektiv-rechtlich wirkenden „Gewährleistungen“, die dem Einzelnen

44 Meßerschmidt (Fn 6) § 3 Rn 42. 45 Grundl dazu Calliess DVBl 1998, 559; in diesem Sinne wohl auch die Kommission, vgl Dok SEC (93) 785, dazu EuZW 1997, 642; Calliess Verwaltungsorganisationsrechtliche Konsequenzen des integrierten Umweltschutzes in: Ruffert (Hrsg) Recht und Organisation, S 73. 46 Jarass GRCh, Art 37 Rn 6. 47 S dazu Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 26 ff. 48 Zur Entwicklung ausf Arndt Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, S 71 ff; der EuGH zählt das Umweltprinzip zu den „tragenden Grundsätzen des europäischen Umweltschutzes“, vgl EuGH, Gutachten, Slg 2001, I-9713 Rn 29; vgl auch Kahl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 85 f mwN. 49 Stroetmann Einführung in: Rengeling (Hrsg) Umweltschutz und andere Politiken der EG, 1993 S 3; Kahl (Fn 29) S 58; Wiegand DVBl 1993, 533, 536; aA Jahns-Böhm Umweltschutz durch europäisches Gemeinschaftsrecht am Beispiel der Luftreinhaltung, 1994, S 262; Krämer EC Treaty and environmental law, London 1996 S 58 f. 50 Vgl Calliess DVBl 1998, 559, 564 ff. 51 Europäischer Rat von Tampere vom 15./16.10.1999, Schlussfolgerungen, Anh Abschnitt B. 52 Bereits Calliess EuZW 2001, 261, 265.

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gerade keine durchsetzungsfähigen Rechte verleihen,53 haben in einem Grundrechtskatalog weder begrifflich noch systematisch eine Berechtigung.54 Wenn man die Charta mit Blick auf aktuelle Herausforderungen wie etwa den Umweltschutz hätte entwerfen wollen, wofür einiges spricht,55 dann hätte ein Blick in die umfassende Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen der Etablierung moderner Grundrechte genügt, um eine Grundrechtskonzeption und -formulierung zu finden, die halten kann, was sie verspricht. Statt also zum Beispiel in Art 11 und 191 AEUV enthaltene Vorgaben in Art 37 GRCh zu wiederholen, hätte es nahegelegen, ein prozedurales Grundrecht auf Umweltschutz zu formulieren. Im Zuge einer sowohl national56 als auch international57 geführten Diskussion haben sich drei Bausteine eines prozeduralen Umweltgrundrechts herauskristallisiert: Ein Recht auf Beteiligung des Bürgers an umweltrelevanten Entscheidungen der Verwaltung, ein Recht auf angemessenen Zugang zum Gericht, sowie – als notwendige Voraussetzung zur Wahrnehmung der beiden anderen Rechte – ein Recht auf umweltbezogene Informationen.58 Mit diesem Inhalt spiegelt sich ein Umweltgrundrecht sowohl in Grundsatz 10 der RioDeklaration59 als auch in der UN-ECE Convention on Access to Information, Public Participation in Decision-Making and Access to Justice in Environmental Matters, die auf der Umweltministerkonferenz vom 23.–25. Juni 1998 im dänischen Århus (sog. ÅrhusKonvention) beschlossen und von allen Mitgliedstaaten und der EU selbst unterzeichnet und nunmehr teilweise transformiert wurde,60 wider.61 Ihr Art 1 formuliert: „Um zum Schutz des Rechts jeder männlichen/weiblichen Person gegenwärtiger und künftiger Generationen auf ein Leben in einer seiner/ihrer Gesundheit und seinem/ihren Wohlbefinden zuträglichen Umwelt beizutragen, gewährleistet jede Vertragspartei das Recht auf

53 Grundl zum Charakter von Staatszielbestimmungen Sommermann Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S 358 ff; Calliess (Fn 8) S 104 f und 125 ff. 54 Teilweise wird dennoch darauf verwiesen, Art 37 GRCh habe eine „positive Signalwirkung zur Stärkung des Umweltschutzes“ und verstärke das Gewicht der Umweltbelange gegenüber anderen, zB ökonomischen Zielen, vgl Rest in: Tettinger (Hrsg) EGRCH, 2006, Art 37 Rn 24. 55 Dazu Calliess ZUR 2000, 246 ff. 56 Vgl etwa Kloepfer Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S 24 und 25 f, die dieser als teilhaberechtliche Konzeption begreift. Zutreffender ist insoweit seine Anknüpfung am „status activus processualis“. Vgl ferner Brönneke ZUR 1993, 153, 157 f, dessen Ansätze auf die prozedurale Konzeption eines Umweltgrundrechts hinauslaufen. Ausf hierzu Calliess (Fn 8) S 463 ff. 57 Vgl hier nur Ruffert Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996, S 18 ff. 58 Vgl hier nur Calliess ZUR 2000, 246 ff; Ruffert Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996, S 23 f; Krämer EuGRZ 1988, 285, 291; Scherer/Heselhaus in: HdBEUWirtschR, Bd 2 O Rn 66, 220, 307. 59 International Legal Materials 1992, 874, 878; ausf zur – ebenfalls im Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 1993, UTR Bd. 21, 411 ff abgedruckten – Rio-Deklaration Schröder AVR 34 (1996), 251 ff sowie Ruffert ZUR 1993, 208 ff. 60 Dazu Epiney ZUR 2003, 176 ff; Schlacke Überindividueller Rechtsschutz, S 249 ff; restriktiver die Beiträge von Walter und Durner in: Durner/Walter (Hrsg) Rechtspolitische Spielräume bei der Umsetzung der Århus-Konvention, S 7 ff und 64 ff. 61 Verfügbar im Internet unter http://www.UNECE.ORG/env/europe/ppconven.htm; abgedruckt auch in AVR 38 (2000), 253 ff; vgl dazu Scheyli AVR 38 (2000), 217 ff; Schlacke (Fn 60) S 233 ff; ferner auch Wegener in: Cremer/Fisahn (Hrsg) Jenseits der marktregulierenden Selbststeuerung – Perspektiven des Umweltrechts, S 183, 192 ff.

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Zugang zu Informationen, auf Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und auf Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen“. Konkretisiert wird das Recht auf Information in Art 4 f, das Recht auf Beteiligung in Art 6 ff und der Zugang zum Gericht in Art 9 der Konvention. Wie schon in den Formulierungen der Rechte deutlich wird, werden durch die Konvention selbst zwar keine unmittelbar wirksamen und anwendbaren Rechte des Einzelnen geschaffen.62 Durch ihren Art 3 werden die Vertragsstaaten jedoch zur effektiven Umsetzung und Durchführung der Vorgaben der Konvention im Rahmen ihres Rechts verpflichtet. Aus einem diesen Vorgaben entsprechenden, prozeduralen Umweltgrundrecht können konkrete Verfahrensrechte abgeleitet werden, die es dem Betroffenen ermöglichen, seine Belange und Interessen im Umweltschutz zur Geltung zu bringen. Für Gesetzgeber und Verwaltung enthalten diese prozeduralen Vorgaben bestimmte Verfahrensstrukturierungsgebote63, die die Rechtsposition des Einzelnen oder auch von Umweltverbänden absichern.64 In diesem Zusammenhang birgt beispielsweise die Entscheidung des EGMR vom 19. Februar 1998 im Fall Guerra65 entsprechende Ansatzpunkte. In ihr leitete der Straßburger Gerichtshof aus dem nach seiner ständigen Rechtsprechung umweltrelevanten Menschenrecht des Art 8 EMRK einen Anspruch der Beschwerdeführer auf Umweltinformationen ab.66 Eine mögliche Formulierung des Art 37 GRCh hätte in Übereinstimmung mit der geltenden Rechtslage daher wie folgt lauten können: „Jeder Mensch hat das Recht auf eine saubere und gesunde Umwelt sowie deren Erhaltung und Schutz. Dieses wird durch Rechte auf Information, Beteiligung im Verwaltungsverfahren und effektiven Zugang zum Gericht gewährleistet.“ Eine solches prozedurales Umweltgrundrecht begegnet den zu Recht gegenüber einem materiellen und als Leistungsrecht ausgestalteten Umweltgrundrecht erhobenen Bedenken,67 trägt aber gleichzeitig den Erfordernissen einer begrenzten Subjektivierung des Gemeinwohlbelangs Umweltschutz in effektiver Weise Rechnung.68 Lösung Fall: Zunächst müsste der Schutzbereich eines Grundrechts einschlägig sein. Möglicherweise kann sich die A auf das von der Europäischen Grundrechte-Charta verbürgte Schutzgut „Umwelt“ berufen. Die GRCh enthält jedoch weder ein materielles noch ein prozedurales Umweltgrundrecht. Der in Art 37 GRCh geregelte Umweltschutz ist lediglich als „Unionszielbestimmung“ ausgestaltet und kann somit kein subjektives Recht vermitteln. Es handelt sich bei Art 37 GRCh mithin um keine einklagbare Rechtsposition. 62 AA hinsichtlich der Begründung von Individualrechten Epiney/Scheyli Die Aarhus-Konvention – Rechtliche Tragweite und Implikationen für das schweizerische Recht, S 23; Walter EuR 2005, 302, 306. 63 In diesem Sinne lässt sich die – freilich umstrittene Rechtsprechung des EuGH im Fall Trianel (Rs C 115/09, NJW 2011, 2779) und Slowakischer Braunbär (Rs C-240/09, ZUR 2011, 317); krit dazu Gärditz, NVwZ 2014, 1 (5 f); positiver Schlacke NVwZ 2014, 11 ff; im Überblick Sauer ZUR 2014, 195 ff. 64 Dazu Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 465 ff. 65 EGMR, NVwZ 1999, 57, Rn 53, 57, 60 – Guerra. 66 Ausf Schmidt-Radefeldt Ökologische Menschenrechte, S 116 ff und 148 ff; allgem zur Rechtsprechung des EGMR im Bereich des Umweltrechts Meyer-Ladewig NVwZ 2007, 25. 67 Vgl demgegenüber aber wieder Kotulla KJ 2000, 22 ff. 68 Ausf zu alledem bereits Calliess ZUR 2000, 246, 253 ff.

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Gleiches gilt für Art 35 S 2 GRCh (Gesundheitsschutz), der zwar ein (Leistungs-)Recht beinhaltet, inhaltlich jedoch nicht einschlägig ist. In Betracht kommt insofern aber Art 3 I GRCh (körperliche und geistige Unversehrtheit umfasst die Gesundheit) in der angesprochenen grundrechtlichen Schutzdimension. Blickt man auf die Rechtsprechung zur EMRK, so wird deutlich, dass der Umweltschutz als Teilgewährleistung bestimmter anderer Grundrechte geltend gemacht werden kann. Dementsprechend hat der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall López Ostra überraschenderweise nicht aus dem Recht auf Leben gem Art 2 I 1 EMRK, sondern aus dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Art 8 EMRK einen Anspruch auf staatlichen Schutz vor Umweltbelastungen Dritter entwickelt, und zwar „selbst wenn die Gesundheit des Betroffenen nicht ernsthaft gefährdet ist.“69 Durch die staatliche Duldung der umweltbelastenden Anlage hätten die staatlichen Organe das Gleichgewicht zwischen dem wirtschaftlichen Interesse der Stadt (im Fall: S) und die Rechte der Beschwerdeführerin (im Fall: A) aus Art 8 EMRK missachtet. In seiner Entscheidung im Fall Guerra70 leitete der EGMR aus Art 8 EMRK sodann einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Umweltinformationen ab, da diese sonst nicht die Gefährlichkeit der benachbarten Anlage beurteilen und daraus Konsequenzen ziehen könnte.71 Diese Ansätze des EGMR, die die grundrechtliche Schutzdimension hervorheben, lassen sich – wie die bisherige Rechtsprechung des EuGH zu Art 28 EGV72 (Art 34 AEUV) belegt – durchaus auch auf Art 3 I GRCh übertragen, auf den sich die A somit vor dem nationalen Gericht berufen kann.

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EGMR, EuGRZ 1995, 530 Rn 51, 58 – López Ostra. EGMR, NVwZ 1999, 57 ff – Guerra = JK 99, EMRK Art 8, 10, 50/3. Ausf Schmidt-Radefeldt (Fn 66) S 116 ff und 148 ff. EuGH, Slg 1997, I-6959, Rn 32 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV, Art 30/2; hierzu Szczekalla DVBl 1998, 219, 221 f.

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§ 25 Verbraucherschutz Christian Calliess Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon. Schrifttum: Herresthal Die Ablehnung einer primärrechtlichen Perpetuierung des sekundärrechtlichen Verbraucherschutzniveaus EuZW 2011, 328; Mörsdorf Die Auswirkungen des neuen „Grundrechts auf Verbraucherschutz“ gemäß Art 38 GR-Ch auf das nationale Privatrecht JZ 2010, 759; Krebber in: Calliess/Ruffert (Hrsg) EUV/AEUV, 4. Aufl 2011, Art 38 GRCh; Riedel in: Meyer (Hrsg) Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl 2011, Art 38.

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Fall: (EuGH, Slg 1996, I-1281 ff – El Corte Inglés) Die spanische Verbraucherin B schloss mit dem Reisebüro V einen Reisevertrag, den sie mit Hilfe eines Kredits der Finanzierungsgesellschaft K finanzierte. Diese gewährt nach einer Vereinbarung zwischen V und K sämtliche Darlehen, die die Kunden des Reisebüros erhalten. B erhob wegen vermehrter Reisemängel gegenüber V mehrere erfolglose Beschwerden und stellte daraufhin ihre Rückzahlungen an die K ein. In der Folge erhob K Klage gegen B auf Zahlung der offenen Beträge beim zuständigen nationalen Gericht. Im Prozess hielt B der K die Nichterfüllung des Reisevertrags durch V entgegen. B bezog sich insbesondere auf Art 11 II RL 87/102, der ihr als Verbraucherin die Möglichkeit gebe, gegen die K als Finanzierungsgesellschaft zu klagen. Das Gericht stellte fest, dass Art 11 II der Richtlinie nicht in nationales Recht umgesetzt wurde, obwohl die hierfür vorgesehene Frist zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits abgelaufen war, und dass das mit dieser Bestimmung angestrebte Ergebnis nicht durch entsprechende Auslegung des nationalen Rechts erreicht werden konnte. Da Art 11 II nach Ansicht des Gerichts hinreichend klar, genau und unbedingt ist, um durch ihn in Anspruch genommen werden zu können, setzte es das Verfahren aus und legte dem EuGH im Wege der Vorabentscheidung die Frage vor, ob Art 11 RL 87/102 trotz Nichtumsetzung unmittelbar anwendbar sei evtl auch unter Berücksichtigung der Art 169 AEUV/Art 38 GRCh. Wie wird der EuGH entscheiden?

I. Einführung 2

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Art 38 GRCh lehnt sich an Art 153 EGV (Art 169 AEUV) an.1 Als staatszielartige Bestimmung sollte er nach der ursprünglichen Intention des Kölner Mandats des Europäischen Rates nicht Eingang in die Charta der Grundrechte finden. Entsprechend kontrovers wurde die Norm im Grundrechtekonvent diskutiert.2 Der Verbraucherschutz ist wie schon Art 37 GRCh als bloße Zielbestimmung für die Union3 ohne eigenständigen subjektiv-rechtlichen Gehalt 4 und damit nicht als einklagbares Recht formuliert5. Insofern kann man auch hier davon sprechen, dass eine Platzierung in einem Grundrechte verbürgenden Dokument wie der Charta systematisch ver-

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Charta Erläuterungen ABl 2007 C 303/28. Riedel in: Meyer, ChGr, Art Vor Titel IV Rn 4 ff. Riedel in: Meyer, ChGr, Art 38 Rn 5. Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 5, Berg in: Schwarze, EU-Komm, Art 38 GRCh Rn 1; Jarass GR, § 34 Rn 9, 10. 5 Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 1; Jarass GRCh, Art 38 Rn 3; Berg in: Schwarze, EU-Komm, Art 38 GRCh Rn 5.

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fehlt6 und überdies mit Blick auf die bereits bestehende primärrechtliche Verbraucherschutzverpflichtung des Art 169 AEUV redundant ist7. Dieser keineswegs neue Befund wird durch die Rechtsprechung des EuGH gestützt, der (bislang jedenfalls) kein europäisches Grundrecht auf Verbraucherschutz anerkannt hat.8 Selbst in den Verfassungen der Mitgliedstaaten, einschließlich dem Grundgesetz, lässt sich kein Individualrecht auf Verbraucherschutz ausfindig machen. Vielmehr existieren lediglich objektiv-rechtliche Bezugnahmen.9 Die objektive Zielsetzung von Art 38 GRCh lässt allenfalls den Schluss darauf zu, dass im Sinne einer Einrichtungsgarantie10 auf europäischer Ebene Maßnahmen mit „verbraucherschützendem Gehalt“11 existieren müssen. Darüber hinaus kann der nur als beschränkt justiziabler Grundsatz (Art 52 V 1 GRCh)12 zu qualifizierende Art 38 GRCh als Auslegungshilfe in Verbindung mit anderen anerkannt individualschützenden Vorschriften der Charta dienlich sein.13 Jedoch ist nicht auszuschließen, dass der EuGH im Lichte des Art. 38 GRCh verstärkt einer faktischen (negativen) Horizontalwirkung verbraucherschützender Richtlinien unter Berücksichtigung des primärrechtlichen Verbraucherschutzziels zuneigen wird.14 Die Ziele des europäischen Verbraucherschutzes werden in Art 38 selbst nicht näher konkretisiert. Gleichwohl befinden sich in Art 169 AEUV in nicht abschließender Aufzählung einige aufschlussreiche Konkretisierungen: Schutz der Gesundheit, Sicherheit, der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher und die Förderung ihrer Rechte auf Information, Erziehung und Bildung von Vereinigungen zur Wahrung ihrer Interessen. Daraus ergeben sich zwei zentrale Zwecke des Verbraucherschutzes: einerseits Rechtsgüterschutz im Sinne der Verhinderung von Schäden im Zusammenhang mit der privaten Abnahme oder Nutzung von Waren oder Dienstleistungen. Andererseits Schutz der wirtschaftlichen Interessen durch Sicherung der Voraussetzungen der Privatautonomie, so dass Verbraucher ihre Marktentscheidungen vernünftig und verantwortungsvoll treffen können.15 Der EuGH anerkannte in seiner Cassis-Rechtsprechung den Verbraucherschutz als „zwingendes Erfordernis“, das in verhältnismäßiger Anwendung mitgliedstaatliche (grundsätzlich verbotene) Beschränkungen der Binnenmarktfreiheiten, im konkreten Fall der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art 34 AEUV, zu rechtfertigen geeignet sein kann.16 6 So bereits zu Art 37 GRCh Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 37 Rn 3; ebenso Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 2 Fn 3. 7 Mörsdorf JZ 2010, 759, 760 sieht den Mehrwert von Art 38 GRCh gegenüber Art 169 AEUV in der Erweiterung des Adressatenkreises auf die Mitgliedstaaten (soweit diese Unionsrecht durchführen). 8 Frenz GR, § 9 Rn 4381, 4386, 4388 ff; Cremer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 62 Rn 7. 9 Ausf Rengeling/Szczekalla GR, § 33 Rn 1055. 10 Herresthal EuZW 2011, 328, 330. 11 Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 5. 12 Mörsdorf JZ 2010, 759, 762; Frenz GR, § 9 Rn 4388 ff. 13 Vgl schon Schlussantrag GA Trstenjak, EuGH, Slg 2009, I-11939, Rn 44 – Martín Martín; ebenso Riedel in: Meyer, ChGr, Art 38 Rn 7; Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 38 Rn 10 f; Jarass GRCh Art 38 Rn 4; Berg in: Schwarze, EU-Komm, Art 38 GRCh Rn 4; Cremer in: Heselhaus/ Nowak, GR § 62 Rn 26; „Abwägungsgesichtspunkt“ Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 2; Frenz GR, § 9 Rn 4413. 14 Vgl Mörsdorf JZ 2010, 759, 766 mit Verweis auf EuGH, Slg 1996, I-1281, Rn 20 – El Corte Inglés. 15 Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 2; Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 38 Rn 6. 16 EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8 – Cassis de Dijon.

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II. Zum Begriff des Verbraucherschutzes 7

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Das Unionsrecht definiert weder im Primärrecht, wer als Verbraucher anzusehen ist noch gibt es sekundärrechtlich einen einheitlichen Verbraucherbegriff 17, obwohl der „Verbraucher“ an zahlreichen Stellen der Verträge Erwähnung findet und damit gleichzeitig die Bedeutung des Verbraucherschutzes hervorhebt.18 Dabei schwankt das Verbraucherleitbild im Wesentlichen zwischen zwei Vorstellungen, die einen situations- bzw problembezogenen Ansatz verfolgen: Einerseits kann die Prämisse eines stets aufmerksamen, verständigen und informierten also weniger schutzbedürftigen Verbrauchers19 gewählt, andererseits vom sog „flüchtigen“ eher schutzbedürftigen Verbraucher ausgegangen werden.20 Im Rahmen von Art 38 GRCh dürfte zumindest jede natürliche Person als Verbraucher anzusehen sein, die bei ihrem Handeln am Markt nicht für gewerbliche oder berufliche, sondern nur für private Zwecke tätig ist21, womit zumindest die Erkenntnis als gesichert gelten kann, dass es sich um Private handeln muss. Ob Art 38 GRCh nun aber vom „engen“ Verbraucherbegriff ausgeht oder dem Leitbild des „flüchtigen“ Verbrauchers Rechnung tragen soll, lässt sich nicht abschließend klären. Für Letzteres könnte sprechen, dass Art 38 GRCh offenkundig bereits durch seine Existenz einen schutzbedürftigen Verbraucher voraussetzt.22 Die Vielschichtigkeit der denkbaren Situationen spricht eher dagegen, von einem starren Leitbild eines „mündigen“ oder flüchtigen Verbrauchers auszugehen.23 Der EuGH entwickelte in seiner Rechtsprechung zum Verbraucherschutz das Leitbild, eines „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers“24, der im Hinblick auf das jeweilige Produkt und die entsprechende situative Gegebenheit angemessen gut unterrichtet und angemessen kritisch ist. Die Sicherstellung eines hohen Niveaus an Verbraucherschutz durch Art 38 ist wie bereits der Gesundheitsschutz (Art 35 S 2 GRCh) nicht nur ein Grundsatz, sondern ein Optimierungsgebot.25 Der Begriff des „hohen Verbraucherschutzes“ ist lediglich eine nach historischer Auslegung zu begreifende abstrahierte Zusammenfassung der Ziele des Gesundheits-, Interessen- und Sicherheitsschutzes des Verbrauchers.26 Die Erkenntnis bringende Frage nach dem Schutzniveau ist daher wie auch bei Art 37 GRCh eng mit der Frage verknüpft, welchen Rang der Verbraucherschutz im Verhältnis zu anderen vertraglichen Zielen und Belangen einnimmt. Sowohl Art 169 AEUV als auch Art 38 GRCh enthalten mit der Festlegung auf ein „hohes“, nicht auf das „höchstmögliche“, Verbraucherschutzniveau ein Abwägungsgebot. Insofern muss der Verbraucherschutz mit etwaig 17 Vgl Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 1; ders in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 169 AEUV Rn 4 ff. 18 Frenz GR, § 9 Rn 4477; Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh Art 38 Rn 4. 19 Zum Leitbild des „mündigen“ Verbrauchers Dreher JZ 1997, 167, 170 ff. 20 Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 4. 21 EuGH, Slg 2001, I-9049, Rn 14 – Cape u Idealservice MN RE; Jarass GRCh, Art 38 Rn 6. 22 Mit Hinw auf den Schutzcharakter Frenz GR, § 9 Rn 4403. 23 Rengeling/Szczekalla GR, § 32 Rn 1066; Riedel in: Meyer, ChGr, Art 38 Rn 2. 24 EuGH, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon; Slg 1980, 3839 ff – Fietje; Slg 1982, 3961 ff – Rau Lebensmittelwerke; Slg 1984, 1299 ff – Prantl; Slg 1987, 1227 ff – Kommission/Deutschland; Slg 1990, I-667 ff – GB-INNO-BM; Slg 1994, I-317 ff – Clinique; Slg 1995, I-1923 ff – Mars; Slg 1998, I-4657 ff – Gut Springenheide u Tusky. 25 Frenz GR, § 9 Rn 4407; Mörsdorf JZ 2010, 759, 761; Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 38 Rn 14. 26 Vgl Riedel in: Meyer, ChGr, Art 38 Rn 7.

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kollidierenden Vertragszielen in einen schonenden und interessengerechten Ausgleich im Sinne der Herstellung praktischer Konkordanz gebracht werden.27 In die Abwägung einzubeziehen sind insbesondere die Grundfreiheiten des Binnenmarktes (Art 34, 45, 49, 56, 63 AEUV) sowie die in der Charta normierten Freiheitsgrundrechte etwa die Unternehmerfreiheit (Art 16 GRCh). Dem Verbraucherschutz kommt folglich kein absoluter Vorrang zu28, was vor allem der Tatsache geschuldet ist, dass er nach der Judikatur des EuGH zwar ein wichtiges Ziel der Europäischen Union ist, aber mitnichten ihr einziges.29

III. Verbraucherschutz in den Politiken der Union Art 38 GRCh stellt sicher, dass „die Politik“ der Union ein hohes Verbraucherschutzniveau gewährleistet. Wiederum begründet durch die Anlehnung an die Querschnittsklausel des Art 12 AEUV nimmt Art 38 GRCh damit Bezug auf sämtliche in den Art 3 bis 6 EUV angesprochene Grundsätze. Mithin soll den Erfordernissen des Verbraucherschutzes in allen unionalen Politikfeldern30, freilich mit Rücksicht auf technische Möglichkeiten und wirtschaftliche Zumutbarkeit, Rechnung getragen werden.31 Insbesondere im Hinblick auf die divergierende Formulierung in Art 35 S 2 GRCh, der die Union audrücklich auf ein hohes Gesundheitsschutzniveau im Rahmen „der Festlegung und Durchführung der Politik und Maßnahmen der Union“ verpflichtet, könnte geschlossen werden, dass die Verpflichtung auf ein hohes Verbraucherschutzniveau zwar für jeden Politikbereich, nicht aber für jede einzelne Maßnahme gilt. Letztere werden nämlich in Art 38 gerade nicht erwähnt. Gegen einen solchen Schluss sprechen allerdings gewichtige Gründe der Praktikabilität und schwierigen Abgrenzung von mitunter miteinander verbundenen Maßnahmen und deren Vielschichtigkeit.32 Dass nur die Politiken insgesamt gemeint sein können zeigt sich zudem in der parallelen Vorschrift des Art 37 GRCh, dessen Auslegung zum gleichen Ergebnis gelangt. Dabei besitzt die Union im Rahmen der von ihr vorgenommenen Konkretisierung ihrer Verbraucherschutzpolitik einen weiten Ermessensspielraum.33 Dennoch ist zu bemerken, dass Art 38 GRCh nach seinem Wortlaut („sicherstellen“) deutlich strenger gefasst ist als die Querschnittsklausel des Art 12 AEUV („Rechnung tragen“). Art 38 verdichtet mithin die Vorgaben für die unionalen Anstrengungen im Streben auf ein hohes Schutzniveau ohne aber wiederum direkte Handlungspflichten zu begründen.34 Freilich ist die Union im Zuge ihrer Verbraucherschutzpolitik nicht verpflichtet, sich am höchsten in einem Mitgliedstaat geltenden Verbraucherschutzlevel zu orientieren und dies auch für alle übrigen Mitgliedstaaten im Sinne einer Maximalharmonisierung vor-

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Vgl nur Herresthal EuZW 2011, 328, 330. Frenz GR, § 9 Rn 4408. EuGH, Slg 1997, I-2405, Rn 48 – Deutschland/Parlament u Rat. Mörsdorf JZ 2010, 759, 761. Lurger in: Streinz, EUV/EGV, Art 153 EGV Rn 24; Frenz GR, § 9 Rn 4407. Frenz GR, § 9 Rn 4411. Berg in: Schwarze, EU-Komm, Art 38 GRCh Rn 3; Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 1; Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 5; Jarass GRCh, Art 38 Rn 6. 34 Berg in: Schwarze, EU-Komm, Art 38 GRCh Rn 4; Cremer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 62 Rn 28.

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zuschreiben.35 Spiegelbildlich dazu ist die Union aber auch nicht darauf beschränkt lediglich Mindeststandards für den Verbraucherschutz verbindlich festzulegen.36 Ein einmal erreichtes Schutzniveau muss auch nicht zwingend von der Union beibehalten werden.37 Vielmehr kann auch dann ein hinreichend hohes Verbraucherschutzniveau gegeben sein, wenn Einzelmaßnahmen nicht dem bisherigen Standard entsprechen.38 Sofern der Verbraucherschutz in der EU demnach generell verbessert wird, können Rechtsangleichungsmaßnahmen nach der Rechtsprechung des EuGH unter Umständen auch zu einer Absenkung des Schutzniveaus in einzelnen Mitgliedstaaten führen.39 Die Mitgliedstaaten wiederum bleiben durch Art 169 IV AEUV in ihrer Entscheidung frei, strengere Schutzmaßnahmen als diejenigen, die von der Union vorgegeben sind, zu ergreifen.

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Lösung Fall: Der EuGH hat bereits in seinem Urteil in der Rs Faccini Dori 40 eine klare Antwort auf die Problematik der unmittelbaren horizontalen Wirkung nicht (fristgerecht) umgesetzter Richtlinien gegeben. Danach kann nach stRspr eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, sodass ihm gegenüber die Berufung auf die Richtlinie nicht möglich ist. Etwas anderes könnte sich aus Art 169 AEUV bzw Art 38 GRCh (Verbraucherschutz) ergeben. Die Tragweite dieser Vorschriften ist allerdings begrenzt. Art 169 AEUV spricht zum einen die Verpflichtung der Union aus 41, einen Beitrag zur Erreichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus zu leisten. Zum anderen schafft er eine Unionszuständigkeit für spezifische Aktionen im Zusammenhang mit der Verbraucherschutzpolitik, die über die im Rahmen des Binnenmarktes getroffenen Maßnahmen hinausgehen. Da sich Art 169 AEUV darauf beschränkt, der Union ein Ziel zu setzen und ihr hierfür Befugnisse einzuräumen, ohne daneben eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten oder einzelner aufzustellen, kann er es nicht rechtfertigen, dass klare, genaue und unbedingte Bestimmungen von Richtlinien über den Verbraucherschutz, die nicht fristgerecht umgesetzt worden sind, unmittelbar zwischen einzelnen in Anspruch genommen werden. Ebenso vermittelt auch Art 38 GRCh kein europäisches Grundrecht auf Verbraucherschutz, sondern statuiert lediglich einen objektivrechtlichen (beschränkt justiziablen) Grundsatz gemäß Art 52 V GRCh. B bleibt im Ergebnis darauf beschränkt den die Umsetzung nicht fristgerecht vornehmenden Mitgliedstaat auf Ersatz des ihr hierdurch entstandenen Schadens zu verklagen.

35 EuGH, Slg 1997, I-2405, Rn 48 – Deutschland/Parlament u Rat. 36 Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 5; Heiss ZEuP 1996, 625, 632 ff; Riesenhuber JZ 2005, 829, 831 ff; aA Micklitz/Reich Verbraucherschutz im Vertrag über die Europäische Union – Perspektiven für 1993, S 594 f; Reich ZEuP 1994, 381, 398 f. 37 Herresthal EuZW 2011, 328, 330; aA Frenz GR, § 9 Rn 4407; Grub in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 169 AEUV Rn 10. 38 Pfeiffer in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/EGV, Art 153 EGV Rn 19. 39 EuGH, Slg 2002, I-3901, Rn 26 f, 30 ff – González Sánchez; Slg 2006, I-2461 ff – Komission/ Frankreich; Slg 2006, I-199 ff – Skov u Bilka. 40 EuGH, Slg 1994, I-3325 ff – Faccini Dori = JK 95, EWGV Art 189 III/6. 41 EuGH, Slg 1996, I-1281, Rn 20 – El Corte Inglés.

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§ 26 Unionsbürgerrechte Stefan Kadelbach Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1992, I-4239 ff – Micheletti; Slg 1998, I-2691 ff – Martínez Sala; Slg 1998, I-7637 ff – Bickel u Franz; Slg 2001, I-6193 ff – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1; Slg 2002, I-6191 ff – D’Hoop; Slg 2003, I-11613 ff – Garcia Avello; Slg 2010, I-1449 ff – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1; Slg 2011, I-1177 ff – Ruiz Zambrano. Schrifttum: Schönberger Unionsbürger, 2005; Benlolo Carabot Les fondements juridiques de la citoyenneté européenne, 2006; Rabenschlag Leitbilder der Unionsbürgerschaft, 2009; Goudappel The Effects of EU Citizenship, 2010.

I. Einleitung In der Unionsbürgerschaft, die in den Verträgen an hervorgehobener Stelle in den Grundsatzbestimmungen (Art 9 EUV, 20–25 AEUV) geregelt ist, kommen zwei Entwicklungen zum Ausdruck: Zum einen hat die europäische Integration, die in ausgewählten Sektoren der Wirtschaft ihren Anfang nahm und bald in einen umfassenden Prozess wirtschaftlicher Integration einmündete, inzwischen ihre rein ökonomische Zielrichtung hinter sich gelassen. Zum anderen war schon die EWG eine Gemeinschaft nicht nur der Staaten, sondern auch ihrer Bürger.1 Eine Erweiterung der Grundfreiheiten um Grundrechte war erforderlich geworden, da die Union auch Befugnisse zu Maßnahmen besitzt, die zu Eingriffen berechtigen, wie dies insbesondere im Agrar-, Zoll- und Wettbewerbsrecht der Fall ist (→ § 14 Rn 4).2 Die Ausübung von Hoheitsgewalt in der Union bedarf indes nicht nur der Gegensicherung durch Grundrechte, sondern auch der Legitimation durch die Unionsbürger. Sollen Interventionen in den Wirtschaftsverkehr im öffentlichen Interesse und die Zuteilung von Beihilfen aller Art nicht nur eine Angelegenheit der Regierungen bleiben, muss es neben der jeweiligen staatlichen auch eine europäische Aktivbürgerschaft mit eigener Identität geben. Darauf wies schon die Präambel des EWG-Vertrages von 1958 hin, die „einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ als Ziel benennt. Dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist, deutet Art 1 II EUV an, dem zufolge in der „immer engeren Union der Völker Europas“ Entscheidungen „möglichst bürgernah getroffen werden“ sollen. In einem demokratischen Gemeinwesen sollten die Bürger selbst, vermittelt durch Institutionen und Verfahren, hinter den Entscheidungen stehen. In der Union werden die wesentlichen Entscheidungen indes von Regierungsvertretern gefällt, die ihre demokratische Legitimation durch die jeweiligen staatlichen Parlamente erhalten. Die Befugnisse des Europäischen Parlaments sind denen einer nationalen Volksvertretung nicht vergleichbar. Dieser Zustand mag verfassungsrechtlich zureichend sein,3 aus staatsbürgerlicher Sicht ist er unbefriedigend. Die Unionsbürgerschaft soll daher die Kluft, die

1 Vgl EuGH, Slg 1963, 3, 25 – van Gend & Loos; Slg 1991, I-6079, Rn 21 – EWR. 2 Vgl Oppermann FS Doehring, 1989, S 713, 722. 3 BVerfGE 89, 155, 184 ff – Maastricht = JK 94, GG Art 23/1; 123, 267, 370 ff – Lissabon = JK 2009, GG Art 38 I/18.

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durch diese Form der Legitimation entsteht, ein Stück weit überbrücken und eine zusätzliche, der Staatsbürgerschaft komplementäre Identität und Loyalität schaffen.4 Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, aus dem der Vertrag von Lissabon hervorgegangen ist, war ausweislich seiner Präambel „im Namen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas“ erarbeitet worden. Im Folgenden soll zunächst der Weg nachgezeichnet werden, der die EU zur Unionsbürgerschaft geführt hat (II.). Anschließend ist auf das Verhältnis zu ihrer Voraussetzung, der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates (Art 20 I 2 AEUV), und zum Status des Staatsbürgers einzugehen (III.). Die einzelnen Unionsbürgerrechte (IV.) können dann in ihrer Bedeutung besser eingeschätzt werden (V.).

II. Bürgerschaft als Angelegenheit der Europäischen Union 1. Vom Marktbürger zum Unionsbürger 4

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Die Unionsbürgerschaft ist das Ergebnis politischer Initiativen, rechtsetzender Tätigkeit und richterlicher Rechtsfortbildung, die von einer auf wirtschaftliche Freiheiten begrenzten Marktgesellschaft ihren Ausgang genommen hat. Soweit der EWG-Vertrag bestimmten Personenkreisen Rechte zugestand, waren die Begünstigten aktive Teilnehmer am Wirtschaftsleben.5 Die verliehenen Rechtspositionen sind an Arbeit, Güter und Kapital gebunden. Einzelne waren als „Marktbürger“6 Inhaber von Rechten, die sich gegen die Mitgliedstaaten richteten. Umfassendere bürgerliche Rechte im traditionellen Sinne begannen sich gegen Ende der 60er Jahre zu entwickeln, als mit Entstehen gemeinschaftsrechtlicher Eingriffsbefugnisse Freiheitsrechte gegen die EG geschaffen wurden.7 Etwa zeitgleich besetzte die europäische Rechtsetzung das Feld sozialer Rechte. Vor allem infolge der Freizügigkeit der Arbeitnehmer entstand auf sekundärrechtlicher Grundlage bald ein umfassendes System von Berechtigungen, das Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in der Arbeitswelt des Aufnahmelandes eine den Inländern angeglichene Rechtsstellung verschaffen sollte (→ vgl § 9 Rn 19 ff).8 Für diesen Prozess ist das europäische koordinierende Sozialrecht kennzeichnend, das Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten und ihren Angehörigen gleichen Zugang zu sozialversicherungsrechtlichen Leistungen gewährt. Auch das europäische Arbeitsrecht wird zu den sozialen Rechten gezählt, ebenso die in mehr oder weni-

4 Vgl Schönberger in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 9 EUV Rn 13 f. 5 Allerdings hat die Kommission schon 1962 die Ansicht vertreten, dass die Einzelnen nicht als „Produktionsfaktoren“, sondern als Inhaber von Freiheitsrechten zu betrachten seien, s ABl 1962, 2118. 6 Ipsen/Nicolaysen NJW 1964, 339, 340, Fn 2; H P Ipsen EuGR, 187, 250 ff, 742 f; krit zum Wert der Rechte des „Wirtschaftsbürgers“ aus ökonomischer Sicht Nienhaus in: Hrbek (Hrsg) Bürger und Europa, 1994, S 29 ff. 7 Den Anf machte der EuGH mit Slg 1969, 419 ff – Stauder und Slg 1970, 1125 ff – Internationale Handelsgesellschaft; zum Grundrechtsschutz durch den EuGH Pernice NJW 1990, 2409 ff; zum Verh zw Grundrechten und Unionsbürgerschaft O’Leary 32 CMLRev (1995), 519 ff. 8 Evans MLR 45 (1982), 496 ff; O’Leary The Evolving Concept of Community Citizenship, 1996, S 65 ff; Becker EuR 1999, 522 ff.

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ger großer Abhängigkeit von der Freiheit des Warenverkehrs erlassenen Normen des Gesundheits- und Umweltschutzes sowie Verbraucherrechte.9 Freizügigkeit, Aufenthalt und soziale Rechte verloren mit der Zeit die enge Bindung an den Austausch von Gütern und Leistungen. Die ursprünglich zur Förderung der Mobilität geschaffenen Pflichten, Wanderarbeitnehmer in die sozialen Leistungssysteme des Aufenthaltsstaates einzubeziehen, lösten sich vom Erfordernis eines Arbeitsvertrages.10 Eine weitere Dimension nicht durch das Ziel des Binnenmarktes motivierter Rechte eröffnet die Aussicht auf politische Teilhabe, die schon Art 138 III EWGV (jetzt Art 223 I AEUV) versprach, indem er den Auftrag erteilte, allgemeine unmittelbare Wahlen zum EP abzuhalten. Nach alldem war die Forderung konsequent, diese Ansätze freiheitlicher, sozialer und politischer Rechte der Bürger Europas zu einem eigenständigen Status zusammenzufassen.11 Seit dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Den Haag 1969 wurden Initiativen mit dem Ziel eines identitätsstiftenden „Europa der Bürger“ gestartet. Auf dieser Linie lagen Vorschläge der Kommission über die Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts auf kommunaler Ebene,12 ein 1975 vorgelegter Bericht des belgischen Premierministers Leo Tindemans mit Vorschlägen über neue individuelle Rechte,13 die vom Europäischen Parlament erarbeitete „Charta der Bürgerrechte“,14 die Einführung des Direktwahlaktes zum Europäischen Parlament15 und die Schaffung einer Passunion mit einheitlichem Reisepass.16 Neue Impulse gingen von dem unter der Leitung von Altiero Spinelli erarbeiteten Vertragsentwurf zur Gründung der Europäischen Union aus, der 1984 erstmals den Begriff der Unionsbürgerschaft in die Gemeinschaft einführte.17 Der Europäische Rat von Fontainebleau beschloss daraufhin Maßnahmen der Gemeinschaft vorzubereiten, „durch die ihre Identität gegenüber den europäischen Bürgern und der Welt gestärkt und gefördert wird“.18 Eine nach seinem Vorsitzenden Pietro Adonnino benannte Arbeitsgruppe bezog daraufhin 1985 in ihre Berichte die meisten der Rechte ein, die später als Unionsbürgerrechte in den EWG-Vertrag aufgenommen wurden.19 9 Reich Bürgerrechte in der Europäischen Union, 1999, S 207 ff, 262 ff, 391 ff; s Art 35 bis 38 GRCh. 10 Evans AJCL 32 (1984), 679, 689 ff. 11 Grabitz Europäisches Bürgerrecht, 1970; dazu Tomuschat ZaöRV 33 (1973), 379 ff; Randelzhofer GS Grabitz, 1995, S 580 ff; s a Magiera DÖV 1987, 221 ff; Marias in: ders (Hrsg) European Citizenship, 1994, S 1, 3 ff. 12 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Europa für die Bürger, Bull EG 7/75, S 5, 23 ff. 13 Bull EG Beil 1/76, S 29 ff. 14 ABl 1975 Nr C 179/30; vgl Zuleeg FS Schlochauer, 1981, S 983 ff. 15 ABl 1976 Nr L 278/1; die erste Direktwahl wurde auf dieser Grundl 1979 durchgeführt. 16 ABl 1981 Nr C 241/1 mit späteren Ergänzungen, zul ABl 1995 Nr C 200/1; s nunmehr die durch den Vertrag von Lissabon eingeführte Kompetenznorm des Art 77 III AEUV. 17 ABl 1984 Nr C 77/33, Art 3: „Die Bürger der Mitgliedstaaten sind als solche Bürger der Union. Die Unionsbürgerschaft ist an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates gebunden; sie kann nicht selbständig erworben oder verloren werden. Die Unionsbürger nehmen am politischen Leben der Union in den durch diesen Vertrag vorgesehenen Formen teil, genießen die ihnen durch die Rechtsordnung der Union zuerkannten Rechte und unterliegen den Normen dieser Rechtsordnung.“ 18 Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes, Bull EG Beil 7/85, S 5 (Ziff 6). 19 Europa der Bürger, Bericht des Ad-hoc-Ausschusses, Bull EG Beil 7/85, S 9 ff, 19 ff.

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Bald etablierte sich die europäische Bürgerschaft auch über den Bereich politischer Empfehlungen hinaus als eine rechtliche Institution, die das Marktbürgertum ablöste. „Bildungsbürger“ kamen nach der Rechtsprechung des EuGH als Touristen in den Genuss der sog passiven Dienstleistungsfreiheit, und als Studierenden stand ihnen allein aufgrund des allgemeinen Diskriminierungsverbotes (heute Art 18 AEUV) das Recht auf Zugang zu Bildungseinrichtungen und auf Ausbildungsförderung zu.20 Der ErasmusBeschluss des Rates über den Studentenaustausch von 1987 erwähnt als erster Rechtsetzungsakt das „Europa der Bürger“.21 Wenig später unterbreitete die Kommission erste Rechtsetzungsvorschläge zum Kommunalwahlrecht.22 Der Rat erließ drei Richtlinien über das Aufenthaltsrecht nicht erwerbstätiger Personen außerhalb ihres Heimatstaates.23

2. Die Regelungen des AEU-Vertrages zur Unionsbürgerschaft 10

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Durch den Vertrag von Maastricht wurde schließlich 1992 die Unionsbürgerschaft auf primärrechtlicher Ebene eingeführt, nicht zufällig zugleich mit der Umbenennung der EWG in die Europäische Gemeinschaft und der Neugründung der Europäischen Union.24 Der Vertrag von Amsterdam 25 fügte diesen Vorschriften (nunmehr Art 20–25, 227, 228 AEUV) das Recht auf Auskunft in der eigenen Sprache (Art 24 IV AEUV) hinzu. In der Grundrechte-Charta vom 7. Dezember 2000, die der Vertrag von Lissabon in das Primärrecht der Union inkorporiert hat (Art 6 I EUV), ist die Unionsbürgerschaft erneut erweitert worden.26 Auf den ersten Blick wirken die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft wenig kohärent. Art 20 I 2 AEUV macht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates zur einzigen Voraussetzung. Die im Folgenden aufgeführten Einzelrechte scheinen miteinander nicht viel zu tun zu haben und wenig Neues zu gewähren: Freizügigkeit (Art 21 AEUV, Art 45 GRCh), Wahlrecht zu den kommunalen Vertretungen und zum Europäischen Parlament am Ort des Wohnsitzes (Art 22 AEUV, 39, 40 GRCh), diplomatischer und konsularischer

20 Zum Tourismus EuGH, Slg 1984, 377, Rn 16 – Luisi u Carbone; Slg 1989, 195, Rn 17 – Cowan; zum Studium Slg 1985, 593, Rn 19 ff – Gravier; zum „Bildungsbürger“ Oppermann in: Nicolaysen/ Quaritsch (Hrsg) Lüneburger Symposion für Ipsen, 1988, S 87, 91. 21 ABl 1987 Nr L 166/20; vgl a EuGH, Slg 1989, 1425, Rn 29 – Kommission/Rat = JK 90, VEWG Art 128/1; umfassend Düsterhaus Integration 2006, 122 ff. 22 Das Wahlrecht der Bürger in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bei Kommunalwahlen, Bull EG Beil 7/86; der Richtlinienvorschlag (ABl 1988 Nr C 246/3) wurde wg der bevorst Einf der Unionsbürgerschaft zurückgestellt; dazu Magiera EA 1988, 475 ff. 23 RL 90/364 – Aufenthaltsrecht von Nichterwerbstätigen; RL 90/365 – Aufenthaltsrecht von Rentnern; RL 90/365 – Aufenthaltsrecht von Studenten wurde vom EuGH wg falscher Wahl der Kompetenzgrdl für nichtig erklärt (EuGH, Slg 1992, I-4193 ff – Parlament/Rat) und neu erlassen als RL 93/96; die Rechtsakte über den Aufenthalt wurden später zu einer Richtlinie zusammengefasst, s RL 2004/38 – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. 24 BGBl II 1992, 1245, 1253; am Anf stand eine Initiative Spaniens, s Ratsdok SN 3940/90 v 24.9.1990, dazu Solbes Mira RMC 1991, 168 ff; Dokumente zur Vorgeschichte bei Laursen/ Vanhoonacker (Hrsg) The Intergovernmental Conference on Political Union, 1992; s a Closa CMLRev 29 (1992), 1137, 1153 ff. 25 BGBl II 1998, 385, 387. 26 Wenn auch geringfügig, s Art 39 bis 46 GRCh.

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Schutz (Art 23 AEUV, 46 GRCh) sowie das Petitions- und Auskunftsrecht (Art 24, 227, 228 AEUV, 43 f GRCh). Der Vertrag von Amsterdam fügte außerhalb des Kataloges noch das Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art 15 III AEUV, 42 GRCh), die Grundrechte-Charta das von der EuGH-Rechtsprechung entwickelte „Recht auf eine gute Verwaltung“ hinzu (Art 41 GRCh). Das volle Bild wird allerdings erst mit Blick auf den Zusammenhang sichtbar, in dem die Artikel über die Unionsbürgerschaft stehen. Nach Art 20 II AEUV haben die Unionsbürger „die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten“. Die europäischen Bürgerrechte werden also durch die Art 21 bis 24 AEUV nicht abschließend beschrieben, sondern ergeben sich aus allen zwischen der Union und den Einzelnen auf der Grundlage der Verträge entstandenen Rechtsbeziehungen.27 Der Europäische Rat hatte bereits 1990 in Rom betont, dass die europäische Bürgerschaft soziale und wirtschaftliche ebenso wie staatsbürgerliche Rechte umfassen müsse.28 Daher gehören nicht nur die Grundfreiheiten, sondern auch die Grundrechte und das allgemeine Diskriminierungsverbot dazu, unabhängig davon, ob sie durch die Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten vermittelt werden oder nicht.29 Aber auch die sekundärrechtlich vermittelten Rechte und das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz gestalten den Unionsbürgerstatus weiter aus.30 Er setzt sich also aus sehr vielen vertraglich oder sekundärrechtlich garantierten und durch die Rechtsprechung entwickelten Rechten zusammen. Die besondere Bedeutung der Art 20 ff AEUV liegt darin, dass in ihnen mit dem Aufenthaltsrecht (Art 21 AEUV), dem Wahlrecht (Art 22 AEUV) sowie dem Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 23 AEUV) Rechte nichtwirtschaftlicher Art aufgeführt sind, die auf staatlicher Ebene im Allgemeinen nur Staatsbürgern zustehen. Die Bestimmungen zur Unionsbürgerschaft, die sich im zweiten Teil des AEU-Vertrages finden, geben also lediglich den Rahmen eines umfassend angelegten Systems von Rechten vor. Dass dies im AEU-Vertrag und nicht, wie bei den Grundrechten, im Unionsvertrag (Art 6 EUV) geschehen ist, hatte den Sinn die mit ihr verbundenen Rechte der Zuständigkeit des EuGH zu unterwerfen, die sich zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Maastrichter Vertrages noch nicht auf die Materien der sog zweiten und dritten Säule erstreckte (anders heute Art 46 EUV). Die Unionsbürgerschaft kann keine intergouvernementale Angelegenheit sein. Ihre hervorgehobene Stellung im AEU-Vertrag, ihre Bedeutung für die Identität der Union und ihre auf Stärkung der subjektiven Rechte gerichtete Zielsetzung sprechen dafür, dass die in den Art 21 bis 24 AEUV (Art 39 bis 46 GRCh) niedergelegten Rechte auch unmittelbar wirksam sein sollen.31 Allerdings enthalten einige dieser Bestimmungen Vorbehalte (Art 21 I, 22 II 2 AEUV), erteilen dem Rat Rechtsetzungsbefugnisse (Art 21 II, 22 I 2, II 2 AEUV) oder sehen weitere Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten vor

27 Haag in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 17 EGV Rn 10. 28 Bull EG, Beil 2/91. 29 Kommission Dritter Bericht über die Unionsbürgerschaft v 7.9.2001, KOM 2001 (506) endg, 2 f, 23 ff; dass Unionsbürgerrechte nicht den Staatsangeh der Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben müssen, macht der EuGH in Slg 2006, I-7917, Rn 76 – Spanien/Vereinigtes Königreich in Bez auf das Wahlrecht zum Europäischen Parlament in Gibraltar deutl. 30 Everling ZfRV 1992, 241, 243 ff, 251 ff; Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 16 Rn 6. 31 So schon Schlussanträge GA La Pergola, EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 20 – Martínez Sala.

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(Art 23 S 2 AEUV), so dass geklärt werden muss, ob sie auch inhaltlich unbedingt gewährt worden sind. Die Antwort hängt letztlich von einer Auslegung der einzelnen Gewährleistungen ab.32 Juristische Personen können als solche zwar nicht Träger der Unionsbürgerrechte sein, ebenso wenig wie dies bei staatsbürgerlichen Rechten möglich ist. Einzelne Rechte können aber auf juristische Personen des Privatrechts entsprechend angewendet werden, soweit sie dazu geeignet sind.33 So werden sie beim Petitions- und Auskunftsrecht ausdrücklich genannt (Art 15 III, 22 iVm 227, 228 I AEUV, 42 bis 44 GRCh). Auch das Recht auf konsularischen und diplomatischen Schutz (Art 23 AEUV, 46 GRCh) steht angesichts der dahingehenden völkerrechtlichen Praxis ohne weiteres juristischen Personen des Privatrechts zu.34 Die Unionsbürgerschaft ist also umfassend und zukunftsoffen angelegt.35 Sie ist beweglich und Wandlungen unterworfen, so wie die Integration selbst. Dennoch hat sie einen festen Kern. Wie Art 9 EUV zu entnehmen ist, ist die Gleichheit der Unionsbürger ein ihr wesentlicher Grundsatz. Eine verstärkte Zusammenarbeit, wie sie Art 329 I AEUV auch auf diesem Feld ermöglicht, verträgt sich hiermit an sich nicht. Sie muss zu Diskriminierungen führen, die hierzu in Widerspruch stehen (vgl Art 326 I 2 AEUV).36

III. Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft 17

Art 20 I AEUV verwendet drei verschiedene Begriffe, die die Stellung des Einzelnen gegenüber dem ihm übergeordneten Gemeinwesen kennzeichnen sollen. Nach Art 20 I 2 AEUV ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Die Unionsbürgerschaft soll die Staatsbürgerschaft ergänzen, aber nicht ersetzen (Art 20 I 3 AEUV). Wie verhalten sich nun Unionsbürgerschaft, Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft zueinander?

1. Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft 18

Die Begriffe „Staatsangehörigkeit“ und „Staatsbürgerschaft“ hängen zusammen, haben aber einen unterschiedlichen rechtlichen Gehalt.37

32 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 20 AEUV Rn 12. 33 Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 20 AEUV Rn 11; Giegerich in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, ER, § 9 Rn 29 f. 34 Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 23 AEUV Rn 4; Szczekalla EuR, 1999, 325 f; dag Monar/Bieber Die Unionsbürgerschaft, 1995, S 36. 35 Über die Entw hat die Kommission gem Art 25 AEUV alle drei Jahre zu berichten; s Erster Bericht, KOM (93) 702 endg (1993); Zweiter Bericht, KOM (97) 230 endg (1994–96), Dritter Bericht (Fn 29) (1997–2000), Vierter Bericht, KOM (2004) 695 endg (2001–04), Fünfter Bericht, KOM (2008) 85 endg (2004–07), Sechster Bericht, KOM (2010) 603 endg (2007–10) und Siebter Bericht über die Unionsbürgerschaft, KOM (2013) 270 endg (2011–2013). 36 Nach BVerfGE 123, 267, 376 – Lissabon = JK 2009, GG Art 38 I/18 ist das Verbot von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit „eine zentrale Idee des europäischen Integrationsverbandes seit seiner Gründung“. 37 Die engl/frz Begriffspaare citizenship/nationality bzw citoyenneté/nationalité entspr dem nicht ganz, aber weitgeh, s Gosewinkel Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), 533, 544 f.

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Die Staatsangehörigkeit wird als ein Rechtsverhältnis beschrieben, das ein Individuum der Personalhoheit eines Staates unterstellt. Ebenso gut lässt sie sich als Eigenschaft oder Status einer Person bezeichnen.38 Ein Unterschied in der Sache ergibt sich hieraus nicht. Entscheidend ist, dass der Begriff der Staatsangehörigkeit die formale rechtliche Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Staatswesen bezeichnet. Er hat eine völkerrechtliche und eine staatsrechtliche Bedeutung. In völkerrechtlicher Hinsicht sind Staatsangehörige die Personen, denen ein Staat ungeachtet ihres Aufenthaltsortes Rechte verleihen und Pflichten auferlegen darf. Darüber hinaus begründet die Staatsangehörigkeit das Recht eines Staates zur Ausübung diplomatischen und konsularischen Schutzes im Ausland und die Pflicht zur Aufnahme im eigenen Territorium. Die Befugnis, die Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit zu regeln, steht als Ausdruck ihrer Souveränität den Staaten zu, unterliegt aber völkerrechtlichen Grenzen. So dürfen Regelungen über die Staatsangehörigkeit nicht ihrerseits die Personalhoheit anderer Staaten verletzen. Darüber hinaus dürfen andere Staaten der Begründung der Staatsangehörigkeit den daraus sich ergebenden Rechtsfolgen die Anerkennung versagen, wenn sie nicht effektiv ist, also lediglich de iure besteht.39 Dem rechtlichen Status der Staatsangehörigkeit muss also eine reale soziale Einbindung in ein Gemeinwesen entsprechen. Die Staatsangehörigkeit hat nach alldem die Funktion, Hoheitsbereiche zwischen den Staaten abzugrenzen und ein Ausschließlichkeitsverhältnis zwischen Staat und Individuum kenntlich zu machen. Die staatsrechtliche Bedeutung der Staatsangehörigkeit variiert nach der jeweiligen Verfassung. Mit spezifischen Rechten und Pflichten ist sie aus sich heraus nicht verbunden.40 Zwar knüpft das Grundgesetz eine ganze Reihe von Rechten und Pflichten an die deutsche Staatsangehörigkeit. Diese ist aber jeweils nur eine von mehreren Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit etwa das Wahlrecht (Art 38 II GG, § 12 BWahlG) oder die (zurzeit suspendierte) Wehrpflicht (Art 12a GG, § 1 WPflG) entstehen können. Die Staatsbürgerschaft dagegen ist der Inbegriff der Rechte und Pflichten, die die Zugehörigkeit eines Menschen zu Staat und Gesellschaft ausmachen.41 Sie geht auf die Aufklärungsidee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zurück und impliziert freiheitliche, soziale und politische Rechte. Das Ausschließungskriterium ist der sog Aktivstatus, das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Seit jeher ist ein großer Teil der Bevölkerung aufgrund des Alters, Bildungsstandes oder Geschlechts, der sozialen Herkunft oder eben aufgrund der Staatsangehörigkeit von der politischen Mitwirkung ausgeschlossen. In den Gemeinwesen der Antike ebenso wie in der mittelalterlichen Stadt lassen sich die politischen Rechte als das Unterscheidungsmerkmal zwischen Bürgerschaft und minderen Formen der Zugehörigkeit ausmachen.42 Aufklärung und französische 38 Zum Streit zw Status- und Rechtsverhältnistheorie vermittelnd Makarov Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, 2. Aufl 1962, S 21 ff. 39 ICJ Reports 1955, 4, 23 – Liechtenstein/Guatemala (Nottebohm); s a EuGH, Slg 1980, 3881, Rn 10 – Kommission/Belgien: Staatsangehörigkeit als „Verhältnis besonderer Verbundenheit … zum Staat“ bei „Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten“. 40 Vgl Wengler FS Schätzel, 1960, S 545, 546; Grawert Der Staat 23 (1984), 178, 183; Walter VVDStRL 72 (2013), 7, 11 ff. 41 Grawert Der Staat 23 (1984), 182 ff, 197 ff; Preuß ELJ 1 (1995), 267, 269 ff. 42 Eder in: Molho/Raaflaub/Emlen (Hrsg) City-States in Classical Antiquity and Medieval Italy, 1991, S 169 ff; Isenmann Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250–1500, 1988, S 93 ff; Kroeschell/Cordes Hdwb dt RGesch I, 2. Aufl 2008, Sp 738, 741 f.

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Revolution haben daran nichts geändert.43 Die Bedeutung sozialer Rechte für die rein tatsächliche Möglichkeit der freien Entfaltung des Menschen wird demgegenüber erst im Rückblick auf das beginnende Industriezeitalter deutlich, das neue Probleme sozialer Ungleichheit mit sich brachte. Vor diesem Hintergrund werden außer den politischen auch die sozialen Rechte als essentieller Bestandteil der Staatsbürgerschaft angesehen.44 Nur wer alle Freiheits-, sozialen und politischen Rechte besitzt, ist Staatsbürger. Der Zusammenhang zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft besteht darin, dass der volle Bürgerstatus für Staatsangehörige reserviert bleibt.45 Im 19. Jh war dies deutlicher erkennbar als heute. In Deutschland waren seit dem Vormärz selbst die Freiheitsrechte an die Staatsangehörigkeit gebunden.46 Vergleichbares gilt für die soziale Fürsorge.47 In zunehmendem Maße lösten sich indes nicht nur die Freiheitsrechte, sondern auch die Teilhabe am System sozialer Sicherungen dem Grunde nach von der Staatsangehörigkeit und wurden vom Ort des Wohnsitzes oder Aufenthaltes abhängig.48 Die Ausnahme bilden die politischen Rechte. Dass sie auch nach dem Grundgesetz das entscheidende Element der Staatsbürgerschaft bilden, zeigen Art 33 III GG, der zwischen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechten unterscheidet, und Art 33 I GG, der allen Deutschen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten zuschreibt. In dieser Tradition steht auch das BVerfG, wenn es davon ausgeht, dass das Volk, von dem die Staatsgewalt ausgehen muss (Art 20 II GG), das deutsche Volk sei, das sich aus den deutschen Staatsangehörigen zusammensetzt.49 Der rechtliche Begriff der Unionsbürgerschaft ist mit der Staatsangehörigkeit weder vergleichbar, noch soll er es sein.50 Vielmehr orientiert er sich bewusst an der Idee der Staatsbürgerschaft. Dadurch soll angezeigt werden, dass die Unionsbürgerschaft im Gegensatz zur Staatsangehörigkeit keine Personalhoheit begründet, sondern dass die Union den Einzelnen als Träger von Rechten und Pflichten (Art 20 II AEUV) versteht. Die politischen Teilhaberechte gegenüber der Union (Art 22 II, 24 AEUV) begründen eine Rechtsposition, die dem staatsbürgerlichen Aktivstatus ähnelt. Wie weit diese Parallele letztlich trägt, muss die Betrachtung der einzelnen Rechte zeigen (dazu u IV.).

43 Brubaker Citizenship and Nationhood in France and Germany, 1992, S 21 ff; Magnette La citoyenneté: Une histoire de l’idée de participation civique, 2001. 44 Marshall Citizenship and Social Class, 1949, hier nach: ders Bürgerrechte und soziale Klassen, 1992, S 33 ff; Dahrendorf in: van Steenbergen (Hrsg) The Condition of Citizenship, 1994, S 10, 13. 45 Vgl Gärditz VVDStRL 72 (2013), 49, 53 ff. 46 Oestreich Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, 2. Aufl 1978, S 81 ff; Grawert Staat und Staatsangehörigkeit, 1973, S 195 f; noch heute stehen die Grundrechte der Art 8, Art 9 I, Art 11 und Art 12 I GG nur Deutschen zu; Art 16 EMRK gestattet eine Privilegierung der eigenen Staatsangehörigen im Hinblick auf die politische Betätigung. 47 Fahrmeir The Historical Journal 40 (1997), 721, 726 ff. 48 Noiriel Le creuset français, 1988, 110 ff; Hollifield Immigrants, Markets and States, 1992, 223 ff. 49 BVerfGE 83, 37, 59; s a BVerfGE 107, 59, 87 = JK 2003, GG Art 20 II/3 (Staatsvolk als „Gesamtheit der Bürger“). 50 Vgl BVerfGE 123, 267, 404 ff – Lissabon = JK 2009, GG Art 38 I/18.

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2. Staatsangehörigkeit als Voraussetzung der Unionsbürgerschaft Fall 1: (EuGH, Slg 1992, I-4239 ff – Micheletti) M wurde in Argentinien als Sohn italienischer Eltern geboren und besitzt sowohl die italienische als auch die argentinische Staatsangehörigkeit. Nach erfolgreichem Studium der Zahnmedizin in seinem Geburtsland will er sich in Spanien als Zahnarzt niederlassen und legt zu diesem Zweck seinen italienischen Pass vor. Das Diplom wurde auf der Grundlage eines spanisch-argentinischen Abkommens anerkannt. Die spanischen Behörden verweigern jedoch die Niederlassung unter Hinweis auf Art 9 des Código Civil. Danach kommt in Fällen doppelter Staatsangehörigkeit, wenn keine der beiden Staatsangehörigkeiten die spanische ist, derjenigen der Vorrang zu, die dem gewöhnlichen Aufenthalt des Betroffenen vor seiner Einreise nach Spanien entspricht, also im Falle des M der argentinischen Staatsangehörigkeit. M beschreitet den Rechtsweg. Das zuständige Tribunal Superior de Justicia de Cantabria legt dem EuGH die Frage zur Entscheidung vor, ob mit den Bestimmungen der Verträge, welche auf die Staatsangehörigkeit verweisen, Vorschriften des nationalen Rechts in Einklang stehen, die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten unionsrechtlich verliehene Rechte nur deshalb vorenthalten, weil sie außerdem die Staatsangehörigkeit eines Drittstaates besitzen, in dem sie sich bisher aufgehalten haben.

Art 20 I 2 AEUV erklärt jeden zum Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Begriffe, die in den Verträgen verwendet werden, sind in der Regel in ihrer spezifisch unionsrechtlichen Bedeutung, also autonom auszulegen. Dies kann selbst dann gelten, wenn ein Rechtsbegriff auf innerstaatliche Regelungszuständigkeiten verweist, wie dies beim Begriff der „öffentlichen Ordnung“ im Sinne der Art 36, 45 III, 52, 65 I lit b AEUV der Fall ist. Demnach könnte auch Art 20 I 2 AEUV ein speziell unionsrechtlicher Begriff der Staatsangehörigkeit zugrunde liegen, der vor dem Hintergrund der effektiven Wahrnehmung der Unionsbürgerrechte, insbesondere aber der Grundfreiheiten auszulegen wäre. Gegen diese Lesart spricht aber der historische und systematische Zusammenhang, in dem Art 20 I 2 AEUV steht. Bereits vor Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages hatten einige Mitgliedstaaten die ausschließliche Befugnis zur Regelung des Staatsangehörigkeitsrechts für sich reklamiert. Die Bundesrepublik hat aus Anlass des Abschlusses der Römischen Verträge erklärt, dass auch für die Zwecke des Europarechts der Deutschen-Begriff des Art 116 GG gelte.51 Eine Besonderheit gilt auch für Großbritannien, das zwischen Staatsangehörigkeit im engeren Sinne und Zugehörigkeit zum Commonwealth unterscheidet. In einer einseitigen Erklärung anlässlich des Beitritts zur EG 1972 hat Großbritannien den Begriff des britischen Staatsbürgers für die Zwecke des Unionsrechts anders definiert als für den innerstaatlichen Bereich und im Völkerrechtsverkehr. Danach ist nun Unionsbürger, wer britischer Bürger ist, ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich besitzt oder die Staatsbürgerschaft aufgrund einer Verbindung zu Gibraltar erworben hat.52 Anders als es Art 20 I 2 AEUV nahelegt, sind somit nicht alle Staatsangehörigen auch Unionsbürger; die Norm ist gedanklich dahin zu ergänzen, dass die Staatsangehörigkeit für die Zwecke des Unionsrechts erforderlich ist. 51 BGBl II 1957, 753, 764. 52 ABl 1972 Nr L 73/196; 1973 Nr C 64/10; 1983 Nr C 23/1; die Erkl steht mit dem Unionsrecht in Einklang, s EuGH, Slg 2001, I-1237 ff – Kaur; Slg 2006, I-7917, Rn 74 ff – Spanien/Vereinigtes Königreich.

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In der „Erklärung zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates“, die der Schlussakte des Maastrichter Vertrages beigefügt wurde, wurde später ausdrücklich festgestellt, dass überall dort, wo der EG-Vertrag die Staatsangehörigkeit ansprach, allein das innerstaatliche Recht maßgeblich sein sollte; die Erklärung gilt für EU- und AEU-Vertrag fort.53 Daher sind nur die Mitgliedstaaten für die Regelung der Voraussetzungen und des Verlustes der Staatsangehörigkeit zuständig.54 Alle Bestimmungen des nationalen Staatsangehörigkeitsrechts definieren zugleich den Kreis der Unionsbürger. Diese Zuständigkeitsverteilung hat zur Folge, dass die Unionsbürgerschaft in manchen Staaten leichter erworben werden kann als in anderen. Sie kann insbesondere dann misslich sein, wenn dadurch zwischen den Mitgliedstaaten ungleiche Pflichten entstehen.55 Die einzelnen staatlichen Modelle und die Praxis der Einbürgerung sind sehr unterschiedlich. Forderungen insbesondere des Europäischen Parlaments, gewisse Bedingungen für den Erwerb oder Verlust der Staatsangehörigkeit zu harmonisieren,56 haben jedoch auf absehbare Zeit politisch keine Erfolgsaussichten. Der Verzicht auf die Befugnis zur autonomen Definition der Staatsangehörigkeit würde die Qualität der Staaten und den Status der Union entscheidend verändern. Allerdings unterliegen die Mitgliedstaaten auch in diesem Bereich unionsrechtlichen Grenzen. Sie ergeben sich zum einen aus der Unionstreuepflicht (Art 4 III EUV), die es verbietet, die Einbürgerung so zu erleichtern, dass eine gemeinschaftliche Einwanderungspolitik (s Art 79 AEUV) praktisch unmöglich oder wesentlich erschwert wird.57 Zum anderen gilt auch für den Entzug der Staatsangehörigkeit das Gebot der Verhältnismäßigkeit, so dass dem Betroffenen Gelegenheit gegeben werden muss, sich um die Wiedereinbürgerung in dem Mitgliedstaat zu bemühen, dessen Staatsangehörigkeit er verloren hat.58 Staatsangehörigkeit und Unionsbürgerschaft sind also nach Art 20 I 2 AEUV untrennbar. Drittstaatsangehörige oder Staatenlose können die Unionsbürgerschaft nicht selbstständig erwerben.59 So wird die philosophische Idee, dass Bürger eines Gemeinwesens diejenigen sind, die unter einer gemeinsamen politischen und rechtlichen Ordnung leben wollen,60 53 Schlussakte zum Vertrag von Maastricht Teil III, 2. Erklärung, Sartorius II Nr 155; s a Schlussfolgerungen des Rates von Edinburgh, Bull EG 12/92, S 26 ff; beide sind „als Instrumente zur Auslegung … heranzuziehen“, s EuGH, Slg 2010, I-1449, Rn 40 – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1. 54 So EuGH, Slg 1992, I-4239, Rn 10, 14 – Micheletti; dazu Jessurun d’Oliveira 30 CMLRev (1993), 623 ff; Ruzié 97 RGDIP (1993), 107 ff; bestätigt in EuGH, Slg 2010, I-1449, Rn 40 ff – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1. 55 Zum Fall eines spanisch/argentinischen Doppelstaaters, der sich in Italien niederlassen will, de Groot FS Bleckmann, 1993, S 87, 94 f. 56 Europäisches Parlament, Entschließung zur Unionsbürgerschaft, ABl 1991 Nr C 326/205; s a de Groot Staatsangehörigkeit im Wandel, 1989, S 23 ff; O’Leary YEL 12 (1992), 353, 383 f; Sauerwald Die Unionsbürgerschaft und das Staatsangehörigkeitsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 1996, S 120 ff, 156 ff; Schönberger in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 20 AEUV Rn 45 f. 57 Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 20 AEUV Rn 5. 58 EuGH, Slg 2010, I-1449, Rn 55 ff – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1; zu den Implikationen für den Unionsbürgerstatus eingehend Mouton RGDIP 114 (2010), 257, 271 ff. 59 Vgl Kommission, Dritter Bericht (Fn 29) S 8 Fn 4. 60 Vgl Meehan Citizenship and the European Community, 1993, 123 ff; Habermas Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S 166 f; Benhabib The Rights of Others, 2004, S 134 ff; Kochenov ICLQ 62 (2013), 97, 132.

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wohl nicht nicht zum Bestandteil des Konzeptes der Unionsbürgerschaft werden, mit allen Folgen, die dies für die staatliche Migrationspolitik hat.61 Auch kann niemand auf die Unionsbürgerschaft verzichten, ohne zugleich seine Staatsangehörigkeit aufzugeben, und auch die Rücknahme der Einbürgerung eines Unionsbürgers führt ohne weiteres zum Verlust der Unionsbürgerschaft, selbst wenn der Ausgebürgerte dadurch staatenlos wird.62 Lösung Fall 1: Das Vorabentscheidungsersuchen des spanischen Gerichts an den EuGH war als Auslegungsvorlage gem Art 267 lit a AEUV ohne weiteres zulässig. Nach Art 49 AEUV kann sich M auf die Niederlassungsfreiheit berufen, wenn er Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates ist. Nach den im Zusammenhang mit Art 20 I 2 AEUV abgegebenen Erklärungen ist hierfür nicht das Unionsrecht, sondern das nationale Recht maßgeblich. Somit besitzt M die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates, wenn er die italienische Staatsangehörigkeit wirksam erworben hat. Hieran gibt es keinen Zweifel, auch nicht aufgrund des Umstands, dass M nach dem Geburtslandprinzip auch die argentinische Staatsangehörigkeit erworben hat, so dass er beide Staatsangehörigkeiten besitzt. Indes könnte Spanien nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen berechtigt sein, die italienische Staatsangehörigkeit als nicht effektiv anzusehen. Nach dem Völkerrecht bedarf es zwischen Staat und Individuum einer genuinen, realen Verbindung, an der man im Verhältnis zwischen M und Italien womöglich zweifeln kann, da M nie in Italien gelebt hatte. Diese Regeln des Völkergewohnheitsrechts könnten jedoch durch den AEU-Vertrag als die speziellere und auf die Union beschränkte Rechtsordnung verdrängt worden sein. Die Protokollerklärung zum Vertrag von Maastricht, der zufolge es allein auf das mitgliedstaatliche Recht ankommen soll, bringt zum Ausdruck, dass die Unionsstaaten ihr Staatsangehörigkeitsrecht untereinander vorbehaltlos anerkennen. Daher durfte Spanien der italienischen Staatsangehörigkeit nicht entgegen italienischem Recht die Anerkennung versagen. Dies wäre nur dann möglich gewesen, wenn das italienische Recht eine geordnete Einwanderungspolitik unmöglich gemacht hätte. Hierfür lagen keine Anhaltspunkte vor. Spanien musste daher dem M die Niederlassung als Zahnarzt gestatten.63

Aus dieser Entscheidung ergibt sich für die Behandlung von Personen mit mehrfacher Staatsangehörigkeit eine Reihe von Konsequenzen.64 Ihre Leitlinien sind auf das deutsche Recht, das in Art 5 I EGBGB eine der spanischen vergleichbare Regelung kennt, übertragbar. Dass M auch in Deutschland die Niederlassung und alle an die Unionsbürgerschaft geknüpften Rechte nicht verwehrt werden dürften, bedarf keiner näheren Ausführungen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie Doppelstaatler zu behandeln sind, die die Angehörigkeit zweier Unionsstaaten besitzen. Da bei Vorliegen der Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaates alle Rechte des AEU-Vertrages entstehen, dürfen sie auch nicht als Inländer behandelt und wie diese etwa gegenüber Nutznießern der Grundfreiheiten

61 Thym EuR 2011, 487, 498 ff; allerdings stellt RL 2003/109 Drittstaatsangehörige mit langfristigem Aufenthaltsrecht Inländern im Hinblick auf Beschäftigung und soziale Sicherheit gleich und vermittelt einen Ausweisungsschutz, der weitgehend dem der Unionsbürger entspricht. 62 BayVGH, NVwZ 1999, 197 (Verzicht); EuGH, Slg 2010, I-1449, Rn 51 ff – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1 (Entzug), zu evtl Pflichten des Mitgliedstaates der ursprünglichen Staatsangehörigkeit ebd Rn 62. 63 Der Lsg wurde die akt Rechtslage zugrunde gelegt. 64 Vgl i Einz Zimmermann EuR 1995, 54, 64 ff.

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schlechter gestellt werden. Die sog Inländerdiskriminierung ist hier also, anders als sonst, nicht zugelassen, und zwar wohl auch dann nicht, wenn die andere EU-Staatsangehörigkeit nicht effektiv ist.65 Dies betrifft auch Deutsche, die die Staatsangehörigkeit eines anderen Unionsstaates erwerben, die deutsche dadurch aber, anders als bei Erwerb einer Drittstaatsangehörigkeit, wegen der Begünstigung von Unionsbürgern nach § 25 I 2 StAG nicht verlieren. Doppelstaatler, die die Staatsangehörigkeit eines Unionsstaates und eines Drittstaates besitzen, haben einen ähnlichen Status, soweit ihnen eine völkerrechtliche Vereinbarung der Union mit dem Drittstaat Rechte eröffnet, die den Grundfreiheiten entsprechen. Dies ist im Hinblick auf die Staaten des Europäischen Wirtschaftsraumes, die Schweiz und die Türkei der Fall.66 Auch wenn die Mitgliedstaaten bei der Regelung von Begründung und Entzug der Staatsangehörigkeit in Wahrnehmung eigener Kompetenzen handeln, zieht die Unionsbürgerschaft die Materie doch in den weiteren Anwendungsbereich des Unionsrechts, so dass die Mitgliedstaaten dessen Grenzen beachten müssen.67 Was die Verleihung der Staatsangehörigkeit angeht, so verletzt das Optionsmodell des § 29 StAG, dem zufolge in der Bundesrepublik aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern unter zeitweiliger Hinnahme mehrfacher Staatsangehörigkeit erleichtert einzubürgern sind, die Unionstreuepflicht nicht, da in diesen Fällen bereits eine hinreichend effektive Bindung an die Bundesrepublik besteht.68 Auf der anderen Seite ist ein Entzug grundsätzlich möglich, wenn es dafür einen legitimen Grund gibt, etwa wenn die Einbürgerung durch Täuschung erlangt wurde.69

3. Unionsbürgerschaft als Ergänzung der Staatsbürgerschaft 34

Die Unionsbürgerschaft ist von der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Union abhängig und soll im Rahmen der Union eine Funktion übernehmen, der in den Staaten die nationale Staatsbürgerschaft entspricht. Sie tritt zu dieser aber nicht in Konkurrenz, sondern ergänzt sie (Art 20 I 3 AEUV: „tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu“). Die Unionsbürgerschaft soll also eine „Bürgerschaft auf mehreren Ebenen“ begründen.70 Damit fragt sich, an wen sich die Rechte der Unionsbürger eigentlich richten.

65 Zum Vorliegen einer EU-Staatsangehörigkeit als wesentl Voraussetzung EuGH, Slg 1988, 5589 ff – Matteucci; Slg 2003, I-11613, Rn 28 – Garcia Avello; zu einem Fall mit frz/dtsch Staatsangeh Slg 1988, 1, Rn 11 ff – Gullung = JK 89, EWGV Art 52/1; zur Inländerdiskr noch bei Fn 72 f. 66 Vgl insb Art 28, 31 und 36 des EWR-Übk, Sartorius II Nr 310; zur Schweiz Art 3 des Abk über die Freizügigkeit, ABl 2002 Nr L 114/6; zur Türkei das Assoziationsabkommen BGBl II 1963, 453, 509; Zusatzprotokoll BGBl II 1972, 385; zur Privilegierung bes EuGH, Slg 1999, I-2685 ff – Sürül; Slg 2007, I-6495, Rn 62 ff – Derin. 67 Fn 57 f; s a EuGH, Slg 2010, I-1449, Rn 41, 45 – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1 mwN. 68 Zur verfassungsrechtl Seite Masing Wandel im Staatsangehörigkeitsrecht vor den Herausforderungen moderner Migration, 2001, S 40 ff. 69 EuGH, Slg 2010, I-1449, Rn 51 ff – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1 (Verschweigen eines Ermittlungsverfahrens im Herkunftsstaat). 70 Kommission Dritter Bericht (Fn 29) S 8; ein wesentl Merkmal der Unionsbürgerschaft ist also ihre „Zusätzlichkeit“, s Closa CMLRev 29 (1992), 1137 ff; O’Keefe in: ders/Twomey (Hrsg) Legal Issues of the Maastricht Treaty, 1994, S 87, 102 f; Parallelen zum Indigenat im Deutschland des 19. Jh sehen Hobe Der Staat 32 (1993), 245, 258 f; Schönberger Unionsbürger, 2005, S 301 ff.

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Erster Adressat ist die Union. Das Ziel, insoweit die Rechtsstellung des Einzelnen bewusster zu definieren, wird beim Europawahl-, Petitions-, Informations- und Aktenzugangsrecht (Art 22, 24, 15 AEUV) erkennbar. Im Verhältnis zur Union lässt sich die Unionsbürgerschaft daher ohne weiteres als Rechtsverhältnis oder Rechtsstatus bezeichnen.71 Darüber hinaus sind auch die Mitgliedstaaten Adressaten der meisten sich aus der Unionsbürgerschaft ergebenden Verpflichtungen. Dies gilt für die Freizügigkeit (Art 21 AEUV), das Kommunalwahlrecht (Art 22 I AEUV) sowie den diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 23 AEUV), aber auch das Wahlrecht zum Europäischen Parlament (Art 22 II AEUV) bedarf staatlicher Mitwirkung. Diese Rechte richten sich ihrem Wortlaut nach an Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit der Unionsbürger nicht besitzt, in denen er aber seinen Wohnsitz genommen hat oder noch begründen will. Darüber hinaus fragt sich, ob auch dem eigenen Staat aus der Unionsbürgerschaft Verpflichtungen erwachsen. Getreu seiner Rechtsprechung zur sog Inländerdiskriminierung hat es der EuGH bisher abgelehnt, die Unionsbürgerrechte auf die eigenen Staatsbürger zu erstrecken, solange sie nicht von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, und den Mitgliedstaaten gestattet, sie strengeren Regelungen zu unterwerfen.72 Die Frage stellt sich indes nur im Hinblick auf die Freizügigkeit und das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art 21 und 18 AEUV). Insoweit hat die jüngere Rspr die Doktrin von der Neutralität des Europarechts gegenüber der Inländerdiskriminierung dadurch abgemildert, dass sie neue Sachverhalte unter den Anwendungsbereich der Verträge (Art 18 AEUV) gezogen hat.73 Die übrigen Rechte sind dagegen nach Wortlaut und Sinn an andere als die Herkunftsstaaten (Art 22, 23 AEUV) bzw allein an die Union (Art 24, 15 AEUV) gerichtet. Dem viel diskutierten Urteil im Fall Ruiz Zambrano zufolge sollen den Adressaten der Unionsbürgerrechte allerdings generell Maßnahmen verwehrt sein, die „bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird“.74 So war Belgien daran gehindert, kolumbianischen Eltern von Kindern, die kraft des Territorialprinzips die belgische Staatsangehörigkeit und damit die Unionsbürgerschaft erworben hatten, das Aufenthaltsrecht zu verweigern, weil deren Ausweisung faktisch auch die Ausreise der noch minderjährigen Kinder aus der Union als Ganzes erzwungen hätte. Bestand also bisher der Kern des Unionsbürgerstatus in einem Diskriminierungsverbot aus Gründen des Gebrauchs der Freizügigkeit, schien sich hier nun die Vorstellung eines Mindeststandards von Rechten anzudeuten, der von einem Ortswechsel unabhängig ist.75 Die Folgerechtsprechung spricht in-

71 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 20 AEUV Rn 6; ähnl Kaufmann-Bühler in: Lenz/ Borchardt, EUV/AEUV, Art 20 AEUV Rn 1. 72 EuGH, Slg 1997, I-3171, Rn 23 – Uecker; Slg 2008, I-1683, Rn 33 ff – Gouvernement de la Communauté française; Slg 2008, I-6241, Rn 77 f – Metock m Anm Hammamoun/Neuwahl RTDE 2009, 91, 100 ff; dag Borchardt NJW 2000, 2057, 2059; Lach Umgekehrte Diskriminierungen im Gemeinschaftsrecht, 2008, S 338 ff. 73 Vgl Spaventa CMLRev 45 (2008), 13, 30 ff; Tryfonidou LIEI 35 (2008), 43 ff; Hanf Maastricht JEL 18 (2011), 29 ff; dazu noch u IV 4. 74 EuGH, Slg 2011, I-1177, Rn 42 – Ruiz Zambrano. 75 Krit Hailbronner/Thym NJW 2011, 2008 ff; Gärditz VVDStRL 72 (2013), 49, 144 ff; einen Paradigmenwechsel sehen Nettesheim JZ 2011, 1030 ff; Kochenov/Plender ELR 37 (2012), 369, 385 ff; speziell für das Ausländerrecht Huber NVwZ 2011, 856 ff; programmatisch mit Blick auf die Grundrechte v Bogdandy et al ZaöRV 72 (2012), 45 ff.

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dessen dafür, dass die Kernbestandsformel der Entscheidung Ruiz Zambrano nur die Begründung für eine pragmatische Lösung in eng begrenzten Ausnahmefällen bieten soll.76 Die Unionsbürgerschaft begründet somit jedenfalls zugleich einen besonderen, der Staatsbürgerschaft komplementären Status des Einzelnen gegenüber der Union und gegenüber den Mitgliedstaaten. Es soll nun beschrieben werden, worin dieser Status besteht. Dabei bleiben, anders als in den Berichten der Kommisison über den Stand der Unionsbürgerschaft (Art 25 I AEUV) gelegentlich der Fall, subjektive Rechte außer Betracht, die das europäische Sekundärrecht gewährt, aber mit diesem Status nicht unmittelbar verbunden sind.77

IV. Die Unionsbürgerrechte 1. Freizügigkeit a) Rechtliche Tragweite 38

Das Recht der Unionsbürger nach Art 21 AEUV, sich auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ist für den Status der Unionsbürgerschaft zentral, da es für alle anderen Rechte die Voraussetzung bildet.78 Die Bedeutung liegt in einer Erweiterung individueller Rechte mit wirtschaftlicher Zwecksetzung auf eine allgemeine, keiner Begründung bedürftigen und keinerlei Integrationsverpflichtungen der Berechtigten unterliegenden Bewegungsfreiheit in Europa.79 Die Grundfreiheiten sind gegenüber der Freizügigkeit die spezielleren Garantien, da sie über Art 21 AEUV hinaus auch ein Recht auf Teilnahme am Wirtschaftsverkehr gewähren.80 Demgegenüber tritt das Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV als allgemeinere Vorschrift hinter der Freizügigkeit zurück, kann sich aber, wie sich noch zeigen wird, in Verbindung mit ihr zu einem umfassenden Teilhabeanspruch verstärken (→ vgl hierzu auch § 13 Rn 14), ähnlich wie dies von den Grundrechten des Grundgesetzes her aus der Verbindung von Art 12 GG, der Menschenwürdegarantie und dem Sozialstaatsprinzip bekannt ist.81 76 Vgl EuGH, NVwZ 2013, 357, Rn 71 – Iida („ganz besondere Sachverhalte“); weiterhin wird idR die Nutzung der Unionsbürgerfreizügigkeit innerh der EU gefordert, um den Anwendungsbereich der Unionsbürgerrechte zu eröffnen. Für Ehegattennachzug und Familienzusammenführung ergeben sich also keine neuen Kriterien; s EuGH, Slg 2011, I-3375, Rn 50 ff – McCarthy; NVwZ 2012, 97, Rn 66 – Dereci = JK 2012, AEUV Art 20/2; NVwZ 2012, 1532, Rn 32 – Rahman; NVwZ 2013, 419, Rn 41 ff – O u S; Urt v 8.5.2013, Rs C-87/12, Rn 30 ff – Ymeraga; zur Begrenzung der Zambrano-Formel auch Adam/van Elsuwege ELR 37 (2012), 176 ff; die Inkohärenz dieser Rspr stellt Platon, RTDE 2012, 23 ff heraus; krit auch Boutayeb RUE 2013, 287 ff. 77 Sechster Bericht (Fn 35) S 5 ff; s ferner Kommission Report 2013 – EU citizens: your rights, your future, COM (2013) 269 final, S 6 ff; Systematisierungen unionsrechtlich gewährter Rechte bei Reich Bürgerrechte in der Europäischen Union, 1999; Nettesheim AöR 132 (2007), 333 ff; Goudappel The Effects of EU Citizenship, 2010; Zuleeg/Kadelbach in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, ER, § 8 Rn 16 ff. 78 Art 45 I GRCh hat dens Gewährleistungsgehalt; die Rspr bezieht sich jedoch nach wie vor auf Art 21 AEUV. 79 Vgl Bast Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, 2011, S 52 („Unionsbürgerschaft als Migrationssteuerungsabwehranspruch“); zu Beschränkungen des Aufenthalts von Roma aus Bulgarien und Rumänien in Frankreich Dawson/Muir CMLRev 48 (2011), 751 ff. 80 Vgl EuGH, Slg 1996, I-929, Rn 22 – Skanavi. 81 BVerwGE 115, 32, 37, vgl Jarass/Pieroth GG, Art 12 Rn 109 ff.

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Der Rechtsprechung des EuGH zufolge ist Art 21 AEUV unmittelbar anwendbar.82 Dagegen scheint zu sprechen, dass Art 21 AEUV das Freizügigkeitsrecht nur „vorbehaltlich“ in den Verträgen und im Sekundärrecht vorgesehener Beschränkungen und Bedingungen gewährt. Eine Bestimmung des Primärrechts muss zwar klar gefasst, darf an keine Bedingung geknüpft sein und keiner weiteren Umsetzungsakte bedürfen, wenn sie unmittelbar anwendbar sein soll.83 Der Wortlaut des Art 21 AEUV verleiht aber jedem „das Recht“ auf Freizügigkeit. Wenn Beschränkungen aus „diesem Vertrag“ folgen, lässt dies ohne weiteres den Schluss zu, dass auch das Recht selbst vertraglich zugesichert ist. Im systematischen Vergleich mit anderen Vorschriften ergibt sich ein Unterschied zu Art 22 AEUV, der im Gegensatz zu Art 21 II AEUV das Wahlrecht vorbehaltlich noch festzulegender Einzelheiten gewährt; nach Art 22 II AEUV „können“ hingegen Parlament und Rat Vorschriften erlassen, um weitere Erleichterungen einzuführen, müssen dies aber nicht, was ohne Direktwirkung nicht sinnvoll wäre. Deshalb waren in der Maastrichter Fassung für die Umsetzung der Rechte aus den heutigen Art 22 I und II sowie Art 23 (Art 8b I, II, Art 8c EGV) AEUV noch Fristen vorgesehen worden, für Art 21 AEUV dagegen nicht. Zudem spricht das Vertragsziel der Erweiterung der Bürgerrechte, das auch in dem Auftrag an den Rat, die Ausübung der Freizügigkeitsrechte zu erleichtern (Art 21 II AEUV), zum Ausdruck kommt, eher für als gegen eine unmittelbare Wirkung. Die schon seit Längerem bestehenden sekundärrechtlichen Rechte sind somit auf die Ebene des Primärrechts gehoben und zu einem Grundrecht geworden,84 dessen Ausübung allerdings im Sekundärrecht näher geregelt ist. Diese Regelungstechnik hat vor allem verfassungspolitische Motive. Inhaltlich deckt sich der Schutzbereich des Art 21 AEUV mit den schon vor In-Kraft-Treten des Maastrichter Vertrages 1993 bestehenden Regelungen, die der Sache nach auch weiterhin gelten. So besitzen Studierende, die an einem ausländischen Studienort zum Studium zugelassen wurden, auch so für die Dauer des Studiums ein Aufenthaltsrecht.85 Allerdings müssen die sekundärrechtlichen Regelungen ihrerseits im Lichte der Zwecksetzung des Art 21 AEUV ausgelegt werden, da dieser nun auf einer übergeordneten Stufe steht.

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b) Schutzbereich Das Grundrecht steht nur Unionsbürgern zu.86 Familienangehörige, die Angehörige dritter, nicht durch Abkommen der Union privilegierter Staaten sind, besitzen nach Maßgabe des Sekundärrechts ein Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht,87 können aber, wenn sie für

82 EuGH, Slg 2002, I-7091, Rn 84 – Baumbast; s a Pernice FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 177, 187; gg Direktwirkung noch Pechstein/Bunk EuGRZ 1997, 547 ff; iE ähnl Mather 11 ELJ (2005), 722, 727. 83 StRspr seit EuGH, Slg 1963, 3, 25 f – van Gend & Loos. 84 S a Art 45 I GRCh; eine Ansicht in der Lit sieht Art 21 AEUV als „Grundfreiheit ohne Markt“, s Kokott FS Tomuschat, 2006, S 207, 214 ff; Wollenschläger Grundfreiheit ohne Markt, 2007, S 355 ff; Calliess EuR Beih 1/2007, 7, 23 ff; ähnl wie hier Borgmann-Prebil 14 ELJ (2008), 328 ff. Zu der Rspr des EuGH, die zu dieser Einschätzung Anlass gegeben hat, s noch u Fn 105. 85 EuGH, Slg 1992, I-1027 ff – Raulin. 86 Ausnahmen können kraft Völkerrechts für staatliche Funktionsträger gelten, s EuGH, Rs C-364/10, Urt v 16.10.2012, Rn 40 ff – Ungarn/Slowakische Republik (Verweigerung der Einreise des Staatspräsidenten); dazu Cygan ICLQ 62 (2013), 492, 495 ff. 87 Art 45 II GRCh; konkretisiert v a durch RL 2003/109.

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den Unterhalt eines minderjährigen Kindes mit Unionsbürgerschaft aufkommen, aus dessen Aufenthaltsrecht unter Umständen ihrerseits ein solches Recht ableiten.88 Das Freizügigkeitsrecht richtet sich gegen die Mitgliedstaaten, wobei hier die Frage Bedeutung gewinnt, ob auch der eigene Staat Adressat von Ansprüchen der Unionsbürger werden kann.89 Sie ist von Interesse, wenn das nationale Recht die Bewegungsfreiheit von Inländern stärker beschränkt, als dies gegenüber Angehörigen anderer Mitgliedstaaten zulässig wäre.90 Inländer stehen gegenüber dem eigenen Staat nur unter dem Schutz der personenbezogenen Grundfreiheiten, wenn sie an der Ausreise in andere Mitgliedstaaten gehindert werden.91 Inlandsfälle ohne grenzüberschreitenden Bezug unterfallen diesen dagegen nicht.92 Es wäre ein Wertungswiderspruch, wenn Art 21 AEUV als die subsidiäre Gewährleistung mehr Schutz böte.93 Auch der Grundrechtsgehalt des Art 21 AEUV liefert insoweit keine neuen Anhaltspunkte. Von einem Grundrecht sollte zwar erst die Rede sein, wenn ein Recht allen Unionsbürgern im Anwendungsbereich der Verträge gleichermaßen zusteht; wie weit Inländer in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, ist indessen gerade die Frage. Der EuGH hat daher auch nach Einfügung des heutigen Art 21 AEUV in den seinerzeitigen EG-Vertrag an seiner Rechtsprechung festgehalten.94 Damit ergibt sich das Freizügigkeitsrecht vollständig erst in Zusammenschau mit dem nationalen Recht.95 Mitgliedstaaten dürfen aber die Freizügigkeit ihrer Staatsangehörigen insofern nicht beschränken, als diese die Staatsgrenzen innerhalb der Union überschreiten wollen.96 Der sachliche Schutzbereich umfasst somit die Ausreise aus dem einen und die Einreise in den anderen Mitgliedstaat, ferner dort Bewegung, Wohnsitznahme und Aufenthalt. Insoweit enthält Art 21 AEUV ein Beschränkungsverbot. Dieses Recht darf keinen sachlichen oder zeitlichen Begrenzungen unterworfen werden, zumal solchen nicht, denen Inländer nicht unterliegen. Auch in seinem Gehalt als Diskriminierungsverbot gewährt Art 21 AEUV ein Abwehrrecht. Identitätskontrollen nach nationalem Recht bleiben da-

88 EuGH, Slg 2004, I-9925 ff – Chen; Slg 2011, I-1177 ff – Ruiz Zambrano. 89 So schon Borchardt NJW 2000, 2057, 2059; s a Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 21 AEUV Rn 14; Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 21 AEUV Rn 9. 90 Vgl die Schranken in Art 11 II GG mit Art 45 III AEUV. 91 EuGH, Slg 1992, I-4265, Rn 19 – Singh. 92 Vgl EuGH, Slg 1979, 1129, Rn 11 – Saunders; Slg 1993, I-429, Rn 17 – Werner. 93 Die Kriterien, unter denen ein Mitgliedstaat ggü den eigenen Staatsangehörigen an die Freizügigkeit der Unionsbürger gebunden ist, sind daher die gleichen wie bei den Grundfreiheiten, s EuGH, Slg 2008, I-5157, Rn 21 ff – Jipa; Slg 2011, I-11659, Rn 28 ff – Aladzhov; Slg 2011, I-11637, Rn 32 ff – Gaydarov (alle Strafrecht); NVwZ 2013, 273, Rn 29 ff – Byankov (Ausreiseverbot wg nicht beglichener Schulden). 94 EuGH, Slg 1997, I-3171, Rn 23 – Uecker; s a Magiera in: Streinz, EUV/AEUV, Art 21 AEUV Rn 14. 95 Verfassungen, die die Freizügigkeit gewähren, behalten sie meist eig Staatsangehörigen vor, s bspw Art 11 I GG; Art 5 IV griech, Art 16 ital, Art 32 lit, Art 52 poln, Art 44 port, Art 7 f schwed, Art 32 slwn, Sec 19 span und Art 13 f zyp Verf; § 44 II der dän Verfassung macht einen Vorbehalt bzgl des Grunderwerbs durch Ausländer, der primärrechtl durch ein Protokoll gedeckt ist. § 9 finn und § 34 estn Verf stellen Staatsbürger und rechtmäßig im Inland lebende Ausländer gleich. In Belgien, Irland und den Niederlanden ist die innerstaatl Freizügigkeit nicht verfassungsrechtl verankert. 96 EuGH, Slg 2000, I-10409, Rn 34 f – Elsen.

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gegen erlaubt, damit festgestellt werden kann, ob einer Person das beanspruchte Recht zusteht.97 Die Vorlage der Aufenthaltserlaubnis darf verlangt werden, sofern auch für Inländer eine Pflicht besteht, sich auszuweisen.98 Darüber hinaus begründet das Freizügigkeitsrecht in Verbindung mit Art 18 AEUV einen weitgehenden Anspruch auf Inländerbehandlung, der auch zu einem derivativen Leistungsanspruch werden kann.99 Die Reichweite lässt sich schwer absehen. Im Schrifttum wird eine sachliche Begrenzung auf einen Zusammenhang mit dem Aufenthaltsrecht verlangt.100 Dem entsprechend dürfen EU-Ausländer etwa beim Erwerb von Grundbesitz nicht diskriminiert werden, unabhängig davon, ob es sich um eine Industrieanlage oder ein Ferienhaus handelt, sofern in den Gründungsverträgen oder Beitrittsakten nichts anderes bestimmt ist. Allerdings wird sich eine klare Grenze zwischen aufenthaltsbedingten und sonstigen Maßnahmen kaum ziehen lassen. Der Schutzbereich ist umfassend angelegt. Er wird nur durch Bedingungen eingegrenzt, auf die Art 21 AEUV verweist. Man kann von einem normgeprägten Grundrecht sprechen. Zu den tatbestandsimmanenten Grenzen gehört vor allem das sekundärrechtlich zulässige Erfordernis des Nachweises genügender Existenzmittel und eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes.101 Daraus folgt etwa, dass sich die Umstände, unter denen Angehörige anderer EU-Mitgliedstaaten ausgewiesen werden können, die keine Arbeit finden oder arbeitslos geworden sind, weiterhin aus dem Sekundärrecht und der hierzu ergangenen Rechtsprechung ergeben.102 Gleiches gilt etwa für mittellos gewordene Touristen. In beiden Fällen führt Art 21 AEUV nicht zu einer Erweiterung des Rechtsstatus. Die neue Regelung des Art 77 III AEUV, welcher der Union eine neue Gesetzgebungskompetenz für Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel und vergleichbare Papiere verschafft, begrenzt den Schutzbereich dagegen nicht; das auf ihrer Grundlage erlassene Recht bezieht sich allein auf Dokumente, trägt also in gewissem Umfang zur Ermöglichung der Freizügigkeit des Art 21 AEUV bei.

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c) Eingriffe und Schranken Gegenüber den personenbezogenen Grundfreiheiten bestehen im Hinblick auf die denkbaren Eingriffe keine Unterschiede. Sie können in Beschränkungen, insbesondere aufenthaltsregelnden oder -beendenden Maßnahmen liegen, aber auch in Ungleichbehandlungen, die sich für Angehörige anderer Mitgliedstaaten oder für Inländer aufgrund eines Grenzübertritts ergeben. Aus der Parallelregelung in der Grundrechte-Charta ergibt sich nichts anderes (Art 45 I, 52 II GRCh).

97 EuGH, Slg 1999, I-6207 ff – Wijsenbeek; allerdings darf das Aufenthaltsrecht nicht allein deshalb verweigert werden, weil kein Ausweis vorgelegt werden kann, wenn die Feststellung der Identität auf andere Weise zweifelsfrei mögl ist, s EuGH, Slg 2005, I-1215 ff – Oulane = JK 2005, EGV Art 49/14. 98 EuGH, Slg 1998, I-2133 ff – Kommission/Deutschland. 99 Vgl EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 32 – Martínez Sala sowie dazu Rn 87 ff. 100 Dazu Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 21 AEUV Rn 7 ff. 101 S i Einz Art 7 RL 2004/38. 102 Zum Status der Arbeitssuchenden EuGH, Urt v 25.10.2012, C-367/11, Rn 32 ff – Prete; eingehend Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 108 ff.

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In die Aufenthalts- und Bewegungsfreiheit darf nur eingegriffen werden, wenn die Verträge oder das Sekundärrecht dies zulassen.103 Letzteres ist seinerseits im Lichte des Art 21 I AEUV auszulegen. So wird diese Garantie ebenso wie die Grundfreiheiten vor allem durch den Vorbehalt der öffentlichen Ordnung eingeschränkt, den Art 27 f RL 2004/38, umgesetzt durch §§ 6 f und 11 I FreizügG/EU, für alle Freizügigkeitsberechtigten gleichermaßen konkretisiert. Danach können zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit, etwa die Verurteilung wegen einer Straftat, zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen führen, doch gelten strenge Voraussetzungen. Wie bei den Grundfreiheiten ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Die Straftaten müssen also von gewisser Schwere sein und Grundwerte der betroffenen Gesellschaft berühren, und der Eingriff in die Freizügigkeit muss angemessen bleiben.104 Darüber hinaus können sich Schranken aus zwingenden Erfordernissen des Gemeinwohls ergeben, was zu einer dogmatischen Annäherung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts an die Grundfreiheiten führt.105

2. Politische Rechte und Kontrollrechte a) Wahlrecht aa) Gemeinsame Grundsätze 48

Durch Art 22 AEUV wird Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen (Art 22 I AEUV, 40 GRCh) und bei Wahlen zum Europäischen Parlament (Art 22 II AEUV, 39 GRCh) im Wohnsitzstaat zuerkannt.106 Ergänzend sind neue Formen 103 Zu den zeitl gebundenen Beschränkungen, die sich für Angehörige der 2004 und 2007 beigetretenen Staaten Mittel- und Osteuropas ergaben und sich auf die Freizügigkeit nach Art 21 AEUV zumindest indirekt auswirkten, Domaradzka Unionsbürger im Übergang, 2006, S 113 ff; Kommission Fünfter Bericht (Fn 35) S 6; mit dem 31.12.2013 endeten bzgl Bulgariens und Rumäniens die letzten Übergangsregelungen aus dieser Phase. Für Unionsbürger mit kroatischer Staatsangehörigkeit sind gleichfalls Übergangsfristen von bis zu sieben Jahren ab Beitritt zum 1.7.2013 vorgesehen (Anh V Ziff 2 Beitrittssakte, ABl 2012 Nr L 112/21); in Deutschland ist nicht geplant, hiervon Gebrauch zu machen. 104 Vgl den Fall einer italienischen Touristin, die wg Drogenbesitzes mit einem lebenslangem Verbot der Einreise nach Griechenland belegt wurde, EuGH, Slg 1999, I-11, Rn 15 ff – Calfa; die Urteilsbegr stützte sich noch allein auf die künftige Unmöglichkeit, von den Grundfreiheiten Gebrauch zu machen, ohne die Freizügigkeit der Unionsbürger zu erwähnen; zu Recht krit Becker EuR 1999, 522, 532; Reich ELJ 7 (2001), 3, 12; and Slg 2004, I-5257, Rn 66 ff – Orfanopoulos u Olivieri; Slg 2010, I-11979, Rn 50 ff – Tsakouridis; s zu Grenzen der Datenspeicherung aus Gründen der Kriminalprävention Slg 2008, I-9705, Rn 69 – Huber; zur neueren Rspr Azoulai/Coutts CMLRev 50 (2013), 553 ff. 105 EuGH, Slg 2006, I-6947, Rn 40 – De Cuyper = JK 2007, EGV Art 18/1 (Arbeitslosenunterstützung bei Auslandswohnsitz); Slg 2006, I-10451, Rn 35 ff – Tas-Hagen (Kriegsopferentschädigung); Slg 2008, I-39, Rn 26 ff – Kommission/Deutschland (Nichtgewähr der Eigenheimzulage für Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat); Slg 2009, I-3389 ff – Rüffler (steuerl Abzugsfähigkeit von Beiträgen zur Krankenversicherung im Herkunftsstaat); s a die Übersicht bei Epiney in: Bauer/Cruz Villalón/Iliopoulos-Strangas (Hrsg) Die neuen Europäer – Migration und Integration in Europa, 2009, S 115, 219 ff. 106 Die Vorgeschichte geht bis in das Jahr 1972 zurück, s Bieber EuGRZ 1978, 203, 204; zu einer europäischen „Wohnsitzbürgerschaft“ („citoyenneté de résidence“) Benlolo Carabot Rev Aff Eur 2011, 7 ff.

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der Bürgerbeteiligung eingeführt worden (Art 11 EUV), zu denen auch die Möglichkeit der Unionsbürger gehört, durch Bürgerbegehren eine Gesetzgebungsinitiative der Kommission zu lancieren. Das Quorum (mindestens eine Million Unionsbürger aus „einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten“) ist hoch, das Verfahren im Einzelnen ergibt sich aus konkretisierendem Sekundärrecht (Art 11 IV EUV, 24 I AEUV).107 Die beiden Wahlrechtsgarantien weisen unterschiedliche Bezüge zum Unionsrecht auf. Das Kommunalwahlrecht wird als eine Funktion des europäischen Freizügigkeitsrechts aufgefasst. Es soll Nachteile abbauen, die durch die Wahl eines Auslandswohnsitzes innerhalb der Union entstehen, und zielt auf Gleichbehandlung im Rahmen des auf staatlicher Ebene bereits bestehenden lokalen Wahlrechts, macht also mit Blick auf Art und Inhalt der Willensbildung selbst keine Vorgaben. Verfassungsrechtlich gesehen wird die enge Bindung der staatsbürgerlichen Rechte der Wahl und des Zugangs zu öffentlichen Ämtern (Art 28 I iVm Art 20 II GG, Art 33 II GG) zugunsten einer der Mitgliedschaft in der Union geöffneten Staatlichkeit (Art 23 I GG) in bestimmten Bereichen durchbrochen. Demgegenüber spiegelt das Europawahlrecht auf der subjektiven Seite die demokratische Dimension des institutionellen Rechts der Union wider. Es nimmt eine unionsweite, nicht nach Staatsangehörigkeit differenzierende Wählerschaft in den Blick und soll die gemeinsame politische Identität der Unionsbürgerschaft fördern. Dem versucht auch der Vertrag von Lissabon Rechnung zu tragen, dem zufolge sich das Europäische Parlament nicht mehr aus Vertretern der „Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ (Art 189 EGV), sondern der „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ zusammensetzen soll (Art 14 II EUV). Beide Wahlrechtsgarantien knüpfen am Wohnsitz an. Was unter „Wohnsitz“ zu verstehen ist und unter welchen Voraussetzungen er begründet wird, regeln die Mitgliedstaaten.108 Allerdings ist das Wohnsitzprinzip nicht streng zu verstehen. So muss auf Wunsch auch im Herkunftsstaat gewählt werden können; eine andere Auslegung des Art 22 AEUV stünde mit dem übergeordneten Ziel der Art 20 ff AEUV in Widerspruch, die Rechte der Unionsbürger zu erweitern.109 Das aktive und passive Wahlrecht bei Europawahlen darf allerdings insgesamt nur einmal ausgeübt werden; für das aktive Kommunalwahlrecht können die Mitgliedstaaten etwa für Personen mit mehreren Wohnsitzen entsprechende Regelungen erlassen.110 Soweit eine doppelte Stimmabgabe nicht zugelassen ist, haben die Mitgliedstaaten Vorkehrungen gegen Missbrauch zu treffen.111 Dagegen ist es möglich, in mehreren Mitgliedstaaten gleichzeitig bei Kommunalwahlen zu kandidieren. Zusätzlich können die Mitgliedstaaten weitere Voraussetzungen aufstellen, die mit dem Gleichheitssatz in Einklang stehen, dh entweder aufgrund der anderen Staats-

107 VO 211/2011; DVO 1179/2011; Umsetzungsgesetz BGBl 2012 I, 446; näher Castenholz FS Scheuing, 2011, S 39 ff. 108 Haag in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 19 EGV Rn 8; Degen DÖV 1993, 749, 756 stützt seine aA auf ein Urteil des EuGH zum – hiervon abweichenden – steuerrechtl Wohnsitzbegriff (Slg 1991, I-1943, Rn 28 – Ryborg zum „gewöhnlichen Wohnsitz“). 109 Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 22 AEUV Rn 2. 110 Art 4 RL 93/109 (im Folgenden „EuropawahlRL“); Art 3 RL 94/80 (im Folgenden „KommunalwahlRL“), geändert durch Anhang II 2 D zur Beitrittsakte, ABl 2003 Nr L 236/334 (erste Osterweiterung) und RL 2005/106, ABl 2006 Nr L 363/409 (Bulgarien und Rumänien); s a RL 2013/1, die die Mitgliedstaaten zwecks Verhinderung mehrfacher Stimmabgabe zu einem Informationsaustausch verpflichtet. 111 Art 11 und 13 EuropawahlRL; Art 10 KommunalwahlRL.

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angehörigkeit der Unionsbürger erforderlich sein oder gleichermaßen für die eigenen Staatsangehörigen gelten müssen. Daher kann von Unionsbürgern verlangt werden, sich in ein Wählerverzeichnis eintragen zu lassen.112 Die Eintragung darf aber jedenfalls dann nicht für jede Wahl erneut verlangt werden, wenn die eigenen Staatsangehörigen keine entsprechende Obliegenheit trifft. Darüber hinaus gelten naturgemäß für alle gleichermaßen bestehende Anforderungen an das Mindestalter, die Mindestwohndauer, die Meldepflicht usw fort. Wo eine Wahlpflicht besteht, wie etwa in Belgien, kann diese allen Unionsbürgern auferlegt werden; allerdings besteht dann keine Pflicht, sich in die Wählerverzeichnisse eintragen zu lassen.113 Das zu Art 22 AEUV erlassene Sekundärrecht ermächtigt die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen zu Ausnahmeregelungen, wenn deren besondere Schwierigkeiten dies rechtfertigen (Art 22 I 2, II 2 AEUV). Art 52 II GRCh stellt klar, dass diese Einschränkungen auch für die Parallelgarantien der Charta gelten. So dürfen Länder, deren wahlberechtigte Wohnbevölkerung zu mehr als 20 % aus Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten besteht, unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips deren Wahlrecht zugunsten ihrer Staatsangehörigen zeitweise einschränken.114 Über das Recht zu wählen und gewählt zu werden hinaus erfasst Art 22 AEUV die politischen Rechte, die mit dem Wahlrecht in Zusammenhang stehen. Der Wählerschaft muss daher ein Informationsrecht und ein Recht auf Teilnahme an den Wahlkampfveranstaltungen zustehen. Für die Kandidaten knüpfen sich an das passive Wahlrecht Annexrechte wie das Recht auf Teilnahme am Wahlkampf, das einen diskriminierungsfreien Zugang zu den in staatlicher Verantwortung stehenden Medien umfasst, sowie im Erfolgsfalle das Recht auf Ausübung des Mandats. Die europäische Grundrechte-Charta bestätigt außerdem in Art 11 das Recht der freien Meinungsäußerung und auf Information sowie in Art 12 das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. bb) Das Kommunalwahlrecht (Art 22 I AEUV, 40 GRCh)

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Jeder Unionsbürger hat am Ort seines Wohnsitzes außerhalb des Herkunftsstaates das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des Wohnsitzstaates. Unionsbürgern wird damit die Teilhabe an der internen politischen Willensbildung in den Mitgliedstaaten auf unterster Ebene zugebilligt. Die praktische Bedeutung dieser Regelung erschließt sich bei Betrachtung der Migrationszahlen zu Beginn der 90er Jahre, als diese Regelung vereinbart wurde. Damals hatten von den etwa 325 Mio Bürgern in der Europäischen Union 5 Mio ihren Wohnsitz außerhalb des Herkunftsstaates,115 Inzwischen hat sich diese Zahl auf über 8 Mio erhöht.116 Ein Wohnsitzwechsel über die Grenzen hinweg war früher meist mit dem Verlust des kommunalen Wahlrechts verbunden.117

112 Art 9 EuropawahlRL; Art 7 KommunalwahlRL. 113 Vgl Art 7 II KommunalwahlRL. 114 Vgl Art 14 I EuropawahlRL und 12 I KommunalwahlRL im Hinbl auf Luxemburg; dazu Silvestro RMC 1993, 612, 613. 115 Degen DÖV 1993, 749. 116 Kommission Bericht an das EP und den Rat über die Anwendung der RL 94/80 über das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen, KOM (2012) 99 endg S 6. 117 In Spanien und Frankreich behielten Bürger, die im Ausland lebten, das kommunale Wahlrecht, ebenso in Griechenland und Italien, doch war die persönl Anwesenheit bei der Stimmabgabe

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Für die Umsetzung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger musste das Grundgesetz geändert werden.118 Nach der Rechtsprechung des BVerfG und der herrschenden Lehre ist das Volk, das nach Art 28 I 2 GG auf kommunaler Ebene eine Vertretung haben muss, ebenso wie für die Zwecke des Art 20 II GG das deutsche Volk, so dass das Wahlrecht zu den gesetzgebenden Körperschaften an die deutsche Staatsangehörigkeit gebunden ist.119 Vorschlägen, das Wahlrecht der Unionsbürger auf regionale und nationale Parlamente zu erweitern, wären danach klare Grenzen gesetzt.120 Soweit es um die Wahlen zu den kommunalen Vertretungskörperschaften geht, gehört dieses Junktim zwischen Wahlvolk und Staatsangehörigkeit indessen nicht zum änderungsfesten Bestand des Grundgesetzes (Art 79 III GG),121 im Wesentlichen weil diese staatsrechtlich nicht der Legislative, sondern der Exekutive zugerechnet werden.122 Das Kommunalwahlrecht für Unionsbürger konnte so in Art 28 I 3 GG eine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage finden. Es verletzt daher auch nicht die Rechte deutscher Wähler.123 Einzelheiten sind in der Richtlinie zum Kommunalwahlrecht geregelt, ohne die Art 22 I AEUV nicht wirksam werden konnte.124 Ihre Umsetzung fällt in die Zuständigkeit der Länder.125 Die Kommunalwahlrichtlinie gestaltet den sachlichen Schutzbereich des Art 22 I AEUV aus. Kommunalwahlen sind nach Art 2 I lit b dieser Richtlinie die allgemeinen und unmittelbaren Wahlen, durch die die Mitglieder der Vertretungskörperschaft und der Leiter oder die Mitglieder des Exekutivorgans einer lokalen Gebietskörperschaft der Grundstufe bestimmt werden. Der Anhang zur Kommunalwahlrichtlinie bestimmt, dass unter lokalen Gebietskörperschaften in Deutschland die Gemeinde- und die Kreisebene zu verstehen ist, ferner die Stadt-, Gemeinde- oder Ortsbezirke bzw Ortschaften. Soweit Exekutivorgane wie der Landrat indirekt gewählt werden, sind die in das Wahlgremium gewählten Mit-

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notwendig. Andererseits hatten nur Dänemark, Irland, die Niederlande und Schweden unter näher festgelegten Voraussetzungen allen Ausländern das kommunale Wahlrecht gewährt, einige andere Mitgliedstaaten sahen dieses Recht auf der Basis der Gegenseitigkeit (so Spanien und Finnland) oder für Angehörige bestimmter anderer Staaten (so Großbritannien und Portugal) vor; zum aktuellen Stand der Umsetzung Kommission ebd S 9 ff. Zu den Verfassungsänderungen in Frankreich Kovar/Simon CDE 1993, 285, 304 ff; in Portugal Lopes Marinho in: Laursen/Vanhoonacker (Hrsg) The Ratification of the Maastricht Treaty, 1994, S 231 ff; in Spanien Fraile Ortiz El significado de la ciudadania europea, 2003, S 170 ff; i Ü zur Umsetzung in den Unionsstaaten Huber in: v Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Hrsg) Handbuch Ius Publicum Europaeum Bd II, 2008, § 26 Rn 43. BVerfGE 83, 37 (Ausländerwahlrecht in Schleswig-Holstein); 83, 60 (Hamburg); s insoweit auch Quaritsch DÖV 1983, 1 ff; Isensee FS Mikat, 1989, S 705 ff; Scholz FS Dürig, 1990, S 367 ff; aA Schmidt-Jortzig Kommunalrecht, 1982, S 39 f; Zuleeg in: ders (Hrsg) Ausländerrecht und Ausländerpolitik in Europa, 1987, S 153 ff; Bryde JZ 1989, 257 ff. Kommission EU Citizenship Report (Fn 77) S 22; s statt vieler Huber ZaöRV 68 (2008), 307, 323; Hillgruber/Gärditz JZ 2009, 872 ff; aA mit guten Gründen Walter VVDStRL 72 (2013) 7, 39 ff. Vgl BVerfGE 83, 37, 59; BVerfG, NVwZ 1998, 52 = JK 98, GG Art 3 I/26; ebenso Papier in: Magiera (Hrsg) Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, 1990, S 27 ff. Vgl BVerfGE 65, 283, 289. Vgl BVerfG, NVwZ 1998, 52 = JK 98, GG Art 3 I/26. Fn 110; dazu Fischer NVwZ 1995, 455 ff; Schrapper DVBl 1995, 1167 ff. Näher Barley Das Wahlrecht der Ausländer nach der Neuordnung des Art 28 I 3 GG, 1999, S 112 ff.

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glieder aus anderen Unionsstaaten wahlberechtigt.126 Besonderheiten gelten für die Stadtstaaten. Die Richtlinie gilt in Hamburg und Berlin für die Bezirke, in Bremen für die Stadtgemeinde Bremen.127 In Österreich sind die erfassten Körperschaften die Gemeinden sowie für die Stadt Wien die Bezirke. Besonderheiten gelten für das passive Wahlrecht. Für gewählte Kandidaten aus anderen Unionsstaaten verdrängt Art 22 I AEUV insoweit Art 45 IV AEUV, der es den Staaten gestattet, Schlüsselpositionen der öffentlichen Verwaltung allein mit eigenen Staatsangehörigen zu besetzen. Allerdings begrenzt die Kommunalwahlrichtlinie in dieser Hinsicht auch den Schutzbereich. So dürfen die Mitgliedstaaten die Position des unmittelbar gewählten Leiters des Exekutivorgans, dh des Landrats, (Ober-)Bürgermeisters oder seines Vertreters sowie der Mitglieder des leitenden kollegialen Exekutivorgans, also der Beigeordneten, ihren Staatsangehörigen vorbehalten. Frankreich, auf dessen Initiative diese Durchbrechung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zurückgeht, hat die Ermächtigung in seiner Verfassung genutzt, da die Kommunalwahlen dort auch über die Zusammensetzung des Senates entscheiden, der an der Ausübung der nationalen Souveränität teilhat.128 Auch einige deutsche Länder haben von dieser Befugnis Gebrauch gemacht.129 Im Hinblick auf die in Art 22 I 2 AEUV ausformulierte Beschränkung von Ausnahmen auf den Fall besonderer Probleme eines Mitgliedstaates scheint die Vereinbarkeit dieses Vorbehalts mit höherrangigem Unionsrecht zweifelhaft.130 Die Kommission sowie die deutsche und französische Rechtsprechung gehen jedoch von der primärrechtlichen Zulässigkeit dieser Bestimmung aus.131 Außerhalb des Schutzbereiches des Art 22 I AEUV liegen andere gemeindeverfassungsrechtlich mögliche Formen der politischen Willensbildung wie Abstimmungen, die sich nicht auf die Wahl von Personen, sondern die Entscheidung von Sachfragen richten, insbesondere also Bürgerbegehren und Bürgerentscheide.132 Der Wortlaut des Art 22 AEUV und der Kommunalwahlrichtlinie umfasst diese Beteiligungsformen jeweils nicht. Viele Länder lassen Unionsbürger zu Abstimmungen zu.133 Doch stellt sich die Frage, ob Art 28 I 3 GG, der lediglich von „Wahlen“ spricht, dies noch erlaubt. Die Homogenitätsklausel des Art 28 I 1 GG verlangt, dass die Grundprinzipien der verfassungsmäßigen Ordnung in Bund und Ländern einander entsprechen. Geht man daher von der Identität des Volksbegriffs in den Art 20 II und 28 I 2 GG aus, den die letztere Bestimmung lediglich räum-

126 Vgl § 39 iVm §§ 23, 10 bad-württ LKrO; § 51 bdbg LKrO. 127 Zu den Stadtstaaten Sieveking DÖV 1993, 449 ff; Barley (Fn 125) S 90 ff. 128 Vgl Art 88 III 2 iVm 24 und 3 frz Verf; dazu Benlolo Carabot Les fondements juridiques de la citoyenneté européenne, 2006, S 70 ff. 129 Vgl bspw § 38 bad-württ LKrO; Art 39 I bay GLKrWG; § 49 sächs GO. 130 Für unionsrechtswidrig halten diese Bestimmung Wollenschläger/Schraml BayVBl 1995, 385, 388; Hasselbach ZG 1997, 49, 56 ff; Pieroth/Schmülling DVBl 1998, 365, 367 f; dag Gundel DÖV 1999, 353, 358. 131 S die Vorschlagsbegr in KOM 1994, 38 endg, S 29; BayVerfGH, BayVBl 1997, 495; die wg Nichtvorlage an den EuGH auf Art 101 I 2 GG gestützte Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entsch angen, s BVerfG, NVwZ 1999, 293; nicht problematisiert vom frz Conseil constitutionnel, CC No 92–308 DC, Rec S 55 (Maastricht I), dtsch in EuGRZ 1993, 187 m Anm Walter ebd 183 ff. 132 Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 22 AEUV Rn 4. 133 Vgl zB Art 72 bad-württ Verf; §§ 30, 8 II, 8 b hess GO; §§ 17a rh-pf GO, 1 rh-pf KWG; §§ 26, 21 GO, 7 KWahlG NW; §§ 24 f, 16 sächs GO; §§ 25, 20 f sachs-anh GO.

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lich begrenzt, scheint Art 28 I 3 GG eine eng auszulegende Ausnahmeklausel zu sein, die, da sie Abstimmungen gerade nicht erwähnt, insoweit Unionsbürgern die Teilnahme versperrt.134 Zwingend ist diese Argumentation jedoch nicht. Art 28 I 3 GG ist im Zusammenhang mit Art 23 I GG zu sehen und öffnet den deutschen Staatsaufbau für die Zwecke der Unionsbürgerschaft. Der Homogenitätsgrundsatz wird damit für die Gemeinde- und Kreisebene ohnehin durchbrochen, so dass er insoweit keine Argumente zu liefern vermag. Darüber hinaus lassen die Eigenheiten der kommunalen Demokratie eine Erstreckung der Unionsbürgerrechte auf Abstimmungen ohne weiteres zu. Die Gemeindevertretungen gehören in der Gewaltenteilung nicht zur Legislative wie die Parlamente auf Bundes- und Länderebene. Wird deren Rechtsetzungstätigkeit durch Abstimmungen ersetzt, spricht nichts dagegen, wenn auch für diese Zwecke die jeweils ansässigen Unionsbürger gemeinsam mit dem dort wohnhaften Teil des deutschen Volkes das Subjekt der Legitimation bilden. Die Teilnahme der Unionsbürger an Abstimmungen ist daher nicht verfassungswidrig.135 Eingriff: Da Art 22 I AEUV ein Behinderungs- und ein Diskriminierungsverbot errichtet, wird in dieses Recht immer dann eingegriffen, wenn die Mitgliedstaaten Hindernisse für die Ausübung des Wahlrechts errichten oder Unionsbürger ungünstiger stellen als die eigenen Staatsangehörigen. Schranken: Eine Rechtfertigung für Eingriffe kann sich allein aus der Kommunalwahlrichtlinie ergeben. Folgt man der Ansicht, der zufolge der Vorbehalt der Richtlinie für die Besetzung kommunaler Spitzenämter durch eigene Staatsangehörige unionsrechtswidrig sei,136 so läge im Ausschluss aus der Union stammender Bewerber eine Verletzung des Art 22 I AEUV. Solange sich die Umsetzungsakte im Rahmen der Richtlinie halten, ist diese Verletzung der Europäischen Union zuzurechnen. Da mit dieser Frage die Feststellung der Nichtigkeit eines Rechtsaktes des Rates verbunden ist, kann sie nur durch den Europäischen Gerichtshof geklärt werden (Art 263, 267 lit b AEUV).

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cc) Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament (Art 22 II AEUV, 39 GRCh) Es ist eine natürliche Konsequenz der Einrichtung direkter Wahlen zum Europäischen Parlament, dass das aktive und passive Europawahlrecht an die Unionsbürgerschaft geknüpft ist. Bis zu deren Einführung gab es auf primärrechtlicher Ebene lediglich die unvollständige Verfahrensvorschrift des Art 138 EWGV (entspricht Art 223 I AEUV). Ein Wahlrecht zum Europäischen Parlament gibt es zwar schon seit dem Direktwahlakt von 1976,137 seine Ausgestaltung war und ist jedoch sehr weitgehend den Mitgliedstaaten überlassen. Zudem war es bis zum In-Kraft-Treten des Maastrichter Vertrages meist den Staatsange-

134 So der Bundesminister des Innern in einem Vermerk an die Länder v 30.1.1995, unv, zit bei Engelken NVwZ 1995, 432, 433 Fn 6; ferner Meyer-Teschendorf/Hofmann ZRP 1995, 290 ff; Kaufmann ZG 1998, 25, 31 f, 39; Scholz in: Maunz/Dürig (Hrsg) GG, Art 28 Rn 41 f. 135 So auch Engelken NVwZ 1995, 432 ff; Erichsen Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl 1997, S 84; Barley (Fn 125) S 73 ff; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 22 AEUV Rn 11; zum selben Ergebnis gelangt, wer das Staatsvolk als durch Art 28 I 3 GG „europäisiert“ ansieht, s etwa Hobe JZ 1994, 191, 193 und Engelken DÖV 1996, 737 ff, oder die Wohnsitznahme als Kriterium für die Mitgliedsch in der lokalen Legitimationsgemeinschaft betrachtet, s SchmidtJortzig Kommunalrecht, 1982, S 39 f; Zuleeg KritV 1987, 328. 136 Fn 130. 137 Entsch des Rates 76/787, ABl 1976 Nr L 278/1.

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hörigen vorbehalten, nicht weil das Europäische Parlament staatliche Gewalt ausübte, sondern weil es eine einheitliche Regelung des Wahlverfahrens nie gegeben hat. Schutzbereich: In personeller Hinsicht begünstigt Art 22 II AEUV seinem Wortlaut nach nur Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen. Der EuGH hat es den Mitgliedstaaten zugebilligt, den Kreis der Wahlberechtigten darüber hinaus auf Personen zu erweitern, die zu ihnen in einer hinreichend engen Verbindung stehen.138 Obwohl das Europawahlrecht einen unionsunmittelbaren Anspruch auf politische Teilhabe begründet, erfasst der Wortlaut des Art 22 II AEUV hingegen Bürger, die in ihrem eigenen Staat leben, nicht. Auch sie müssen jedoch ein subjektives öffentliches Recht auf Teilnahme an der Wahl besitzen, da es nicht in der Absicht des Art 22 II AEUV liegt, Bürger mit Auslandswohnsitz zu privilegieren.139 Zudem unterfallen die Wahlen zum Europäischen Parlament Art 3 1. ZP EMRK, der über Art 6 EUV zum Verfassungsrecht der Union gehört.140 Danach sind die Konventionsstaaten verpflichtet, freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, die die „freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten“. Der Schutzbereich des Art 22 II AEUV, der aus sich heraus nicht unmittelbar anwendbar ist, wird durch die Europawahlrichtlinie ausgestaltet, die in Deutschland durch Änderung des Europawahlgesetzes und der Europawahlordnung umgesetzt wurde.141 Zusammen mit dem Europawahlakt nebst innerstaatlichem Umsetzungsrecht stellt sie die Modalitäten für die Ausübung des Wahlrechts auf.142 Die Europawahlrichtlinie schafft auch weiterhin kein einheitliches Verfahren, sondern beschränkt sich auf die mit dem subjektiven Wahlrecht verbundenen Fragen wie das Antragsprinzip oder den Ausschluss mehrfacher Wahl und Kandidatur. Eingegriffen wird in dieses Recht, wenn Unionsbürger an der Wahl gehindert werden oder ihnen die Teilnahme durch Bedingungen unangemessen erschwert wird, die für Inländer nicht oder nicht in gleicher Schwere gelten. Schranken: Die Europawahlrichtlinie gestaltet das Wahlrecht nicht nur aus, sie ermächtigt die Mitgliedstaaten auch zu Einschränkungen. Dies gilt etwa für den Ausschluss vom Wahlrecht im Herkunftsland, der durch den Aufenthaltsstaat anzuerkennen ist. Durch die Wahlberechtigung im Wohnsitzstaat wird das Bild des „Volkes“ verändert. Die Italienerin, die in Deutschland lebt, gehört für die Zwecke des Europawahlrechts zum deutschen Volk und bestimmt die Besetzung der Sitze mit, die Deutschland im Europä-

138 EuGH, Slg 2006, I-7917, Rn 76 – Spanien/Großbritannien (Europawahlrecht in Gibraltar); dazu Bourgorgue-Larsen RTDE 43 (2007), 25 ff; Besselink CMLRev 45 (2008), 787 ff. 139 EuGH, Slg 2006, I-8055, Rn 57 – Eman u Sevinger; danach ist es aufgrund der Besonderheiten des Assoziationsrechts denkbar, Bewohner der überseeischen Gebiete iSd Art 355 II AEUV vom Europawahlrecht auszuschließen, doch müssen Ungleichbeh ggü den übrigen Wahlberechtigten obj gerechtf sein. Der EuGH leitet dies nicht aus Art 3 1. ZP EMRK, sondern aus dem ungeschriebenen allgem unionsrechtl Diskriminierungsverbot ab; s a Giegerich in: Schulze/Zuleeg/ Kadelbach, ER, § 9 Rn 88. 140 Sartorius II Nr 131; s EGMR, NJW 1999, 3107 – Matthews = JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2; dazu Winkler EuGRZ 2001, 18 ff. 141 Drittes G zur Änderung des EuropawahlG, BGBl I 1994, 405, 419 idF BGBl 2008 I, 394; Zweite VO zur Änderung der Europawahlordnung, BGBl I 1994, 525, 544. Das BVerfG (BVerfGE 129, 300 = JK 2012, GG Art 21/7) hat die 5 %-Sperrklausel des EuropawahlG für verfassungswidrig erklärt; ebenso die Neuregelung, die eine 3 %-Klausel vorsah, s BVerfG, NVwZ 2014, 439. 142 S Rn 48 ff.

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ischen Parlament zustehen (Art 14 II EUV). Diese zuweilen als befremdlich empfundene Konsequenz nähert das Prinzip nationaler Stimmkontingente der Mitgliedstaaten der Zielvorstellung einer europäischen Legitimationsgemeinschaft für die Bereiche an, in denen die Union zuständig ist.143 Die Bedeutung des Art 22 II AEUV und seiner Umsetzungsbestimmungen liegt jedoch in der subjektiven Komponente dieser Gewährleistung,144 die auf anderer Ebene Art 38 I GG entspricht. Beide Aktivbürgerrechte sind in ihrem Wert von den Kompetenzen der jeweiligen Parlamente abhängig. Daher sollten sie einander korrespondieren, denn die Unionsbürgerschaft muss um Partizipationsrechte in dem Maße ergänzt werden, in dem die Staatsbürger wegen der Kompetenzverluste nationaler Parlamente in ihren Mitgliedstaaten an Einfluss verloren haben. Der Wert des Wahlrechts der Unionsbürger ist also letztlich von den Befugnissen des Europäischen Parlaments abhängig.145 b) Petitionsrecht (Art 24 II, III iVm 227 bzw 228 AEUV, 43, 44 GRCh) Nach Art 24 II AEUV, 44 GRCh besitzt jeder Unionsbürger das Recht, gem Art 227 AEUV Petitionen an das Europäische Parlament zu richten. Seine Bedeutung für die Unionsbürgerschaft wird deutlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass das Petitionsrecht im Verfassungsstaat die Funktion einer Verbindung zwischen Bürger und Volksvertretung erfüllt. Es eröffnet neben dem Wahlrecht eine weitere, wenn auch letztlich marginale Chance auf aktive Teilnahme am politischen Geschehen und soll die Integration fördern.146 Zugleich bietet es die Gelegenheit, Interessen und Rechte außerhalb der Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahren zu verfolgen, naturgemäß ohne ein Recht auf einen Bescheid zu gewähren, der sich in der gewünschten Weise zur Sache einlässt.147 Je nachdem, wie sehr dieser Rechtsschutzaspekt betont wird, erkennen staatliche Verfassungen dieses Recht auch anderen Staatsangehörigen zu.148 Diesem Modell folgt auch Art 227 AEUV, dem gegenüber Art 24 II AEUV keine selbstständige Bedeutung besitzt, und der das Petitionsrecht nicht nur Unionsbürgern, sondern allen Personen mit Wohnort oder Sitz in einem Mitgliedstaat zugesteht. Während das Petitionsrecht zum Parlament eher politischen Charakter hat, steht beim Recht, sich an einen Bürgerbeauftragten zu wenden (Art 24 III, 228 AEUV, 43 GRCh), die Rechtsschutzfunktion im Vordergrund. Beide Verfahren schließen einander nicht aus. Der Bürgerbeauftragte hat die Aufgabe, behauptete Missstände in der Tätigkeit der in seinen 143 Gg die Gleichheit der Wahl nach dem GG verstößt dies nicht, vgl BVerfG, EuGRZ 1995, 566. 144 Vgl Kovar/Simon CDE 1993, 285, 307. Das erklärte Ziel, die Wahlbeteiligung zu steigern, wurde allerdings nicht erreicht. Das Interesse der Unionsbürger an der Europawahl ist v a in Deutschland und Frankreich, wo der größte Teil des berechtigten Personenkreises lebt, sehr gering. Die Wahlbeteiligung der nicht im Herkunftsland lebenden Wahlberechtigten ist niedrig, europaweit haben sich 11,6 % in die Wählerverzeichnisse eintragen lassen. Bei den Wahlen 2009 wurden 81 Kandidaten außerhalb ihres Herkunftsstaates aufgestellt, drei von ihnen wurden in das Europäische Parlament gewählt; Zahlen in Kommission, Bericht über die Wahl der Mitglieder des EP, KOM (2010) 605 endg. 145 Everling ZfRV 1992, 241, 255 f; Kadelbach in: Drexl (Hrsg) Europäische Demokratie, 1999, S 89, 107 f. 146 Vgl Bauer in: Dreier (Hrsg) GG, Art 17 Rn 19. 147 Zu den Anforderungen an die Begründung der Entscheidung, eine Petition als unzulässig abzulegen EuG, Slg 2011, II-279, Rn 28 f – Tegebauer. 148 So Art 17 GG, Art 28 belg, Art 10 griech, Art 27 lux, Art 5 niederl Verf.

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Zuständigkeitsbereich fallenden Stellen zu überprüfen. Damit bildet die Einrichtung des Bürgerbeauftragten, der Untersuchungen führt, Stellungnahmen einholt und Berichte vorlegt, eine Form der Verwaltungskontrolle, die die Transparenz des Verwaltungshandelns der Unionsorgane erhöhen soll. Maßstab dieser Kontrolle sind die Grundsätze guter Verwaltungspraxis, auf deren Einhaltung auch unabhängig von einer Beschwerde beim Ombudsman ein subjektives Recht besteht (s noch u → Rn 74).149 Der sachliche Schutzbereich des Petitionsrechts wird in den Art 227 und 228 AEUV beschrieben. Gegenüber dem Parlament, das zu diesem Zweck einen Petitionsausschuss eingerichtet hat,150 bezieht es sich danach auf alle Angelegenheiten der Union.151 Der Petent muss in eigenen Angelegenheiten betroffen sein. Zwar verfährt die Praxis insoweit großzügig, weist aber viele Petitionen als unzulässig zurück.152 Jeder hat ein Recht darauf, dass seine Petition entgegengenommen, geprüft und beantwortet wird. Dagegen kann Abhilfe auch dann nicht verlangt werden, wenn ein Anliegen als berechtigt anerkannt wird. In den Schutzbereich wird also nur eingegriffen, wenn eine Petition nicht angenommen, nicht bearbeitet oder nicht beantwortet wird. In diesem Fall steht dem Petenten die Untätigkeitsklage vor dem EuG offen (Art 265 AEUV). Konkret formulierte Schranken, wie sie Art 17a I GG entsprechen, kennt das Unionsrecht nicht, doch sind Kollisionen mit Grundrechten, etwa dem Persönlichkeitsrecht Dritter, vorstellbar. c) Informationsrecht (Art 24 IV AEUV, 41 IV GRCh)

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Der Anspruch, sich schriftlich in einer der in Art 55 EUV genannten Sprachen an jedes Organ der Union (Art 13 EUV) 153 oder den Bürgerbeauftragten zu wenden und in der gewählten Sprache eine Antwort zu erhalten (Art 24 IV AEUV), ergänzt das Petitionsrecht. Sinn der Regelung ist es vor allem, dass sich jeder Unionsbürger seiner Muttersprache bedienen kann, auch wenn im Rahmen des Art 55 EUV niemand auf diese festgelegt wird. Der sachliche Schutzbereich umfasst jede Art von Anfragen, Auskunftsersuchen, formlosen Anträgen, Stellungnahmen und Petitionen. Dagegen ist fraglich, wie die Antwort, auf die gleichfalls ein Anspruch besteht, auszufallen hat. Das Unionsziel der Bürgernähe und Transparenz (Abs 15 Präambel und Art 1 EUV, 15 AEUV) spricht dagegen, Art 21, 24 IV AEUV als reine Gewährleistung des Sprachengebrauchs zu verstehen. Die Bescheidung muss also der Anfrage Rechnung tragen. Komplexere Fragen können durch Verweis auf die einschlägigen Dokumente beantwortet werden (s Art 15 AEUV). Mit dieser Maßgabe gewährt Art 24 IV AEUV auch einen Anspruch auf Auskunft.154 Im Einzelnen hängt ihr Inhalt von der Art der Eingabe ab, aber auch von den Interessen Dritter oder anderer Mitgliedstaaten, die die befasste Stelle zu wahren hat. Die Geheimhaltungspflicht (Art 339 AEUV) setzt dem Anspruch auf Antwort Schranken.

149 Guckelberger DÖV 2003, 829, 835 f; Tsadiras ELR 32 (2007), 607 ff; Gundel FS Würtenberger, 2013, S 497 ff. 150 Anlage VII Ziff XX GO EP, ABl 2011 Nr L 116/1; vgl Art 201 ff GO EP. 151 Art 201 I GO EP. 152 Im Jahr 2012 waren von 1964 Petitionen 1010 zulässig; die numerische Bedeutung ist nach absoluten Zahlen vergleichsw gering, aber stabil, vgl Kommission Siebter Bericht (Fn 35) S 6 f. 153 Vgl EuGH, Slg 2003, I-8283 ff – Kik. 154 In diese Richtung Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 24 AEUV Rn 2 f; weiterg Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 24 AEUV, Rn 5; enger wohl Geiger/Khan/Kotzur EUV/AEUV, Art 24 AEUV Rn 4 („angemessene Reaktion“).

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d) Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art 15 AEUV, 42 GRCh) In engem Zusammenhang mit den Gewährleistungen der Art 22 und 24 AEUV steht der Anspruch auf Zugang zu Dokumenten aller Organe, Einrichtungen und sonstiger Stellen der Union, wobei für EZB, EIB und EuGH Privilegierungen gelten (Art 15 III AEUV). Das Informationsrecht bildet eine Voraussetzung für die Teilnahme am öffentlichen Meinungsbildungsprozess, stellt aber auch einen Weg zur Kontrolle der Verwaltung durch die Öffentlichkeit zur Verfügung.155 Dieses Recht hatte seinen Sitz zunächst in Selbstverpflichtungen der Organe, nimmt aber inzwischen Verfassungsrang ein und wird in einer auf den heutigen Art 15 III 2 AEUV gestützten Verordnung näher ausgestaltet.156 Schutzbereich: Der Kreis der Berechtigten ist ebenso wenig wie bei den Rechten aus Art 24 II–IV AEUV auf die Unionsbürger beschränkt. Adressaten dieses Anspruchs sind die politischen Organe Parlament, Rat und Kommission sowie die von ihnen eingesetzten oder zu ihrer Unterstützung tätigen Ausschüsse und Verwaltungseinrichtungen.157 Gegen den EuGH und die EZB richtet er sich nur, soweit diese Verwaltungsaufgaben wahrnehmen (Art 15 III 4 AEUV). Inhaltlich gewährleistet er ein Recht darauf, dass im Besitz der Unionsorgane befindliche Dokumente auf ein entsprechendes Ersuchen hin zugänglich gemacht werden, ohne dass hierfür ein besonderes Interesse nachzuweisen ist. Der Zugang kann durch Hinweis auf die amtliche Fundstelle, Übersendung von Kopien oder auf elektronischem Wege gewährt werden. Schranken: Dem dürfen nur die in der benannten Verordnung aufgeführten Geheimhaltungsinteressen entgegengehalten werden, die nach der ständigen Rechtsprechung des EuG und des EuGH als Ausnahmetatbestände eng auszulegen sind.158 Hierzu zählen zwingend öffentliche Interessen wie die öffentliche Sicherheit, Verteidigung, auswärtige Beziehungen sowie die Finanz-, Währungs- und Wirtschaftspolitik, ferner der Schutz der Privatsphäre, wie er sich insbesondere aus den unionsrechtlichen Vorschriften über den Datenschutz ergibt (vgl Art 16 AEUV).159 Darüber hinaus wird der Zugang verweigert, wenn der Schutz geschäftlicher Interessen, insbesondere das geistige Eigentum, der Schutz eines gerichtlichen Verfahrens oder eines Untersuchungsverfahrens entgegenstehen. Schließlich besteht kein Recht auf Zugang zu vorläufigen Dokumenten oder solchen Informationen, die nur mit Zustimmung eines Mitgliedstaates verbreitet werden dürfen.160

155 Österdahl ELRev 23 (1998), 336 ff; Curtin CMLRev 37 (2000), 7 ff; zum Zusammenh mit der Unionsbürgerschaft EuGH, Slg 2003, I-2125, Rn 39 – Interporc; zum „demokratischen Charakter“ dieses Rechts Slg 2011, I-6237, Rn 72 – Schweden/MyTravel u Kommission, mwN. 156 VO 1049/2001 – Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission; dazu Partsch NJW 2001, 3154 ff; de Leeuw CMLRev 40 (2003), 324 ff; s a den bisher nicht realisierten Vorschlag für eine neue VO in KOM (2008) 229 endg und den Verhaltenskodex zu Bez mit Interessenvertretern iR der Transparenzinitiative der Kommission in KOM (2008) 323 endg. 157 Zum Komitologie-Verfahren EuG, Slg 1999, II-2463 ff – Rothmans International. 158 Zur Rspr vor dem Vertrag von Lissabon Kadelbach CMLRev 38 (2001), 179 ff; Heliskoski/Leino CMLRev 43 (2006), 735 ff; Kranenborg CMLRev 45 (2008), 1079 ff. 159 Art 4 I der VO 1049/2001 iVm RL 95/46 – Schutz natürl Personen bei der Verarbeitung personenbez Daten und zum freien Datenverkehr und dem nat Umsetzungsrecht; zum europ Datenschutz Siemen Datenschutz als europäisches Grundrecht, 2006, zur von der Kommission geplanten Datenschutzreform s Mittlg sowie Vorschläge einer RL und einer VO in KOM (2012) 9, 10 und 11 endg. 160 Siehe aber EuGH, Slg 2007, I-11389 ff – Schweden/Kommission.

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e) Recht auf eine gute Verwaltung (Art 41 GRCh) 74

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Das Recht auf eine gute Verwaltung, eine Art rechtsstaatlicher Auffangbegriff für die Verfahrensrechte Einzelner gegenüber den Einrichtungen der Union, gehört eigentlich nicht zu den spezifischen Unionsbürgerrechten, in deren Zusammenhang es durch seine Maßstabswirkung für das Beschwerderecht zum Europäischen Bürgerbeauftragten (→ Rn 68) und seine systematische Stellung in der Charta gerückt wird, weil es allen zusteht, in deren „Angelegenheiten“ (Art 41 I GRCh) gehandelt wird. Geht man nach dem Wortlaut des Art 41 GRCh, scheint sich dieses Recht abweichend von der allgemeinen Geltungserstreckung der Unionsgrundrechte auf die Mitgliedstaaten (Art 51 I GRCh) allein gegen die Union zu richten; der EuGH hat jedoch begonnen, seine Geltung im Anwendungsbereich des Unionsrechts auf die Mitgliedstaaten auszuweiten.161 Es hat sich allmählich aus der Rspr des EuGH zu Grundsätzen „ordnungsgemäßer Verwaltung“ herausgebildet162 und bezeichnet die Garantie eines fairen Verfahrens, wie sie vor Gerichten Art 6 EMRK (Art 47 ff GRCh) gewährleisten soll, in einer an die Eigenheiten des Verwaltungsverfahrens anpassten Form.163 Es ist also in allen Fällen anwendbar, in denen die Organe oder Agenturen der Union Verwaltungstätigkeit ausüben. Solche Zuständigkeiten können sich gleichermaßen aus dem Primär- und dem Sekundärrecht ergeben, sofern dieses Verwaltungszuständigkeiten begründet. Dabei kommt dem Wettbewerbsrecht, für das die Kommission einschneidende administrative Zuständigkeiten besitzt, besondere Bedeutung zu. Die Relevanz dieser Rechte besteht darin, dass ein Verstoß zugleich die Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift (Art 263 II AEUV) bedeutet und damit zur Begründetheit der Nichtigkeitsklage führt, sofern sich der Fehler auch auf den Inhalt der Entscheidung auswirkt.164 Schutzbereich: Das Recht auf eine gute Verwaltung verschafft Einzelnen und Unternehmen einen Anspruch, dass ihre Angelegenheiten „unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist“ behandelt werden. Einzelne Rechte führt Art 41 II GRCh beispielhaft auf. Dazu gehören ein Anhörungsrecht vor belastenden Entscheidungen,165 das Recht auf Akteneinsicht166 und der Anspruch auf Wahrung der Vertraulichkeit sowie des Berufs- und Geschäftsgeheimnisses. Besondere Bedeutung hat in der Praxis das Recht auf Begründung einer Verwaltungsentscheidung, das auch in Art 296 II AEUV als allgemeine Pflicht der Unionsorgane formuliert wird. Auch den bereits in Art 41 I GRCh genannten Elementen des Grundsatzes kommt eigenständiger Gewährleistungsgehalt zu, so dass sich hieraus ein Recht auf Einhaltung der Pflichten der Behörden zur Unparteilichkeit, zur Behandlung einer Sache innerhalb angemessener Zeit und zur sorgfältigen Sachverhaltsermittlung ergibt.167 Art 41 IV GRCh greift das Auskunftsrecht des Art 24 IV AEUV 161 Zumindest als allg Prinzip des Unionsrechts wäre der Grundsatz ordnungsgemäßer Verwaltung für sie ohnehin bindend, s jetzt ausdr EuGH, NVwZ 2013, 59, Rn 81 ff – M M (Asylverfahren). 162 Auf sie können sich auch Staaten berufen, s EuG, Slg 2009, II-3463, Rn 99 ff, 112 – Estland/ Kommission (Emissionszertifikate). 163 Nehl Administrative Procedure in EC Law, 1999; Bauer Das Recht auf eine gute Verwaltung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002; Grzeszick EuR 2006, 161 ff; Classen Gute Verwaltung im Recht der Europäischen Union, 2008. 164 Vgl EuG, Slg 2004, II-2223, Rn 55 – Mannesmann-Röhrenwerke. 165 S zB EuGH, Slg 2001, I-5281, Rn 28 – Ismeri; EuG, Slg 2007, II-2061, Rn 191 ff – Alrosa. 166 UU darf belastendes Material, zu dem der Betr nicht Stellung nehmen konnte, nicht verwertet werden, s EuGH, Slg 1983, 1825, Rn 30 – Musique Diffusion. 167 Bspw EuG, Slg 2002, II-313, Rn 49 – max.mobil (Sachverhaltsaufklärung); EuGH, Rs C-439/11 P, Urt v 11.7.2013, Rn 155 – Ziegler (Unparteilichkeit).

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(→ Rn 70) auf und stellt auf diese Weise klar, dass sich im unionsrechtlichen Verwaltungsverfahren jeder seiner eigenen Sprache bedienen darf, sofern sie eine der Vertragssprachen (Art 55 EUV) ist. Keine eigenständige Bedeutung hat dagegen das in Art 41 III GRCh erwähnte Recht auf Schadensersatz, das auf die Grundsätze der Unionshaftung verweist (Art 340 AEUV). Bei der Anerkennung weiterer Verfahrensrechte über die in Art 41 II GRCh ausdrücklich genannten hinaus verfährt die Rspr restriktiv, was angesichts ihrer weit zurückreichenden Praxis nicht verwundert.168 So hat es der EuGH abgelehnt, für den Ablauf der Klagefrist für die Nichtigkeitsklage eine Rechtsbehelfsbelehrung zur Voraussetzung zu machen.169 Schranken: Justizgrundrechte sind meist schrankenlos gewährleistet; bleiben die Gerichte hinter ihren Maßstäben zurück, sind sie auch verletzt. Dem gegenüber sind einige der Rechte guter Verwaltung Abwägungen zugänglich. So kann die Anhörung ausnahmsweise unterbleiben, wenn durch sie der Zweck der Maßnahme vereitelt würde,170 das Akteneinsichtsrecht wird durch den Schutz persönlicher Daten und des Berufsgeheimnisses begrenzt,171 und Geschäftsgeheimnisse können offengelegt werden, wenn sie keinen Schutz verdienen (Art 41 II lit b: „berechtigte[s] Interesse“). Es gilt, wie immer, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art 52 I GRCh).172 Besonderheiten gelten wegen seiner Nähe zum Strafrecht über Art 41 GRCh hinaus für das Kartellverfahren, für das zum einen VO 1/2003 weitere Verfahrensrechte enthält, zum anderen die Rspr in Anlehnung an Art 6 und 7 EMRK gleichsam strafprozessuale Anforderungen in teils modifizierter Form aufgestellt hat. Dazu gehören die Unschuldsvermutung,173 das Recht auf anwaltlichen Beistand und Vertraulichkeit der Anwaltskorrespondenz,174 das Bestimmtheitsgebot175 und eine aus Billigkeitsgründen abgeleitete Abmilderung mehrfacher Sanktionen.176

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3. Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 23 AEUV, 46 GRCh) a) Normzweck und Wirkung Art 23 AEUV sichert jedem Unionsbürger „diplomatischen und konsularischen Schutz“ in Drittstaaten durch andere Mitgliedstaaten der Union zu, wenn der Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, dort nicht vertreten ist. Diese Vorschrift führt keinen Schutzanspruch gegen die Union selbst ein,177 der es dazu an Ressourcen und Kompetenzen fehlt. Die Kooperation diplomatischer und konsularischer Vertretungen, die schon nach geltendem Völkerrecht möglich ist,178 bildet jedoch einen Bestandteil der Gemeinsamen 168 169 170 171 172 173 174 175

S die umfangr Nachw für die Rspr bei v Danwitz Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S 417 ff. EuGH, Slg 1999, I-1441, Rn 15 – Guérin Automobiles; krit Martínez Soria EuR 2001, 682, 694. EuGH, Slg 2008, I-6351, Rn 338 ff – Kadi. Magiera in: Meyer, ChGr, Art 41 Rn 13. S a Jarass GRCh, Art 41 Rn 20. EuG, Slg 2007, II-4225 ff – Pergan, m Anm Wegener EuR 2008, 703. EuGH, Slg 1982, 1575 ff – AM u S; EuG, Slg 2007, II-3523 ff – Akzo Nobel. EuGH, Slg 2007, I-1331, Rn 23 ff – Groupe Danone; EuG, Slg 2006, II-3435, Rn 213 ff – Jungbunzlauer. 176 EuGH, Slg 1969, 1, Rn 11 – Walt Wilhelm; Slg 1972, 1281, Rn 3 – Boehringer Mannheim. 177 Vgl EuG, Slg 1995, II-2025, Rn 77 – Odigitria; umf Storost Diplomatischer Schutz durch EG und EU?, 2005. 178 Art 8 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen v 24.4.1963 (WÜK), Sartorius II Nr 326.

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Außen- und Sicherheitspolitik (Art 35 EUV). Art 23 AEUV bringt so die gemeinsame Verantwortung der Mitgliedstaaten für alle Unionsbürger zum Ausdruck. In Art 23 I 2 AEUV haben die Mitgliedstaaten vereinbart, die notwendigen völkerrechtlichen Schritte zu unternehmen. Art 23 AEUV ist wegen des hierdurch eröffneten intergouvernementalen Handlungsspielraums aus sich heraus nicht unmittelbar wirksam.179 Die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten haben daher in verschiedenen Beschlüssen gemeinsame konkretisierende Regelungen getroffen,180 die der Übernahme in innerstaatliches Recht bedürfen. Dies ist bisher noch nicht geschehen.181 Da es sich bei diesen Beschlüssen nicht um Unionsrecht handelt, das der Gerichtsbarkeit des EuGH unterliegt, kommt eine Direktwirkung auch insoweit nicht in Betracht.182 Somit fehlt es nach wie vor an der Rechtsverbindlichkeit der in Art 23 AEUV versprochenen Ansprüche. Zusätzlich zu den unionsinternen Maßnahmen bedarf es jeweils einer Zustimmung der Drittstaaten, denen gegenüber der diplomatische und konsularische Schutz in der vorgesehenen Weise wirksam werden soll. Sie kann auch für den konkreten Fall konkludent erteilt werden.183 Die Wirksamkeit des Schutzanspruchs hängt von ihr hingegen nicht ab. b) Schutzbereich

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Konsularischer Schutz besteht üblicherweise in der Unterstützung eigener Staatsangehöriger, Schiffe und Luftfahrzeuge im Ausland durch Verwaltungstätigkeit der Konsulate, etwa das Ausstellen von Ausweispapieren, die Wahrnehmung notarieller und standesamtlicher Aufgaben, die Interessenwahrung in Nachlass-, Vormundschafts- und Pflegschafts-

179 Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 23 AEUV Rn 3; aA Ruffert ArchVR 35 (1997), 459, 471 f; Szczekalla EuR 1999, 325, 327 f; Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 23 AEUV Rn 12; Kommission Mitteilung Konsularischer Schutz der EU-Bürger in Drittstaaten, KOM (2011) 149 endg; RL-Vorschlag über den konsularischen Schutz von Unionsbürgern im Ausland, KOM (2011) 881 endg, S 4. 180 S Beschluss 95/553 über den Schutz der Bürger der Europäischen Union durch die diplomatischen und konsularischen Vertretungen, ABl 1995 Nr L 314/73, i Kr seit 3.5.2002, s Kommission, Gesamtbericht; über die Tätigkeit der EU 2002, Ziff 513; Beschluss über die von den Konsularbeamten anzuwendenden Durchführungsbestimmungen, unv, und Beschluss 96/409 über die Ausstellung eines Rückkehrausweises, ABl 1996 Nr L 168/4, die wegen ihres restriktiven Gehalts Kritik erfahren haben, s Ruffert ArchVR 35 (1997), 459, 466 ff, der sie für unionsrechtswidrig hält; zur Reform s Kommission, Grünbuch Der diplomatische und konsularische Schutz des Unionsbürgers in Drittländern, ABl 2007 Nr C 30/8; Mitteilung (Fn 179) S 3. 181 Entg den Ang in Kommission Vierter Bericht (Fn 35) S 9, denen zufolge die zu Art 23 AEUV erlassenen Beschl (Fn 180) in allen Mitgliedstaaten implementiert worden seien, ist dies jedenfalls nach deutschem Recht bis zum 15.11.2013 nicht der Fall gewesen, s Gesetz über die Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse – Konsulargesetz, Sartorius I Nr 570, insbes § 5 II, der konsularische Hilfe nur für Familienangehörige von Deutschen vorsieht, „soweit es der Billigkeit entspricht“; zu Recht krit Giegerich in Schulze/Zuleeg/Kadelbach, ER, § 9 Rn 108; die Praxis scheint aber den unionsrechtlichen Pflichten zu entsprechen. Art 23 II AEUV, der eine neue Rechtsetzungsbefugnis „für Richtlinien zur Festsetzung der notwendigen Koordinierungsund Kooperationsmaßnahmen“ schafft, könnte dem rechtlichen Umsetzungsdefizit abhelfen; dazu den RL-Vorschlag (Fn 179). 182 Anders Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 23 AEUV Rn 16 f. 183 Zum bish übl Verf in derart Fällen s Art 8 WÜK (Fn 178), der eine „angemessene Notifikation“ und das Ausbl eines Einspr durch den Empfangsstaat verlangt.

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sachen, die Vertretung vor Gericht, die Übermittlung von Urkunden und die Erledigung von Rechtshilfeersuchen.184 Unter diplomatischem Schutz versteht man dagegen die Wahrnehmung der Interessen eigener Staatsangehöriger oder staatszugehöriger juristischer Personen nach Verletzungen völkerrechtlicher Verpflichtungen durch einen anderen Staat, insbesondere bei Unterschreitung der gewohnheitsrechtlichen Standards, die bei der Behandlung von Ausländern im Hinblick auf deren Leben und körperliche Unversehrtheit, persönliche Freiheit, Eigentum und gerichtlichen Schutz einzuhalten sind.185 Diplomatischer Schutz im technischen Sinne konnte bisher – von hier nicht interessierenden, eng begrenzten Ausnahmen abgesehen – allein durch die Regierung des Staates ausgeübt werden, dem der Geschädigte angehört. Durch diesen Vorgang wird nach vorherrschendem Verständnis zwischen den Staaten nicht ein individueller, sondern ein staatlicher Anspruch geltend gemacht.186 In diesem völkerrechtlichen Sinne ist Art 23 AEUV jedoch trotz seiner scheinbar eindeutigen Ausdrucksweise schon seinem Wortlaut nach nicht zu verstehen. Denn weder ist für die Ausübung diplomatischen Schutzes eine Vertretung des Heimatstaates des Geschädigten im Schädigerstaat erforderlich, noch muss dies in dessen Hoheitsgebiet (Art 23 AEUV) geschehen. Wie die Fassungen der übrigen Vertragssprachen (Art 55 EUV) belegen, sollte sich Art 23 AEUV vielmehr auf Schutz durch die Auslandsvertretungen beziehen (engl „protection by diplomatic or consular authorities“, frz „protection de la part des autorités diplomatiques et consulaires“ usw).187 Diese Lesart bestätigt Art 46 GRCh, der von „Schutz durch die diplomatischen und konsularischen Behörden“ spricht. Dadurch sind zwei Schutzformen erfasst, die sich in der Praxis nicht immer klar trennen lassen. Zum einen regeln Art 23 AEUV, 46 GRCh den konsularischen Schutz. Durch den Hinweis auf diplomatische Vertretungen wird dabei dem Umstand Rechnung getragen, dass diese auch Konsularaufgaben wahrnehmen können.188 Zum anderen geht dieser Schutz aber insoweit über rein konsularische Aufgaben hinaus, als er Maßnahmen einschließt, die mit diplomatischem Schutz im völkerrechtlichen Sinne zusammenhängen und vor Ort erbracht werden können oder müssen wie die Abgabe rechtswahrender Erklärungen, die Übergabe von Dokumenten, den Einsatz für die Freilassung Inhaftierter, Hilfe bei der Ausschöpfung des Rechtswegs usw. Schutzzweck der Art 23 AEUV, 46 GRCh ist es also, Angehörigen anderer Unionsstaaten in Drittländern unter denselben Bedingungen Schutz und Hilfe zu verschaffen, die

184 Siehe die Aufz in Art 5 WÜK (Fn 178), ferner §§ 1–17 KonsG (Fn 181). 185 I Einz Gloria in: Ipsen, VR, § 24 Rn 32 ff; Kau in: Graf Vitzthum/Proelß, VR, 131, 173 ff. 186 Es sind also drei Anspruchsebenen zu unterscheiden: Der Ersatzanspr des Geschädigten ggü dem verantwortl Staat, der sich nach dessen innerstaatl Recht bemisst; der völkerrechtl Entschädigungsanspr des Herkunftsstaates des Geschädigten gg den Schädigerstaat; und schließlich ein denkbarer Anspr des Geschädigten gg seinen Herkunftsstaat, ggü dem Schädigerstaat diplomatischen Schutz auszuüben, der dem innerstaatl Recht des Herkunftsstaates unterliegt. 187 IdS auch die Intention der Staaten, die sich bei den Vertragsverh durchgesetzt haben, s Jiménez Piernas Revista de las Instituciones Europeas 20 (1993), 9, 18; Weyland in: Marias (Fn 11) S 63, 64; zutr daher Ruffert ArchVR 35 (1997), 459, 465, 472, 476; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 23 AEUV Rn 7, 11; aA Haag in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 20 EGV Rn 6; Geiger/Khan/Kotzur EUV/AEUV, Art 23 AEUV Rn 1; Hatje in: Schwarze, EUKomm, Art 23 AEUV Rn 10; s a Stein in: Ress/Stein (Hrsg) Der diplomatische Schutz im Völker- und Europarecht, 1996, S 97 ff. 188 Art 3 S 2 WÜK (Fn 178); s a Art 3 II des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen v 18.4.1961, Sartorius II Nr 325.

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auch für die eigenen Staatsangehörigen gelten. Hierbei wurde vor allem an akute Notlagen gedacht, etwa an die Hilfe nach Verlust von Ausweisen und Reisedokumenten.189 Die potenzielle praktische Bedeutung ist schon angesichts des Massenphänomens Ferntourismus erheblich. Zurzeit gibt es nur drei Staaten, mit denen alle Mitgliedstaaten der EU diplomatische Bezeihungen unterhalten, in wohl über 100 Drittländern sind höchstens zehn Mitgliedstaaten vertreten.190 Die Relevanz könnte weiter zunehmen, da Art 23 AEUV indirekt Einsparungen durch den Abbau bestehender Vertretungen ermöglicht. Personell wird der Schutzbereich durch die Unionsbürger und die einem Unionsstaat zugehörigen juristischen Personen des privaten Rechts bestimmt.191 Allerdings macht das allgemeine Völkerrecht hier gewisse Einschränkungen. So muss die Staatsangehörigkeit auch effektiv sein. Diplomatischer Schutz von Doppelstaatlern gegen einen Staat, dessen Angehörigkeit der Schutzsuchende besitzt, galt lange als ausgeschlossen und ist jedenfalls dann problematisch, wenn die Staatsangehörigkeit des schädigenden Staates die effektive ist. Der Schutz durch einen anderen als den Herkunftsstaat ist subsidiär. Unterhält dieser eine Vertretung, kommt ihm der Vorrang zu; weder kann ein anderer Unionsstaat ohne dessen Zustimmung tätig werden, noch hat der Schutzsuchende ein Wahlrecht. Allerdings muss bei akuten Gefahren effektiv gehandelt werden können. Unterhält etwa ein Unionsstaat in einer entlegenen Provinz ein Konsulat, andere aber nicht, wird er, soweit möglich im Einvernehmen mit dem Heimatstaat, die erforderliche Hilfe gewähren müssen, wenn Personal des Heimatstaates nicht rechtzeitig erreicht werden kann. c) Eingriffe und Schranken

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Ansprüche der Unionsbürger richten sich auf Gleichbehandlung, gehen also nicht weiter als die der Angehörigen des schutzpflichtigen Mitgliedstaates.192 Die unterschiedlichen Schutzstandards bleiben somit erhalten. Damit wird in den Schutzbereich eingegriffen, wenn ein Mitgliedstaat Unionsbürger schlechter behandelt als die eigenen Staatsangehörigen. Schranken ergeben sich aus dem allgemeinen Völkerrecht, den in Art 23 I 2 AEUV benannten konkretisierenden Bestimmungen und dem innerstaatlichen Recht, auf das Art 23 AEUV, 46 GRCh durch das Gebot der Inländerbehandlung verweisen. Nach deutschem Recht steht dem Einzelnen lediglich ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung zu, der sich aus den Grundrechten in ihrer Funktion als Schutzpflichten des Staates ergibt.193 Die Schranken liegen in anderen verfassungsrechtlich anerkennenswerten Interessen. Allerdings spielen außenpolitische Belange, die bei der Ausübung diplomati-

189 S die „Guidelines for the Protection of Unrepresented EC Nationals by EC Missions in Third Countries“, veröff als Dok 7142/94, PESC 161, COCON 2 des Generalsekretariats des Rates v 24.5.1994; Art 5 I Beschluss 95/553 (Fn 180); vgl a RL-Vorschlag (Fn 179) Art 6 ff. 190 VR China, Russland und die USA, s Kommission Mitteilung (Fn 179) S 3; letztgenannte Zahl (danach: 107 Länder) in Fünfter Bericht (Fn 35) S 9. 191 Fn 34. 192 Eine Direktwirkung ließe sich insoweit über Art 18 AEUV herstellen, s Kleinlein/Rabenschlag ZaöRV 67 (2007), 1277, 1314 f. 193 Vgl BVerfGE 40, 141, 177 f – Ostverträge; 41, 126, 182 – Reparationsschäden; 55, 349, 364 f – Heß; NJW 1992, 3222, 3223 – dtsch/poln Grenzvertrag = JK 93, GG Art 14 I/31; ferner BVerwGE 62, 11, 14; eing Hofmann Grundrechte und grenzüberschr Sachverhalte, 1993, 107 ff.

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schen Schutzes im technischen Sinne ein weites Ermessen des Auswärtigen Amtes rechtfertigen, in Konsularangelegenheiten eine sehr viel geringere Rolle, so dass sich der Schutzanspruch dann auch auf bestimmte Maßnahmen richten kann. Eine Rechtsverletzung liegt dann vor, wenn diese unterbleiben. d) Rechtsschutz Für den gerichtlichen Schutz ergeben sich aus Art 23 AEUV, 46 GRCh einige Besonderheiten. Solange kein Sekundärrecht erlassen wird und die Mitgliedstaaten keine Umsetzungsmaßnahmen treffen, kommt der Garantie kein wirksamer Gewährleistungsgehalt zu (vgl Art 52 II GRCh). Die Frage nach ihrer Klagbarkeit ist daher derzeit weitgehend theoretischer Art. Vertritt man indes die Ansicht, Art 23 AEUV sei unmittelbar wirksam, sind Klagen wegen Verletzung der Schutzpflichten aus Art 23 AEUV vor den nationalen Gerichten in Betracht zu ziehen. Unabhängig von der Frage der Direktwirkung sind vor den mitgliedstaatlichen Gerichten Schadensersatzansprüche nach den Grundsätzen der mitgliedstaatlichen Haftung für die fehlerhafte Nichtumsetzung von Unionsrecht denkbar,194 da die Mitgliedstaaten Art 23 AEUV trotz Fristsetzung zum 31.12.1993 in Art 8c EGV aF nicht umgesetzt haben. Zweifelsfragen zu Wirkung und Gewährleistungsgehalt des Art 23 AEUV sind durch Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH nach Art 267 AEUV zu klären.

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4. Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot (Art 18 AEUV) Fall 2: (vgl EuGH, Slg 1998, I-2691 ff – Martínez Sala) Die 1956 geborene S besitzt die spanische Staatsangehörigkeit und lebt seit 1968 in Deutschland, wo sie verschiedenen abhängigen Berufstätigkeiten nachging. Seit 1989 bezieht sie Sozialhilfe. Bis 1984 erhielt sie Aufenthaltserlaubnisse, seither jedoch lediglich Bescheinigungen, dass eine Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis beantragt sei. Im Januar 1993 beantragte sie beim Freistaat Bayern Erziehungsgeld für ihr im selben Monat geborenes Kind. Das BErzGG195 spricht eine solche Leistung jedem zu, der mit einem Kind, für das ihm das Sorgerecht zusteht, in einem Haushalt lebt, dieses Kind selbst erzieht und keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt. Der Freistaat Bayern lehnte diesen Antrag unter Hinweis auf das Fehlen einer Aufenthaltserlaubnis ab. Das BErzGG verlangt für die Bewilligung einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, für Ausländer eine Aufenthaltsberechtigung oder -erlaubnis. Nach der VO 1612/68 (heute VO 492/2011) genießen alle Arbeitnehmer, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind, die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie inländische Arbeitnehmer. Nach VO 1408/71 (inzwischen durch VO 883/2004 ersetzt) bezieht sich die Gleichstellung auch auf Familienleistungen. Das zuständige Landessozialgericht hat Zweifel, ob diese Regelungen auf S anwendbar sind. Es will wissen, ob die Verweigerung von Erziehungsgeld mit dem Unionsrecht in Einklang steht.196

194 Vgl EuGH, Slg 1996, I-1029 ff – Brasserie du pêcheur = JK 96, EGV Art 5/1. 195 Gesetz über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub (BErzGG, BGBl I 1985, 2154); Erziehungsgeld ist eine betragsunabh Lstg, für deren Bezug es auf die pers Bedürftigkeit nicht ankommt. 196 Zu Familienlstgen heute Art 3 I lit j VO 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, Sartorius II Nr 185; darunter fällt auch das Erziehungsgeld, s EuGH, Slg 1996, I-4895 ff – Hoever u Zachow (noch zur VorgängerVO 1408/71); zur Zuordnung zum Begriff der

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a) Das Verhältnis des Gleichheitssatzes zu den Unionsbürgerrechten 88

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Die meisten der Unionsbürgerrechte zielen auf eine Gleichstellung von Angehörigen anderer Unionsstaaten mit den Inländern ab. Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, das in allgemeiner Form in Art 18 AEUV aufgestellt worden ist, steht daher – wie überhaupt die Gleichheit vor dem Recht – mit der Unionsbürgerschaft in direktem Zusammenhang.197 Auch wenn einsichtig ist, dass den Unionsbürgerrechten und dem allgemeinen Diskriminierungsverbot gemeinsame Rechtsgedanken zugrunde liegen, muss doch das Verhältnis der Art 20 ff AEUV zu Art 18 AEUV genauer betrachtet werden. Nach Art 18 AEUV ist „unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge … in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten“. Der Schutzgehalt dieses Diskriminierungsverbotes bezieht sich also auf den Anwendungsbereich des primären Unionsrechts, doch bleiben spezielle Gleichheitssätze unberührt. Die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft gehören zum „Anwendungsbereich“ des 18 AEUV. Andererseits verweist Art 20 II AEUV auf die „in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten“, zu denen auch Art 18 AEUV gehört.198 Daraus hat der EuGH die Schlussfolgerung gezogen, dass sich Unionsbürger, die sich rechtmäßig im Gebiet eines Unionsstaates aufhalten, in allen vom sachlichen Anwendungsbereich des EU-Rechts erfassten Fällen auf Art 18 AEUV berufen können.199 Aus diesem Gedanken ergeben sich weitreichende Konsequenzen. b) Reichweite des unionsbürgerlichen Teilhaberechts aus Art 18 AEUV iVm 20 bzw 21AEUV

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Soziale Rechte waren im Unionsrecht früher davon abhängig, dass der Empfänger zu einem bestimmten Zeitpunkt in dem betreffenden Mitgliedstaat erwerbstätig oder Angehöriger einer solchen Person war. Vergleichbares galt für Unionsbürger, die sich in Ausbildung, auf Arbeitssuche oder im Ruhestand befinden. In seiner neuen Rechtsprechung entkoppelt der EuGH die Leistungen im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherheit und ähnliche Vergünstigungen von den Aufenthaltstiteln, die mit den Grundfreiheiten in

soz Vergünstigung nach Art 7 II der heutigen VO 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, Sartorius II Nr 180; EuGH, Slg 1993, I-817, Rn 21 – Kommission/Luxemburg. 197 Schönberger (Fn 70) S 385 ff; Epiney FS Bieber, 2007, S 661 ff. Die Kommission zählt daher die Initiativen der Union gg Diskriminierung auch aus anderen Gründen als der Staatsangehörigkeit, zu denen Art 19 AEUV ermächtigt, zum Politikbereich der Unionsbürgerschaft, s Dritter Bericht (Fn 29) S 4, 26 ff. Dies kann naturgem kein ausnahmsloses Recht auf Gleichh bedeuten; Ungleichbeh, die sich aus der Verschiedenheit der nat Rechtsordnungen ergeben (zum Steuerrecht EuGH Slg 2011, I-8531, Rn 42 – Schulz-Delzers mwN; zum Sozialrecht Slg 2010, I-9879, Rn 99 ff – van Delft), sind nicht rechtfertigungsbed; das nat Recht darf nur nicht ungerechtfertigt zw Gebietsansässigen und nicht Gebietsansässigen unterscheiden. Ferner kann das Sekundärrecht Ungleichbeh zulassen, s zum europ Haftbefehl Slg 2008, I-6041 ff – Kozlowski. 198 EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 62 – Martínez Sala. 199 EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 63 – Martínez Sala; der EuGH hat seine Rspr aus wechselnden Grundl entwickelt, so teils – wie im Fall Martínez Sala – aus einer Verbindung von Art 21 und 18, teils aus Art 20 iVm Art 18, teils auch aus Art 21 AEUV allein, dazu i Einz v Bogdandy/ Bitter FS Zuleeg, 2005, S 309 ff. Untersch in der Sache ergeben sich hieraus jedoch nicht.

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Zusammenhang stehen, und stellt unter Verweis auf die Unionsbürgerschaft zunächst auf den rechtmäßigen Aufenthalt ab.200 Dabei soll es dem EuGH zufolge auf die Frage, ob das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger in Art 21 AEUV bereits aus sich heraus ein solches Aufenthaltsrecht vermittelt, nicht ankommen.201 Der Aufenthaltstitel beruhte nach der die Urteilsgründe tragenden Konstruktion nicht auf dem Unionsrecht, sondern auf einer Regelung des deutschen Rechts, der zufolge der Antrag auf Aufenthaltsberechtigung für die Dauer des Verwaltungsverfahrens einen besonderen Aufenthaltstitel schafft. Die Vorbehalte des Art 21 AEUV, die dessen Schutzbereich eingrenzen, sind deshalb jedoch nicht gegenstandslos geworden. Wie erwähnt erlaubt es eine Richtlinie, für einen mehr als drei Monate andauernden Aufenthalt das Aufenthaltsrecht außerhalb des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten vom Vorhandensein zureichender Existenzmittel und dem Bestehen eines Krankenversicherungsschutzes abhängig zu machen (Art 7 RL 2004/38). Daher werden die Mitgliedstaaten nicht gehindert, an die Sozialhilfebedürftigkeit aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu knüpfen.202 Die unmittelbare Anwendbarkeit des Art 21 AEUV ändert an diesem Ergebnis nichts. Entscheidend ist, dass Unionsbürger, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, nicht schlechter gestellt werden dürfen als Inländer. Mit dieser Einschränkung besitzen sie – in noch zu besprechenden Grenzen – einen Anspruch auf Gleichbehandlung in der sozialen Grundsicherung.203 Dieser Linie ist der EuGH in seiner Grzelczyk-Entscheidung weiter gefolgt. Einem an einer belgischen Hochschule studierenden französischen Studenten, der dort drei Jahre selbst für seinen Unterhalt aufgekommen, hierzu im vierten Studienjahr jedoch wegen seines Examens nicht mehr in der Lage war, sprach er gem Art 18 und 20 AEUV einen Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums nach belgischem Recht zu; da in diesem Falle die Bedürftigkeit erst nachträglich eingetreten und auch nur vorübergehender Natur sei, dürfe eine Beendigung des Aufenthaltsrechts nicht automatische Folge der Inanspruchnahme von Sozialhilfe sein.204 In der Rs D’Hoop sprach der EuGH einer Belgierin, die ihren Schulabschluss in Frankreich erworben hatte, im Hinblick auf Überbrückungsgeld für Schulabsolventen in Belgien ein Recht auf Gleichbehandlung mit inländischen Schulabgängern zu; Ansprüche können sich also auch gegen den eigenen

200 EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 63 – Martínez Sala. 201 Die Bundesrepublik war Spanien im Fall Martínez Sala ggü aufgr des Europäischen Fürsorgeabkommens verpflichtet, die Klägerin nach Eintritt der Erwerbslosigkeit nicht auszuweisen, s Art 6 des Europäischen Fürsorgeabkommens v 11.12.1953 (Sartorius II Nr 113), das iR des Europarates geschlossen wurde und dem Spanien und Deutschland beigetreten sind. Deutschland hatte übrigens den Vorbehalt erklärt, keine Verpfl für die Lstg von Sozialhilfe nach dem BSHG an Ang anderer Vertragsstaaten auf Inländerniveau zu übernehmen, s Anhang II, Ziff 2. Zur Staatsangeh als Differenzierungskrit im deutschen Sozial- und Sozialhilferecht Zuleeg NJW 1987, 2193, 2197 f; Hailbronner VSSR 1992, 77 ff. 202 Borchardt NJW 2000, 2057, 2059 f will derart Maßnahmen nur im Missbrauchsfall zulassen, dh wenn das Aufenthaltsrecht genutzt wird, um höhere Sozialleistungen zu erhalten; eingehend Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 302 ff. 203 S a EuGH, Slg 2004, I-7573, Rn 36 ff – Trojani. 204 EuGH, Slg 2001, I-6193, Rn 34 ff – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1, in Abkehr v Slg 1988, 3205 ff – Brown, wonach die Gewährlstg von Lebensunterhalt für Studenten nach damaligem Stand des Gemeinschaftsrechts nicht in den Anwendungsbereich des heutigen Art 18 AEUV fiel. Dass sich der EuGH hier nicht mehr auf Art 21, sondern auf Art 20 AEUV bezieht, bedeutet in der Sache keine Änderung.

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Staat richten.205 Weitere Urteile betrafen bspw Ansprüche auf vorübergehende Unterstützung für Arbeitssuchende, das Existenzminimum für einen mittellosen Schützling der Heilsarmee, Verschonung vor der Zwangsvollstreckung, eine Witwenrente, den Hochschulzugang und die Ausbildungsförderung für Unionsbürger mit inländischem Schulabschluss.206 Der verbindende Gedanke dieser teils herb kritisierten,207 aber in dichter Parallele zur Sekundärrechtsetzung verlaufenden208 Rechtsprechung ist es, dass Unionsbürgern daraus keine Nachteile erwachsen sollen, dass sie von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht haben, und die Mitgliedstaaten insoweit verpflichtet sind, Diskriminierungen und soziale Härten zu vermeiden. Allerdings sind sie – was auf Rechtfertigungsebene zu berücksichtigen ist – kraft Sekundärrechts während der ersten drei Monate gegenüber anderen Personen als Arbeitnehmern, Selbständigen und ihren Angehörigen zu keinen Leistungen verpflichtet (Art 24 II RL 2004/38). Ferner dürfen sie Leistungsansprüche an eine Mindestaufenthaltsdauer binden, wenn sie damit in verhältnismäßiger Weise einen legitimen Zweck verfolgen, klare und vorhersehbare Kriterien aufstellen und effektiven Rechtsschutz bieten.209 Die Unionsbürgerschaft hat damit gleichwohl eine gewisse soziale Dimension gewonnen.210 Der Vertrag von Lissabon konkretisiert sie, indem er eine Kompetenz der Union für Maßnahmen einführt, „die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen“ (Art 21 III AEUV); der Rat muss einstimmig beschließen. Auch außerhalb des Sozialrechts ergeben sich aus der Verknüpfung von Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot Konsequenzen. Ein wichtiges Beispiel ist das Recht auf Verfahren in der Muttersprache. In den Rechtssachen Bickel und Franz hatte der EuGH über die Frage zu entscheiden, ob deutsche bzw österreichische Beschuldigte einen Anspruch darauf besitzen, dass ein gegen sie in der italienischen Region Trentino-Südtirol eingeleitetes Strafverfahren auf deutsch geführt wird. Da das italienische Recht in dieser Provinz einen solchen Anspruch Angehörigen der deutschsprachigen Volksgruppe zugesteht, sah der Gerichtshof in dessen Verweigerung gegenüber deutschsprachigen Unions205 EuGH, Slg 2002, I-6191 ff – D’Hoop; krit Kanitz/Steinberg EuR 2003, 1013, 1016 ff; s aber auch Reich/Harbacevica CMLRev 40 (2003), 615, 627 f; zu Anspr gg den eig Staat bei Auslandswohnsitz ferner EuGH, Slg 2004, I-6483 ff – Gaumain-Cerri (Pflegeversicherung); Slg 2006, I-10685 ff – Turpeinen (Höhe der Steuern); Slg 2007, I-9161 ff – Morgan u Bucher (BAföG) = JK 2008, EGV Art 18/2; ferner Slg 2007, I-6849, Rn 90 – Schwarz (steuerl Abzugsfäh für im Ausland entrichtetes Schulgeld); Slg 2008, I-3993 ff – Nerkowska (Entschäd wg Deportation). 206 EuGH, Slg 2004, I-2703 ff – Collins (Arbeitslosenunterstützung); Slg 2004, I-5763 ff – Pusa (Pfändungsschutz); Slg 2004, I-7573 ff – Trojani (Existenzminimum); Slg 2005, I-2119 ff – Bidar = JK 2005, EGV Art 12 I/2 (Ausbildungsförderung); Slg 2008, I-9029 ff – ZablockaWeyhermüller (Witwenrente); Slg 2010, I-2735 ff – Bressol (Hochschulzugang). 207 Hailbronner NJW 2004, 2185 ff; Bode EuZW 2005, 279 ff; Sander DVBl 2005, 1014 ff; Hilpold in: Roth/Hilpold (Hrsg) Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, 2008, S 11, 30 ff; dag Scheuing EuR 2003, 744 (777 f); Kadelbach JZ 2005, 1163 ff; Kokott FS Tomuschat, 2006, S 207, 219. 208 S den Hinweis bei Thym ZEuS 2012, 501, 508 ff; vgl a Stewen Die Entwicklung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger und seiner sozialen Begleitrechte, 2011, S 140 ff. 209 Soweit die in Fn 207 angef Kritik wg dieser Rspr „Sozialleistungstourismus“ fürchtet, ist sie daher unberechtigt, s EuGH, Slg 2004, I-2703, Rn 61 ff – Collins; Slg 2005, I-8275, Rn 29 ff – Ioannidis (Arbeitslosigkeit); Rs C-20/12, Urt v 20.6.2013, Rn 70 ff – Giersch (Studienbeihilfe); systemat Schönberger (Fn 70) S 349 ff. 210 Dazu Kingreen EuR Beih 1/2007, 43 ff und Becker ebd S 95 ff.

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bürgern ohne italienische Staatsangehörigkeit und Wohnsitz in der Provinz Bozen einen Verstoß gegen Art 18 AEUV.211 Dass das Strafrecht insoweit nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der Verträge fiel, war dabei nicht maßgeblich. Die nötigen Anknüpfungspunkte im Unionsrecht erblickte der EuGH außer in der (passiven) Dienstleistungsfreiheit auch im Aufenthaltsrecht nach Art 21 AEUV. War dieser Ansatzpunkt einmal gefunden, bedurfte es für die Ungleichbehandlung italienischer Staatsangehöriger gegenüber anderen Unionsbürgern mit deutscher Muttersprache eines sachlichen Grundes. Dieser konnte jedenfalls nicht in den Minderheitenrechten der Südtiroler liegen, da zu deren Wahrung das Verbot der Erstreckung ihrer Sprachenrechte auf andere weder geeignet noch erforderlich war. Da außerdem nicht vorgetragen worden war, dass die Erweiterung des Personenkreises für ein Recht auf Verfahren in der eigenen Sprache zu besonderen Schwierigkeiten führen würde, war die Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt.212 Das Diskriminierungsverbot des Art 18 iVm 21 oder 20 AEUV bildet also eine umfassende Generalklausel. Für den EuGH ist die Unionsbürgerschaft „dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein“.213 Wie es scheint, gibt es keinen Bereich, den sie nicht erfasst.214 Allerdings ist bei Verallgemeinerungen Vorsicht angebracht. Die Verknüpfung des Art 21 bzw 20 AEUV mit dem Gleichheitssatz des Art 18 AEUV zwingt nicht schlechthin zu einer Gleichstellung sämtlicher Unionsbürger. Insbesondere für die – rechtspolitisch überfällige – Beseitigung der Inländerdiskriminierung bringt Art 18 AEUV iVm 20 ff AEUV keine neuen Gesichtspunkte.215 Auch im Hinblick auf die Grundrechte, die grundsätzlich einen tauglichen Anknüpfungspunkt für diese Normenverbindung bieten, bleibt es dabei, dass es über sie selbst hinaus eines Anknüpfungspunktes im Anwendungsbereich der Verträge bedarf (vgl Art 51 GRCh), der in der Regel in der Nutzung des Freizügigkeitsrechts liegen wird. So viel für die Anerkennung eines allgemeinen, für alle Unionsbürger in jeder Situation gleichermaßen gültigen europäischen Grundrechtsstandards auch sprechen mag,216 aus dem Unionsbürgerstatus lässt er sich positivrechtlich nicht herleiten.

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c) Rechtfertigung von Differenzierungen Nach dem Gesagten liegt eine in das unionsbürgerliche Teilhaberecht fallende Differenzierung vor, wenn Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, Rechte vorenthalten werden, die Inländern zustehen, 211 EuGH, Slg 1998, I-7637, Rn 16, 23 ff – Bickel u Franz. 212 Die Folge dieser Rspr ist nicht, wie Hilpold JBl 2000, 93, 99 annimmt, dass nunmehr die Behörden gehalten wären, jedem Unionsbürger den Gebr einer Sprache seiner Wahl zu gestatten. Wünscht etwa ein finn Unionsbürger, dass in seinem Verf vor südtiroler Gerichten auf deutsch verhandelt wird, muss dem von Unionsrechts wg nicht entsprochen werden, solange auch Italiener, deren Muttersprache nicht deutsch ist, die diese Sprache aber besser beherrschen als Italienisch (etwa weil ihre erste Sprache vielleicht Slowenisch oder Französisch ist), nicht das Recht besitzen, auf Wunsch auf Deutsch zu verhandeln. Insoweit bleibt es bei dem Recht auf unentgeltl Beiziehung eines Dolmetschers nach Art 6 III lit a und e EMRK. 213 Ständige Formel seit EuGH, Slg 2001, I-6193, Rn 31 – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1. 214 Zu Fällen aus dem Namensrecht EuGH, Slg 2003, I-11613 ff – Garcia Avello; Slg 2008, I-7639 ff – Grunkin u Paul = JK 2008, EGV Art 18/3; Slg 2010, I-13693 ff – Sayn-Wittgenstein; Slg 2011, I-3787 ff – Runevicˇ -Vardyn. 215 Weitere Nachw o Fn 72 f. 216 Vgl den Vorschlag von v Bogdandy et al ZaöRV 72 (2012), 45 ff.

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wenn sie ansonsten die Voraussetzungen erfüllen, unter denen diese Rechte gewährt werden. Gleiches gilt im Hinblick auf die eigenen Staatsangehörigen, wenn ihnen daraus Nachteile erwachsen, dass sie von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht haben. Eine Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen ist aber aus sachlichem Grund möglich. Dazu muss sie ein unionsrechtlich anerkanntes Ziel verfolgen, den rechtsstaatlichen Anforderungen an Vorhersehbarkeit, Bestimmtheit und gerichtlichen Schutz genügen und verhältnismäßig sein (Rn 92; → vgl § 21 Rn 48 f). So darf bspw bei der Gewährung von Studienbeihilfen berücksichtigt werden, dass deren generelle Erstreckung auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten nicht zu einer übermäßigen Belastung wird, die das Leistungsniveau insgesamt gefährden könnte. Sie kann davon abhängig gemacht werden, dass die Berechtigten zu einem gewissen Grad in die Gesellschaft des Aufenthaltsstaates integriert sind.217 Zulassungsbeschränkungen für medizinische Studiengänge können mit Bestand und Einheitlichkeit des Bildungssystems und dem Schutz der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt werden.218

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Lösung Fall 2: I. Zulässigkeit: Das LSG wird gem 267 AEUV ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richten, das sich auf die Auslegung des AEU-Vertrages und von Sekundärrecht richtet und ohne weiteres zulässig ist. II. Begründetheit: 1. Art 7 II VO 492/2011 über die Freizügigkeit billigt Arbeitnehmern, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, „die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen“ zu wie inländischen Arbeitnehmern. Nach Art 2 der VO 883/2004 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit stehen die von ihr geregelten Leistungen Arbeitnehmern, Selbstständigen und Studierenden sowie ihren Familienangehörigen und Hinterbliebenen zu. S wäre also jedenfalls dann zum Empfang von Erziehungsgeld berechtigt, wenn sie als Arbeitnehmerin zu qualifizieren wäre. Dabei ist zu beachten, dass das Unionsrecht keinen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff kennt. a) Für die Zwecke des Art 45 AEUV iVm der VO 492/2011 ist Arbeitnehmer, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Auch vor Beginn, etwa auf der Arbeitssuche, oder nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses kann eine Person Arbeitnehmer sein. Um S als Arbeitnehmerin nach diesen Kriterien einordnen zu können, fehlt es aber an näheren Angaben. b) Im Sinne des Art 48 AEUV iVm der VO 883/2004, der den Zugang zu Sozialleistungen sicherstellen soll, ist Arbeitnehmer, wer gegen ein Risiko in einem System sozialer Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist; auf das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses kommt es nicht an. Auch insoweit fehlt es an Erkenntnissen über die Klägerin. 217 Ein in den Niederlanden aufgestelltes Erfordernis eines fünfjährigen ununterbrochenen Aufenthaltes hat der EuGH als verhältnismäßig angesehen, s EuGH, Slg 2008, I-8507, Rn 48 ff – Förster; s a Slg 2005, I-2119, Rn 56 ff – Bidar = JK 2005, EGV Art 12 I/2; Slg 2009, I-9117, Rn 35 ff – Gottwald (Vergünstigungen für Personen mit Behinderung); Slg 2009, I-9621, Rn 70 – Wolzenburg; NJW 2013, 141, Rn 40 f – Lopes Da Silva Jorge (Vollstreckung eines eur Haftbefehls); die bloße Anforderung einer Mindestdauer des Aufenthaltes reicht uU nicht aus, s Slg 2011, I-6497, Rn 89 ff – Stewart; s a Urt v 4.10.2012, Rs C-75/11, Rn 62 ff – Kommission/Österreich (Ausschluss ausl Studierender von Fahrpreisermäßigung); Rs C-523/11, Urt v 18.7.2013, Rn 34 ff – Prinz (BAföG). 218 Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit unterliegt strengen Maßstäben, ist aber Sache der staatlichen Gerichte, s EuGH, Slg 2010, I-2735, Rn 53 ff – Bressol, wohl in gewisser Lockerung von Slg 2005, I-5969 ff – Kommission/Österreich.

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2. Somit kommt es darauf an, ob es sonst eine Bestimmung des Unionsrechts verbietet, die Gewährung von Erziehungsgeld an Angehörige anderer Mitgliedstaaten von der Vorlage einer förmlichen Aufenthaltsberechtigung abhängig zu machen. Dieses Erfordernis könnte gegen Art 18 AEUV verstoßen, der Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Anwendungsbereich der Verträge untersagt. Das Diskriminierungsverbot findet Anwendung auf Personen, die sich in einer unionsrechtlich geregelten Situation befinden.219 In sachlicher Hinsicht fällt die Zahlung von Erziehungsgeld in den Anwendungsbereich des Sekundärrechts (Art 4 lit j VO 883/2004) und damit des AEU-Vertrages. Fraglich ist jedoch, ob dessen persönlicher Anwendungsbereich S auch dann erfasst, wenn diese keine Arbeitnehmerin iSd Art 45 ff AEUV ist. An dieser Stelle verweist der EuGH auf den heutigen Art 20 II AEUV, der an den Status des Unionsbürgers die im AEU-Vertrag vorgesehenen Rechte knüpft, zu denen auch das Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV zählt. Folglich war nur mehr zu prüfen, ob Inländer und Ausländer aus EU-Mitgliedstaaten in nicht gerechtfertigter Weise ungleich behandelt werden. Da das Erfordernis eines Aufenthaltstitels nach nationalem Recht nur deklaratorische Bedeutung habe, liege in dem Erfordernis eines ganz bestimmten Titels eine Diskriminierung gegenüber Inländern, für die es keinen sachlichen Grund gebe. S durfte daher nicht vom Bezug von Erziehungsgeld ausgeschlossen werden.220

V. Bewertung Die Tragweite der Konsequenzen, die sich aus der Unionsbürgerschaft ergeben, wird unterschiedlich bewertet. Während die einen die Kritik äußerten, die Art 20 ff AEUV hätten eher symbolischen Charakter, würden aber gegenüber dem ohne sie bestehenden Stand des Unionsrechts keine substantiellen Veränderungen bewirken,221 nahmen andere die Regelung individueller, nicht wirtschaftsabhängiger Rechte an zentraler Stelle in den Verträgen als ersten Schritt zur Konstitutionalisierung eines europäischen Bürgerstatus positiv auf.222 Wenn sich auch an diesem geteilten Echo lange nichts änderte,223 so hat sich doch die anfängliche Skepsis angesichts der als ausgesprochen dynamisch wahrgenommenen Rspr des EuGH inzwischen gelegt.224 Gleichwohl variiert das Ergebnis mit dem gewählten Bezugspunkt. Eine am positiven Recht und seiner Verwirklichung orientierte Analyse wird zu anderen Ergebnissen gelangen als eine Sicht, die sich an Parallelen zum

219 EuGH, Slg 1989, 195, Rn 10 – Cowan. 220 Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist auch der Ausschluss von Nicht-Unionsbürgern von Erziehungsleistungen (im gegebenen Fall vom BayErzGG) nicht haltbar, weil er gegen Art 3 I GG verstößt, s BVerfG, NJW 2012, 1711. 221 Jessurun d’Oliveira in: Dehousse (Hrsg) Europe after Maastricht: An ever closer Union?, 1994, S 126, 135 ff; O’Leary European Union Citizenship. The options for reform, 1996, S 44 ff; zu einer solchen Einschätzung passt der Vorschlag einer neuen, reduzierten Konzeption der Unionsbürgerschaft als Marktbürgerschaft, s Nic Shuibne CMLRev 47 (2010), 1597 ff. 222 O’Keefe (Fn 70) S 107. 223 S de Búrca in: Referate für den Ersten Europäischen Juristentag, 2001, S 39, 66 f; zu den Regelungen des Verfassungsvertrages über die Unionsbürgersch, die in den Reformvertrag ohne wesentl Änderungen übern wurden, einers krit Nettesheim integration 2003, 428 ff; Dellavalle II/III Annual of German and European Law (2004/05), 171, 213 f; and Pernice FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 177 ff; Kostakopoulou ELJ 13 (2007), 623 ff. 224 S etwa Kostakopoulou ModLRev 68 (2005), 233 ff; Besson/Utzinger FS Bieber, 2007, S 629, 633 ff.

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Status eines Staatsbürgers und seinen politischen Mitwirkungsrechten orientiert.225 Auch spielt es eine Rolle, ob es generell um eine Betrachtung des in individuellen Rechten ausgedrückten Mehrwerts der Europäischen Union für Einzelne oder, wie in diesem Beitrag, in einem engeren Sinne um den Unionsbürgerstatus gehen soll.226 Wer allein die im AEUVertrag und in der Grundrechte-Charta niedergelegten Regelungen, die zu ihrer Umsetzung ergriffenen Maßnahmen und die Rechtsprechung des Gerichtshofes betrachtet, sieht ein mosaikartiges Bild: Als de jure weitgehend bedeutungslos darf nach wie vor das Versprechen eines unionsrechtlich gewährleisteten Rechts auf diplomatischen und konsularischen Schutz gelten (Art 23 AEUV, 46 GRCh). Die Mitgliedstaaten verstehen es lediglich als Recht auf konsularischen Beistand, das bereits nach geltendem Völkerrecht stellvertretend ausgeübt werden kann, und auch die Umsetzung dieses Minimalprogramms konnte bisher nicht erreicht werden. Die Rechte auf Petition und Auskunft (Art 24 II-IV AEUV, 43, 44 GRCh) sowie auf eine „gute Verwaltung“ (Art 41 GRCh) verweisen im Wesentlichen auf andere Bestimmungen der Verträge und bestätigen damit den ohnehin bestehenden Besitzstand. Das Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art 15 AEUV, 42 GRCh) setzt weitere Akzente, da es den Rechtsordnungen mancher Mitgliedstaaten lange unbekannt war. Bei all diesen Ansprüchen handelt es sich zwar um typische Aktivbürgerrechte, doch stehen sie wegen ihrer Kontrollfunktion zu Recht auch Nicht-Unionsbürgern zu. Im politischen Willensbildungsprozess leisten sie allenfalls Hilfsdienste. Einen Ansatz für weiterführende Überlegungen zur Legitimierung von Hoheitsgewalt bietet das Wahlrecht auf lokaler und europäischer Ebene am Wohnsitzort (Art 22 AEUV, 39, 40 GRCh). Beide öffnen rechtlich den bisher nach Mitgliedstaaten differenzierenden Begriff der Aktivbürgerschaft mit Richtung auf Legitimationseinheiten, für die es innerhalb der Union auf die Staatsangehörigkeit nicht mehr ankommt. Dies bringt auch der Vertrag von Lissabon zum Ausdruck, der das Parlament nicht mehr als Vertretung der Völker Europas, sondern der Unonsbürgerschaft anspricht (Art 14 II EUV). Die reale Bedeutung des Kommunal- und Europawahlrechts im Wohnsitzstaat ist jedoch zurzeit marginal, auf europäischer Ebene hängt es entscheidend von den Befugnissen und vom politischen Gewicht des Europäischen Parlamentes ab. Dass man bemüht ist, die politische Partizipation der Unionsbürger zu steigern, zeigt gleichfalls der Vertrag von Lissabon, der die Rolle der Zivilgesellschaft betont und plebiszitäre Elemente vorsieht (Art 11 EUV). Was den Gehalt des Freizügigkeitsrechts (Art 21 AEUV, 45 GRCh) betrifft, besteht nun eine einheitliche primärrechtliche Basis für die unterschiedlichen Formen der Aufenthaltsberechtigung, die für ein generelles Recht auf Mobilität in Europa mit einheitlicher sekundärrechtlicher Ausgestaltung (RL 2004/38) gesorgt hat. Von beträchtlicher Wirkung ist schließlich die durch die Rechtsprechung des EuGH hergestellte Verbindung zwischen Unionsbürgerschaft und dem allgemeinen Diskriminierungsverbot (Art 18 AEUV), das den Gedanken der Inländerbehandlung aus den Art 21, 22 und 45 ff AEUV auf soziale und kulturelle Rechte über das gesetzte Recht hinaus überträgt. Die weite Konzeption des „Anwendungsbereichs der Verträge“ (Art 18 AEUV)

225 Vgl a die Forderungskataloge des EP in Entschl v 2.4.2009 zu Problemen und Perspektiven der Unionsbürgerschaft, Dok P6 TA (2009) 0204 und der Kommission in Report (Fn 77). 226 Zu einem Vergleich mit den Rechten, die die Unionsbürger kraft Staatsbürgerschaft besitzen, Goudappel (Fn 77) S 153 ff.

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kompensiert ein Stück weit fortbestehende Ungleichheiten der Inländerdiskriminierung und hat in einer Reihe von Rechtsgebieten für Rechtfertigungslasten bei Ungleichheiten gesorgt, die lange als Domäne der Mitgliedstaaten anzusehen waren, vom Bildungssystem über das Recht der beitragsfreien Sozialleistungen bis hin zum Namensrecht, zum Sprachenregime und zur Staatsangehörigkeit. Auch wenn diese Rechte nicht originär, sondern auf die jeweilige Rechtslage in den Mitgliedstaaten bezogen sind,227 zeigen sie ebenso wie die politischen Rechte, dass die rein ökonomische Zweckrichtung der unionsrechtlich gewährten Individualrechte überwunden worden ist. Die wichtigste rechtliche Konsequenz der Vertragsbestimmungen zur Unionsbürgerschaft ist also der weitere Abbau von Unterschieden, die sich aus der europaweiten Freizügigkeit ergeben. Nachteile, die durch das Verlassen des Heimatstaates entstehen, sollen ausgeglichen werden. Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, in bestimmten Bereichen Rechte, die ihren Staatsangehörigen zustehen, auch anderen Unionsbürgern zu gewähren. Die Unionsbürgerschaft definiert einen komplementären Bürgerstatus über die Grenzen hinweg. Dies ist gemeint, wenn Art 20 I 3 AEUV deutlich macht, dass die Unionsbürgerschaft die nationale Staatsbürgerschaft ergänzt.228 Das der Unionsbürgerschaft zugedachte weitere Potential zeigt sich bei einer Parallelbetrachtung zu den im engeren Sinne staatsbürgerlichen Rechten. Ebenso wie die Staatsbürgerschaft ist die Unionsbürgerschaft eine Art Sammelbegriff für die Rechte, die in ihrer Summe einen Status ausmachen. Freizügigkeit, politische Rechte und diplomatischer Schutz waren in den meisten Staaten lange eigenen Staatsangehörigen vorbehalten. Die Art 20 ff AEUV enthalten daher aus dieser Sicht besonders symbolträchtige Garantien. Auch soziale Rechte sind zumindest historisch Rechte der Staatsangehörigen,229 so dass deren Erstreckung auf andere Unionsbürger durch die Rechtsprechung der Absicht folgt, die hinter den Art 20 ff AEUV steht. Der Komplementärfunktion der Unionsbürgerschaft zur Staatsbürgerschaft entspricht es auch, dass Art 22 II AEUV für das Europäische Parlament die Idee einer Wählerschaft zugrunde legt, die allein durch die Unionszugehörigkeit und den Wohnsitz bestimmt wird.230 Dass diese Komplementarität keinen

227 Anders Closa CMLRev 32 (1995), 487, 508, der in unionsrechtl gewährleisteten soz Rechten eine Abkehr vom freien Markt sieht; zu sozialpol Interventionen werden die Mitgliedstaaten durch sie indessen nicht veranlasst. 228 Ähnlich BVerfGE 89, 155, 184: Mit der Unionsbürgerschaft werde „zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ein auf Dauer angelegtes rechtliches Band geknüpft, das zwar nicht eine der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Staat vergleichbare Dichte besitzt, dem bestehenden Maß existentieller Gemeinsamkeit jedoch einen rechtlich verbindlichen Ausdruck verleiht“. 229 Fn 47. 230 Zur Diskussion Magnette ELJ 13 (2007), 1468 ff; Schönberger in: Müller-Graff (Hrsg) Der Zusammenhalt Europas – In Vielfalt geeint, 2009, S 55, 58 ff; zur Verbindung mit der Legitimation der Union Preuß ELJ 1 (1995), 267, 276 ff; Weiler in: ders (Hrsg) The Constitution of Europe, 1999, S 324, 344 ff; zu einer eigenständigen grenzüberschreitend post-nationalen Bürgerschaft Besson/Utzinger FS Bieber, 2007, S 629, 641 f. Ob hinter dem gesamteurop Legitimationssubj ein „europäisches Volk“ steht, ist eine Frage der Perspektive, die mit der rechtl Konzeption der Unionsbürgerschaft nicht notw etwas zu tun haben muss; zu identitätsstiftenden Faktoren wie Nation, Volk, Sprache, Kultur, Geschichte, Mythos usw Augustin Das Volk der Europäischen Union, 2000, S 41 ff, 63 ff; Ladeur ELJ 14 (2008), 147 ff; vgl a die Kontroverse zw Korioth VVDStRL 62 (2003), 117, 151 f und v Bogdandy, ebd 156, 168 ff.

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einheitlichen Mehrebenen-Status schafft, sondern zwischen den Ebenen divergierende Interessen aushalten muss, zeigt die Rspr, die einerseits das Recht der Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten in den Anwendungsbereich des Unionsrechts zieht,231 andererseits die Beschränkung von Unionsbürgerrechten aus Gründen der Wahrung staatlicher Identität (Art 4 II EUV) zulässt.232 Zur europäischen Identität gehört die Vielfalt. Die Unionsbürgerschaft kann und soll trotz einiger Parallelen mit der umfassenden Stellung des Staatsbürgers mit allen Rechten und Pflichten auch nicht vergleichbar sein. Die in ihr zusammengefassten Ansprüche bringen die zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilte Verantwortung für den Einzelnen zum Ausdruck und übersetzen die institutionelle Organisation Europas auf mehreren miteinander eng verbundenen Ebenen in die Sprache subjektiver Rechte.

231 EuGH, Slg 2010, I-1449, Rn 55 ff – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1. 232 EuGH, Slg 2010, I-13693, Rn 92 f – Sayn-Wittgenstein (Abschaffung der Adelsprädikate in der Republik Österreich) m Anm Besselink CMLRev 49 (2012), 671 ff und Slg 2011, I-3787, 86 ff – Runevicˇ -Vardyn (Schutz der Landessprache) m Anm van Eijken CMLRev 49 (2012), 809 ff.

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§ 27 Justiz- und Verfahrensgrundrechte Jörg Gundel Leitentscheidungen: EuGH, 3.10.2013 Rs C-583/11 P, EuZW 2014, 22 – Inuit Tapiriit Kanatami; EuGH, 26.2.2013 Rs C-617/10, EuZW 2013, 302 – Åkerberg Fransson, EuG, Slg 2011, II-5599 – Inuit Tapiriit Kanatami; EuGH, Slg 2010, I-13849 – DEB; Slg 2008, I-6351 – Kadi u Al Bakaraat; Slg 2007, I-2271 – Unibet; Slg 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores; Slg 1992, I-6313 – Oleificio Borelli; Slg 1991, I-5469 – TU-München; Slg 1991, I-415 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Slg 1990, I-2433 – Factortame. Schrifttum: Stotz Effektiver Rechtsschutz in der Europäischen Union, 2013; Gärditz Europäisches Verwaltungsprozessrecht, JuS 2009, 385 ff; v Danwitz Europäisches Verwaltungsrecht, 2008; MüllerGraff/Scheuing (Hrsg) Gemeinschaftsgerichtsbarkeit und Rechtsstaatlichkeit, EuR-Beiheft 3/2008; Schwarze Rechtsstaatliche Grundsätze für das Verwaltungshandeln in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, in: FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 147 ff; Pache Das europäische Grundrecht auf einen fairen Prozeß, NVwZ 2001, 1342 ff.

I. Überblick 1. Bedeutung der Justiz- und Verfahrensgrundrechte im EU-Recht Die Justiz- und Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts haben sich in deutlicher Orientierung am Vorbild der EMRK entwickelt, die in diesem Bereich mit den Art 5–7 EMRK1 – anders als etwa bei den wirtschaftsbezogenen Grundrechten – ein breites Feld von Gewährleistungen bietet. Die dort festgehaltenen Verfahrensgarantien sind freilich für das EU-Recht von unterschiedlichem Gewicht: So spielten die klassischen Justizgrundrechte der Art 5 (persönliche Freiheit), Art 6 II–III (strafrechtliche Unschuldsvermutung, Garantien im Strafverfahren) und Art 7 EMRK (nulla poena sine lege) lange Zeit eine geringe Rolle, weil der Strafrechtsbezug des EU-Rechts bisher wenig ausgeprägt war. Dieses Bild hat sich aber schon in den letzten Jahren vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon durch die rasche Entwicklung der „polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen“ (PJZS, Art 29 ff EUV/alt) gewandelt; diese Entwicklung setzt sich unter dem Vertrag von Lissabon fort, der diese Felder in den AEUV integriert hat (Art 82 ff AEUV für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, Art 87–88 AEUV für die polizeiliche Zusammenarbeit; → dazu noch u Rn 44). Aber auch in den klassischen Feldern des EURechts haben diese Garantien ihre Bedeutung,2 etwa bei der Frage, ob durch nicht umgesetzte EU-Richtlinien Pflichten des Einzelnen begründet werden können, deren Missachtung dann auch strafrechtlich sanktioniert würde.3 1 → dazu oben § 6. 2 Zur grundsätzlichen Anerkennung des nulla-poena-Satzes auch im EU-Recht s bereits EuGH, Slg 1984, 2689, Rn 22 – Regina/Kirk: „Das Verbot der Rückwirkung von Strafvorschriften ist ein allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamer Rechtsgrundsatz, der in Artikel 7 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist und zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat.“ Die Garantie findet sich nun auch in Art 49 GRCh (zur GRCh s sogleich Rn 5). 3 Eine solche „umgekehrt vertikale Direktwirkung“ von Richtlinien zu Lasten des Einzelnen und „zugunsten“ des strafverfolgenden Staates hat der EuGH zu Recht abgelehnt, s (zu einem straf-

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Im Mittelpunkt stehen im EU-Recht jedoch weiterhin die Garantien eines fairen Verfahrens und eines effektiven Rechtsschutzes, wie sie die EMRK in Art 6 I (→ § 6 Rn 36 ff) und Art 13 (→ vgl § 6 Rn 71) enthält. Sie finden ihre Ausprägungen in den verschiedenen Einzelgarantien, wie dem Anspruch auf rechtliches Gehör, dem Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf Akteneinsicht, auf die Begründung belastender Entscheidungen und eine gerichtliche Entscheidung in angemessener Zeit: Im Vordergrund stehen damit die rechtsstaatliche Ausgestaltung der Verwaltungsverfahren der EU-Organe und der nationalen Behörden beim Vollzug des EU-Rechts sowie – daran anschließend – die Sicherung einer effektiven gerichtlichen Kontrolle über dieses Verwaltungshandeln durch die EUGerichtsbarkeit und (soweit die Verfahren von den nationalen Behörden durchgeführt werden) durch die Gerichte der Mitgliedstaaten.

2. Quellen der Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts a) Die allgemeinen Rechtsgrundsätze als ursprünglicher Anknüpfungspunkt 3

Bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon galten die Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts in ihrer Ausformung als allgemeine Rechtsgrundsätze des EU-Rechts,4 auch wenn der EuGH immer häufiger unmittelbar die Bestimmungen der EMRK zitiert hat. Angesichts dieser formalen Unabhängigkeit der Gewährleistung stellte sich auch immer wieder die Frage, inwieweit die zur EMRK erzielten Auslegungsergebnisse des EGMR für die parallel dazu geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des EU-Rechts zu übernehmen sind.5 Zugleich sicherte diese Geltung als allgemeine Rechtsgrundsätze bisher aber auch eine Flexibilität, die im Rahmen der EMRK nicht immer gegeben ist: So ist es für die Anwendung der Garantie eines „fairen Verfahrens“ als Rechtsgrundsatz des EU-Rechts ohne Belang, ob der in Art 6 I EMRK beschriebene Anwendungsbereich (Zivil- und Strafsachen) betroffen ist:6 Die Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts gelten auch in Verwaltungs-7 und den anschließenden verwaltungsgerichtlichen8 Verfahren.

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rechtlichen Fall) EuGH, Slg 1987, 3969 – Kolpinghuis = EuR 1988, 390 m abl Anm Richter; bestätigt durch Slg 2005, I-3565, Rn 74 – Berlusconi; In anderen Entscheidungen hat der EuGH festgehalten, dass auch die grundsätzlich zulässige und gebotene richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Rechts nicht zur Verschärfung des Strafrechts führen darf, s Slg 1996, I-4705, Rn 42 – Luciano Arcaro; Slg 1996, I-6609, Rn 25 – Ermittlungen gegen X; zur Entwicklung der EuGH-Rspr zur Wirkung nicht umgesetzter Richtlinien s Herrmann/Michl JuS 2009, 1065 ff; Craig 34 ELRev (2009), 349 ff; v Danwitz JZ 2007, 697 ff. Hervorgehoben wird diese formale Unabhängigkeit von der EMRK etwa in EuG, Slg 2001, II-729, Rn 59 f – Mannesmannröhren-Werke = EuZW 2001, 345 m Anm Pache; Slg 1998, II-1751, Rn 311 – Mayr-Melnhof. Zum Mechanismus der allgemeinen Rechtsgrundsätze immer noch maßgeblich Lecheler Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, 1971; später nochmals ders ZEuS 2003, 337 ff. Für Bsp s u Fall 1 (Aussagefreiheit) und Rn 37 (rechtliches Gehör zu den Schlussanträgen der Generalanwälte im Verfahren vor dem EuGH); zur Parallelfrage für die entsprechenden Garantien der GRCh s Rn 5. Dazu unten Rn 18. So bereits EuGH, Slg 1979, 461, Rn 9 – Hoffmann-La Roche; später zB EuG, Slg 1998, II-1875, Rn 80 – Enso Española. Auch das in Art 47 GRCh festgehaltene Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren verzichtet auf die in Art 6 EMRK bestehende Eingrenzung des Anwendungsbereichs, s u Rn 6.

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Trotz des Wortlauts des Art 6 II EUV, der als Quelle der allgemeinen Rechtsgrundsätze neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als einzige völkervertragliche Quelle die EMRK benennt, ist das EU-Recht nicht auf die dort vorgefundenen Gewährleistungen beschränkt: Der EuGH hat bereits auch auf die im IPbpR9 enthaltenen Verfahrensgarantien Bezug genommen; darüber hinaus hat er auch schon Verfahrensgrundrechte anerkannt, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten entstammen – eine solche Anerkennung ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn die Gewährleistung in ihrer konkreten Ausformung in der Rechtsordnung nur eines Mitgliedstaats besteht.10

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b) Die Kodifikation durch die Grundrechtscharta Diese historische Quelle des EU-Grundrechtsschutzes besteht gemäß Art 6 II EUV zwar fort; sie tritt nun aber gegenüber der Europäischen Grundrechtscharta (GRCh) in den Hintergrund, die mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon durch Art 6 I EUV den Status geltenden Rechts erlangt hat11 und die bisherigen Ergebnisse der Rechtsprechung kodifiziert. Sie enthält Verfahrensgarantien zunächst im Kapitel zu den Unionsbürgerrechten (Art 39–46 GRCh), wobei diese Verortung insoweit missverständlich ist, als die Gewährleistungen (zu Recht) nicht an die Unionsbürgerschaft anknüpfen, sondern auch Drittstaater und juristische Personen einbeziehen. Als neue übergreifende Garantie ist dort das „Recht auf eine gute Verwaltung“ enthalten (Art 41 I GRCh), das ein faires Verwaltungsverfahren gewährleisten soll;12 einzelne Ausprägungen sind beispielhaft („insbesondere“) in Art 41 II aufgeführt (→ dazu unten Rn 10, s a § 26 Rn 74 ff). Daneben finden sich dort auch eigenständige Gewährleistungen mit Verfahrensbezug, die hier aber nur erwähnt werden sollen: Das Recht auf Zugang zu den Dokumenten der EU-Organe (Art 42 GRCh, → dazu § 26 Rn 71), das Recht zur Anrufung des Bürgerbeauftragten

9 S EuGH, Slg 1989, 3283, Rn 31 – Orkem zu Art 14 (Unschuldsvermutung) und Art 3g (Aussagefreiheit) des IPbpR. 10 S EuGH, Slg 1982, 1575 – AM u S = EuR 1983, 40 m Anm Mattfeld zum „legal privilege“, der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant (dieser Schutz greift danach anders als nach deutschem Recht auch dann ein, wenn sich die Unterlagen im Gewahrsam des Mandanten befinden); s a noch u Fn 47. 11 Die Charta wurde allerdings schon zuvor als „Inspirationsquelle“ für die allgemeinen Rechtsgrundsätze herangezogen, s zB EuG, Slg 2002, II-313, Rn 48 – max.mobil = EuZW 2002, 186 m Anm C Nowak; EuGH, Slg 2006, I-5769 – Parlament/Rat (Familienzusammenführung), Rn 38, 58 = EuZW 2006, 566 m Anm Fremuth; s allerdings auch EuG, Slg 2001, II-729, Rn 76 – Mannesmannröhren-Werke: Keine Heranziehung in Bezug auf vor ihrer Proklamation erlassene Rechtsakte; dazu Cavicchi RIDPC 2002, 599 ff. 12 Ausf Classen Gute Verwaltung im Recht der Europäischen Union, 2008; Pfeffer Das Recht auf eine gute Verwaltung, 2006; Bauer Das Recht auf eine gute Verwaltung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002; s auch Efstratiou in Trute u a (Hrsg) Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, 281 ff; Goerlich DÖV 2006, 313, 316 ff; Grzeszick EuR 2006, 161 ff; Galetta in Stern/Tettinger (Hrsg) Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, 207 ff; dies RIDPC 2005, 819 ff; Bullinger FS Brohm, 2002, S 25 ff; Michelet AJDA 2002, 949 ff; Lais ZEuS 2002, 447 ff; s zum in der Rspr des EuGH bereits seit langem präsenten Vorgängerbegriff „Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung“ früh schon Usher 38 Current Legal Problems (1985), 269 ff.

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(Art 43 GRCh, → dazu § 26 Rn 68)13 und das Petitionsrecht zum Europäischen Parlament (Art 44 GRCh, → dazu § 26 Rn 67 ff). Weitere zentrale Garantien sind im anschließenden Kapitel zu den justiziellen Rechten enthalten (Art 47, Art 50 CRCh): Hier gewährleistet Art 47 I, II GRCh in Anlehnung an Art 6 und 13 EMRK allgemein das Recht auf effektiven Zugang zu einem unparteiischen Gericht; daneben finden sich auch die aus der EMRK bekannten strafverfahrensrechtlichen Garantien der Unschuldsvermutung (Art 48 I GRCh, 6 II EMRK), des nulla-poena-Satzes (Art 49 GRCh, 7 EMRK) und des Verbots der Doppelbestrafung (Art 50 GRCh, Art 4 7. ZP EMRK). Auch insoweit stellt sich die Frage einer Übernahme der EGMR-Rechtsprechung zu den Garantien der EMRK, die nun in Art 52 III GRCh auch explizit angesprochen wird. Gegenüber der Orientierung an den Verfahrensgewährleistungen der EMRK ist die GRCh mit ihrer systematischen Erfassung der Verfahrensrechte insofern ein Fortschritt, als erstmals deutlich zwischen den Rechten im Verwaltungsverfahren (Art 41 GRCh) und dem Anspruch auf gerichtliche Kontrolle und ein faires gerichtliches Verfahren (Art 47 GRCh) unterschieden und der Bereich des Verwaltungsverfahrens ausdrücklich geregelt wird. Trotz dieser Trennung sind allerdings Interferenzen zwischen beiden Bereichen unvermeidbar – das gilt etwa für die Geltung der Strafverfahrensgarantien in behördlichen Ermittlungsverfahren (s insbes zum Kartellrecht → Rn 15 ff) –, so dass in diesem Abschnitt insoweit auch die Rechte im Verwaltungsverfahren mitbehandelt werden (→ im Übrigen § 26 Rn 67 ff). Positiv schlägt auch zu Buche, dass die bei Art 6 EMRK problematische Beschränkung der Gewährleistungen auf Zivil- und Strafsachen14 in Art 47 GRCh (bei im Übrigen weitgehend übereinstimmendem Text) vermieden wird.15 Nachteilig ist allerdings, dass die Rechte im Verwaltungsverfahren nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art 41 GRCh nur gegenüber den EU-Organen eingeräumt werden,16 was durch den Textvergleich mit dem allgemein gefassten Art 47 GRCh besonders deutlich hervortritt; soweit der Verfahrensvollzug des EU-Rechts den Mitgliedstaaten obliegt, wird daher weiter auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückzugreifen sein.17 Insgesamt

13 Die Institution des Bürgerbeauftragten hat auf die Fortentwicklung der Verfahrensgarantien des EU-Rechts maßgeblichen Einfluss genommen, zunächst bei der Etablierung des Rechts auf Zugang zu EU-Dokumenten, in der Folge durch die Entwicklung des „Europäischen Kodex für gute Verwaltungspraxis“, der das Recht auf eine gute Verwaltung weiter ausdifferenziert, rechtliche Verbindlichkeit bisher allerdings nicht erlangt hat; zu diesem Instrument zB Bourquain DVBl 2008, 1224 ff; Efstratiou (Fn 12) S 289 ff; Hill DVBl 2002, 1316, 1318 f; Harden RMUE 2001, 573, 614 ff; zu dieser Rolle des Bürgerbeauftragten s mwN Gundel in Schulze/Zuleeg/Kadelbach, ER, § 3 Rn 59 ff. 14 Zur Entwicklung der EGMR-Rechtsprechung s Gundel in Merten/Papier (Hrsg) Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd VI/1, 2010, § 146 Rn 6 ff. 15 De lege ferenda plädieren zB Flauss AJDA 2001, 1060, 1062; Hottelier SZIER 2001, 175, 193 f für die Aufgabe dieser gegenständlichen Begrenzungen des Art 6 EMRK nach dem Vorbild der GRCh. 16 Dazu U Stelkens ZEuS 2004, 129, 137 f; Lais ZEuS 2002, 447, 457 f; krit Heringa/Verhey 8 MJ (2001), 11, 30; der EuGH scheint dieses Ergebnis durch eine erweiternde Sichtweise des Art 41 GRCh korrigieren zu wollen, s EuGH, 22.11.2012 Rs C-277/11, Rn 82 ff – M M; das begründet für Art 41 II GRCh im Ergebnis keinen Unterschied (s sogleich Fn 17), spätestens die Sprachengarantie des Art 41 IV GRCh (s u Rn 12) wird sich aber nicht auf die Mitgliedstaaten erstrecken lassen. 17 S Magiera in: Meyer, ChGr, Art 41 Rn 9; zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten in dieser Konstellation s u Rn 42 f. Da Art 41 GRCh wiederum die bisherige Rspr zu den Verfahrensanfor-

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beschränkt sich die GRCh damit unter weitgehendem Verzicht auf inhaltliche Neuerungen auf die verdeutlichende und systematisierende Zusammenführung von Verfahrensgewährleistungen, die entweder bereits an anderer Stelle normiert waren18, oder aber schon durch die Rechtsprechung entwickelt worden sind; im Detail finden sich allerdings auch echte Neuerungen19. c) Die Bedeutung des Sekundärrechts Verfahrensgewährleistungen oder -rechte sind vielfach auch im Sekundärrecht enthalten20. Dabei handelt es sich teils um nur deklaratorische Wiedergaben oder Präzisierungen des bereits nach Primärrecht geltenden Standes; ein Beispiel hierfür bildet der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der milderen Strafsanktion, der sich ausdrücklich zunächst nur in einer EG-Verordnung fand21, den der EuGH aber später als allgemeinen Rechtsgrundsatz und damit Bestandteil des Primärrechts anerkannt hat22 und der nun mit Art 49 I 3 GRCh auch Teil des geschriebenen Primärrechts ist23. Ähnliches gilt nun auch für die seit 2010 ergangenen Richtlinien zu den Rechten des Angeklagten im Strafverfahren24, die im wesentlichen die Rechtsprechung des EGMR zu Art 6 EMRK kodifizieren25, die ohnehin über Art 47 GRCh und die Homogenitätsklausel des Art 52 III GRCh Bestandteil des Primärrechts ist. Teils handelt es sich aber auch um eigenständige Ergänzungen, deren Streichung in der Hand des EU-Gesetzgebers liegt 26. Unter dem Gesichts-

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derungen an EU-Organe und Mitgliedstaaten „bekräftigt“ – so EuG, Slg 2002, II-313, Rn 48 – max.mobil = EuZW 2002, 186 m Anm C Nowak, dürften sich inhaltlich keine Differenzen ergeben; s a U Stelkens ZEuS 2004, 129, 138. Das gilt zB für das Begründungserfordernis für Rechtsakte der EU gem Art 296 AEUV, das nun auch in Art 41 II GRCh als Teil des Rechts auf eine gute Verwaltung aufgeführt wird; auch die in Art 340 II AEUV normierte Schadenshaftung der EU wird in Art 41 III GRCh als Element der guten Verwaltung aufgeführt. Das gilt zB für das Verbot der Doppelbestrafung, das durch Art 50 GRCh transnational ausgeweitet wird (s noch Fn 152) eingeschränkt auch für die Rückwirkung des milderen Strafgesetzes gem Art 49 I 3 GRCh, s u Fn 23. So zB die VO 2988/95 des Rates v 18.12.1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABl EG 1995 L 312/1, die einen allgemeinen Rahmen für den Erlass verwaltungsrechtlicher Sanktionen zum Schutz dieser Interessen setzt, und damit auch den Schutz des Einzelnen bewirkt; für ein Beispiel s Fn 21. Art 2 II 2 der VO 2988/95 (Fn 20); s dazu zB EuGH, Slg 2004, I-6369, Rn 40 ff – Gisela Gerken. EuGH, Slg 2005, I-3565, Rn 67 ff – Berlusconi; Slg 2007, I-2089, Rn 32 – Campina; Slg 2009, I-4273, Rn 43 – Mickelsson (dazu Gundel EuZW 2009, 833). Die Anerkennung dürfte dem EuGH auch dadurch leichter gefallen sein, dass die Garantie zu diesem Zeitpunkt bereits in Art 49 I 3 GRCh aufgenommen war; zwischenzeitlich hat auch der EGMR diese Gewährleistung anerkannt, obwohl sie in der EMRK fehlt, s EGMR, 17.9.2009 – Scoppola (No 2); dazu mwN Gundel FS Scheuing, 2011, S 58, 71 ff. RL 2010/64/EU des EP und des Rates v 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren, ABl EU 2010 L 280/1; RL 2012/13/EU des EP und des Rates v 22.5.2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung im Strafverfahren, ABl EU 2012 L 142/1; RL 2013/48/EU des EP und des Rates v 22.10.2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafsachen und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (…), ABl EU 2013 L 294/1. Dazu Polakiewicz EuGRZ 2010, 11 ff; ders ZEuS 2010, 1 ff. Für ein Beispiel s u Fn 165.

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punkt der Verfahrensgrundrechte werden hier nur solche Verfahrensregelungen behandelt, die auf das geschriebene Primärrecht oder auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückgeführt werden können.

3. Verpflichtete 8

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Durch die Verfahrensgrundrechte verpflichtet sind zunächst die EU-Organe (Rn 10 ff): Der EU-Gesetzgeber darf keine verfahrensrechtlichen Gestaltungen wählen, die diese Rechte missachten, die EU-Exekutive muss bei den von ihr durchgeführten Verwaltungsverfahren die Rechte der Betroffenen beachten, und auch der Zugang zu den EU-Gerichten und das gerichtliche Verfahren unterliegen diesen Vorgaben: So müssen Verwaltungsentscheidungen zB in den von der Kommission betriebenen Kartellverfahren in angemessener Frist ergehen,27 und auch die überlange Verfahrensdauer bei einer anschließenden gerichtlichen Überprüfung ist ein Verstoß gegen Verfahrensgrundrechte.28 Daneben sind auch die Mitgliedstaaten durch die Verfahrensgrundrechte des EURechts verpflichtet: Die Verfahrensanforderungen binden auch die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte, wenn diese im Anwendungsbereich des EU-Rechts tätig werden (Rn 42 ff); weiter sind beim Vollzug des EU-Rechts Kooperationsformen zwischen EUVerwaltung und mitgliedstaatlichen Behörden entstanden, die die Verwirklichung der Verfahrensgrundrechte vor besondere Probleme stellen (Rn 59 ff).

II. Justiz- und Verfahrensgrundrechte gegenüber den EU-Organen 1. Verfahrensgrundrechte gegenüber den Verwaltungsorganen der EU a) Die einzelnen Rechte 10

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Die bedeutsamsten Verfahrensrechte im Verwaltungsverfahren werden heute in Art 41 II GRCh beispielhaft („insbesondere“) aufgezählt: Das Recht auf Anhörung vor Erlass einer nachteiligen Maßnahme, das Recht auf Einsicht in die betreffenden Akten; darüber hinaus ist auch die dort aufgeführte, schon im Primärrecht (Art 296 II AEUV) vorgesehene Pflicht zur Begründung von Rechtsakten den Verfahrensgrundrechten zuzuordnen: Sie gilt zwar für alle Rechtsakte der EU, erfüllt im Fall belastender Entscheidungen der EUOrgane aber den besonderen Zweck, zum einen dem Betroffenen Aufschluss über die Gründe zu geben und zum anderen eine gerichtliche Kontrolle zu ermöglichen.29 Die Rechtsprechung des EuGH hatte schon zuvor geklärt, dass rechtliches Gehör vor allen belastenden Verwaltungsentscheidungen auch ohne ausdrückliche sekundärrecht-

27 S zB EuGH, Slg 2006, I-8725, Rn 35 ff – FEG; zuvor EuG, Slg 1999, II-931, Rn 120 ff – Limburgse Vinyl; Slg 1997, II-1739, Rn 56 – SCK u FNK. 28 So zur Dauer eines Verfahrens vor dem EuG erstmals EuGH, Slg 1998, I-8417 – Baustahlgewebe; dazu Schlette EuGRZ 1998, 369 ff; Toner 36 CMLRev (1999), 1345 ff; Pallaro DCSI 2000, 493 ff; weiter Slg 2002, I-8375, Rn 206 ff – Limburgse Vinyl, m Anm Wesseling 41 CMLRev (2004), 1141 ff; → zu den Rechtsfolgen Rn 40; → zur Rspr des EGMR § 6 Rn 54 ff. 29 Hervorgehoben wird diese doppelte Funktion der Begründung zB in der Rspr zum Zugang zu EU-Dokumenten, etwa EuG, Slg 2000, II-3269, Rn 64 – JT’s Corporation Ltd, mwN; Slg 1998, II-545, Rn 63 – van der Wal; zur Begründung von Beihilfe-Beanstandungen EuG, Slg 2000, II-2267, Rn 34 – EPAC; auch bei wettbewerbsrechtlichen Entscheidungen spielt die Begründung eine wesentliche Rolle, s etwa EuG, Slg 1998, II-1875, Rn 109 ff – Enso Española.

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liche Regelung gewährleistet werden muss.30 Nur in Ausnahmekonstellationen kann es zulässig sein, das Gehör erst nach Erlass der Maßnahme zu gewähren, wenn dies zur Sicherung ihres Erfolgs erforderlich ist.31 Als notwendiges Element dieses Gehörs ist in der Rechtsprechung auch das akzessorische Akteneinsichtsrecht32 des Betroffenen anerkannt:33 Um effektiv Stellung nehmen zu können, muss er die zu seinen Lasten verwendeten Unterlagen kennen.34 Die Verpflichtung zur Begründung der am Ende des Verfahrens stehenden Entscheidung sichert die Möglichkeit gerichtlicher Kontrolle und ist damit zugleich auch durch Art 47 GRCh gewährleistet35. Als spezifisch unionsrechtliches Verfahrensgrundrecht, das den Bürgern allein gegenüber den EU-Organen eingeräumt ist,36 ist der Gebrauch der eigenen Sprache im Kontakt mit den EU-Organen zu erwähnen. Dieses Recht ist als Ausprägung der Unionsbürgerschaft durch den Vertrag von Amsterdam in das Primärrecht aufgenommen worden und findet sich heute in Art 24 IV AEUV (→ vgl § 26 Rn 10); auch in Art 41 IV der Grundrechtscharta ist es niedergelegt. Es verpflichtet die EU-Organe, mit den Unionsbürgern in der von ihnen jeweils gewählten EU-Amtssprache zu kommunizieren.37 Allerdings ist ins-

30 So nachdrücklich EuGH, Slg 1994, I-2885, Rn 39 – Fiskano; weiter zB Slg 1996, I-5373, Rn 21 – Lisrestal; EuG, Slg 1998, II-401, Rn 76 – Eyckeler u Malt; Slg 1998, II-3773, Rn 59 – Primex Produkte; EuG, Slg 2007, II-2061 – Alrosa, Rn 191 ff (dazu Le More EuZW 2007, 722 ff; Idot Europe 10/2007, 28 f); allerdings gilt dieses Anhörungsrecht nur für individuelle Rechtsakte, s Slg 2011, I-1655, Rn 49 – AJD Tuna; umfassend zur Entwicklung nun Nöhmer Das Recht auf Anhörung im europäischen Verwaltungsverfahren, 2013. 31 So zum Fall der „smart sanctions“ EuGH, Slg 2008, I-6351, Rn 338 ff – Kadi. 32 Dazu zB EuG, Slg 2002, II-1705, Rn 169 ff – LR AF 1998; Slg 1995, II-1847 – ICI; Slg 1992, II-2667 – Cimenteries CBR; Slg 1991, II-1711 – Hercules Chemicals. 33 Die EU-Kommission hat die Grundsätze zur Handhabung dieses Rechts im Gefolge der EuGHRspr in einer im Amtsblatt veröffentlichten Mitteilung zusammengefasst, ABl EG 1997 C 23/3; jetzt ist es explizit in Art 27 II der VO 1/2003 (zu dieser noch unten Fn 39) geregelt, s dazu C Nowak DVBl 2004, 272, 275 f. 34 In einem kartellrechtlichen Verfahren hat EuGH, Slg 1983, 1825, Rn 30 – Musique Diffusion daraus die Konsequenz gezogen, dass Belastungsmaterial, zu dem der Betroffene nicht Stellung nehmen konnte, durch das Gericht nicht zu seinen Lasten verwertet werden kann. Das Einsichtsrecht gilt allerdings auch nicht uneingeschränkt, sondern ist mit den Rechten anderer Beteiligter in Ausgleich zu bringen; so kann es in Kartellverfahren erforderlich werden, die Geschäftsgeheimnisse der Betroffenen vor der Einsichtnahme durch Dritte (etwa beschwerdeführende Wettbewerber) zu schützen. 35 S EuGH, EuGRZ 2013, 281–287 – ZZ/Home Department (dort zugleich zu den aus Gründen der öffentlichen Sicherheit zulässigen Einschränkungen). 36 Dieses Recht gilt nicht gegenüber den mitgliedstaatlichen Behörden, für deren Tätigkeit wie selbstverständlich die Amtssprache des Aufenthaltsstaats gilt. Eine Ausnahme normiert Art 76 VII der VO 883/2004 des EP und des Rates v. 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl EU 2004 L 166/1, der für den Bereich der Sozialsysteme bestimmt: „Die Behörden, Träger und Gerichte eines Mitgliedstaates dürfen die bei ihnen eingereichten Anträge und sonstigen Schriftstücke nicht deshalb zurückweisen, weil sie in der Amtssprache eines anderen Mitgliedstaates abgefasst sind (…).“ S zu dieser Bestimmung und vereinzelten weiteren Ausnahmeregelungen de Witte in: Dinstein/Tabory (Hrsg) The Protection of Minorities and Human Rights, 1992, 277, 290 f; für ein Anwendungsbeispiel s EuGH, Slg 1967, 294 – Teresa Guerra (zu einem Klageschriftsatz in italienischer Sprache vor einem belgischen Gericht). 37 Im Verhältnis zu den in Art 24 IV AEUV nicht aufgeführten verselbständigten Behörden der EU (sog Ämtern oder Agenturen der EU als Einheiten mit eigener Rechtspersönlichkeit) soll der

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besondere nach der Vermehrung der Amtssprachen durch die verschiedenen Beitrittsrunden fraglich geworden, wie lange die Union noch bereit ist, sich diesen Luxus der „Allsprachigkeit“ zu leisten38; immerhin macht die Rechtsprechung in neuerer Zeit aber deutlich, dass die – wenn auch kostspielige – Berücksichtigung aller Amtssprachen zur Legitimation der EU im Kern unverzichtbar erscheint.39 Mit der Anerkennung weiterer ungeschriebener Verfahrensgrundrechte ist der Gerichtshof allerdings zu Recht zurückhaltend: So hat er die Anerkennung eines ungeschriebenen Anspruchs auf Rechtsbehelfsbelehrung, der im AEUV nicht als Voraussetzung für den Fristlauf der Nichtigkeitsklage (gem Art 263 VI AEUV grundsätzlich 2 Monate) erwähnt ist, abgelehnt.40 Ist eines der danach garantierten Rechte durch die EU-Organe im Verwaltungsverfahren missachtet worden, so kann die in diesem Verfahren ergangene Entscheidung wegen Verstoßes gegen eine wesentliche Formvorschrift (Art 263 II, 2. Alt AEUV) durch die EU-Gerichte für nichtig zu erklären sein. Die Zuordnung zu diesem Klagegrund bedeutet zugleich, dass die (mögliche) Auswirkung des Verstoßes auf den Inhalt der Entscheidung maßgeblich für den Erfolg der Klage ist: Nur solche Fehler, die im konkreten Fall Auswirkungen haben konnten,41 gelten als Verstoß gegen eine „wesentliche Formvorschrift“.42

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Grundsatz der Allsprachigkeit nicht gelten, s EuG, Slg 2001, II-2235 – Kik = EuR 2001, 764 m krit Anm Gundel (zum eingeschränkten Sprachenregime des EG-Markenamts in Alicante, das nur die Sprachen der fünf größten Mitgliedstaaten verwendet; die diese Einschränkung billigende Entscheidung des EuG ist durch EuGH, Slg 2003, I-8283 – Kik, m Anm Shuibne 41 CMLRev (2004), 1093 ff bestätigt worden). Zur sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Sprachenregimes s Oppermann ZEuS 2001, 1 ff; ders NJW 2001, 2663 ff; zur Reformfrage zB Nabli RFDA 2005, 177 ff; Van Der Jeught JTDE 2004, 129 ff; Yvon EuR 2003, 681 ff. S EuGH, Slg 2007, I-10841 – Skoma-Lux: Eine nicht in allen Amtssprachen veröffentlichte VO ist auf dem Gebiet der nicht berücksichtigten Staaten verbindlich; zum Hintergrund des Falls – der EU-Osterweiterung, die die Übersetzung des gesamten geltenden Sekundärrechts in die Sprachen der Beitrittsländer erforderlich machte – s Lasinski-Sulecki/Morawski 45 CMLRev (2008), 705 ff; weiter EuG, Slg 2008, II-3207 – Italien/Kommission: Die Beschränkung der Veröffentlichung von Stellenausschreibungen auf die internen Arbeitssprachen Englisch, Französisch und Deutsch ist unzulässig; dazu Bernard Europe 1/2009, 8 f. EuGH, Slg 1999, I-1441, Rn 15 – Guérin Automobiles, Bestätigung von EuG, Slg 1998, II-253, Rn 161 – Guérin Automobiles; krit dazu Martínez Soria EuR 2001, 682, 694 mwN. Der EuGH hat hier festgehalten, dass eine solche Belehrungspflicht zwar in den meisten Mitgliedstaaten bestehe, dort aber nur Gegenstand des einfachen Gesetzesrechts sei. S zB EuG, Slg 2004, II-2223, Rn 55 – Mannesmannröhren-Werke, wonach „Verteidigungsrechte durch einen Verfahrensfehler nur verletzt werden, wenn sich dieser auf die Verteidigungsmöglichkeiten der beschuldigten Unternehmen konkret ausgewirkt hat“. Vergleichbar ist im deutschen Recht § 46 VwVfG, s dazu Kahl VerwArch 95 (2004), 1, 22 ff; Verfahrensfehler wirken sich damit vor allem in solchen Bereichen aus, in denen den EU-Organen ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist; s für ein Bsp EuG, Slg 1998, II-3773, Rn 60, 71 – Primex Produkte. Tatsächlich wird der Wortlaut des Art 263 II AEUV damit abweichend geordnet: Erforderlich ist nicht die Verletzung einer (bei abstrakter Betrachtung) „wesentlichen Formvorschrift“, sondern eine (im konkreten Fall) „wesentliche Verletzung“ einer Formvorschrift; so zu Recht Cremer in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 263 AEUV Rn 84.

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b) Insbesondere: Verfahrensrechte im Kartellverfahren Wichtigster Anwendungsbereich für Verfahrensgrundrechte unmittelbar gegenüber den EU-Behörden ist das EU-Kartellrecht, das bisher vor allem von der Kommission selbst unmittelbar gegenüber den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern vollzogen wurde. Auch nach der Dezentralisierung der Kartellaufsicht durch die VO 1/200343, mit der diese Aufgabe weitgehend auf die mitgliedstaatlichen Behörden verlagert wird, bleibt der Kommission das Recht des unmittelbaren Zugriffs auf kartellrechtliche Verstöße im Einzelfall.44 In der Literatur ist die damit verbundene Verfahrensherrschaft der Kommission immer wieder problematisiert worden45. In diesem zumindest strafrechtsähnlichen Gebiet finden nicht nur die „allgemeinen Verfahrensgarantien“ Anwendung46: Darüber hinaus stellt sich die Frage nach Geltung und Reichweite weiterer gebietsspezifischer Gewährleistungen, wie der Vertraulichkeit der Rechtsberatung47, der Unschuldsvermutung48, des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots49 oder des Verbots der Doppelbestrafung.50

43 Die VO 1/2003 des Rates v 16.12.2002 zur Durchführung der in den Art 81 und 82 des EG-Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl EU 2003 L 1/1, ersetzt die zuvor geltende VO Nr 17 des Rates v 6.2.1962; zu den Verfahrensrechten nach der Reform zB Meyer/Kuhn WuW 2004, 880 ff; Andreangeli 31 ELRev (2006), 342 ff. 44 S zur Regelung der Zuständigkeiten Art 4 ff der VO 1/2003 (Fn 43); selbst im Fall eines bereits laufenden nationalen Verfahrens kann die Kommission noch eigene Ermittlungen einleiten, s EuG, Slg 2007, II-521, Rn 79 – France Télécom. 45 S in jüngerer Zeit die Beiträge in Immenga/Körber (Hrsg) Die Kommission zwischen Gestaltungsmacht und Rechtsbindung, 2012; weiter Nascimbene 38 ELRev (2013) 573 ff; Lidgard FS Lindh, 2012, S 403 ff; Ruiz Calzado/de Stefano, ebda, S 423 ff; in der Rechtsprechung haben diese Bedenken allerdings bisher kein Echo gefunden, s u Rn 18. 46 S auch Andreangeli EU Competition Enforcement and Human Rights, 2008, insbes S 15 ff; Bombois La protection des droits fondamentaux des entreprises en droit européen répressif de la concurrence, 2012. 47 S schon Fn 10; zur Reichweite dieser Gewährleistung weiter EuG, Slg 2007, II-3523 – Akzo Nobel = EuR 2008, 514 m Anm Weiß; s auch Sladic ZEuS 2007, 533 ff; Seitz EuZW 2008, 204 ff; dies EuZW 2004, 231 ff. 48 S zB EuG, Slg 2007, II-4225 – Pergan Hilfsstoffe = EuR 2008, 703 m Anm Wegener: Die namentliche Erwähnung eines Unternehmens als (wegen Verjährung nicht mehr verfolgbarer) Teilnehmer an einem Kartell in der Begründung einer gegen andere Unternehmen ergangenen Entscheidung verletzt die Unschuldsvermutung; s weiter zur Problematik der Zurechnung von Kartellrechtsverstößen von Tochtergesellschaften an die Muttergesellschaft u Fn 63. 49 S zB EuGH, Slg 2007, I-1331, Rn 23 ff – Groupe Danone: Kein Verstoß durch strafschärfende Berücksichtigung eines Wiederholungsfalls bei Festsetzung der Bußgeldhöhe; dazu Seitz EuZW 2007, 304 f; EuG, Slg 2008, II-1501, Rn 113 ff – ACTreuhand = EuR 2010, 207 m. Anm. Weitbrecht/Baudenbacher: Kein Verstoß durch Geldbuße für Beihilfehandlungen; dazu von dem Bussche/Albrecht EWS 2008, 416 ff. 50 S Art 50 GRCh; → zum Verbot der Doppelbestrafung nach Art 4 7. ZP EMRK § 6 Rn 66 f. Zur Problematik im EU-Kartellrecht s Böse EWS 2007, 202 ff; Soltész/Marquier EuZW 2006, 102 ff; Ameye 25 ECLR (2004), 332, 339 f; aus der Rspr s grundlegegend EuGH, Slg 1969, 1, Rn 10 f – Walt Wilhelm; weiter EuG, Slg 2004, II-1181, Rn 130 ff – Tokai Carbon: Eine parallele Sanktionierung nach nationalem und EU-Wettbewerbsrecht ist nach diesen Entscheidungen aufgrund der unterschiedlichen Schutzgüter nicht per se unzulässig, doch ist aus Billigkeitsgründen eine bereits verhängte Sanktion bei der folgenden Entscheidung mildernd zu berücksichtigen. Sanktionen durch Drittstaaten müssen nicht berücksichtigt werden, so Slg 2006, I-5977, Rn 26 ff – SGL Carbon;

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Fall 1: (EuGH, Slg 1989, 3283 – Orkem) Im Rahmen von Ermittlungen wegen des Verdachts unzulässiger Preisabsprachen fordert die Kommission die in Deutschland ansässige X-AG zur Erteilung von Auskünften auf; nachdem diese nicht reagiert, erlässt die Kommission eine förmliche Entscheidung, wonach die X-AG (1) Auskunft darüber zu geben hat, welche anderen Unternehmen bei einem Treffen führender Verantwortlicher der X-AG mit verschiedenen, bisher aber noch nicht abschließend ermittelten Konkurrenzunternehmen vertreten waren, (2) mitzuteilen hat, welche Verabredungen oder sonstigen Verstöße gegen Art 101 AEUV bei diesen Treffen oder in der Folgezeit beschlossen worden sind. Die X-AG meint, dass sie die Fragen nicht beantworten müsse; die Anforderung dieser Angaben bedeute einen unzulässigen Zwang zur Selbstbelastung. Zu Recht?

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Der Grundsatz des fairen Verfahrens, der für die EMRK in Art 6 verkörpert wird, gilt auch in kartellrechtlichen Ermittlungsverfahren der Kommission; dies gilt unabhängig davon, ob dieses Verfahren als Zivil- oder Strafsache im Sinne des Art 6 EMRK51 einzuordnen ist: Die EU-Gerichte konnten diese Frage lange offen lassen,52 weil die Geltung der Verfahrensanforderung als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Rechts davon nicht abhängig ist.53 Zwischenzeitlich dürfte die Einordnung als strafrechtlicher Vorwurf zwar zumindest der Sache nach anerkannt sein54, nachdem der EuGH die Anwendbarkeit der spezifisch strafrechtlichen Justizgewährleistungen in diesem Bereich akzeptiert hat. Dadurch wird allerdings die überkommene Ausgestaltung des Kartellverfahrens als von der Kommission geführtes und mit einer – gerichtlich überprüfbaren – Verwaltungsentscheidung abgeschlossenes Verfahren nicht in Frage gestellt:55 Tatsächlich folgt auch aus der EGMR-Rspr, dass außerhalb des Kernstrafrechts strafrechtliche Vorwürfe durch Behörden ohne Gerichtscharakter festgehalten werden können, wenn eine vollständige

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Slg 2007, I-3921, Rn 24 ff – SGL Carbon; s zuletzt EuZW 2012, 223 – Toshiba zur Zulässigkeit der nationalen Sanktionierung von Verstößen, die vor dem EU-Beitritt des Mitgliedstaats begangen und damit von EU-Sanktionen nicht erfasst wurden; dazu Boni RAE 2012, 183 ff. → zu den Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Art 6 I EMRK selbst § 6 Rn 36 ff. So zB EuG, Slg 1997, II-1739, Rn 56 – SCK u FNK, zum Anspruch auf Erlass einer Kommissionsentscheidung in angemessener Frist: „Daher ist, ohne dass über die Anwendbarkeit des Art 6 I EMRK auf Verwaltungsverfahren vor der Kommission auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik zu entscheiden wäre, zu prüfen, ob die Kommission im vorliegenden Fall gegen diesen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts verstoßen hat.“ Zu Recht hat EuGH, NZKart 2013, 364–367 – Ziegler, daran festgehalten, dass die Kommission bei der Anwendung des Wettbewerbsrechts nicht selbst als gerichtliche Instanz im Sinne des Art 6 I EMRK qualifiziert werden kann, auch wenn die verfahrensrechtlichen Garantien bereits in diesem Stadium gelten; ebenso bereits EuGH, Slg 1983, 1825, Rn 7 – Musique Diffusion; Slg 1980, 3125, Rn 80 – van Landewyck („Fedetab“); für Disziplinarverfahren der Kommission ebenso Slg 1998, I-4871, Rn 52 – N. S auch Pache NVwZ 2001, 1342, 1343; ders EuGRZ 2000, 601, 603. S (implizit) EuGH, Slg 2011, I-12789, Rn 91 – KME Germany, explizit Rn 64 ff der Schlussanträge von GA Sharpston zu dieser Entscheidung; für die EMRK s EGMR, 27.10.2011, 43509/08, Rn 38 ff – Menarini Diagnostics SRL; dazu Bueren, EWS 2012, 363 ff; Abenhaim, RTDE 2012, 117 ff; Bombois, CDE 2011, 541 ff; im Anschluss daran für das EWR-Recht EFTA Court, 18.4.2012 E-15/10, Rn 84 ff – Posten Norge; dazu Temple Lang 37 ELRev. (2012), 464 ff. So ausdrücklich EuGH, NZKart 2013, 334, Rn 33 ff – Schindler; s a NZKart 2013, 364, Rn 156 ff – Ziegler; s a, 3.5.2012 C-289/11 P, Rn 35 f – Legris Industries mit der Klarstellung, dass das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und der Grundrechtecharta keine Neubewertung erfordere, weil der Grundrechtsstandard schon zuvor anerkannt war.

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gerichtliche Kontrolle gesichert ist56. Das vor der Kommission geführte Verfahren als solches unterliegt damit Art 41 GRCh und nicht Art 47 GRCh57. Lösung Fall 1: Ein absolutes Recht zur Vermeidung von Selbstbelastungen besteht im EU-Recht nicht; der „nemotenetur“-Grundsatz gilt danach nur für natürliche Personen in Strafverfahren, nicht aber für juristische Personen, denen ein wettbewerbsrechtliches Bußgeld droht.58 Die Garantie eines fairen Verfahrens, die auch hier anwendbar ist, zwingt jedenfalls in diesem Bereich nicht zur Anerkennung eines absoluten Schweigerechts; dennoch setzt sie dem Fragerecht der Kommission Grenzen. Die tatsächlichen Angaben zu (1) muss die X-AG danach tatsächlich erteilen, auch wenn sie Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen liefern, die schließlich zum Beweis eines Wettbewerbsverstoßes und zur Verhängung eines Bußgeldes führen können. Die Beantwortung der Fragen zu (2) würde dagegen nicht nur Indizien liefern, sondern verlangt eine eigene Bewertung des Sachverhalts durch das Unternehmen, die einem Geständnis gleichkommen würde. Die Verpflichtung zur Beantwortung solcher Fragen verstößt auch nach der Rechtsprechung des EuGH gegen das Recht auf ein faires Verfahren.59

Die Lösung der EU-Gerichte ist insofern nicht unproblematisch, als der EGMR in einem vergleichbaren Fall ein absolutes Recht zur Aussageverweigerung auf der Grundlage des Art 6 EMRK angenommen hat;60 in Kenntnis dieser Rechtsprechung haben EuG und EuGH die restriktivere Auslegung im Anwendungsbereich des EU-Rechts bestätigt.61 Diese Divergenz könnte dadurch zu erklären sein, dass in den vom EuGH entschiedenen Fällen juristische Personen betroffen waren, auf die die ratio der Selbstbelastungsfreiheit nicht zutrifft.62 In diesen Zusammenhang der differenzierten Anwendung strafrechtlicher Gewährleistungen auf juristische Personen gehört auch die umstrittene Frage der Vereinbarkeit einer kartellrechtlichen Sanktionierung von Mutterunternehmen, denen keine eigene aktive Mitwirkung am Verstoß der Tochtergesellschaft nachgewiesen werden kann, mit der Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 EMRK.63 56 S dazu Gundel in Merten/Papier (Hrsg) Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd VI/1, 2010, § 146 Rn 53. 57 So nun EuGH, NZKart 2013, 364, Rn 154 – Ziegler; Slg 2011, I-10439, Rn 48 – Solvay. 58 EuGH, Slg 1989, 3283, Rn 31 – Orkem. 59 EuGH, Slg 1989, 3283, Rn 38 ff – Orkem. 60 EGMR, RUDH 1993, 232, Rn 41 ff, 44 – Funke = ÖJZ 1993, 532 (Zollverfahren), dazu Philippi ZEuS 2000, 97, 114 ff; s auch noch EGMR, RJD 1996-VI, Rn 71 – Saunders (Ermittlungen der Börsenaufsicht); zu diesen Entscheidungen des EGMR und ihren Konsequenzen für das EURecht s auch Riley 25 ELRev (2000), 264, 270 ff; einschränkend zum Ausschluss einer Pflicht zur Selbstbelastung aber die neuere EGMR-Rspr, s EGMR, RJD 2003-VIII – Allen = ÖJZ 2003, 909; EGMR, ÖJZ 2004, 853, Rn 39 ff – Weh. 61 EuG, Slg 2001, II-729, Rn 70 ff – Mannesmann-Röhrenwerke = EuZW 2001, 345 m Anm Pache; EuGH, Slg 2006 I-5915, Rn 45 ff – SGL Carbon (dazu z.B. Soyez EWS 2006, 389 ff); Slg 2009, I-8681, Rn 271 – Erste Group Bank AG. 62 Ähnlich Vondung Die Architektur des europäischen Grundrechtsschutzes nach dem Beitritt der EU zur EMRK, 2012, S 115 f; Bueren ZEuS 2011, 485, 504 f; wohl auch Paeffgen ZStW 118 (2006), 275, 297. Hierauf für das deutsche Recht abstellend BVerfGE 95, 220, 241 f – Radio Dreyecksland (ablehnend dazu freilich Weiß JZ 1998, 289 ff; ders NJW 1999, 2236 f); der EuGH führt diesen Gesichtspunkt nicht explizit an, s aber Rn 63 der Schlussanträge von GA Geelhoed zu EuGH, Slg 2006, I-5915 – SGL Carbon. 63 Die Vermutung eines bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft verstößt nach der EuGHRechtsprechung bei 100 %-igen Tochtergesellschaften nicht gegen den Grundsatz der persönlichen

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2. Verfahrensgrundrechte vor den EU-Gerichten a) Zugang zu den EU-Gerichten aa) Direkter und indirekter Zugang zu den EU-Gerichten 21

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Die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes durch die Judikative der EU betrifft zunächst die Frage der Eröffnung des Zugangs zum Gericht; grundsätzlich gehört eine wirksame gerichtliche Überprüfung von belastenden Entscheidungen der EU-Organe zu den allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts.64 Der EuGH betont, dass der Vertrag „ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen“ hat, das die Kontrolle ihrer Handlungen durch die EU-Gerichte sicherstellt65. Diese Kontrolle erfolgt allerdings nicht stets in der Form des Primärrechtsschutzes, denn die Nichtigkeitsklage des Art 263 AEUV erfasst nur Handlungen der EU-Organe, die verbindliche Rechtswirkungen haben; im Übrigen verweist der Gerichtshof auf die Möglichkeit von Schadenersatzklagen gem Art 268, 340 AEUV66. Vollständig ist dieses System zudem von vornherein nur durch die Einbeziehung der nationalen Gerichte: Ihnen ist der Rechtsschutz des Einzelnen gegen unionsrechtswidriges Handeln der Mitgliedstaaten vollständig anvertraut67, und auch sein Zugang zum Gerichtshof zur Prüfung von Handlungen der EU-Organe erfolgt nach der Konzeption der Verträge und der bisherigen Handhabung durch die Rechtsprechung regelmäßig „indirekt“ auf dem Weg über die nationalen Gerichte und das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art 267 AEUV; diese Aufgabenverteilung wird durch den Reformvertrag von Lissabon im Grundsatz bestätigt68. Der Gerichtshof hat zwar unter Berufung auf den Charakter der EU als Rechtsgemeinschaft (s Art 19 I UA 1 EUV) den Grundsatz aufgestellt, dass stets eine Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzung für unionsrechtlich begründete Rechtspositionen bestehen muss;69 zu Erweiterungen des direkten Zugangs zu den EU-Gerichten hat der Gesichtspunkt des lückenlosen Rechtsschutzes bisher aber fast ausschließlich in Fällen geführt, die nicht den Schutz individueller Rechte, sondern das Verhältnis der EU-

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Verantwortlichkeit, s nur EuGH, Slg 2009, I-8237, Rn 60 ff – Akzo Nobel; Slg 2011, I-1, Rn 37 ff – General Química; Slg 2011, I-8947, Rn 54 ff – Elf Aquitaine; EuGH, 3.5.2012, C-289/11 P, Rn 45 ff – Legris Industries; 13.12.2012 Rs C-593/11 P, Rn 42 ff – Alliance One International; zuletzt 8.5.2013 Rs C-508/11 P, Rn 46 ff – ENI SpA = EuZW 2013, 547 m Anm Nehl; dazu z.B. Kling, WRP 2010, 506 ff; Bosch ZWeR 2012, 368 ff. So – wiederum für Wettbewerbsentscheidungen der Kommission – EuG, Slg 1998, II-1875, Rn 60 – Enso Española. So zB EuGH, Slg 2006, I-7795, Rn 80 – Reynolds Tobacco u a/Kommission. S zB zur Unzulässigkeit einer Nichtigkeitsklage gegen die Entscheidung der Kommission, Tabakhersteller vor amerikanischen Gerichten zu verklagen: EuGH, Slg 2006, I-7795, Rn 79 ff – Reynolds Tobacco u a/Kommission; weiter Slg 2011, I-92* (abgek Veröff), Rn 30 – Verein Deutsche Sprache, auch die Weitergabe von Informationen durch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) kann nur mit der Schadenersatzklage verfolgt werden, s u Fn 153. S auch noch u Rn 69 f. S den neu eingefügten Art 19 I UA 2 EUV: „Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfaßten Bereichen gewährleistet ist.“ Zur begrenzten Erweiterung der Nichtigkeitsklage in Art 263 IV AEUV s Rn 28 ff. So zB EuGH, Slg 1986, 1339, Rn 23 – Les Verts/Parlament.

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Organe zueinander betrafen70 und die in den Kategorien des deutschen Verfassungsprozessrechts eher dem Organstreitverfahren zuzuordnen wären.71 Im Übrigen verweist der Gerichtshof auf den „Einstieg“ über das Vorabentscheidungsverfahren, über dessen Einleitung das vorlegende nationale Gericht entscheidet. Die nationalen Gerichte sind zwar in letzter Instanz gemäß Art 267 III AEUV zur Vorlage verpflichtet, wenn sich ein ernsthaftes Auslegungsproblem stellt;72 will das Gericht die Ungültigkeit von Sekundärrecht annehmen, so gilt die Vorlagepflicht sogar unabhängig von seiner Stellung im Instanzenzug.73 Durch den Einzelnen unionsrechtlich erzwingbar ist die Vorlage jedoch nicht: Eine Nichtvorlagebeschwerde zum Gerichtshof ist nicht vorgesehen;74 das EU-Recht vertraut insoweit auf die korrekte Anwendung durch die nationalen Gerichte.75 Als mittelbare Sanktion steht unter sehr eingeschränkten Bedingungen nur die Möglichkeit der unionsrechtlichen Staatshaftung für Gerichtsurteile76 zur Verfügung. bb) Zulässige Nichtigkeitsklagen Einzelner gegen die an sie gerichteten Beschlüsse Diese Konzeption des indirekten Zugangs gilt auch, soweit Einzelne die Gültigkeit von Maßnahmen der EU-Organe zur Überprüfung stellen: Den direkten Zugang zu den EUGerichten eröffnet Art 263 IV AEUV ohne zusätzliche Voraussetzungen nur für die-

70 S die zunächst gegen den Text des Vertrages erfolgte Anerkennung der Aktivlegitimation des Parlaments zur Verteidigung seiner Rechte durch EuGH, Slg 1990, I-2041, Rn 23 – Parlament/Rat (Tschernobyl) = EuR 1990, 269 m Anm Hilf, die in Art 230 III EGV (Maastricht-Fassung) kodifiziert wurde (der Vertrag von Nizza hat das Parlament dann unter die privilegierten Kläger des Art 230 II EGV eingereiht); ähnlich für die Passivlegitimation Slg 1986, 1339, Rn 23 – Les Verts/Parlament (Wahlkampfkostenerstattung); EuG, Slg 2001, II-2823, Rn 47 ff – Martinez, de Gaulle ua/Parlament (Anerkennung des Fraktionsstatus von Gruppierungen im EP). 71 Eine Ausnahme bildet EuG, Slg 2008, II-2771 – Sogelma = EuR 2009, 369 m Anm Gundel zum Rechtsschutz gegen Entscheidungen der im damaligen Art 230 EGV nicht als mögliche Beklagte aufgeführten EU-Agenturen; in Art 263 I 2 AEUV sind sie nun genannt, dazu auch Everling EuR-Beih 1/2009, 71, 77 f. 72 Zu dieser Einschränkung der Vorlagepflicht durch die sog „acte clair-Doktrin“ s EuGH, Slg 1982, 3415 – CILFIT = EuR 1983, 161 m Anm Millarg. 73 Dazu und zur Ausnahme für den vorläufigen Rechtsschutz Rn 56. 74 Entsprechende Überlegungen finden sich zB bei Allkemper Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, 1995, 209 ff mwN. 75 In einzelnen Mitgliedstaaten besteht die Möglichkeit, unter Berufung auf das nationale Grundrecht des gesetzlichen Richters Verstöße der letzten fachgerichtlichen Instanz gegen die Vorlagepflicht des Art 267 III AEUV zu rügen, s für Art 101 I 2 GG BVerfGE 75, 223 – Kloppenburg; später zB BVerfG, JZ 2001, 923 m Anm Voßkuhle; BVerfG, NJW 2002, 1486; BVerfG, EuZW 2008, 679; BVerfG, EuGRZ 2008, 633; für Österreich ebenso VerfGH Wien, EuGRZ 1996, 529. EU-rechtlich gefordert ist die Eröffnung dieser zusätzlichen Instanz nicht; in Mitgliedstaaten, die diese Möglichkeit nicht kennen, bleibt den Parteien des Ausgangsverfahrens die Möglichkeit der Beschwerde zum EGMR wegen Verletzung der Vorlagepflicht: Die willkürliche Verletzung einer solchen Pflicht kann ebenfalls als Verstoß gegen Art 6 EMRK (faires Verfahren) gerügt werden, so grundsätzlich (im konkreten Fall aber jeweils Willkür verneinend) EGMR, RUDH 2001, 420 – Canela Santiago; EGMR, EuGRZ 2008, 274 – John; erstmals einen Verstoß bejahend EGMR, 8.4.2014, 17120/09, Rn 31 ff – Dhahbi. 76 S dazu EuGH, Slg 2003 I-10239 – Köbler = EuZW 2003, 718 m Anm Obwexer = EWS 2004, 19 m Anm Gundel 8 ff = JK 2004, EGV Art 10/02; Slg 2006, I-5177 – Traghetti del Mediterraneo = JZ 2006, 1173 m Anm Haratsch.

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jenigen Kläger, die sich gegen an sie gerichtete Entscheidungen der EU-Organe wenden, also zB für den Adressaten einer Bußgeldentscheidung der Kommission in Wettbewerbssachen. Für diese zulässigen Klagen Einzelner führt dieser Weg heute stets zum EuG als Eingangsgericht, das mit der EEA zur Entlastung des EuGH, aber auch zur Verbesserung des Individualrechtsschutzes durch Schaffung einer eigenen Tatsacheninstanz77 errichtet worden war.78 Die Adressaten eines solchen Beschlusses müssen danach grundsätzlich binnen der in Art 263 VI AEUV vorgesehenen Frist von zwei Monaten die Nichtigkeitsklage erheben; unterbleibt diese, so wird die Entscheidung bestandskräftig und damit für den Adressaten verbindlich.79 Eine Rechtsbehelfsbelehrung, die den Betroffenen auf diese Klagemöglichkeit (und -obliegenheit) hinweist, ist weder im Vertrag noch im Sekundärrecht ausdrücklich vorgesehen; der EuGH hat sie auch nicht als durch die Erfordernisse eines fairen Verfahrens geboten angesehen.80 Allerdings kann in besonderen Ausnahmefällen ein entschuldbarer Irrtum des Klägers angenommen werden, der ein Fristversäumnis ausschließt.81 cc) Klagen Einzelner gegen allgemein geltende Regelungen

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Für nicht an den Kläger gerichtete Handlungen der EU-Organe gilt nach der 2. Alternative des Art 263 IV AEUV, dass der Kläger durch den angegriffenen Rechtsakt „unmittelbar und individuell“ betroffen sein muss. Nach der von der Rechtsprechung seit langem verwendeten engen Auslegung des Erfordernisses der individuellen Betroffenheit – danach muss der Kläger durch den Rechtsakt „wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt“ werden und damit „in ähnlicher Weise individualisiert“ sein wie der Adressat eines Beschlusses82 – waren Nichtigkeitsklagen gegen normative Rechtsakte der EU regelmäßig unzulässig. Verordnungen oder Richtlinien sind nach diesen Voraussetzungen einer direkten Kontrolle durch den Einzelnen im Regelfall nicht ausgesetzt;83 anderes gilt nur in den seltenen Fällen „hybrider Rechtsakte“, die gleichzeitig normativ wirken und doch für bestimmte Einzelne individuelle Betroffenheit begründen84. Erst die durch den Vertrag von Lissabon angefügte 3. Alternative des Art 263 IV AEUV lockert diese Voraussetzun-

77 3. Erwägungsgrund des Beschlusses zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, ABl EG 1988 L 319/1. 78 S dazu rückblickend Azizi ÖJZ 2002, 41, 44 ff; Lenaerts CDE 2000, 323 ff; aus der Entstehungszeit Müller-Huschke EuGRZ 1989, 213 ff; Cruz Vilaça/Pais Antunes Mélanges Boulouis, 1991, 47 ff. 79 S zur Reichweite dieser Bestandskraft zB EuGH, Slg 1999, I-5363, Rn 57 ff – AssiDomän = JK 2000, EGV Art 233/1. 80 EuGH, Slg 1999, I-1441, Rn 15 – Guérin Automobiles; die Klägerin hat in diesem Fall Beschwerde gegen die 15 EG-Mitgliedstaaten vor dem EGMR erhoben, die als unzulässig zurückgewiesen wurde, s EGMR, RUDH 2000, 119 ff – Guérin. 81 S zB EuG, Slg 2001, II-717, Rn 22 – Pitsiorlas; EuGH, Slg 2003, I-4837, Rn 20 ff – Pitsiorlas. 82 StRspr seit EuGH, Slg 1963, 213, 238 – Plaumann. 83 Dazu Gundel VerwArch 92 (2001), 81 ff. Dagegen sind die Anforderungen bei an Dritte gerichteten EU-Beschlüssen (wozu auch die Beschlüsse an die Adresse der Mitgliedstaaten gehören) in vielen Fällen erfüllbar, s dazu mwN Mager EuR 2001, 661, 673 ff. 84 S für den Fall der „smart sanctions“-Verordnungen, in dem diese Anforderungen erfüllt sind, u Rn 39; zuletzt für einen anderen Bereich EuG, 30.4.2014, T-17/12 – Hagenmeyer u Hahn, Rn 40 ff, 55 ff.

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gen für einen Teilbereich85, indem sie insoweit auf das Merkmal der individuellen Betroffenheit verzichtet. In der Literatur ist allerdings seit langem eine erweiternde Auslegung des Merkmals der individuellen Betroffenheit zugunsten der Zulässigkeit von Direktklagen Einzelner gegen EU-Verordnungen unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes gefordert worden.86 Die EuGH-Rechtsprechung hat eine solche Auslegung aber konstant abgelehnt, weil effektiver Rechtsschutz auch durch die nationalen Gerichte auf dem Weg über das Vorabentscheidungsverfahren (Art 267 AEUV) gewährleistet ist.87 Dieser „indirekte Einstieg“ über ein Verfahren vor den nationalen Gerichten in Verbindung mit dem Einsatz des Vorabentscheidungsverfahrens ermöglicht regelmäßig die Überprüfung des Sekundärrechts. Allerdings wird diese Lösung in den Fällen, in denen die Herbeiführung dieser inzidenten Überprüfung sich als schwierig erweist, immer wieder in Frage gestellt. Hier ist insbesondere geltend gemacht worden, dass es dem Einzelnen unzumutbar sei, zunächst gegen eine – von ihm für ungültig gehaltene – strafbewehrte Bestimmung des EU-Rechts verstoßen zu müssen, um dann erst im folgenden Strafverfahren eine inzidente Prüfung durch Vorlage an den EuGH herbeiführen zu können; auch das EuG88 hatte sich dieser Argumentation zeitweise angeschlossen. Dem Argument ist allerdings entgegenzuhalten, dass eine inzidente Überprüfung durch die nationalen Gerichte nicht nur im Rahmen von Strafverfahren herbeigeführt werden kann – was tatsächlich nicht akzeptabel wäre 89 –, sondern auch auf dem Weg der vorbeugenden Feststellungsklage gegenüber der zur Durchsetzung zuständigen nationalen Behörde möglich ist.90 Nachdem auf diese Weise der Rechtsschutz durch die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gesichert werden kann – und diese zur Eröffnung der entsprechenden Möglichkeiten auch unionsrechtlich verpflichtet sind 91 –, besteht keine Notwendigkeit, die Voraussetzungen der 2. Alternative in einer Weise auszulegen, die die Zulässigkeitsvoraussetzung der individuellen Betroffenheit letztlich eliminiert. Auf diese durch den Wortlaut der Bestimmung gesetzten Grenzen

85 Dazu u Rn 28 ff. 86 Krit zur engen Auslegung zB Bleckmann FS Menger, 1985, S 872, 873 f, 882 ff; v Danwitz NJW 1993, 1108, 1111 ff; Allkemper Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, 1995, 64 ff; Reich in: Micklitz/Reich (Hrsg) Public Interest Litigation before European Courts, 1996, 3 ff; Schockweiler JTDE 1996, 1, 8; Jacobs Mélanges Schockweiler, 1999, 197, 203 ff; Dutheil de la Rochère RevMC 2000, 223, 224 f. 87 S zum Stand vor der Jégo-Quéré-Entscheidung (zu ihr sogleich im Text Fall 2) Gundel VerwArch 92 (2001), 81 ff; zuletzt EuGH, Slg 2002, I-1179, Rn 47 – La Conqueste SCEA (Bestätigung von EuG, Slg 2001, II-181 – La Conqueste SCEA). 88 EuG, Slg 2002, II-2365, Rn 45, 49 – Jégo-Quéré, unter Berufung auf die Schlussanträge von GA Jacobs zu EuGH, Slg 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores; s noch u Rn 30 (Lösung Fall 2). 89 So ausdr EuGH, Slg 2007, I-2271 – Unibet, Rn 62, 64 (zum Rechtsschutz gegen nationale Verstöße). 90 S für ein frühes Beispiel EuGH, Slg 1994, I-5555 – SMW Winzersekt (Vorlagebeschluss des VG Mainz, ZLR 1994, 153 m Anm Koch). Inzwischen finden sich zahlreiche Beispiele solcher Vorlagen vor allem durch englische Gerichte, s zur (ersten) Tabakwerbe-RL Slg 2000, I-8599 – Imperial Tobacco (zu dieser Vorlage Seidel EuZW 1999, 369 ff), zur Tabakprodukt-RL Slg 2002, I-11453 – BAT = EuR 2003, 80 m Anm Gundel, zur Mischfuttermittel-Etikettierungs-RL Slg 2005, I-10423, Rn 108 ff – ABNA = EWS 2006, 73 m Anm Gundel 65 ff. 91 Dazu zB Temple Lang 28 ELRev (2003), 102 ff; Gundel VerwArch 92 (2001), 81, 105 ff.

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hat schließlich auch der EuGH verwiesen und seine Rechtsprechung gegen die Kritik des EuG bestätigt; die Erfüllung von Erweiterungswünschen falle danach in die Zuständigkeit des Vertragsgebers92. Dieser Hinweis ist im Entwurf des gescheiterten Verfassungsvertrages mit einer Regelung aufgenommen worden, deren Auslegung im neuen Umfeld des Vertrags von Lissabon zunächst unklar war: Der Verfassungsentwurf hatte den Text des bisherigen Art 230 IV EGV in Bezug auf das Erfordernis der individuellen Betroffenheit unberührt gelassen (er bildet die heutige 2. Alternative des Art 263 IV AEUV), die Bestimmung aber durch die Einfügung einer 3. Alternative ergänzt,93 die auf das Erfordernis der individuellen Betroffenheit verzichtete. Jedoch war diese Erweiterung auf „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ im Sinne des Verfassungsvertrages beschränkt; sie galt damit nur für Durchführungs-Rechtsakte und erfasste das nun als „europäisches Gesetz“ (Verordnung) oder „Rahmengesetz“ (Richtlinie) bezeichnete Sekundärrecht nicht. Bei der Umwandlung des Verfassungsvertrags zum Reformvertrag ist der Text der Regelung dann – wohl eher versehentlich als bewusst – erhalten geblieben, obwohl der Vertrag im Übrigen zur vertrauten Terminologie des Sekundärrechts zurückgekehrt ist. Bei isolierter wörtlicher Lektüre hätte Art 263 IV AEUV damit nun einen weitergehenden Inhalt und würde die Direktklage Einzelner auch gegen Sekundärrechts-Verordnungen in weiterem Umfang zulassen.94 Das EuG95 hat mit einer inzwischen auch durch den EuGH96 bestätigten Grundsatzentscheidung eine solche weite Auslegung der 3. Alternative allerdings mit Blick auf diese Entstehungsgeschichte abgelehnt; nach der Rechtsprechung bezieht sich die neue Alternative nur auf Rechtsakte, die nicht in einem Gesetzgebungsverfahren (im Sinn des Art 289 III AEUV) ergangen sind; der „Verordnungscharakter“ wird damit als Hinweis auf Exekutiv-Rechtssetzung verstanden97. Auch im damit verbleibenden Anwendungsbereich hat die seither ergangene Rechtsprechung gezeigt, dass auch die Voraussetzungen der 3. Alternative nicht ohne weiteres erfüllbar sind.98

92 EuGH (Plenum), Slg 2002, I-6677, Rn 44 f – Unión de Pequeños Agricultores = DVBl 2002, 1348 m Anm Götz; dazu auch Braun/Kettner DÖV 2003, 59 ff; Malferrari/Lerche EWS 2003, 254 ff; Rengeling FS Kutscheidt, 2003, S 93 ff; Röhl Jura 2003, 830 ff; Usher 28 ELRev (2003), 575 ff; Gilliaux CDE 2003, 177 ff; Mehdi RTDE 2003, 23 ff. In der Folge ebenso Slg 2003, I-15105, Rn 58 – Bactria Industriehygiene; Slg 2004, I-3149, Rn 46 ff – Rothley ua = EuR 2004, 765 m Anm Lavranos; Slg 2004, I-3425, Rn 29 ff – Jégo-Quéré = JK 2004, EGV Art 230 IV/3; das EuG hat sich dieser Position gebeugt, s EuG, Slg 2002, II-3239, Rn 39 – VVG; EuG, Slg 2003, II-1997, Rn 27 ff – Vannieuwenhuyze-Morin. 93 Dazu W Cremer EuGRZ 2004, 577 ff; Mayer DVBl 2004, 606 ff; Varju 10 EPL (2004), 43 ff; Schwarze 10 EPL (2004), 285 ff. 94 Dazu Everling EuR-Beih 1/2009, 71, 74 f; ders EuZW 2012, 376 ff, der gegen eine auf diese Entstehungsgeschichte abstellende restriktive Interpretation plädiert; ebenso Rabe NJW 2007, 3153, 3157; entgegengesetzt Schröder DÖV 2009, 61, 64; Hatje/Klindt NJW 2008, 1761, 1767. 95 EuG, Slg 2011, II-5599 – Inuit Tapiriit Kanatami = EWS 2012, 90 m Bespr Gundel S 65 ff = EuZW 2012, 395 m. Bespr Everling S 376 ff = EuR 2012, 432 m Anm Petzold. 96 EuGH, EuZW 2014, 22 – Inuit Tapiriit Kanatami, m Bespr Streinz S 17 ff. 97 Die Beschränkung ist in gewisser Weise vergleichbar mit § 47 VwGO, der die prinzipale Normenkontrolle nur gegen untergesetzliche Normen des Landesrechts eröffnet; auch in anderen Mitgliedstaaten ist feststellbar, dass die Überprüfung exekutiver Rechtssetzung unter erleichterten Voraussetzungen möglich ist, s dazu Gundel EWS 2012, 65, 67. 98 S dazu Gundel EWS 2014, 22 ff; s a Rn 30 (Lösung Fall 2).

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Fall 2: (EuG, Slg 2002, II-2365 – Jégo-Quéré) Eine Kommissions-Verordnung, die auf der Grundlage einer Ermächtigung in einer Ratsverordnung erlassen wurde, sieht vor, dass in der Hochseefischerei nur noch Netze mit einer bestimmten Mindest-Maschenbreite verwendet werden dürfen. A, der mehrere von dieser Änderung betroffene Fischkutter betreibt, sieht durch die damit verbundene Verringerung der Fänge seinen Betrieb gefährdet und die Regelung deshalb als unverhältnismäßig an. Er erhebt Klage zum EuG und meint, dass er angesichts der erheblichen Berührung seiner Interessen und des Gebots effektiven Rechtsschutzes als „individuell betroffen“ angesehen werden müsse, so dass die Klage zulässig sei. Ihm sei nicht zuzumuten, eine Überprüfung des Verbots vor den nationalen Gerichten dadurch herbeizuführen, dass er gegen die Bestimmung bewusst verstoße und ein strafrechtliches Verfahren auf sich nehme; andere Ausführungsakte, die er vor den nationalen Gerichten angreifen könne, seien nicht ersichtlich. Ist die Nichtigkeitsklage zulässig?

Lösung Fall 2: Nachdem die Klage des A sich nicht gegen einen an ihn gerichteten Beschluss richtet, ist sie nur zulässig, wenn er durch die Verordnung unmittelbar und individuell betroffen ist, Art 263 IV 2. Alt AEUV, oder es sich um einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter handelt, der ihn unmittelbar betrifft und keine Durchführungsmaßnahmen benötigt, Art 263 IV 3. Alt AEUV. Vorliegend ist zwar die Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit erfüllt, weil kein weiterer Rechtsakt zur Konkretisierung der Pflichten des A mehr erforderlich ist. Nach der bisher praktizierten Interpretation des Art 263 IV, 2. Alt AEUV ist die individuelle Betroffenheit jedoch nur gegeben, wenn der Kläger sich in einer Situation befindet, die dem Adressaten einer Entscheidung vergleichbar ist: Er müsste aus dem Kreis anderer denkbarer Kläger in besonderer Weise herausgehoben sein. Bei Rechtsakten von allgemeiner Geltung ist diese Voraussetzung regelmäßig nicht erfüllt, Klagen Einzelner gegen solche normativen Rechtsakte sind damit regelmäßig nicht zulässig. Dies würde auch für die Klage des A gelten: Er ist von der Regelung nicht in anderer Weise betroffen als jeder andere Wirtschaftsteilnehmer, der sich entschließt, in diesem Bereich tätig zu werden.99 Das Gericht erster Instanz100 hatte im vorliegenden Fall diese Interpretation verworfen und entschieden, dass in Fällen, in denen die Beschreitung des Rechtswegs gegen nationale Ausführungsakte nicht zumutbar sei, das Merkmal zur Sicherung des in Art 6 und 13 EMRK sowie Art 47 GRCh gewährleisteten Gebots effektiven Rechtsschutzes so ausgelegt werden müsse, dass eine wesentliche Berührung der Interessen des Klägers genüge. Das Urteil wurde in der Folge vom EuGH101 aufgehoben, der eine solche Ausweitung als vom Wortlaut nicht gedeckt und durch die Rechtsschutzgarantie nicht geboten angesehen hat. Nach heutigem Rechtsstand ist zusätzlich die 3. Alternative des Art 263 IV AEUV zu prüfen: Nachdem der Rechtsakt durch die Kommission erlassen wurde, liegt kein Akt der Gesetzgebung, sondern ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter vor. Wie im Fall der 2. Alternative ist das Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit erfüllt. Darüber hinaus dürfen auch keine Durchführungsmaßnahmen auf europäischer oder nationaler Ebene erfor-

99 EuG, Slg 2002, II-2365, Rn 38 – Jégo-Quéré = EuZW 2002, 412 m Anm Lübbig = EWS 2002, 324 m Anm Schohe/Arhold. 100 EuG, Slg 2002, II-2365, Rn 45, 49 – Jégo-Quéré, unter Berufung auf die Schlussanträge von GA Jacobs zu EuGH, Slg 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores. 101 EuGH, Slg 2004, I-3425 – Jégo-Quéré = JK 2004, EGV Art 230 IV/3.

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derlich sein;102 auch diese Voraussetzung ist hier erfüllt, weil die Kommissionsverordnung bereits verbindliche Pflichten für A begründet. Auch das vom EuG zusätzlich geprüfte Rechtsschutzbedürfnis103 ist gegeben, weil A im betreffenden Sektor aktuell tätig ist. Die Klage ist damit nach dem Rechtsstand des Vertrags von Lissabon gem Art 263 IV 3. Alt AEUV zulässig104.

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Eine solche Erweiterung des direkten Rechtsschutzes, die auf den ersten Blick als bürgerfreundliche Neuerung erscheint, kann allerdings auch nachteilige Konsequenzen haben: Wenn der Betroffene die ihm eröffnete Möglichkeit der Nichtigkeitsklage gegen einen ihm bekannten Rechtsakt der EU nicht nutzt, so ist ihm nach der „Textilwerke Deggendorf“Rechtsprechung des EuGH eine spätere inzidente Überprüfung – etwa im Verfahren der Vorabentscheidung – versagt.105 Diese Präklusionsregel, mit der der Gerichtshof die Klagefrist des Art 263 VI AEUV gegen Umgehungen absichert, hatte bisher vor allem für adressatengerichtete Beschlüsse Bedeutung – etwa für an den Mitgliedstaat gerichtete Kommissionsentscheidungen, mit denen die Rückabwicklung unrechtmäßig gewährter nationaler Beihilfen angeordnet wird.106 Wird die Möglichkeit der prinzipalen Normenkontrolle durch die Zulassung von Direktklagen erweitert, steht zugleich auch die Ausweitung der korrespondierenden „Deggendorf-Regel“ auf solche Fälle in Frage;107 in Ausnahmefällen, in denen Klagen Einzelner gegen normative Rechtsakte nach der 2. Alternative als zulässig eingestuft wurden108, hat der EuGH die Präklusion auch schon geprüft109. Auf die nun geschaffene eigenständige prinzipale Normenkontrolle nach der 3. Alternative sollte die Regelung allerdings nicht erstreckt werden, weil sonst statt einer Verbesserung des Rechtsschutzes eine Obliegenheit zu frühzeitigen Klagen geschaffen würde.110

102 Zur eigenständigen Bedeutung dieser Voraussetzung s Gundel EWS 2014, 22, 24 f. 103 S EuG, 14.11.2013 Rs T-456/11 – International Cadmium Association, insbes Rn 32; krit insoweit Gundel EWS 2014, 22, 26 f. 104 S für das erste Urteil, in dem die Voraussetzungen erfüllt waren: EuG, Slg 2011, II-7697 – Microban = EWS 2012, 95 m Bespr Gundel S 65 ff; Peers/Costa, 8 EConstLRev (2012), 82, 88 ff. 105 So erstmals EuGH, Slg 1994, I-833 – Textilwerke Deggendorf; s dazu Pache EuZW 1994, 615 ff; Hoskins 31 CMLRev (1994), 1399 ff; später Slg 1997, I-6315, Rn 26 ff – Eurotunnel; Slg 1996, I-6699, Rn 15 f – Acrington Beef; s a noch Slg 1997, I-585, Rn 15 ff – Wiljo; zuletzt NJW 2013, 29, Rn 41 – Pringle; zur Entwicklung der Rspr s Jaeger Mélanges Schockweiler, 1999, 233, 235 ff. 106 So der Sachverhalt der Textilwerke Deggendorf-Entscheidung: Ein Beihilfeempfänger, der von der zu seinem Nachteil ergangenen Kommissions-Entscheidung Kenntnis erhält, muss – da er die Voraussetzungen der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit erfüllt – von der damit in Art 263 IV AEUV eröffneten Klagemöglichkeit auch Gebrauch machen. Tut er es nicht, so ist ihm im nachfolgenden nationalen Verfahren um die Rückabwicklung der Einwand der Rechtswidrigkeit der Kommissionsentscheidung versagt. 107 Dazu Gundel VerwArch 92 (2001), 81, 97 f; Köngeter NJW 2002, 2216, 2218. GA Jacobs meinte allerdings, dass diese Regel nicht auf Rechtsakte normativen Charakters („allgemeine Handlungen“) ausgeweitet werden dürfe, s Rn 65 seiner Schlussanträge zu EuGH, Slg 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores. 108 Zu solchen hybriden Rechtsakten s o Rn 25. 109 S EuGH, Slg 2001, I-1197, Rn 30 ff – Nachi Europe; dazu Moloney 39 CMLRev (2002), 393 ff. 110 S näher Gundel EWS 2012, 65, 70 ff; zum Problem auch Schwensfeier 37 ELRev (2012), 156 ff; Gänser/Stanescu, RDUE 2013, 747, 759 f; der EuGH hat sich insoweit noch nicht geäußert.

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b) Garantien im Verfahren vor den EU-Gerichten Die Verfahrensgrundrechte spielen aber auch für das „Wie“ des Rechtsschutzes vor den EU-Gerichten eine erhebliche Rolle; auch hier haben sich in neuerer Zeit Diskussionspunkte ergeben, die zum Teil auf den Vergleich der Praxis des EuGH mit den Anforderungen der EMRK und auch denen des nationalen Verfassungsrechts zurückgehen.

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aa) Unabhängigkeit und Unparteilichkeit Zu den Grundelementen der Rechtsschutzgarantie gehört die Entscheidung durch unabhängige und unparteiliche Richter, wie sie auch Art 6 EMRK garantiert. In Bezug auf die Unabhängigkeit wird hier teilweise als bedenkliche Anomalie wahrgenommen, dass die Bestellung der EU-Richter befristet erfolgt und die – zulässige – Wiederbenennung in der Hand des jeweiligen Mitgliedstaats liegt.111 Allerdings entspricht die Befristung bei internationalen Gerichten der Üblichkeit; auch sollten die hohen Anforderungen, die Art 254 AEUV an Qualifikation und Erfahrung der Richter stellt, ihre Beeinflussbarkeit durch befürchtete negative Reaktionen des Heimatstaates ausschließen112. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen durch die Kandidaten wird nun zusätzlich durch den mit dem Vertrag von Lissabon geschaffenen Richterprüfungsausschuss (Art 255 AEUV) abgesichert.113 Hinsichtlich der Anforderungen an die Unparteilichkeit der Richter im konkreten Streitfall orientiert sich der EuGH an den zu Art 6 EMRK entwickelten Kriterien.114

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bb) Gesetzlicher Richter Auch die Garantie des gesetzlichen Richters gilt für die EU-Gerichtsbarkeit;115 hinsichtlich der gerichtlichen Zuständigkeiten bestehen hier auch keine Probleme. Diskutiert wurde vor allem die Bestimmung des gesetzlichen Richters bei der Besetzung der Richterbank in „überbesetzten“ Kollegien, etwa den Fünf-Richter-Kammern des EuGH,116 die in einer Besetzung von fünf Richtern entscheiden, denen teils aber bis zu sieben Richter zugewiesen waren. Nachdem das BVerfG117 hier in Bezug auf die deutsche Gerichtsbarkeit hohe Anforderungen an die abstrakte Festlegung der im konkreten Fall zur Entscheidung berufenen Mitglieder eines Kollegiums gestellt hatte, wurden in der deutschen Literatur

111 Dazu Gundel EuR-Beih 3/2008, 23, 27 f. 112 Hinzu kommt, dass die Entscheidungen des EuGH stets kollegial getroffen werden und damit keinem einzelnen Richter zuzuordnen sind, s Gundel EuR-Beih 3/2008, 23, 28 ff; nur beim EuG können einfach gelagerte Rechtssachen durch Einzelrichter entschieden werden, s dazu Rengeling/Kotzur in RMG Hb Rechtsschutz, § 3 Rn 29. 113 Dazu Dumbrovsky´ /Petkova/van der Sluis 51 CMLRev (2014), 455 ff; s a die Tätigkeitsberichte des Ausschusses, veröff in HRLJ 33 (2013), 459 ff, 465 ff. 114 S zB EuGH, Slg 2008, I-4777, Rn 44 ff – Chronopost/UFEX mit intensiver Bezugnahme auf die EGMR-Rspr; Slg 2009, I-1059, Rn 41 ff – Atxalandabaso/EP (dazu Bernard, Europe 4/2009, 12 ff); die Regelung zum Ausschluss befangener Richter findet sich in Art 18 EuGH-Satzung. 115 Dazu Haase Die Anforderungen an ein faires Gerichtsverfahren auf europäischer Ebene, 2006, 296 ff; Grzybek Prozessuale Grundrechte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1993, 76 ff. 116 Zu den einzelnen Spruchkörpern des EuGH s Rengeling/Kotzur in RMG Hb Rechtsschutz, § 3 Rn 22 ff; zur Neuordnung ihrer Zuständigkeiten im Rahmen der Osterweiterung der EU Gundel EuR-Beih 3/2008, 23, 31 f. 117 S BVerfG (Plenum), BVerfGE 95, 322.

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entsprechende Forderungen auch an die Besetzungspraxis der EU-Gerichte gestellt.118 Der EuGH hat eine entsprechende Rüge zunächst mit der Begründung zurückgewiesen, dass eine Manipulation der Richterbank im konkreten Fall nicht ersichtlich war;119 in der Folgezeit wurde allerdings beschlossen, für jedes Gerichtsjahr eine Reihenfolge festzulegen, in der die Richter der überbesetzten Kammern zum Einsatz kommen.120 Ein weiterer, bisher nicht ausgeräumter Streitpunkt ist die Zuweisung der Rechtssachen an die jeweiligen Kammern, denn anders als das EuG verfügt der EuGH bisher über keinen Geschäftsverteilungsplan: Die Bestimmung des Berichterstatters für eine Rechtssache erfolgt durch den Präsidenten, womit zugleich die Weichenstellung für die Zuweisung an die Kammer getroffen wird, der dieser Richter angehört121. Allerdings ist hierzu festgehalten worden, dass die Anforderungen an die gerichtsinterne Geschäftsverteilung in den Mitgliedstaaten stark differieren und nirgends mit vergleichbarer Strenge gehandhabt werden wie in Deutschland122. cc) Rechtliches Gehör

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Auch vor den EU-Gerichten ist das rechtliche Gehör zu gewährleisten: Die Parteien müssen den gesamten Prozessstoff kennen und zu ihm Stellung nehmen können. In neuerer Zeit ist im Anschluss an die EGMR-Rechtsprechung unter diesem Gesichtspunkt die Position der Generalanwälte beim EuGH fraglich geworden, die dem Gerichtshof zum Abschluss der Verhandlungen über eine Rechtssache öffentlich einen zwar nicht verbindlichen, aber doch vielfach richtungweisenden Entscheidungsvorschlag unterbreiten (Art 49 der Satzung des EuGH, Art 82 der VerfO): Der EGMR verlangt in Bezug auf entsprechende Einrichtungen der nationalen Prozessordnungen unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit, dass die Parteien des Verfahrens zu diesen Entscheidungsvorschlägen noch Stellung nehmen können; diese dürfen danach nicht zwingend das „letzte Wort“ vor der gerichtlichen Entscheidungsfindung darstellen.123 Ob diese Rechtsprechung auf den EuGH tatsächlich übertragbar ist, wird auch deshalb bezweifelt, weil die Generalanwälte beim EuGH – anders als in den vom EGMR entschiedenen Fällen – selbst Mitglieder des Gerichts sind,124 ihre Anträge also als Beginn der

118 Dazu etwa Mößlang EuZW 1996, 69 ff mit Erwiderung Wichard EuZW 1996, 305 f; s a Stotz EuZW 1995, 749. 119 Dazu EuGH, Slg 1995, I-1031 – Gaal = EuZW 1995, 670 m Anm Szczekalla = EuR 1995, 259 m Anm Wichard. 120 S ABl EG 1998 C 299/1; das Vorgehen wurde dann in einem neu eingefügten Art 11c VerfO EuGH (ABl EU 2003 L 147/17) geregelt, es findet sich nun in Art 28 der VerfO 2012, ABl EU 2012 L 265/1. 121 Dazu Gundel EuR-Beih 3/2008, 23, 33 ff; Puttler EuR-Beih 3/2008, 133 ff. 122 So Classen in Schulze/Zuleeg, ER, 1. A 2006, § 4 Rn 7 (in der 2. A nicht mehr enthalten); s a Haase Die Anforderungen an ein faires Gerichtsverfahren auf europäischer Ebene, 2006, 304 f; zur Bandbreite der Lösungen s die Beiträge in Langbroek/Fabri (Hrsg) The Right Judge for each Case – A study of case assignment and impartiality in six European judiciaries, 2007. 123 Aus der Rspr des EGMR s EGMR, RJD 1996-I – Vermeulen = RTDH 1996, 615 m Anm Lambert = RTDE 1996, 375 m Anm Benoît-Rohmer; EGMR, RJD 1996-I – Lobo Machado = RTDE 1996, 373 m Anm Benoît-Rohmer; EGMR, RJD 1998-II – Reinhardt u Slimane-Kaïd; EGMR, RTDE 2001, 809 – Kress, m Anm Benoît-Rohmer 727 ff. 124 Diesen Unterschied betont Tridimas 34 CMLRev (1997), 1349, 1380 ff.

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abschließenden gerichtlichen Entscheidungsfindung begriffen werden können, zu der die Parteien keinen Beitrag mehr leisten.125 Der EuGH geht jedenfalls davon aus, dass den Anforderungen eines fairen Verfahrens dadurch Genüge getan werden kann, dass die mündliche Verhandlung erneut eröffnet wird, wenn die Schlussanträge nach Auffassung des Gerichts Gesichtspunkte aufwerfen, die eine Stellungnahme der Parteien nahe legen;126 der EGMR hat diese Ausgestaltung nun gebilligt.127 Einem Belastungstest ist der Gehörsanspruch durch das Instrument der sog „smart sanctions“ unterworfen worden: Mit diesem Begriff wird die neuere internationale Praxis bezeichnet, Sanktionen nicht mehr global gegen Staaten, sondern gezielt zB gegen des Terrorismus oder seiner Finanzierung verdächtige Einzelpersonen zu richten und auf diese Weise insbes ihr Vermögen „einzufrieren“; die EU trifft solche Maßnahmen durch Erlass von Verordnungen, gegen die eine Nichtigkeitsklage der Betroffenen trotz des Normcharakters der Verordnung128 unproblematisch zulässig ist, da die Voraussetzungen der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit erfüllt sind. Soweit solche Maßnahmen gegen Einzelpersonen vom UN-Sicherheitsrat beschlossen worden waren, hat das EuG aber aufgrund dieser internationalen Vorgabe eine materielle Kontrolle der Aufnahmeentscheidung abgelehnt129; sie erfolgte nur in Fällen, in denen die EU eigenständig über die Aufnahme entschieden hatte130. Der Gerichtshof hat diesen Ansatz korrigiert und

125 EuGH, Slg 2000, I-665, Rn 14 – Emesa Sugar: „Die Schlussanträge stehen außerhalb der Verhandlung zwischen den Parteien und eröffnen die Phase der Beratung des Gerichtshofs. Sie sind deshalb keine an die Richter oder die Parteien gerichtete Stellungnahme, die von einer Behörde außerhalb des Gerichtshofs herrührte …, sondern die individuelle, begründete und öffentlich dargelegte Auffassung eines Mitglieds des Organs selbst.“ Ähnlich dann Rn 94 ff der Schlussanträge von GA Colomer zu EuGH, Slg 2000, I-2623 – Kaba. 126 So EuGH, Slg 2000, I-665, Rn 18 – Emesa Sugar, mit verschiedenen Bsp solcher (nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlichten) Beschlüsse in der Vergangenheit; Slg 2000, I-743, Rn 22 ff – Deutsche Telekom; Slg 2000, I-2135, Rn 63 f – VBA; dazu Lawson 37 CMLRev (2000), 983 ff; Schilling ZaöRV 2000, 395 ff; s a Gundel EuR-Beih 3/2008, 23, 39 ff. 127 Eine Beschwerde gegen die Leitentscheidung des EuGH hat EGMR, EuGRZ 2005, 234 – Emesa Sugar als unzulässig abgewiesen, weil der Anwendungsbereich des Art 6 EMRK nicht eröffnet war. In einem Fall, in dem diese Voraussetzung erfüllt war, hat nun EGMR, EuGRZ 2011, 11 = ÖJZ 2009, 829 = NJW 2010, 3008 (nur LS) – Nederlandse Kokkelvisserij die Beschwerde mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass die Praxis des EuGH einen den Garantien der EMRK gleichwertigen Schutz gewährleiste; dazu Baumann EuGRZ 2011, 1 ff; Bories RevMC 2009, 408 ff; Russo Riv dir int 2009, 1119 ff. 128 Tatsächlich handelt es sich trotz der Nennung von bestimmten Personen (auch) um einen normativen Akt, da die Tätigung von Geschäften mit den Betroffenen jedermann verboten wird, so EuGH, Slg 2008, I-6351, Rn 242 ff – Kadi u Al Bakaraat; s a Gundel EWS 2012, 65, 71. 129 EuG, Slg 2005, II-3649 – Kadi; Slg 2005, II-3533 – Yusuf u Al Bakaraat = EuR 2006, 424 (nur LS) m Anm Möllers; dazu Schmahl EuR 2006, 567 ff; Schmalenbach JZ 2006, 349 ff; Tomuschat 43 CMLRev (2006), 537 ff; Tietje/Hamelmann JuS 2006, 299 ff; im Anschluss daran noch EuG, Slg 2006, II-2139 – Ayadi; EuG, Slg 2006, II-52* (abgek Veröff) – Hassan. 130 Für tatsächlich erfolgreiche Klagen in dieser Fallgruppe s EuG, Slg 2006, II-4665 – Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran; dazu Eckes 44 CMLRev (2007), 1117 ff; EuG, Slg 2008, II-3487 – People’s Mojahedin Organization of Iran (bestätigt durch EuGH, Slg 2011, I-13427); weiter EuG, Slg 2007, II-73* (abgek Veröff) – Sison; EuG, Slg 2007, II-79* (abgek Veröff) – Al-Aqsa.

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festgehalten, dass der unionsrechtliche Rechtsschutzstandard auch in diesem Fall eine richterliche Kontrolle verlangt131; die völkerrechtliche Verbindlichkeit der SicherheitsratsResolutionen werde dadurch nicht berührt. Allerdings hat der EuGH zugleich darauf hingewiesen, dass die Sicherheitsrelevanz des Beweismaterials es rechtfertigen kann, die gerichtliche Prüfung ohne Offenlegung gegenüber dem Kläger vorzunehmen132. dd) Anspruch auf Entscheidung in angemessener Frist 40

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Zum effektiven Rechtsschutz gehört auch die gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist; relevant wird hier zB das in Art 6 EMRK gegründete und in Art 47 GRCh übernommene Verbot einer überlangen Verfahrensdauer, das der EuGH schon vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon als verbindliche Vorgabe für seine Tätigkeit anerkannt hat.133 In Bezug auf die Rechtsfolgen eines Verstoßes hat der EuGH allerdings auch präzisiert, dass eine Aufhebung des Urteils oder die Reduktion einer verhängten Kartellbuße nicht in Betracht kommen, wenn die Verfahrensdauer keinen Einfluss auf das Entscheidungsergebnis hatte134; möglich sind in solchen Fällen nur Schadensersatzansprüche nach Art 340 II AEUV, die aber auch immaterielle Schäden umfassen135. Für das Rechtsschutzsystem des EU-Rechts, das in erheblichem Umfang auf der Zusammenarbeit von EuGH und nationalen Gerichten im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens beruht, stellt sich hier das strukturelle Problem, dass die Verfahrensdauer gerade auch durch das Vorabentscheidungsverfahren verlängert werden kann. Allerdings hat auch der EGMR bei der Prüfung des Art 6 EMRK anerkannt, dass die dadurch bedingte Verlängerung im Interesse der Funktionsfähigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens hinzunehmen ist;136 zudem können die Konsequenzen durch Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes durch das vorlegende Gericht begrenzt werden137. Besonders problematisch sind die unvermeidlichen Verzögerungen allerdings in den erst in jüngerer

131 EuGH, Slg 2008, I-6351, Rn 280 ff, 332 ff – Kadi u Al Bakaraat = JA 2009, 477 m Anm Gundel; dazu Ohler EuZW 2008, 630 ff; Kotzur EuGRZ 2008, 673 ff; Schmalenbach JZ 2009, 35 ff; Cassia/Donnat RFDA 2008, 1204 ff; Simon/Rigaux Europe 11/2008, 5 ff; Tridimas 34 ELRev (2009), 103 ff. 132 EuGH, Slg 2008, I-6351, Rn 344 – Kadi unter Verweis auf EGMR, RUDH 1997, 365, Rn 131 – Chahal; parallel für den Schutz von Geschäftsgeheimnissen in Verfahren vor den nationalen Gerichten Slg 2008, I-581, Rn 43 ff – Varec. 133 S erstmals EuGH, Slg 1998, I-8417 – Baustahlgewebe (zu einer Verfahrensdauer von 5 1/2 Jahren vor dem EuG). 134 So grundsätzlich EuGH, Slg 2009, I-6155, Rn 190 ff – Der Grüne Punkt; nochmals EuGH, EuZW 2014, 142, Rn 72 ff – Groupe Gascogne; dazu Scheel EUZW 2014, 138 ff; krit Frenz EWS 2013, 311 ff. 135 EuGH, EuZW 2014, 142, Rn 89 – Groupe Gascogne; das gilt auch für juristische Personen, s zu Art 6 EMRK die Leitentscheidung EGMR, RDJ 2000-IV, 339, Rn 28 ff – Comingersoll SA = RUDH 2001, 279; dazu Ress FS Akira Ishikawa, 2001, S 429 ff; Emberland BYIL 2003, 408 ff. 136 EGMR, RDJ 1998-I, 436, Rn 95 – Pafitis; ebenso nochmals EGMR, RDJ 2003-X, 45, Rn 61 – Koua Poirrez = RUDH 2003, 440; dazu krit Peukert Mélanges Ryssdal, 2000, 1107, 1118 f; zustimmend dagegen Callewaert RTDH 2005, 159, 164 f. 137 S u Rn 58 zur Gültigkeitsvorlage; der EuGH selbst kann dagegen im Vorabentscheidungsverfahren keine vorläufigen Maßnahmen treffen, s EuGH, Slg 2001, I-7823 – Dory.

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Zeit vom EU-Recht erfassten Bereichen, die – wie die Zusammenarbeit in Strafsachen – unmittelbar die Freiheit der Person betreffen: Für diese Sektoren ist das Verfahren der Eilvorlage geschaffen worden, um dem besonderen Beschleunigungsbedürfnis Rechnung zu tragen.138

III. Anforderungen der Justiz- und Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts an die Mitgliedstaaten 1. Anwendbarkeit der Verfahrensgrundrechte auf das Handeln der Mitgliedstaaten Grundsätzlich haben die Grundrechte des EU-Rechts die Funktion, dem Handeln der EU-Organe Grenzen zu setzen – während die Grundfreiheiten sich (nicht ausschließlich, aber in erster Linie) an die Mitgliedstaaten richten.139 Dennoch gelten die Grundrechte des EU-Rechts – und damit auch die Verfahrensgrundrechte – nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH in bestimmten Konstellationen auch gegenüber den Mitgliedstaaten (→ vgl § 14 Rn 39 ff). Dies gilt einmal in den Konstellationen, in denen die Mitgliedstaaten für den Vollzug des EU-Rechts zuständig sind: Für die Geltung des Grundrechtsstandards kann es aus europarechtlicher Sicht keinen Unterschied machen, ob dieses Recht von den EUOrganen selbst durchgeführt oder diese Aufgabe – wie in den meisten Bereichen – grundsätzlich den Mitgliedstaaten übertragen wird;140 die „Verfahrensautonomie“ der Mitgliedstaaten141 beim Vollzug des EU-Rechts wird insoweit eingeschränkt. Diese für den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte allgemein gültige Aussage hat für die Verfahrensgrundrechte besondere Bedeutung: Nachdem das EU-Recht vor allem durch die Mitgliedstaaten vollzogen wird, gelten auch hier die Verfahrensgarantien, wie die Wahrung des rechtlichen Gehörs142 oder die Gewährleistung eines fairen Verfah-

138 Art 104b VerfO, ABl EU 2008 L 24/39 (nun Art 107 der VerfO 2012, ABl EU 2012 L 265/1); dazu zB Kühn EuZW 2008, 263 ff; Rieck NJW 2008, 2958 ff; Bernard Europe 5/2008, 5 ff; für Anwendungsfälle des seit dem 1.3.2008 geltenden Verfahrens s EuGH, Slg 2008, I-5271 – Rinau (Zuständigkeit in Sorgerechtsverfahren); Slg 2008, I-6041 – Kozlowski (Europäischer Haftbefehl); Slg 2008, I-6307 – Goicoechea; Slg 2011, I-3015 – El Dridi; EuGH, Rs C-168/13 PPU, Urt v 30.5.2013 – Jeremy F. Der durch den Vertrag von Lissabon angefügte Art 267 IV AEUV sieht bei Vorlagen, die Inhaftierte betreffen, eine Entscheidung „innerhalb kürzester Zeit“ vor. 139 Zur unterschiedlichen Struktur und Aufgabe von Grundrechten und Grundfreiheiten des EU-Rechts s a Lecheler ER S 219 ff, 224. 140 S für die Geltung der EU-Grundrechte in diesem Bereich zB EuGH, Slg 1994, I-955, Rn 16 – Bostock; Slg 1989, 2609 – Wachauf; Slg 1988, 2213, Rn 22 – HZA Hamburg-Jonas: „… die Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts [obliegt] jeder mit der Anwendung dieses Rechts betrauten Behörde.“ Zum engeren Wortlaut des Art 41 GRCh, den man insoweit nicht als abschließende Regelung wird verstehen dürfen, s Rn 6. 141 Zu diesem Grundsatz s Gundel in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, ER, § 3 Rn 109 ff mwN; zu den parallelen Grenzen dieser Autonomie aus Art 4 III EUV s u Rn 49 ff. 142 Dazu etwa deutlich für gerichtliche Verfahren EuGH, Slg 2000, I-1935, Rn 26, 42 – Krombach, m Anm Gundel EWS 2000, 442 ff; bestätigend Slg 2006, I-3813, Rn 63 ff – Eurofood; Slg 2006, I-12041, Rn 24 ff – ASML Netherlands; Slg 2009, I-2563 – Gambazzi = EuZW 2009, 422 m Anm Sujecki.

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rens;143 auch die nun in Art 47 S 4 GRCh enthaltene Gewährleistung von Prozesskostenhilfe richtet sich primär auf die Verfahren von nationalen Gerichten144. Zum Teil finden die Garantien überhaupt nur hier ein unmittelbares Anwendungsfeld: Das gilt insbes für die strafrechtlichen und strafprozessualen Garantien, die im Titel VI der GRCh („Justizielle Rechte“) breiten Raum einnehmen. Zwar hat die Rechtsprechung des EuGH schon vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geklärt, dass das Strafrecht dem Zugriff des EU-Gesetzgebers nicht entzogen ist: Vorgaben für nationale Straftatbestände konnten schon damals nicht nur als Rahmenbeschlüsse auf Grundlage der früheren Art 31, 34 EUV, sondern auch auf Grundlage der Sachkompetenzen des EGV geschaffen werden145. Der Vertrag von Lissabon hat diesen Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, in dem eine Reihe von Rahmenbeschlüssen mit strafrechtlicher oder strafprozessualer Bedeutung erlassen wurde146, in den AEUV überführt (Art 82–86 AEUV). Auf dieser Grundlage erlassene Regelungen sind an den Justizgrundrechten zu messen147; sie werden aber auch künftig nur konkretisierungs- und umsetzungsbedürftige Vorgaben enthalten148, so dass die grundrechtskonforme Umsetzung – zB die Ausformung von Straftatbeständen unter Beachtung des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots (Art 49 I GRCh)149 – in der Verantwortung des nationalen Gesetzgebers liegt150. Vom

143 S zur Herleitung von Beweisverwertungsverboten aus diesem Gesichtspunkt EuGH, Slg 2003, I-3735, Rn 72 ff – Steffensen = EuZW 2003, 666 m Anm Schaller. 144 S zur Reichweite, insbes zur Berechtigung juristischer Personen EuGH, Slg 2010, I-13849 - DEB; dazu Oliver 48 CMLRev (2011), 2023 ff; Simon Europe 2/2011, 9 f (zu § 116 der deutschen ZPO, wonach juristischen Personen Prozeßkostenhilfe nur gewährt wird, wenn das Unterbleiben der Rechtsverfolgung „allgemeinen Interessen zuwiderlaufen“ würde). 145 S erstmals EuGH, Slg 2005, I-7879 – Kommission/Rat = JZ 2006, 307 m Anm Heger; mit Einschränkungen bestätigt durch Slg 2007, I-9097 – Kommission/Rat = ZUR 2008, 312 m Anm Fromm 301 ff. 146 Neben dem bekannten Rahmenbeschluss des Rates v 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl EG 2002 L 190/1 (dazu BVerfGE 113, 273) s zB den Rahmenbeschluss 2001/220/JI des Rates v 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren, ABl EU 2001 L 82/1, dazu EuGH, Slg 2005, I-5285 – Pupino = JZ 2005, 838 m Anm Hillgruber = EuZW 2005, 433 m Anm Herrmann; Slg 2007, I-5557 – Dell’Orto; Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates v 24.2.2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl EU 2005 L 76/16; dazu Schneider FS Rengeling, 2008, S 401 ff. 147 S zur Vereinbarkeit der GeldwäscheRL (RL 2001/97/EG), die auch Anwälte bei Tätigkeiten außerhalb der Rechtsberatung der Anzeigepflicht unterwirft, mit dem Recht auf ein faires Verfahren: EuGH, Slg 2007, I-5305, Rn 26 ff – Ordre des Barreaux francophones et germanophone u a = EuZW 2007, 476 m Anm Michalke; zur Vereinbarkeit mit der EMRK dann (mit übereinstimmendem Ergebnis) EGMR, HRLJ 2012, 403 = NJW 2013, 3423 – Michaud; dazu Vondung EuR 2013, 688 ff; Defferrard Rec Dalloz 2013, 284 ff; zum Europäischen Haftbefehl Fn 150. 148 Die Rechtsgrundlage für die Normierung „europäischer“ Straftatbestände in Art 83 AEUV ermöglicht nur den Erlass von Richtlinien, die zudem lediglich „Mindestvorschriften“ enthalten können. 149 S zB EuGH, Slg 2011, I-11035, Rn 48 – Özlem Garenfeld: Art 49 GRCh ist bei der strafrechtlichen Sanktionierung des EU-Abfallrechts durch die Mitgliedstaaten zu beachten. 150 So zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl (Fn 146): EuGH, Slg 2007, I-3633 – Advocaten voor de Wereld = EuZW 2007, 373 m Anm Michalke: Der Verzicht auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit bei bestimmten Kategorien von Straftaten verstößt nicht gegen den nulla poena-Satz, weil die Strafbarkeit nach dem Recht des Ausstellungsstaates diesen

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Sonderfall des Kartellrechts abgesehen, wird die EU in diesem Bereich in jedem Fall aber nur normsetzend tätig; die Strafrechtsanwendung bleibt in der Hand der Mitgliedstaaten, deren Strafverfolgungsbehörden151 und Gerichte152 damit die Hauptadressaten dieser Garantien sind. Das gilt selbst in dem am stärksten EU-rechtlich geprägten Bereich, in dem der Schutz der finanziellen Interessen der EU betroffen ist: Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) 153, das als Dienststelle der Kommission Ermittlungen durchführt, gibt nur Informationen an die mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsbehörden weiter, für deren Verwendung diese selbst verantwortlich sind154; auch die Europäische Staatsanwaltschaft, deren Schaffung Art 86 AEUV zur Verfolgung solcher Verstöße vorsieht155, würde nur anstatt der jeweiligen nationalen Staatsanwaltschaft vor den nationalen Gerichten tätig werden. Darüber hinaus gelten die Grundrechte des EU-Rechts nach der Rechtsprechung des EuGH auch in Fällen, in denen die Mitgliedstaaten in Rechtspositionen eingreifen, die dem Einzelnen durch EU-Recht gewährt wurden: Soweit dies der Fall ist – zB mit nationalen Einschränkungen der Grundfreiheiten156 oder der Gleichbehandlung der Geschlechter im

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Anforderungen genügen muss. Auch BVerfGE 113, 273 betont die dem nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung belassenen Spielräume, die dieser allerdings nicht nur unter Beachtung der nationalen, sondern auch der EU-Grundrechte auszufüllen haben wird; zu dieser Frage der doppelten Bindung des Umsetzungsgesetzgebers s zuletzt Calliess JZ 2009, 113, 118 ff; Kingreen JZ 2013, 801 ff. Auch das Europäische Polizeiamt (Europol) übt nur Koordinierungsfunktionen aus, nach Art 88 AEUV soll dies auch künftig seine Hauptaufgabe bleiben; s zur gegenwärtigen und künftigen Ausgestaltung zB Ruthig in: Wolters ua (Hrsg) Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, 2008, 97 ff; Amelung ebda 233 ff; zum Rechtsschutz Schenke ebda 367 ff; s weiter Davies in: Trybus/Rubini (eds) The Treaty of Lisbon and the Future of European Law and Policy, 2012, S 325 ff. Hier wirft zB das transnationale Verbot der Doppelbestrafung gem Art 50 GRCh angesichts der Vielgestaltigkeit der nationalen Strafverfahrensrechte erhebliche Probleme bei den Fragen auf, wie „dieselbe Tat“ zu bestimmen ist und welche ausländischen Entscheidungen als rechtskräftige Verurteilungen oder Freisprüche anzusehen sind; s dazu zB EuGH, EuZW 2009, 118 – Bourquain; Slg 2006, I-9327 – van Straaten; Slg 2006, I-9199 – Gasparini; Wasmeier/Twaites 31 ELRev (2006), 565 ff. Zu ihm zB Gundel in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, ER, § 3 Rn 50 ff mwN; speziell zu den Verfahrensrechten der Betroffenen s Decker Grundrechtsschutz bei Handlungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF), 2008; Gleß/Zeitler 7 ELJ (2001), 219 ff; s a noch Fn 154. S zum bekannten Fall des deutschen Journalisten Tillack, gegen den das OLAF nie erhärtete Bestechungsvorwürfe erhoben und Ermittlungen der belgischen Strafverfolgungsbehörden ausgelöst hatte: Die Klage gegen die Kommission wurde als teils unzulässig (zur Nichtigkeitsklage → Rn 21), teils unbegründet (Schadenersatzklage) abgewiesen, EuG, Slg 2006, II-3995 – Tillack; dazu Wakefield, 45 CMLRev (2008), 199 ff. Dagegen wurde Belgien durch EGMR, NJW 2008, 2565 – Tillack wegen Verstoßes gegen Art 10 EMRK zu 10.000 Euro Schmerzensgeld verurteilt. Eine Haftung der Kommission für die Verletzung von Verfahrensrechten bei der Ermittlungs- und Informationstätigkeit von OLAF ist allerdings durchaus möglich, s EuG, Slg 2008, II-1585 – Franchet und Byk/Kommission; dazu Niestedt/Boeckmann EuZW 2009, 70 ff. Dazu zB Zwiers The European Public Prosecutor’s Office, 2011, insbes S 355 ff; s nun den Kommissionsvorschlag für eine ErrichtungsVO, KOM (2013) 534 endg v 17.7.2013. EuGH, Slg 1987, 4097, Rn 14 – Heylens (Anerkennung von Berufsabschlüssen aus anderen Mitgliedstaaten).

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Arbeitsleben157 –, gelten damit auch die Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts, insbesondere der Anspruch auf effektive gerichtliche Kontrolle.158 Damit muss zB die Ausweisung eines Unionsbürgers durch einen Mitgliedstaat, die in sein Freizügigkeitsrecht eingreift, sich an den Verfahrensrechten des EU-Rechts messen lassen.159 Dieser in der Rechtsprechung erreichte Stand wird zwar in Frage gestellt durch die Formulierung in Art 51 I 1 GRCh, der nur die Durchführung und nicht auch die Beschränkung von EU-Recht durch die Mitgliedstaaten aufführt: Die Bestimmung kann damit als Einschränkung der bisherigen Rechtslage verstanden werden.160 Allerdings war von vornherein unwahrscheinlich, dass der Gerichtshof diesen Ansatz für eine Einschränkung aufnehmen würde, weil damit eine schwer erklärliche Rücknahme des EU-Grundrechtsschutzes durch die Charta verbunden wäre; zwischenzeitlich hat der EuGH in der aufsehenerrregenden Åkerberg-Fransson-Entscheidung den Anwendungsbereich der EUGrundrechte sogar auf nationales Recht „im Umfeld“ von EU-Regelungen ausgedehnt161. Damit bleibt das Handeln der Mitgliedstaaten vom Geltungsanspruch der Unionsgrundrechte nur insoweit frei, als sich kein Zusammenhang mit einer unionsrechtlich geregelten Position herstellen lässt.162

2. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch die Grundfreiheiten 47

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Vor allem in der Fallgruppe der nationalen Eingriffe in unionsrechtliche Rechtspositionen überschneiden sich die grundrechtlichen Gewährleistungen des EU-Rechts mit den Vorgaben der Grundfreiheiten: So kann das allgemeine Verbot einer Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit (Art 18 AEUV) verlangen, dass EU-Bürgern vor Gericht dieselben sprachlichen Sonder-

157 EuGH, Slg 1986, 1651, Rn 18 – Johnston (zur Überprüfbarkeit einer Ausnahme von der Regel des gleichberechtigten Zugangs zum Arbeitsplatz durch die nationalen Gerichte). 158 S EuGH, Slg 1987, 4097, Rn 14 – Heylens; Slg 1986, 1651, Rn 18 – Johnston, mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Art 6 und 13 EMRK; s a noch Slg 1985, 2301, Rn 17 – Piercarlo Bozzetti: Es ist „Sache der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, zu bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zuständig ist, in denen es um individuelle, auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende Rechte geht, wobei die Mitgliedstaaten jedoch für den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind.“ (Hervorh durch Verf). 159 Dagegen ist Art 6 EMRK nach der Rspr des EGMR auf Ausweisungsverfahren nicht anwendbar, da kein zivil- oder strafrechtliches Verfahren vorliegt, s EGMR, RTDH 2002, 433, Rn 35 ff – Maaouia, m Anm Tigroudja; → § 6 Rn 38. 160 „Diese Charta gilt für die Organe und Einrichtungen der Union … und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.“ (Hervorh durch Verf); s zu dieser Frage W Cremer NVwZ 2003, 1452 ff; ders EuGRZ 2011, 545 ff; ausdrücklich im Sinne einer Einschränkung des bisherigen Geltungsbereichs der EU-Grundrechte Huber EuR 2008, 190, 196 ff; ders 14 EPL (2008), 323 ff. 161 EuGH, EuZW 2013, 302 – Åkerberg Fransson = EuR 2013, 446 m. Anm. Kingreen für das Verbot der Doppelbestrafung; dazu Gstrein/Zeitzmann ZEuS 2013, 239 ff; Kronenberger RAE 2013, 147 ff; Marguery 20 MJ (2013), 282 ff; Ritleng RTDE 2013, 267 ff; einschränkend BVerfG, 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07, Rn 88 ff. 162 Für einen solchen Fall EuGH, Slg 1997, I-2629, Rn 16 – Kremzow, für eine Vorlage zu Verfahrensgarantien in einem Mordprozess: Allein die Tatsache, dass der Angeklagte durch den Haftvollzug an der Wahrnehmung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gehindert wäre, genügt nicht zur Annahme einer hinreichenden Verbindung; ähnlich Slg 1997, I-5531 – Grado u Bashir.

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rechte eingeräumt werden, die den Angehörigen einer nationalen Minderheit des betroffenen Staates zustehen;163 ebenso gilt, dass die Pflicht zur Leistung einer Prozesskostensicherheit nicht an die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats anknüpfen darf.164 Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten dürfen danach (im Anwendungsbereich des EU-Rechts) schon aufgrund der Grundfreiheiten auch in verfahrensrechtlichen Fragen nicht schlechter gestellt werden als die eigenen Staatsangehörigen. Dementsprechend finden sich Verfahrensgarantien auch im Sekundärrecht, das zu den PersonenverkehrsGrundfreiheiten erlassen wurde.165 Auch im Bereich des freien Warenverkehrs leitet der EuGH konkrete Anforderungen an das mitgliedstaatliche Verwaltungsverfahren unmittelbar aus der Grundfreiheit selbst her.166

3. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch das Gebot gleichwertigen und effektiven Schutzes (Art 4 III EUV) a) Stärkung der Verfahrensrechte durch das Effektivitätsgebot Vor allem im Bereich des mitgliedstaatlichen Vollzugs des EU-Rechts decken sich die Verfahrensgrundrechte des Einzelnen vielfach mit den allgemeinen Anforderungen an einen gleichwertigen und effektiven Vollzug des EU-Rechts, die der Gerichtshof aus Art 4 III EUV herleitet: Diese beiden Grundsätze verlangen, dass zum einen das EU-Recht nicht zu ungünstigeren Bedingungen umgesetzt wird, als sie für im nationalen Recht begründete Rechtspositionen (Grundsatz der Gleichwertigkeit) bestehen;167 zum anderen müssen – 163 S EuGH, Slg 1985, 2681 – Mutsch: Art 45 AEUV verlangt, dass einem deutschen Arbeitnehmer in einem Strafverfahren vor belgischen Gerichten der Gebrauch der deutschen Sprache gestattet wird, wenn dieses Recht Angehörigen der deutschsprachigen Minderheit in Belgien zusteht. Ebenso zu Art 18 AEUV Slg 1998, I-7637 – Bickel u Franz = EuZW 1999, 82 m Anm Novak; dazu auch Hilpold JBl 2000, 93 ff; Bultermann 36 CMLRev (1999), 1325 ff.; zuletzt nochmals EuGH, EuZW 2014, 393 – Grauel Rüffer, m Anm Hilpold. Der Mindeststandard der EMRK gewährleistet insoweit nur die Beiziehung eines Dolmetschers, s Art 6 III e EMRK. 164 S EuGH, Slg 1997, I-1711 – Hayes (zur früheren Fassung des § 110 ZPO) = ZEuP 1999, 964 m Anm Kubis: Verstoß gegen Art 18 AEUV; ebenso Slg 1996, I-4661 – Data Delecta (dazu Streinz/Leible IPRax 1998, 162 ff); Slg 1997, I-5325 – Saldanha (dazu Ehricke IPRax 1999, 311 ff). 165 S etwa die Verfahrensgarantien bei der Ausweisung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten in Art 31 der RL 2004/38/EG des EP und des Rates v 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten […], ABl EU 2004 L 229/35; zu den (teils weitergehenden) Anforderungen in Art 8–9 der (Vorgänger-)RL 64/221 s EuGH, Slg 2004, I-5257, Rn 101 ff – Orfanopoulos und Oliveri; BVerwGE 124, 217; VGH BW, VBlBW 2007, 109 (Recht auf Widerspruchsverfahren); zur Vorgängerfassung der nun in Art 30 RL 2004/38 vorgesehenen Pflicht des Mitgliedstaats, dem Betroffenen die Gründe der Ausweisung mitzuteilen, s bereits Slg 1975, 1219, Rn 33 – Rutili = EuR 1976, 237 m Anm Stein. 166 So zu den aus der Warenverkehrsfreiheit herzuleitenden Anforderungen an mitgliedstaatliche Zulassungsverfahren für Lebensmittelzusatzstoffe EuGH, Slg 2004, I-1333, Rn 35 – Greenham und Abel = ZLR 2004, 193 m Anm Streinz u Anm Jarvis 41 CMLRev (2004), 1395 ff = JK 2004, EGV Art 28/5: „Dieses Verfahren muß leicht zugänglich sein und innerhalb eines angemessenen Zeitraums abgeschlossen werden können; wenn es zu einer Ablehnung führt, muß die Ablehnungsentscheidung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens angefochten werden können.“ 167 Dieser Aspekt wurde zunächst vielfach als Diskriminierungsverbot bezeichnet; doch kann diese Bezeichnung zu Missverständnissen und Verwechslungen führen – denn gemeint ist hier nicht

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unabhängig von einem solchen Vergleich – diese Positionen mit einem bestimmten Mindestmaß an Effektivität durchgesetzt werden können (Grundsatz der Effektivität).168 So lässt sich aus dem Gleichwertigkeitsgrundsatz herleiten, dass für EU-rechtliche Ansprüche – zB für Anträge auf Rückerstattung unionsrechtswidriger Gebühren – nicht kürzere Fristen gelten dürfen, als sie für Ansprüche nach nationalem Recht vorgesehen sind;169 auch zusätzliche Verfahrensanforderungen in Bezug auf EU-rechtlich begründete Ansprüche sind nicht zulässig170. Ein schematisches Verbot abweichender Lösungen für EU-Sachverhalte enthält der Grundsatz allerdings nicht: Der gleichwertige Schutz schließt sachlich begründete Sonderlösungen für EU-Sachverhalte nicht aus171. Aus dem Effektivitätsprinzip ergibt sich, dass in jedem Fall die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes möglich sein muss. Darüber hinaus muss dieser mit zumutbaren Bedingungen ausgestaltet werden, dh die Verfahrensregeln der Mitgliedstaaten dürfen die Rechtsdurchsetzung nicht „praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren“:172 So dürfen generell nicht zu enge Verfahrensfristen vorgesehen werden; prozessuale Präklusionsregeln dürfen nicht in einer Weise angewandt werden, die eine wirksame Durchsetzung der betroffenen Positionen vereitelt.173 Auch Beweislastregeln, die die Durchsetzung der Ansprüche übermäßig erschweren, sind unzulässig174 – unabhängig davon, ob sie auch für Ansprüche aus dem nationalen Recht gelten. Auf den Effektivitätsgrundsatz ist auch das

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eine Diskriminierung von Personen nach der Staatsangehörigkeit, sondern nach der „Herkunft“ des Anspruchs; der EuGH verwendet daher seit einiger Zeit den Begriff der Gleichwertigkeit, s etwa EuGH, Slg 2000, I-10465, Rn 21 – Roquette frères; in anderen Entscheidungen findet sich auch die Bezeichnung als „Äquivalenzgrundsatz“, s Slg 1998, I-5025, Rn 27, 29 – Ansaldo Energia; Slg 1998, I-4951, Rn 34 – Edis; Slg 1999, I-578, Rn 25 – Dilexport. S dazu zB Schmidt-Aßmann FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S 487, 489 ff. Für den Sonderbereich des Schutzes der finanziellen Interessen der EU hat sich die vom EuGH vorgenommene Systematisierung im Text des Vertrages niedergeschlagen: Nach Art 325 IV AEUV ist die „Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes“ der Interessen der EU in den Mitgliedstaaten gefordert (Hervorh durch Verf). Für einen solchen Fall s EuGH, Slg 1988, 3513 – Deville; Slg 1988, 355 – Barra; s a Slg 1998, I-4951, Rn 21 ff – Edis. S insbes EuGH, Slg 2010, I-635 – Transportes Urbanos für eine Regelung des spanischen Staatshaftungsrechts, die bei der haftungsrechtlichen Geltendmachung der Verletzung von EU-Recht die Inanspruchnahme von Primärrechtsschutz verlangte, die bei der Geltendmachung von Verfassungsverstößen aber nicht gefordert war. S zB für die Regelung, die zu einer konzentrierten Gerichtszuständigkeit für EU-Agrarstreitigkeiten führt: EuGH, Urt v 27.6.2013, Rs C-93/12, Rn 40 ff – ET Agrokonsulting-04-Velko Stoyanov; auch die Beschränkung der nationalen Verfassungsbeschwerde auf die Geltendmachung nationaler Grundrechte stellt keinen Verstoß gegen den Gleichwertigkeitsgrundsatz dar, so zu Recht Rn 66 ff der Schlussanträge von GA Bot in der anhängigen Rs C-112/13 – A; zum Problem auch Griebel DVBl 2014, 204 ff. So zB EuGH, Slg 1999, I-578, Rn 25 – Dilexport; Slg 1998, I-5025, Rn 27 – Ansaldo Energia; Slg 1988, 4517, Rn 17 – Jeunehomme. S EuGH, Slg 1995, I-4599 – Peterbroeck; Slg 1995, I-4705 – van Schijndel; zu beiden Entscheidungen v Danwitz UPR 1996, 323 ff; Heukels 33 CMLRev (1996), 337 ff; Prechal 35 CMLRev (1998), 681 ff; später zB Mas ÖJZ 2002, 161 ff; Kment EuR 2006, 201 ff. S EuGH, Slg 1988, 1099, Rn 12 f – Les Fils de Jules Bianco; Slg 1983, 3595, Rn 14 – San Giorgio; weiter zB Slg 2003, I-11365, Rn 110 ff – Weber’s Wine World; s dazu auch Gundel FS Götz, 2005, S 191 ff.

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durch den Gerichtshof herausgearbeitete Erfordernis einer mitgliedstaatlichen Haftung für Verstöße gegen EU-Recht zurückzuführen, die gegeben sein muss, wenn auf andere Weise die Durchsetzung des EU-Rechts nicht gesichert werden kann.175 b) Insbesondere: Anspruch auf Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte Der Effektivitätsgrundsatz verlangt insbesondere – parallel zu Art 6 und 13 EMRK sowie nun Art 47 GRCh – die Eröffnung des Zugangs zu einem Gericht. Hier hat der Gerichtshof zwar zunächst formuliert, dass das EU-Recht von den Mitgliedstaaten nicht die Eröffnung neuer, unbekannter Rechtsschutzmöglichkeiten verlange, sondern nur Rechtsschutz im Rahmen des nach nationalem Recht Möglichen fordere.176 Doch ist diese Aussage, die allein auf die Gewährleistung gleichwertigen Schutzes abstellte und den Grundsatz der Mindesteffektivität außer Acht ließ, nicht mehr wiederholt worden: Stattdessen hat der EuGH in späteren Entscheidungen ausdrücklich auch die Eröffnung bisher unbekannter Rechtsschutzmöglichkeiten verlangt, wenn dies zur effektiven Durchsetzung des EU-Rechts erforderlich schien.177 Auf den ersten Blick scheinen diese Anforderungen angesichts der Garantie des Art 19 IV GG für das deutsche Recht ohnehin gesichert; das Beispiel des Rechtsschutzes bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, der in Deutschland erst nach längerem Zögern entsprechend den Vorgaben der EG-Rechtsmittel-Richtlinie178 geregelt wurde179, zeigt aber, dass hier auch in der deutschen Rechtsschutz-Ordnung – nicht anders als in anderen Mitgliedstaaten – Anpassungsbedarf entstehen kann. Allerdings hat die EuGH-Rechtsprechung jüngst auch geklärt, dass dieser Rechtsschutz nicht notwendig stets in der Form von Primärrechtsschutz gewährleistet werden muss: Es kann genügen, dass der Verstoß in Form von Feststellungs- oder Schadenersatzklagen geltendgemacht werden kann180; das ist auch konsequent, weil auch der Rechtsschutz durch die EU-Gerichte nicht stets in der Form von Primärrechtsschutz erfolgt181.

175 So der Ausgangspunkt der EuGH-Rspr zur – aus den Anforderungen des Art 4 III EUV hergeleiteten – Staatshaftung der Mitgliedstaaten gegenüber dem Bürger für Verstöße gegen EURecht, EuGH, Slg 1991, I-5357 – Francovich. 176 EuGH, Slg 1981, 1805, Rn 44 – Rewe („Butterfahrten“). 177 S etwa EuGH, Slg 1990, I-2433 – Factortame I zur Pflicht der nationalen Gerichte, vorläufigen Rechtsschutz auch gegenüber EU-rechtswidrigem Gesetzesrecht zu gewähren; später zB Slg 2003, I-8679, Rn 50, 56 – Safalero; Slg 2003, I-5197, Rn 35 – Connect Austria; diese Rspr wird jetzt in Art 19 I UA 2 EUV aufgenommen, s o Fn 68. 178 RL 89/665/EWG v 21.12.1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge, ABl EG 1989 L 395/33; geändert durch die RL 2007/66/EG v 11.12.2007, ABl EU 2007 L 335/31; dazu zB Seidel EWS 2007, 529 ff; Frenz VergabeR 2009, 1 ff. 179 Die Aufnahme der Regelung in §§ 97 ff GWB erfolgte mit Wirkung zum 1.1.1999; dazu und zu der zuvor erprobten „haushaltsrechtlichen Lösung“ zB Martin-Ehlers EuR 1998, 648 ff; Byok NJW 1998, 2774 ff; Pietzcker ZHR 162 (1998), 427 ff. 180 So EuGH, Slg 2007, I-2271, Rn 55 ff – Unibet = JA 2007, 830 m Anm Gundel; umstritten ist die Frage derzeit im Vergaberecht, weil BVerfGE 116, 135 hier für den Bereich der gesetzlich nicht geregelten Vergaben unterhalb der sog Schwellenwerte eine verfassungsrechtliche Gewährleistung von Primärrechtsschutz verneint hat. Teile der deutschen Lit nehmen an, dass der Primärrechtsschutz unabhängig davon EU-rechtlich geboten sei, so zB Wollenschläger NVwZ 2007, 388, 395 f; Niestedt/Hölzl NJW 2006, 3680, 3681 ff; dazu Gundel Jura 2008, 288, 292 ff. 181 S o Rn 21.

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Fall 3: (Conseil d’Etat [F], 5.3.1999, AJDA 1999, 460)182 Die Parlamentsverwaltung des Mitgliedstaats X vergibt einen Auftrag zur Installation der Raumelektronik im Plenarsaal. Nach dem Recht des Mitgliedstaats sind Entscheidungen des Parlaments gerichtlich nicht überprüfbar. Der unterlegene Konkurrent Y, der trotz eines günstigeren Angebots nicht berücksichtigt worden war, ruft dennoch das Verwaltungsgericht an und macht geltend, dass der Auftrag unter Verstoß gegen die RL zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge183 erteilt worden sei. Ist die Klage zulässig?

Parallel zum Effektivitätsgebot gilt dann im Anwendungsbereich des EU-Rechts auch der EU-rechtliche Grundrechtsschutz: Das Gebot der Eröffnung von Rechtsschutz gegen Maßnahmen der nationalen Behörden, die in unionsrechtlich gewährte Rechtspositionen eingreifen, gilt also zum einen, weil dies zur effektiven Durchsetzung des EU-Rechts erforderlich ist, zum anderen, weil es sich aus dem EU-rechtlichen Grundrechtsstandard ergibt; deutlich wird diese doppelte Funktion etwa beim Gebot der Gewährleistung vorläufigen Rechtsschutzes gegen nationales Recht, das gegen EU-Recht verstößt.184 Ähnliches gilt zB für die Unzulässigkeit nationaler Verfahrensfristen, die so kurz gehalten sind, dass dem Bürger eine tatsächliche Ausübung seiner durch das EU-Recht gewährten Rechte praktisch unmöglich gemacht oder unzumutbar erschwert wird;185 grundsätzlich ist die Limitierung materieller Rechte durch nationale Verfahrensfristen allerdings zulässig.186

182 Fall nach Conseil d’Etat (F), Assemblée du contentieux 5.3.1999 – Président de l’Assemblée Nationale, AJDA 1999, 460 m Anm Raynaud/Fombeur S 401, 409 ff = RDP 1999, 1810 m Anm Thiers 1785 ff = RFDA 1999, 343 mit Schlussanträgen von Regierungskommissarin Bergeal 333 ff. 183 RL 93/97 v 14.6.1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, ABl EG 1993 L 199/54 (zwischenzeitlich ersetzt durch die RL 2004/18/EG v 31.3.2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleisungsaufträge, ABl EU 2004 L 134/114). 184 EuGH, Slg 1990, I-2433 – Factortame I; unmittelbar zu dieser Entscheidung auch Smith EuZW 1992, 308 ff; Toth 27 CMLRev (1990), 573 ff; Barav/Simon RevMC 1990, 591 ff. Zu den Anforderungen an das nationale Prozessrecht in dieser Frage und den Auswirkungen auf das deutsche Recht s a Hauser VBlBW 2000, 377 ff; Sommermann FS Blümel, 1999, S 523 ff; Schoch DVBl 1997, 289 ff; präzisierend nun Slg 2007, I-2271, Rn 78 ff – Unibet = JA 2007, 830 m Anm Gundel; dazu Anagnostaras 33 ELRev (2008), 586 ff. 185 Dies betrifft vor allem die Rückerstattung von nationalen Abgaben und Gebühren, die unter Verstoß gegen EU-Recht erhoben, bzw die nachträgliche Gewährung von Leistungen, die unionsrechtswidrig verweigert wurden; zur ersten Fallgruppe s Gundel FS Götz, 2005, S 191 ff. 186 S in jüngerer Zeit EuGH, Slg 2004, I-837 – Kühne und Heitz = EuR 2004, 590 m Anm Potacs = JZ 2004, 619 m Anm Ruffert = JK 9/04, EGV Art 10/3; Slg 2006, I-8559 – Arcor = JA 2007, 398 m Anm Gundel. Auch bei der Prüfung des Verwaltungshandelns von EU-Organen betont der EuGH die Rechtssicherheit stiftende Funktion von Ausschlussfristen, etwa der Klagefrist des Art 263 VI AEUV, und die mit Fristablauf eintretende Bestandskraft, s zB Slg 1999, I-5363, Rn 57 ff – AssiDomän = JK 2000, EGV Art 233/1. Eine besonders weitgehende Ableitung aus dem Effektivitätsprinzip, nach der nationale Fristen nicht zu laufen beginnen, solange die dem Anspruch zugrunde liegenden EU-Richtlinien nicht umgesetzt sind (so Slg 1991, I-4269, Rn 21 ff – Emmott), hat der EuGH allerdings wieder zugunsten einer Einzelfall-Prüfung entschärft, s Slg 1997, I-6783 – Fantask und dazu Gundel NVwZ 1998, 910 ff; Notaro 35 CMLRev (1998), 1385 ff; nochmals EuGH, Slg 2009, I-2119, Rn 53 ff - Danske Slagterier = EWS 2009, 176 m Anm Würtenberger = ZLR 2009, 438 m Anm Gundel; Slg 2011, I-4043, Rn 17 ff – Iaia.

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Lösung Fall 3: Die Klage des Y ist in Abweichung vom nationalen Recht zulässig: Der Grundsatz der Mindesteffektivität verlangt parallel zu Art 6, 13 EMRK die Möglichkeit einer Geltendmachung der Verletzung EU-rechtlicher Positionen vor den nationalen Gerichten. Für das öffentliche Auftragswesen folgt dies zusätzlich aus dem Sekundärrecht.187 Entgegenstehende Grundsätze des nationalen Prozessrechts – wie die gerichtliche Immunität von Handlungen des Parlaments – müssen dem Vorrang des EU-Rechts weichen. Dementsprechend hat der französische Conseil d’Etat im zugrunde liegenden Fall den in ständiger Rechtsprechung praktizierten Ausschluss der Gerichtskontrolle über „actes du parlement“ nicht angewandt, sondern die Klage als zulässig angesehen.188

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c) Konflikte zwischen Verfahrensgarantien und Effektivitätsgebot Im Einzelfall kann der Grundsatz der Effektivität des EU-Rechts allerdings auch zu Lasten des Einzelnen gehen und in Konflikt zu seinen Schutzinteressen geraten;189 er ist insoweit ambivalent. So kann der Grundsatz der Effektivität bei zeitnah umzusetzenden Entscheidungen etwa gebieten, dass Rechtsmittel gegen belastende Entscheidungen nicht die im nationalen Recht vorgesehene aufschiebende Wirkung entfalten.190 Auch soweit solche Konflikte bestehen, ist der EuGH aber zu ausgleichenden Lösungen gelangt. Besonders deutlich wird dies bei der Überprüfung der Gültigkeit von Sekundärrecht: Der Grundsatz, wonach sekundäres EU-Recht nicht durch die mitgliedstaatlichen Gerichte als vertragswidrig verworfen werden kann, sondern diese Gerichte die Frage der Gültigkeit – über den Wortlaut des Art 267 III AEUV hinaus unabhängig von ihrer Stellung im Instanzenzug – dem EuGH vorlegen müssen, wenn sie die Ungültigkeit annehmen wollen (Verwerfungsmonopol des EuGH),191 ist geprägt vom Gedanken der effizienten Durchsetzung des EU-Rechts. Dem Bedenken, wonach auf diese Weise ein effektiver Rechtsschutz des Bürgers gegen vertragswidriges Sekundärrecht verfehlt werden könnte, weil zunächst der Ausgang des Vorabentscheidungsverfahrens abgewartet werden müsste, ist der Gerichtshof entgegengetreten, indem er den nationalen Gerichten den Erlass von 187 Art 1 der RL 89/665/EWG (Fn 178). Die Vergaberichtlinien erfassen auch die öffentlichen Aufträge der nationalen Parlamente, s EuGH, Slg 1998, I-5063 – Kommission/Belgien (Bauauftrag des flämischen Regionalparlaments). 188 In der Entscheidung des Conseil d’Etat wird dieser Zusammenhang – wie häufig – nicht angesprochen. Der EU-rechtliche Zwang zur Änderung der Rspr wird in den Schlussanträgen der Regierungskommissarin deutlich gemacht, RFDA 1999, 333, 338. 189 Etwa im Fall der Rückforderung von EU-rechtswidrig geleisteten Beihilfen, s EuGH, Slg 1997, I-1591, Rn 37 – Alcan = EuZW 1997, 276 m Anm Hoenike; Slg 2006, I-10071 – Kommission/ Frankreich (Scott Paper/Kimberly-Clark) = JA 2007, 668 m Anm Gundel: Derselbe Grundsatz, der bewirkt, dass der Bürger unionsrechtswidrig eingeforderte Gebühren entgegen nationaler Ausschlussfristen zurückerhält, führt dazu, dass er auch unionsrechtswidrig erzielte Vermögenszuwächse nicht durch Berufung auf die nationale Ausschlussfrist des § 48 IV VwVfG verteidigen kann. Ähnlich zu Lasten des EU-Marktbürgers wirkt die Tafelwein-Entscheidung für die Möglichkeit vorläufiger Maßnahmen der Behörden, während die auf demselben Gedanken beruhende Factortame-Entscheidung (Slg 1990, I-2433 – Factortame I) zugunsten des Bürgers wirkte. 190 EuGH, Slg 1990, I-2879 – Kommission/Deutschland (Tafelwein-Destillation); dazu zB Vedder EWS 1991, 10 ff; v Stülpnagel DÖV 2001, 932 ff. 191 So erstmals EuGH, Slg 1987, 4199 – Foto-Frost; bestätigt durch Slg 2005, I-10513 – Gaston Schul.

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Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes zugestanden hat, wenn sie zugleich ihrer Vorlagepflicht nachkommen:192 Eine vorläufige „Aussetzung“ des Geltungsanspruchs des Sekundärrechts wird danach unter der Voraussetzung akzeptiert, dass dem EuGH die Gelegenheit eröffnet wird, das abschließende letztverbindliche Wort in der betreffenden Gültigkeitsfrage zu sprechen193. Dieser richterrechtlich entwickelte Kompromiss erscheint als gelungener Ausgleich194 zwischen den Erfordernissen einer effektiven Anwendung des EU-Rechts und eines effektiven Rechtsschutzes des Einzelnen.195 Eine ähnlich abgewogene Lösung hat der Gerichtshof schließlich in einer anderen Konstellation gefunden, in der sich das Bedürfnis nach Rechtssicherheit einerseits und die Erfordernisse effektiven Rechtsschutzes andererseits gegenüberstanden: Seit Beginn der 1980er Jahre nimmt der EuGH die Kompetenz in Anspruch, auch in Vorabentscheidungsverfahren die zeitliche Geltung seiner Entscheidungen zu beschränken;196 macht der Gerichtshof von dieser Möglichkeit Gebrauch, so wird die Feststellung der Ungültigkeit von Sekundärrecht oder eine bestimmte Auslegung des EU-Rechts, die einen Verstoß nationalen Rechts gegen dieses EU-Recht nach sich zieht, erst ab dem Zeitpunkt des Erlasses seiner Entscheidung wirksam. Grundsätzlich ist diese Einschränkung nicht zu beanstanden, auch wenn eine solche Rechtsfolgenmoderation im Vertrag selbst nur für die Nichtigkeitsklage erwähnt ist (Art 264 II AEUV): Sie ist eine Konsequenz der verfassungsgerichtlichen Funktion des EuGH.197 Doch musste bei genereller Anwendung dieser Lösung auch auf die Kläger des Ausgangsverfahrens diese Rechtsfolgenbeschränkung dazu führen, dass den Klägern der Pro-

192 So EuGH, Slg 1991, I-415 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen = EuZW 1991, 313 m Anm Schlemmer-Schulte 307 ff = JZ 1992, 38 m Anm Gornig; Slg 1995, I-3799 – Atlanta; Slg 1995, I-3761 – Atlanta = JK 96, EGV Art 189/1, m Anm Bebr 33 CMLRev (1996), 795 ff; für spätere Anwendungsfälle Slg 1997, I-4517 – Krüger GmbH; Slg 1997, I-4315 – Affish BV. 193 Ist die Frage der Gültigkeit bereits anderweitig beim EuGH anhängig, kann das Gericht sogar auf eine eigene Vorlage verzichten, s EuGH, Slg 1991, I-415, Rn 33 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; nationale Behörden sind dagegen zu einer vorläufigen Aussetzung nicht befugt, so ausdrücklich Slg 2005, I-10423, Rn 108 ff – ABNA = EWS 2006, 73 m Anm Gundel 65 ff. 194 Von einer „salomonischen Lösung“ spricht Pietzcker FS 150 Jahre Carl Heymanns Verlag, 1995, S 623, 633. 195 Demgegenüber gesteht die Rspr des BVerfG den Fachgerichten in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die (vorläufige) Normverwerfungskompetenz gegenüber Gesetzen zu und behandelt Vorlagen nach Art 100 I GG in diesem Stadium als unzulässig, s BVerfGE 86, 382, 389 sowie OVG NW, NVwZ 1992, 1226; OVG Berlin, NVwZ 1992, 1227 (Eine Ausnahme wird man machen müssen, wenn ein Hauptsacheverfahren nicht vorgesehen ist; s für eine Richtervorlage in einem solchen Fall BVerfGE 63, 131 – NDR-Staatsvertrag). Zum Vergleich von EuGH- und BVerfG-Rspr in dieser Frage s Pietzcker FS 150 Jahre Carl Heymanns Verlag, 1995, S 623 ff. 196 Zur Entwicklung der Rspr s zB Gundel FS Berg, 2011, S 54 ff; Wiedmann EuZW 2007, 692 ff; Kokott/Henze NJW 2006, 177 ff; Everling FS B Börner, 1992, S 57 ff. 197 Zur entsprechenden Regelung für Entscheidungen des BVerfG s § 79 BVerfGG; dem entspricht, dass die Kompetenzerweiterung des EuGH in der deutschen Literatur nicht problematisiert wurde, während in Frankreich Literatur und verwaltungsgerichtliche Rspr diese Kompetenz des EuGH zunächst ua unter Hinweis auf eine Überschreitung der richterlichen Funktionen nicht akzeptiert haben: In Frankreich fehlte bisher das Vorbild einer nachträglichen Verfassungskontrolle von Gesetzen, das die Erforderlichkeit einer solchen Regelung einsichtig macht; s Gundel Die Einordnung des Gemeinschaftsrechts in die französische Rechtsordnung, 1997, 276 ff; s a die rechtsvergleichenden Hinweise bei Isaac CDE 1987, 444 ff.

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zesssieg im Ergebnis wieder genommen wurde.198 Der Gerichtshof hat diese „Härte“ zunächst tatsächlich hingenommen; später hat er für diese Fälle dann den Grundsatz aufgestellt, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens und zudem auch alle Betroffenen, die parallel zu ihnen bereits vor Erlass der EuGH-Entscheidung gerichtliche oder außergerichtliche Rechtsmittel eingelegt haben, von der Beschränkung der Rückwirkung auszunehmen sind.199 Andernfalls werde der Kläger des Anspruchs auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz200 gegen Verletzungen des EU-Rechts beraubt.

IV. Besondere Probleme bei „gestuften“ Verfahren und „gemischten“ Entscheidungen zwischen nationalen Behörden und EU-Kommission 1. Gestufte Verfahren a) Das Phänomen Eine spezifische Form des Vollzugs des EU-Rechts sind gestufte Verfahren,201 in denen der Bürger zunächst allein in Kontakt mit den „ausführenden“ mitgliedstaatlichen Behörden tritt, während im Hintergrund die eigentliche Entscheidung durch die EU-Organe getroffen wird; diese Gestaltung wirft besondere Probleme für die Einhaltung der Verfahrensgarantien, aber auch für den Rechtsschutz gegenüber einmal getroffenen Entscheidungen auf. Bei dieser Ausgestaltung, die zB im EU-Zollrecht anzutreffen ist, nehmen die nationalen Behörden den Antrag des Betroffenen entgegen und sind im „Normalfall“ auch zur eigenständigen Entscheidung befugt. Nur in bestimmten Zweifelsfällen sind sie verpflichtet, den Sachverhalt der Kommission zu unterbreiten; diese trifft dann eine verbindliche Entscheidung, die von den nationalen Behörden gegenüber dem Antragsteller umzusetzen ist. Ähnliche Gestaltungen finden sich in der Verwaltung der Beihilfen der EU, etwa des EU-Sozialfonds (ESF) oder des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE): Hier sind nationale Stellen für die laufende Verwaltung und die Überwachung der Mittelverwendung zuständig; die verbindliche Entscheidung darüber, ob die Beihilfe endgültig gewährt oder aber stattdessen sogar Mittel zurückgefordert werden müssen, trifft jedoch die Kommission, wobei die Ausgestaltung im Detail variiert.202 Diese Gestaltung hat für

198 So der Einwand der Corte costituzionale (I), 21.4.1989 No 232/89 – Fragd Spa., Riv Dir Int 1989, 103; das italienische Verfassungsgericht hat dabei eine der „Solange-Rechtsprechung“ des BVerfG (zu ihr zB Lecheler ER, S 57 f; ders JuS 2001, 120 ff) entsprechende „Letztkontrolle“ in Anspruch genommen; zur Kontroverse Azzena Riv Trim Dir Pubbl 1992, 688 ff. 199 So programmatisch EuGH, Slg 1994, I-1445, Rn 26 ff – Roquette frères; zuletzt Slg 2008, I-10807, Rn 127 – Régie Networks; allerdings hat der Gerichtshof sich geweigert, diese ausgleichende Lösung rückwirkend auch auf die zuvor bereits abweichend entschiedenen Fälle zu erstrecken, s Slg 1989, 1553 – Roquette frères. 200 So EuGH, Slg 1994, I-1445, Rn 27 – Roquette frères. 201 Dazu zB Sydow 34 DV (2001), 517 ff; ausf Nehl Europäisches Verwaltungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung, 2002, 41 ff, 81 ff, 413 ff. 202 Zur Verteilung der Aufgaben zB EuGH, Slg 2001, I-673 – DAFSE; zuvor zB Slg 2000, I-7183 – Mediocurso (jeweils zur Förderung durch den ESF). Die Ausgestaltung kann allerdings in Abhängigkeit des anwendbaren Sekundärrechts stark variieren: So hat der EuGH für die EFREFörderung festgehalten, dass die Kommission den Mitgliedstaat zwar zur Erstattung an die EU

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das EU-Organ den Vorteil, dass ihm die Entscheidungssteuerung in zweifelhaften Fällen erhalten bleibt, ohne dass es mit der Masse der unproblematischen Fälle konfrontiert würde. b) Gefährdung der Rechte im Verwaltungsverfahren 62

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Diese Verfahrensgestaltung hat allerdings nicht nur Vorteile: Sie führt auch zu einer Gefährdung der Verfahrensrechte der Betroffenen, weil die nach außen zuständige und die in der Sache entscheidende Stelle auseinander fallen; dadurch kann das rechtliche Gehör beeinträchtigt werden, wenn nicht zusätzliche Vorkehrungen getroffen werden. Der EuGH hat diese Defizite zunächst gebilligt und darauf abgestellt, dass eine unmittelbare Gewährung rechtlichen Gehörs für die Betroffenen im Sekundärrecht nicht vorgesehen sei.203 Seit der maßgeblichen TU-München-Entscheidung von 1991204 verlangt er aber insbesondere die Wahrung des rechtlichen Gehörs: In dieser Entscheidung ist auch klargestellt, dass diese Anforderung nicht von der Ausgestaltung des Sekundärrechts abhängen kann. Daran anschließende Entscheidungen haben mehrfach festgehalten, dass dies dazu führen kann, dass die Kommission sich für ihre Entscheidung nicht allein auf die Kommunikation mit den zwischengeschalteten mitgliedstaatlichen Behörden verlassen darf, sondern dem Betroffenen ggf unmittelbar das Recht zur Stellungnahme gewähren muss, auch wenn ein solcher unmittelbarer Kontakt im Sekundärrecht nicht vorgesehen ist.205 Das ist zB dann geboten, wenn die Kommission von der Bewertung eines Sachverhalts durch die nationalen Behörden zum Nachteil des Betroffenen abweichen will,206 oder wenn ein Gesichtspunkt als maßgeblich für die Entscheidung herangezogen wird, zu dem der Antragsteller nicht Stellung beziehen konnte;207 auch die Akteneinsicht als Bestandteil des rechtlichen Gehörs muss die Kommission dem Antragsteller des Ausgangsverfahrens

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verpflichten kann, wenn gegen die Fördervoraussetzungen verstoßen wird, dieser muss die Förderung aber nicht notwendig auch vom Empfänger zurückfordern; s EuGH, Slg 2007, I-2591 – Regione Siciliana = JA 2007, 828 m Anm Gundel. Besonders weitgehend in der Auflösung des Durchgriffs ist Slg 2007, I-5103 – Stichting ROM-projekten: Wenn die Beanstandung durch die Kommission auf der Missachtung von Fristen beruht, die der Empfänger nicht zu verantworten hat, weil der Mitgliedstaat sie ihm nicht mitgeteilt hatte, so muss der Staat die Summe zwar erstatten, darf sie aber vom Empfänger aufgrund des EU-rechtlichen Vertrauensschutzes nicht zurückverlangen (zur Anwendbarkeit der EU-Grundrechte auf den Vollzug durch die Mitgliedstaaten s Rn 42 ff). So zB EuGH, Slg 1986, 2049, Rn 13 ff – Nicolet; Slg 1988, 1557, Rn 13 f – Nicolet. S insb EuGH, Slg 1991, I-5469 – TU-München; später Slg 1994, I-2885, Rn 39 – Fiskano; EuG, Slg 1995, II-2841 – France-Aviation; Slg 1998, II-401, Rn 74 ff – Eyckeler u Malt; Slg 1998, II-3773, Rn 57 ff – Primex Produkte; dazu Lecheler/Gundel Übungen, 97 ff. So zum Zollrecht EuG, Slg 2001, II-1337 – Kaufring; zu dieser Entscheidung Heselink ZfZ 2001, 321 ff. So im Fall Kaufring (Fn 205): Hier hatten die nationalen Behörden angenommen, dass der Fehler für die Importeure nicht erkennbar war, die Kommission kam zur gegenteiligen Einschätzung; ähnlich der Sachverhalt von EuG, Slg 1998, II-401 – Eyckeler u Malt; Slg 1998, II-3773 – Primex Produkte. So im Fall von EuGH, Slg 1991, I-5469 – TU-München, s Rn 38 der Schlussanträge von GA Jacobs.

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in solchen Fällen gewähren.208 Die Kommission hat sich diesen Vorgaben schließlich auch angepasst.209 Der EuGH hat in diesem Zusammenhang auch den bereits aus dem nationalen Recht bekannten Kompensationsmechanismus auf das EU-Recht angewandt, nach dem in Bereichen, in denen die inhaltliche Kontrolle der Entscheidung durch Beurteilungsspielräume der Verwaltung begrenzt ist, die Kontrolle der Einhaltung der Verfahrensrechte besondere Bedeutung gewinnt.210

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c) Problematik des Rechtsschutzes Die Stufung der Entscheidungszuständigkeiten führt darüber hinaus aber auch zu Problemen für die Gewährleistung eines lückenlosen Rechtsschutzes: Wenn der Betroffene gegen die abschließende Entscheidung der nationalen Behörde vorgeht, so muss das nationale Gericht stets dem Gerichtshof vorlegen, wenn es zu der Auffassung gelangt, dass die zugrunde liegende Kommissionsentscheidung gegen EU-Recht verstößt.211 Dies führt zwar zu Verzögerungen, eine Prüfung bleibt aber möglich; anders könnte die Lage sein, wenn dem Betroffenen die Zwischenentscheidung der Kommission bereits bekannt war: Dann muss er bereits unmittelbar gegen diese Entscheidung vorgehen, um ihre Bestandskraft zu vermeiden.212 Erfährt er von der Existenz der Kommissionsentscheidung allerdings erst im Verfahren gegen die abschließende Entscheidung der nationalen Behörde, so wird man ihm die Einleitung eines weiteren Verfahrens kaum zumuten können; auch die Gefahr einer Umgehung der Klagefrist des Art 263 VI AEUV ist in diesen Fällen nicht gegeben.213 208 Nachdrücklich EuG, Slg 1998, II-401, Rn 79 ff – Eyckeler u Malt; Slg 1998, II-3773, Rn 62 f – Primex Produkte. 209 Die Kommission hatte zunächst versucht, die Auswirkungen der EuGH-Rspr auf ihre Verwaltungspraxis dadurch zu beschränken, dass den von den nationalen Behörden weitergeleiteten Anträgen eine schriftliche Erklärung des Antragstellers beizufügen war, in dem dieser versicherte, zu dem unterbreiteten Sachverhalt vollständig Stellung genommen zu haben (Art 87 1 I DVOZollkodex idF der Kommissions-VO 12/97, ABl EG 1997 L 9/1). Das EuG hat in der Folge aber festgehalten, dass diese Ergänzung nur eine Verbesserung in der ersten Verfahrensphase vor den nationalen Behörden bedeutete, nicht aber das geforderte rechtliche Gehör zu den Gesichtspunkten sicherstellen konnte, die in der zweiten Phase die Kommission für entscheidend halten würde, s EuG, Slg 1998, II-401, Rn 84 f – Eyckeler u Malt; Slg 2000, II-15, Rn 44 ff – Mehibas Dordtselaan. Erst mit der Kommissions-VO 1677/98 zur Änderung der DVO-Zollkodex, ABl EG 1998 L 212/18, wird dann eine rechtsprechungskonforme Regelung aufgenommen: „In allen Phasen des Verfahrens … teilt die Kommission, wenn sie eine Entscheidung zu Lasten des antragstellenden Beteiligten treffen will, diesem in einem Schreiben alle der Entscheidung zugrunde liegenden Argumente mit und übersendet ihm alle Unterlagen, auf die sie die Entscheidung stützt. Der Beteiligte nimmt innerhalb eines Monats … schriftlich Stellung.“ (Art 872a DVO-Zollkodex, parallel dazu Art 906a DVO-Zollkodex). 210 S dazu etwa Schwarze FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 147, 160, 162 f; Kahl VerwArch 95 (2004), 1, 9 f; deutlich EuGH, Slg 1991, I-5469, Rn 14 – TU-München; hier hat sich die Rspr des EuGH unter dem Eindruck mehrfacher Vorlagen des BFH zu einer verschärften Verfahrenskontrolle von Kommissionsentscheidungen gewandelt. 211 Die grundlegende Entscheidung EuGH, Slg 1987, 4199 – Foto-Frost betrifft ein solches Verfahren aus dem Zollbereich. 212 Dazu auch Lecheler/Gundel Übungen, 95 ff. 213 Lecheler/Gundel Übungen, 96 f; zu diesem Hintergrund der „Textilwerke Deggendorf“-Rspr Rn 31; AA allerdings Nehl (Fn 201) S 429 ff, der stets die Wahrnehmung der Direktklage ver-

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Neben den Fällen, in denen die Kommission im Hintergrund die Entscheidungen trifft und diese von den nationalen Verwaltungen nur umgesetzt werden, bestehen auch Gestaltungen, bei denen die EU und die nationale Behörde jeweils eine Entscheidung in eigener Verantwortung treffen. Relevant wird dies bei Gestaltungen, die bei Beihilfen der EU anzutreffen sind. Fall 4: (EuGH, Slg 1992, I-6313 ff – Oleificio Borelli) X stellt einen Antrag auf Förderung eines landwirtschaftlichen Projekts aus den Regionalfördermitteln der EU. Nach der einschlägigen EU-Verordnung ist der Antrag bei der nationalen Behörde zu stellen und wird von dieser an die Kommission weitergeleitet; die Kommission kann den Antrag nur genehmigen, wenn auch der Mitgliedstaat sich entschieden hat, das Projekt zu fördern (und damit einen Teil der Finanzierung übernimmt). Im Fall des X lehnt der Mitgliedstaat eine solche Förderung ab; daraufhin weist auch die EU-Kommission den Antrag ab, obwohl die Genehmigungsvoraussetzungen im Übrigen vorliegen. Gegen diese Entscheidung der Kommission erhebt X Klage vor dem EuG; er macht geltend, dass die ablehnende Entscheidung der nationalen Behörde gegen EURecht verstoßen habe. Die Kommission hätte dies berücksichtigen und deshalb über die Förderung eine eigene positive Entscheidung fällen müssen: Dies sei der einzige Weg, die Einhaltung des EU-Rechts sicherzustellen, denn nach nationalem Prozessrecht werde die Entscheidung der nationalen Behörde als gerichtlich nicht selbständig angreifbare Zwischenentscheidung gewertet.

Die Besonderheit dieser Fälle liegt darin, dass die von den nationalen Behörden getroffenen (Teil-)Entscheidungen nicht von der EU-Gerichtsbarkeit kontrolliert werden können: Der EuGH schließt eine solche Kontrolle über das nationale Verwaltungshandeln im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gegen die Kommissionsentscheidung aus, da eine solche Bewertung des mitgliedstaatlichen Verhaltens ausschließlich im Vertragsverletzungsverfahren (Art 258 f AEUV) vorgesehen sei.214 Dennoch verlangt die EU-rechtliche Garantie des effektiven und lückenlosen Rechtsschutzes, dass eine gerichtliche Kontrolle der staatlichen Entscheidung am Maßstab des EU-Rechts gewährleistet ist: Diese Überprüfung ist die Aufgabe der nationalen Gerichte, denen allgemein die Kontrolle der Behörden bei der Anwendung des EU-Rechts obliegt;215 sie können bzw müssen ggf den EuGH mit Fragen der Auslegung des zugrunde liegenden EU-Rechts befassen (Art 267 III AEUV). Der Vertrag von Lissabon hat diese Verantwortung der nationalen Rechtsordnungen und der nationalen Gerichte durch die Einfügung von Art 19 I UA 2 EUV ausdrücklich bestätigt. langt (aber auch konstatiert, dass dies nicht der Praxis des EuGH entspricht). Werden tatsächlich eine Nichtigkeitsklage und ein nationales Gerichtsverfahren parallel geführt, kann das nationale Gericht anstatt einer Gültigkeitsvorlage auch die Aussetzung des Verfahrens wählen, so EuGH, Slg 2008, I-869, Rn 64 ff – Heuschen & Schrouff. 214 S bereits EuGH, Slg 1990, I-1083, Rn 16 f – Triveneta Zuccheri m Anm Flynn 28 CMLRev (1991), 444 ff; Slg 1993, I-3873, Rn 55 ff – CT Control BV u JCT Benelux BV: Solche Überprüfungen sind ausschließlich im Vertragsverletzungsverfahren zulässig. 215 EuGH, Slg 1992, I-6313, Rn 13 ff – Oleificio Borelli; dazu etwa García de Enterría 13 YEL (1993), 19 ff; Galetta in: Magiera/Sommermann (Hrsg) Verwaltung in der Europäischen Union, 2001, 63, 76 ff; Nehl (Fn 201) S 432 ff; ebenso zB Slg 2002, I-1179, Rn 47 – La Conqueste SCEA.

874

Justiz- und Verfahrensgrundrechte

§ 27 V

Lösung Fall 4: Die Klage des X gegen die ablehnende Kommissionsentscheidung ist zulässig. EuG/EuGH werden sie jedoch als unbegründet abweisen, sofern diese Entscheidung keine eigenen Mängel aufweist. Weder die Kommission noch der EuGH werden danach die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Mitgliedstaats überprüfen: Diese Kontrolle obliegt den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten. Dies gilt auch dann, wenn das nationale Verfahrensrecht diese Entscheidungen als unselbständige (und damit nicht eigenständig überprüfbare) Vorbereitungshandlungen versteht; die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sind unionsrechtlich verpflichtet, die Zulässigkeit entsprechender Klagen sicherzustellen. Auch in diesem Fall hat der Gerichtshof die Forderung lückenlosen Rechtsschutzes zwar anerkannt, sie aber als Verpflichtung der Mitgliedstaaten zugeordnet.

Während die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der nationalen Behörde vor den zuständigen Gerichten geprüft wird, wird allerdings die ablehnende Kommissionsentscheidung durch Zeitablauf bestandskräftig werden, Art 263 VI AEUV.216 Hat der nationale Rechtsbehelf schließlich Erfolg, so entsteht damit aber eine neue Sachlage, so dass die Kommission ohne Bindung an ihre vorangehende Entscheidung erneut über die Förderung entscheiden kann. Damit ist zwar auch in diesen Fällen im Ergebnis der Rechtsschutz gegen jeden Teil der Entscheidung gesichert; der Weg dazu ist aber äußerst aufwendig und kompliziert.

71

72

V. Zusammenfassung Die Justiz- und Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts basieren in weiten Bereichen auf den Direktiven der EMRK, die in die Grundrechtecharta übernommen wurden; im Vordergrund stehen die Gewährleistungen eines fairen Verfahrens und des effektiven Rechtsschutzes, aus denen sich zahlreiche Ableitungen (rechtliches Gehör, Rechtsschutz in angemessener Zeit etc) ergeben. Diese Gewährleistungen werden ergänzt und ggf verstärkt durch die Grundsätze der gleichwertigen und effektiven Durchsetzung des EU-Rechts in den Mitgliedstaaten (Art 4 III EUV); in anderen Konstellationen müssen sie mit dem Grundsatz der Effektivität – der sich auch gegen die Verfahrensposition des Einzelnen kehren kann – in Ausgleich gebracht werden. Anders als andere Grundrechte des EURechts, bei denen die Bindung des EU-Gesetzgebers im Mittelpunkt steht, wirken die Justiz- und Verfahrensgrundrechte vor allem als Beschränkung der Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten, die das EU-Recht vollziehen.

216 Auch eine vorsorglich parallel erhobene Nichtigkeitsklage gegen die Kommissionsentscheidung könnte dies nicht verhindern: Sie wäre – wie im Fall Borelli – als unbegründet abzuweisen.

875

73

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

NJOZ 2010, 1903

51776/08 3455/05

§ 6 Rn 9 § 2 Rn 73; § 6 Rn 33

InfAuslR 2010, 47 NJW 2011, 2107

30471/08 25579/05

Adamicek Ada Rossi ua Adam ACCEPT AGOSI Ahmed

NJW 2003, 2595 EuZW 2013, 469 EuGRZ 1988, 513 RJD 1998-VI

35836/05 55185/08 43359/98 C-81/12 9118/80 22954/93

Airey

EuGRZ 1979, 626

6289/73

Aksoy Albert und Le Compte Albu Alekseyev

HRLJ 18 (1997), 221 EuGRZ 1983, 190

21987/93 7299/75; 7496/76 34796/09 4916/07, 25924/08, 14599/09 40287/98 48539/99 18837/06 25424/09 76574/01 15175/89 13471/06 55721/07 5631/05 27798/95 60115/00 19776/92

§ 6 Rn 9 § 2 Rn 43; § 3 Rn 27; § 15 Rn 18 § 6 Rn 43 § 2 Rn 98 § 2 Rn 70 § 21 Rn 22 § 5 Rn 22, 28, 31, 43 § 2 Rn 72; § 4 Rn 35, 81; § 6 Rn 70 § 2 Rn 41, 102; § 6 Rn 73; § 22 Rn 15 § 6 Rn 28, 73 f § 4 Rn 86 § 6 Rn 47 § 17 Rn 37

A ua/Bulgarien A ua/Vereinigtes Königreich Abdolkhani u Karminia A, B u C

Alinak Allan Allen Allen Allen Allenet de Ribemont Almesberger Al-Skeini Althoff Amann Amihalachioaie Amuur Anayo Ancel Andorka u Vavra Andreyev Anheuser-Busch Inc Ankerl A Oy Appel-Irrgang

NVwZ 2011, 1375

RJD 2002-IX

RJD 2003-VIII RUDH 1995, 295 NJW 2012, 283 NVwZ 2012, 1455 HRLJ 21 (2000), 221 RJD 2004-III EuGRZ 1996, 577 EuGRZ 2011, 124

GRUR 2007, 696 RJD 1996-V EuZW 2013, 269 NVwZ 2010, 1353

20578/07 28514/04 25694/03; 28338/03 48132/07 73049/01 17748/91 C-123/11 45216/07

§ 4 Rn 15 § 6 Rn 50, 69 § 6 Rn 32 § 6 Rn 51 § 27 Rn 20 § 6 Rn 50 § 6 Rn 55 § 3 Rn 51 § 5 Rn 10, 32, 38, 47 § 3 Rn 3, 6 § 4 Rn 32 § 6 Rn 5 f, 21; § 16 Rn 10 § 3 Rn 9 § 6 Rn 58 § 2 Rn 104 § 6 Rn 43 § 5 Rn 18 § 6 Rn 46 § 10 Rn 24 § 3 Rn 31; § 18 Rn 26, 29

877

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Appleby Arcelor Aristimuno Mendizabal Arslan

RJD 2003-VI, 185 Slg 2008, I-9895

44306/98 C-127/07 51431/99 23462/94

§ 4 Rn 70 § 21 Rn 14 § 2 Rn 76 § 4 Rn 36

EuGRZ 1986, 8

15569/06 28389/95 8225/78

NJW 2009, 492 NJW 2005, 2207

60669/00 45563/04 71503/01

NVwZ-RR 2013, 785 EuGRZ 1990, 261

36815/03 36533/97 39692/09 12726/87

Axel Springer

EuGRZ 2012, 294

39954/08

B/Frankreich B/Österreich

HRLJ 13 (1992), 358 RUDH 1990, 158

13343/87 11968/86

Ba˛czkowski Baghli Baischer Bankovic´ Barberà

NVwZ 2000, 1401 ÖJZ 2002, 394 NJW 2003, 413 Series A, Vol 285-C

§ 6 Rn 9 § 6 Rn 51 § 2 Rn 80; § 6 Rn 18, 41 ff § 5 Rn 16 § 2 Rn 66 § 2 Rn 18, 121 f; § 16 Rn 5 § 6 Rn 47 § 6 Rn 47 § 6 Rn 5 § 2 Rn 26; § 4 Rn 18, 20 f, 56; § 17 Rn 11 § 4 Rn 50; § 17 Rn 15 § 3 Rn 8 § 4 Rn 20; § 6 Rn 10, 29 § 4 Rn 59 § 3 Rn 7, 12, 25, 30 § 6 Rn 53 § 2 Rn 62; § 3 Rn 51 § 2 Rn 128

Barfod Barthold

Series A, Vol 149 EuGRZ 1985, 150

Asadulayeva Asan Rushiti Ashingdane Asmundsson Associazione Nazionale ua Assanidze Atanasovski Atlan Austin Autronic

Bayar Beckles Behrami und Saramati Belchev Belgischer Sprachenfall

Belilos Beyeler

NJW 2001, 1995 = RJD 2002-X

EuGRZ 2007, 522 EuGRZ 1975, 298

Bizzotto Bladet Tromsø

EuGRZ 1989, 21 NJW 2003, 654 = RJD 2000-I RJD 1996-V EuGRZ 1999, 453

Blecic

NJW 2007, 347

878

1543/06 34374/97 32381/96 52207/99 10588/83; 10589/83; 10590/83 11508/85 8734/79 37569/06 44652/98 71412/01; 78166/01 39270/98 1474/62; 1677/62; 1691/62; 1769/63; 1994/63; 2126/64 10328/83 33202/96 22126/93 21980/93 59532/00

§ 4 Rn 28, 51 § 2 Rn 80; § 4 Rn 3, 8, 35, 47 § 6 Rn 43 § 6 Rn 50 § 1 Rn 19 § 6 Rn 26 § 2 Rn 27; § 18 Rn 25, 27 § 2 Rn 68 § 5 Rn 32, 37 f, 42 § 6 Rn 20 § 2 Rn 120; § 4 Rn 7, 52 § 2 Rn 116; § 5 Rn 9a

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Bodén Boivin Bolat Borgers

EGRZ 1988, 452

EuGRZ 1991, 519

10930/84 73250/01 14139/03 12005/86

Bosphorus

NJW 2006, 197

45036/98

Bouamar Bowman Boyle und Rice Bozano Brand Brandstetter

Series A, Vol 129 RJD 1998-I Series A, Vol 131 EuGRZ 1987, 101

9106/80 24839/94 9659/82; 9658/82 9990/82 49902/99 11170/84; 12876/87; 13468/87 14553/89; 14554/89

§ 6 Rn 38 § 2 Rn 52 § 6 Rn 70 § 3 Rn 75; § 6 Rn 46 § 2 Rn 109; § 5 Rn 38 § 6 Rn 8, 17, 31 § 4 Rn 35 § 6 Rn 71, 73 § 6 Rn 6, 10 § 6 Rn 19 § 6 Rn 47

EuGRZ 1992, 190

Brannigan u McBride Breiler Brogan

HRLJ 14 (1993), 184

Broniowski

EuGRZ 2004, 472

Buck Buckley Buijen Buldan Burden Burdov Burghartz Bykov Campbell Campbell u Cosans Canela Santiago Cantoni

NJW 2006, 1495 RJD 1996-IV, 1271 NStZ-RR 2011, 113

RUDH 1994, 27 NJW 2010, 213 NJOZ 2012, 335 Series A, Vol 48 RUDH 2001, 420 RJD 1996-V

41604/98 20348/92 27804/05 28298/95 55707/00 33509/04 16213/90 4378/02 39401/04 7511/76 60350/00 17862/91

Carabulea Casado Coca

HRLJ 15 (1994), 184

45661/99 15450/89

Castells

Series A, Vol 236

11798/85

ÖJZ 2001, 774

21207/03 27417/95

RUDH 1997, 365

22414/93

ECHR 2001-I, 41

27238/95

C.B./Rumänien Cha’are Shalom Ve Tsedek Chahal Chapman

HRLJ 9 (1988), 293

NJW-RR 2009, 1606

13471/06 11209/84; 11234/84; 11266/84; 11386/85 31443/96

§ 2 Rn 73; § 6 Rn 32 § 6 Rn 55 § 6 Rn 27 f, 33 § 2 Rn 121 § 5 Rn 32, 50, 54 § 2 Rn 44 § 2 Rn 37 § 6 Rn 40 § 6 Rn 74 § 5 Rn 29 § 6 Rn 74 § 3 Rn 73 § 6 Rn 29, 50 § 17 Rn 15, 29 § 18 Rn 24 f, 26 § 27 Rn 22 § 2 Rn 53, 76; § 6 Rn 63 § 6 Rn 74 § 2 Rn 76; § 4 Rn 8, 35, 37, 47, 98; § 17 Rn 10 § 4 Rn 34, 41, 46; § 17 Rn 23 § 6 Rn 20 § 2 Rn 17; § 3 Rn 31, 32, 67 § 6 Rn 21, 30; § 27 Rn 39 § 2 Rn 28

879

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Chassagnou

RUDH 1999, 17

25088/94; 28331/95; 28443/95

§ 2 Rn 134; § 4 Rn 78, 87; § 5 Rn 48, 57; § 17 Rn 39 § 18 Rn 1 § 4 Rn 37 § 4 Rn 63, 70; § 17 Rn 37 § 3 Rn 9, 18, 24, 28 § 4 Rn 62, 65 § 6 Rn 8, 11 § 2 Rn 102 § 6 Rn 20 § 2 Rn 31; § 15 Rn 18 § 2 Rn 128; § 27 Rn 40 § 6 Rn 74

Chauvy Chorherr Christians against Racism and Facism Ciliz Cisse Ciulla Civet Claes Colak u Tsakiridis

NJW 2010, 1865

29192/95 51346/99 11152/84 29340/95 43418/09 77144/01; 35493/05

Comingersoll

RJD 2000-IV

35382/97

ÖJZ 1994, 173 EuGRZ 1981, 216 NVwZ 2001, 547 RJD 2002-III Series A, Vol 148 NJW 2001, 54

64915/01 13308/87 8440/78

Communist Party Of Russia Condron RJD 2000-V Connolly Copland EuGRZ 2007, 415 Corcuff Corigliano Series A, Vol 57 Costello-Roberts Series A, Vol 247-C Cossey Series A, Vol 184 Cruz Varas EuGRZ 1991, 203 Cumpa˘na˘ und Masa˘re RJD 2004-XI D/Vereinigtes Königreich NVwZ 1998, 161 Dahlab NJW 2001, 2871

29400/05

Dammann Daydov De Cubber De Haes und Gijsels De Jong

77551/01 17674/02 9186/80 19983/92 8805/79; 8806/79; 9242/81 43870/04 16997/90 22689/07 2832/66; 2835/66; 2899/66 2689/65 64569/09 42750/09

De Luca De Moor De Souza De Wilde Delcourt Delfi AS Del Rio Prada

880

EuGRZ 1985, 407 ÖJZ 1997, 912 EuGRZ 1985, 700 EuZW 2014, 319 RUDH 1994, 401 Series A, Vol 12 Series A, Vol 11 MMR 2014, 35

35718/97 73274/01 62617/00 16290/04 8304/78 13134/87 10843/84 15576/89 33348/96 146/1996/767/964 42393/98

§ 6 Rn 50 § 2 Rn 52 § 3 Rn 3, 6 § 6 Rn 46 § 6 Rn 55 § 2 Rn 58; § 6 Rn 73 § 16 Rn 54 § 2 Rn 87 § 4 Rn 44 § 3 Rn 38 § 2 Rn 17, 26; § 3 Rn 31, 36, 70; § 16 Rn 66 § 4 Rn 11 § 6 Rn 74 § 6 Rn 41 § 4 Rn 51 § 6 Rn 14 § 6 Rn 43 § 6 Rn 47 § 6 Rn 72 § 6 Rn 31 § 6 Rn 43 § 4 Rn 17 § 6 Rn 9, 63 f

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Demir

RJD 1998-VI

§ 6 Rn 28

Demir u Baykara

NZA 2010, 1425

21380/93; 21381/93; 21383/93 34503/97

Demuth De Schepper Desmots Deumeland Deweer Dhahbi Diallo Dichand Dickson Diennet Dimitras ua

EuGRZ 2003, 488

Di Sarno Distomo DMD Groups Dogru

NVwZ 2013, 415 EuGRZ 2011, 477

Dojan Dombo Beheer Döring Dörr Dotta Drozd Dudgeon Dzelili Dzyruk E. B. Eckle Editions Périscope Ehemaliger König Eisenstecken Ekinci El Haski Elsholz Emesa Sugar Emine Arac Enea Enerji Yapi-Yol Sen

NJW 1989, 652 EuGRZ 1980, 667

NJW 2009, 971 Series A, Vol 325-A NVwZ 2011, 863

NJOZ 2010, 1193

38743/97 27428/07 41358/98 9384/81 6903/75 17120/09 20493/07 29271/95 44362/04 18160/91 42837/06, 3237/07, 3269/07, 35793/07, 6099/08 30765/08 24120/06 19334/03 27058/05

NJW 2009, 3637 EuGRZ 1983, 371 HRLJ 13 (1992), 419 EuGRZ 2001, 397

319/08 14448/88 37595/97 2894/08 38399/97 12747/87 7525/76 65745/01 77832/01 43546/02 8130/78 11760/85 25701/94

NJW 2001, 2315 EuGRZ 2005, 234

29477/95 25625/94 649/08 25735/94 62023/00

RUDH 1993, 426 NJW 2001, 1556

Series A, Vol 240 EuGRZ 1983, 488 NVWZ-RR 2006 513

ÖJZ 2009, 93 NZA 2010, 1423

9907/02 74912/01 68959/01

§ 17 Rn 42; § 22 Rn 28 § 4 Rn 20, 47, 57; 88 § 6 Rn 10 § 2 Rn 46 § 6 Rn 38, 56 § 6 Rn 40 § 27 Rn 22 § 6 Rn 72 § 2 Rn 120 § 2 Rn 80, 120 § 6 Rn 40, 53 § 3 Rn 31

§ 2 Rn 78; § 3 Rn 7 § 2 Rn 66 § 6 Rn 41 § 3 Rn 37; § 16 Rn 71 § 18 Rn 29 § 6 Rn 46 § 5 Rn 11 § 6 Rn 10 § 2 Rn 46 § 3 Rn 51 § 2 Rn 80; § 3 Rn 8 § 2 Rn 128 § 6 Rn 28 § 3 Rn 70, 71 § 6 Rn 55, 58 § 6 Rn 38, 55 § 5 Rn 8, 32, 37, 43, 47 f § 2 Rn 68 § 2 Rn 31 § 6 Rn 45 § 3 Rn 9, 24, 28, 29 § 1 Rn 31; § 27 Rn 38 § 6 Rn 38 § 6 Rn 39 § 4 Rn 92; § 17 Rn 42

881

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Engel

EuGRZ 1976, 221

§ 4 Rn 37, 72; § 6 Rn 5 f, 10 f, 31, 40

Erdagöz Ergi Eskelinen Evans (Große Kammer) Evans (Kammer) Ezeh und Connors Ezelin

RJD 1997-VI

5100/71; 5101/71; 5102/71; 5354/72; 5370/72 21890/93 23818/94 63235/00 6339/05 6339/05 39665/98; 40086/98 11800/85

NJOZ 2008, 1188 NJW 2008, 2013 EuGRZ 2006, 389 HRLJ 12 (1991), 185

Falk Fayed Feldek Fischer Foca Folgerø u a Fogarty Fox

NVwZ 2008, 1217 RJD 2001-XI RUDH 1990, 418

Fredin (Nr 1) Fredin (Nr 2) Fressoz und Roire Funke

HRLJ 12 (1991), 93 RUDH 1994, 25 EuGRZ 1999, 5 RUDH 1993, 232

HRLJ 15 (1994), 344 ÖJZ 2002, 814 Rn 83 Series A, Vol 312-A

41077/04 17101/90 29032/95 16922/90 28940/95 15472/02 37112/97 12244/86; 12245/86; 12383/86 12033/86 18928/91 29183/95 10828/84

Fürst Hans-Adam II. EuGRZ 2001, 466 von und zu Liechtenstein Gabriel Gäfgen (Große Kammer) NJW 2010, 3145

34821/06 22978/05

Gaglione Gaida Garagin G K/Polen Garaudy Garcia Alva Gaskin Gaygusuz

Series A, Vol 160 JZ 1997, 405

45867/07 32015/02 33290/07 38816/97 65831/01 23541/94 10454/83 17371/90

EuGRZ 1986, 497 NJOZ 2012, 2235 EuGRZ 1975, 91

4158/05 64016/00 37048/04 50064/99 9228/80 35023/04 4451/70

Gillan Giniewski Giorgi Nikolaishvili Girardi Glasenapp Göbel Golder

882

NVwZ 2008, 1215 Series A, Vol 9, Rn 5 NJW 2004, 3691

42527/98

§ 6 Rn 14 § 3 Rn 52 § 6 Rn 38 § 2 Rn 120; § 3 Rn 9 § 2 Rn 120; § 3 Rn 49 § 6 Rn 40 § 4 Rn 2, 59, 63, 65, 69, 96; § 17 Rn 37 § 6 Rn 32 § 6 Rn 43 § 4 Rn 1 § 6 Rn 53, 66 § 6 Rn 5 § 18 Rn 24, 26 § 2 Rn 72 § 6 Rn 14 ff, 24, 33 § 5 Rn 11, 38 § 6 Rn 53 § 4 Rn 6, 39, 52 § 2 Rn 80; § 6 Rn 50; § 15 Rn 2; § 27 Rn 20 § 5 Rn 10 § 6 Rn 38 § 2 Rn 70, 72; § 3 Rn 40, 41, 45 § 6 Rn 60 § 2 Rn 70 § 6 Rn 64 § 6 Rn 28 f, 32 § 2 Rn 69 § 6 Rn 32 § 4 Rn 11, 27 § 5 Rn 7, 16 f; § 9 Rn 25 § 6 Rn 5 § 4 Rn 30 § 6 Rn 6 § 6 Rn 59 § 4 Rn 44 § 5 Rn 8, 19, 44, 47 § 4 Rn 37; § 6 Rn 41

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Goodwin

RJD 1996-II

17488/90

Goodwin Goussev u Marenk Görgülü

NJW 2004, 289

28957/95 35083/97 74969/01

§ 2 Rn 120; § 4 Rn 52; § 17 Rn 15 § 2 Rn 42; § 3 Rn 8, 11 § 4 Rn 32 § 1 Rn 15; § 2 Rn 121; § 3 Rn 28 § 6 Rn 38 § 2 Rn 68; § 6 Rn 66 § 3 Rn 64 § 6 Rn 68 § 4 Rn 34 § 2 Rn 80, 98; § 4 Rn 7, 32, 56 ff; § 17 Rn 10 § 6 Rn 9 § 6 Rn 10 § 6 Rn 45 § 6 Rn 60 § 27 Rn 24 § 2 Rn 28; § 3 Rn 7; § 4 Rn 11; § 17 Rn 11; § 24 Rn 20, 22; § 27 Rn 24 § 4 Rn 87, 90; 95 § 6 Rn 5 f, 15, 19, 18 § 6 Rn 33 § 3 Rn 41 § 6 Rn 47, 53 § 2 Rn 102; § 3 Rn 29 § 4 Rn 36 § 6 Rn 10 § 6 Rn 6 § 5 Rn 37; § 6 Rn 53 § 4 Rn 18 § 2 Rn 80, 120; § 4 Rn 1, 7, 30, 38, 54; § 5 Rn 4, 36, 40, 43; § 17 Rn 10, 13 § 6 Rn 38 § 4 Rn 9 § 2 Rn 31, 70; § 3 Rn 19, 28 § 6 Rn 50 § 4 Rn 26; § 17 Rn 12, 22 § 6 Rn 55

Gorou Gradinger Grams Grecu Grigoriades Groppera Radio AG

Grori Grosskopf Groshev Grumann Guérin Guerra ua

Gustafsson Guzzardi Hadzic H.L.R. H/Belgien Haase Hadjianastassiou Haidn Hajduová Håkansson u Sturesson Halis Dog˘an Handyside

NJW 2004, 3397

JBl 1995, 577 NJW 2001, 1989 RJD 1997-VII EuGRZ 1990, 255

EuGRZ 2011, 20 NJW 2011, 1055 RUDH 2000, 119 NVwZ 1999, 57

25336/04 24478/03 69889/01 43155/08 25201/94 14967/89

EuGRZ 1977, 38

15573/89 7367/76 39446/06 24573/94 8950/80 11057/02 12945/87 6587/04 2660/03 11855/85 50693/99 5493/72

Harabin Hashman und Harrup Hatton

RUDH 1999, 331 ÖJZ 2003, 72

58688/11 25594/94 36022/97

Heaney Heinisch

RJD 2000-XII EuGRZ 2011, 555

34720/97 28274/08

Hennig

HRLJ 17 (1996), 118 EuGRZ 1983, 633

12686/03 15963/90 33677/96 75101/01 24348/94 10890/84

NVwZ 1998, 163 Series A, Vol 127-B NJW 2004, 3401 NJW 1993, 1697 NJW 2011, 3423 EuGRZ 1992, 5

41444/98

883

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Henryk Urban Hentrich Herczegfalvy Herrmann

EuGRZ 1988, 350 EuGRZ 1992, 535 NJW 2012, 3629

23614/08 13616/88 10533/83 9300/07

Hertel

RJD 1998-VI

24699/94

Herz Hiro Balani Hirst Hirsi Jamaa ua 92.9 Hit FM Radio Hornsby Hristov Hubner Hutchison Reid Hüttner H.W. I. A. Iatridis Idalov Ignaccolo-Zenide Ilascu Ilowiecki Immobiliare Saffi Informationsverein Lentia

NJW 2004, 2209 Series A, Vol 303-B

44672/98 18064/91 40787/98 27765/09 6754/05 18357/91 35436/97 34311/96 50272/99 23130/04 17167/11 42571/98 31107/96 5826/03 31679/96 48787/99 27504/95 22774/93 13914/88; 15041/89; 15717/89; 17207/90 5310/71

§ 6 Rn 41 § 5 Rn 37, 44 § 2 Rn 76; § 6 Rn 18 § 2 Rn 132, § 5 Rn 32, 41, 44, 48 § 4 Rn 17, 23, 47; § 18 Rn 1 § 2 Rn 101; § 16 Rn 5 § 6 Rn 47 § 6 Rn 32 § 15 Rn 49 § 5 Rn 10 § 2 Rn 101, 128 § 6 Rn 32 § 6 Rn 68 § 6 Rn 20 § 2 Rn 109 § 6 Rn 9 f § 2 Rn 120 § 2 Rn 101; § 5 Rn 37 § 6 Rn 28 ff § 3 Rn 18 § 2 Rn 62 § 6 Rn 28 f § 5 Rn 27 § 4 Rn 4, 20, 27, 57; § 17 Rn 10 § 2 Rn 46, 70, 73; § 6 Rn 11 § 2 Rn 62 § 6 Rn 74 § 15 Rn 2 § 6 Rn 26 § 4 Rn 47 § 3 Rn 8 § 2 Rn 17; § 5 Rn 23 ff, 53 f. § 2 Rn 17; § 5 Rn 26, 37, 47, 53 f § 3 Rn 41; § 6 Rn 45, 50 § 2 Rn 11; § 5 Rn 32, 37 ff, 43, 45, 47, 49 ff; § 6 Rn 72; § 20 Rn 12, 42, 44 § 6 Rn 47

Irland Issa ua Ivanov J. B. J G/Polen Jacubowski Jäggi Jahn ua

NVwZ 2012, 809 ÖJZ 2011, 188 RJD 1997-II

RJD 2003-IV NJW 2007, 2097 NJW 2006, 3263 EuGRZ 1999, 317 RUDH 2000, 93 NJW 2005, 1849 RJD 1999-V EuGRZ 1994, 549 EuGRZ 1979, 149

NJW 2002, 499 EuGRZ 1996, 306 FamRZ 2006, 1354 EuGRZ 2004, 57 ff

Jahn ua (Große Kammer) NJW 2005, 2907 Jalloh

NJW 2006, 3117

James

Series A, Vol 98 = EuGRZ 1988, 341

Jasper

884

46336/99 31827/96 36258/97 15088/89 58757/00 46720/99; 72203/01; 72552/01 46720/99; 72203/01; 72552/01 54810/00 8793/79

27052/95

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Janowski Jecius Jendrowiak Jersild

NJW 1999, 1318 ECHR 2000–IX, 237 DÖV 2011, 570 NStZ 1995, 237

25716/94 34578/97 30060/04 15890/89

Jerusalem Jia Jiga John Jussila K/Deutschland K. A. Kaemena Kakamoukas ua Kakavetsos-Fragkopoulos Kallweit Kanagaratnam Karaduman Karanovic Karlheinz Schmidt

ÖJZ 2001, 693 Slg 2007, I-1

26958/95 C-1/05 14352/04 15073/03 73053/01 43212/05 42758/9; 45558/99 51115/06 38311/02 C-161/09 17792/07 15297/09 8810/03 39462/03 13580/88

§ 4 Rn 50 § 2 Rn 91 § 6 Rn 10, 62 § 2 Rn 120; § 4 Rn 9, 30, 37, 46; § 17 Rn 10 § 4 Rn 41 § 9 Rn 29 § 6 Rn 51 § 27 Rn 22 § 6 Rn 53 § 2 Rn 17 § 6 Rn 63 § 6 Rn 74 § 2 Rn 128 § 8 Rn 57 § 6 Rn 10 § 6 Rn 21 § 6 Rn 28 § 2 Rn 121 § 2 Rn 15, 27; § 15 Rn 35 § 17 Rn 10, 29 § 4 Rn 5, 17, 34 § 6 Rn 70, 73 § 3 Rn 62 § 6 Rn 28 f § 6 Rn 9, 13

Karttunen Katrami Kaya Kemalog˘u Kemmache (Nr 1 & 2) Kemmache (Nr 3) Kenedi Kenny ua Keus K-F Khadisov Khan

EuGRZ 2008, 274 EuGRZ 2010, 285 StV 2009, 561 NJW 2009, 655 Slg 2011, I-915 NJW 2011, 3427

NVwZ 1995, 365 NJW 2012, 746 RJD 1998-I HRLJ 32 (2012), 122 HRLJ 13 (1992), 42 Series A, Vol 296-C EuZW 2013, 381 RUDH 1990, 466 NJW 1999, 775 JZ 2000, 993

1685/10 19331/05 22729/93 19986/06 12325/86; 14992/89 17621/91 C-427/11 12228/86 25629/94 21519/02 35394/97

Kharchenko Khodorkovskiy Khudyakova Khurshid Mustafa u Tarzibachi Kjeldsen

EuGRZ 1976, 478

5095/71; 5920/72; 5926/72

Klaas

NJW 1979, 1755

5029/71

NJOZ 2012, 1902

40107/02 5829/04 13476/04 23883/06

§ 21 Rn 40 § 6 Rn 23, 33 § 2 Rn 37 § 6 Rn 9; 74 § 3 Rn 13, 22; § 6 Rn 47 § 6 Rn 9 § 6 Rn 29, 32 § 6 Rn 21 § 4 Rn 11 § 2 Rn 26; § 4 Rn 4; § 17 Rn 10; § 18 Rn 24, 26 § 2 Rn 76; § 3 Rn 6, 28; § 6 Rn 71 ff

885

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Klein Knauth Kobtsev Koch Kohlhofer Kolesnichenko Kolevi Kolk König König Kokkinakis

NJW 2001, 213 NJW 2003, 3041

33379/96 41111/98 7324/02 497/09 32921/03 19856/04 1108/02 23052/04; 24018/04 6232/73 39753/98 14307/88

§ 6 Rn 55 § 3 Rn 3 § 6 Rn 55 § 3 Rn 29 § 6 Rn 43 § 2 Rn 44 § 6 Rn 9 § 6 Rn 63 § 6 38, 55 § 6 Rn 31 § 2 Rn 76 § 16 Rn 71 § 6 Rn 63 § 18 Rn 26, 29 § 5 Rn 10 § 6 Rn 57 § 2 Rn 110 § 4 Rn 44 § 3 Rn 70 § 27 Rn 41 § 6 Rn 57 § 6 Rn 29 § 27 Rn 37 § 6 Rn 43 § 2 Rn 76 § 2 Rn 37, 121; § 6 Rn 72 § 16 Rn 18 § 6 Rn 60 § 3 Rn 25 § 6 Rn 26, 29 § 6 Rn 26 § 6 Rn 9 § 2 Rn 17; § 3 Rn 31, 37; § 16 Rn 66; § 18 Rn 26 § 6 Rn 11 § 4 Rn 11, § 15 Rn 18 § 4 Rn 75, 86; § 6 Rn 40, 53; § 17 Rn 39 § 17 Rn 10, 23 § 4 Rn 11; § 6 Rn 73 § 6 Rn 32 § 2 Rn 17, 70, 76 f § 4 Rn 37; § 17 Rn 10

Kononov Konrad Kopecky Kormacheva Korolev Kosiek Kosteski Koua Poirrez Krastanov Kreps Kress Kreuz Kruslin Kudla KuT Kus´ mierek Kutzner Labita Ladent Laumont Lautsi (Große Kammer)

EuGRZ 2012, 616 NJW 2010, 2109

EuGRZ 1978, 406 Series A Vol 260 NJOZ 2011, 226 BeckRS 2008, 06621 NJOZ 2005, 2912 NJW 2010, 3081 EuGRZ 1986, 509 NZA 2006, 1401 RUDH 2003, 440

RTDE 2001, 809 RJD 2001-VI ÖJZ 1990, 564 NJW 2001, 2694

RJD 2001-XI NVwZ 2011, 737

25702/94 10675/02 46544/99 26772/95 11036/03 43626/98 30814/06

Lawless (Nr 3) L.C.B. Le Compte, Van Leuven und De Meyere

Series A, Vol 3 RJD 1998-III EuGRZ 1981, 551

332/57 23413/94 6878/75; 7238/75

Le Pen Leander Lebedev Leela Förderkreis eV ua Lehideux und Isorni

NJW-RR 2011, 984 Series A, Vol 116

18788/09 9248/81 4493/04 58911/00 24662/94

886

NJW 2003, 809

36376/04 35504/03 44912/98 53084/99 25551/05 9704/82 55170/00 40892/98 50222/99 34097/96 39594/98 28249/95 11801/85 30210/96

NJW 2002, 244 RJD 2000-IV

NVwZ 2010, 177 RJD 1998-VII

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name Lelièvre Lenz Les laints nonastéres Letellier Lietzow Liivik Lingens Lislawska Lithgow

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

NJW 2003, 2441

11287/03 40862/98

§ 6 Rn 29 § 5 Rn 16 § 2 Rn 45 § 6 Rn 29 f § 6 Rn 32 § 6 Rn 64 § 4 Rn 1, 11, 28, 34, 46, 49; § 17 Rn 11, 23 § 6 Rn 58 § 5 Rn 8, 37, 49 ff; § 6 Rn 41 ff, 71

HRLJ 12 (1991), 302 NJW 2002, 2013 EuGRZ 1986, 424

12369/86 24479/94 12157/05 9815/82

Litwin Lobo Machado Loizidou

NJW 2012, 3419 RJD 1996-I EuGRZ 1997, 555

37761/97 9006/80; 9262/81; 9263/81; 9265/81; 9266/81; 9313/81; 9405/81 29090/06 15764/89 15318/89

Loukanov López Ostra

RJD 1997-II EuGRZ 1995, 530

21915/93 16798/90

Lolova-Karadzhova Luberti Lüdi Luedicke

EuGRZ 1985, 642 EuGRZ 1992, 300 EuGRZ 1979, 34

Luka Lutsenko Lyons ua M/Deutschland

NJW 2013, 2409 EuGRZ 2004, 777 NJW 2010, 2495

M.S. S. Maaouia Maestri Magee Makaratzis Maktouf Malone Mamatkulov u Askarov Mamikonyan Manzoni Marckx markt intern Verlag GmbH und Klaus Beermann

Series A, Vol 102 = EuGRZ 1988, 350

NVwZ 2011, 413 RTDH 2002, 433 RJD 2000-VI NJW 2005, 3405 EuGRZ 1985, 17 EuGRZ 2003, 704 EuGRZ 2005, 357 Series A, Vol 195-B EuGRZ 1979, 454 EuGRZ 1996, 302

17835/07 9019/80 12433/86 6210/73; 6877/75; 7132/75 34197/02 37645/10 15227/03 19359/04 30696/09 39652/98 39748/98 28135/95 50385/99 2312/08 8691/79 46827/99, 46951/99 25083/05 11804/85 6833/74 10572/83

§ 6 Rn 43 § 27 Rn 37 § 1 Rn 6; § 2 Rn 62; § 3 Rn 51 § 6 Rn 8 § 2 Rn 70; § 3 Rn 7, 19, 27; § 4 Rn 11; § 24 Rn 22; § 27 Rn 24 § 6 Rn 11 § 6 Rn 31 § 3 Rn 6 § 3 Rn 74 § 6 Rn 41 § 6 Rn 24, 32 § 2 Rn 125 § 2 Rn 19; § 6 Rn 10, 63 § 3 Rn 41; § 15 Rn 50 § 27 Rn 45 § 4 Rn 80 § 6 Rn 50 § 3 Rn 58 § 6 Rn 63 § 2 Rn 76; § 3 Rn 6 § 2 Rn 87 § 6 Rn 43 § 6 Rn 55 § 2 Rn 26; § 5 Rn 4, 19 § 4 Rn 8, 17, 35, 47, 98; § 17 Rn 10

887

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name Maresti Margus Massmann Mathieu-Mohin Matterne Matthews

Fundstelle

Series A, Vol 113 NJW 1999, 3107

Beschwerdenummer

Zitiert in

55759/07 4455/10 11603/06 9267/81 4041/06 24833/94

§ 6 Rn 66 § 6 Rn 66 § 6 Rn 46 § 2 Rn 34, 72 § 6 Rn 43 § 1 Rn 17; § 2 Rn 53, 101; § 26 Rn 63 § 6 Rn 29 § 5 Rn 57 § 3 Rn 58 § 4 Rn 11 § 6 Rn 10, 19 § 6 Rn 9 § 3 Rn 7, 12, 30 § 6 Rn 38 § 6 Rn 41; § 27 Rn 18 § 6 Rn 43 § 16 Rn 65, 7

Matwiejczuk Mazurek NJOZ 2005, 1048 McCann HRLJ 16 (1995), 260 McGinley u Egan RJD 1998-III M/Deutschland EuGRZ 2010, 25 Medvedyev Mehemi NVwZ 1998, 164 Melek Menarini Diagnostics SRL Mendel Metropolitanische Kirche RJD 2001-XII von Bessarabien Metzger EuGRZ 2001, 299 Micallef Michaud HRLJ 32 (2012), 403 Mirolubovs ua NVwZ 2010, 1541

37641/97 34406/97 18984/91 21825/93; 23414/94 19359/04 3394/03 25017/94 37829/05 43509/08 28426/06 45701/99

Mitterbauer Mizzi Mioseyev Monnell Mooren Moosbrugger Morel Moreno Gómez

2027/06 26111/02 62936/00 9562/81; 9818/82 11364/03 44861/98 34130/96 4143/02

Morsink Mork Moser Moskauer Untergrundorganisation der Heilsarmee Moskauer Zweig der Heilsarmee Moustaquim Mubilanzila Mayeka M/Ukraine

888

EuGRZ 2006, 129 Series A, Vol 115 EuGRZ 2009, 566 RJD 2000-VI NJW 2005, 3767

37591/97 17056/06 12323/11 798/05

§ 6 Rn 58 § 6 Rn 41 § 27 Rn 44 § 2 Rn 109; § 3 Rn 31 § 6 Rn 60 § 3 Rn 8 § 6 Rn 41 § 6 Rn 10 § 6 Rn 9, 32 § 2 Rn 46 § 6 Rn 41 § 2 Rn 70; § 3 Rn 19 § 6 Rn 20 § 2 Rn 102

EuGRZ 2007, 24

48865/99 31047/04 43386/08 12643/02 72881/01

EuGRZ 2007, 24

72881/01

§ 4 Rn 66, 75

EuGRZ 1993, 552 NVwZ-RR 2008, 573

12313/86 13178/03 2452/04

§ 2 Rn 80 § 6 Rn 21 § 6 Rn 7

NJW 2012, 2093

§ 6 Rn 53 § 3 Rn 31

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Müller

EuGRZ 1988, 543

10737/84

§ 4 Rn 15, 38, 55; § 18 Rn 1, 13 § 6 Rn 11 ff, 24 § 6 Rn 50 § 6 Rn 21 § 3 Rn 47 § 6 Rn 5 N.F. § 4 Rn 80 § 2 Rn 120 § 6 Rn 21 § 4 Rn 77, 88; § 17 Rn 39 § 2 Rn 52 f; § 27 Rn 38

Murray HRLJ 15 (1994), 331 Murray EuGRZ 1996, 587 Muskhadzhiyeva N/Vereinigtes Königreich NVwZ 2008, 1334 Nada NJOZ 2013, 1183, 225 RJD 2001-IX Nagla Nasrulloyev Nationale Belgische EuGRZ 1975, 562 Polizeigewerkschaft Nederlandse KokkelEuGRZ 2011, 11 visserij Nejdet Sahin Nelissen Neumeister Series A, Vol 8

18731/91 14310/88 41442/07 26565/05 10593/08 37119/97 73469/10 656/06 4464/70

NEWS Verlags GmbH & Co. KG. Niedermeier Niedzwiecki Nielsen Niemietz

ÖJZ 2000, 394

31457/96

Series A, Vol 144 NJW 1993, 718

37972/05 12852/08 10929/84 13710/88

13645/05 13279/05 6051/07 1936/63

Nikitin Nikolova Nikowitz Norbert Kind Norris Nowicka O.H. O’Hara OAO Neftyanaya Kompaniya Yukos Oberschlick

RJD 2001-X NJW 2012, 743

50178/99 31195/96 5266/03 44324/98 10581/83 30218/96 4646/08 37555/97 14902/04

EuGRZ 1991, 216

11662/85

Observer

EuGRZ 1995, 16

13585/88

Obst Öcalan Öcalan (Große Kammer)

NZA 2011, 277 EuGRZ 2003, 472 NVwZ 2006, 1267

425/03 46221/99 46221/99

RJF 1999-II Medien&Recht 2007, 71 EuGRZ 2003, 228 EuGRZ 1992, 477

§ 6 Rn 48 § 6 Rn 20 § 2 Rn 128; § 6 Rn 28 § 4 Rn 18 § 6 Rn 55 § 6 Rn 55 § 6 Rn 17 § 1 Rn 31; § 2 Rn 44; § 3 Rn 4, 5, 13, 24, 25; § 16 Rn 23 § 6 Rn 66 f § 6 Rn 26, 32 § 4 Rn 6, 17 § 2 Rn 37 § 3 Rn 8 § 3 Rn 24 § 6 Rn 62 § 6 Rn 14, 28 § 5 Rn 32, 38 § 4 Rn 1, 34, 46; § 17 Rn 10 § 2 Rn 32; § 4 Rn 1, 17, 25, 36, 43; § 17 Rn 15 § 3 Rn 4, 8, 31 § 2 Rn 62; § 6 Rn 6 § 2 Rn 41, 62, 87, 121, 125; § 3 Rn 57; § 6 Rn 6

889

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Odièvre

NJW 2003, 2145

42326/98

Og˘ur Okpisz Olbertz Olujic Öneryildiz Open Door

NJW 2001, 1991 NVwZ 2006, 917 NJW 2001, 1558

21594/93 59140/00 37592/97 22330/05 48939/99 14234/88; 14235/88

Orsˇusˇ Osman Österreichische Vereinigung Österreichischer Rundfunk Otto-Preminger-Institut Ould Dah Ouranio Toxo ÖZDEP Ozerov Özgür Gündem Öztürk Padalevicius Paeffgen GmbH Pafitis Pammel Panou Pantea Papachelas Papamichalopoulos ÖZDEP Partidul Comunistilor Paskhalidis Patsouris Pauger Paul und Audrey Edwards Pellegrin Pérez Perez Petra Petrov Pfeifer Philis

890

RJD 1998-VIII, 3159

15766/03 23452/94 39534/07

§ 3 Rn 8, 27, 67; § 16 Rn 17 § 3 Rn 52, 59, 64 § 3 Rn 67, 70 § 5 Rn 11 § 6 Rn 38 § 3 Rn 62 § 2 Rn 10; § 4 Rn 43; § 17 Rn 11, 14 § 6 Rn 57 § 2 Rn 31 § 2 Rn 28, 120

ÖJZ 2007, 472

35841/02

§ 2 Rn 45; § 4 Rn 50

HRLJ 15 (1994), 371

13470/87

§ 2 Rn 120; § 4 Rn 15, 35, 54; § 18 Rn 1, 6, 13 § 6 Rn 63 § 4 Rn 79 § 1 Rn 12 § 6 Rn 41 § 4 Rn 17, 26 § 6 Rn 40 § 6 Rn 39 § 5 Rn 18

RJD 2004-XII Series A, Vol 246-A = EuGRZ 1992, 484

RJD 1999-VIII RJD 2000-III EuGRZ 1985, 62 MMR 2008, 29 RJD 1998-I EuGRZ 1997, 310 ECHR 2003-VI, Rn 253 EuGRZ 1999, 319 Series A, Vol 330-B RJD 1999-VIII RJD 2005-I, 209 RJD 1997-II RJD 1997-III RJD 2002-II NVwZ 2000, 661 Series A, Vol 325-C RJD 1998-VII ÖJZ 2008, 161 EuGRZ 1991, 355

13113/03 74989/01 23885/94 64962/01 23144/93 8544/79 12278/03 25379/04; 21688/05; 21722/05; 21770/05 20323/92 17820/91 44058/05 33343/96 31423/96 14556/89 23885/94 46626/99 20416/92 44062/05 16717/90 46477/99 28541/95 16462/90 47287/99 27273/95 15197/02 12556/03 12750/87; 13780/88; 14003/88

§ 27 Rn 41 § 2 Rn 37 § 6 Rn 68 § 6 Rn 32 § 5 Rn 34, 49 § 2 Rn 121, 128 § 4 Rn 79 § 4 Rn 2, 3, 76 § 6 Rn 38 § 6 Rn 68 § 6 Rn 53 § 6 Rn 74 § 2 Rn 37; § 6 Rn 38 § 6 Rn 31 § 2 Rn 98 § 3 Rn 15, 21 § 6 Rn 45 § 4 Rn 19, 34, 49 § 6 Rn 41

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

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Beschwerdenummer

Zitiert in

Philis (Nr 2) Piermont Pierre-Bloch Pine Valley Pla u Puncerau Plattform „Ärzte für das Leben“ Pocius Podbielski Poghosyan Poiss

RJD 1997-IV Series A, Vol 314 RUDH 1997, 73 HRLJ 13 (1992), 36 ZEV 2005, 162 EuGRZ 1989, 522

19773/92 15773/89; 15774/89 24194/94 12742/87 69498/01 10126/82

§ 6 Rn 60 § 2 Rn 73 § 6 Rn 39 § 5 Rn 55, 59 § 3 Rn 12, 71 § 4 Rn 61; 64; § 17 Rn 37 § 6 Rn 47 § 6 Rn 60 § 6 Rn 69 § 5 Rn 34; § 6 Rn 59

Polednová; Popov Posti u Rahko Potomska u Potomski Powell u Rayner Pretto Pretty

Preußische TreuhandGmbH u Co. KG Probstmeier Quinn Rachevi Radio ABC Radio France Raimondo Ramirez Sanchez Randall Rantsev Rees Refah Partisi Refah Partisi (Große Kammer) Reinhardt und Slimane-Kaïd Reinmüller Rekvényi Remli Reynolds Riad u Idiab

RJD 1998-VIII Series A, Vol 117 = NJW 1989, 650

35601/04 27916/95 22999/06 9816/82

NVwZ 2012, 353 Series A, Vol 172 EuGRZ 1985, 548 NJW 2002, 2851

2615/10 39474/07 27824/95 33949/05 9310/81 7984/77 2346/02

NJW 2009, 3775

47550/06

NJW 1997, 2809 Series A, Vol 311

NJW 2010, 3003

20950/92 18580/91 47877/99 19736/92 53984/00 12954/87 59450/00 44014/98 25965/04

Series A, Vol 106

9532/81

NVwZ 2003, 1489

41340/98 ua 41340/98 ua

RJD 1998-II

23043/93; 22921/93

NVwZ 2000, 421 RJD 1996-II

69169/01 25390/94 16839/90

RJD 1997-VI RJD 2004-II RUDH 1994, 21 EuGRZ 2007, 141

2694/08 29787/03; 29810/03

§ 6 Rn 63 § 6 Rn 21 § 3 Rn 69 § 5 Rn 27, 32, 38, 43 f § 4 Rn 27; § 6 Rn 73 § 6 Rn 54, 58 § 2 Rn 26 f; § 3 Rn 3, 50; § 16 Rn 17 § 5 Rn 9a § 2 Rn 37 § 6 Rn 8 § 6 Rn 60 § 4 Rn 4, 20, 57 § 2 Rn 45; § 4 Rn 52 § 5 Rn 38 f § 3 Rn 41; § 6 Rn 73 § 6 Rn 50 § 3 Rn 47a, § 15 Rn 37 § 2 Rn 41; § 3 Rn 11; § 16 Rn 54 § 1 Rn 12; § 2 Rn 67 § 2 Rn 120; § 4 Rn 81; § 16 Rn 64, 71 § 27 Rn 37 § 6 Rn 51 § 2 Rn 76 § 2 Rn 129; § 6 Rn 41 § 6 Rn 74 § 6 Rn 21

891

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Ribitsch Ringeisen Roche Rowe und Davis RTBF Rudolf Hess Ruiz-Mateos Rumpf Ruokanen Ruspoli Morenes Rusu Ryabikin Ryakib Biryukov S W/Vereinigtes Königreich Saadi Sace Elektrik Saddam Hussein S.A. Jacquers Dangeville

EuGRZ 1996, 504 Series A Vol 13 NJOZ 2007, 865 RJD 2000-II

18896/91 2614/65 32555/96 28901/95 50084/06 3/81/42/67 12952/87 46344/06 45130/06 28979/07 34082/02 8320/04 14810/02 20166/92

§ 2 Rn 80; § 3 Rn 42 § 6 Rn 8 § 4 Rn 11 § 6 Rn 47 § 6 Rn 43 § 2 Rn 107 § 6 Rn 47 § 2 Rn 37 § 17 Rn 10 § 5 Rn 32, 37, 41 ff § 6 Rn 9 § 6 Rn 21 § 6 Rn 54 § 6 Rn 64

NJW 2006, 2971 EuGRZ 2007, 671

13229/03 20577/05 23276/04 36677/97

S¸ahin

NVwZ 2006, 1389

44774/98

Sakik

RJD 1997-VII

Salman Samina Sanchez u a

NJW 2001, 2001 NJOZ 2012, 950 NZA 2012, 1421

Sanoma Uitgevers B.V. Saunders

NJW-RR 2011, 1266 RJD 1996-VI

23878/94; 23879/94; 23880/94; 23881/94; 23882/94; 23883/94 21986/93 55463/09 28955/05; 28957/06; 28959/06; 28964/06 38224/03 19187/91

§ 6 Rn 4, 8 f, 21 f, 35 § 6 Rn 43 § 2 Rn 62 § 2 Rn 46; § 5 Rn 8, 38 § 3 Rn 37; § 18 Rn 25, 27 § 6 Rn 28

Schalk u Kopf

NJW 2011, 1421

30141/04

Schenk Schiesser Schimanek Schlumpf Schmidt u Dahlström Schneider

EuGRZ 1988, 390 EuGRZ 1980, 202 ÖJZ 2000, 817 EuGRZ 1976, 68 NuR 2008, 489

10862/84 7710/76 32307/96 29002/06 5589/72 2113/04

Schneider Schönbrod Schöpfer Schöps Schouten

DÖV 2012, 201 RJD 1998-III NJW 2002, 2015 Series A, Vol 304

17080/07 48038/06 25405/94 25116/94 19005/91; 19006/91

892

EuGRZ 1993, 453 NJW 2010, 3355 NJW-RR 2011, 981 NJW 2012, 743 ÖJZ 2009, 426

Series A, Vol 335-B NVwZ 2009, 375

§ 3 Rn 40, 52 f, 59, 64 § 3 Rn 33, 47 § 17 Rn 37 § 17 Rn 15, 22 § 6 Rn 50; § 15 Rn 2; § 27 Rn 20 § 2 Rn 42; § 3 Rn 10, 11; § 16 Rn 18, 54 § 6 Rn 51 § 6 Rn 26 § 17 Rn 10 § 6 Rn 45 § 4 Rn 85, 89 § 2 Rn 134; § 4 Rn 78, 87 § 6 Rn 43 § 6 Rn 9 § 4 Rn 47 § 6 Rn 32 § 6 Rn 38

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

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Beschwerdenummer

Zitiert in

Schuler-Zgraggen Schüssel Schüth Schwabe Schwabe u M G

Series A, Vol 263 ÖJZ 2005, 276 EuGRZ 2010, 560 Series A, Vol 242-B NVwZ 2012, 1089

14518/89 42409/98 1620/03 13704/88 8080/08; 8577/08

EuGRZ 1976, 62

75737/01 5614/72

§ 6 Rn 53 § 4 Rn 8 f § 2 Rn 17 § 4 Rn 46 § 4 Rn 71; § 17 Rn 37 § 6 Rn 41 § 2 Rn 11; § 4 Rn 85, 88 § 16 Rn 65 § 2 Rn 128 § 6 Rn 63 § 5 Rn 50; § 6 Rn 72 § 6 Rn 28 § 4 Rn 11 § 6 Rn 51 § 3 Rn 40, 42, 45; § 15 Rn 32 § 2 Rn 98 § 6 Rn 50 § 5 Rn 10, 57 § 6 Rn 29 § 6 Rn 29 § 6 Rn 47 § 6 Rn 5 § 6 Rn 51 § 4 Rn 87 § 4 Rn 80 § 6 Rn 41 § 4 Rn 78, 90; § 17 Rn 39 § 2 Rn 76; § 6 Rn 72; § 14 Rn 105

Schwarzenberger Schwedischer Lokomotivführerverband Scientology Scollo Scoppolla Scordino (Nr 1) Scott Sdruzˇ eni Jihocˇ eské Matky Sekanina Selmouni

NJW 2008, 495 Series A, Vol 315-C NJOZ 2010, 2726 NJW 2007, 1259 RJD 1996-VI RUDH 1993, 358 NJW 2001, 56

18147/02 19133/91 10249/03 36813/97 21335/93 19101/03 13126/87 25803/94

Senator Lines GmbH Serves Sfountouris Shabani Shannon Sharomov Shimovolos Shouvalov Sibson Sidiropoulos Sigma Radio Television Sigurdur Sigurjónsson

NJW 2004, 3617 RJD 1997-VI EuGRZ 2011, 477

Silver

EuGRZ 1984, 147

Sisojeva Slivenko Smirnova Smith u Grady

NVwZ 2008, 979 EuGRZ 2006, 560 NJW 2000, 2089

5947/72; 6205/73; 7052/75; 7061/75; 7107/75; 7113/75; 7136/75 60654/00 48321/99 46133/99; 48183/99 33985/96; 33986/96

Soering

EuGRZ 1989, 314

14038/88

Sommerfeld Sommerfeld Sørensen u Rasmussen Sozialistische Partei

EuGRZ 2001, 588 FPR 2004, 344 ÖJZ 2006, 550 RJD 1998-III

31871/96 31871/96 52562/99; 52620/99 21237/93

Series A, Vol 258-A RJD 1998-IV Series A, Vol 264

56672/00 20225/92 24120/06 29044/06 6563/03 8927/02 30194/09 14942/09 14327/88 26695/95 32181/04; 35122/05 16130/90

§ 2 Rn 98 § 6 Rn 21 § 6 Rn 58 f § 2 Rn 128; § 3 Rn 8, 68 § 2 Rn 42, 62, 98; § 3 Rn 41, 54 § 3 Rn 28 § 3 Rn 28 § 4 Rn 78 f § 4 Rn 76

893

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Sporrong u Lönnroth

Series A, Vol 52 = EuGRZ 1983, 523 NJW 1984, 2753 RJD 2002-IV EuGRZ 2002, 589 ÖJZ 2007, 836

7151/75; 7152/75 9870/82 46295/99 37928/97 37464/02

§ 5 Rn 8, 20, 32, 34; § 6 Rn 74; § 20 Rn 29 § 18 Rn 1 § 6 Rn 10 § 17 Rn 10, 13 § 4 Rn 6

NJOZ 2013, 1190 RJD 2001-IX

36760/06 29221/95; 29225/95

§ 6 Rn 7, 20, 33 § 4 Rn 67; § 17 Rn 37

RJD 1998-VII NJW 2006, 1255

24838/94 68416/01 37971/97 38155/02 12895/05 65542/12

§ 4 Rn 9; § 6 Rn 9 § 4 Rn 7, 17, 47 § 16 Rn 23, 36 § 6 Rn 47 § 6 Rn 60 § 6 Rn 43

Series A, Vol 7 NJW-RR 2008, 1141

1602/62 69698/01

NJW-RR 2006, 308

61603/00

Sprayer v Zürich Stafford Stambuk Standard Verlagsgesellschaft mbH Stanev Stankov und Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden Steel Steel u Morris Stés Colas Est Stefanica Stein Stichting Mothers of Srebrenica Stögmüller Stoll

S.T.S. Stummer S u Marper Sunday Times (Nr 1)

NJW 2012, 2331 NJOZ 2012, 1897 EuGRZ 2009, 299 EuGRZ 1979, 386

277/05 37452/02 30562, 30566/04 6538/74

Sunday Times (Nr 2) Sürmeli Süßmann Suso Musa Sylvester Szal Tammer Taron Társaság a Szabadságjogokért Tehrani Tekdag˘

HRLJ 13 (1992), 30 NJW 2006, 2389 RJD 1996-IV

13166/87 75529/01 20024/92 42337/12 36812/97; 40104/98 41285/02 41205/98 53126/07 37374/05

§ 6 Rn 13, 28 f § 2 Rn 80; § 4 Rn 11, 41, 52 § 3 Rn 3; § 6 Rn 7, 34; § 16 Rn 9 § 6 Rn 60 § 6 Rn 64 § 1 Rn 12; § 2 Rn 17, 31, 37, 41; § 6 Rn 64 f § 6 Rn 32 § 5 Rn 57 § 2 Rn 70 § 2 Rn 76; § 3 Rn 22; § 4 Rn 11, 17, 40; § 17 Rn 15 § 4 Rn 17 § 2 Rn 37 § 6 Rn 55 f § 6 Rn 21 § 3 Rn 28 § 6 Rn 38 § 4 Rn 35 § 2 Rn 100,102 § 2 Rn 28, 120

32940/08 27699/95

§ 6 Rn 9 § 6 Rn 74

Storck Stork Streicher Streletz, Keßler und Krenz

894

NJW 2001, 3035

RJD 2001-I NVwZ 2013, 47

38033/02 40384/04 34044/96; 35532/97; 44801/98

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Tekin Tele 1 Privatfernsehgesellschaft MBH Telesystem Tirol Tepe Testa Teteriny Thorgeirson

RJD 1998-IV ÖJZ 2001, 156

22496/93 32240/96

§ 2 Rn 72 § 4 Rn 57

RJD 1997-III

19182/91 29422/95 20877/04 11931/03 13778/88

§ 4 Rn 57 § 6 Rn 28, 73 § 3 Rn 41 § 5 Rn 16 § 4 Rn 17, 30, 34, 41, 46; § 17 Rn 15 § 6 Rn 33

EuGRZ 2008, 21 HRLJ 13 (1992), 440

Thynne, Wilson und Gunnel Tillack

Series A, Vol 190-A

Tolstoy Miloslavsky Tomasi Tomé Mota Toth Tre Traktörer AB Trévalec Tricard Tsirlis Tsonev Tunce Tyrer

HRLJ 16 (1995), 295 EuGRZ 1994, 101 NJW 2001, 2692 HRLJ 13 (1992), 112 RUDH 1989, 578 NVwZ 2012, 1017

Tysiac Ümit Unabhängige Initiative Informationsvielfalt Ünal Tekeli Üner Unison Urbanek Vajnai van der Leer van der Tang van Droogenbroeck Vanjak Van Kück van Marle

NJW 2008, 2565

RJD 1997-III

EuGRZ 1979, 163 NJOZ 2009, 3349 RJD 2002-I = ÖJZ 2002, 468 FamRZ 2005, 427 DVBl 2007, 689 ff ÖJZ 2003, 276

11787/85; 11978/86; 12009/86 20477/05 18139/91 12850/87 42636/98 11894/85 10873/84 30812/07 40472/98 19233/91; 19234/91 45963/99 2422/06 5856/72 5410/03 22398/05 28525/95

Varnava ua

NVwZ-RR 2011, 251

29865/96 46410/99 53574/99 325123/05 33629/06 11509/85 19382/92 7906/77 29889/04 35968/97 8543/79; 8674/79; 8675/79; 8685/79 16064/90

Vasileva Verein gegen Tierfabriken (VGT)

RJD 2001-VI

52792/99 24699/94

RUDH 1990, 60 Series A, Vol 321 EuGRZ 1984, 6 NJW 2004, 2505 EuGRZ 1988, 35

§ 4 Rn 11, 52; § 27 Rn 44 § 4 Rn 44 § 6 Rn 29 f § 2 Rn 101 § 6 Rn 28 f § 5 Rn 8, 11 § 3 Rn 64 § 6 Rn 43 § 6 Rn 33 § 6 Rn 66 § 6 Rn 58 § 1 Rn 12; § 2 Rn 41; § 3 Rn 41 § 3 Rn 3 § 6 Rn 9, 20 § 4 Rn 46, 51 § 3 Rn 70 § 3 Rn 12 § 4 Rn 89 § 6 Rn 43 § 4 Rn 9, 41 § 6 Rn 23 f § 6 Rn 28 f § 6 Rn 31 § 6 Rn 38 § 3 Rn 3, 71; § 6 Rn 45 § 5 Rn 11 § 2 Rn 98, 104, 111, 128 § 6 Rn 11 § 4 Rn 17; § 17 Rn 10

895

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

RJD 1998-I

48848/07 19392/92

§ 4 Rn 80 § 4 Rn 2, 76, 81

ÖJZ 2007, 618

68354/01

§ 4 Rn 7, 15, 34, 41

Series A, Vol 302

15153/89

§ 4 Rn 34

Series A, Vol 306-A

16616/90

§ 4 Rn 36, 52

76918/01

§ 4 Rn 11, 17

Verein Rhino Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei Vereinigung bildender Künstler Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs und Gubi Vereniging Weekblad Bluf! Verlagsgruppe News GmbH Verlagsgruppe News GmbH (Nr 2) Vermeulen Vittorio VGT Vo

ÖJZ 2003, 618

10520/02

§ 4 Rn 46

RJD 1996-I RJD 2001-IX NJW 2010, 3699 NJW 2005, 727

19075/91 44955/98 32772/02 53924/00

Vogt

EuGRZ 1995, 590

17851/91

Volkmer Von Hannover Nr 1

NJW 2002, 3087 NJW 2004, 2647

39799/98 59320/00

Von Hannover Nr 2

NJW 2012, 1053

40660/08; 60641/08

Von Maltzan

NJW 2005, 2530

W W/Deutschland W/Schweiz Waite

Series A, Vol 121 NJW 2001, 3042 EuGRZ 1993, 384 NJW 1999, 1173

71916/01; 71917/01; 10260/02 9749/82 37201/97 14379/88 26083/94

§ 27 Rn 37 § 6 Rn 6 § 4 Rn 7 § 2 Rn 26, 43, 120; § 3 Rn 49; § 15 Rn 18 § 4 Rn 30, 44, 79, 81, 92 § 2 Rn 37 § 3 Rn 3, 27; § 4 Rn 17, 35, 50; § 16 Rn 17, 29; § 17 Rn 15 § 3 Rn 3, 27; § 4 Rn 50; § 16 Rn 29; § 17 Rn 15 § 2 Rn 17; § 5 Rn 54

Wasmuth Wassink Weber Weber und Saravia Weeks

NVwZ 2011, 1503 RUDH 1990, 425 Series A, Vol 177 NJW 2007, 1433 EuGRZ 1988, 316

12884/03 12535/86 11034/84 54934/00 9787/82

Weh Wemhoff White Wiesinger

ÖJZ 2004, 853 Series A, Vol 7

38544/97 2122/64 42435/02 11796/85

896

RUDH 1991, 551

§ 3 Rn 28 § 6 Rn 61h § 6 Rn 28 f § 1 Rn 16; § 2 Rn 53; § 6 Rn 43 § 2 Rn 17, 104 § 6 Rn 33 § 4 Rn 17; § 6 Rn 340 § 3 Rn 22, 28 § 6 Rn 10, 30; § 16 Rn 5 § 6 Rn 50; § 27 Rn 20 § 6 Rn 10, 28 § 4 Rn 7, 50, 52 § 5 Rn 38, 44

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name

Fundstelle

Beschwerdenummer

Zitiert in

Wille

RUDH 1999, 182

28396/95

Wingrove

RJD 1996-V

17419/90

Winterwerp

EuGRZ 1979, 650

6301/73

RJD 1997-V

7485/03 20077/02 22714/93 67385/01 8978/80

§ 4 Rn 23, 26, 28; § 18 Rn 1 § 4 Rn 15, 35, 54; § 18 Rn 1 § 6 Rn 5, 7, 18, 20, 31 f; § 16 Rn 12 § 6 Rn 64 § 6 Rn 60 § 2 Rn 104; § 4 Rn 40 § 6 Rn 33 § 3 Rn 8, 23, 26, 68; § 16 Rn 17 § 6 Rn 5 § 6 Rn 18, 23 f § 6 Rn 67 § 6 Rn 27 § 6 Rn 26 § 4 Rn 81

Witzsch Wohlmeyer Bau GmbH Worm Wynne XuY X (Große Kammer) X/Vereinigtes Königreich Xheraj Yag˘ ci Yankov Yazar, Karatas¸ , Aksoy u Halkin Emeg˘i Partisi Yefimenko Young ua

Youth Initiative for Human Rights Zakharkin Z ua Vereinigtes Königreich Zammit Maempel Zandbergs Zannouti Zeugen Jehovas ua Zolotukhin Zumtobel Zypern

Series A, Vol 91 = EuGRZ 1985, 297 EuGRZ 1986, 5 EuGRZ 1982, 101 HRLJ 16 (1995), 286 RJD 2002-II

EuGRZ 1981, 559

7215/75 7215/75 37959/02 16419/90; 16426/90 39084/97 22723/93; 22724/93; 22725/93 152/04 7601/76; 7806/77

48135/06

ECHR 2001-V NJOZ 2012, 2238

NVwZ 2009, 509 RUDH 1993, 399 RJD 2001-IV

1555/04 29392/95 24202/10 71092/01 42211/98 40825/98 14939/03 12235/86 25781/94

§ 6 Rn 10 § 2 Rn 58; § 4 Rn 59, 79, 85, 87; § 17 Rn 37, 47 § 2 Rn 28, 121 § 6 Rn 41 § 2 Rn 31; § 3 Rn 46; § 6 Rn 74 § 5 Rn 57 § 6 Rn 29 § 6 Rn 29 § 3 Rn 31; § 16 Rn 65 § 6 Rn 66 § 6 Rn 40 § 2 Rn 28, 71, 53; § 3 Rn 51, 62; § 4 Rn 13

897

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union

Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

A ABNA Ltd

Slg 1994, II-179 Slg 2005, I-10423

T-10/93 C-453/03

Abrahamsson AC Treuhand Acrington Beef Adams ADBHU Adoui

Slg 2000, I-5539 Slg 2008, II-1501 Slg 1996, I-6699 Slg 1985, 3539 Slg 1985, 531 Slg 1982, 1665

C-407/98 T-99/04 C-241/95 145/83 240/83 115/81

Advocaten voor de Wereld Affish

Slg 2007, I-3633

C-303/05

§ 16 Rn 14 § 14 Rn 4; § 27 Rn 27, 56 § 21 Rn 35, 45 § 27 Rn 16 § 27 Rn 31 § 16 Rn 39 § 19 Rn 4, 12 § 9 Rn 12, 48; § 12 Rn 11 § 27 Rn 44

Slg 1997, I-4315

C-183/95

Agegate A.G.M.-COS.MET Srl

Slg 1989, 4459 Slg 2007, I-2749

3/87 C-470/03

Agricola Commerciale Olio Ahlström Osakeyhitö Ahokainen und Leppik

Slg 1984, 3881

232/81

Slg 1993, I-1307 Slg 2006, I-9171

89/85 C-434/04

AJD Tuna Åklagare

Slg 2011, I-1655 EuZW 2013, 302

C-221/09, C-617/10

Akzo Nobel

Slg 2007, II-3523

T-125/03

Akzo Nobel Al-Aqsa Al Bakaraat Aladzhov Albany

Slg 2009, I-8237 Slg 2007, II-79 NJW 2008, 3697 Slg 2011, I-11659 Slg 1999, I-5751

C-97/08 P T-327/03 C-402/05 C-434/10 C-67/96

Albore Alcan Alfa Vita

Slg 2000, I-5965 Slg 1997, I-1591 Slg 2006, I-8135

C-423/98 C-24/95 C-158/04

Alessandrini Slg 2005, I-5673 Allgemeine Gewerkschaft Slg 1974, 933

898

C-295/03 P 18/74

§ 19 Rn 3 f, 17, 33, 35, 37; § 27 Rn 58 § 9 Rn 9 § 7 Rn 96; § 14 Rn 53; § 17 Rn 9 § 20 Rn 24, 36 § 21 Rn 15 § 8 Rn 46; § 11 Rn 104 § 27 Rn 11 § 1 Rn 37; § 17 Rn 2 § 26 Rn 77; § 27 Rn 16 § 27 Rn 20 § 27 Rn 39 § 27 Rn 11, 41 § 26 Rn 41 § 17 Rn 43; § 22 Rn 13 § 12 Rn 2, 42 § 27 Rn 55 § 7 Rn 96, 101; § 8 Rn 49, 70 § 20 Rn 44, 45 § 17 Rn 42

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Alliance for Natural Health ua Alliance One International Allonby Allué I

Slg 2005, I-6451

C-154/04

§ 7 Rn 9; 19 Rn 33

C-593/11 P

§ 27 Rn 20

Slg 2004, I-873 Slg 1989, 1591

C-256/01 33/88

Allué II

Slg 1993, I-4309

C-259/91

Almelo Alonso Alpine Investments

Slg 1994, I-1477 Slg 2006, I-7569 Slg 1995, I-1141

C-393/92 C-81/05 C-384/93

Alrosa

Slg 2007, II-2061

T-170/06

Altmark Trans AM u S

Slg 2003, I-7747 Slg 1982, 1575

C-280/00 155/79

Ambulanz Glöckner AMID André GmbH ANETT

Slg 2001, I-8089 Slg 2000, I-11619 Slg 2004, I-11825 EuZW 2012, 508

C-475/99 C-141/99 C-434/02 C-456/10

Angestelltenrat der Wiener Gebietskrankenkasse Angonese

Slg 1999, I-2865

C-309/97

§ 21 Rn 28 § 9 Rn 39; § 13 Rn 22; § 17 Rn 61; § 18 Rn 21 § 9 Rn 21, 39, 51; § 18 Rn 21 § 8 Rn 8; § 23 Rn 8 § 14 Rn 42 § 1 Rn 49; § 7 Rn 76, 96, 104, 133; § 8 Rn 46; § 11 Rn 59, 72 § 26 Rn 75; § 27 Rn 11 § 23 Rn 8 § 14 Rn 6; § 16 Rn 14, 26; § 26 Rn 77; § 27 Rn 4 § 23 Rn 5 § 10 Rn 37, 39 § 7 Rn 108 § 7 Rn 1; § 8 Rn 50 f, 73, 102 § 21 Rn 40

Slg 2000, I-4139

C-281/98

Anker Annibaldi Ansaldo Energia Antonissen Apple and Pear Development Council Aragonesa Arblade Arcor Arcor ARD Ascafor ASML Netherlands

Slg 2003, I-10447 Slg 1997, I-7493 Slg 1998, I-5025 Slg 1991, I-745 Slg 1983, 4083

C-47/02 C-309/96 C-279/96 C-292/89 222/82

§ 1 Rn 51; § 7 Rn 27, 61, 121; § 8 Rn 22; § 9 Rn 46, 51, 55; § 11 Rn 76 § 9 Rn 27 § 1 Rn 31 § 27 Rn 49 f § 9 Rn 15 § 7 Rn 52, 91

Slg 1991, I-4151 Slg 1999, I-8453 Slg 2003, I-14083 Slg 2006, I-8559 Slg 1999, I-7599 EuZW 2012, 264 Slg 2006, I-12041

C-1/90 C-369/96 C-416/01 C-392/04 ua C-6/98 C-484/10 C-283/05

§ 8 Rn 68 f, 101 § 7 Rn 30; § 9 Rn 35 § 20 Rn 20 § 27 Rn 53 § 17 Rn 17 § 8 Rn 69 § 27 Rn 43

899

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Asscher

Slg 1996, I-3089

C-107/94

AssiDomän Asociación National de Expendedores de Tabaco Achats Association Belge des Consommateur TestAchats Association de médiation sociale ASTI Atlanta Atlanta Atlanta Atxalandabaso/EP Aubertin Ayadi Ayaz B&Q Bachmann

Slg 1999, I-5363 EuZW 2012, 508

C-310/97 C-456/10

§ 7 Rn 27; § 9 Rn 9; § 10 Rn 52 § 27 Rn 24, 53 § 7 Rn 101

Slg 2011, I-773

C-236/09

§ 7 Rn 17; § 14 Rn 85; § 21 Rn 22

NZA 2014, 193

C-176/12

§ 14 Rn 49

Slg 1991, I-3507 Slg 1995, I-3761 Slg 1995, I-3799 Slg 1996, II-1707 Slg 2009, I-1059 Slg 1995, I-301 Slg 2006, II-2139 Slg 2004, I-8765 Slg 1992, I-6635 Slg 1992, I-249

C-213/90 C-465/93 C-466/93 T-521/93 C-308/07 P C-29-35/94 T-253/02 C-275/02 C-169/91 C-204/90

Bactria Industriehygiene Badeck Banchero Banks Barber Barkoci und Malik Barra Barth BASF Basset Bauhuis Baumbast

Slg 2003, I-15105 Slg 2000, I-1875 Slg 1995, I-4663 Slg 2000, I-2005 Slg 1990, I-1889 Slg 2001, I-6557 Slg 1988, 355 EuZW 2004, 573 Slg 1999, I-6269 Slg 1987, 1747 Slg 1977, 5 Slg 2002, I-7091

C-258/02 C-158/97 C-387/93 C-178/97 262/88 C-257/99 309/85 C-502/01 C-44/98 402/85 46/76 C-413/99

Baustahlgewebe

Slg 1998, I-8417

C-185/95

Bavarian Lager Baxter Bayer

Slg 1999, II-3217 Slg 1999, I-4809 Slg 1988, 5249

T-309/97 C-254/97 65/86

Beentjes Belgien/Spanien Belgische Vereinigung von Auteurs

Slg 1988, 4635 Slg 2000, I-3123 EuZW 2012, 261

31/87 C-388/95 C-360/10

§ 9 Rn 37 § 14 Rn 50; § 27 Rn 56 § 14 Rn 37; § 27 Rn 56 § 19 Rn 10, 17 § 27 Rn 33 § 7 Rn 25 § 27 Rn 39 § 9 Rn 32 § 7 Rn 97 § 9 Rn 22, 51; § 12 Rn 19 § 27 Rn 27 § 7 Rn 17; § 21 Rn 35 § 8 Rn 45 § 9 Rn 35 § 21 Rn 37, 54 § 10 Rn 8 § 27 Rn 50 § 9 Rn 39 § 8 Rn 52 f § 8 Rn 88 § 7 Rn 113 § 1 Rn 50; § 7 Rn 4, 18; § 9 Rn 29; § 26 Rn 39 § 24 Rn 8, 42; § 27 Rn 8, 40 § 27 Rn 22 § 10 Rn 51 § 7 Rn 57; § 8 Rn 21; § 11 Rn 76 § 7 Rn 28 § 8 Rn 57, 88, 92 § 14 Rn 107

900

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Bernini Berlusconi Bettati Beune Bickel und Franz

Slg 1992, I-1071 Slg 2005, I-3565 Slg 1998, I-4355 Slg 1994, I-4471 Slg 1998, I-7637

C-3/90 C-387/02 C-341/95 C-7/93 C-274/96

Bidar

Slg 2005, I-2119

C-209/03

Biehl Bilka Biovilac

Slg 1990, I-1779 Slg 1986, 1607 Slg 1984, 4057

175/88 170/84 59/83

Birden Blaizot Bleis Blesgen Bluhme Boehringer Mannheim Bond van Adverterrders Booker Aquaculture Ltd Bordessa Borell Bosal Holding BV Bosman

Slg 1998, I-7747 Slg 1988, 379 Slg 1991, I-5627 Slg 1982, 1211 Slg 1998, I-8033 Slg 1972, 1281 Slg 1988, 2085 Slg 2003, I-7411 Slg 1995, I-361 Slg 1992, I-3003 Slg 2003, I-9409 Slg 1995, I-4921

C-1/97 24/86 C-4/91 75/81 C-67/97 C-7/72 352/85 C-20/00 C-358/93 C-104/91 C-168/01 C-415/93

Bosphorus

Slg 1996, I-3953

C-84/95

Bostock

Slg 1994, I-955

C-2/92

Bötel Bouchereau

Slg 1992, I-3589 Slg 1977, 1999

C-360/90 30/77

Boukhalfa Bourquain Bozkurt Brasserie du pêcheur

Slg 1996, I-2253 EuZW 2009, 118 Slg 1995, I-1475 Slg 1996, I-1029

C-214/94 C-297/07 C-434/93 C-46/93

§ 9 Rn 11, 29 § 27 Rn 1, 7 § 24 Rn 9 § 21 Rn 37 § 13 Rn 13, 24; § 26 Rn 93; § 27 Rn 48 § 7 Rn 18; § 26 Rn 92, 95 § 9 Rn 22 § 21 Rn 35, 46 f, 51 § 11 Rn 103; § 20 Rn 16, 22, 28, 42, 45 § 9 Rn 13 § 18 Rn 20 § 7 Rn 68; § 9 Rn 27 § 8 Rn 40 § 8 Rn 27 52, 86, 93 § 26 Rn 77 § 11 Rn 47 § 20 Rn 31, 42, 47 § 12 Rn 2 f, 8, 11, 28 § 7 Rn 41 § 12 Rn 19 f § 1 Rn 49, 51; § 7 Rn 1, 30, 57 ff, 60, 104, 106; § 8 Rn 22; § 9 Rn 7, 42, 46, 50 f; § 10 Rn 21; § 11 Rn 76, 115, 117, 121; § 14 Rn 24; § 17 Rn 19, 40, 52 f; § 14 Rn 98; § 19 Rn 14, 16 37; § 20 Rn 28, 51 § 14 Rn 81; § 20 Rn 20; § 27 Rn 43 § 21 Rn 33 § 7 Rn 113; § 9 Rn 48; § 11 Rn 93; § 12 Rn 11 § 7 Rn 65 § 27 Rn 44 § 9 Rn 32 § 7 Rn 138; § 14 Rn 41, 51, 123; § 26 Rn 86

901

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Bressol

Slg 2010, I-2735

C-73/08

§ 7 Rn 18, 28, 132; § 13 Rn 8, 19, 23; § 18 Rn 16, 20 f; § 26 Rn 92, 95 § 27 Rn 22 § 17 Rn 13; § 20 Rn 7; § 27 Rn 27, 31 § 7 Rn 133; § 10 Rn 21, 27; § 11 Rn 95 § 7 Rn 27 § 9 Rn 5, 17; § 13 Rn 7 f, 10; § 18 Rn 20; § 26 Rn 92 § 23 Rn 8 § 21 Rn 50 § 15 Rn 8, 15, 18 § 7 Rn 66 § 23 Rn 9 § 7 Rn 30; § 9 Rn 42 § 7 Rn 86; § 8 Rn 9, 42 § 12 Rn 2 § 7 Rn 91 § 26 Rn 41 § 14 Rn 43 § 7 Rn 62 § 7 Rn 79; § 10 Rn 33 § 9 Rn 2, 47, 55; § 10 Rn 59 f; § 26 Rn 46 § 27 Rn 7 § 7 Rn 113; § 8 Rn 73, 75, 85; § 9 Rn 48; § 11 Rn 93; § 12 Rn 13 § 7 Rn 96; § 8 Rn 102 f § 25 Rn 7

British American Tobacco Slg 2001, II-2997 British American Tobacco Slg 2002, I-11453

T-111/00 C-491/01

Broede

Slg 1996, I-6511

C-3/95

Broekmeulen Brown

Slg 1981, 2311 Slg 1988, 3205

246/80 197/86

BRT II Brunnhofer Brüstle Buchner BUPA Burbaud Burmanjer Burtscher „Buy Irish“ Byankov Cabarello Cabour Cadbury Schweppes

Slg 1974, 313 Slg 2001, I-4961 Slg 2011, I-9821 Slg 2000, I-3625 Slg 2008, II-81 Slg 2003, I-8219 Slg 2005, I-4133 Slg 2005, I-10309 Slg 1982, 4005, 4023 NVwZ 2013, 273 Slg 2002, I-11915 Slg 1998, I-2055 Slg 2006, I-7995

C-127/73 C-381/99 C-34/10 C-104/98 T-289/03 C-285/01 C-20/03 C-213/04 249/81 C-249/11 C-442/00 C-230/96 C-196/04

Calfa

Slg 1999, I-11

C-348/96

Campina Campus Oil

Slg 2007, I-2089 Slg 1984, 2727

C-45/06 72/83

Canal Satélite

Slg 2002, I-607

C-390/99

Cape u Idealservice MN RE Carbonati Apuani Carmen Media Carpenter

Slg 2001, I-9049

C-541/99

Slg 2004, I- 8027 Slg 2010, I-8149 Slg 2002, I-6279

C-72/03 C-46/08 C-60/00

Cartesio

Slg 2008, I-9641

C-210/06

902

§ 13 Rn 15 § 11 Rn 106, 132, 140 § 7 Rn 31, 132; § 8 Rn 15; § 14 Rn 114; § 15 Rn 12; § 16 Rn 19; § 17 Rn 2; § 7 Rn 4; § 10 Rn 66, 72

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Carvel u Guardian News- Slg 1995, II-2765 papers Ltd Casagrande Slg 1974, 773

T-194/94

§ 27 Rn 22

9/74

Casati Cassis de Dijon (s a Rewe-Zentral-AG)

Slg 1981, 2595 Slg 1979, 649

203/80 120/78

Casteels Centro Equestre da Lezivia Grande Centros

Slg 2011, I-1379 Slg 2007, I-1425

C-379/09 C-345/04

§ 9 Rn 29; § 18 Rn 20 f § 1 Rn 43; § 12 Rn 7 § 1 Rn 48; § 7 Rn 8, 84, 96, 98; § 8 Rn 65, 68, 89, 98, 101; § 10 Rn 3; § 11 Rn 104; § 12 Rn 16; § 17 Rn 2; § 25 Rn 6 f § 9 Rn 21 § 11 Rn 145

Slg 1999, I-1459

C-212/97

Chacón Navas Chemie Linz Chen

Slg 2006, I-6471 Slg 1999, I-4643 Slg 2004, I-9925

C-467/01 C-245/92 C-200/02

Chiquita Chronopost/UFEX CILFIT

Slg 2005, II-315 Slg 2008, I-4777 Slg 1982, 3415

T-19/01 C-341 u 342/06 283/81

Cimenteries CBR Cinéthèque Ciola

Slg 1992, II-2667 Slg 1985, 2605 Slg 1999, I-2517

T-10/92 ua 60/84 C-224/97

Clean Car

Slg 1998, I-2521

C-350/96

Clinique CMA-Gütesiegel CMC Motorradcenter CNTA Colegio de Ingenieros de Caminos Colim Collins (Phil)

Slg 1994, I-317 Slg 2002, I-9977 Slg 1993, I-5009 Slg 1975, 533 Slg 2006, I-801

C-315/92 C-325/00 C-93/92 74/74 C-330/03

Slg 1999, I-3175 Slg 1993, I-5145

C-33/97 C-92/92

Collins (Brian Francis)

Slg 2004, I-2703

C-138/02

Coleman Colmant Coloroll Pension Trustees Comett II Commissionaires Réunis

Slg 2008, I-5603 Slg 1992, II-469 Slg 1994, I-4389 Slg 1991, I-2757 Slg 1978, 928

C-303/06 T-8/90 C-200/91 C-51/89 81/77

§ 7 Rn 1, 30, 79; § 10 Rn 24, 35, 70 f § 22 Rn 33 § 14 Rn 50 § 7 Rn 79; § 26 Rn 41 § 19 Rn 3 § 27 Rn 33 § 14 Rn 123, § 27 Rn 22 § 27 Rn 11 § 8 Rn 90; § 14 Rn 65 § 7 Rn 27, 106, 119; § 8 Rn 70; § 14 Rn 51 § 7 Rn 4, 27, 60; § 9 Rn 28, 39, 46, 55 § 8 Rn 44; § 25 Rn 7 § 7 Rn 52, 96 § 7 Rn 105; § 8 Rn 52 § 20 Rn 42 § 7 Rn 133 § 7 Rn 28 § 7 Rn 15; § 18 Rn 7; § 20 Rn 7 § 9 Rn 15; § 26 Rn 92 § 21 Rn 22 § 15 Rn 23 § 21 Rn 37, 55 § 18 Rn 22 § 7 Rn 9

903

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Compassion in World Farming Coname Conegate Conforama Connect Austria Connolly

Slg 1998, I-1251

C-1/96

§ 8 Rn 63

Slg 2005, I-7287 Slg 1986, 1007 Slg 1991, I-997 Slg 2003, I-5197 Slg 2001, I-1611

C-231/03 121/85 C-312/89 C-462/99 C-274/99

§ 1 Rn 52; § 7 Rn 41 § 8 Rn 85, 101 § 7 Rn 97 § 27 Rn 51 § 14 Rn 5; § 17 Rn 1 ff, 12, 20, 26 ff, 29 f § 8 Rn 102

Consorzio del Prosciutto di Parma Corbeau Corsica Ferries Corsica Ferries (France) Corsica Ferries France Costa/ENEL

Slg 2003, I-5121

C-108/01

Slg 1993, I-2533 Slg 1994, I-1783 Slg 1989, 4441 Slg 1998, I-3949 Slg 1964, 1251

C-320/91 C-18/93 C-49/89 C-266/96 6/64

Costanzo

Slg 1989, 1839

103/88

Country Landowners Association Cowan

Slg 1995, I-3875

C-38/94

Slg 1989, 195

186/87

Cristini CT Control BV und JCT Benelux BV Culin Cullet Cwik D’Hoop

Slg 1975, 1085 Slg 1993, I-3873

32/75 C-121/91

Slg 1990, I-225 Slg 1985, 305 Slg 2001, I-10269 Slg 2002, I-6191

343/87 231/83 C-340/00 C-224/98

DAFSE Daily Mail

Slg 2001, I-673 Slg 1988, 5483

C-413/98 81/87

Damgaard Danfoss A/S Danielsson Dansk Supermarked Danske Slagterier Dassonville

Slg 2009, I-02629 Slg 1989, 3199 Slg 1995, II-3051 Slg 1981, 181 Slg 2009, I-2119 Slg 1974, 837

C-421/07 109/88 T-219/95 R 58/80 C-445/06 8/74

Data Delecta Aktiebolag

Slg 1996, I-4661

C-43/95

904

§ 23 Rn 8, 10 § 11 Rn 78 § 11 Rn 47 § 8 Rn 53 § 2 Rn 23, 55; § 7 Rn 7, 11; § 11 Rn 6; § 14 Rn 4, 123 § 7 Rn 11; § 14 Rn 51 § 20 Rn 20 § 7 Rn 90; § 13 Rn 2, 7; § 15 Rn 24; § 26 Rn 9, 96 § 9 Rn 23 § 27 Rn 69 § 15 Rn 23 § 8 Rn 70, 73 § 17 Rn 2, 12, 27, 29 f § 1 Rn 50; § 7 Rn 18; § 26 Rn 92 § 27 Rn 61 § 7 Rn 27; § 10 Rn 30, 70, 72 § 17 Rn 10, 29 § 21 Rn 47 § 15 Rn 18 § 7 Rn 57;§ 8 Rn 21 § 27 Rn 53 § 1 Rn 48; § 7 Rn 30; § 8 Rn 37; § 12 Rn 6, 7 § 7 Rn 105; § 27 Rn 48

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

De Agostini

Slg 1997, I-3843

C-34/95

De Cuyper De Groot De Lasteyrie du Saillant

Slg 2006, I-6947 Slg 2002, I-11819 Slg 2004, I-2409

C-406/04 C-385/00 C-9/02

Deak DEB Debus Decker

Slg 1985, 1873 Slg 2010, I-13849 Slg 1992, I-3617 Slg 1998, I-1831

94/84 C-279/09 C-113/91 C-120/95

Defrenne I Defrenne II

Slg 1971, 445 Slg 1976, 455

80/70 43/75

Defrenne III Delay Delhaize Deliège

Slg 1978, 1365 Slg 2008, I-3635 Slg 1992, I-3669 Slg 2000, I-2549

149/77 C-276/07 C-47/90 C-51/96

Dell’Orto Demirel Denkavit Denkavit Dereci Der Grüne Punkt Derin Deutscher Apothekerverband e.V. (s a DocMorris) Deutsche Milchkontor Deutsche Paracelsus Schulen Deutsche Post Deutsche Post II Deutsche Telekom Deutschland/Parlament u Rat Deutschland/Parlament u Rat Deutschland/Parlament u Rat Deutschland/Rat

Slg 2007, I-5557 Slg 1987, 3719 Slg 1991, I-3069 Slg 2000, II-3011 Slg 2011, I-11315 Slg 2009, I-6155 Slg 2007, I-6495 Slg 2003, I-14887

C-467/05 12/86 C-39/90 T-20/99 C-256/11 C-385/07 C-325/05 C-322/01

Slg 1994, I-2757 Slg 2002, I-6515

C-426/92 C-294/00

§ 7 Rn 84, 99 f, 114; § 8 Rn 46, 48, 70; § 11 Rn 95, 111 § 7 Rn 18; § 26 Rn 47 § 9 Rn 22 § 7 Rn 4; § 10 Rn 39, 53 f, 61 § 9 Rn 29 § 27 Rn 43 § 8 Rn 94 § 1 Rn 46; § 7 Rn 118, 120; § 8 Rn 62, 70, 73, 90, 93; § 22 Rn 20 § 21 Rn 37 § 7 Rn 17; § 14 Rn 4; § 21 Rn 32, 54 § 21 Rn 34 § 9 Rn 39 § 8 Rn 88 § 7 Rn 57; § 9 Rn 7; § 11 Rn 123, 127; § 17 Rn 40, 52 § 27 Rn 44 § 7 Rn 50; § 10 Rn 7 § 8 Rn 63, 101 § 27 Rn 22 § 7 Rn 18; § 26 Rn 36 § 27 Rn 40 § 26 Rn 32 § 1 Rn 48; § 7 Rn 8, 21 f, 28, 112; § 8 Rn 47 § 8 Rn 85 § 10 Rn 55

Slg 2000, I-929 Slg 2000, I-825 Slg 2000, I-743 Slg 1997, I-2405

C-270/97 C-147/97 C-50/96 C-233/94

§ 21 Rn 6 § 23 Rn 8 § 27 Rn 38 § 25 Rn 8, 11

Slg 2000, I-8423

C-376/98

§ 17 Rn 13, 26

Slg 2006, I-11573

C-380/03

Slg 1998, I-973

C-122/95

§ 7 Rn 9; § 17 Rn 2, 13, 17, 26, 27 ff § 14 Rn 59

905

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Deutschland/Rat

Slg 1994, I-4973

C-280/93

Deville Digital Rights Ireland Di Lenardo Di Leo

Slg 1988, 3513 Slg 2004, I-6911 Slg 1990, I-4185

240/87 C-293/12 C-37/02 C-308/89

Diatta Dilexport DocMorris (s a Deutscher Apothekerverband e.V.) DocMorris II Dominguez

Slg 1985, 567 Slg 1999, I-578 Slg 2003, I-14887

267/83 C-343/96 C-322/01

Slg 2009, I-4171 EuZW 2012, 342

C-171/07 C-282/10

Donà

Slg 1976, 1333

13/76

Dory Dow Benelux Dow Chemical

Slg 2001, I-7823 Slg 1989, 3137 Slg 1989, 3165

C-186/01 C-85/87 C-97/87

Drei Glocken Dubois et Fils

Slg 1988, 4233 Slg 1998, II-125

407/85 T-113/96

Du Pont de Nemours Italiana Duff Dynamic Medien Verlag

Slg 1990, I-889

21/88

§ 14 Rn 98, 111 ff; § 19 Rn 3, 17, 20, 33, 35 f, 38 f; § 20 Rn 17, 21, 23, 44, 45, 49 f; § 21 Rn 5 § 27 Rn 50 § 14 Rn 109, 112, 115 § 19 Rn 12, 33, 35 § 9 Rn 29, 37; § 15 Rn 7 § 9 Rn 29 § 27 Rn 49 f § 1 Rn 48; § 7 Rn 8, 21 f, 28, 104, 112; § 8 Rn 45 § 7 Rn 22 § 14 Rn 49; § 22 Rn 37 § 7 Rn 57; § 11 Rn 117, 120 § 27 Rn 41 § 16 Rn 14, 21 f § 14 Rn 41; § 16 Rn 14, 21 § 7 Rn 1 § 19 Rn 33, 35; § 20 Rn 42 § 7 Rn 116

Slg 1996, I-569 Slg 2008, I-505

C-63/93 C-244/06

Earl de Kerlast Echternach u Moritz Edeka

Slg 1997, I-1961 Slg 1989, I-723 Slg 1982, 2745

C-15/95 389/87 245/81

Edis EDSrl EDV-Systeme Eind EKW u Wan El Corte Inglés El Dridi Elenca Elf Aquitaine Elsen

Slg 1998, I-4951 Slg 1999, I-3845 Slg 1989, 4035 Slg 2007, I-10719 Slg 2000, I-1157 Slg 1996, I-1281 Slg 2011, I-3015 EuZW 2013, 21 Slg 2011, I-8947 Slg 2000, I-10409

C-231/96 C-412/97 3/88 C-291/05 C-437/97 C-192/94 C-61/11 C-385/10 C-521/09 P C-135/99

906

§ 19 Rn 14, 21, 38 § 7 Rn 96, 132 f; § 17 Rn 3, § 8 Rn 45 § 21 Rn 14 § 18 Rn 20 § 14 Rn 42; § 21 Rn 16 § 27 Rn 49 f § 8 Rn 52, 57 § 11 Rn 61 § 9 Rn 29 § 14 Rn 53 § 25 Rn 4, 12 § 27 Rn 41 § 8 Rn 50 § 27 Rn 20 § 26 Rn 41

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Elz Eman u Sevinger Emesa Sugar Emmott ENI SpA Enso Española

Slg 1976, 1097 Slg 2006, I-8055 Slg 2000, I-665 Slg 1991, I-4269 Slg 1998, II-1875

56/75 C-300/04 C-17/98 C-208/90 C-508/11 P T-348/94

EPAC Erasmus Ergat Eridiana

Slg 2000, II-2267 Slg 1989, I-1425 Slg 2000, I-487 Slg 1979, 2749

T-204/97 242/87 C-329/97 230/78

Ernst Engelmann Erny Erste Group Bank AG ERT

Slg 2010, I-8219 NZA 2012, 683 Slg 2009, I-8681 Slg 1991, I-2925

C-285/01 C-172/11 C-125/07 P C-260/89

Estland/Kommission ET Agrokonsulting-04Velko Stoyanov Eurofood Eurotunnel Evans Medical EWR Exportur Eyckeler u Malt Eyüp

Slg 2009, II-3463

T-263/07 C-93/12

§ 20 Rn 21 § 26 Rn 63 § 1 Rn 31; § 27 Rn 38 § 27 Rn 53 § 27 Rn 20 § 27 Rn 3, 10, 18, 21, 23 § 27 Rn 10 § 18 Rn 22 § 9 Rn 32 § 19 Rn 18; § 20 Rn 21; § 21 Rn 14 § 7 Rn 119 § 7 Rn 61 § 27 Rn 20 § 1 Rn 31, 37; § 7 Rn 123; § 14 Rn 23, 65; § 15 Rn 11; § 17 Rn 2, 17 § 26 Rn 74 § 27 Rn 50

Slg 2006, I-3813 Slg 1997, I-6315 Slg 1995, I-563 Slg 1991, I-6079 Slg 1992, I-5529 Slg 1998, II-401 Slg 2000, I-4747

C-341/04 C-408/95 C-324/93 C-1/91 C-3/91 T-42/96 C-65/98

Faccini Dori Fachverband der Buchu Medienwirtschaft Factortame

Slg 1994, I-3325 Slg 2009, I-3717

C-91/92 C-531/07

Slg 1990, I-2433

C-213/89

Familiapress

Slg 1997, I-3689

C-368/95

Fantask Faust Fedesa Fedicine

Slg 1997, I-6783 Slg 1982, 3745 Slg 1990, I-4023 Slg 1993, I-2239

C-188/95 52/81 331/88 C-17/92

§ 27 Rn 43 § 27 Rn 31 § 8 Rn 14, 72 f, 75 § 26 Rn 1 § 8 Rn 88 § 27 Rn 11, 63 f § 9 Rn 32; § 16 Rn 56 § 25 Rn 12 § 7 Rn 99 § 7 Rn 11, 41; § 10 Rn 20, 24; § 27 Rn 51, 53, 55 § 2 Rn 13; § 7 Rn 84, 118, 123; § 8 Rn 44, 61, 69, 81, 93; § 14 Rn 24, 73; § 17 Rn 2, 7, 17 f, 27 f § 27 Rn 53 § 20 Rn 21 § 14 Rn 112, 114 § 18 Rn 7

907

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

FEG FENIN/Kommission Ferlini Fernández de Bobadilla Feryn Festersen FFSA Fidium Finanz

Slg 2006, I-8725 Slg 2006, I-6295 Slg 2000, I-8081 Slg 1999, I-4773 Slg 2008, I-5187 Slg 2007, I-1129 Slg 1997, II-229 Slg 2006, I-9521

C-105/04 C-205/03 C-411/98 C-234/97 C-54/07 C-370/05 T-106/95 C-452/04

Fietje Finalarte Finsider Firma Kampffmeyer Fisher Fishermen’s Organisations

Slg 1980, 3839 Slg 2001, I-7831 Slg 1985, 2857 Slg 1967, 361 Slg 2000, I-6751 Slg 1995, I-3115

27/80 C-49/98 63/84 3/66 ua C-369/98 C-44/94

Fiskano FKP Scorpio Konzertproduktionen Flämische Pflegeversicherung Flughafen HannoverLangenhagen Football Association

Slg 1994, I-2885 Slg 2006, I-9461

C-135/92 C-290/04

§ 27 Rn 8 § 23 Rn 5 § 9 Rn 19 § 9 Rn 39, 55 § 21 Rn 22 § 12 Rn 2 § 23 Rn 8 § 7 Rn 49, 76, 78; § 11 Rn 39, 42; § 12 Rn 2, 55 § 7 Rn 96, § 25 Rn 7 § 9 Rn 35 § 19 Rn 10 § 20 Rn 14 § 16 Rn 40 § 11 Rn 108; § 14 Rn 114; § 19 Rn 3, 17, 33, 37 f § 27 Rn 11, 63 § 11 Rn 39, 41, 145

Slg 2008, I-1683

C-212/06

§ 7 Rn 105

Slg 2003, I-11893

C-363/01

§ 20 Rn 10, 12, 22, 34

EuZW 2012, 466 ff

§ 11 Rn 70

Forcheri Foster Förster Foto Frost

Slg 1983, 2324 Slg 1990, I-3313 Slg 2008, I-8507 Slg 1987, 4199

C-403/08 C-429/08 152/82 C-188/89 C-154/07 314/85

Fra.bo

EuZW 2012, 797

C-171/11

France Aviation France Télécom Franchet u Byk Francovich

Slg 1995, II-2841 Slg 2007, II-521 Slg 2008, II-1585 Slg 1991, I-5357

T-346/94 T-340/03 T-48/05 C-6/90

Frankreich u Irland

Slg 1996, I-795

C-296/93

Fransson

EuZW 2013, 302

C-617/10

Fremdenführer (Frankreich)

Slg 1991, I-659

C-154/89

908

§ 18 Rn 20 § 7 Rn 52 § 9 Rn 2; § 26 Rn 95 § 7 Rn 138; § 14 Rn 120; § 27 Rn 56, 66 § 7 Rn 8, 57; § 8 Rn 21 § 27 Rn 63 § 27 Rn 15 § 27 Rn 44 § 14 Rn 41, 51, 123; § 27 Rn 50 § 14 Rn 114; § 20 Rn 28 § 6 Rn 66; § 14 Rn 63, 74; § 27 Rn 46 § 11 Rn, 58, 95

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Fremdenführer (Spanien) Fremdenführer (Griechenland) Fruchthandelsgesellschaft Fuchs Fuß Gaal Gambazzi Gambelli

Slg 1994, I-923 Slg 1991, I-727

C-375/92 C-198/89

§ 11 Rn 77 § 11 Rn 110

Slg 1999, II-2743 EuZW 2011, 767 Slg 2010, I-9849 Slg 1995, I-1031 Slg 2009, I-2563 Slg 2003, I-13031

T-254/97 C-160/10 C-243/09 C-7/94 C-394/07 C-243/01

Garcia Avello

Slg 2003, I-11613

C-148/02

Garland Gasparini Gaston Schul Gaumain-Cerri Gaydarov GB-INNO-BM

Slg 1982, 359 Slg 2006, I-9199 Slg 2005, I-10513 Slg 2004, I-6483 Slg 2011, I-11637 Slg 1990, I-667

12/81 C-467/04 C-461/03 C-31/02 C-430/10 C-362/88

Gebhard

Slg 1995, I-4165

C-55/94

Geddo GEMO Genc General Química Generics Gerster Geven Gewerkschaftsbund europäischer öffentlicher Dienst Giersch Gilly Gisela Gerken Gloszczuk Goicoechea González Sánchez Google Spain

Slg 1973, 865 Slg 2003, I-13769 Slg 2010, I-931 Slg 2011, I-1 Slg 1998, I-7976 Slg 1997, I-5253 Slg 2007, I-6347 Slg 1974, 917

2/73 C-126/01 C-14/09 C-90/09 P C-368/96 C-1/95 C-213/05 175/73

§ 20 Rn 21 § 14 Rn 117 § 7 Rn 11; § 14 Rn 51 § 27 Rn 34 § 27 Rn 43 § 7 Rn 130; § 11 Rn 105, 132, 134 f § 8 Rn 15; § 13 Rn 8; § 26 Rn 32, 94 § 21 Rn 33 § 27 Rn 44 § 27 Rn 56 § 26 Rn 92 § 26 Rn 41 § 8 Rn 48; § 23 Rn 8; § 25 Rn 7 § 1 Rn 49; § 7 Rn 30, 76, 133; § 9 Rn 51; § 10 Rn 21, 26 f, 30, 41, 61; § 11 Rn, 66, 102 § 8 Rn 25 § 23 Rn 5 § 9 Rn 32 § 27 Rn 20 § 20 Rn 27, 43, 45 § 21 Rn 29, 34 f, 45 § 9 Rn 26 § 17 Rn 42

Slg 1998, I-2793 Slg 2004, I-6369 Slg 2001, I-6369 NJW 2009, 657 Slg 2002, I-3901

C-20/12 C-336/96 C-295/02 C-63/99 C-296/08 C-183/00 C-131/12

Gottwald

Slg 2009, I-9117

C-103/08

Gourmet International Gouvernement de la Communauté française

Slg 2001, I-1795 Slg 2008, I-1683

C-405/98 C-212/06

§ 26 Rn 92 § 8 Rn 73 § 27 Rn 7 § 10 Rn 8 § 27 Rn 41 § 25 Rn 11 § 7 Rn 50; § 14 Rn 24, 27, 94 § 13 Rn 23; § 26 Rn 95 § 8 Rn 28, 46 ff § 7 Rn 25; § 8 Rn 52; § 26 Rn 36

909

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Grado und Bashir Graf

Slg 1997, I-5531 Slg 2000, I-493

C-291/96 C-190/98

§ 27 Rn 46 § 7 Rn 30, 105 f; § 8 Rn 18, 53; § 9 Rn 43

Graff Graffione Grant

Slg 1994, I-3361 Slg 1996, I-6039 Slg 1998, I-621

C-351/92 C-313/94 C-249/96

Grauel Gravier

EuZW 2014, 393 Slg 1985, 593

C-322/13 293/83

Greenham und Abel Griesmar Groener Groenveld Grogan

Slg 2004, I-1333 Slg 2001, I-9383 Slg 1989, 3967 Slg 1979, 3409 Slg 1991, I-4685

C-95/01 C-366/99 379/87 15/79 C-159/90

Groupe Danone Groupe Gascogne Grunkin und Paul Grzelczyk

Slg 2007, I-1331 EuZW 2014, 142 Slg 2008, I-7639 Slg 2001, I-6193

C-3/06 C-58/12 P C-353/06 C-184/99

Guarnieri Guérin Automobiles Guérin Automobiles

Slg 2011, I-2685 Slg 1998, II-253 Slg 1999, I-1441

C-291/09 T-275/97 C-153/98

Guillot Guiot Gullung Gut Springenheide u Tusky Gutachten 2/94 Gutmann Gysbrechts Haag II Haegeman

Slg 1974, 791 Slg 1996, I-1905 Slg 1988, 1 Slg 1998, I-4657

53/72 C-272/94 227/85 C-210/96

Slg 1996, I-1759 Slg 1966, 154 Slg 2008, I-9947 Slg 1990, I-3711 Slg 1974, 449

C-2/94 18/65 C-205/07 C-10/89 181/73

Hagenmeyer u Hahn Halliburton Hartlauer

Slg 1994, I-1137 Slg 2009, I-1721

T-17/12 C-1/93 C-169/07

Hartmann Hassan Hassan u Ayadi

Slg 2007, I-6303 Slg 2006, II-52 Slg 2009, I-11393

C-212/05 T-49/04 C-399/06

910

§ 8 Rn 44 § 16 Rn 54; § 21 Rn 43 § 27 Rn 48 § 13 Rn 8; § 18 Rn 21; § 26 Rn 9 § 27 Rn 48 § 21 Rn 45 § 9 Rn 39, 55 § 7 Rn 30; § 8 Rn 57 § 8 Rn 11; § 11 Rn 48; § 15 Rn 19; § 17 Rn 11, 14 § 26 Rn 77; § 27 Rn 16 § 27 Rn 40 § 7 Rn 18; § 26 Rn 94 § 1 Rn 50; § 7 Rn 18, 66; § 9 Rn 2; § 10 Rn 50; § 13 Rn 12; § 26 Rn 92, 94 § 8 Rn 53 § 27 Rn 13 § 26 Rn 75; § 27 Rn 13, 24 § 18 Rn 9 § 7 Rn 30 § 26 Rn 32 § 25 Rn 7 § 1 Rn 40; § 14 Rn 6 § 14 Rn 39 § 7 Rn 30; § 8 Rn 57 § 8 Rn 19 § 7 Rn 50; § 14 Rn 34 § 27 Rn 25 § 12 Rn 20 § 7 Rn 130; § 11 Rn 137 § 9 Rn 26 § 27 Rn 39 § 20 Rn 50

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Hauer

Slg 1979, 3727

44/79

Hauptzollamt HamburgJonas Hautala Hautala Hayes

Slg 1988, 2213

316/86

§ 14 Rn 6; § 19 Rn 14, 29, 35; § 20 Rn 12 ff, 16, 18, 25, 32, 34, 40, 45, 50 § 27 Rn 43

Slg 1999, II-2489 Slg 2001, I-9565 Slg 1997, I-1711

T-14/98 C-353/99 C-323/95

Hecq Hedley Lomas

Slg 1990, I-599 Slg 1996, I-2553

C-116/88, C-149/88 C-5/94

Heijn Heinonen Henn und Darby Hennen Olie Herbert Karner

Slg 1984, 3263 Slg 1999, I-3599 Slg 1979, 3795 Slg 1990, I-4625 Slg 2004, I-3025

94/83 C-394/97 34/79 302/88 C-71/02

Herbert Meister Hercules Chemicals Hermès Hessen Heuschen u Schrouff Heylens

Slg 2004, II-1477 Slg 1991, II-1711 Slg 1998, I-3603 Slg 2002, I-5089 Slg 2008, I-869 Slg 1987, 4097

T-76/03 T-7/89 C-53/96 C-360/00 C-375/07 222/86

Hilti Hit Larix Hocsman Hoechst

Slg 1990, II-163 NVwZ 2012, 1165 ff Slg 2000, I-6623 Slg 1989, 2859

T-30/89 C-176/11 C-238/98 46/87

Höfner u Elser Hoever und Zachow

Slg 1991, I-1979 Slg 1996, I-4895

C-41/90 C-245/94

Hoffmann Hoffmann-La Roche Hoffmann-La Roche Hoogovens Groep Hosse Houtwipper

Slg 2003, I-2921 Slg 1978, 1139 Slg 1979, 461 Slg 1985, 2831 Slg 2006, I-1771 Slg 1994, I-4249

C-144/00 102/77 85/76 172/83 C-286/03 C-293/93

§ 27 Rn 22 § 27 Rn 22 § 13 Rn 1, 13, 27; § 27 Rn 48 § 17 Rn 48, 52 § 7 Rn 124; § 8 Rn 62, 64 § 8 Rn 95 § 8 Rn 102 § 8 Rn 85 § 7 Rn 52 § 7 Rn 76; § 8 Rn 46; § 14 Rn 75; § 17 Rn 13, 25, 27 ff § 17 Rn 12 § 27 Rn 11 § 10 Rn 10 § 18 Rn 7 § 27 Rn 66 § 7 Rn 41; § 19 Rn 21; § 27 Rn 45 f § 16 Rn 26 § 11 Rn 132 § 9 Rn 3 § 1 Rn 31; § 2 Rn 44; § 7 Rn 109; § 14 Rn 6, 41, 57, 98, 105; § 16 Rn 14, 21, 23; § 19 Rn 34; § 20 Rn 14 § 22 Rn 31 § 9 Rn 26, 35; § 26 Rn 87 § 18 Rn 7 § 8 Rn 88 § 24 Rn 3; § 27 Rn 3 § 20 Rn 21, 42 § 9 Rn 23 § 7 Rn 133

911

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Huber

Slg 2008, I-9705

C-524/06

Hudzinski und Wawrzyniak Humanplasma Humbel Hünermund Hurd Iaia Ibrahim

DÖV 2012, 688

ICI Ideal Standard Iida Impact Imperial Tobacco INAIL Inspire Art

Slg 1995, II-1847 Slg 1994, I-2789 NVwZ 2013, 357 Slg 2008, I-2483 Slg 2000, I-8599 Slg 2002, I-691 Slg 2003, I-10155

C-611/10 und 612/10 C-421/09 263/86 C-292/92 44/84 C-452/09 C-310/08, C-480/08 T-36/91 C-9/93 C-40/11 C-268/06 C-74/99 C-218/00 C-167/01

§ 13 Rn 25; § 26 Rn 46 § 9 Rn 26

International Cadmium Association Internationale Handelsgesellschaft

Slg 2010, I-12869 Slg 1988, 5365 Slg 1993, I-6787 Slg 1986, 29 Slg 2011, I-4043 Slg 2010, I-1065

T-456/11 Slg 1970, 1125

11/70

International Transport Interporc Interporc Inuit Tapiriit Kanatami Inuit Tapiriit Kanatami Invest Ioannidis Irish Farmers Association Ismeri Italien/Kommission Italien/Kommission ITC

Slg 2005, I-8151 Slg 1998, II-231 Slg 2003, I-2125 Slg 2011, II-5599 EuZW 2014, 22 Slg 2000, I-9541 Slg 2005, I-8275 Slg 1997, I-1809 Slg 2001, I-5281 Slg 1985, 873 Slg 2008, II-3207 Slg 2007, I-181

C-495/03 T-124/96 C-41/00 T-18/10 C-583/11 P C-317/00 C-258/04 C-22/94 C-315/99 P 41/83 T-185/05 C-208/05

Jägerskiöld Jänsch Jany

Slg 1999, I-7319 Slg 1987, 4923 Slg 2001, I-8615

C-97/98 277/84 C-268/99

Jégo-Quéré Jégo-Quéré Jenkins Jeremy F.

Slg 2002, II-2365 Slg 2004, I-3425 Slg 1981, 911

T-177/01 C-263/02 96/80 C-168/13

912

§ 8 Rn 101 § 11 Rn 47 § 7 Rn 52; § 8 Rn 48 § 13 Rn 15 § 27 Rn 53 § 9 Rn 29 § 27 Rn 11 § 8 Rn 19 § 26 Rn 36 § 14 Rn 44 § 27 Rn 27 § 9 Rn 7 § 7 Rn 1, 4, 79, 132 f; § 10 Rn 70 f, 75 § 27 Rn 30 § 1 Rn 30; § 7 Rn 11; § 14 Rn 4 f, 56; § 20 Rn 14 f; § 26 Rn 5 § 14 Rn 123 § 27 Rn 22 § 26 Rn 71 § 27 Rn 28 § 7 Rn 142; § 27 Rn 28 § 20 Rn 28 § 26 Rn 92 § 20 Rn 45 § 26 Rn 75 § 20 Rn 7 § 27 Rn 12 § 7 Rn 4; § 8 Rn 15; § 11 Rn 146 § 8 Rn 8 § 15 Rn 23 § 7 Rn 4; § 8 Rn 12; § 9 Rn 13, 35; § 10 Rn 8, 23; § 11 Rn 67 § 27 Rn 27, 29 f § 27 Rn 27, 30 § 21 Rn 47 § 27 Rn 41

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Jeunehomme Jipa

Slg 1988, 4517 Slg 2008, I-5157

123/87 C-33/07

Jippes

Slg 2001, I-5689

C-189/01

Johnston

Slg 1986, 1651

222/84

Josemans

Slg 2010, I-13019

C-137/09

JT’s Corporation Ltd Jundt

Slg 2000, II-3269 Slg 2007, I-12231

T-123/99 C-281/06

Jungbunzlauer K.B.

Slg 2006, II-3435 Slg 2004, I-541

T-43/02 C-117/01

Kaba

Slg 2000, I-2623

C-356/98

Kaba II Kadi

Slg 2003, I-2219 Slg 2005, II-3649

C-466/00 T-315/01

Kadi

Slg 2008, I-6351

C-415/05 P u C-402/05 P

Kadi II Kalanke

EuGRZ 2013, 389 Slg 1995, I-3051

C-584/10 P ua C-450/93

Kamberaj Kanatami Kanatami Karlsson

NVwZ 2012, 950 EuZW 2012, 395 EuZW 2014, 22 Slg 2000, I-2737

C-571/10 T-18/10 C-583/11 C-292/97

Kaske Kapasakalis Kaufring Kaur Keck

Slg 2002, I-1261 Slg 1998, I-4239 Slg 2001, II-1337 Slg 2001, I-1237 Slg 1993, I-6097

C-277/99 C-225/95 T-147/99 C-192/99 C-267/91

Keller Kemikalieinspektion Kempf Kenny

Slg 1986, 2897 Slg 2000, I-5681 Slg 1986, 1741 Slg 1978, 1489

234/85 C-473/98 139/85 1/78

§ 27 Rn 50 § 16 Rn 19; § 26 Rn 41 § 14 Rn 112; § 24 Rn 7 § 1 Rn 31; § 7 Rn 41; § 21 Rn 29; § 27 Rn 45 § 7 Rn 111, 130; § 8 Rn 14; § 11 Rn 70 § 27 Rn 10, 22 § 11 Rn 145; § 18 Rn 21 § 26 Rn 77 § 3 Rn 11; § 16 Rn 56; § 21 Rn 30, 47 § 9 Rn 2, 23, 29; § 15 Rn 7; § 27 Rn 38 § 9 Rn 29 § 1 Rn 39; § 14 Rn 34 f; § 27 Rn 39 § 1 Rn 39; § 14 Rn 4, 6, 33 ff; § 20 Rn 44, 50, 53; § 26 Rn 76; § 27 Rn 11, 39 § 1 Rn 39 § 7 Rn 17; § 21 Rn 35, 45 § 14 Rn 29 § 14 Rn 119 § 14 Rn 119 § 14 Rn 42, 65, 107, 109, 112; § 21 Rn 14 § 9 Rn 26 § 9 Rn 19 § 27 Rn 64 § 9 Rn 28; § 26 Rn 27 § 1 Rn 48; § 7 Rn 98 ff; § 8 Rn 41 ff; § 9 Rn 43; § 10 Rn 55; § 11 Rn 87; § 12 Rn 6; § 17 Rn 13 § 19 Rn 4, 29, 33 § 8 Rn 102 § 9 Rn 5, 10 § 9 Rn 38

913

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Ker-Optika

Slg 2010, I-12213

C-108/09

Khalil KHS Kik Kik

Slg 2001, I-7413 Slg 2011, I-11757 Slg 2001, II-2235 Slg 2003, I-8283

C-95/99 C-214/10 T-120/99 C-361/01

Kirsammer-Hack KL Meyer Kley Klöckner-Werke AG KME Germany Knoors Köbler Kohl Kohll

Slg 1993, I-6185 Slg 1999, II-3273 Slg 1973, 679 Slg 1962, 655 Slg 2011, I-12789 Slg 1979, 399 Slg 2003, I-10239 Slg 1984, 3651 Slg 1998, I-1931

C-189/91 T-106/99 35/72 17/61 C-272/09 115/78 C-224/01 177/83 C-158/96

Kolpak Kolpinghuis Kommission/BASF Kommission/Belgien

Slg 2003, I-4135 Slg 1987, 3969 Slg 1994, I-2555 Slg 1980, 3881

C-438/00 80/86 C-137/92 149/79

Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien

Slg 1988, 5445 Slg 1992, I-305 Slg 1992, I-4431

42/87 C-300/90 C-2/90

Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien

Slg 1992, I-6757 Slg 1993, I-6295 Slg 1993, I-673 Slg 1994, I-1593 Slg 1997, I-1035 Slg 1998, I-5063 Slg 1999, I-3999 Slg 2000, I-1221 Slg 2000, I-3123 Slg 2000, I-7587 Slg 2002, I-4809 Slg 2004, I-6427 Slg 2006, I-2647 Slg 2006, I-10653 Slg 2007, I-4269 IStR 2013, 503 EuZW 2013, 234

C-211/91 C-37/93 C-173/91 C-47/93 C-344/95 C-323/96 C-172/98 C-355/98 C-388/95 C-478/98 C-503/99 C-65/03 C-408/03 C-433/04 C-254/05 C-383/10 C-577/10

§ 7 Rn 8, 76, 96; § 8 Rn 47, 102; § 11 Rn 70 § 9 Rn 28 § 22 Rn 36 § 27 Rn 12 § 26 Rn 70; § 27 Rn 12 § 21 Rn 52 § 27 Rn 22 § 18 Rn 5, 8 f § 21 Rn 12 § 27 Rn 18 § 7 Rn 27 § 27 Rn 22 § 7 Rn 113 § 1 Rn 46; § 7 Rn 1; 118; § 8 Rn 73; § 11 Rn 47, 94 f; § 22 Rn 20 § 9 Rn 31 § 27 Rn 1 § 14 Rn 50 § 7 Rn 83; § 9 Rn 27; § 26 Rn 20 § 9 Rn 29 § 12 Rn 13, 19 § 8 Rn 8, 70 f, 90; § 24 Rn 9 § 11 Rn 93 § 9 Rn 37 § 21 Rn 33 § 13 Rn 21 § 9 Rn 15 § 27 Rn 53 § 13 Rn 8 § 9 Rn 55 § 8 Rn 57, 88, 92,102 § 12 Rn 19 § 7 Rn 76; § 12 Rn 23 § 18 Rn 21 § 14 Rn 109 § 11 Rn 145 § 8 Rn 102 § 11 Rn 145 § 7 Rn 28, 133

914

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Kommission/Dänemark

Slg 1988, I-4607

302/86

Kommission/Dänemark Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland

Slg 2003, I-9693 Slg 1979, 2555 Slg 1985, 1459 Slg 1986, 2519 Slg 1986, 3755 Slg 1987, 1227

C-192/01 153/78 248/83 116/82 205/84 178/84

Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland

Slg 1989, 1263 Slg 1989, 229 Slg 1989, 3997 Slg 1990, I-2879 Slg 1991, I-883 Slg 1992, I-2575

249/86 274/87 186/88 217/88 C-57/89 C-62/90

Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland

Slg 1992, I-3141 Slg 1994, I-2039 Slg 1994, I-3303 Slg 1998, I-2133 Slg 1998, I-6871 Slg 2002, I-5811 Slg 2002, I-9977 Slg 2004, I-11705 Slg 2005, I-2733 Slg 2006, I-885 Slg 2006, I-3449 Slg 2007, I-6957

C-195/90 C-317/92 C-131/93 C-24/97 C-102/96 C-287/00 C-325/00 C- 463/01 C-341/02 C-244/04 C-441/02 C-318/05

Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland

Slg 2007, I-8995 Slg 2007, I-9811 Slg 2007, I-10239 Slg 2008, I-39 Slg 2008, I-6935

C-112/05 C-319/05 C-404/05 C-152/05 C-141/07

Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland

Slg 2009, I-7811 Slg 2010, I-1885 Slg 2010, I-7091 Slg 2011, I-4355

C-269/07 C-518/07 C-271/08 C-54/08

Kommission/Deutschland Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich

EuZW 2013, 946 Slg 1986, 1725 Slg 1986, 273 Slg 1996, I-1307

C-95/12 307/84 270/83 C-334/94

§ 8 Rn 90, 93; § 24 Rn 9 f § 8 Rn 95 § 8 Rn 61 § 21 Rn 34 § 19 Rn 29 § 10 Rn 30 f, 36 § 7 Rn 1; § 8 Rn 86, 95 ff, § 25 Rn 7 § 16 Rn 18 § 8 Rn 25, 69, 95, 101 § 8 Rn 32 § 27 Rn 55 § 24 Rn 9 § 8 Rn 81; § 11 Rn 98; § 15 Rn 11; § 16 Rn 14, 30 § 7 Rn 16; § 8 Rn 101 § 7 Rn 124 § 8 Rn 102 § 26 Rn 42 § 8 Rn 63 § 17 Rn 61 § 8 Rn 21 § 24 Rn 9 § 11 Rn 146 § 11 Rn 146 § 16 Rn 14; § 17 Rn 2 § 11 Rn 47, 145; § 19 Rn 43 § 7 Rn 1; § 12 Rn 24 f § 8 Rn 95 § 7 Rn 83 § 26 Rn 47 § 7 Rn 120; § 8 Rn 47, 52 § 9 Rn 23 § 16 Rn 43 § 17 Rn 43, 53 § 7 Rn 83, § 10 Rn 42, 45 ff, 54; § 11 Rn 61, 63 § 7 Rn 1 § 9 Rn 27 § 10 Rn 36 § 7 Rn 76

915

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Kommission/Frankreich

Slg 1997, I-6959

C-265/95

Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich

Slg 1997, I-5815 Slg 1997, I-6959 Slg 1998, I-5325 Slg 1998, I-6197 Slg 2000, I-1049 Slg 2000, I-1129 Slg 2000, I-1149 Slg 2002, I-4781

C-159/94 C-265/95 C-35/97 C-184/96 C-169/98 C-434/97 C-55/99 C-483/99

Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland

Slg 2004, I-2081 Slg 2004, I-6569 Slg 2006, I-2461 Slg 2006, I-10071 Slg 2010, I-757 Slg 1988, 1637 Slg 1991, I-1361 Slg 1991, I-5863 Slg 1995, I-1621

C-344/01 C-262/02 C-177/04 C-232/05 C-333/08 C-216/11 147/86 C-205/89 C-306/89 C-391/92

Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland Kommission/Irland

Slg 1996, I-3285 Slg 1998, I-1095 Slg 2001, I-7915 Slg 2004, I-8923 Slg 2011, I-65 EuZW 2013, 29 Slg 1981, 1625

C-290/94 C-187/96 C-398/98 C-475/01 C-155/09 C-244/11 113/80

Kommission/Irland Kommission/Irland Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien

Slg 1982, 4005 Slg 1997, I-3327 Slg 1968, 634 Slg 1982, 2187 Slg 1987, 2625 Slg 1990, I-4285 Slg 1992, I-777 Slg 1992, I-3401 Slg 1996, I-2691

249/81 C-151/96 7/68 95/81 225/85 67/88 C-235/89 C-360/89 C-101/94

Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien

Slg 2001, I-4923 Slg 2001, I-541 Slg 2002, I-1425 Slg 2002, I-2965 Slg 2002, I-305 Slg 2003, I-513

C-212/99 C-162/99 C-279/00 C-224/00 C-439/99 C-14/00

§ 1 Rn 52; § 8 Rn 17, 21; § 17 Rn 38 § 23 Rn 8 § 24 Rn 22 § 7 Rn 66; § 9 Rn 17 § 8 Rn 52, 102 § 9 Rn 39 § 14 Rn 53; § 8 Rn 95 § 8 Rn 96 f § 7 Rn 1; § 10 Rn 33; § 12 Rn 24 f § 12 Rn 20 § 7 Rn 110 § 25 Rn 11 § 27 Rn 55 § 8 Rn 95 § 7 Rn 124 § 7 Rn 82 § 7 Rn 113; § 8 Rn 67 § 10 Rn 45 § 7 Rn 100; § 8 Rn 45 f § 7 Rn 83 § 9 Rn 21, 51 § 8 Rn 73 § 14 Rn 50 § 7 Rn 119 § 10 Rn 33 § 7 Rn 113, 119; § 8 Rn 19, 32, 70 § 7 Rn 52; § 8 Rn 21 § 7 Rn 76 § 18 Rn 7 § 8 Rn 67 § 9 Rn 27 § 8 Rn 101 § 20 Rn 7 § 11 Rn 79 § 7 Rn 41; § 10 Rn 60 § 9 Rn 39 § 9 Rn 37 § 12 Rn 49 § 13 Rn 23 § 10 Rn 53d § 8 Rn 98

916

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Kommission/Italien

Slg 2003, I-721

C-388/01

Kommission/Italien Kommission/Italien

Slg 2007, I-7083 Slg 2009, I-519

C-260/04 C-110/05

Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Luxemburg

Slg 2009, I-3491 Slg 2011, I-2101 Slg 1993, I-817

C-518/06 C-565/08 C-111/91

Kommission/Luxemburg Kommission/Luxemburg Kommission/Luxemburg Kommission/Niederlande

Slg 1994, I-1891 Slg 1996, I-3207 Slg 2003, I-1553 Slg 1991, I-4069

C-118/92 C-473/93 C-458/00 C-353/89

Kommission/Niederlande Kommission/Niederlande Kommission/Österreich Kommission/Österreich

Slg 2006, I-9141 NVwZ-RR 2012, 697 Slg 2004, I-8291 Slg 2005, I-5969

C-282, 283/04 C-542/09 C-465/01 C-147/03

Kommission/Österreich Kommission/Österreich Kommission/Österreich Kommission/Österreich Kommission/Österreich

Slg 2005, I-9871 Slg 2006, I-9041 Slg 2008, I-10671 Slg 2011, I-13525

C-320/03 C-168/04 C-161/07 C-75/11 C-28/09

Kommission/Portugal

Slg 2002, I-4731

C-367/98

Kommission/Portugal Kommission/Portugal Kommission/Portugal Kommission/Portugal Kommission/Rat Kommission/Rat Kommission/Rat Kommission/Spanien Kommission/Spanien

Slg 2005, I-9665 Slg 2010, I-6817 Slg 2011, I-10889 EuZW 2012, 65 Slg 1989, 1425 Slg 2005, I-7879 Slg 2007, I-9097 Slg 1993, I-4221 Slg 1994, I-911

C-432/03 C-171/08 C-212/09 C-255/09 242/87 C-176/03 C-440/05 C-355/90 C-45/93

Kommission/Spanien

Slg 1998, I-6717

C-114/97

Kommission/Spanien

Slg 2003, I-4581

C-463/00

Kommission/Spanien Kommission/Spanien

Slg 2003, I-459 Slg 2008, I-111

C-12/00 C-207/07

§ 7 Rn 27, 119; § 8 Rn 73; § 13 Rn 25 § 11 Rn 132 § 7 Rn 3, 96, 101; § 8 Rn 29, 50; § 11 Rn 109 § 7 Rn 30, 96 § 10 Rn 53; § 11 Rn 87 § 13 Rn 23; § 26 Rn 87 § 9 Rn 21 § 9 Rn 27 § 24 Rn 9 § 8 Rn 90; § 17 Rn 3, 18 § 12 Rn 25, § 9 Rn 23 § 7 Rn 23; § 9 Rn 37 § 7 Rn 18; § 18 Rn 21; § 26 Rn 95 § 8 Rn 38 § 11 Rn 146 § 10 Rn 24a § 26 Rn 95 § 7 Rn 133; § 8 Rn 38, 101 f § 7 Rn 1; § 12 Rn 24; § 20 Rn 7 § 7 Rn 59 § 7 Rn 104 § 10 Rn 33; § 7 Rn 1, 120 § 26 Rn 9 § 27 Rn 44 § 27 Rn 44 § 24 Rn 9 § 7 Rn 27, 106; § 10 Rn 21; § 13 Rn 21 § 9 Rn 37; § 10 Rn 43, 45 f; § 11 Rn 61 § 7 Rn 132; § 10 Rn 33; § 12 Rn 6, 25 § 8 Rn 98 § 10 Rn 33; § 12 Rn 25

917

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Kommission/Spanien Kommission/Spanien Kommission/Spanien Kommission/Vereinigtes Königreich Kommission/Vereinigtes Königreich Kommission/Vereinigtes Königreich Kommission/Vereinigtes Königreich Kommission/Vereinigtes Königreich Koninklijke ScholtenHonig Konle

Slg 2009, I-9735 Slg 2010, I-5267 Slg 2011, I-1915 Slg 1983, 203

C-153/08 C-211/08 C-400/08 124/81

§ 7 Rn 119 § 7 Rn 105 § 7 Rn 30 § 8 Rn 25

Slg 1988, 547

261/85

§ 8 Rn 102

Slg 1992, I-829

C-30/90

§ 20 Rn 7

Slg 1992, I-5785

C-279/89

§ 9 Rn 38

Slg 2003, I-4644

C-98/01

§ 12 Rn 7, 24 f

Slg 1978, 1991

125/77

§ 21 Rn 14

Slg 1999, I-3099

C-302/97

Kowalska Kozlowski

Slg 1990, I-2591 Slg 2008, I-6041

C-33/89 C-66/08

Krantz Kraus

Slg 1990, I-583 Slg 1993, I-1663

69/88 C-19/92

Kreil

Slg 2000, I-69

C-285/98

Kremzow

Slg 1997, I-2629

C-299/95

Krombach Krüger GmbH Kücükdeveci Kühn

Slg 2000, I-1935 Slg 1997, I-4517 Slg 2010, I-365 Slg 1992, I-35

C-7/98 C-334/95 C-555/07 C-177/90

Kühne Kühne und Heitz Kuijer Kurz Kupferberg Kus Kuusijaervi La Conqueste SCEA La Conqueste SCEA Läärä

Slg 2001, I-9517 Slg 2004, I-837 Slg 2000, II-1959 Slg 2002, I-10691 Slg 1982, 3641 Slg 1992, I-6781 Slg 1998, I-3419 Slg 2001, II-181 Slg 2002, I-1179 Slg 1999, I-6067

C-269/99 C-453/00 T-188/98 C-188/00 104/81 C-237/91 C-275/96 T-215/00 C-151/01 C-124/97

Lair

Slg 1988, 3161

39/86

§ 12 Rn 2, 34 ff; § 20 Rn 7 § 21 Rn 33, 35 § 26 Rn 88; § 27 Rn 41 § 7 Rn 105 § 7 Rn 30; § 9 Rn 42, 51 § 1 Rn 46; § 7 Rn 17; § 21 Rn 29, 35 § 7 Rn 25; § 14 Rn 61, 65; § 27 Rn 46 § 27 Rn 43 § 27 Rn 56 § 14 Rn 81, § 21 Rn 22 § 19 Rn 17 f, 33, 35; § 20 Rn 21, 45 § 7 Rn 41 § 27 Rn 53 § 27 Rn 22 § 9 Rn 32 § 7 Rn 50 § 9 Rn 32 § 9 Rn 26 § 27 Rn 27 § 27 Rn 26, 70 § 7 Rn 119, 133; § 11 Rn 134, 138 § 7 Rn 1; § 9 Rn 17; § 13 Rn 7, 10; § 18 Rn 20

918

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Lambert Lancry Landeshauptstadt Kiel Lappelbank Laserdisken

Slg 1988, 4369 Slg 1994, I-3957 Slg 2003, I-8415 Slg 1996, I-3805 Slg 2006, I-8089

128/87 C-363/93 ua C-241/06 C-44/95 C-479/04

Lauder Laval

Slg 2000, I-117 Slg 2007, I-11767

C-220/98 C-341/05

Lawrence Lawrie-Blum

Slg 2002, I-7325 Slg 1986, 2121

C-320/00 66/85

Lebon Leclerc Leclerc Legris Industries Lehtonen

Slg 1987, 2811 Slg 1985, 1 Slg 1995, I-179 Slg 2000, I-2681

316/85 229/83 C-412/93 C-289/11 P C-176/96

Leichtle Lenz Les Fils de Jules Bianco Les Verts

Slg 2004, I-2641 Slg 2004, I-7063 Slg 1988, 1099 Slg 1986, 1339

C-8/02 C-315/02 331/85 294/83

Leukhardt

Slg 1989, 1991

113/88

Levin Lewark Lewen

Slg 1982, 1035 Slg 1996, I-243 Slg 1999, I-7243

53/81 C-457/93 C-333/97

Libert

EuZW 2013, 507

C-197/11

Liga Portuguesa Limburgse Vinyl Maatschappij Limburgse Vinyl Maatschappij Lindqvist

Slg 2009, I-7633 Slg 1999, II-931

C-42/07 T-305/94

§ 12 Rn 8, 31 § 13 Rn 15 § 22 Rn 36 § 24 Rn 9 § 17 Rn 2, 14, 20, 25, 27 ff § 8 Rn 99 § 11 Rn 146; § 14 Rn 91; § 15 Rn 9, 16; § 17 Rn 3, 43, 52 f; § 22 Rn 29 § 21 Rn 41 § 9 Rn 5, 27; § 21 Rn 28 § 9 Rn 23 § 8 Rn 90 § 8 Rn 46, 48 § 27 Rn 18, 20 § 7 Rn 30, 57; § 9 Rn 7; § 11 Rn 117, 124; § 17 Rn 52 f § 22 Rn 20 § 12 Rn 19 ff § 27 Rn 50 § 14 Rn 47; § 17 Rn 46; § 27 Rn 22 § 19 Rn 17, 38; § 20 Rn 44 § 9 Rn 5, 8 § 21 Rn 24, 33, 46, 57 § 21 Rn 32 f, 37, 39, 45 § 7 Rn 25, 109; § 12 Rn 2, 40 § 11 Rn 137 § 27 Rn 8

Slg 2002, I-8375

C-238/99

§ 15 Rn 2; § 27 Rn 8

Slg 2003, I-12971

C-101/01

Lisrestal

Slg 1996, I-5373

C-32/95

Loi Evin Lopes Da Silva Jorge

Slg 2004, I-6613 NJW 2013, 141

C-429/02 C-42/11

§ 16 Rn 49; § 17 Rn 3, 13, 20, 27 § 24 Rn 10; § 27 Rn 11 § 7 Rn 132 f § 26 Rn 95

919

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

LR AF 1998 Ludwigs-Apotheke München Lucaccioni Luciano Arcaro Luisi und Carbone

Slg 2002, II-1705 Slg 2007, I-9623

T-23/99 C-143/06

§ 27 Rn 11 § 8 Rn 102

Slg 1999, I-5251 Slg 1996, I-4705 Slg 1984, 377

C-257/98 C-168/95 286/82

Lütticke Lyyski MM Mac Quen

Slg 1966, 258 Slg 2007, I-99 NVwZ 2013, 59 Slg 2001, I-837

57/65 C-40/05 C-277/11 C-108/96

Mangold Mannesmann-Röhrenwerke Mannesmann-Röhrenwerke Manninen Marchandise Mars

Slg 2005, I-9981 Slg 2001, II-729

C-144/04 T-112/98

Slg 2004, II-2223

T-44/00

Slg 2004, I-7477 Slg 1991, I-1027 Slg 1995, I-1923

C-319/02 C-332/89 C-470/93

Marschall

Slg 1997, I-6363

C-409/95

Marshall Martinez

Slg 1990, I-4071 Slg 2001, II-2823

370/88 T-222/99 ua

Martinez Martínez del Peral Cagigal Martínez Sala

Slg 2003, I-13355 Slg 2001, I-135

C-488/01 C-459/98

§ 15 Rn 23 § 27 Rn 1 § 9 Rn 1; § 11 Rn 53, 60; § 12 Rn 5; § 26 Rn 9 § 7 Rn 16 § 18 Rn 21 § 26 Rn 74; § 27 Rn 6 § 7 Rn 130 ff; § 9 Rn 39 § 14 Rn 6, 27, 73, 81 § 1 Rn 31; § 27 Rn 3, 5, 20 § 26 Rn 74; § 27 Rn 14 § 12 Rn 19 ff § 7 Rn 97 § 7 Rn 94; § 8 Rn 44; § 25 Rn 7 § 7 Rn 17; § 21 Rn 35, 45 § 19 Rn 4, 17, 33, 36 § 17 Rn 46, 52; § 27 Rn 22 § 17 Rn 46, 52 § 21 Rn 17

Slg 1998, I-2691

C-85/96

Martín Martín Maruko

Slg 2009, I-11939 Slg 2008, I-1757

C-227/08 C-267/07

Masgio Mathot Mattern und Cikotic Matteucci

Slg 1991, I-1119 Slg 1987, 809 Slg 2006, I-3145 Slg 1988, 5589

C-10/90 98/86 C-10/05 235/87

Maurissen Maurissen Max.mobil

Slg 1990, I-95 Slg 1992, II-2377 Slg 2002, II-313

C-193/87 T-23/91 T-54/99

920

§ 9 Rn 2, 23; § 13 Rn 10, 23; § 26 Rn 14, 43, 89 f. § 25 Rn 3 § 16 Rn 54, 56, 59; § 21 Rn 14 § 9 Rn 43 § 8 Rn 14 § 9 Rn 29 § 9 Rn 23; § 26 Rn 32 § 17 Rn 2, 42, 52 § 17 Rn 42 § 1 Rn 35; § 26 Rn 75; § 24 Rn 5 f; § 27 Rn 5, 6

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Mayr-Melnhof

Slg 1998, II-1751

T-347/94

Mazzoleni McB McCarthy

Slg 2001, I-2189 DÖV 2010, 1025 Slg 2011, I-3375

C-165/98 C 400/10 C-434/09

Mebrom Meca-Medina Meca-Medina

Slg 2007, II-1507 Slg 2004, II-3291 Slg 2006, I-6991

T-216/05 T-313/02 C-519/04

Mediocurso Meeusen Mehibas Dordtselaan Meints Melki u Abdeli Melkunie Melloni Mengner Merida Metallgesellschaft Metallurgiki Halyps Metock Metronome Musik

Slg 2000, I-7183 Slg 1999, I-3289 Slg 2000, II-15 Slg 1997, I-6689 Slg 2010, I-5665 Slg 1984, 2367 NJW 2013, 1215 ff Slg 1995, I-4741 Slg 2004, I-8471 Slg 2001, I-1727 Slg 1982, 4261 Slg 2008, I-6241 Slg 1998, I-1953

C-462/98 C-337/97 T-290/97 C-57/96 C-188/10 97/83 C-399/11 C-444/93 C-400/02 C-397/98 258/81 C-127/08 C-200/96

Métropole télévision Meyhui

Slg 1996, II-649 Slg 1994, I-3879

T-528/93 C-51/93

Micheletti Mickelsson/Roos

Slg 1992, I-4239 Slg 2009, I-4273

C-369/90 C-142/05

Microban Ministère Public u ASBL Mobistar u Belgacom Mobile Molenaar Möllendorf Montecatini Montedipe Morgan u Bucher

Slg 2011, II-7697 Slg 1979, 35 Slg 2005, I-7723

T-262/10 110/78 u 111/78 C-544/03

§ 1 Rn 31; § 24 Rn 3; § 27 Rn 3 § 7 Rn 30 § 14 Rn 109 § 7 Rn 18, 25; § 16 Rn 19; § 26 Rn 36 § 19 Rn 4 § 11 Rn 125 § 11 Rn 121, 125, 128; § 17 Rn 40, 52 § 27 Rn 61 § 9 Rn 9; § 10 Rn 49 f § 27 Rn 64 § 9 Rn 17, 39 § 14 Rn 123 § 8 Rn 95 f § 14 Rn 72 § 9 Rn 3, 10 § 9 Rn 23, 39 § 12 Rn 19 § 20 Rn 21, 42 § 9 Rn 29; § 26 Rn 36 § 14 Rn 98; § 19 Rn 12, 14, 33, 35; § 20 Rn 18, 43 § 23 Rn 8 § 7 Rn 53; § 8 Rn 19; § 11 Rn 102 § 7 Rn 44; § 26 Rn 28 § 7 Rn 96, 101; § 8 Rn 50; § 27 Rn 7 § 27 Rn 30 § 18 Rn 7 § 11 Rn 145

Slg 1998, I-843 Slg 2007, I-8361 Slg 1999, I-4539 Slg 1992, II-1155 Slg 2007, I-9161

C-160/96 C-117/06 C-235/92 T-14/89 C-11 u 12/06

Morgenbesser Morson Moser Mouflin Moulins Pont-à-Mousson

Slg 2003, I-13467 Slg 1982, 3723 Slg 1984, 2539 Slg 2001, I-10201 Slg 1977, 1795

C-313/01 35/82 180/83 C-206/00 124/76

§ 9 Rn 26 § 14 Rn 65 § 17 Rn 38, 52 § 17 Rn 38 § 18 Rn 22; § 26 Rn 92 § 9 Rn 21 § 13 Rn 7 § 7 Rn 25; § 21 Rn 45 § 21 Rn 14 f, 17

921

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Mulder Muller Muller u Hein Müller-Fauré

Slg 1992, I-3061 Slg 1986, 1511 Slg 1971, 723 Slg 2003, I-4509

C-104/89 304/84 C-10/71 C-385/99

Mund und Fester Musique Diffusion

Slg 1994, I-467 Slg 1983, 1825

C-398/92 100/80

Mutsch N N.K.M. N.S.

Slg 1985, 2681 Slg 1998, I-4871 NVwZ 2012, 417

137/84 C-252/97 66529/11 C-411/10, C-493/10

Nachi Europe Nationale Raad van Dierenkwekers en Liefhebbers National Panasonic

Slg 2001, I-1197 Slg 2008, I-4475

C-239/99 C-219/07

§ 20 Rn 42 § 8 Rn 95 f § 23 Rn 8 § 7 Rn 1, 118, 120; § 22 Rn 20 § 13 Rn 24 § 26 Rn 75; § 27 Rn 11, 18 § 9 Rn 23; § 27 Rn 48 § 27 Rn 18 § 5 Rn 8, 10, 32, 37 f § 14 Rn 16; § 15 Rn 50 § 27 Rn 31 § 8 Rn 79, 101

Slg 1980, 2033

136/79

Navaro Nazli Nerkowska Neu Neukirchinger Nicolet Nicolet Niederlande/Kommission Niederlande/Parlament und Rat Nimz

Slg 2008, I-105 Slg 2000, I-957 Slg 2008, I-3993 Slg 1991, I-3617 Slg 2011, I-139 Slg 1986, 2049 Slg 1988, 1557 Slg 1992, I-565 Slg 2001, I-7079

C-246/06 C-340/97 C-499/06 C-90/90 C-382/08 203/85 43/87 C-48/90 C-377/98

Slg 1991, I-297

C-184/89

Ninni-Orasche Nitratrichtlinie Nold

EuZW 2004, 117 Slg 1999, I-2603 Slg 1974, 491

C-413/01 C-293/97 4/73

Nolte Nordrhein-Westfalen OuS O’Dwyer O’Flynn

Slg 1995, I-4625 Slg 2002, I-1049 NVwZ 2013, 419 Slg 1995, II-2071 Slg 1996, I-2617

C-317/93 C-162/00 C-356/11 T-466/93 ua C-237/94

Odigitria Oebel ÖGB

Slg 1995, II-2025 Slg 1981, 1993 Slg 2000, I-10497

T-572/93 155/80 C-195/98

922

§ 14 Rn 56; § 16 Rn 14, 22, 32 § 14 Rn 42 § 9 Rn 32 § 26 Rn 92 § 19 Rn 12, 34 § 13 Rn 23 § 27 Rn 63 § 27 Rn 63 § 14 Rn 57 § 15 Rn 8, 25 § 7 Rn 11; § 14 Rn 39; § 21 Rn 34 f, 54 § 9 Rn 5 § 20 Rn 38, 44, 48 § 1 Rn 31; § 14 Rn 4 ff; § 19 Rn 3, 12, 33, 35; § 20 Rn 14, 21 § 21 Rn 51 f § 9 Rn 33; § 18 Rn 21 § 26 Rn 36 § 20 Rn 20 § 7 Rn 118; § 9 Rn 38 f, 50 § 26 Rn 78 § 8 Rn 40 § 9 Rn 39

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Olazabal Oleificio Borelli Olympique Lyonnais Omega

Slg 2002, I-10981 Slg 1992, I-6313 Slg 2010, I-2177 Slg 2004, I-9609

C-100/01 C-97/91 C-325/08 C-36/02

Oosthoek Ordre des barreaux francophones Orfanopoulos u Olivieri

Slg 1982, 4575 Slg 2007, I-5305

286/81 C-305/05

Slg 2004, I-5257

C-482/01

Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran Orkem

Slg 2006, II-4665

T-228/02

§ 9 Rn 48 § 27 Rn 70 § 9 Rn 7, 51 § 3 Rn 39; § 7 Rn 76, 113, 133; § 8 Rn 9, 83; § 10 Rn 23; § 14 Rn 24, 45, 117; § 15 Rn 9, 15 § 7 Rn 97 § 14 Rn 6; § 16 Rn 49; § 17 Rn 3; § 27 Rn 44 § 14 Rn 98, 114; § 16 Rn 14, 19; § 17 Rn 2; § 26 Rn 46; § 27 Rn 48 § 27 Rn 39

Slg 1989, 3283

374/87

Slg 1994, I-5243 Slg 2011, I-11035 Slg 2003, I-9743 Slg 2003, I-4989

C-320/93 C-405/10 C-452/01 C-465/00

Slg 1993, I-5683 Slg 2005, I-1215 Slg 1994, I-117 Slg 2007, I-6373 Slg 1989, 4285 Slg 2004, I-3605 Slg 1996, I-2143 Slg 1992, I-3423 Slg 2002, I-3533 Slg 2004, I-11055 Slg 2000, I-11307 Slg 2005, I-8585 Slg 1990, I-2041 Slg 1992, I-4193 Slg 2006, I-5769

C-60/92 C-215/03 C-129/92 C-231/05 100/88 C-373/02 C-13/94 C-45/90 C-9/00 C-327/02 C-300/98 C-458/03 70/88 C-295/90 C-540/03

Slg 1997, I-3899 Slg 1997, I-1 Slg 2008, I-203 Slg 2008, II-3019

C-222/95 C-143/95 C-294/06 T-256/07

Ortscheit Özlem Garenfeld Ospelt Österreichischer Rundfunk Otto BV Oulane Owens Bank Oy AA Oyowe und Traore Öztürk P. Paletta I Palin Granit Oy Panayotova Parfums Christian Dior Parking Brixen Parlament/Rat Parlament/Rat Parlament/Rat

Parodi Pastoors Payir People’s Mojahedin Organization of Iran

§ 15 Rn 2; § 27 Rn 4, 19 § 7 Rn 124; § 8 Rn 63 § 27 Rn 44 § 12 Rn 40 § 14 Rn 98; § 15 Rn 12; § 16 Rn 42, 45 § 14 Rn 81 § 26 Rn 42 § 13 Rn 22 § 7 Rn 30 § 17 Rn 2, 9, 12, 27 § 9 Rn 32 § 15 Rn 5 § 9 Rn 26 § 24 Rn 9 § 10 Rn 8 § 10 Rn 10 § 7 Rn 41 § 27 Rn 22 § 26 Rn 9 § 3 Rn 12; § 14 Rn 65, 74; § 24 Rn 5; § 27 Rn 5 § 12 Rn 2 § 8 Rn 93 § 9 Rn 32 § 27 Rn 41

923

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

People’s Mojahedin Organization of Iran Peralta Perfili Pergan Hilfsstoffe

Slg 2008, II-3487

T-284/08

§ 27 Rn 39

Slg 1994, I-3453 Slg 1996, I-161 Slg 2007, II-4225

C-379/92 C-177/94 T-474/04

Persche Pes´ la Pesca Valentia Peterbroeck Petersen

Slg 2009, I-359 Slg 2009, I-11677 Slg 1988, 83 Slg 1995, I-4599 Slg 2010, I-47

C-318/07 C-345/08 223/86 C-312/93 C-341/08

Petra Petrie Pfeiffer

Slg 1989, I-1615 Slg 2001, II-3677 Slg 1999, I-2835

56/88 T-191/99 C-255/97

Piercarlo Bozzetti Pinna Pitsiorlas Pitsiorlas Placanica

Slg 1985, 2301 Slg 1986, 1 Slg 2001, II-717 Slg 2003, I-4837 Slg 2007, I-1891

179/84 41/84 T-3/00 C-193/01 C-338/04

Plaumann Portugaia Construções

Slg 1963, 213 Slg 2002, I-787

25/62 C-164/99

Portugal/Kommission Portugal/Rat

Slg 2001, I-2613 Slg 1999, I-8395

C-163/99 C-149/96

Poucet u Pistre Poulsen u Diva Navigation Prais Prantl

Slg 1993, I-637 Slg 1992, I-6019 Slg 1976, 1589 Slg 1984, 1299

C-159/91 C-286/90 130/75 16/83

Prete PreussenElektra

Slg 2001, I-2099

C-367/11 C-379/98

Prigge Primex Produkte Pringle

Slg 2011, I-8003 Slg 1998, II-3773 NJW 2013, 29

C-447/09 T-50/96 C-370/12

Prinz Promusicae Punta casa Pusa Pupino

Slg 2008, I-271 Slg 1994, I-2355 Slg 2004, I-5763 Slg 2005, I-5285

C-523/11 C-275/06 C-69/93 C-224/02 C-105/03

§ 8 Rn 52 § 13 Rn 2 § 26 Rn 77; § 27 Rn 16 § 7 Rn 6 § 7 Rn 41; § 9 Rn 21 § 13 Rn 6 § 27 Rn 50 § 7 Rn 11; § 14 Rn 51; § 21 Rn 22 § 18 Rn 22 § 27 Rn 21 § 7 Rn 96, 118; § 10 Rn 48, 55, 61, 63 § 27 Rn 45 § 9 Rn 38 § 27 Rn 24 § 27 Rn 24 § 7 Rn 130; § 11 Rn 134, 135, 141, 143 § 27 Rn 25 § 7 Rn 106; § 9 Rn 35 § 20 Rn 7 § 10 Rn 10; § 14 Rn 34; § 21 Rn 14 § 22 Rn 2, 18 § 14 Rn 34 § 16 Rn 62 § 7 Rn 105; § 8 Rn 37, 52; § 12 Rn 11; § 25 Rn 7 § 26 Rn 44 § 7 Rn 119; § 8 Rn 8, 70 f, 103; § 24 Rn 9 § 21 Rn 22 § 27 Rn 11, 14, 63 f § 14 Rn 61; § 27 Rn 31 § 26 Rn 95 § 16 Rn 50; § 20 Rn 18 § 1 Rn 48; § 8 Rn 45 § 26 Rn 92 § 16 Rn 8; § 27 Rn 44

924

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Raccanelli

Slg 2008, I-5939

C-94/07

Racke Radlberger Radu Rahman Ramrath Rau

Slg 1998, I-3655 Slg 2004, I-11763 NJW 2013, 1145 NVwZ 2012, 1532 Slg 1992, I-3351 Slg 1987, 2289

C-162/96 C-309/02 C-396/11 C-83/11 C-106/91 133/85

Rau Lebensmittelwerke Raulin

Slg 1982, 3961 Slg 1992, I-1027

C-261/81 C-357/89

Ravil Razzouk Reed Régie Networks Regina/Kirk Regione Siciliana Reisch Rewe-Zentral-AG (s a Cassis de Dijon)

Slg 2003, I-5053 Slg 1984, 1509 Slg 1986, 1283 Slg 2008, I-10807 Slg 1984, 2689 Slg 2007, I-2591 Slg 2002, I-2157 Slg 1979, 649

C-469/00 75/82 59/85 C-333/07 63/83 C-15/06 C-515/99 120/78

Rewe Rewe Reyners

Slg 1981, 1805 Slg 1984, 1229 Slg 1974, 631

158/80 37/83 2/74

Reynolds Tobacco Richardt Rijkeboer Rinau Rinner-Kühn

Slg 2006, I-7795 Slg 1991, I-4621 Slg 2009, I-3889 Slg 2008, I-5271 Slg 1989, 2743

C-131/03 C-367/89 C-553/07 C-195/08 171/88

Roders Römer Rönfeldt Roquette frères Roquette frères Roquette frères Roquette frères

Slg 1995, I-2229 Slg 2011, I-3591 Slg 1991, I-323 Slg 1989, 1553 Slg 1994, I-1445 Slg 2000, I-10465 Slg 2002, I-9011

C-367/93 C-147/08 C-227/89 20/88 C-228/92 C-88/99 C-94/00

Rosengren Rothley Rothmans International

Slg 2007, I-4071 Slg 2004, I-3149 Slg 1999, II-2463

C-170/04 C-167/02 T-188/97

§ 7 Rn 61; § 9 Rn 11; § 11 Rn 76 § 14 Rn 34 § 8 Rn 103 § 14 Rn 85 § 26 Rn 36 § 9 Rn 51, 55 § 14 Rn 11, 41; § 19 Rn 8, 12, 18 § 25 Rn 7 § 9 Rn 10, 17; § 26 Rn 40 § 8 Rn 102 § 21 Rn 6 § 9 Rn 23 § 27 Rn 58 § 27 Rn 1 § 27 Rn 61 § 12 Rn 34 ff, 53 § 1 Rn 48; § 7 Rn 8, 84, 96, 98; § 8 Rn 65, 68, 89, 98, 101; § 10 Rn 3; § 11 Rn 104; § 12 Rn 15 f; § 17 Rn 2 § 27 Rn 51 § 7 Rn 53 § 7 Rn 7, 82 f; § 10 Rn, 46; § 11 Rn 61 f § 27 Rn 21 § 8 Rn 85; § 9 Rn 48 § 16 Rn 49 § 27 Rn 41 § 9 Rn 10; § 21 Rn 33, 51 § 7 Rn 66 § 21 Rn 14 § 9 Rn 26; § 20 Rn 20 § 27 Rn 58 § 27 Rn 58 § 27 Rn 49 § 2 Rn 44; § 16 Rn 14, 23, 32, 36 § 7 Rn 132 § 27 Rn 27 § 26 Rn 72

925

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Rottmann

Slg 2010, I-1449

C-135/08

Rousseau Royal Bank of Scotland Royal Copenhagen Royal Pharmaceutical Society Royale belge SA Royer RTL Television

Slg 1987, 995 Slg 1999, I-2651 Slg 1995, I-1275 Slg 1989, 1295

168/86 C-311/97 C-400/93 266/87

§ 7 Rn 43; § 26 Rn 28 ff, 33, 104 § 8 Rn 15 § 10 Rn 51 f § 21 Rn 40 § 7 Rn 52

Slg 1996, I-5501 Slg 1976, 497 Slg 2003, I-12489

C-76/95 48/75 C-245/01

Ruckdeschel

Slg 1977, 1753

117/76

Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft Ruiz Zambrano

Slg 1960, 887

36/58

Slg 2011, I-1177

C-34/09

Runevicˇ -Vardyn

Slg 2011, I-3787

C-391/09

Rush Portuguesa

Slg 1990, I-1417

C-113/89

Rutili Rüffert

Slg 1975, 1219 Slg 2008, I-1989

36/75 C-346/06

Rüffler Ryborg SABAM

Slg 2009, I-3389 Slg 1991, I-1943 EuZW 2012, 261

C-544/07 C-297/89 C-360/10

Sacchi Safalero Safety Hi-Tech Säger

Slg 1974, 409 Slg 2003, I-8679 Slg 1998, I-4301 Slg 1991, I-4221

155/73 C-13/01 C-284/95 C-76/90

Sagulo Saint-Gobain Saldanha

Slg 1977, 1495 Slg 1999, I-6161 Slg 1997, I-5325

8/77 C-307/97 C-122/96

Salzmann SAM Schiffahrt und Stapf San Giorgio Sandoz Sandoz Sandström Santos Palhota Sanz de Lera

Slg 2003, I-4899 Slg 1997, I-4475

C-300/01 C-248/95

Slg 1983, 3595 Slg 1983, 2445 Slg 1999, I-7041 Slg 2010, I-2885 Slg 2010, I-9133 Slg 1995, I-4821

199/82 174/82 C-439/97 C-433/05 C-515/08 C-163/94

926

§ 15 Rn 23 § 9 Rn 3, 24 § 17 Rn 2, 13, 17, 20, 27 ff; § 18 Rn 7 § 14 Rn 42; § 21 Rn 11, 14, 17 § 1 Rn 26 § 7 Rn 18; § 16 Rn 19; § 26 Rn 36, 41 § 7 Rn 18; § 26 Rn 94, 104 § 9 Rn 35; § 11 Rn 44, 67 § 27 Rn 48 § 7 Rn 9, 11; § 11 Rn 146; § 22 Rn 29 § 26 Rn 47 § 26 Rn 51 § 14 Rn 107; § 17 Rn 14, 28 § 11 Rn § 27 Rn 51 § 24 Rn 9 § 7 Rn 118, 133; § 11 Rn 84 § 13 Rn 2 § 10 Rn 36, 52 § 7 Rn 105; 13 Rn 7; § 27 Rn 48 § 12 Rn 34; § 20 Rn 7 § 19 Rn 4, 14, 17, 33, 35 § 27 Rn 50 § 8 Rn 96 § 12 Rn 16, 20 § 8 Rn 50 § 11 Rn 146 § 12 Rn 3, 7

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Sapod Audic Sass Saunders

Slg 2002, I-5031 Slg 2004, I-11143 Slg 1979, 1129

C-159/00 C-284/02 175/78

Savas Sayn-Wittgenstein

Slg 2000, I-2927 Slg 2010, I-13693

C-37/98 C-208/09

Schecke u a

Slg 2010, I-11063

C-92/09, C-93/09

Schempp Schindler

Slg 2005, I-6421 Slg 1994, I-1039

C-403/03 C-275/92

Schindler Schmidberger

NZKart 2013, 334 Slg 2003, I-5659

C-501/11 P C-112/00

Schmit Schnitzer Scholz Schöning

Slg 1996, I-3179 Slg 2003, I-14847 Slg 1994, I-50 Slg 1998, I-47

C-240/95 C-215/01 C-419/92 C-15/96

Schräder

Slg 1989, 2237

265/87

Schulz-Delzers Schultz-Hoff

Slg 2011, I-8531 Slg 2009, I-179

Schumacher Schumacker

Slg 1989, 617 Slg 1995, I-225

C-240/10 C-350/06 und C 520/06 215/87 C-279/93

§ 7 Rn 57 § 21 Rn 39 § 7 Rn 25; § 26 Rn 41 § 10 Rn 7 § 7 Rn 18; § 14 Rn 117; § 26 Rn 94, 104 § 14 Rn 26, 50, 56, 117; § 16 Rn 17, 42, 51 § 8 Rn 15 § 7 Rn 76, 119; § 8 Rn 9, 61; § 11 Rn 70, 89, 134; § 12 Rn 2 § 27 Rn 18 § 7 Rn 38, 115, 132; § 8 Rn 17 f, 81, 103; § 9 Rn 50; § 11 Rn 102; § 14 Rn 24 45, 114; § 15 Rn 29; § 17 Rn 3, 13, 25, 27 ff, 37 f, 52 § 7 Rn 27 § 11 Rn 66 § 9 Rn 20 § 7 Rn, 106; § 9 Rn 21, 40 § 7 Rn 130, 132; § 14 Rn 42, 56, 109, 112; § 16 Rn 30; § 19 Rn 3, 14, 33, 35, 37; § 20 Rn 16, 20, 27, 45, 49 § 26 Rn 88 § 22 Rn 36

Schutzverband Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb Schwarz Schwarz u GootjesSchwarz

Slg 1983, 127 Slg 2000, I-151

109/82 C-254/98

NVwZ 2014, 435 ff Slg 2007, I-6849

C-291/12 C-76/05

§ 7 Rn 124 § 7 Rn 28; § 9 Rn 22; § 10 Rn 52; § 12 Rn 18 § 8 Rn 70 § 7 Rn 118; § 8 Rn 47, 52, 70, 73, 90 § 14 Rn 98 § 19 Rn 43; § 26 Rn 92

927

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Schwarzkopf Schweden/Kommission Schweden/MyTravel u Kommission Schweden/Rat Scientology

Slg 2001, I-5901 Slg 2007, I-11389 Slg 2011, I-6237

C-169/99 C-64/05 P C-506/08 P

§ 7 Rn 9 § 26 Rn 73 § 26 Rn 71

Slg 2001, I-4319 Slg 2000, I-1335

C-125/99 C-54/99

SCK u FNK SECAP Sehrer Seitlinger Semeraro

Slg 1997, II-1739 Slg 2008, I-3565 Slg 2000, I-4585 Slg 1996, I-2975

T-213/95 u T-18/96 C-147/06, C-148/06 C-302/98 C-549/12 C-418/93

Serrantoni Sevince Seymour-Smith

Slg 2009, I-12169 Slg 1990, I-3461 Slg 1999, I-623

C-376/08 C-192/89 C-167/97

Sgarlata SGL Carbon SGL Carbon SGL Carbon SIA Garkalns

Slg 1965, 296 Slg 2006, I-5915 Slg 2006, I-5977 Slg 2007, I-3921 NVwZ 2012, 1162

40/64 C-301/04 C-308/04 C-328/05 C-470/11

Simmenthal II Simutenkov Singh

Slg 1978, 629 Slg 2005, I-2579 Slg 1992, I-4265

106/77 C-265/03 C-370/90

Siragusa Sirdar Sison Skanavi

Slg 1999, I-7403 Slg 2007, II-73 Slg 1996, I-929

C-206/13 C-273/97 T-47/03 C-193/94

Skoma-Lux Skov u Bilka Sky Österreich

Slg 2007, I-10841 Slg 2006, I-199 EuZW 2013, 347

C-161/06 C-402/03 C-283/11

Smits u Peerboms

Slg 2001, I-5473

C-157/99

SMW Winzersekt

Slg 1994, I-5555

C-306/93

Sodemare Sogelma

Slg 1997, I-3395 Slg 2008, II-2771

C-70/95 T-411/06

§ 16 Rn 54, 59 § 7 Rn 113; § 12 Rn 2, 11 § 27 Rn 8, 18 § 7 Rn 8, 41 § 9 Rn 39, 41 § 14 Rn 109, 112, 115 § 7 Rn 105; § 8 Rn 45, 52 § 7 Rn 8, 41 § 9 Rn 32; § 10 Rn 7 § 21 Rn 32 ff, 35, 46, 52 § 1 Rn 26 § 27 Rn 20 § 27 Rn 16 § 27 Rn 16 § 7 Rn 25; § 10 Rn 27; § 11 Rn 142 § 7 Rn 7 § 10 Rn 74 § 10 Rn 15, 39; § 26 Rn 41 § 14 Rn 73 § 7 Rn 17 § 27 Rn 39 § 7 Rn 15; § 13 Rn 2; § 26 Rn 38 § 27 Rn 12 § 25 Rn 11 § 14 Rn 110; § 17 Rn 30; § 19 Rn 12 § 7 Rn 1, 120; § 10 Rn 55; § 11 Rn 47, 113; § 22 Rn 20 § 14 Rn 114; § 19 Rn 3 f, 17, 29, 35 f, 38; § 20 Rn 27, 44 f, 49 f; § 21 Rn 13; § 27 Rn 27 § 10 Rn 31 § 27 Rn 22

928

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Solgar Vitamin’s France Solvay Sotgiu

Slg 2010, I-3973 Slg 2011, I-10439 Slg 1974, 153

C-446/08 C-110/10 P 152/73

Spanien und Finnland/ Parlament und Rat Spanien/Kommission Spanien/Kommission Spanien/Rat Spanien/Rat Spanien/Vereinigtes Königreich Spotti Sprachtest Staatssecretaris Stahlwerk Ergste Westig Stamatelakis

Slg 2004, I-7789

C-184/02; C-223/02

Slg 1993, I-3923 Slg 1999, I-6571 Slg 1988, 4563 Slg 2006, I-7285 Slg 2006, I-7917

C-217/91 C-240/97 203/86 C-310/04 C-145/04

Slg 1993, I-5185 EuZW 2012, 551 Slg 2007, I- 151 Slg 2007, I-3185

C-272/92 C-138/13 C-578/10 C-415/06 C-444/05

Stauder

Slg 1969, 419

29/69

Steen I Steen II Steffensen

Slg 1992, I-341 Slg 1994, I-2715 Slg 2003, I-3735

C-332/90 C-132/93 C-276/01

Steinhauser Stewart Steymann

Slg 1985, 1819 Slg 2011, I-6497 Slg 1988, 6159

197/84 C-503/09 196/87

Stichting

Slg 1991, I-4007

C-288/89

§ 8 Rn 20, 95 § 27 Rn 18 § 7 Rn 28; § 9 Rn 21, 38; § 13 Rn 23 § 14 Rn 98; § 19 Rn 33, 35 § 21 Rn 13 § 19 Rn 12 § 21 Rn 17 § 14 Rn 112 § 2 Rn 56; § 26 Rn 12, 27, 63 § 9 Rn 21; § 18 Rn 21 § 7 Rn 50 § 7 Rn 6 § 10 Rn 33 § 7 Rn 120 f; § 22 Rn 20 § 1 Rn 27, 29; § 14 Rn 4; § 15 Rn 5; § 16 Rn 39; § 26 Rn 5 § 7 Rn 25; § 9 Rn 19 § 7 Rn 25 § 14 Rn 65; § 27 Rn 43 § 10 Rn 49; § 18 Rn 7 § 26 Rn 95 § 9 Rn 7; § 10 Rn 21, 31; § 11 Rn 56; § 16 Rn 62 § 14 Rn 23; 84; § 17 Rn 3, 7, 17 f, 27 § 27 Rn 61 § 7 Rn 1, 126; § 11 Rn 132, 134 f, 139, 141 § 19 Rn 12 § 9 Rn 32; § 26 Rn 32 § 7 Rn 76; § 11 Rn 42; § 12 Rn 2, § 19 Rn 4 § 8 Rn 70; § 23 Rn 8 § 19 Rn 39 § 21 Rn 17 § 7 Rn 100; § 8 Rn 45 § 9 Rn 29

Stichting ROM-projekten Slg 2007, I-5103 Stoß ua Slg 2010, I-8069

C-158/06 C-316/07, 358/07 bis 360/07

Sukkerfabriken Nykobing Slg 1979, 1 Sürül Slg 1999, I-2685 Svensson und Gustavsson Slg 1995, I-3955

151/78 C-262/96 C-484/93

Swedish Match Sydhavnens T Port T Port t’Heukske Taghavi

C-210/03 C-209/98 C-68/95 C-364/95 C-401/92 C-243/91

Slg 2004, I-11893 Slg 2000, I-3743 Slg 1996, I-6065 Slg 1998, I-1023 Slg 1994, I-2199 Slg 1992, I-4401

929

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Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Tas-Hagen Tegebauer Teixeira Ten Oever Ter Voort Teresa Guerra Terhoeve Testa Test Claimants in the Fll Group Litigation (II) Textilwerke Deggendorf Thetford Thévenon Thijssen Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation Tietosuojavaltuutettu Tillack TNT Tocai Tokai Carbon Torfaen Borough Council

Slg 2006, I-10451 Slg 2011, II-279 Slg 2010, I-1107 Slg 1993, I-4879 Slg 1992, I-5485 Slg 1967, 294 Slg 1999, I-345 Slg 1980, 1979 IStR 2012, 924

C-192/05 T-308/07 C-480/08 C-109/91 C-219/91 6/67 C-18/95 41/79 C-35/11

Slg 1994, I-833 Slg 1988, 3585 Slg 1995, I-3813 Slg 1993, I-4047 Slg 2007, I-2107

C-188/92 35/87 C-475/93 C-42/92 C-524/04

§ 26 Rn 47 § 26 Rn 67 § 7 Rn 4; § 16 Rn 19 § 21 Rn 30 § 17 Rn 2, 13, 20, 29 § 27 Rn 12 § 8 Rn 73; § 9 Rn 40 § 20 Rn 20 § 10 Rn 33; § 12 Rn 22 § 27 Rn 31 § 8 Rn 88 § 9 Rn 26 § 10 Rn 46 § 7 Rn 79; § 10 Rn 33; § 12 Rn 54

EuZW 2009, 108 Slg 2006, II-3995 Slg 2001, I-4109 Slg 2005, I-3785 Slg 2004, II-1181 Slg 1989, 3851

C-73/07 T-193/04 C-340/99 C-347/03 T-236/01 145/88

Toshiba Traghetti del Mediterraneo Transportes Urbanos Transport Workers Triveneta Zuccheri Trojani

EuZW 2012, 223 Slg 2006, I-5177

C-17/10 C-173/03

Slg 2010, I-635 Slg 2007, I-10779 Slg 1990, I-1083 Slg 2004, I-7573

C-118/08 C-438/05 347/87 C-456/02

Truck Center Trummer Tsakouridis TU München Turpeinen

Slg 2008, I-10767 Slg 1999, I-1661 Slg 2010, I-11979 Slg 1991, I-5469 Slg 2006, I-10685

C-282/07 C-222/97 C-145/09 C-269/90 C-520/04

TV 10 Überseering

Slg 1994, I-4795 Slg 2002, I-9919

C-23/93 C-208/00

Uecker Ufex u a UGT-FSP Ungarn/Slowakei

Slg 1997, I-3171 Slg 2000, II-4055 Slg 2010, I-7591

C-64/96 T-613/97 C-151/09 C-364/10

930

§ 16 Rn 51 § 27 Rn 44 § 23 Rn 5 § 20 Rn 32, 42 § 27 Rn 16 § 7 Rn 97; § 8 Rn 40; § 16 Rn 62 § 27 Rn 16 § 27 Rn 22 § 27 Rn 50 § 14 Rn 91 § 27 Rn 69 § 1 Rn 50; § 7 Rn 18; § 9 Rn 2; § 13 Rn 13; § 26 Rn 91 f § 7 Rn 28 § 12 Rn 2, 42 § 26 Rn 46 § 27 Rn 63 ff § 7 Rn 18; § 26 Rn 92 § 10 Rn 30 § 7 Rn 1; § 10 Rn 64, 70 f, 75 § 26 Rn 36, 41 § 20 Rn 7 § 17 Rn 48 § 26 Rn 41

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Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Unibet

Slg 2007, I-2271

C-432/05

§ 14 Rn 120; § 27 Rn 27, 51, 53 § 7 Rn 41; § 27 Rn 27, 30 f § 7 Rn 25 § 7 Rn 1, 4; § 10 Rn 36a, 66, 72 § 20 Rn 16, 21 f § 7 Rn 57 § 8 Rn 96 § 1 Rn 49; § 7 Rn 7, 30; § 10 Rn 30; § 11 Rn 6, 83, 94 f, 131 § 20 Rn 14 § 26 Rn 88 § 20 Rn 27 § 7 Rn 96; § 8 Rn 98 § 27 Rn 10 § 24 Rn 9 § 7 Rn 7, 113; § 9 Rn 1, 48; § 16 Rn 62 § 1 Rn 45; § 7 Rn 7, 10; § 14 Rn 4; § 26 Rn 1, 39 § 8 Rn 86, 102 § 27 Rn 18 § 16 Rn 62 § 27 Rn 50 § 27 Rn 44 § 11 Rn 95, 110 § 9 Rn 35 § 27 Rn 27 § 27 Rn 39 § 9 Rn 23

Union de Pequeños Agri- Slg 2002, I-6677 cultores USSL No 47 di Biella Slg 1997, I-195 Vale EuZW 2012, 621

C-50/00 C-134/95 C-378/10

Valsabbia van Ameyde van Bennekom van Binsbergen

Slg 1980, 907 Slg 1977, 1091 Slg 1983, 3883 Slg 1974, 1299

154/78 90/76 227/82 33/74

van de Roy van Delft van den Bergh Foods van der Veldt van der Wal van de Walle van Duyn

Slg 1976, 352 Slg 2010, I-9879 Slg 2003, II-4653 Slg 1994, I-3537 Slg 1998, II-545 Slg 2004, I-7613 Slg 1974, 1337

92-75 C-345/09 T-65/98 C-17/93 T-83/96 C-1/03 41/74

van Gend & Loos

Slg 1963, 3

26/62

van Harpegnies van Landewyck van Roosmalen van Schijndel van Straaten van Wesemael Vander Elst Vannieuwenhuyze-Morin Varec Vatsouras und Koupatantze VBA VBVB und VBBB Verein Deutsche Sprache Verkooijen Veronica Omroep Organisatie Vestergaard

Slg 1998, I-5121 Slg 1980, 3125 Slg 1986, 3097 Slg 1995, I-4705 Slg 2006, I-9327 Slg 1979, 35 Slg 1994, I-3803 Slg 2003, II-1997 Slg 2008, I-581 Slg 2009, I-4585

C-400/96 209/78 300/84 C-430/93 C-150/05 110/78 C-43/93 T-321/02 C-450/06 C-22/08, C-23/08

Slg 2000, I-2135 Slg 1984, 19 Slg 2011, I-92 Slg 2000, I-4071 Slg 1993, I-487

C-266/97 262/80 C-93/11 P C-35/98 C-148/91

Slg 1999, I-7641

C-55/98

Vicoplus

Slg 2011, I-453

C-307/09

§ 27 Rn 38 § 17 Rn 17 § 27 Rn 22 § 12 Rn 17 ff, 23 § 8 Rn 90; § 12 Rn 2; § 17 Rn 3, 17 f § 7 Rn 8, 27, 41, 119; § 11 Rn 58 § 11 Rn 146

931

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Viking Line

Slg 2007, I-10779

C-438/05

Vlaamse Reisbureaus Vlassopoulou

Slg 1987, 3801 Slg 1991, I-2357

311/85 C-340/89

Vodafone von de Coevering von Deetzen Vougioukas VT 4 VVG Wachauf

Slg 2010, I-4999 Slg 2006, I-5843 Slg 1991, I-5119 Slg 1995, I-4033 Slg 1997, I-3143 Slg 2002, II-3239 Slg 1989, 2609

C-58/08 C-242/05 C-44/89 C-443/93 C-56/96 T-155/02 5/88

Wählergruppe Walrave

Slg 2003, I-4301 Slg 1974, 1405

C-171/01 36/74

Walt Wilhelm

Slg 1969, 1

14/68

Watts Weber’s Wine World Weidert und Paulus Werhahn Werhof Werner Westdeutsche Landesbank Wielockx

Slg 2006, I-4325 Slg 2003, I-11365 Slg 2004, I-7379 Slg 1973, 1254 Slg 2006, I-2397 Slg 1993, I-429 Slg 2001, I-173 Slg 1995, I-2493

C-372/04 C-147/01 C-242/03 63-69/72 C-499/04 C-112/91 C-464/98 C-80/94

Wijsenbeek

Slg 1999, I-6207

C-378/97

Wiljo Winner Wetten Wirtschafts- und Sozialausschuss Witte Wolf Wolzenburg Woningstichting Sint Servatius

Slg 1997, I-585 Slg 2010, I-8015 Slg 1999, I-8877

C-178/95 C-409/06 C-150/98

§ 7 Rn 57, 121; § 8 Rn 21; § 10 Rn 57, 62; § 11 Rn 76; § 14 Rn 91; § 17 Rn 3, 43, 52 f; § 22 Rn 27 § 7 Rn 57 § 7 Rn 41, 133; § 9 Rn 21, 55; § 10 Rn 53 § 14 Rn 114 § 11 Rn 145 § 20 Rn 20, 45 § 9 Rn 26 § 10 Rn 31 § 27 Rn 27 § 1 Rn 37; § 14 Rn 65 f, 107, 109, 112; § 20 Rn 42; § 27 Rn 43 § 9 Rn 32 § 1 Rn 51; § 7 Rn 58, 65; § 8 Rn 21; § 9 Rn 7, 46; § 11 Rn 116, 118, 130 f § 26 Rn 77; § 27 Rn 16 § 7 Rn 1; § 22 Rn 20 § 27 Rn 50 § 12 Rn 19 f § 20 Rn 14 § 17 Rn 3, 43 § 26 Rn 41 § 12 Rn 43 § 10 Rn 52; § 12 Rn 18 § 9 Rn 24, 55; § 26 Rn 42 § 27 Rn 31 § 11 Rn 132 § 17 Rn 3, 12, 27, 30

Slg 1984, 3465 Slg 2010, I-1 Slg 2009, I-9621 Slg 2009, I-9021

188/83 C-229/08 C-123/08 C-567/07

§ 21 Rn 15 § 21 Rn 22 § 26 Rn 95 § 12 Rn 2

932

Entscheidungen des Gerichtes und des Gerichtshofes der Europäischen Union Name

Fundstelle

Rechtssache

Zitiert in

Wouters Wuidart X X,Y X/Kommission

Slg 2002, I-1577 Slg 1990, I-435 Slg 1996, I-6609 Slg 2002, I-10829 Slg 1994, I-4737

C-309/99 267/88 C-74/95 C-436/00 C-404/92

X NV X und Passenheimvan Schoot Yiadom Ymeraga Yusuf

IStR 2013, 26 Slg 2009, I-5093

C-498/10 C-155/08

§ 7 Rn 57; § 17 Rn 40 § 21 Rn 17 § 27 Rn 1 § 12 Rn 19 f § 14 Rn 98; § 16 Rn 14 § 11 Rn 145 § 11 Rn 145

Slg 2000, I-9265 Slg 2005, II-3533

C-357/98 C-87/12 T-306/01

Yves Rocher

Slg 1993, I-2361

C-126/91

Zablocka-Weyhermüller Zenatti

Slg 2008, I-9029 Slg 1999, I-7289

C-221/07 C-67/98

Zeturf Ziegler

Slg 2011, I-5633 NZKart 2013, 364

C-212/08 C-439/11

Zuckerfabrik Bedburg Zuckerfabrik Schöppenstedt Zuckerfabrik Süderdithmarschen

Slg 1987, 49 Slg 1971, 987

281/84 5/71

Slg 1991, I-415

143/88

Slg 2000, I-3337 EuGRZ 2013, 281-287

C-87/99 C-300/11

Zurstrassen ZZ/Home Department

§ 9 Rn 2, 24 § 26 Rn 36 § 1 Rn 39; § 14 Rn 35; § 27 Rn 39 § 7 Rn 96 f; § 8 Rn 48, 52 § 26 Rn 92 § 7 Rn 133; § 9 Rn 54; § 11 Rn 134 § 11 Rn 95 § 26 Rn 75; § 27 Rn 18 § 20 Rn 28, 42 § 20 Rn 14 § 14 Rn 51; § 19 Rn 3, 17, 33, 37; § 20 Rn 20; § 27 Rn 56 § 9 Rn 22, 51 § 27 Rn 11

933

Zusammenstellung der besprochenen Fälle I. Entscheidungen des EGMR Name der Entscheidung

Fundstelle

§ Rn

AGOSI Al-Jedda Bankovic Behrami ua Bladet Tromsø Bosphorus Caroline von Hannover Nr.1 Di Sarno Dösemealti Beldiyesi D/Vereinigtes Königreich Gaygusuz Guerra Gustafsson Handyside Herman Jahn James Karlheinz Schmidt K-F Lautsi Leela Förderkreis eV ua Matthews Müller Pine Valley Refah Partisi Saadi Sporrong und Lönnroth Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden Sürmeli Steel Taron W/Deutschland Wille

EuGRZ 1988, 513 Nr 27021/08 NJW 2003, 413 NVwZ 2008, 645 EuGRZ 1999, 453 NJW 2006, 197 NJW 2004, 2648 NVwZ 2013, 415 NVwZ 2011, 479 NVwZ 1998, 161 JZ 1997, 405 NVwZ 1999, 57 HRLJ 1996, 118 EuGRZ 1977, 38 NJW 2012, 3629 EuGRZ 2004, 57 EuGRZ 1988, 341 EuGRZ 1995, 392 NJW 1999, 775 NVwZ 2010, 737 NVwZ 2010, 177 NJW 1999, 3107 EuGRZ 1988, 543 HRLJ 1992, 36 EuGRZ 2003, 206 NVwZ 2009, 375 EuGRZ 1983, 523 RJD 2001-IX, 273 NJW 2006, 2389 RJD 1998-VII, 2719 NVwZ 2013, 47 NJW 2001, 3042 NJW 2001, 1195

§ 5 Rn 22 § 2 Rn 61 § 2 Rn 59 § 2 Rn 60 § 4 Rn 48 § 2 Rn 49 § 2 Rn 1 § 2 Rn 30 § 2 Rn 90 § 3 Rn 38 § 5 Rn 7 § 2 Rn 29 § 4 Rn 84 § 5 Rn 36 § 2 Rn 132 § 5 Rn 26 § 5 Rn 45 § 3 Rn 66 § 2 Rn 99 § 2 Rn 79 § 2 Rn 75 § 2 Rn 48 § 4 Rn 14 § 5 Rn 55 § 4 Rn 74 § 6 Rn 4 § 5 Rn 20 § 4 Rn 60 § 2 Rn 35 § 4 Rn 31 § 2 Rn 36 § 6 Rn 61 § 4 Rn 24

Name der Entscheidung

Fundstelle

§ Rn

AGM Agricola Commerciale Olio Akerberg Fransson

Slg 2007, I-2749 Slg 1984, 3881 NJW 2013, 1415

§ 14 Rn 54 § 20 Rn 24 § 14 Rn 63

II. Entscheidungen des EuGH

934

Zusammenstellung der besprochenen Fälle Name der Entscheidung

Fundstelle

§ Rn

Alpine Investments Angonese Association de mediation sociale Belgien/Spanien Bettray Bleis Bosman

Slg 1995, I-1141 Slg 2000, I-4139 NZA 2014, 193 Slg 2000, I-3123 Slg 1989, 1621 Slg 1991, I-5627 Slg 1995, I-4921

Bosphorus Bressol Burmanjer Calfa Carpenter Ciola Connolly Corbeau Deutschland/Rat

Slg 1996, I-3953 Slg 2010, I-2735 Slg 2005, I-4133 Slg 1999, I-11 Slg 2002, I-6279 Slg 1999, I-2517 ff Slg 2001, I-1611 Slg 1993, I-2533 Slg 1994, I-4973

Deutschland/Parlament u Rat Doc Morris Doc Morris II Dynamic Medienvertrieb GmbH El Corte Inglés Evans Medical Factortame Familiapress Fidium Finanz Fra.bo Fremdenführer Gebhard Gourmet International Grant Hauer Hayes Hoechst Jégo-Quéré Josemans Kadi K.B. Kley Kohll Kommission/Deutschland Kommission/Frankreich (Fernsehwerbung)

Slg 2006, I-11573 Slg 2003, I-14887 Slg 2009, I-4171 Slg 2008, I-505 Slg 1996, I-1281 Slg 1995, I-563 Slg 1991, I-3956 Slg 1997, I-3689 Slg 2006, I-9521 EuZW 2012, 797 Slg 1991, I-682, I-718, I-735 Slg 1995, I-4165 Slg 2001, I-1795 Slg 1998, I-621 Slg 1979, 3727 Slg 1997, I-1711 Slg 1989, 2859 Slg 2002, II-2365 Slg 2010, I-13019 Slg 2008, I-6351 Slg 2004, I-541 Slg 1973, 679 Slg 1998, I-1931 Slg 2011, I-4355 Slg 2004, I-6569

§ 11 Rn 72 § 7 Rn 56 § 14 Rn 17 § 8 Rn 92 § 9 Rn 4 § 7 Rn 68 § 11 Rn 115; § 17 Rn 34 § 20 Rn 39 § 18 Rn 16 § 7 Rn 86 § 15 Rn 43 § 11 Rn 86 § 11 Rn 71 § 17 Rn 4 § 23 Rn 6 § 14 Rn 111 § 20 Rn 17 § 17 Rn 5 § 7 Rn 21 § 7 Rn 22 § 7 Rn 128 § 25 Rn 1 § 8 Rn 72 § 10 Rn 17 § 14 Rn 71 § 7 Rn 49 § 7 Rn 55 § 11 Rn 90

Kommission/Frankreich (Landwirte)

Slg 1997, I-6959

§ 10 Rn 18 § 8 Rn 28 § 21 Rn 23 § 20 Rn 13 § 13 Rn 1 § 14 Rn 103 § 27 Rn 29 § 7 Rn 69 § 14 Rn 33 § 16 Rn 53 § 18 Rn 5 § 7 Rn 117 § 10 Rn 42 § 7 Rn 110 § 11 Rn 97 § 7 Rn 35

935

Zusammenstellung der besprochenen Fälle Name der Entscheidung

Fundstelle

§ Rn

Kommission/Italien

Slg 2009, I-519

Kommission/Spanien Lehtonen Lewark Luisi und Carbone Markus Stoß Mars Martínez Sala Meeusen Melloni Metronome Musik Micheletti Müller-Fauré Niederlande/Parlament u Rat Nitratrichtlinie Oleificio Borelli Omega Orkem Österreichischer Rundfunk Pfeiffer Rau Schecke Schindler (Lotterielose) Schmidberger Sky Österreich SMW Winzersekt Terhoeve Überseering Verkooijen Viking Line

Slg 1998, I-6717 Slg 2000, I-2681 Slg 1996, I-243 Slg 1984, 377 Slg 2010, I-8069 Slg 1995, I-1923 Slg 1998, I-2691 Slg 1999, I-3289 NJW 2013, 1215 Slg 1998, I-1953 Slg 1992, I-4239 Slg 2003, I-4509 Slg 2001, I-7079 Slg 1999, I-2603 Slg 1992, I-6313 Slg 2004, I-9609 Slg 1989, 3283 Slg 2003, I-4989 Slg 1999, I-2835 Slg 1987, 2289 Slg 2010, I-11063 Slg 1994, I-1039 Slg 2003, I-5659 EuZW 2013, 347 Slg 1994, I-5555 Slg 1999, I-345 Slg 2002, I-9919 Slg 2000, I-4071 Slg 2007, I-10779

Werhof X/Kommission

Slg 2006, I-2397 Slg 1994, I-4737

§ 7 Rn 95 § 8 Rn 29 § 10 Rn 41 § 9 Rn 49 § 21 Rn 22 § 11 Rn 53 § 7 Rn 126 § 7 Rn 94 § 26 Rn 87 § 9 Rn 18 § 14 Rn 72 § 19 Rn 32 § 26 Rn 25 § 11 Rn 96 § 15 Rn 3 § 20 Rn 38 § 27 Rn 68 § 7 Rn 127 § 27 Rn 17 § 16 Rn 38 § 10 Rn 48 § 19 Rn 8 § 14 Rn 26 § 11 Rn 89 § 8 Rn 17 § 14 Rn 110 § 19 Rn 28 § 9 Rn 36 § 10 Rn 64 § 12 Rn 17 § 7 Rn 54; § 22 Rn 9 § 17 Rn 33 § 16 Rn 16

Name der Entscheidung

Fundstelle

§ Rn

Antiterrordatei Bananenmarkt-VO Conseil d’Etat [F] Görgülü Heatballs Jagdgenossenschaft Landeserziehungsgeld Sicherungsverwahrung

NJW 2013, 1499 BVerfG 102, 147 AJDA 1999, 460 BVerfGE 111, 307 NVwZ-RR 2012, 682 DVBl 2007, 248 BVerwGE 91, 327 BVerfG 128, 326

§ 14 Rn 64 § 14 Rn 37 § 27 Rn 52 § 2 Rn 2 § 18 Rn 4 § 2 Rn 132 § 5 Rn 62 § 2 Rn 3

III. Entscheidungen anderer Gerichte

936

Sachregister Die Angaben beziehen sich auf Paragraphen und Randnummern.

Abfall § 24 8 Abhören § 3 13, 16, 28 Abschiebung § 3 7, 30, 33, 41, 44, 46 f; § 15 48 Abstammung § 3 9 Recht auf Kenntnis § 3 8 Abstandsgebot § 6 19 Abtreibung § 3 8 acquired rights, droits acquis § 5 8 acquis communautaire § 14 10 Adoption § 3 71 Agentur für Grundrechte (EU) § 14 125 Agrarpolitik Marktordnungen § 19 3 Åkerberg-Fransson-Rspr § 1 37; § 14 68, 74, 123; § 27 46 Akteneinsicht § 26 71; § 27 2, 5, 10 f, 64 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte § 2 5 Allgemeine Handlungsfreiheit § 2 26; § 14 11, 41; § 19 8 Allgemeinversorgung § 23 15 Alter s Diskriminierungsverbot wegen des Alters Anhörung § 27 10 Anti-Doping-Regeln § 11 125 Anwaltlicher Schriftverkehr, Vertraulichkeit § 16 14, 26 Anwendbarkeit des Unionsrechts, unmittelbare s Unionsrecht Arbeit, Recht auf § 19 6 Arbeitnehmer Begriff § 9 6 Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen § 22 35 Recht auf Unterrichtung und Anhörung § 22 23 Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung § 22 32 Arbeitnehmerfreizügigkeit § 7 4; § 9 1, 3, 7, 28 ff, 35, 38 f, 41, 43 Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit § 9 9, 35; § 11 67 Arbeitsbedingungen § 9 21 Arbeitssuche § 9 15 Entsenderichtlinie § 11 32; § 22 28 Entsendung § 9 35 Öffentliche Ordnung § 9 47 f Verhältnis zur Kapitalverkehrsfreiheit § 12 51, 53

Arbeitsrecht § 3 3, 8; § 4 83 ff, 95; § 11 146; § 19 4 Arbeitsvermittlungsdienst § 22 30 Århus-Konvention § 24 17 Arzneimitteleinfuhr § 16 30 Assoziierungsabkommen § 9 31, 33; § 10 7 Asylrecht § 15 10, 42, 44 ff, 53 Asylverfahren § 6 39 Flüchtlingsschutzrichtlinie § 15 10 Gemeinsames Europäisches Asylsystem § 15 47, 50 Genfer Flüchtlingskonvention § 15 44, 46 Aufenthaltsrecht § 3 7; § 7 18; § 9 1, 10, 15, 17, 23 f, 32; § 26 9, 27, 41, 87 Ausfuhrbeschränkungen § 7 30, § 8 57 ff Kapitalverkehr § 12 6 mengenmäßige § 8 52 ff Ausländerrecht § 3 7, 12, 17 Auslegung autonome § 3 24 der EMRK § 2 41 der Unionsgrundrechte § 14 53 dynamische § 3 41, 47 effet-utile-Grundsatz § 9 5 richtlinienkonforme § 14 73 Völkerrechtsfreundliche § 6 19 Auslieferung § 3 39, 44, 54; § 6 21; § 15 48 Ausweisung § 3 2, 7, 29, 30, 39; § 6 6, 70; § 14 109; § 15 53 Kollektivausweisung § 15 49, 54 Außenwirtschaftsrecht Investitionen aus Drittstaaten § 12 45, 52 Meldepflichten § 12 28 f Babyklappe § 3 8 Bachmann-Urteil § 12 18 Beamte Beamtenstatut § 16 62 Streikrecht § 17 42; § 22 28 Treuepflicht § 17 12 Begründungspflicht § 27 1 f, 10 f Behandlung erniedrigende § 3 39, 41 unmenschliche § 3 3, 33, 39, 41, 53 Beihilfeverbot § 7 116 Bekenntnisfreiheit § 3 31, 34 Benesch-Dekrete § 14 15

937

Sachregister Bereichsausnahme § 7 81, 84; § 8 12; § 9 13, 27, 54, 56; § 10 42, 47; § 11 61 ff; § 12 6; § 19 24 Berufsfreiheit § 3 5; § 19 1 ff Beruf § 19 1 Berufsleben § 3 13 Drei-Stufen-Theorie § 19 29 Eingriffe § 19 29 Konkurrenz zu den Grundfreiheiten § 19 21 Beschäftigung § 9 26 Beschränkungsverbot s Grundfreiheiten Beschwerde, Recht auf wirksame § 6 38, 71, 73 Bestandskraft (Entscheidungen) § 27 24, 66, 72 Bestimmtheitsgebot Strafnormen § 6 62 Bestimmungslandprinzip § 10 3 Beurteilungsspielraum s a Gestaltungsspielraum § 3 8, 23, 25, 27 f, 37, 49, 70; § 4 16, 37 f, 41, 47, 54 f, 81; § 14 115 Beweise Beweiserhebung § 6 49 Rechte des Angeklagten § 6 48 Waffengleichheit § 6 46 f Beweislast § 3 42, 46, 53 Bildung Berufsausbildung § 18 20, 22, 27 Hochschulbildung § 18 20 f – Private Hochschulen § 18 28 Pflichtschulunterricht § 18 18, 25 – Privatschulen § 18 18, 23, 26 Recht auf § 18 2 f, 17, 20, 23, 25 ff Schule § 3 15 Binnenmarkt § 7 1, 13, 23 f, 47, 119; § 9 2, 37; § 12 1, 56; § 23 3, 13 Binnenmarktstrategie, neue § 11 18 Binnenmarktziel § 19 2 Biomedizinkonvention des Europarates § 15 25, 30 Biopatentrichtlinie § 15 18 Blutprobe § 3 39 Bolkestein-Richtlinie § 11 22 Bosphorus-Urteil § 1 18; § 2 52 f, 55 Brechmitteleinsatz § 3 41 Bürgschaft § 12 2, 49 Cassis-de-Dijon-Entscheidung s Grundfreiheiten – Erfordernisse, zwingende Charta der Grundrechte der Europäischen Union § 1 34; § 14 2 Erklärungen § 14 11, 15 Erläuterungen § 14 19, 31, 53, 68 f, 92, 95 Differenzierung zwischen Rechten und Grundsätzen § 14 18 f Rechtsverbindlichkeit § 1 35

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civil rights (Art 6 EMRK) § 6 38 closed shop § 4 79, 87 Common law s EMRK Gesetzesvorbehalt Corte Costituzionale § 14 4 criminal charge (Art 6 EMRK) § 6 40 Daseinsvorsorge § 11 48; § 23 1 ff, 8, 13, 15 Dassonville-Formel s Grundfreiheiten Datenschutz § 3 3; § 16 17, 27, 42 Datenschutzrichtlinie § 16 38, 40, 42 ff, 48 f, 52 Schutz personenbezogener Daten § 16 14, 39 ff, 43 f, 47, 50 f Verbindungsdaten § 3 6 Vorratsdatenspeicherung § 14 115; § 16 46 Demonstrationsfreiheit s Versammlungsfreiheit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse § 23 1, 7 Kritik § 23 16 Zugang § 23 11 Dienstleistungsfreiheit § 7 5, 30; § 9 1; § 11 1 ff; § 16 13 Abgrenzung – zur Arbeitnehmerfreizügigkeit § 9 9, 35; § 11 67 – zur Grundrechtecharta § 11 10 – zur Kapitalverkehrsfreiheit § 11 68 – zur Niederlassungsfreiheit § 11 66 – zur Warenverkehrsfreiheit § 11 69 Adressaten § 11 74 aktive § 11 55 Ansässigkeitserfordernisse § 11 79 Anwendbarkeit, unmittelbare § 11 6 Arbeitsrecht § 11 146 auslandsbedingte Dienstleistungen § 11 58 Begriff der Dienstleistung § 11 46 Bereichsausnahme § 11 61 ff Beschränkungsverbot § 11 83, 87 Diskriminierung § 11 77 f Drittstaatsangehörige § 11 36 Drittwirkung § 11 76 Entgeltlichkeit § 11 47 grenzüberschreitender Vorgang § 11 54 Kohärenzgebot § 11 132 Korrespondenzdienstleistungsfreiheit § 11 57 Liberalisierung durch Sekundärrecht § 11 15 ff Modifikation durch die Europaabkommen § 11 12 passive § 11 56 Regelungen außerhalb des AEUV § 11 11 ff Regelungen im EAG-Vertrag § 11 11

Sachregister Schranken – geschriebene § 11 91 – ungeschriebene § 11 94 Schranken-Schranken § 11 98 Schutzbereich – persönlicher § 11 35 – räumlicher § 11 34 – sachlicher § 11 45 Selbstständigkeit § 11 49 Sport § 11 115 ff Steuerrecht § 11 145 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz § 11 99 Vertragsanbahnung § 11 59 Werbung § 11 59; § 17 17 Dienstleistungsrichtlinie § 11 20 ff Anwendbarkeit § 11 27 einheitlicher Ansprechpartner § 11 30 Entstehungsgeschichte § 11 22 Herkunftslandprinzip § 11 23 Kompetenzgrundlage § 11 25 Differenzierungsverbot s Diskriminierungsverbot Diplomatischer Schutz § 26 78 ff Direktinvestition § 12 45 Diskriminierung s a Grundfreiheiten Begriff § 7 90 offene § 7 28, 132; § 8 32; § 9 37, 50; § 10 51; § 11 77 versteckte § 7 27 f, 119; § 8 33 ff; § 9 38, 50; § 10 51; § 11 78 Diskriminierungsverbot s auch Grundfreiheiten § 1 47; § 2 27; § 3 31, 66 f, 70; § 5 57 ff; § 7 90; § 14 4, 42, 60, 85; § 21 21 ff; § 26 87 Akzessorietät § 3 67 allgemeines § 7 15, 57, 105, 140; § 16 62 Anwendungsbereich des Vertrages § 13 7 besonderes § 7 24, 27 Entgelt § 21 6, 23 ff, 37 ff für Private § 7 61 gerichtliche Kontrolldichte § 3 70 Inländerdiskriminierung § 7 25, 10, 40; § 13 15 Inländergleichbehandlung § 7 18, 27, 90 hinsichtlich der Arbeitsbedingungen § 9 20 f, 33 Meldepflichten im Außenwirtschaftsverkehr § 12 28 f Steuerrecht § 12 15 ff Ungleichbehandlung § 3 69 Unionsbürgerschaft § 26 38, 88 wegen der Rasse § 3 39, 71 wegen der Religion § 16 63

wegen der Staatsangehörigkeit § 13 1 ff; § 15 55 – Rechtfertigung § 13 20, 22 wegen des Alters § 21 22 f, 59 wegen des Geschlechts § 3 70; § 16 53, 56, 60; § 21 23 ff – in Bezug auf Altersversorgungssysteme § 21 37 ff – Rechtfertigung § 21 44 wegen sexueller Orientierung § 21 22 Disziplinarrecht § 6 40 Dividendenbesteuerung § 12 17, 20 f, 23 Dolmetscherkosten § 3 74 Doppelbestrafung, Verbot der § 6 66; § 27 5, 16 Doppelgrundrecht Koalitionsfreiheit § 17 41 Recht auf Bildung § 18 17 Vereinigungsfreiheit § 17 39 Wissenschaftsfreiheit § 18 8 Drittstaaten Kapitalverkehrsfreiheit § 12 4, 44 ff Drittwirkung s a Grundfreiheiten Gesellschaftsverträge § 12 27 Durchführung des Unionsrechts § 14 39, 61, 65 ff, 73, 120 ff Durchsuchung § 3 3 Effektivitätsgebot § 9 5; § 27 49 ff EGKS-Vertrag § 1 3 Ehe § 3 9 ff, 18, 28; § 16 57, 59 Begriff § 3 11 Gleichberechtigung § 3 73 gleichgeschlechtliche § 16 54 Schutz der Ehe § 9 29; § 16 54 Zwangsehe § 16 58 Ehrschutz § 4 19, 34 f, 49, 53 Eigentum § 5 1 ff, 8 ff, 56; § 20, 1 ff Beeinträchtigung des Eigentumsrechts § 5 20 ff Eigentumsgrundrecht § 20 1 ff, 15 ff, 21 f, 32, 38, 48, 50, 52 f – und andere Garantien der EMRK § 5 55 ff Eigentumsordnung § 20 4, 8 Enteignung § 5 9 f, 20 ff, 25, 35, 38, 50 f, 54; § 20 29, 32 – de-facto-Enteignung § 20 12, 29, 33 – Entschädigung § 5 33, 49; § 20 42 – Entziehung § 20 9, 29 f – formelle Enteignung § 20 42 – Nutzungsbeschränkung § 5 27; § 20 27, 31, 43, 47 Gerechter Interessenausgleich § 5 44

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Sachregister Ownership Unbundling § 14 93; § 20 6, 12 – ISO-Modell § 20 6, 12 Schutzbereich § 5 8 ff – berechtigte Erwartungen § 5 10 – Goodwill § 5 12 – Öffentlich-rechtliche Ansprüche § 5 13 ff, 17 – unbedingt entstandene Ansprüche § 5 10 – Wohlerworbene Rechte § 5 8 ff Rechtfertigung § 5 35 Soziale Funktion § 20 45 Sozialpflichtigkeit § 20 10, 12, 27 Verfahren, faires § 5 58 Wesensgehalt § 20 45 Eigentumswohnungen § 12 34 Einfuhrbeschränkungen § 8 25 ff Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung § 14 38, 118 Einreiserecht s Aufenthaltsrecht Elterliches Erziehungsrecht § 18 24, 26 E-Mail § 3 6 Energieversorgung § 12 25 Entschädigung für Fehlurteile § 6 69 Entschädigungsregelung s Eigentum Entscheidung in angemessener Frist § 27 2, 8, 40 f Erbrecht § 3 12; § 5 19 Erklärung von Laeken § 14 8 Erklärungen zu den Unionsverträgen § 14 15 f Erklärungen zur Grundrechtecharta § 14, 11, 15 Erneuerbare Ressourcen § 24 13 EU-Außenbeziehungen § 1 38 Eugenik § 15 25, 27, 30 Europaabkommen § 11 12 Europäische Atomgemeinschaft § 14 3, 59 Europäische Kommission für Menschenrechte §19 Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK Anwendbarkeit § 2 68 Auslegung § 2 41 Beeinträchtigungen § 2 70 Beitritt der EU § 1 40; § 2 22; § 14 32, 38, 79, 81 Berechtigte § 2 42 – Natürliche Personen § 2 43 – juristische Personen des öffentlichen Rechts § 2 45 – juristische Personen des Privatrechts und sonstige Personenvereinigungen § 2 44 Bindung der Mitgliedstaaten § 1 16 Bindungswirkung gegenüber internationalen Organisationen § 1 17 Eingriff § 2 70

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Entstehungsgeschichte § 1 5 f extraterritoriale Geltung § 3 51 Funktionen § 2 25 – Abwehrrechte § 2 26 – Gleichheitsrechte § 2 27 – Leistungsrechte § 2 28 – Schutzpflichten § 2 28, 31, 58, 70, 120 – staatsbürgerliche Rechte § 2 34 – Verfahrensrechte § 2 37 Geltungsbereich § 2 62 – räumlicher § 2 62; § 3 51 – zeitlicher § 2 66 Gesetzesvorbehalt § 2 6, 76, 78; § 3 2, 22 Mehrpolige Grundrechtsverhältnisse § 2 10 Rechtserkenntnisquelle § 14 6 ff, 11, 29, 89, 93 Rechtfertigung § 2 72 Rechtsschutz § 1 11; § 2 72, 83, 104 ff – Beschwerdebefugnis § 2 97 – Beschwerdefrist § 2 104 – Entwicklung § 1 11 – Handeln der Vereinten Nationen § 1 19 – Individualbeschwerde § 1 8, 11 f; § 2 6, 87 – Parteifähigkeit § 2 91 – Prozessfähigkeit § 2 91 – Rechtswegerschöpfung § 2 100 ff – sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen § 2 105 ff – Staatenbeschwerde § 1 8; § 2 86 Schranken – allgemeine § 2 73 – spezielle § 2 74 – verfassungsimmanente § 3 45 Schutzbereich § 2 69 Sprache § 2 8, 88 Stellung im Recht der Konventionsstaaten § 1 14; § 2 11, 15 und Unionsgrundrechte § 1 31; § 15 2 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz § 2 73, 80; § 3 25 Verpflichtete § 2 46 f – internationale und supranationale Organisationen § 1 19; § 2 50 – Konventionsstaaten des Europarates § 2 46 – Private § 2 58 Vollzugslehre § 2 14 Zusatzprotokolle § 1 10; § 2 9 f, 13, 68; § 5 1; § 14 5, 15, 89 – Nr 1 § 2 9, 17, 26, 28, 34, 46, 56 f, 78, 134 – Nr 4 § 2 9, 26

Sachregister – Nr 6 § 2 9 – Nr 7 § 2 6, 9, 27 f – Nr 9 § 1 11 – Nr 11 § 1 11; § 2 9 – Nr 12 § 2 27 – Nr 13 § 2 9, 26 – Nr 14 § 2 9, 110 – Nr 15 § 2 84, 104, 110, 120 Europäische Sozialcharta § 1 20; § 4 89, 97; § 5 62 ff; § 14 12; § 19 4; § 22 23 Europäische Wertegemeinschaft § 15 1, 20, 25 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte § 1 9; § 2 7, 17 Europäischer Bürgerbeauftragter § 14 55, 126 Europäischer Datenschutzbeauftragter § 16 40 Europäischer Haftbefehl § 15 21, 48; § 16 3, 8, 13 Europäischer Rat § 14 8, 15, 33, 126 Europäisches Parlament § 14 8, 15, 104, 124 ff Europäisches Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe § 1 21 Europarat § 1 2; § 2 8, 22, 50; § 14 12 Ministerkomitee § 1 11 Parlamentarische Versammlung § 1 24 Europarechtsfreundlichkeit § 14 79 Europawahlrecht § 26 50, 62 ff Europäischer Wirtschaftsraum § 9 30 Europäische Zentralbank § 12 30, 31 Factortame-Entscheidung § 10 17 fair trial s Verfahren, faires Familie § 16 56, 59 Begriff § 3 9 Familienangehörige § 9 29 Familienleben § 3 2 f, 7, 9 ff, 12, 17, 28; § 16 14, 18 f; § 22 41 f Familiennachzug § 3 12; § 7 50 Fehlurteil § 6 69 Ferienwohnungen § 12 33 ff Fernsehrichtlinie § 17 7, 17, 24 Fluchtgefahr § 6 13 ff, 29 Flüchtlingsschutzrichtlinie § 15 10 Fluglärm § 3 19, 28 Folter § 3 3, 39, 41 ff, 53; § 15 29, 32 f, 38, 40 Ausschuss gegen § 3 46 Begriff § 3 40 Formvorschrift, wesentliche § 27 14 Freiheit und Sicherheit § 16 4, 9 Freiheit von Rundfunk, Fernsehen und Film s Medienfreiheit Freiheitsentziehung § 6 3 ff, 8 ff, 17, 19 f, 22 ff, 29, 32

Freizügigkeit der Arbeitnehmer § 15 6 – Familienangehörige § 15 7; § 16 18 im Unionsgebiet § 16 10; § 26 38 GASP Sanktionen nach Art 215 AEUV § 12 48 Gebhard-Entscheidung § 10 18 Geburt, anonyme § 3 8 Gedankenfreiheit § 3 31; § 16 61, 68, 71 Gefangene § 3 42 Gegenleistung § 9 6, 10, 39 Geistiges Eigentum § 5 18; § 16 50 Geldpolitik § 12 30 Geltung des Unionsrechts, unmittelbare s a Unionsrecht § 7 7 Gemeingebrauch s Schutz des öffentlichen Interesses General Agreement on Trade in Services § 11 13 Genfer Flüchtlingskonvention § 15 44, 46 Geschäftsräume § 3 13; § 16 22 f Durchsuchung, kartellrechtlich veranlasste § 16 32 ff Geschlechtsumwandlung § 3 8, 11 Gesellschaftsanteil § 12 2, 24, 52 Gesellschaftsrecht § 4 76, 83; § 12 27 gesetzlicher Richter § 27 34 Gesundheitsschutz § 8 86 Gestaltungsspielraum s a Beurteilungsspielraum § 8 96 ff; § 14 23, 45, 52, 73 f, 115; § 19 38; § 23 8, 15 gestufte Verfahren § 27 59 ff Gewährleistungspflicht § 6 34 Gewerbebetrieb § 20 22 Gewissensfreiheit § 3 31; § 16 61, 68 Gleichberechtigung § 3 73 Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse § 23 11 zwischen den Geschlechtern § 7 17 Gleichheit faktische § 3 70 Gleichheitssatz s a Diskriminierungsverbot allgemeiner § 7 16; § 14 42, 85; § 21 11, 12 f – Bildung von Vergleichsgruppen § 21 14 – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit § 21 16 f Normstruktur § 21 7 ff Rechtsfolgen eines Verstoßes § 21 18 Unterschiede zu den Freiheitsrechten § 21 7 ff Glücksspielrecht § 11 132

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Sachregister Goodwill § 5 11 Görgülü-Entscheidung § 1 15 Grenzübertritt Diskriminierung § 8 15; § 9 19; § 11 54 Kapitalverkehr § 12 3, 29, 42 Großeltern § 3 9 Grundfreiheiten Abgrenzung s a bei jeweiliger Grundfreiheit – Grundfreiheiten untereinander § 7 76; § 11 66 – zu Unionsgrundrechten § 7 13; § 14 17 ff, 22, 57, 75 – zum allgemeinen Diskriminierungsverbot § 7 106; § 11 80 Beeinträchtigung § 7 67, 87, 105, 107, 132 Begriff § 1 43 Berechtigte § 7 43, 46; § 9 30 f Bereichsausnahme § 7 81, 84; § 9 27, 54 Beschränkung § 1 47; § 7 9, 30, 101, 106; § 8 36 ff; § 9 41 ff; § 10 5, 19, 53 f; § 12 6 ff Dassonville-Formel § 1 48; § 7 30, 33, 96, 99, 135; § 8 35 ff, 53; § 12 6 Diskriminierung § 1 47, § 7 25, 28; § 9 17, 37, 40, 47; § 11 77 f; § 26 38, 88 – Grenzübertritt § 8 15; § 9 19; § 11 54 Drittwirkung § 9 46; § 11 76; § 14 81 – mittelbare § 7 64 – unmittelbare § 1 51; § 7 57, 60, 138 Erfordernisse, zwingende § 7 60, 84, 98, 106, 113, 118 f; § 8 65 ff, 89 ff; § 9 50, 51; § 11 95; § 12 16; § 14 107, 112; § 25 6 – Agrarstruktur § 12 40 – Ansässigkeit der Bevölkerung § 12 49 – Kapitalverkehr mit Drittstaaten § 12 44 – Kapitalverkehrsfreiheit § 12 13, 43 – Kohärenz des Steuerrechts § 12 19 – Kreditsicherungsrecht § 12 42 f – Preisstabilität § 12 13, 30 f – Sozialstruktur § 12 35 – Statistik § 12 28 – Steuereinnahmen § 12 16 – Tourismusbeschränkungen § 12 33, 35 f – Vollstreckung im Ausland § 12 49 Freiheitsrechte § 7 31 Funktion § 7 23 grenzüberschreitender Sachverhalt § 8 15; § 9 19; § 12 3, 29, 42 Inländerdiskriminierung § 9 19; § 26 32, 36, 94 Leistungsanspruch § 7 36 f

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Rechtfertigung § 7 9, 60, 82, 84, 113; § 8 60 ff Schlechterstellungsverbot § 7 90 Schranken § 7 111 – ausdrückliche § 7 111 ff – ungeschriebene § 7 115 Schranken-Schranken § 7 14, 122; § 8 80 ff Schutzbereich § 7 67, 88; § 9 3 f, 6 f, 28 – persönlicher § 9 28; § 11 35; § 19 21 – räumlicher § 11 34 – sachlicher § 9 5; § 11 45 Schutzpflichten § 1 52 subjektiv-öffentliche Rechte § 1 45 unmittelbare Anwendbarkeit § 1 46; § 9 1 Verhältnismäßigkeit § 7 130; § 8 93 ff; § 9 54; § 11 99 Verpflichtete § 7 52, 88 f; § 8 18 ff Vorrang § 7 11 Grundpfandrechte § 12 43 Grundstücke Beschränkungen des Grundstücksverkehrs § 12 32 ff Kapitalform § 12 2 Landwirtschaft § 12 40 militärische Bedeutung § 12 41 Schutz durch Kapitalverkehrsfreiheit § 12 3 Städtebaurecht § 12 34 Vorkaufsrecht § 12 40 Zweitwohnungen § 12 33 ff Grundrechteagentur der EU § 14 51, 125 Grundrechtscheckliste der EU-Kommission § 14 83, 124 Grundrechtskonvent § 1 35; § 14 8, 15, 31, 92, 109 Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung § 14 62 Grundsatznormen Beurteilungsmaßstäbe § 14 52 Vollzugsgebot § 14 52 Vollzugsschranke § 14 52 Gute Sitten § 9 12 Gute Verwaltung, Recht auf § 26 74 Haager Programm § 15 47 habeas corpus § 6 30; § 16 4, 10 Haft -bedingungen § 6 6, 20 bei Minderjährigen § 6 17 -dauer, Untersuchungshaft § 6 28 -entschädigung, Recht auf § 16 6, 33 -gründe § 6 9, 21; § 16 5, 11, 13 -prüfung, Recht auf richterliche § 6 30 Handelsmonopol, staatlicher § 8 4

Sachregister Harmonisierung § 9 25, 55 Kapitalverkehr § 12 22, 56 Harmonisierungsvorschrift § 9 53 Herkunftslandprinzip § 11 23 Höchststimmrecht § 12 24, 27 Hoheitsgewalt Begriff § 3 51 Hoheitsrechte, Übertragung von § 14 38, 55 Homosexualität § 3 8, 71 Human Rights Act § 1 13; § 2 12 Hypothek § 12 43 Identität nationale § 15 15 sexuelle § 3 70 Immissionsschutzrecht § 3 19 informationelle Selbstbestimmung § 3 3 Informationsfreiheit § 4 2, 4, 6, 10 ff, 17, 35, 56; § 17 1, 8 f, 11 f, 14, 19, 21, 27, 29 f Informationsrecht § 6 23; § 26 70 Inländerdiskriminierung s Diskriminierungsverbot Integrationsverantwortung § 14 79 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte § 2 6 Internationales Privatrecht § 12 42 Internet § 3 2 f; 26; § 4 4, 22 Investitionen aus Drittstaaten § 12 45, 52 Jurisdiktion

Klarheitsgebot § 6 62, 64 Klonen reproduktives § 15 25, 27, 30 therapeutisches § 15 30 Koalitionsfreiheit § 4 2, 67, 77 ff, 83, 85 ff, 90 ff; § 17 41 ff, 47 f, 53 Beamtenstreikverbot § 17 42; § 22 28 Kodex zur Liberalisierung laufender unsichtbarer Operationen § 11 13 Kohärenzgebot § 11 132; § 12 19 Kollektive Maßnahmen von Gewerkschaften § 17 41, 43; § 22 26 ff Kölner Mandat § 24 3; § 25 2 Kommunalwahlrecht § 26 54 ff Kommunikation § 16 14, 25, 27 kommerzielle (commercial speech) § 17 10, 13, 23 politische § 17 23 Kompensationserfordernis § 5 46 Konsularischer Schutz § 26 78 ff Kontrahierungszwang § 23 9 Kopftuch § 3 31, 35 ff Korrespondenz § 3 2 f, 5 f, 14 f Kreditsicherungsrecht § 12 42 f Krieg § 3 61 Kruzifix § 3 37 KSZE § 1 2 Kulturgut, nationales § 8 87 Kunstfreiheit § 18 1, 6, 10, 12 f

§ 3 51

Kapitalbegriff § 12 2 Kapitalverkehrsfreiheit Kartellverfahren § 27 7, 15 ff Öffentliche Ordnung § 12 11, 49 f Sanktion § 12 48 Sicherungsrechte § 12 2, 3, 42 f und Arbeitnehmerfreizügigkeit § 12 51, 53, 55 und Dienstleistungsfreiheit § 11 68; § 12 5, 55 und Niederlassungsfreiheit § 12 11, 51 f, 54 f Verhältnismäßigkeit § 12 18 Keck-Rechtsprechung § 1 48; § 7 93, 96, 98 ff, 104, 106, 118; § 8 41 ff; § 9 43; § 12 6 Übertragung auf Dienstleistungsfreiheit § 7 104; § 11 87 Kinder, Rechte der § 21 58 Kinderarbeit, Verbot der § 14 81; § 22 38 ff Kindererziehung § 3 31 Kindergeld § 3 67 Kindschaftsrecht § 3 12, 18, 26, 28

Lauschangriff § 3 13 Leben § 3 3, 31, 48 ff, 54, 62 f, 65 Recht auf Leben § 15 17 ff, 21, 26, 29 ungeborenes § 15 19 f, 25 Lebensgemeinschaft gleichgeschlechtliche § 3 10 f nichteheliche § 3 11 Leistungszwang § 23 9 margin of appreciation § 14 79 Markt -bürger § 26 4 -zugang § 8 46 ff Maßnahmen gleicher Wirkung wie Ausfuhrbeschränkungen § 7 3, 30; § 8 56 ff wie Einfuhrbeschränkungen § 7 3, 33, 96; § 8 30 ff Medien § 4 4, 6, 9, 11, 17, 22, 30, 37, 50, 58 Medienfreiheit § 4 2, 17, 20, 45, 56, 58; § 17 6 f, 9, 15 ff, 19, 24 Medienpluralität § 17 16, 18, 24

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Sachregister Meinungsfreiheit § 3 6; § 4 2, 4, 23, 27 f, 30, 34, 37, 50, 54, 59; § 17 6 f, 9 ff, 19, 21, 23, 27 ff der Unionsbeamten § 17 12, 30 negative § 17 10, 13 Meistbegünstigungsprinzip § 14 93 Meldepflicht im Außenwirtschaftsverkehr § 12 28 f Menschen mit Behinderung § 22 33 Menschenhandel § 3 47; § 15 36, 38, 41 Übereinkommen gegen § 3 47 Menschenrechtsausschuss § 2 6 Menschenrechtsrat § 2 5, 107 Menschenrechtsschutz § 1 2 EU § 1 3 Europarat § 1 2 international § 1 1, 55 OSZE § 1 2 Menschenwürde § 3 39; § 15 1, 3 ff, 10 f, 13 f, 31 als Abwägungsgegenstand § 15 16 als allgemeiner Rechtsgrundsatz § 15 9 Kollision mit Grundfreiheit § 15 15 Tötungshandlung, simulierte § 15 9 und öffentliche Ordnung § 15 9 Militär § 3 15 Minderheitenschutz § 1 22 Mindestlohn § 9 10 Mindestreserven § 12 30 Missbrauch, sexueller § 3 26 Mobilfunk § 3 6 Moral § 4 4, 16, 38, 45, 54 f, 67 nachhaltige Entwicklung, Grundsatz § 24 11, 13 f nasciturus § 14 55 ne bis in idem s a Doppelbestrafung § 6 50; § 27 17 ff Nemo-tenetur-Grundsatz s a Verfahren, faires § 6 50 Nichtdiskriminierung s Diskriminierungsverbot Nichtigkeitsklage des Einzelnen § 27 23 ff Umgehung der Voraussetzungen § 27 31 Niederlassungsfreiheit § 7 4 Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit § 10 4, 13, 19 f, 24, 27, 31, 41; § 11 66 ausländische juristische Personen § 10 5, 67 Beschränkungsverbot § 10 5, 19, 54 Bestimmungslandprinzip § 10 5, 19 Definition § 10 20, 24a Erwerbstätigkeit § 10 20, 24 GATS § 10 9 Gesellschaftsstatut § 10 67, 71

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Gründungstheorie § 10 67, 69 Herkunftslandprinzip § 10 3, 5 Internationales Gesellschaftsrecht § 10 71 juristische Personen § 10 4, 16, 35, 65 f, 74 Personalstatut § 10 67 primäre Niederlassung § 10 35 sekundäre Niederlassung § 10 36 Sitztheorie § 10 68 völkerrechtliche Niederlassungsfreiheit § 10 6, 74 Notstand § 3 61 Notwehr § 3 52, 63 Nulla poena sine lege § 6 61 f; § 27 1, 5 OECD-Kodex § 11 13 offene Marktwirtschaft § 23 16 Offenmarktgeschäfte § 12 30 Öffentliche Ordnung § 7 60, 113, 118 Arbeitnehmerfreizügigkeit § 9 47 f Kapitalverkehrsfreiheit § 12 11, 49 f Öffentliche Sicherheit § 3 24; § 7 60, 113, 118 Arbeitnehmerfreizügigkeit § 9 47 f Kapitalverkehrsfreiheit § 12 11, 24 f, 50 Landesverteidigung § 12 11, 41 Organisationsgarantie § 6 41 Orientierung, sexuelle § 3 8, 70 Österreich Beschränkungen des Grunderwerbs § 12 34 ff, 40 Kapitalverkehr § 12 16 OSZE § 1 2 Ownership Unbundling s Eigentum Parteiverbot § 17 44, 49 Personenfreizügigkeit § 9 1 Persönlichkeitsrecht, allgemeines § 3 3; § 16 15 Petitionsrecht § 26 67 ff Pfeiffer-Entscheidung § 10 48 Pflichten, positive s Schutzpflichten Politische Partei § 4 74, 79; § 17 44 ff, 49, 51 Polizeigewahrsam § 3 40, 42, 53 Postgeheimnis § 3 14 praktische Konkordanz § 7 14; § 14 9, 94 Preisstabilität s Grundfreiheiten – Erfordernisse, zwingende Presse § 3 3, 16, 27 Presse- und Rundfunkfreiheit § 4 2, 4, 17 ff, 27, 38; § 17 8, 15, 17 f, 24 Sorgfaltspflicht § 4 17, 48, 52 Privatisierung § 12 24 ff Privatleben § 3 3 ff, 13, 16, 27 Achtung des Privatlebens § 15 8; § 16 14, 17, 29, 31

Sachregister Privatsphäre § 16 14, 25, 28, 49, 52 Produktbeschaffenheit § 8 36, 98 produktbezogene Maßnahme § 7 100; § 8 49 f Produktvermarktung § 8 43 Protokolle zu den Unionsverträgen § 14 16, 112 Prügelstrafe § 3 41 Rassendiskriminierung s Diskriminierungsverbot Rechtliches Gehör § 6 45, 47; § 27 2, 11, 36 ff, 43, 62 Rechtsangleichung § 7 42 Rechtsbehelfsbelehrung § 27 13, 24 Rechtsgrundsätze, allgemeine § 7 12, 19, 123; § 14 10 f, 25, 41, 96 Rechtsschutz s a Europäische Menschenrechtskonvention, s a Zugang zu Gericht effektiver § 6 2, 24, 38, 55 einstweiliger § 14 50; § 27 41, 62, 55 ff Rechtsschutzanspruch § 16 50; § 27 2, 6, 21 ff, 51 ff, 66 ff und Grundfreiheiten § 7 41, 138 und Unionsgrundrechte § 14 120 ff Vergaberecht § 27 51 ff Rechtsvergleichung, Methode der wertenden § 21 8 Religion § 4 55, 74, 82 Religionsfreiheit § 3 31; § 4, 1; § 16 62, 64, 66 korporative § 16 65 Religionsgemeinschaft § 3 31 Religionsunterricht § 3 31 Rio-Deklaration § 24 13 f, 17 Rückwirkungsverbot § 6 62 ff Sanktionen (Wirtschaftsembargo) § 12 48 Schächten § 3 31 f Schule s Bildung Schusswaffengebrauch § 3 52, 58 Schutzpflichten § 3 16, 19, 26, 44, 46, 52, 62 ff; § 4 11, 27, 64, 79, 95; § 7 38, 123; § 14 24, 45 Schutzrechte, gewerbliche § 8 88 Schwangerschaftsabbruch § 3 8, 49, 52 Selbstbestimmung, sexuelle § 3 3, 8, 26, 50 Selbstmord § 3 50 Sexuelle Orientierung s Diskriminierungsverbot Sicherheit Recht auf § 6 5 ff soziale § 9 20, 32, 54 Sicherungssysteme, soziale § 9 25; § 22 43 ff Koordinierung § 9 26 Sicherungsverwahrung § 6 10, 19, 63 Sklaverei § 3 47; § 15 34, 38, 40 Slowakischer Braunbär § 24 18

Solange-Rspr des BVerfG § 2 52, 54; § 7 11; § 14 38 ff, 73 Sorgerecht, elterliches § 3 28 Sozialcharta s Europäische Sozialcharta Soziale Rechte § 3 67; § 9 22; § 19 6; § 22 16 ff; § 24 3; § 26 90 soziale Vergünstigungen § 9 22, 29, 39 Sozialleistung § 3 67 Sozialstaatsprinzip § 23 3 Sozialstandards, mitgliedstaatliche § 23 12 Staatsangehörigkeit § 9 21, 37 f, 46; § 26 18 ff, 25 ff Staatsbürgerschaft § 26 22 Staatszielbestimmung § 24 5, 15 Stabilisierungsabkommen § 9 33 Stammzellenforschung § 3 49 Standortdaten § 3 6 Stellensuche § 9 15 Sterbehilfe § 3 50 Steuerrecht Darlehen § 12 15 Devisenumsatz § 12 16 Diskriminierung § 12 17 ff Dividendenbesteuerung § 12 17, 21, 23 Doppelbesteuerung § 12 22 gleichmäßig wirkende Besteuerung § 12 16 Kapitalverkehrsfreiheit § 12 15 ff Kohärenz des nationalen Steuerrechts § 12 19 Körperschaftsteuer § 12 21 Steuervorbehalt des Art 65 AEUV § 12 18 Tobin-Steuer § 12 16 Wohnort § 12 16, 18 Strafe Art und Schwere § 6 40 Prügelstrafe § 3 41 Todesstrafe § 3 54 ff; § 15 17, 21, 29 unmenschliche oder erniedrigende § 15 29, 32 f, 38 Strafgefangene § 3 15 strafrechtliche Streitigkeiten § 6 40 Strafverfahren, besondere Rechte des Angeklagten im § 6 48 Streikrecht s Beamte Subjektiv-öffentliche Rechte supranationale Legitimationsfunktion § 21 3 ff transnationale Integrationsfunktion § 21 2 Subsidiaritätsprinzip § 14 45, 112; § 23 15 Subvention s Beihilfeverbot Tabakprodukt-RL § 17 13 Tabakwerbe-RL § 17 13

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Sachregister Teilhaberecht § 7 36 ff; § 14 42, 44; § 23 11; § 26 90 ff abgeleitet § 7 37 originär § 7 40 Telefongespräch § 3 16 Terrorabwehr § 3 45 Tierschutz § 24 6 Tobinsteuer s Steuer Tod Begriff § 3 49 Todesschuss, finaler § 3 58 Transsexualität § 3 8, 11, 71 Treuepflicht s Beamte Türkei s Assoziierungsabkommen Überseering-Entscheidung § 10 64, 73 Ultra-vires-Kontrolle § 14 62, 123 Umgangsrecht des leiblichen Vaters § 14 109 Umweltschutz § 3 7, 19, 26; § 24 1 ff, 5, 7 ff, 16, 18, 20 f Grundsatz des bestmöglichen Umweltschutzes § 24 10 hohes Schutzniveau § 24 6 prozedurales Grundrecht § 24 17 f, 20 Vorrang § 24 9 Unabhängigkeit des Gerichts § 6 41 Ungleichbehandlung s Diskriminierungsverbot Unionsbürgerschaft § 7 2, 18, 23, 27, 43, 50; § 9 2; § 26 1 Adressaten § 26 34 Diskriminierungsverbot § 26 38, 88 Geschichte § 26 4 Minderheitenrechte § 26 93 soziale Rechte § 26 90 Staatsangehörigkeit als Voraussetzung § 26 25 ff Teilhabefunktion § 26 90 ff Träger § 26 15 Umfang § 26 10 Unionsgrundrechte s a Charta der Grundrechte § 2 54; § 8 80 ff allgemeine Rechtsgrundsätze § 7 19, 123 als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten § 7 123 Anwendbarkeit § 14 38, 62, 69, 86 Ausgestaltungsvorbehalt § 14 91 Auslegung § 14 53, 87 Begriff § 14 1 Berechtigte § 14 54 – Drittstaatsangehörige § 14 55 – juristische Personen § 14 56 f – natürliche Personen § 14 55 – Personenmehrheiten § 14 56 f

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Doppelte Grundrechtsbindung § 14 74 Drittwirkung § 14 81 Eingriff § 14 98 Entwicklung § 1 3; § 14 3, 5 ff Funktionen § 14 41 – Element objektiver Ordnung § 14 49 – Freiheitsrechte § 14 41 – Gleichheitsrechte § 14 42 – Leistungsrechte § 14 43 – Schutzpflichten § 14 24, 45 – Teilhaberechte § 14 42, 44 – Verfahrensrechte § 14 47 Geltungsbereich § 1 37; § 14 82 – räumlicher § 14 82 – zeitlicher § 14 82 Geltungsgrund § 14 5 ff Gerichtliche Kontrolldichte § 9 54; § 19 38; § 20 50 Gesetzesvorbehalt § 7 109; § 14 91, 104 f Kollision § 14 9, 94 Kompetenz § 14 45, 49 Konkurrenzen § 14 25, 49, 94 Leistungsanspruch § 14 46 mehrpolige Rechtsverhältnisse § 14 77, 93 Meistbegünstigungsprinzip § 14 93 Missbrauch § 14 95 Prüfungsschema § 14 85, 98, 119 Rang § 14 8 ff, 21 ff, 88 Rechtfertigung § 14 25, 85, 98 ff, 112 Rechtserkenntnisquellen s a Verfassungsüberlieferungen § 14 6, 8, 11, 30, 90 Rechtsschutz s auch Hauptstichwort Rechtsschutz § 14 4, 6, 35, 38, 45, 55 f, 74, 98, 117, 120 ff Schranken § 14 23 f, 88, 99 ff Schranken-Schranken § 14 95, 108 ff Schutzbereich § 14 85, 87 ff – persönlicher § 14 97 – sachlicher § 14 87 Solidaritätsverpflichtungen § 14 48 ungeschriebene § 1 32; § 14 96 ff, 101, 112 Verhältnis – zu den Grundfreiheiten § 7 13, 14; § 14 22 ff, 93 – zu den in den Verträgen geregelten Grundrechten § 14 9, 88 – zu internationalem Recht § 14 33 f – zu Menschenrechten § 14 93 – zu mitgliedstaatlichem Recht § 14 6, 37 f, 51, 74, 81, 105 – zu objektiven allgemeinen Rechtsgrundsätzen § 14 11, 25

Sachregister – zu Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen § 14 35 – zu Sekundärrecht § 14 26 f – zur EMRK § 2 53; § 14 29 ff, 89, 117 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz § 14 45, 91, 100, 108, 110 ff, 114 ff; § 19 37; § 20 14, 30, 37, 47, 49, 53 Verpflichtete § 14 39, 59 – Europäische Union § 14 59 – Mitgliedstaaten § 14 60 ff – Private § 14 81 Vorwirkung § 14 82 Wesensgehaltsgarantie § 14 100, 109, 112; § 19 36; § 20 45 Unionsrecht Bindung an die EMRK § 1 31, § 2 20 ff Freizügigkeit § 1 50 Grundrechtsschutz s a Unionsgrundrechte § 1 25, 56 – Entwicklung § 1 26 Missbrauch § 7 79 Übergangsregelungen nach der EU-Erweiterung § 11 12 ungeschriebene Grundrechte § 1 32 unmittelbare Anwendbarkeit § 1 46; § 7 7, 41, 66; § 9 1; § 11 6; 12 7 unmittelbare Geltung § 7 7 Unionstreue § 23 15 Unisextarife § 14 85 Unparteilichkeit § 6 41 Unschuldsvermutung § 6 1, 51; § 27 1, 5, 16, 20 Untersuchungshaft § 6 12, 14, 28 Unversehrtheit, körperliche § 3 3, 39, 45; § 15 8, 22, 26, 30, 31 Ersatz immaterieller Schäden § 15 23 Opferentschädigunganspruch § 15 24 Urteilsverkündung § 6 54 Verbannung § 3 7 Verbindungsdaten § 3 6 Verbleiberecht § 9 16 Verbraucherschutz § 25 1 ff Abwägungsgebot § 25 8 Einrichtungsgarantie § 25 3 Ermessensspielraum § 25 10 in den unionalen Politikfeldern § 25 9 Optimierungsgebot § 25 8 Schutzmaßnahmen der Mitgliedstaaten § 25 11 Verbraucherleitbild § 25 7 Vorrang § 25 8 Zielbestimmung § 25 3

Ziele § 25 5 Zwecke § 25 6 Vereinigungsfreiheit § 4 2, 67, 72, 74 ff, 77 ff, 86 f, 94 ff, 98; § 17 35, 39 ff, 48, 50, 53 negative § 17 39 Verfahren faires § 2 9, 28, 37, 46; § 3 75; § 5 58; § 6 36, 44; 50 f; § 27 2 f, 5 f, 18 ff, 37 f, 43 Gebrauch der eigenen Sprache im § 9 23; § 27 12 Verfahrensdauer, angemessene § 2 37; § 6 55 Verfahrensöffentlichkeit § 6 52 Waffengleichheit § 3 75; § 6 32, 45 ff Verfahrensdimension § 3 28 f, 64 Verfahrensrechte § 2 37; § 6 1, 37; § 7 23, 41 s a EMRK – Funktionen, Grundfreiheiten – Funktionen, Unionsgrundrechte – Funktionen Verfahrensöffentlichkeit § 6 53 Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten § 2 24; § 14 5 ff, 10 ff, 19, 29, 53, 80, 82, 90 f; § 20 14 Verfassungsvertrag § 14 8 Verfolgung, politische § 3 41 Vergaberecht, Rechtsschutz § 27 51 ff Vergewaltigung § 3 8 Verhältnismäßigkeit s Europäische Menschenrechtskonvention; s Grundfreiheiten; s Unionsgrundrechte Vermögen § 20 20 Veröffentlichungsfreiheit § 17 17 Veröffentlichung von Urteilen § 6 41 Versammlungsfreiheit § 4 2, 59 ff, 65 ff, 72 f, 80, 83, 91, 94; § 7 38; § 17 35, 37 f, 47 f, 50, 53 negative § 17 37 Vertrag von Lissabon § 1 3, 41; § 14 2 ff, 14 ff, 30, 96 Vertrauensschutz § 14 25, 114; § 19 18 Vertrauensschutzgebot § 6 19 Vertraulichkeit der Kommunikation § 3 3, 6 Völkerrecht, humanitäres § 3 61 Völkerrechtsfreundlichkeit § 2 13; § 14 34, 79 Vorführung § 6 12 f, 15, 25 ff Vorabentscheidungsverfahren § 2 57; § 27 22, 41, 56 f Vorrang des Unionsrechts § 7 11; § 14 4, 38 f, 93; § 24 10; § 25 7 Vorratsgrundrechte § 14 13 Vorratsdatenspeicherung s Datenschutz VW-Gesetz § 12 24 f Waffengleichheit s faires Verfahren Währungsrecht § 12 30 f

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Sachregister Warenverkehrsfreiheit § 7 3, 57 Abgrenzung zu Dienstleistungsfreiheit § 11 69 Ausfuhrbeschränkungen § 7 30, § 8 52 ff Einfuhrbeschränkungen § 8 25 ff Keck-Rechtsprechung § 1 48; § 7 93, 96, 98 ff, 104, 106, 118; § 8 41 ff; § 9 43; § 12 6 Maßnahmen gleicher Wirkung – wie Ausfuhrbeschränkungen § 7 3, 30; § 8 56 ff – wie Einfuhrbeschränkungen § 7 3, 33, 96; § 8 30 ff Produktbeschaffenheit § 8 36, 98 produktbezogene Maßnahme § 7 100; § 8 49 f Produktvermarktung § 8 43 Rechtfertigung § 8 60 ff Schranken-Schranken § 8 80 ff sekundäres Unionsrecht § 8 62 ff; § 9 3 Verhältnismäßigkeit § 8 93 ff Verkaufsmodalitäten § 7 100; § 8 41 ff Verpflichtete § 8 18 ff Vertriebsbezogene Maßnahmen § 7 100 Ware § 8 7 ff Wechselkurspolitik § 12 31 Wehrdienstverweigerung § 16 69, 72 Weisungsgebundenheit § 9 9 Weltanschauungsfreiheit § 3 31; § 16 61, 66 Werbeverbote § 11 59 Wesensgehaltsgarantie § 14 100, 109, 112; § 19 36; § 20 45 Wettbewerbsfreiheit § 19 12; § 23 16 Willkürverbot § 6 9, 21 f

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Wirtschaftliche Betätigung, Freiheit der § 19 13 Wirtschaftliche Leistung § 9 7 Wirtschaftsgrundrechte § 5 1 ff, 12, 60 f Wirtschaftspolitik der Union § 23 3 Wirtschafts- und Währungsunion Störungen § 12 46 Zahlungsbilanzen § 12 29 Wirtschaftssanktionen s Sanktionen Wirtschaftsverfassung § 7 1; § 19 1 Wissenschaftsfreiheit § 4 23, 47; § 18 1, 8 ff, 12 f Auswahlverfahren § 18 11 Wohnung § 3 2 f, 13, 16, 48; § 16 14, 21, 23, 32 WTO § 19 2 GATS § 11 13 Zahlungsbilanz § 12 29, 46 Zahlungsverkehrsfreiheit § 12 5 Zolltarif, Gemeinsamer § 8 2 Zollunion § 8 2 Zugang zu EU-Dokumenten § 26 71; § 27 5 zu Gericht § 2 72, 104; § 6 21, 36, 38, 41 ff, 72 f zur Beschäftigung § 9 15, 24, 43 Zusatzprotokolle s EMRK Zwangsarbeit § 3 47; § 15 35, 37 f Zweitwohnung § 12 33 ff, 40 Dänemark § 12 38 Malta § 12 40 zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls s Grundfreiheiten Zypernkonflikt § 3 51