Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten [Reprint 2020 ed.] 9783110875966

Das europäische Recht verdrängt und verlagert immer mehr das nationale Recht. Die bisherigen Darstellungen des Europarec

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German Pages 541 [544] Year 2020

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Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten [Reprint 2020 ed.]
 9783110875966

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de Gruyter Lehrbuch ^

Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten Herausgegeben von

Dirk Ehlers Bearbeitet von Ulrich Becker Thilo Marauhn Christian Calliess Eckhard Pache Dirk Ehlers Matthias Ruffert Frank Schorkopf Astrid Epiney Christoph Grabenwarter Christian Tietje Jörg Gundel Robert Uerpmann Stefan Kadelbach Christian Walter Bernhard W. Wegener Thorsten Kingreen Peter von Wilmowsky

w DE

G

RECHT

2003 De Gruyter Recht • Berlin

Zitiervorschlag:

z. B. Becker in Ehlers, EuGR, 2003, § 9 Rn 54

Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt

ISBN 3-89949-008-8 Bibliograflsche

Information

Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliograflsche Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2002 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung/Satz: WERKSATZ Schmidt & Schulz GmbH, 06773 Gräfenhainichen Druck und Bindearbeiten: WB-Druck, 87669 Rieden/Allgäu Umschlaggestaltung: Hansbernd Lindemann, 10785 Berlin

Vorwort Die ständig zunehmende Bedeutung des europäischen Rechts und die damit einhergehende Verdrängung, Überlagerung oder Ergänzung des nationalen Rechts betrifft nicht nur die Staaten in Europa, sondern auch und gerade die Bürger. In der reichlich vorhandenen Lehrbuchliteratur zum Europarecht spiegelt sich dies bisher nicht hinreichend wider. Es handelt sich fast durchweg um Gesamtdarstellungen des europäischen Gemeinschaftsrechts, welche sich schwerpunktmäßig mit den Institutionen befassen und die grundsätzlichen Rechtspositionen der Bürger eher am Rande streifen. Demgegenüber ist das vorliegende Buch nur den europäischen Grundrechten und Grundfreiheiten gewidmet. Es geht nicht nur um Ausdifferenzierung, sondern auch darum, der Perspektive von oben diejenige von unten an die Seite zu stellen und den Bürgern und ihren Rechten in Europa mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Eingegangen wird nicht nur auf das europäische Gemeinschaftsrecht, sondern auch auf die - immer wichtiger werdende - Europäische Menschenrechtskonvention. Ferner befasst sich ein Kapitel mit der Europäischen Charta der Grundrechte. Auch wenn dieser Charta bisher keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt, wird sie doch nachhaltig die europäische Grundrechtsentwicklung beeinflussen. Das Buch wendet sich in erster Linie an Studierende und Referendare. Gemäß ihrer großen Bedeutung sind die europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten heute in allen Bundesländern Bestandteile der Pflichtfächer im ersten und zweiten juristischen Examen. Die Konzeption des Lehrbuches ist eine dreifache. Zum einen ist es das Bemühen der Autoren gewesen, die europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten auf der Grundlage einer systematischen Durchdringung darzustellen. So sind den Einzeldarstellungen die allgemeinen Lehren vorangestellt worden. Auch wird einheitlich zwischen Schutzbereich, Beeinträchtigung und Rechtfertigung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten unterschieden, wobei die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Gemeinschaftsgrundrechte nach Sachbereichen zusammengefasst wurden. Des Weiteren wurde ungeachtet der Notwendigkeit, den komplexen Stoff zu reduzieren, die Absicht verfolgt, die wesentlichen Problemstellungen der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten zu behandeln. Hierbei haben sich gewisse Überschneidungen nicht vermeiden lassen. So versteht es sich von selbst, dass die im Rahmen der allgemeinen Lehren behandelten Fragestellungen bei der Darstellung der Einzelgrundrechte und Grundfreiheiten wieder auftauchen. Auch bestehen wegen der Bezugnahme des Gemeinschaftsrechts auf die Europäische Menschenrechtskonvention enge Verbindungen zwischen den Gemeinschaftsgrundrechten und den Grundrechten der Europäischen Menschenrechtskonvention. Herausgeber und Autoren haben versucht, dem Überlappen der Problemstellungen durch Vernetzung der Beiträge Rechnung zu tragen. Schließlich liegt dem Buch ein einheitliches didaktisches Konzept zu Grunde, weil abgesehen von der Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Grundrechte und Grundfreiheiten die systematische Betrachtungsweise in allen Beiträgen durch eingearbeitete Fälle und Lösungen ergänzt wird. Die zumeist der Rechtsprechung entnommenen Fälle und Lösungen sollen nicht nur zur Veranschaulichung beitragen, sondern auch den Leser in die Lage versetzen, sich den Stoff selbstständig zu erarbeiten und auf einen Lebenssachverhalt anzuwenden. Sie dienen damit zugleich der Selbstkontrolle. Trotz des Bemühens um Prägnanz und Kürze kommt das Lehrbuch auf eine stattliche Seitenzahl. Doch müssen nicht zwangsläufig alle Passagen der Schrift in einem Zug

V

Vorwort durchgearbeitet werden. Zum einen ähnelt sich die Struktur der Grundrechte und Grundfreiheiten. Zum anderen gibt es Grundrechte und Grundfreiheiten, die nicht im Zentrum stehen und eher bei der Anfertigung von Hausarbeiten, Relationen oder Dissertationen auf Interesse stoßen werden. Wer sich nur auf die allgemeinen Examensanforderungen konzentrieren will, kann und mag sich auf das Unerlässliche beschränken. Das Werk ist eine Gemeinschaftsarbeit von 17 Autoren. Der Herausgeber dankt den Verfassern, dass sie zur Verwirklichung des Unterfangens bereit waren, sich in eine von ihm entworfene Gesamtkonzeption einzufügen und auch terminlich einzubringen. Dass eine so große Zahl von Autoren ein Wagnis ist, war den Beteiligten von vornherein klar. Alle Mitwirkenden hoffen aber, dass trotz aller Unterschiede im Einzelnen ein Ganzes entstanden ist, das nicht nur für die Auszubildenden eine Hilfestellung darstellt, sondern auch allen sonstigen mit dem Europarecht befassten Institutionen und Personen und damit zugleich der Praxis Anregungen zu geben vermag. Die umfangreichen redaktionellen Arbeiten sind von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Lehrstuhls durchgeführt worden. Ihnen sei auch an dieser Stelle vielmals gedankt. Besonders zu nennen ist Herr Alexander de Diego, der alle Arbeiten koordiniert hat. Für Stellungnahmen und kritische Hinweise sind Herausgeber und Autoren dankbar. Sie können auch auf elektronischem Wege übermittelt werden ([email protected]). Münster, im Mai 2002

VI

Dirk Ehlers

Autoren- und Inhaltsübersicht Dr. Christian Walter Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Heidelberg § 1 Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten

1

Dr. Dirk Ehlers Professor an der Universität Münster § 2 Allgemeine Lehren

21

Dr. Robert Uerpmann Professor an der Universität Regensburg § 3 Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot

47

Dr. Thilo Marauhn Professor an der Universität Gießen § 4 Kommunikationsgrundrechte

73

Dr. Bernhard W. Wegener Professor an der Universität Münster § 5 Wirtschaftsgrundrechte

108

Dr. Dr. Christoph Grabenwarter Professor an der Universität Bonn § 6 Justiz- und Verfahrensgrundrechte

126

Dr. Dirk Ehlers Professor an der Universität Münster § 7 Allgemeine Lehren

147

Dr. Astrid Epiney Professorin an der Universität Freiburg Schweiz §8 Freiheit des Warenverkehrs

187

Dr. Ulrich Becker Professor an der Universität Regensburg § 9 Arbeitnehmerfreizügigkeit

214

Dr. Christian Tietje Professor an der Universität Halle §10 Niederlassungsfreiheit

240

Dr. Eckhard Pache Professor an der Universität Würzburg § 11 Dienstleistungsfreiheit

268 VII

Autoren- und Inhaltsübersicht Dr. Peter v. Wilmowsky Professor an der Universität Erfurt §12 Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs

290

Dr. Dirk Ehlers Professor an der Universität Münster §13 Allgemeine Lehren

319

Dr. Frank Schorkopf Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Heidelberg, zZ wiss Mitarb am Bundesverfassungsgericht § 14 Persönlichkeits- und Kommunikationsgrundrechte

339

Dr. Matthias Ruffert Professor an der Universität Jena §15 Grundrecht der Berufsfreiheit

364

Dr. Christian Calliess Professor an der Universität Graz §16 Eigentumsgrundrecht

381

Dr. Thorsten Kingreen Professor an der Universität Bielefeld § 17 Gleichheitsrechte

398

Dr. Jörg Gundel Priv.-Doz. an der Freien Universität Berlin §18 Verfahrensgrundrechte

421

Dr. Christian Calliess Professor an der Universität Graz § 19 Die Europäische Grundrechts-Charta

447

Dr. Stefan Kadelbach Professor an der Universität Münster § 20 Die Unionsbürgerrechte

467

VIII

Inhaltsverzeichnis Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten ERSTER TEIL Die europäische Grundrechtsidee §1

Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten I. Internationaler und Europäischer Grundrechtsschutz II. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Menschenrechtsschutzes im Rahmen des Europarats und insbesondere durch die EMRK 1. Die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes durch die EMRK 2. Der Menschenrechtsschutz im Europarat im Allgemeinen III. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der EG/EU 1. Frühe Rechtsprechung 2. Entwicklung und dogmatische Begründung der Gemeinschaftsgrundrechte 3. Die Diskussion um einen Beitritt zur EMRK 4. Forderungen nach einem Grundrechtskatalog für das Gemeinschaftsrecht und die Europäische Grundrechts-Charta 5. Der Geltungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte IV. Die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts 1. Anerkennung als subjektiv-öffentliche Rechte 2. Auslegung der Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote 3. Drittwirkung und Schutzpflichten: Grundrechtsdogmatik in der Argumentation des EuGH zu den Grundfreiheiten V. Zusammenfassung: Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten in einem Europa mehrerer Ebenen

1

.

2 2 6 8 8 9 11 12 14 14 15 16 17 19

ZWEITER TEIL Die Europäische Menschenrechtskonvention §2

Allgemeine Lehren I. Die Stellung der EMRK im Gefüge des internationalen und nationalen Rechts II. Funktionen der Konventionsrechte 1. Gewährleistungen des status negativus (Abwehrrechte) 2. Gewährleistungen des status positivus (Leistungsrechte)

21 21 25 25 26

IX

Inhaltsverzeichnis 3. Gewährleistung des status activus (staatsbürgerliche Rechte)

...

4. Status activus processualis (Verfahrensrechte)

29

IV. Verpflichtete der Konventionsrechte 1. Konventionsstaaten des Europarates 2. Internationale und supranationale Organisationen 3. Privatpersonen

31 31 32 34

VI. Zeitliche Geltung VII. Gewährleistungen und Beschränkungen der Konventionsrechte . . . 1. Stufen der Konventionsrechtsprüfung 2. Die Anwendbarkeit der Konvention 3. Schutzbereich, Gewährleistungsgehalt der Konventionsrechte . . . 4. Eingriff, Beeinträchtigung 5. Rechtmäßigkeit des Eingriffs bzw der Beschränkung VIII. Rechtsschutz 1. Staatenbeschwerde 2. Individualbeschwerde Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot I. Schutz der Privatsphäre 1. Privat- und Familienleben, Wohnung und Korrespondenz (Art 8 EMRK) 2. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art 9 EMRK) . . . II. Schutz der persönlichen Integrität 1. Verbot von Folter sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Bestrafung (Art 3 EMRK) 2. Recht auf Leben (Art 2 EMRK) III. Diskriminierungsverbot 1. Das akzessorische Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK 2. Spezielle Gleichheitsaspekte §4

Kommunikationsgrundrechte I. Die besondere Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte im System der EMRK II. Die Meinungs- und die Informationsfreiheit 1. Schutzbereiche 2. EingrifT 3. Rechtfertigung III. Versammlungsfreiheit 1. Schutzbereich 2. Eingriff 3. Rechtfertigung

X

27

III. Berechtigte der Konventionsrechte

V. Räumlicher Geltungsbereich

§3

27

34 35 36 36 36 37 37 39 41 42 42 47 47 48 57 59 60 64 69 69 72 73 73 74 74 80 83 95 96 97 97

Inhaltsverzeichnis IV. Vereinigungsfreiheit 1. Schutzbereich 2. Eingriff 3. Rechtfertigung

§5

99 99 100 100

V. Koalitionsfreiheit 1. Schutzbereich 2. Eingriff 3. Rechtfertigung

101 102 104 104

VI. Zusammenfassung

106

Wirtschaftsgrundrechte

108

I. Einführung

108

II. Schutz des Eigentums 1. Schutzbereich der Eigentumsgarantie 2. Beeinträchtigungen des Eigentumsrechts 3. Rechtfertigung von Eigentumsbeeinträchtigungen 4. Eigentumsrecht und andere Garantien der EMRK

§6

109 110 113 116 121

III. Sonstige wirtschaftsrechtliche Garantien

122

IV. Einfluss der Europäischen Sozialcharta

123

Justiz- und Verfahrensgrundrechte

126

I. Der Schutz der persönlichen Freiheit 1. Das Recht auf Freiheit und Sicherheit 2. Die Eingriffstatbestände 3. Rechte der festgenommenen Person

126 127 127 131

II. Justizgrundrechte im Zusammenhang mit Verfahren von Gerichten . 1. Das Recht des fair trial gern Art 61 EMRK 2. Nulla poena sine lege (Art 7 EMRK) 3. Das Verbot der Doppelbestrafung und -Verfolgung 4. Recht auf Nachprüfung einer gerichtlichen Verurteilung 5. Das Recht auf Entschädigung für Fehlurteile (Art 3 7. ZP EMRK) III. Verfahrensgarantien bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen IV. Das Recht auf wirksame Beschwerde

....

133 133 141 143 144 144 144 144

DRITTER TEIL Die Grundfreiheiten der Europäischen Gemeinschaften §7

Allgemeine Lehren I. Eigenart und Stellung der Grundfreiheiten im Gefüge des europäischen Gemeinschaftsrechts

147 147 XI

Inhaltsverzeichnis 1. Bedeutung der Grundfreiheiten 2. Die einzelnen Grundfreiheiten 3. Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit der Grundfreiheiten 4. Subjektiv-rechtlicher Charakter der Grundfreiheiten 5. Vorrang der Grundfreiheiten 6. Abgrenzung zu anderen Rechten des primären Gemeinschaftsrechts 7. Dogmatik der Grundfreiheiten II. Funktionen der Grundfreiheiten 1. Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte 2. Die Grundfreiheiten als Freiheitsrechte 3. Die Grundfreiheiten als Leistungsrechte 4. Die Grundfreiheiten als Verfahrensrechte 5. Die Grundfreiheiten als Elemente objektiver Ordnung III. Berechtigte der Grundfreiheiten 1. Staatsangehörige der Mitgliedstaaten 2. Juristische Personen und Personenmehrheiten innerhalb der Gemeinschaft 3. Drittstaatler sowie juristische Personen und Personenmehrheiten außerhalb der Gemeinschaft IV. Verpflichtete der Grundfreiheiten 1. Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften 2. Europäische Gemeinschaften 3. Privatpersonen V. Räumlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten VI. Zeitlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten VII. Schutzbereiche, Beeinträchtigungen und Schranken der Grundfreiheiten 1. Schutzbereich der Grundfreiheiten 2. Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Grundfreiheiten 3. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung von Grundfreiheiten . . . . 4. Schematische Zusammenfassung

§8

153 153 156 158 160 161 162 162 162 163 164 164 164 165 167 167 168 168 172 177 183

VIII. Rechtsschutz 1. Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen 2. Durchsetzung der Grundfreiheiten durch die EG-Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten

185

Freiheit des Warenverkehrs

187

I. Schutzbereich II. Beeinträchtigung 1. Adressaten (Verpflichtete) 2. Einfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 28 EGV) XII

147 148 149 150 150 150 153

184 184

188 189 189 191

Inhaltsverzeichnis 3. Mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung III. Rechtfertigung 1. Bereichsübergreifende Aspekte 2. Geschriebene Rechtfertigungsgründe 3. Ungeschriebene Schranken 4. Verhältnismäßigkeit §9

Arbeitnehmerfreizügigkeit I. Schutzbereich 1. Vorbemerkung 2. Sachlicher Schutzbereich 3. Persönlicher Schutzbereich 4. Konkurrenzen II. Beeinträchtigung 1. Diskriminierungen 2. Beschränkungen 3. Adressaten III. Rechtfertigung 1. Geschriebene Schranken 2. Ungeschriebene Schranken 3. Schranken-Schranken

§10 Niederlassungsfreiheit I. Einleitung 1. Grundlegende Strukturen und Probleme der Niederlassungsfreiheit im System der Grundfreiheiten 2. Das Zusammenspiel von gemeinschafts- und völkerrechtlicher Niederlassungsfreiheit II. Schutzbereich 1. Räumlicher Schutzbereich 2. Personeller Schutzbereich 3. Sachlicher Schutzbereich 4. Bereichsausnahmen

198 198 199 206 208 208 214 215 215 216 226 229 229 230 232 234 235 235 236 237 240 240 240 243 245 245 245 246 255

III. Beeinträchtigung 1. Diskriminierungen 2. Beschränkungen

257 258 260

IV. Rechtfertigung

262

V. Die Anwendung der Niederlassungsfreiheit auf juristische Personen gemäß Art 48 EGV § 11 Dienstleistungsfreiheit I. Einleitung

264 268 268 XIII

Inhaltsverzeichnis 1. Die allgemeine Bedeutung der Dienstleistungsfreiheit im Gemeinschaftsrecht 2. Struktur der Dienstleistungsfreiheit im Gemeinschaftsrecht . . . . 3. Dienstleistungsfreiheit außerhalb des EG-Vertrags 4. Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs durch Sekundärrecht 5. Neue Binnenmarktstrategie der Kommission vom Januar 2001 . . II. Schutzbereich 1. Räumlicher Schutzbereich 2. Personeller Schutzbereich 3. Sachlicher Schutzbereich

271 272 272 272 273 273

III. Beeinträchtigung des Schutzbereichs 1. Adressaten 2. Diskriminierung 3. Beschränkungen

279 280 281 283

IV. Rechtfertigung 1. Ausdrückliche (geschriebene) Schranke 2. Ungeschriebene Schranken 3. Schranken-Schranken

285 286 286 287

§12 Freiheit des Kapital-und Zahlungsverkehrs I. Schutzbereich 1. Kapitalverkehr 2. Verhältnis zu den anderen Grundfreiheiten 3. Grenzübertritt 4. Zahlungsverkehr II. Beschränkungsverbot

290 290 290 291 293 294 295

III. Rechtfertigung von Beschränkungen innerhalb der Gemeinschaft: Die Schutzgüter des Art 58 EGV und die zwingenden Erfordernisse .

297

IV. Einzelne Regelungsfelder 1. Steuerrecht: Besteuerung von Kapitalerträgen 2. Unternehmensrecht 3. Außenwirtschaftsrecht: Meldepflichten 4. Währungsrecht 5. Recht des Grundstücksverkehrs 6. Kreditsicherungsrecht

299 299 304 305 307 307 311

V. Zusätzliche Beschränkungen gegenüber Drittstaaten 1. Begründungsfreie Beschränkungen nach Art 57 EGV 2. Befristete Beschränkungen nach Art 59 EGV 3. Wirtschaftssanktionen nach Art 60 EGV 4. Weiter reichende Auslegung des Art 58 EGV und der zwingenden Erfordernisse VI. Schluss XIV

268 269 270

314 314 315 316 316 317

Inhaltsverzeichnis VIERTER TEIL Die Grundrechte der Europäischen Gemeinschaften §13 Allgemeine Lehren

319

I. Eigenart und Stellung der Gemeinschaftsgrundrechte im Gefüge des internationalen und nationalen Rechts 1. Begriff der Grundrechte 2. Notwendigkeit der Gewährleistung von Grundrechten auf Gemeinschaftsebene 3. Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte 4. Verhältnis der Gemeinschaftsgrundrechte zu anderen grundrechtlichen Gewährleistungen 5. Weiterentwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte II. Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte 1. Gewährleistung von Freiheitsrechten 2. Gewährleistung von Gleichheitsrechten 3. Gewährleistung von Leistungsrechten 4. Gewährleistung von Unionsbürgerrechten 5. Gewährleistung von Verfahrensrechten 6. Gemeinschaftsgrundrechte als Elemente objektiver Ordnung

. . .

319 319 319 320 323 325 327 327 327 327 328 328 329

III. Berechtigte der Gemeinschaftsgrundrechte 1. Natürliche Personen 2. Juristische Personen und Personenmehrheiten

329 329 329

IV. Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte 1. Europäische Gemeinschaften 2. Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften 3. Privatpersonen

330 331 331 332

V. Räumlicher und zeitlicher Geltungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte VI. Gewährleistungen und Beeinträchtigungen der Gemeinschaftsgrundrechte 1. Schutzbereich der Gemeinschaftsgrundrechte 2. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs 3. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Gemeinschaftsgrundrechte VII. Rechtsschutz 1. Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen 2. Rechtsschutzmöglichkeiten der Gemeinschaftsorgane und Mitgliedstaaten VIII. Weitere Formen des Schutzes von Grundrechten in der Europäischen Union

333 333 333 334 334 337 337 338 338

XV

Inhaltsverzeichnis § 14 Persönlichkeits- und Kommunikationsgrundrechte I. Schutz der Persönlichkeit 1. Schutzbereiche 2. Beeinträchtigung 3. Rechtfertigung II. Schutz der Kommunikation 1. Schutzbereich 2. Beeinträchtigung 3. Rechtfertigung § 15 Grundrecht der Berufsfreiheit I. Schutzbereich 1. Funktion, Bedeutung und Quellen des Gemeinschaftsgrundrechts der Berufsfreiheit 2. Sachlicher Schutzbereich 3. Persönlicher Schutzbereich II. Beeinträchtigung III. Rechtfertigung 1. Schranken der Berufsfreiheit 2. Anforderungen an eine gemeinschaftsrechtskonforme Beschränkung der Berufsfreiheit §16 Eigentumsgrundrecht I. Stellung und Bedeutung des Eigentumsgrundrechts im Gemeinschaftsrecht II. Die Herleitung und dogmatische Struktur des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechts

339 340 353 353 354 354 361 362 364 364 364 369 374 375 377 377 377 381 381 382

III. Das europäische Eigentumsgrundrecht im Einzelnen 1. Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts 2. Beeinträchtigung des Schutzbereichs 3. Rechtfertigung

386 386 388 391

IV. Würdigung

396

§17 Gleichheitsrechte I. Überblick und Systematik II. Normstruktur und Prüfungsaufbau

XVI

339

398 398 400

III. Der allgemeine Gleichheitssatz 1. Ungleichbehandlung 2. Rechtfertigung 3. Rechtsfolgen eines Verstoßes

401 402 402 403

IV. Besondere Gleichheitssätze 1. Art 12 I EGV 2. Art 141 I EGV

403 403 410

Inhaltsverzeichnis § 18 Verfahrensgrundrechte

421

I. Überblick 1. Bedeutung der Verfahrensgrundrechte im Gemeinschaftsrecht 2. Quellen der Verfahrensrechte des Gemeinschaftsrechts 3. Verpflichtete II. Verfahrensgrundrechte gegenüber den Gemeinschaftsorganen . . . . 1. Verfahrensgrundrechte gegenüber den Verwaltungsorganen der Gemeinschaft 2. Verfahrensgrundrechte vor den Gemeinschaftsgerichten III. Anforderungen der Verfahrensgrundrechte des Gemeinschaftsrechts an die Mitgliedsstaaten 1. Anwendbarkeit der Verfahrensgrundrechte auf das Handeln des Mitgliedsstaaten 2. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch die Grundfreiheiten 3. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch das Gebot gleichwertigen und effektiven Rechtsschutzes (Art 10 EGV) . . . . IV. Besondere Probleme bei „gestuften" Verfahren und „gemischten" Entscheidungen zwischen nationalen Behörden und EG-Kommission 1. Gestufte Verfahren 2. Rechtsschutzprobleme bei „gemischten" Entscheidungen V. Zusammenfassung

421 421 422 423 424 424 429 435 435 436 437 442 442 444 446

§19 Die Europäische Grundrechts-Charta I. Einführung

447 447

II. Grundrechtliche Gewährleistungen und Schranken 1. Ein Überblick über die von der Grundrechts-Charta gewährleisteten Grundrechte 2. Die Schrankenregelungen der Grundrechts-Charta 3. Stellungnahme

450 450 454 456

III. Zum Anwendungsbereich der Grundrechts-Charta

459

IV. Zur rechtlichen Verbindlichkeit der Grundrechts-Charta

461

V. Ausblick

466

FÜNFTER TEIL Die europäischen Bürgerrechte § 20 Die Unionsbürgerrechte I. Einleitung

467 467 XVII

Inhaltsverzeichnis II. Die Unionsbürgerschaft als Angelegenheit der Europäischen Gemeinschaft 1. Vom Marktbürger zum Unionsbürger 2. Die Regelungen des EG-Vertrages zur Unionsbürgerschaft . . . .

468 468 470

III. Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft . . 1. Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft 2. Staatsangehörigkeit als Voraussetzung der Unionsbürgerschaft . . 3. Unionsbürgerschaft als Ergänzung der Staatsbürgerschaft

472 472 474 477

IV. Die Unionsbürgerrechte 1. Freizügigkeit (Art 18 EGV) 2. Politische Rechte 3. Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 20 EGV) 4. Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot (Art 12 EGV)

478 478 482 490 494

V. Bewertung Sachregister

XVIII

498 501

Abkürzungsverzeichnis A a aA aaO abgedr abl ABl Abs Abschn abw aE aF AfP AJCL AJIL allgem allgM Alt aM amtl Begr and Änd ÄndG Anh Anl Anm Ans ao AöR ARB ArbR ArbuR ArchVR arg Art AS AT AuA Aufl ausf AuslG AWG AWV Az

auch andere Ansicht am angegebenen Ort abgedruckt ablehnend Amtsblatt Absatz Abschnitt abweichend am Ende alte Fassung Archiv für Presserecht American Journal of Comparative Law American Journal of International Law allgemein allgemeine Meinung Alternative andere(r) Meinung amtliche Begründung anders Änderung Gesetz zur Änderung (von) Anhang Anlage Anmerkung Ansicht außerordentlich Archiv des öffentlichen Rechts Assoziationsratsbeschluss Arbeitsrecht Arbeit und Recht Archiv des Völkerrechts Argument Artikel Amtliche Sammlung Allgemeiner Teil Arbeit und Arbeitsrecht Auflage ausführlich Ausländergesetz Außenwirtschaftsgesetz Außenwirtschaftsverordnung Aktenzeichen

XIX

Abkürzungsverzeichnis B b B bad-württ BAG BAnz BAT BauGB BayVBl BayVGH BBankG Bd Bde Begr begr Beil Bek Bekl Bern ber bes betr BetrVG Bf BGB BGBl BGH BImSchG BIP bish BKR BR-Drs BS BSHG Bsp bspw BT-Drs Buchst Bull EG Bull EU BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE bzgl bzw

XX

bei Bund(es) baden-württembergisch Bundesarbeitsgericht Bundesanzeiger Bundesangestelltentarifvertrag Baugesetzbuch Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verfassungsgerichtshof Gesetz über die Deutsche Bundesbank Band Bände Begründung begründet Beilage Bekanntmachung Beklagte(r) Bemerkung berichtigt besonders, besondere betreffend Betriebsverfassungsgesetz Beschwerdeführer(in) Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundes-Immissionsschutzgesetz Bruttoinlandsprodukt bisher(ige) Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Bundesrats-Drucksache Beamtenstatut Bundessozialhilfegesetz Beispiel beispielsweise Bundestags-Drucksache Buchstabe Bulletin der Europäischen Gemeinschaften Bulletin der Europäischen Union Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich beziehungsweise

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Der Betrieb Deutsche Demokratische Republik denselben derselbe dergleichen das heißt dieselben Dokument Die Öffentliche Verwaltung Décisions et Rapports der Europäischen Kommission für Menschenrechte Drucksache deutsch Datenschutz und Datensicherheit Deutsches Verwaltungsblatt

Entscheidung Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft ebenda European Community European Court Of Human Rights editor(s)/edition Europäische Gemeinschaft(en) Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuches Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft EG-Verordnung European Human Rights Law Review Einführung Einleitung European Law Journal European Law Reporter European Law Review Europäische Menschenrechtskonvention endgültig englisch entsprechend Entwurf

XXI

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Europäisches Parlament European Public Law Europarecht Ergänzungsband Erläuterung(en) Entscheidungssammlung Einkommensteuergesetz Europäisches System der Zentralbanken et cetera European Treaty Series Europäische Union Gericht 1. Instanz Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27.10.1968 (BGBl II 1972, 774) Europarecht (Zeitschrift) Europäische Atomgemeinschaft europäisch Europawahlgesetz Europawahlrichtlinie Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht Europäische Zentralbank

F f ff FAZ Fn franz FS

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G GA GAP GASP GATS GATT GBl GBO geänd gem

Generalanwalt Gemeinsame Agrarpolitik Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik General Agreement on Trade in Services General Agreement on Tariffs and Trade Gesetzblatt Grundbuchordnung geändert gemäß

XXII

Abkürzungsverzeichnis Ges GG ggf glA GmbH GmbHR GO GRCh grundl GS GV GVB1 GVG GWB GYIL

Gesetz Grundgesetz gegebenenfalls gleicher Ansicht Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH Rundschau Geschäftsordnung Grundrechts-Charta grundlegend Gedächtnisschrift Gemeinsame Verfügung Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen German Yearbook of International Law

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herrschende Ansicht Halbsatz Handwerksordnung Handbuch Handbuch für Europäisches Wirtschaftsrecht Hervorhebung hessisch Hinweis herrschende Lehre herrschende Meinung Human Rights Law Journal Herausgeber

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in der Fassung in der Regel in diesem Sinne im Ergebnis im engeren Sinne International Legal Materials im allgemeinen Informationsbrief Ausländerrecht insbesondere insgesamt Internationales Gesellschaftsrecht Internationales Privatrecht Praxis des internationalen Privatrechts im Sinne (von) im Sinne des/der im Sinne einer/eines in Verbindung mit im Verhältnis zu

XXIII

Abkürzungsverzeichnis IWF iwS iZw

Internationaler Währungsfonds im weiteren Sinne im Zweifel

J JB1 jew JK JöR JTDE JURA JuS JZ

Juristische Blätter jeweils JURA-Karteikarte Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Journal des Tribunaux - Droit européen Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung

K Kap KJ Kl KOM Komm KommunalwahlRL KonsG krit KritV KSZE KWahlG

Kapitel Kritische Justiz Kläger(in) Europäische Kommission Kommentar Kommunalwahlrichtlinie Konsulargesetz kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kommunalwahlgesetz

L lfd LGB1 lit Lit LS It LV

laufend Landesgesetzblatt Buchstabe Literatur Leitsatz laut Literaturverzeichnis

M m m Hinw m krit Anm m zust Anm Maastr JECL maW mE MLR mwN

mit mit Hinweis(en) mit kritischer Anmerkung (von) mit zustimmender Anmerkung Maastricht Journal of European and Comparative Law mit anderen Worten meines Erachtens Modern Law Review mit weiteren Nachweisen

XXIV

Abkürzungsverzeichnis N Nachw NATO NdsVBl nF NJW Nov Nr NV NVwZ NVwZ-RR NW NZA NZZ

Nachweis(e) North Atlantic Treaty Organization Niedersächsische Verwaltungsblätter neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Novelle Nummer Naamloze Vennootschap (niederländisch für Aktiengesellschaft) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - Rechtsprechungsreport Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht Neue Züricher Zeitung

O o O oa oä OECD og oJ ÖstGewO OSZE oV

oben Ordnung oben angegeben oder ähnlich Organization for Economic Cooperation and Development oben genannt ohne Jahr österreichische Gewerbeordnung Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ohne Verfasser

P phG Prot

persönlich haftender Gesellschafter Protokoll

R RA RabelsZ RAussch RdA RdErl Rdschr Reg Rev rh-pf RIW RL RMC Rn Rs Rspr Rspr-Nachw RUDH

Rechtsanwalt Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Rechtsausschuss Recht der Arbeit Runderlass Rundschreiben Regierung Review rheinland-pfälzisch Recht der internationalen Wirtschaft Richtlinie Revue du Marché Commun Randnummer Rechtssache Rechtsprechung Rechtsprechungsnachweise Revue Universelle des Droits de l'Homme

XXV

Abkürzungsverzeichnis S s S sa so su sächs sachs-anh Sart SGb SGB Slg sog Sp st StR StGB str stRspr StuB StuW sz

siehe Seite, Satz siehe auch siehe oben siehe unten sächsisch sachsen-anhaltisch Sartorius Die Sozialgerichtsbarkeit Sozialgesetzbuch Sammlung sogenannt(e) Spalte ständige Steuerrecht Strafgesetzbuch streitig ständige Rechtsprechung Steuern und Bilanzen Steuer und Wirtschaft Süddeutsche Zeitung

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Textziffer

U u uä ua UAbs uam Überbl Übk ÜM umstr UN unstr UNTS unv Urt US usw UTR uU uvm UWG

unten und ähnliche unter anderem, und andere Unterabsatz und anderes mehr Überblick Übereinkommen überwiegende Meinung umstritten United Nations unstreitig United Nations Treaty Series unveröffentlicht Urteil United States Reports (Cases Adjuged in the Supreme Court) und so weiter Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts unter Umständen und verschiedenes mehr Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb

XXVI

Abkürzungsverzeichnis V v Verf VerfGH Vers VG VGH vgl vH VO Vol Voraufl Vorbem VR VSSR WDStRL VwGO W w Nachw b WM WTO WuB WÜK

vom/von Verfassung Verfassungsgerichtshof Versicherung Verwaltungsgericht Verfassungsgerichtshof vergleiche vom Hundert Verordnung Volume Vorauflage Vorbemerkung Völkerrecht Vierteljahresschrift für Sozialrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung

WVRK

weitere Nachweise bei Wertpapier-Mitteilungen - Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht World Trade Organisation Entscheidungssammlung zum Wirtschafts- und Bankrecht Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen vom 24.4.1963 Wiener Vertragsrechts Konvention

Y YEL

Yearbook of European Law

Z z ZaöRV ZAP ZAR zB ZeuP ZEuS ZfA ZfBR ZfV ZG ZGR ZHR ZIAS Ziff ZIP

zum Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für die Anwaltspraxis Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zum Beispiel Zeitschrift für europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für deutsches und internationales Baurecht Zeitschrift für Verwaltungsrecht Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht XXVII

Abkürzungsverzeichnis zit ZP ZPO ZRP zT ZUM ZUR zust zutr ZVglRWiss zZ

XXVIII

zitiert Zusatzprotokoll Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik zum Teil Zeitschrift für Urheber und Medienrecht Zeitschrift für Umweltrecht zustimmend zutreffend Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft zur Zeit

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Arndt, Hans-Wolfgang

Europarecht, 5. Aufl, Heidelberg 2001 (zit: Arndt ER)

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Der Amsterdamer Vertrag. Eine Kommentierung der Neuerungen des EU- und EG-Vertrages, Köln 1998 (zit: Bearbeiter in: Bergmann/Lenz)

Beutler, BengtlBieber, Roland! Die Europäische Union. Rechtsordnung und Politik, 5. Aufl, Baden-Baden 2001 Pipkorn, Jörn/Streil, Jochen (zit: BBPS Rn) Bleckmann, Albert

Europarecht, 6. Aufl, Köln/Berlin/Bonn/München 1997 (zit: Bleckmann ER)

Bleckmann, Albert

Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre. Vom Kompetenz- zum Kooperationsvölkerrecht, Köln ua 1995 (zit: Bleckmann VRL)

Blumenwitz, Dieter

Fälle und Lösungen zum Völkerrecht. Übungsklausuren mit gutachterlichen Lösungen und Erläuterungen, Stuttgart 2001 (zit: Blumenwitz VR)

Borchardt, Klaus-Dieter

Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Heidelberg 1996 (zit: Borchardt EU)

Grundzüge des Völkerrechts, 2. Aufl, Heidelberg Buergenthal, Thomas/ Doehring, Karl/Kokott, Juliane! 2000 (zit: BDKM) Maier, Harold G Calliess, Christian! Ruffert, Matthias (Hrsg)

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Constantinesco, Leontin-Jean

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Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

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Fischer, Hans Georg

Europarecht. Grundlagen des Europäischen Gemeinschaftsrechts in Verbindung mit deutschem Staatsund Verwaltungsrecht, 3. Aufl, München 2001 (zit: H G Fischer ER)

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Der Vertrag von Nizza. Text und Kommentar, Baden-Baden 2001 (zit: K H Fischer Vertrag von Nizza)

Fischer, Peterl Köck, Heribert Franz

Europarecht. Einschließlich des Rechtes supranationaler Organisationen, 3. Aufl, Wien 1997 (zit: Fischer/Köck ER)

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Europäische Menschenrechtskonvention. Kommentar, 2. Aufl, Kehl 1996 (zit: Bearbeiter in: Frowein/Peukert)

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EUV/EGV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 3. Aufl, München 2000 (zit: Geiger EUV/EGV)

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Grundgesetz und Völkerrecht - Die Bezüge des Staatsrechts zum Völkerrecht und Europarecht. Ein Studienbuch, 2. Aufl, München 1994 (zit: Geiger GG/VR)

Grabitz, EberhardI Hilf, Meinhard (Hrsg)

Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt, München (Stand Mai 2001) (zit: Bearbeiter in: Grabitz/Hilf)

von der Groeben, Hansl Thiesing, Jochen! Ehlermann, Claus-Dieter (Hrsg)

Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 5 Bde, 5. Aufl, Baden-Baden 1997/98 (zit: Bearbeiter in: GTE)

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Handkommentar zum EU-Vertrag, Loseblatt, Köln/ Berlin/Bonn/München (Stand November 1998) (zit: Bearbeiter in: HK)

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Grundzüge des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2. Aufl, München 2000 (zit: Hakenberg EuWirtschR)

Herdegen, Matthias

Europarecht, 4. Aufl, München 2002 (zit: Herdegen ER).

XXX

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Herdegen, Matthias

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Ipsen, Hans Peter

Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972 (zit: HP Ipsen EuGR)

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Völkerrecht. Ein Studienbuch, 4. Aufl, München 1999 (zit: K Ipsen VR)

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Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention - Texte und Dokumente, Loseblatt, Köln/Berlin/Bonn/München (Stand Januar 2002) (zit: Bearbeiter in: Karl)

Kimminich, Otto/ Hobe, Stephan

Einführung in das Völkerrecht, 7. Aufl, Tübingen 2000 (zit: Kimminich/Hobe VR)

Koenig, Christian/ Haratsch, Andreas

Europarecht, 3. Aufl, Tübingen 2000 (zit: Koenig/Haratsch ER)

Kunig, Philip! Uerpmann, Robert

Übungen im Völkerrecht, Berlin/New York 1998 (zit: Kunig/ Uerpmann Übungen)

Lecheler, Helmut

Einführung in das Europarecht, München 2000 (zit: Lecheler ER)

Lecheler, Helmut/Gundel, Jörg Übungen im Europarecht, Berlin/New York 1999 (zit: LechelerlGundel Übungen) Lenz, Carl Otto (Hrsg)

EG-Vertrag. Kommentar, 2. Aufl, Köln 1999 (zit: Bearbeiter in: Lenz)

Nagel, Bernhard

Wirtschaftsrecht der Europäischen Union. Eine Einführung, 3. Aufl, Baden-Baden 2001 (zit: Nagel EUWirtschR)

Nicolaysen, Gert

Europarecht I, Baden-Baden 1991; Europarecht II. Das Wirtschaftsrecht im Binnenmarkt, Baden-Baden 1996 (zit: Nicolaysen ER Bd)

Oppermann, Thomas

Europarecht, 2. Aufl, München 1999 (zit: Oppermann ER)

Pechstein, Matthias/ Koenig, Christian

Die Europäische Union, 3. Aufl, Tübingen 2000 (zit: Pechstein!Koenig EU) XXXI

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Röttinger, Moritz/ Weyringer, Claudia (Hrsg)

Handbuch der Europäischen Integration. Strategie Struktur - Politik der Europäischen Union, 2. Aufl, Wien 1996 (zit: Bearbeiter in: Röttinger/Weyringer HdBEI)

Schäfer, Peter

Studienbuch Europarecht. Das Wirtschaftsrecht der EG, Stuttgart ua 2000 (mit Nachtrag 2001) (zit: Schäfer EGWirtschR)

Schwarze, Jürgen (Hrsg)

EU-Kommentar, Baden-Baden 2000 (zit: Bearbeiter in: Schwarze)

Schweitzer, Michael

Staatsrecht III. Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht, 7. Aufl, Heidelberg 2000 (zit: Schweitzer StR III)

Schweitzer, Michaeli Hummer, Waldemar

Europarecht, 5. Aufl, Frankfurt/Main 1996 (mit Nachtrag 1999) (zit: Schweitzer!Hummer ER)

Streinz, Rudolf

Europarecht, 5. Aufl, Heidelberg 2001 (zit: Streinz ER)

Thun-Hohenstein, Christoph

Der Vertrag von Amsterdam. Die neue Verfassung der EU. Der neue EG-Vertrag. Der neue EU-Vertrag. Erläuterung der neuen Bestimmungen, München 1997 (zit: Thun-Hohenstein Vertrag von Amsterdam)

Thun-Hohenstein, Christoph/ Cede, Franz

Europarecht. Das Recht der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung des EU-Beitritts Österreichs, 3. Aufl, Wien 1999 (zit: Thun-Hohenstein/Cede ER)

Graf Vitzthum, Wolfgang (Hrsg)

Völkerrecht, 2. Aufl, Berlin/New York 2001 (zit: Bearbeiter in: Graf Vitzthum VR)

Wolffgang, Hans-Michael (Hrsg)

Öffentliches Recht und Europarecht, 2. Aufl, Herne/Berlin 2000 (zit: Wolffgang ÖR/ER)

Zäch, Roger

Grundzüge des Europäischen Wirtschaftsrechts, Baden-Baden/Zürich 1996 (zit: Zäch EuWirtschR)

XXXII

1. Teil: Die europäische Grundrechtsidee §1 Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten Christian Walter I. Internationaler und Europäischer Grundrechtsschutz Versteht man sie im Kontext internationaler und supranationaler Organisationen, insbesondere des Europarats und der EG/EU, so sind „europäische" Grundrechte und Grundfreiheiten eine Entwicklung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und Teil eines in dieser Zeit entstehenden internationalen Menschenrechtsschutzes. Wichtige Meilensteine des internationalen Menschenrechtsschutzes waren die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10.10.1948, die Europäische Menschenrechtskonvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.09.1950, sowie die beiden ebenfalls im Rahmen der Vereinten Nationen erarbeiteten Menschenrechtspakte aus dem Jahr 1966: der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Diese internationale Rechtsentwicklung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg knüpft an die Tradition der großen Menschenrechtserklärungen der Aufklärung, insbesondere die Französische Menschenrechtserklärung von 1789, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die „bills of rights" der Neuenglandstaaten an. Der internationale Menschenrechtsschutz ist so die völkerrechtliche Fortschreibung einer in den nationalen Verfassungen entstandenen Rechtskultur.1 Auf der regionalen Ebene Europas hat der Einigungsprozess der Nachkriegszeit eine Vielzahl internationaler Organisationen mit unterschiedlicher Zielsetzung hervorgebracht.2 Für die Entwicklung der Grundrechte und Grundfreiheiten sind vor allem der Europarat, die OSZE und die EG/EU von Bedeutung. Der Menschenrechtsschutz im Rahmen der drei Organisationen unterscheidet sich in wichtigen Punkten. Der Europarat ist die älteste der drei Organisationen. Gegründet im Jahr 1949 hat er nach Art 1 seiner Satzung die Aufgabe, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze ihrer gemeinsamen Ideale und Grundsätze herzustellen. Er widmete sich vor allem der Ausarbeitung von völkerrechtlich verbindlichen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte und zur Behandlung sozialer Fragen.3 Dabei ist ihm eine besondere Rolle als „Hüter von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie" 4 zugewachsen. Der Menschenrechtsschutz im Rahmen der OSZE zeichnete sich während der Entspannungspolitik der sieb-

1 Dazu H Hofmann N J W 1989, 3177 ff; allgemein zur Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten Oestreich Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, 2. Aufl 1978. 2 S den Überblick bei Oppermann ER Rn 121-150 und Herdegen ER Rn 5-10. 3 S im einzelnen die Nachweise bei Oppermann ER Rn 64 ff. 4 So die Formulierung in der Erklärung des Deutschen Bundestags „50 Jahre Europarat: 50 Jahre europäischer Menschenrechtsschutz", BT-Drs 14/1568 vom 09.09.1999, S 2.

1

Christian Walter

§1 III

3

4

ziger Jahre vor allem durch seinen prozesshaften und völkerrechtlich unverbindlichen Charakter aus.s Dieser kommt in der damaligen Bezeichnung der heutigen OSZE als „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)" zum Ausdruck. 6 Sowohl die im Rahmen des Europarats erarbeiteten Verträge als auch der Menschenrechtsschutz durch KSZE und OSZE sind darauf gerichtet, Menschenrechte gegenüber der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten zu schützen. Auf einer anderen Ebene liegt die Diskussion um den Schutz von Grund- und Menschenrechten in der EG/EU. In der EU sind seit dem 1.11.1993 die drei Europäischen Gemeinschaften (EG, EGKS und EAG) zusammengefasst. Vor allem die im Rahmen der EG ausgeübte Hoheitsgewalt wirkt in vielfaltiger Weise in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinein und ersetzt in nicht unerheblichem Umfang die staatliche Hoheitsgewalt. Dies rief eine Diskussion um den Grundrechtsschutz gegenüber Akten des Gemeinschaftsrechts hervor. Hier geht es also zunächst nicht um den internationalen Schutz von Menschenrechten gegenüber staatlicher Hoheitsgewalt, sondern um die Beachtung und Durchsetzung von Grundrechtsstandards gegenüber einer neu geschaffenen, supranationalen Hoheitsgewalt. Der folgende Überblick über die Geschichte und Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten behandelt zunächst den Grundrechtsschutz im Rahmen des Europarats und insbesondere unter dem System der E M R K und anschließend die Entwicklung des Grundrechtsschutzes im Europäischen Gemeinschafts- und Unionsrecht. Er schließt mit einer Darstellung der Entwicklung der Grundfreiheiten im Europäischen Gemeinschaftsrecht, die ursprünglich vor allem als Mittel zur Abwehr von Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verstanden wurden, sich heute aber zunehmend als wirtschaftliche Freiheitsrechte erweisen.

II. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Menschenrechtsschutzes im Rahmen des Europarats und insbesondere durch die EMRK 5

Der Europarat sieht seine Aufgabe in erster Linie in der Erarbeitung von völkerrechtlich verbindlichen Verträgen zum Schutz von Menschenrechten. Von den über 170 im Rahmen des Europarats erarbeiteten Verträgen 7 ist ein wichtiger Teil dem Schutz der Menschenrechte gewidmet, darunter an erster Stelle die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). 1. Die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes

6

durch die EMRK

Die Europäische Menschenrechtskonvention, der zunächst nur 10 Mitgliedstaaten angehörten, hat sich in den vergangenen 50 Jahren zu einem internationalen Rechtsschutz-

5 In der Schlussakte von Helsinki (Bulletin der Bundesregierung N r 102 vom 15.08.1975, 965 f) wurde 1975 die Achtung der Menschenrechte als selbstständiger Grundsatz verankert (ZifT VII der Leitlinien) und Korb III enthielt ua Vereinbarungen über menschliche Kontakte, s dazu Hailbronner in: Graf Vitzthum VR 3. Abschn Rn 282. 6 Die Umbenennung in „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" erfolgte nach den politischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa (vgl die Gipfelerklärung von Helsinki „Herausforderungen des Wandels", Ziff 46, Bulletin der Bundesregierung Nr 82 vom 23.07. 1992, 777, 781). 7 E Klein AVR 39 (2001), 121, 123.

2

Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten

§ 1 II 1

system entwickelt, d e m inzwischen 44 Mitgliedstaaten a n g e h ö r e n u n d das d u r c h a u s mit d e m der Verfassungsgerichtsbarkeit in nationalen R e c h t s o r d n u n g e n verglichen werden k a n n . s M a n c h e sprechen sogar von einer „ E u r o p ä i s c h e n G r u n d r e c h t s v e r f a s s u n g " D e r Europäische Gerichtshof für Menschenrechte selbst verwendet den Begriff „constitutional i n s t r u m e n t of E u r o p e a n Public Order" 1 ". a) Entstehungsgeschichte Die Idee zur S c h a f f u n g einer europäischen Menschenrechtskonvention einschließlich eines G e r i c h t s h o f s zu ihrer D u r c h s e t z u n g w u r d e auf d e m 1. Kongress der Europäischen Bewegung in Den H a a g f o r m u l i e r t . " W ä h r e n d der Beratungen über den Konventionstext entfielen das im ursprünglichen E n t w u r f enthaltene G r u n d r e c h t auf Eigentum, das elterliche Erziehungsrecht u n d das Recht auf freie Wahlen. 1 2 A u ß e r d e m w u r d e es zugelassen, Vorbehalte zu einzelnen Konventionsrechten zu f o r m u l i e r e n . " D a d u r c h konnten die Mitgliedstaaten den U m f a n g ihrer Verpflichtungen aus der E M R K selbst mitbestimmen. Die E M R K trat nach der Ratifikation d u r c h zehn Staaten a m 3.9.1953 in K r a f t . Von den großen westeuropäischen Staaten hielt sich vor allem F r a n k r e i c h sehr lange zurück, das die Konvention erst a m 3.5.1974 ratifizierte.

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Als besonders schwierig erwies sich die Vereinbarung eines IndividualbeschwerdeVerfahrens, mit dem der einzelne Bürger Konventionsverletzungen unmittelbar vor von der Konvention geschaffenen europäischen Rechtsschutzorganen geltend machen konnte. Die Staaten waren d a m a l s nicht bereit, dem einzelnen einen direkten Z u g a n g z u m Europäischen Gerichtshof f ü r Menschenrechte zu verschaffen. Die schließlich gefundene Lösung bestand darin, die Individualbeschwerde vor der Europäischen Kommission für M e n schenrechte zuzulassen, und es dieser zu überlassen, o b sie den Gerichtshof a n r u f t oder nicht. 14 Eine Beschwerde durch einen anderen Mitgliedstaat, die im R a h m e n der traditionellen Struktur der internationalen Gerichtsbarkeit verblieb, hielt m a n dagegen für unproblematisch. Im Ergebnis sah die Konvention damit zwei verschiedene Verfahrensarten vor: die Staatenbeschwerde u n d die Individualbeschwerde. W ä h r e n d die Staatenbeschwerde automatisch mit dem Beitritt zur E M R K akzeptiert werden musste, b e d u r f t e es für die A n e r k e n n u n g des Individualbeschwerdeverfahrens vor der Kommission und die Unterwerf u n g unter die Zuständigkeit des Gerichtshofs jeweils einer gesonderten Erklärung. 1 '

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Kommission u n d Gerichtshof n a h m e n ihre Arbeit noch in den fünfziger Jahren auf. Die Europäische Kommission f ü r M e n s c h e n r e c h t e w u r d e 1954 gebildet, n a c h d e m die nach dem damaligen A r t 25 IV E M R K erforderlichen sechs E r k l ä r u n g e n eingegangen waren. Die E r r i c h t u n g des G e r i c h t s h o f s verzögerte sich, da die Staaten die G e r i c h t s b a r keit noch zögerlicher a n e r k a n n t e n als das Individualbeschwerdeverfahren vor der K o m mission. Erst 1958 lagen die nach dem früheren Art 56 erforderlichen 8 E r k l ä r u n g e n vor.

9

8 Frowin

C o l l e c t e d C o u r s e s of t h e A c a d e m y of E u r o p e a n Law. 1990. Vol I B o o k 2. S 267. 278.

9 HoJ/ineisrer D e r S t a a t 4 0 (2001). 349 IT; s a Walter Z a ö R V 59 (1999). 96111'. 10 E G M R . Z a ö R V 56 (1996). 439. R n 75 L o i z i d o u . mit B e s p r e c h u n g von II-K Ress ebd 42711". 11 Pansch Z a ö R V 1 5 ( 1 9 5 3 / 5 4 ) , 631. 633 IT. 12 Aus!" z u r E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e Brmkmeicr M e n s c h e n R e c h t s M a g a z i n . T h e m e n h e f t „50 J a h r e E M R K " . 21. 26 IT: Pansch Z a ö R V 15 (1953/54). 631, 633 fT. 13 (/iegerieh Z a ö R V 55 (1995). 713 IT. 14 Vgl die Liste d e r A n t r a g s b e r e c h t i g t e n in A r t 48 E M R K aF. 15 A r t 25 I u A r t 46 I E M R K aF.

3

§1 III

Christian Walter

b) Entwicklung der Konvention und der Rechtsprechung 10

11

12

Die Konvention wurde im Laufe der Jahre um bisher 11 Zusatzprotokolle ergänzt, die sowohl die materiellen Garantien als auch das Rechtsschutzverfahren vor Kommission und Gerichtshof betrafen. Die schon während der Entstehungsgeschichte umstrittenen Grundrechte auf Eigentum, Erziehung der Kinder und freie Wahlen wurden in das 1. ZP (Art 1 bis 3) aufgenommen. Als weitere wichtige Ergänzungen sind strafrechtliche Garantien wie das Verbot der Doppelbestrafung (Art 4 des 7. ZP), das Recht auf ein Rechtsmittel gegen strafrechtliche Verurteilungen (Art 2 des 7.ZP) und die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten (Art 1 u 2 des 6. ZP) zu nennen. Das am 3. Mai 2002 zur Zeichnung aufgelegte 13. ZP verlangt die Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen, also über das 6. ZP hinaus nun auch in Kriegszeiten. Hinzugekommen sind außerdem das Verbot der Schuldnerhaft (Art 1 des 4. ZP), das Freizügigkeitsrecht (Art 2 des 4. ZP), das Verbot der kollektiven Ausweisung von Ausländern (Art 4 des 4. ZP), sowie das Recht auf Gleichberechtigung der Ehegatten während der Ehe und bei ihrer Auflösung (Art 5 des 7. ZP). Anders als in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen (Art 7) und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art 141) fehlt es in der EMRK nach wie vor an einem allgemeinen Gleichheitssatz. Die Regelung in Art 14 EMRK bezieht sich nur auf Gleichheit beim Genus der durch die Konvention garantierten Rechte.16 Änderung verspricht hier das bisher noch nicht in Kraft getretene ZP Nr 12. Die ZPe 9 und 11 haben das Rechtsschutzverfahren erheblich modifiziert und bringen damit eine veränderte Stellung des Individuums im Völkerrecht zum Ausdruck. Mit dem 9. ZP erhielt der Beschwerdeführer, der das Verfahren vor der Kommission eingeleitet hatte, selbst das Recht, den Gerichtshof anzurufen.' 7 Das 11. ZP18 modifizierte schließlich das gesamte Verfahren, indem es die Kommission abschaffte und damit die Zweistufigkeit beseitigte. Seither gibt es nur noch den Gerichtshof, der allerdings anders als die beiden Vorgängerinstitutionen nun zu einer ständig tagenden Einrichtung wurde. Eine weitere Änderung durch das 11. ZP liegt in der Einführung einer obligatorischen Gerichtsbarkeit, dh dass die Mitgliedschaft in der Konvention nun automatisch die Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Entscheidung über Individualbeschwerden nach sich zieht.19 Die zuvor erforderliche gesonderte Anerkennung durch die Mitgliedstaaten ist entfallen. Beibehalten wurde die Funktion des Ministerkomitees20 als Überwachungsorgan für die Ausführung der Urteile.21 Echte Vollstreckungsbefugnisse kommen ihm allerdings nach wie vor nicht zu. Ähnlich wie das Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht droht das Individualbeschwerdeverfahren in Straßburg an seinem eigenen Erfolg zu ersticken. Im Jahr 2001 wurden 13.858 Beschwerden registriert, denen 889 Urteile und 8.989 Unzulässigkeitsentscheidungen und Streichungen aus der Verfahrensliste gegenüberstanden.22 Entscheidend für die Entwicklung des gesamten Konventionssystems in den vergangenen 50 Jahren war die sich erst langsam herausbildende Akzeptanz des Individualrechts16 17 18 19 20 21 22

4

Dazu näher Weiß MenschenRechtsMagazin 2000, Themenheft „50 Jahre EMRK", 36,43 ff. BGBl II 1994,491. BGBIII 1995, 579. Art 34 EMRK nF; allgemein zu den Änderungen durch das 11. ZP Schielte ZaöRV 56 (1996), 905 ff. Art 13 ff Satzung des Europarats. Art 46 II EMRK nF. Pressemitteilung des Gerichtshofs vom 21.1.2002.

Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten

§1 H l

schutzes. Von den großen europäischen Staaten hatte allein Deutschland - aus historisch offensichtlichen Gründen - frühzeitig die Zuständigkeit der Kommission für Individualbeschwerden akzeptiert. Mit dem Vereinigten Königreich folgte erst 1966 ein zweiter großer europäischer Staat. Frankreich akzeptierte Individualbeschwerden erst 1981. Unter diesen Umständen offensichtlicher Zurückhaltung der Mitgliedstaaten gegenüber einem internationalen Individualrechtsschutz kann es nicht verwundern, dass Kommission und Gerichtshof vielfach „judicial self-restraint" übten. 23 Die Gründe für eine solche Zurückhaltung sind inzwischen weitgehend entfallen, und der Gerichtshof versteht die Konvention zu Recht als „living instrument which must be interpreted in the light of presentday conditions" 24 . Dies bewirkt, dass die Straßburger Rechtsprechung zunehmend das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten beeinflusst.25 Besonders eindrücklich zeigt sich dies am Beispiel Frankreichs, das traditionell keine nachträgliche Verfassungskontrolle von bereits in Kraft getretenen Gesetzen kennt. Hier nehmen die Fachgerichte inzwischen eine sog „contröle de conventionalite", also eine Überprüfung von Gesetzen auf ihre Vereinbarkeit mit der E M R K vor, und es gibt bereits Fälle, in denen (gültige) nationale Gesetze nicht angewendet wurden, weil die Gerichte bei ihrer Anwendung einen Verstoß gegen die E M R K für unvermeidlich hielten.26 Der quasi-verfassungsgerichtliche Charakter des neuen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zeigt sich auch daran, dass politisch so brisante Fragen wie die Strafbarkeit des politischen Führungspersonals der ehemaligen D D R wegen der Schüsse an der innerdeutschen Grenze oder Parteiverbotsverfahren in der Türkei Gegenstand seiner Entscheidungen sind.27 Einen besonderen Schritt für die Bedeutung der E M R K in den nationalen RechtsOrdnungen der Mitgliedstaaten bedeutete die Inkorporierung in die britische Rechtsordnung durch den Human Rights Act des Jahres 1998.28 Da ohne eine solche Inkorporierung nach britischem Verfassungsrecht ein völkerrechtlicher Vertrag nicht unmittelbar Rechte und Pflichten für den einzelnen begründen kann, gab es vor dem Human Rights Act statistisch gesehen relativ viele Konventionsverfahren gegen das Vereinigte Königreich.29 Seit dem Inkrafttreten des Human Rights Act zum 02.10.2000 hat sich eine umfangreiche Rechtsprechung englischer Gerichte entwickelt, die den in der E M R K gewährleisteten Rechten zusätzliche Bedeutung verleiht. In der deutschen Rechtsordnung genießt die E M R K als völkerrechtlicher Vertrag den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist sie allerdings bei der Auslegung der deutschen Grundrechte zu berücksichtigen.30 Versuche in der Literatur

23 —> zur Grundrechtsdogmatik in der EMRK § 2. 24 Série A, Vol 26, Rn 31 - Tyrer; krit gegenüber der von ihm als dynamisch angesehenen Auslegung der Konvention durch den Gerichtshof Büß DÖV 1998, 323, 328 ff. 25 Nachweise und besondere Problemfalle mit Bezug zu Deutschland bei Frowein NVwZ 2002, 29 ff. 26 S etwa die Entscheidung des französischen Conseil d'Etat vom 30.10.1998, RDP 1999, 649 Lorenzi. 27 EGMR, NJW 2001, 3035ff - Krenz; dazu Werle NJW 2001, 3001 ff; Rau NJW 2001, 3008ff; EGMR, Urteil vom 31.7.2001 - Refah-Partei (im Internet unter http://hudoc.echr.coe.int); Reports of Judgments and Décisions, 1999 - VIII - ÖZDEP. 28 Dazu Grote ZaöRV 58 (1998), 309 ff; vgl auch die irische European Convention on Human Rights Bill (No 26 of 2001) vom 10.4.2001. 29 Nachweise bei Grote ZaöRV 58 (1998), 309, 322 ff. 30 BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 115.

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§ 1 112

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eine über diese bloße Auslegungshilfe hinaus gehende Bindungswirkung zu begründen,31 wurden bislang von der Rechtsprechung nicht aufgenommen.32 In den letzten Jahren war der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrfach mit der Frage beschäftigt, inwiefern die Mitgliedstaaten den Bindungen der EMRK unterliegen, wenn sie bislang im nationalen Bereich erledigte Aufgaben auf internationale Organisationen übertragen.33 In seiner neueren Rechtsprechung34 geht der Gerichtshof davon aus, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, für ein der EMRK im wesentlichen vergleichbares Niveau des Grundrechtsschutzes zu sorgen. Entschieden wurde dies in mehreren Verfahren über den Kündigungsschutz im Rahmen der European Space Agency (ESA).35 Eine Entscheidung, mit der eine mittelbare Bindung der Gemeinschaftsorgane an die EMRK angenommen worden wäre, gibt es bislang nicht.36 Immerhin aber hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Europäische Parlament als „gesetzgebende Körperschaft" im Sinne von Art 3 1. ZP EMRK qualifiziert und das Vereinigte Königreich wegen eines Verstoßes gegen diese Vorschrift verurteilt, weil es die Bewohner von Gibraltar nicht an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen ließ.37 In dieser Rechtsprechung zeigt sich der Versuch, die Grundrechtsverbürgungen der EMRK nicht nur im innerstaatlichen Bereich der Mitgliedstaaten durchzusetzen, sondern auch vor einem Unterlaufen durch eine „Flucht in organisatorisch verselbständigte Einheiten auf zwischenstaatlicher Ebene"38 zu bewahren. Der Gerichtshof nimmt insoweit eine Schutzpflicht der Mitgliedstaaten aus Art 1 EMRK an.39 Die von Internationalisierung und Globalisierung aufgeworfenen Rechtsprobleme werden in diesem Bereich in Zukunft zweifellos für eine weitere Entwicklung der Grundrechtsdogmatik sorgen. 2. Der Menschenrechtsschutz im Europarat im Allgemeinen a) Vertragliche Menschenrechtsverbürgungen

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Aus dem Bereich der vertraglichen Verbürgungen einzelner Menschenrechte verdienen drei Einzelentwicklungen nähere Erwähnung. Bereits 1961 wurde die Europäische Sozial31 Mit unterschiedlichen Ansätzen Bleckmann EuGRZ 1994, 149 ff; Frowein Der Europäische Grundrechtsschutz und die nationale Gerichtsbarkeit, 1983, S 26; Ress FS Zeidler, 1987, S 1775, 1790 ff; sowie die Nachweise bei Hoffmeister Der Staat 40 (2001), 349 ff; Walter ZaöRV 59 (1999), 961 ff. 32 S ausf zum Ganzen Grabenwarter W D S t R L 60 (2001), 290, 299 ff. 33 Ausf zu den damit verbundenen Rechtsproblemen Winkler Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 2000, S 153 ff; § 2 Rn 23 f; § 13 Rn 13. 34 Eine frühe Kommissionsentscheidung zu diesem Problemkreis ist der Fall M, s dazu Giegerich ZaöRV 50 (1990), 836 ff; die Entscheidung ist im Anhang abgedruckt, 865 ff. 35 EGMR, NJW 1999, 1173 ff - Waite = Ehlers JK 99, EMRK Art 6/2. 36 Diese Frage ist allerdings Gegenstand des derzeit beim Gerichtshof anhängigen Verfahrens Senator-Lines gegen die 15 Mitgliedstaaten der EU, der Antrag ist abgedruckt in RUDH 12 (2000), 191 ff; außerdem haben Kommission und Gerichtshof in den letzten Jahren die Frage der Zulässigkeit von derartigen Verfahren ratione personae ausdrücklich offen gelassen und ihre Unzulässigkeitsentscheidungen auf andere Gründe gestützt, s zuletzt RUDH 12 (2000), 119, 122 Societe Guerin Automobiles/15 Mitgliedstaaten der EU. 37 EGMR, EuGRZ 1999, 200 ff - Matthews = Ehlers JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2. 38 So die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts in einem ähnlich gelagerten Fall, DVB1 2001, 1130 ff. 39 EGMR, EuGRZ 1999, 200, Rn 29 ff - Matthews = Ehlers JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2.

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Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten

§ 1 II 2

Charta angenommen, mit der die Unterzeichnerstaaten das Ziel verfolgen, „den Lebensstandard ihrer Bevölkerung in Stadt und Land zu verbessern"40. Die Charta gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, aus einem Katalog von sieben Rechten fünf als für sich verbindlich zu akzeptieren (Art 20) und sieht zur Überwachung vor, dass die Mitgliedstaaten zu den von ihnen angenommenen Artikeln im Abstand von zwei Jahren und zu den übrigen Artikeln in regelmäßigen Abständen Staatenberichte vorlegen (Art 21, 22), die von einem Sachverständigenausschuss geprüft werden (Art 24). Die Sozialcharta wurde durch mehrere Protokolle ergänzt, die 1999 in einer revidierten Sozialcharta zusammengefasst wurden. Diese trat am 1.7.1999 in Kraft, wurde aber von der Bundesrepublik bislang nicht ratifiziert41. Wegen seiner Präventiwerfahren verdient das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26.11.1987 besondere Erwähnung. Es errichtet einen Ausschuss, das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, der Besuche in den Haftanstalten 42 der Mitgliedstaaten durchführen kann und über diese Besuche Berichte erstattet, die im Einverständnis mit der betreffenden Vertragspartei öffentlich gemacht werden können. Das Besondere an der Konvention liegt in der Möglichkeit des Komitees, Empfehlungen für die zukünftige Vorgehensweise des betreffenden Mitgliedstaates auszusprechen (Art 101 der Konvention). Das Komitee nutzt diese Befugnis nicht nur um Vorschläge für die Beseitigung tatsächlich festgestellter Missstände zu machen, sondern es hat allgemeine Vorschläge zur Verhinderung von Misshandlungen unterbreitet und damit den Weg zu einem präventiven Schutz vor Folter geebnet. In den vergangenen Jahren widmete sich die Kodifikationsarbeit des Europarats den besonderen Problemen des Minderheitenschutzes. Am 5.11.1992 wurde die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen angenommen, deren Einhaltung ebenfalls durch einen Sachverständigenausschuss überwacht wird. Die Charta trat für Deutschland zum 1.1.1999 in Kraft. Daneben besteht das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1.2.1995, das für die Bundesrepublik Deutschland zum 1.2.1998 in Kraft trat, gleichfalls mit einem eigenen Überwachungsmechanismus ausgestattet ist43 und einen umfassenden Katalog von Minderheitenrechten statuiert44. Ein weiterer kürzlich entstandener Schwerpunkt der Kodifikationsarbeit betrifft medizinische und bioethische Fragen. Hierzu verdienen die Konvention über Menschenrechte und Biomedizin vom 4.4.1997 und ein ZP über das Verbots des Klonens von Menschen vom 12.1.1998 Erwähnung. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Arbeiten des Europarats in diesem Bereich eher kritisch betrachtet, da man das Schutzniveau für nicht ausreichend erachtet. Weder die Konvention noch das ZP wurden von der Bundesrepublik gezeichnet.

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b) Die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung nach 1989/1990 Eine wichtige Rolle bei der Grundrechtsdurchsetzung und Grundrechtsförderung übernahm die Parlamentarische Versammlung des Europarats in den Jahren nach dem 40 So die Motivation nach der vierten Erwägung in der Präambel der Europäischen Sozialcharta; BGBl II 1964, 1262. 41 ETSNr 163. 42 Einschließlich psychiatrischer und anderer geschlossener Anstalten, vgl AUeweldt EuGRZ 1998, 245, 247 mit Giegerich ZaöRV 50 (1990), 836 ff. 43 Zu diesem R Hofmann ZEuS 1999, 379 ff. 44 S im einzelnen R Hofmann MenschenRechtsMagazin 2000, 63 ff.

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Ende des Kalten Krieges. Die Parlamentarische Versammlung ist neben dem Ministerkomitee das zweite zentrale Organ des Europarats. 45 Bereits im Jahr 1949 verpflichtete sich das Ministerkomitee, das in Art 4 der Satzung des Europarats enthaltene Recht, neue Mitglieder zum Beitritt einzuladen, nur unter Beteiligung der Parlamentarischen Versammlung auszuüben. Die Parlamentarische Versammlung nutzte dieses Beteiligungsrecht, um nach dem Ende des Kalten Krieges bei den Beitrittsanwärtern aus Mittel- und Osteuropa die Einhaltung der Menschenrechte zu prüfen. Hierzu entsandte sie Berichterstatter in die betreffenden Staaten, deren Aufgabe es war, die nationalen Rechtsordnungen auf ihre Vereinbarkeit mit den Menschenrechtsstandards des Europarats zu untersuchen und darüber einen Bericht vorzulegen. Die Parlamentarische Versammlung ging auch dazu über, in ihren Stellungnahmen zu Beitrittsvorhaben die Absicht des Kandidaten festzuhalten, die E M R K einschließlich des damals noch gesondert zu akzeptierenden IndividualbeschWerdeverfahrens zu ratifizieren. Die Parlamentarische Versammlung hat diese Aufnahmebedingungen später um ein Überwachungsverfahren ergänzt, mit dem die Einhaltung der Verpflichtungen nach einem erfolgten Beitritt sichergestellt werden soll. Diese Praxis führte während des Tschetschenien-Krieges dazu, dass die Parlamentarische Versammlung die Mitgliedschaft Russlands im Europarat wegen der Form der Kriegsführung in Frage stellte.46 Die Parlamentarische Versammlung hat sich durch diese Vorgehensweise einen besonderen Ruf bei der Durchsetzung der Menschenrechtsstandards in Mittel- und Osteuropa in der Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs erworben.

III. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der EG/EU 19

Anders als die EMRK, die darauf gerichtet ist, einen grundrechtlichen Mindeststandard in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durchzusetzen, betrifft die Frage nach dem Grundrechtsschutz im Rahmen des Gemeinschaftsrechts vor allem die Frage danach, wie Grundrechte gegenüber einer nicht-staatlichen Hoheitsgewalt gesichert werden können (—> § 13 Rn 3 ff). 1. Frühe Rechtsprechung

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Der Europäische Gerichtshof erweckte in seiner frühen Rechtsprechung den Eindruck mangelnder Grundrechtssensibilität. Der Eindruck entstand dadurch, dass der Gerichtshof Rügen, die sich auf eine Verletzung nationaler Grundrechte stützten, als unzulässig zurückwies, ohne auf das Grundrechtsproblem einzugehen.47 Dieses Vorgehen war zwar dogmatisch zwingend, denn der Gerichtshof kann nationale Vorschriften weder auslegen noch gegenüber dem Gemeinschaftsrecht anwenden. Die Kombination der (richtigen) Entscheidung, Art 14 G G finde gegenüber dem Gemeinschaftsrecht keine Anwendung, mit der Aussage, das Gemeinschaftsrecht enthalte „weder einen geschriebenen noch einen ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass ein erworbener Besitz45 Die Parlamentarische Versammlung setzt sich aus Mitgliedern der nationalen Parlamente zusammen (vgl Art 25 der Satzung des Europarats). 46 S Recommendation 1444 (2000) vom 27.1.2000 und Resolution 1221 (2000) vom 29.6.2000; allgemein Bowring Helsinki Monitor 11 (2000), 53 ff. 47 Vgl etwa EuGH, Slg 1960, 885, 920f - Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft; Slg 1965, 295, 312 Sgarlata (Wortlaut des Vertragstextes geht einer grundrechtlichen Argumentation unbedingt vor).

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Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten

§ 1 III 2

stand nicht angetastet werden darf" 48 , musste allerdings Zweifel am Eigentumsschutz im Gemeinschaftsrecht wecken (—> ausf hierzu § 16). 2. Entwicklung und dogmatische Begründung der

Gemeinschaftsgrundrechte

Der Gerichtshof hat diese zurückhaltende Rechtsprechung ab dem Ende der 1960er Jahre korrigiert und die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht verankert angesehen. Die Entwicklung des Grundrechtsschutzes beginnt mit der Entscheidung Stauder49. Dieser Fall betraf die Abgabe von Butter an Sozialhilfeempfänger zu herabgesetzten Preisen. Um Missbrauch zu vermeiden, verpflichtete das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten in der deutschen Fassung der Regelung, Sorge dafür zu treffen, dass die Begünstigten „Butter nur gegen einen auf ihren Namen ausgestellten Gutschein" erhalten können. Die anderen sprachlichen Fassungen sprachen dagegen nur von einem „individualisierten Gutschein". Der Kläger des Ausgangsverfahrens war der Auffassung, dass es mit seinen Grundrechten unvereinbar sei, beim Erwerb seinen Namen und damit seine Identität gegenüber dem Verkäufer offen legen zu müssen. Der Gerichtshof legte die Regelung angesichts der verschiedenen sprachlichen Fassungen dahin aus, dass sie nur eine Individualisierung verlange, nicht aber eine Nennung des Namens. Im Anschluss an diese Auslegung erfolgt - gewissermaßen zusätzlich, aber für die Begründung eigentlich gar nicht mehr erforderlich - die äußerst knappe Grundlegung eines Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht:

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„Bei dieser Auslegung enthält die streitige Vorschrift nichts, was die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person in Frage stellen könnte."

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Für die dogmatische Begründung dieser Rechtsprechung sind die Ausführungen des Generalanwalts Römer von Bedeutung, der sich in seinen Schlussanträgen einer damals im Schrifttum vertretenen Auffassung anschließt, „durch wertende Rechtsvergleichung seien gemeinsame Wertvorstellungen des nationalen Verfassungsrechts, insbesondere der nationalen Grundrechte zu ermitteln, die als ungeschriebener Bestandteil des Gemeinschaftsrechts beachtet werden müssten"50. Der Unterschied dieser dogmatischen Begründung gegenüber der vom Gerichtshof abgelehnten unmittelbaren Anwendung nationaler Grundrechte liegt darin, dass sie sich nicht allein auf die Grundrechte eines Mitgliedstaats stützt und auch die nationalen Grundrechte nicht selbst anwendet, sondern in ihnen nur eine Rechtserkenntnisquelle für die Ermittlung der ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte sieht (—» § 13 Rn 8). Der Gerichtshof hat diese dogmatische Herleitung 1970 in der Entscheidung Internationale Handelsgesellschaft bestätigt. Dort wurde zunächst betont, dass der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts auch das nationale Verfassungsrecht und dessen Grundrechtsgarantien betreffe. Im Anschluss stellt der Gerichtshof aber fest, dass ein gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz durch den Gerichtshof erfolge, der von den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten" getragen sei.51

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48 49 50 51

EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,

Slg Slg Slg Slg

1960, 885, 921 - Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft. 1969,419 ff - Stauder. 1969,419, 427 f - Stauder. 1970, 1125, Rn 4 - Internationale Handelsgesellschaft.

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Neben die „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten" trat 1974 in der Entscheidung Nold eine weitere Rechtserkenntnisquelle: Der Gerichtshof hat in diesem Verfahren anerkannt, dass die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte „Hinweise geben [können], die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind"52. Diese noch sehr vorsichtig klingende Formulierung wurde in den Folgejahren hinsichtlich der E M R K verstärkt und dient inzwischen als Grundlage einer weitgehenden Berücksichtigung der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs durch den EuGH. Der EuGH hat die „besondere Bedeutung" der E M R K gegenüber anderen völkerrechtlichen Verträgen mehrfach hervorgehoben. 53 Auch stützt er sich inzwischen ganz selbstverständlich auf Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte, wenn es um die Auslegung der E M R K geht. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für dieses Vorgehen betrifft die Garantie eines zügigen Verfahrens. In diesem Bereich gibt es eine umfassende Rechtsprechung der Straßburger Organe zu Art 6 I EMRK 54 . Der EuGH hat in einer Entscheidung über die Dauer des Verfahrens vor dem Gericht erster Instanz ohne weiteres die Maßstäbe des Art 6 I E M R K angewandt und dabei zur Bestimmung des angemessenen Zeitrahmens die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs herangezogen. Die entsprechende Passage der Entscheidung erweckt geradezu den Eindruck, als fühle sich der EuGH an diese Rechtsprechung gebunden55. Allerdings darf die Selbstverständlichkeit, mit der sich der EuGH auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stützt, nicht über die dogmatische Ableitung der Gemeinschaftsgrundrechte hinwegtäuschen. Der EuGH hat es bislang trotz verschiedener Ansätze in der Literatur 56 abgelehnt, eine förmliche Bindung der Gemeinschaftsrechtsordnung an die E M R K anzunehmen. Beim gegenwärtigen Stand der Dogmatik bleibt es deshalb dabei, dass die E M R K nur als eine Rechtserkenntnisquelle dient. Sie ist keine eigene Rechtsquelle des Gemeinschaftsrechts. 57 Das Gericht erster Instanz hat dies sogar mehrfach ausdrücklich klargestellt.58 Bei dieser Form der vergleichenden Berücksichtigung lassen sich freilich Divergenzen in der Auslegung nicht ganz vermeiden. Dies gilt erst recht, wenn der Gerichtshof in Luxemburg mit einer Grundrechtsfrage befasst ist, bevor diese Gegenstand einer Entscheidung des Straßburger Gerichtshof war.59

52 EuGH, Slg 1974, 491, Rn 13 - Nold. 53 Etwa EuGH, Slg 1997,1-7493, Rn 12 - Annibaldi; der Gerichtshof selbst sieht für die besondere Betonung der EMRK die Entscheidung EuGH, Slg 1986, 1651, Rn 18 - Johnston als grundlegend an, s EuGH, Slg 1991,1-2925, Rn 41 - ERT. 54 S im einzelnen Peukert in: Frowein/Peukert Art 6 EMRK Rn 136 ff. 55 S allerdings EuGH, Slg 1-2000, 665, Rn 4 ff - Emesa Sugar; dazu die kritischen Bemerkungen bei KrügerlPolakiewicz EuGRZ 28 (2001), 92, 98. 56 S etwa Hilf FS Bernhardt, 1995, S 1193, 1197 f; weitere Nachweise bei Kingreen in: Calliess/Ruffert Art 6 EUV Rn 38. 57 Kingreen in: Calliess/Ruffert Art 6 EUV Rn 35; § 13 Rn 8. 58 EuG, Slg 2001, 11-729, Rn 59 - Mannesmann-Röhrenwerke AG, Slg 1998, 11-1751, Rn 311 f Mayr-Melnhof/Kommission. 59 So dürfte sich wohl die bisher deutlichste Divergenz erklären, die sich in der Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe feststellen lässt: Der EuGH entschied 1989 unter ausdrücklicher Heranziehung von Art 8 EMRK, dass das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung den Schutz von Geschäftsräumen nicht erfasse (EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 18 - Hoechst). Der EGMR, der mit der gleichen Rechtsfrage erst 1992 befasst war, entschied genau umgekehrt (NJW 1993, 718, Rn 29 - Niemitz = Kunig JK 93, EGMR Art 8/1).

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§ 1 III 3

Der Europäische Gerichtshof und das Gericht erster Instanz haben auf der Grundlage der beiden genannten Rechtserkenntnisquellen (Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und völkerrechtliche Verträge, insbesondere EMRK) einen umfangreichen Katalog ungeschriebener Grundrechte entwickelt (—> ausf hierzu §§ 13-18). Das Bundesverfassungsgericht, das dem Grundrechtsschutz durch den EuGH zunächst skeptisch gegenüber stand und eine Überprüfungsbefugnis für sich in Anspruch nahm (Solange /-Entscheidung)60, entschied 1986, dass der vom EuGH gewährte Grundrechtsschutz dem des Grundgesetzes generell im wesentlichen vergleichbar ist (Solange //-Entscheidung).61 Seither sind Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollanträge, die sich gegen europäisches Gemeinschaftsrecht richten, unzulässig. Zweifel an der Fortgeltung dieser Rechtsprechung, die in der Folge des Maastricht-Urteils62 entstanden waren, beseitigte das Bundesverfassungsgericht im April 2000 in seiner Entscheidung zur Bananenmarkt- Ordnung:63 1993 fand die dogmatische Ableitung des Grundrechtsschutzes durch die Rechtsprechung des EuGH eine teilweise Absicherung64 im primären Unionsrecht: Nach Art 6 II EUV achtet die Union „die Grundrechte, wie sie in der am 4.11.1950 in Rom unterzeichnete Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben."

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3. Die Diskussion um einen Beitritt zur EMRK Trotz der aufgrund dieser Rechtsprechung entstandenen Grundrechtsgarantien wurde der Zustand ohne schriftlich fixierten Katalog von Grundrechten vielfach als unbefriedigend empfunden. 65 Es gab daher immer wieder sowohl Bestrebungen, einen eigenen Grundrechtskatalog für das Gemeinschaftsrecht zu formulieren,66 als auch die Absicht, einen förmlichen Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK herbeizuführen. Für den Beitritt zur EMRK wurde und wird geltend gemacht, dass hierdurch eine Verdopplung europäischer Grundrechtsstandards vermieden und eine einheitliche institutionelle Sicherung dieser Standards durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ermöglicht werde.67 Die Kommission hatte bereits 1979 in einem Memorandum den Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK erwogen.68 Das Parlament unterstützte ebenfalls die Beitrittsbestrebungen.69

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65 66 67 68 69

BVerfGE 37, 271 ff - Solange I. BVerfGE 73, 339 ff-Solange II. BVerfGE 89, 155 ff - Maastricht. BVerfGE 102, 147 ff - Bananenmarktordnung; dazu die Bewertung bei NicolaysenlNowak NJW 2001, 1233, 1235 f. Art 6 II EUV bezieht sich neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten nur auf die EMRK, während die Rechtsprechung des EuGH allgemein Verträge zum Schutz der Menschenrechte als Rechtserkenntnisquelle nennt und die EMRK nur als einen besonders wichtigen solchen Vertrag hervorhebt. S statt anderer Kokott AöR 121 (1996), 599, 602. Dazu sogleich unter Rn 30. S etwa Wildhaber Zeitschrift für schweizerisches Recht 2000, 123, 134. EGMR, EuGRZ 1979, 330 ff; dazu die Bemerkungen von Bieber EuGRZ 1979, 338 ff. Entschließung vom 27.4.1979, EuGRZ 1979, 257; s a die Entschließung vom 18.1.1994 zum Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte, ABl 1994 Nr C 44/32.

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Einem Beitritt stehen allerdings mehrere Hindernisse entgegen. Auf der Seite der EMRK besteht das Problem, dass diese „für Mitglieder des Europarats" zur Unterzeichnung aufliegt,70 die Satzung des Europarats aber nur den Beitritt von Staaten vorsieht.71 Auch für das Gemeinschaftsrecht war fraglich, ob dieses einen Beitritt zu einem Menschenrechtsvertrag zulassen würde. In seinem auf Antrag des Rates erstatteten Gutachten 2/94 entschied der Europäische Gerichtshof, dass der Gemeinschaft die Zuständigkeit fehle, der EMRK förmlich beizutreten. Der Gerichtshof stützte diese Entscheidung maßgeblich auf seine ständige Rechtsprechung, nach der die Gemeinschaft im Außenverhältnis nur dort ungeschriebene Kompetenzen zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge besitzt, wo sie auch im Innenverhältnis nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zuständig wäre.72 Zwar sei die Achtung der Menschenrechte eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Gemeinschaftshandelns, aber mit dem Beitritt zur EMRK sei eine so grundlegende Änderung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzsystems verbunden, dass der Beitritt nicht auf die Vertragsabrundungsklausel des Art 235 EGV (Art 308 EGV nF) gestützt werden könne.73 Die nach dieser Rechtsprechung für einen Beitritt erforderliche Änderung des primären Gemeinschaftsrechts ist weder in Amsterdam noch in Nizza erfolgt. Die Mitgliedstaaten haben sich statt dessen dafür entschieden, einen eigenen Grundrechtskatalog für das Gemeinschaftsrecht zu formulieren. Obwohl dieser - wie das Verhältnis der nationalen Grundrechtskataloge zur EMRK zeigt - einen Beitritt zur EMRK keineswegs ausschließt, scheint sich durch die Diskussion über die Formulierung einer Grundrechts-Charta und deren Proklamation auf dem Europäischen Rat von Nizza die Frage des EMRK-Beitritts vorerst erledigt zu haben.74 4. Forderungen nach einem Grundrechtskatalog für das Gemeinschaftsrecht und die Europäische Grundrechts-Charta75

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Die rechtspolitischen Forderungen nach einem eigenen Katalog geschriebener Gemeinschaftsgrundrechte, die zur Proklamation der Europäischen Grundrechts-Charta auf dem Europäischen Rat von Nizza am 7.12.2000 führten,76 waren nicht neu. Schon im Jahr 1989 verabschiedete das Europäische Parlament mit der „Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten" erstmals einen umfassenden Katalog.77 Die Erklärung enthält nicht nur die klassischen Freiheitsrechte, wie sie auch in der EMRK ihren Niederschlag gefunden haben, sondern außerdem einige soziale Grundrechte, wie ein Recht auf Bildung (Art 16) oder ein Recht auf sozialen Schutz (Art 15). Ein vergleichbarer Grundrechtskatalog, einschließlich der sozialen Grundrechte findet sich auch in Titel VIII der vom Parlament am 10.2.1994 angenommenen Entschließung zur Verfassung der Europäischen Union.78 70 Art 591 1 EMRK. 71 Art 4 S 1 Satzung des Europarats; Lösungsvorschläge für dieses Problem finden sich im Memorandum der Kommission EuGRZ 1979, 330, 337 (Ziff VII); s a Bernhardt FS Everling, 1995, S 103 ff; neuerdings KrügerlPolakiewicz EuGRZ 28 (2001), 92, 102. 72 EuGH, Slg 1971, 263, Rn 15 ff-AETR. 73 EuGH, Slg 1996,1-1759, Rn 3 4 - Gutachten 2/94. 74 S allerdings Krügerl Polakiewicz EuGRZ 28 (2001), 92, 94 ff; Grabenwarter FS Steinberger 2002, S1129,1148 ff 75 -» ausf zur Grundrechts-Charta § 19. 76 ABl 2000 Nr C 364/1. 77 ABl 1989 Nr C 120/51. 78 ABl 1994 Nr C 61/155.

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Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten

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Der Text der in Nizza angenommenen Europäischen Grundrechts-Charta wurde nicht in der bislang üblichen Form einer Regierungskonferenz erarbeitet, sondern in der Form eines sog „Konvents". Hierdurch wurden neue Wege der Beteiligung nationaler Parlamente und der Öffentlichkeit beschritten. Der durch den Europäischen Rat von Tampere (Finnland) geschaffene Konvent bestand aus 15 Vertretern der nationalen Regierungen, 16 Europaabgeordneten, 30 nationalen Parlamentariern und einem Vertreter der Kommission. Die hierin liegende Abkehr von einer rein intergouvernementalen Form der Erarbeitung ist Ausdruck eines Schritts von „konstitutioneller Bedeutung"79 und vermittelt der Charta eine bislang in dieser Form auf europäischer Ebene nicht erreichte (parlamentarische) Legitimation.80 Allerdings hat sich der Europäische Rat von Nizza auf eine feierliche Proklamation der Charta beschränkt und es abgelehnt, ihr rechtliche Verbindlichkeit zukommen zu lassen oder sie gar im Primärrecht zu verankern. Mit der Proklamation der Charta verbindet sich demnach zur Zeit nur eine politische Aussage zu gemeinsamen europäischen Grundrechtsstandards, aber keine rechtliche Bindung der Gemeinschaftsorgane. Man würde die Bedeutung der Charta aber unterschätzen, wenn man sie wegen ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit als jedenfalls gegenwärtig für die Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes irrelevant ansehen würde. Die Charta enthält die modernste Systematisierung der Grundrechte und kann gerade wegen der Zusammensetzung des Konvents und des dort weitgehend verfolgten Konsensprinzips als repräsentativer Ausdruck des gegenwärtigen Grundrechtsstandards in der Gemeinschaft angesehen werden. Schon aus diesem Grund dürfte die Charta für die Zukunft wegweisend sein. Ihre systematisierende Wirkung zeigt sich schon heute daran, dass die Generalanwälte beim Europäischen Gerichtshof in ihren Stellungnahmen zu Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof die Charta vielfach heranziehen, um ein mit den bisherigen Rechtserkenntnisquellen des europäischen Grundrechtsschutzes gewonnenes Ergebnis zu bestätigen. Im Januar 2002 hat erstmals auch das Europäische Gericht erster Instanz die Charta in dieser Weise zur Bestätigung der von ihm aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ermittelten Gemeinschaftsgrundrechte herangezogen.81 Ein bemerkenswerter Ausdruck wechselseitiger Beeinflussung der verschiedenen Mechanismen des europäischen Grundrechtsschutzes liegt in der Argumentation des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in dem am 11.7.2002 entschiedenen Fall Christine Goodwin gegen Vereinigtes Königreich (Appl Nr 28957/95), wo der Gerichtshof mit dem unterschiedlichen Wortlaut von Art 12 EMRK und Art 9 der Europäischen GrundrechtsCharta argumentiert. Der Gerichtshof wertet die Tatsache, dass die Grundrechtscharta anders als die EMRK - im Zusammenhang mit dem Recht zu Heiraten und eine Familie zu gründen nicht von „Männern und Frauen" spricht, als Ausdruck dafür, dass seit der Verabschiedung der Konvention im Jahre 1950 „major social changes in the institution of marriage" erfolgt seien (Rn 100 der Entscheidung). Darin liegt zwar keine Anwendung der Grundrechtscharta als rechtsverbindliches Dokument. Der Fall zeigt aber, welche rechtlichen Wirkungen die Charta jenseits der förmlichen Verbindlichkeit sogar außerhalb des unmittelbaren Anwendungsbereichs des europäischen Unionsrechts entfalten kann. Die Berücksichtigung der Europäischen Grundrechts-Charta in der Entscheidung Christine

79 Vgl Leinen!Schönlau integration 24 (2001), 26. 80 Bernsdorff NdsVBl 2001, 177, 178. 81 EuG, EuZW 2002, 186, Rn 48 - max.mobil Telekommunikation Service GmbH.

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§ 1 IV

Goodwin gegen Vereinigtes Königreich ist damit ein Stück weit das Spiegelbild zur Berücksichtigung der EMRK durch den Europäischen Gerichtshof. Ob und wann die Charta über diese mittelbaren Wirkungen innerhalb und außerhalb des EU-Rechts hinaus förmlich Rechtsverbindlichkeit in der Europäischen Union erlangt, bleibt abzuwarten. 5. Der Geltungsbereich der 33

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Gemeinschaftsgrundrechte

Ihrem historischen Kontext entsprechend konnte man die Gemeinschaftsgrundrechte zunächst als ein Mittel verstehen, mit dem die Bindung der Gemeinschaftsorgane an grundrechtliche Schutzstandards gewährleistet werden sollte. Art 6 II EUV bringt heute mit der Formulierung „die Union achtet die Grundrechte ..." die Bindung der Union (und damit auch der EG) deutlich zum Ausdruck. Allerdings konnte angesichts der durch den supranationalen Charakter des Gemeinschaftsrechts bewirkten engen Verzahnung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht die Frage nach dem genauen Umfang der Bindungswirkung von Gemeinschaftsgrundrechten, insbesondere die nach einer Erstreckung ihrer Bindungswirkung auf die Mitgliedstaaten, nicht ausbleiben.82 Der Gerichtshof hat in zwei Fallgruppen eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte anerkannt: beim Vollzug von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht durch Behörden der Mitgliedstaaten und bei zulässigen Einschränkungen der durch das Gemeinschaftsrecht gewährleisteten Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten.83 Im Übrigen hat er in einer Entscheidung aus dem Jahr 1998 ausdrücklich festgehalten, dass die Gemeinschaftsgrundrechte nicht dazu führen können, „dass der Anwendungsbereich der Bestimmungen des Vertrages über die Zuständigkeiten der Gemeinschaft hinaus erweitert wird"84. Daneben gibt es im Bereich der auswärtigen Beziehungen der Gemeinschaft Elemente einer Grundrechtspolitik. Die Gemeinschaft hat in den Assoziierungsabkommen, die sie mit verschiedenen Staaten geschlossen hat, in zunehmenden Maße Grundrechtsklauseln aufgenommen, mit denen die Fortdauer der Zusammenarbeit von der Einhaltung bestimmter grundrechtlicher Mindeststandards abhängig gemacht wird.85 Über diesen sehr begrenzten Bereich hinaus gibt es bislang aber keine eigene Grundrechtspolitik der Gemeinschaft.86

IV. Die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts 35

Der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital kennzeichnet nach Art 14 II EGV den von der Gemeinschaft errichteten Binnenmarkt. Die hierdurch gewährleisteten sog Markt- oder Grundfreiheiten gehören zu den wichtigsten Eckpfeilern des Gemeinschaftsrechts. Der Begriff der „Grundfreiheit" wird zwar in den Verträgen nicht ausdrücklich verwendet, hat sich aber in der deutschen rechtswissenschaftlichen

82 Dazu Ruffert E u G R Z 1995, 518 ff; § 13 Rn 29 ff. 83 EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 19 - Wachauf; Slg 1991,1-2925, Rn 42 f - ERT; ausf dazu Kingreen in: Calliess/Ruffert Art 6 EUV Rn 56 ff. 84 EuGH, Slg 1998, 1-621, Rn 45 - Grant = Ehlers JK 99, EGV Art 119/1; auch die Europäische Grundrechts-Charta enthält in Art 51 eine solche Beschränkung. 85 Ausf zu diesen Klauseln: Hoffmeister Menschenrechts- und Demokratieklauseln in den vertraglichen Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft, 1998. 86 S dazu einerseits Alston!Weiler in: Aiston (Hrsg), The EU and human rights, 1999, S 3 ff, und andererseits von Bogdandy JZ 2001, 157 ff.

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Literatur eingebürgert. Er wird seit Beginn der achtziger Jahre auch vom EuGH verwendet87 und fand Eingang in die nicht-deutschsprachige Literatur. 88 Hiermit ist eine gewisse Begriffsverengung und -Verschiebung gegenüber dem früheren Sprachgebrauch verbunden. Noch im Jahr 1950 bezeichnete die E M R K die durch sie gewährleisteten Menschenrechte auch als „Grundfreiheiten". Ungeachtet grundrechtlicher Gehalte insbesondere der durch den EG-Vertrag garantierten Personenverkehrsfreiheiten 89 , liegt es auf der Hand, dass ein jeweils unterschiedliches Begriffsverständnis vorliegt. Die E M R K verwendet den Begriff der Grundfreiheit für die in einem Katalog garantierten Menschenrechte, das Gemeinschaftsrecht bezeichnet damit die für die Herstellung des Binnenmarktes notwendigen wirtschaftlichen Freiheiten im grenzüberschreitenden Verkehr. Die Grundfreiheiten waren von Anfang an Bestandteil der Gemeinschaftsverträge. Sie haben allerdings im Laufe der Zeit eine erhebliche Verdeutlichung und Konkretisierung durch die Rechtsprechung des EuGH erfahren. Sie entwickelten sich in dieser Rechtsprechung von zunächst auf Abbau von Benachteiligungen aufgrund der Staatsangehörigkeit gerichteten Diskriminierungsverboten zu weit reichenden Beschränkungsverboten, in denen schließlich auch dogmatisch die Konturen wirtschaftlicher Freiheitsrechte erkennbar werden. Wichtige Meilensteine dieser Entwicklung sind:

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1) die Anerkennung der Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte mit der Folge ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit in den internen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten; 2) der Ausbau des Schutzbereiches der Grundfreiheiten zu umfassenden Diskriminierungs- und Beschränkungsverboten; und schließlich 3) die Verwendung von grundrechtsdogmatischen Argumentationsmustern in Form von „Drittwirkung" und „Schutzpflichten". 1. Anerkennung als subjektiv-öffentliche

Rechte

Für die gesamte weitere Entwicklung des Gemeinschaftsrechts von zentraler Bedeutung ist die Anerkennung der Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte in der Entscheidung van Gend & Loos aus dem Jahr 1963. Heute ist der Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit des primären Gemeinschaftsrechts (—» vgl § 7 Rn 7) so selbstverständlich geworden, dass die damalige Position der niederländischen und der belgischen Regierung, über die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts entscheide das jeweilige nationale Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten, kaum noch nachvollziehbar erscheint. Vergleicht man die Haltung der beiden Regierungen mit der Entscheidung des EuGH, so zeigt sich, welchen erheblichen qualitativen Sprung die Gemeinschaftsrechtsordnung mit der Anerkennung der Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte gegenüber sonstigen völkerrechtlichen Verträgen machte.90 Nach der Entscheidung des EuGH in dem Verfahren van Gend & Loos schafft die Gemeinschaft eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts", deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die einzelnen Bürger sind. Der Vertrag solle auch dem einzelnen Rechte verleihen: „Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von ein-

87 EuGH, Slg 1981, 2595, Rn 8 - Casati; s näher Pfeil Historische Vorbilder und Entwicklung des Rechtsbegriffs der „Vier Grundfreiheiten" im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1998, S 4 ff. 88 Nachweise bei Pfeil (Fn 87) S 6 ff. 89 Oppermann ER Rn 490. 90 Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 24.

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deutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt."9' Die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundfreiheiten (und anderer Bestimmungen, die solche „eindeutigen Verpflichtungen" begründen) führte in den Folgejahren dazu, dass das Gemeinschaftsrecht die internen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in erheblichem Umfang beeinflusste. Die praktische Bedeutung dieser Rechtsprechung und ihre Wirkung auf die nationalen Rechtsordnungen zeigt sich daran, dass gerade die besonders umstrittenen Entscheidungen des EuGH nicht zu Fragen der Kompetenz der Gemeinschaft ergingen, sondern zur Bedeutung der Grundfreiheiten und zur unmittelbaren Anwendung des Gemeinschaftsrechts.92 2. Auslegung der Grundfreiheiten als Diskriminierungsund Beschränkungsverbote93

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Zu dieser Entwicklung trug maßgeblich bei, dass der Gerichtshof die Grundfreiheiten nach und nach zu umfassenden Wirtschaftsfreiheiten ausbaute, die nicht nur offene und versteckte Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verbieten, sondern alle Maßnahmen untersagen, die zu einer Beschränkung des Waren- und Personenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten führen können. Nach dem Wörtlaut im Vertragstext bestehen nicht unerhebliche Unterschiede im Schutzbereich der einzelnen Grundfreiheiten. Während die Warenverkehrsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs ausdrücklich Beschränkungen als unzulässig bezeichnen (vgl Art 28 u Art 49 I 1 EGV), statuieren die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit zunächst einmal nur ein Verbot der Differenzierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art 39 II u Art 43 EGV). Der EuGH hat allerdings im Laufe der Jahre alle Grundfreiheiten so ausgelegt, dass sie sowohl ein Diskriminierungs- als auch ein Beschränkungsverbot aufstellen. Insgesamt kann man sagen, dass sich die Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit als Schrittmacher für die Entwicklung bei den anderen Grundfreiheiten erwiesen hat. Das umfassende Beschränkungsverbot für die Warenverkehrsfreiheit formulierte der EuGH in dem Verfahren Dassonville. Nach der seither so genannten Dassonville-Formd sind unter Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen im Sinne von Art 28 EGV alle Handelsregelungen der Mitgliedstaaten zu verstehen, die geeignet sind, „den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern."94 Diese Formulierung macht deutlich, dass auch diskriminierungsfreie Beschränkungen des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten in den Anwendungsbereich von Art 28 EGV fallen. In letzter Konsequenz hätte diese weite Auslegung des Beschränkungsverbots dazu geführt, dass im Prinzip jedes Produkt, das in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und/oder in den Verkehr gebracht wurde, uneingeschränkt in die anderen Mitgliedstaaten hätte eingeführt und dort vertrieben werden können.95 Aus dem Bestreben eine so weitreichende Konsequenz zu vermeiden, erklärt sich die Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung, die zwingende Erfordernisse des Gesundheits-

91 EuGH, Slg 1963, 1, 12 - van Gend & Loos. 92 S etwa EuGH, Slg 1998,1-1931 ff - Kohll; Slg 1998,1-1831 ff - Decker; Slg 2000,1-69 ff - Kreil. 93 -» dazu ausf § 7 Rn 18 ff. 94 EuGH, Slg 1974, 837, Rn 5 - Dassonville. 95 Epiney in: Calliess/Ruffert Art 28 EGV Rn 16.

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und Verbraucherschutzes, sowie des Schutzes des Handelsverkehrs und der steuerlichen Kontrolle schon aus dem Tatbestand des Art 28 EGV ausnimmt.96 Auch die Entscheidung in dem Verfahren Keck und Mithouard, mit der Beschränkungen von Verkaufsmodalitäten97, also etwa Ladenöffnungszeiten98 oder eine Apothekenpflichtigkeit bestimmter Produkte, gleichfalls schon aus dem Tatbestand des Art 28 EGV ausgenommen wurden, verfolgt das Ziel, die Wirkungen der weiten Dassonville-Formel einzuschränken. Bei der Warenverkehrsfreiheit zeigt sich also eine zunächst den Tatbestand ausweitende, dann aber für bestimmte Fallgruppen wieder einschränkende Rechtsprechung. Vergleichbare Entwicklungen lassen sich für die anderen Grundfreiheiten nachweisen. Für die Dienstleistungsfreiheit, die schon nach dem Vertragstext kein bloßes Diskriminierungsverbot aufstellt, hat der EuGH dies bereits in seiner ersten Entscheidung zu erkennen gegeben.99 Die Entscheidung Alpine Investments deutet an, dass die einschränkende Auslegung durch die Ä"ecfc-Entscheidung grundsätzlich auf die Dienstleistungsfreiheit übertragen werden kann.100 Auch die Niederlassungsfreiheit wurde in der Rechtsprechung des Gerichtshofs vom bloßen Diskriminierungsverbot zu einem Beschränkungsverbot ausgebaut.10' In der viel beachteten fioi/nan-Entscheidung hat der EuGH schließlich die genannten Grundsätze auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit angewandt. Dort hat er auch angedeutet, dass nicht nur der Grundgedanke des Beschränkungsverbots übertragen werden kann, sondern auch die einschränkende Auslegung nach der Keck-Formel.'02 Insgesamt kann man in der Rechtsprechung der vergangenen Jahre somit eine Konvergenz zu einer gemeinsamen Dogmatik der Grundfreiheiten feststellen.103 3. Drittwirkung und Schutzpflichten: Grundrechtsdogmatik in der des EuGH zu den Grundfreiheitenm

Argumentation

Mit der Äwwaw-Entscheidung hat der EuGH zugleich auch seine schon früher entwickelte Rechtsprechung bestätigt, nach der die Grundfreiheiten nicht nur staatliche Stellen in den Mitgliedstaaten binden, sondern auch Privatpersonen. Unklar blieb allerdings noch der Umfang dieser Drittwirkung. In den Entscheidungen Walravem und Bosman wurde sie für die Dienstleistungsfreiheit und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gegenüber Sportverbänden und anderen Vereinigungen angenommen, die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit befugt sind. Aus diesem Grund wurde in der Literatur vielfach eine

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E u G H , Slg 1979, 649, Rn 8 - Rewe-Zentral-AG. EuGH, Slg 1993,1-6097, Rn 1 6 - Keck und Mithouard. EuGH, Slg 1994,1-2355, Rn 12 f - Punta casa. EuGH, Slg 1974, 1299, Rn 10 - van Binsbergen. E u G H , Slg 1995,1-1141, Rn 33 ff - Alpine Investment. Vgl die zusammenfassende Darstellung der Grundsätze in E u G H , Slg 1995, 1-4165, Rn 37 ff Gebhard, sowie die Beschreibung der Entwicklung der Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit bei Bröhmer in: Calliess/Ruffert Art 43 EGV Rn 22 ff; vgl aber auch dort Rn 30 f zur Kritik am Sprachgebrauch des Diskriminierungsbegriffs. E u G H , Slg 1995, 1-4921, Rn 103 - Bosman; s deutlicher insoweit noch die Schlussanträge G A Lenz, ebd, Rn 206; s a die Erörterung des Problems und der verschiedenen vertretenen Positionen bei Ganten Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, S 124-129. HilftPache N J W 1996, 1169, 1172; Kingreen (Fn 90) S 61 f; s a Classen EWS 1995, 97 ff. -> dazu ausf § 7 Rn 42 f. E u G H , Slg 1974, 1405, Rn 17 ff-Walrave.

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unmittelbare Drittwirkung nur dann angenommen, wenn die betreffenden Privatpersonen mit einer gewissen Regelungsbefugnis ausgestattet waren.106 Für die Warenverkehrsfreiheit lehnt der EuGH nach anfanglichen Unsicherheiten inzwischen generell in ständiger Rechtsprechung eine unmittelbare Drittwirkung ab.107 Im Sommer 2000 sprach der EuGH schließlich in dem Verfahren Angonese jedenfalls der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine unmittelbare Drittwirkung auch in Fällen zu, in denen es gerade an einer sozialen Machtausübung durch eine Vereinigung zur Wahrnehmung kollektiver Interessen fehlte.108 Es ist kaum anzunehmen, dass damit das letzte Wort in Sachen unmittelbarer Drittwirkung gesprochen ist. Die Entscheidung ist in der Literatur auf Kritik gestoßen.109 Außerdem betraf sie - anders als der Fall Bosman - eine Diskriminierungssituation und erlaubt deshalb nicht zwangsläufig Rückschlüsse darauf, wie in einem vergleichbaren Fall mit einer nicht diskriminierenden, sondern nur beschränkenden Maßnahme entschieden worden wäre. Schließlich bleibt das grundsätzliche Problem, eine Dogmatik zu entwickeln, mit der die Drittwirkungsproblematik für alle Grundfreiheiten gelöst werden kann. Hinzu kommt, dass mit der für die Warenverkehrsfreiheit entwickelten dogmatischen Figur der Schutzpflicht ein Instrument zur Verfügung steht, das ähnliche Ziele verfolgt.110 Als französische Bauern immer wieder gewaltsam den Import von Agrarprodukten aus Spanien und anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft verhinderten und die Kommission deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich einleitete, stand der EuGH vor einem der Drittwirkungsproblematik vergleichbaren Problem. Auch hier ging es darum, die Geltung der Grundfreiheiten gegenüber einer Beschränkung durch privates Handeln durchzusetzen. Anders als bei der Dienstleistungsfreiheit wählte der Gerichtshof aber nicht den Weg über eine unmittelbare Drittwirkung, sondern leitete aus der Warenverkehrsfreiheit eine staatliche Schutzpflicht ab, Behinderungen der Warenverkehrsfreiheit durch Private zu verhindern. Er entschied deshalb, dass Frankreich gegen seine Pflichten aus dem EG-Vertrag verstoßen habe, weil es gegenüber regelmäßig wiederkehrenden gewalttätigen Protesten untätig geblieben sei.1" Auf diesem Weg wird faktisch das gleiche Ergebnis erreicht: Die Geltung der Grundfreiheiten muss auch gegenüber Störungen durch Private durchgesetzt werden. Allerdings erfolgt dies nicht durch eine unmittelbare Anwendung der entsprechenden Vertragsbestimmungen gegen die störenden Privatpersonen, sondern nur mittelbar über die Ableitung einer Schutzpflicht des Staates, der dann gehalten ist, die Störung zu unterbinden. Schon an der Begrifilichkeit und den nunmehr in Rechtsprechung und Literatur verwendeten dogmatischen Figuren zeigt sich, in welchem Umfang die Grundfreiheiten inzwischen Anleihe bei den allgemeinen Grundrechtslehren nehmen: Schutzpflicht und mittelbare oder unmittelbare Drittwirkung sind Begriffe, die der Grundrechtsdogmatik entlehnt sind und deutlich machen, dass die Grundfreiheiten sich von der ursprünglich 106 StreinzlLeíble EuZW 2000,459 ff rawN. 107 Dazu im einzelnen die ausf Analyse der Rechtsprechung bei Ganten (Fn 102) S 34-45; Jaensch Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, S 45-64; s a Streinzl Leíble EuZW 2000,459, 460. 108 E u G H , Slg 2000,1-4139, R n 31, 36 - Angonese = Ehlers JK 01, EGV Art 39/1. 109 Streinzl Leíble EuZW 2000,459, 464 ff. 110 S vergleichend zur dogmatischen Begründung von Schutzpflichten Jaeckel Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001, S 222 ff. 111 EuGH, Slg 1997,1-6959, Rn 30 ff - Kommission/Frankreich; dazu Szczekalla DVB1 1998, 219 ff.

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vor allem auf der Beseitigung von Diskrimierungen liegenden Akzentsetzung112 weit entfernt haben und sich durch die Rechtsprechung des EuGH inzwischen in echte wirtschaftliche Freiheitsrechte verwandelt haben.113 V. Zusammenfassung: Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten in einem Europa mehrerer Ebenen Die beschriebenen Einzelentwicklungen entfalten Wechselwirkungen untereinander, finden 45 aber nicht in einer einheitlichen europäischen Rechtsordnung, sondern auf unterschiedlichen Ebenen statt. Dies macht Verallgemeinerungen schwierig. Folgende Entwicklungslinien lassen sich aber zusammenfassend festhalten: 1) Der nationale Grundrechtsschutz wurde seit 1945 um einen zunehmend sich intensivierenden internationalen Menschenrechtsschutz ergänzt. Spätestens mit der Ausgestaltung, die das Rechtsschutzsystem der EMRK durch das 11. ZP seit dem 1.11.1998 erlangt hat, übernimmt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte quasi-verfassungsgerichtliche Funktionen des Grundrechtsschutzes in Europa. 2) Für eine so intensiv in die nationalen Rechtsordnungen hinein reichende supra-nationale Rechtsordnung wie die des Gemeinschaftsrechts hat sich ein eigener Grundrechtsschutz innerhalb der Organisation als unumgänglich erwiesen. Dieser wird durch die Rechtsprechung des EuGH gewährleistet. Bislang ist die Gemeinschaft zwar der EMRK nicht förmlich beigetreten, aber die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg sorgt für eine weitgehende Parallelität der Prüfungsmaßstäbe, eine Identität des Schutzniveaus kann sie freilich nicht bewirken. Die Europäische Grundrechts-Charta entfaltet zwar keine förmliche Bindungswirkung, in ihr liegt aber eine Systematisierungsleistung, die bewirkt dass sie von den Generalanwälten und dem Gericht erster Instanz zur Bestätigung ihres Auslegungsergebnisses herangezogen wird. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verwendet sie, um Veränderungen in den Grundrechtsvorstellungen der Mitgliedstaaten seit dem Jahr 1950 zu belegen. 3) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bemüht sich in den vergangenen Jahren zunehmend darum, das Schutzniveau der EMRK nicht nur in den innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durchzusetzen, sondern er hält die Mitgliedstaaten dazu an, die Grundrechtsverbürgungen der EMRK auch dann sicherzustellen, wenn sie Aufgaben aus dem nationalen Bereich auf internationale Organisationen verlagern. 4) Die ursprünglich vor allem für den Abbau von Diskriminierungen im innergemeinschaftlichen Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr entwickelten Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts haben durch die Ausformung als Beschränkungsverbote in der Rechtsprechung des EuGH zunehmend den Charakter wirtschaftlicher Grundrechte gewonnen.

112 Vgl etwa die Beschreibung des Zwecks eines Verbots von Maßnahmen mit gleicher Wirkung in Art 28 E G V bei Ipsen EuGR, 588 f. 113 Gegen ein freiheitsrechtliches Verständnis und für einen materiellen Diskriminierungsbegriff argumentiert Kingreen (Fn 90) S 72 u 118 ff.

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2. Teil: Die Europäische Menschenrechtskonvention §2 Allgemeine Lehren Dirk Ehlers Leitentscheidungen: E G M R , N J W 1993, 718 ff - Niemitz = Kunig JK 93, E M R K Art 8/1; NVwZ 1999, 57 ff - Guerra = Ehlers JK 99, E M R K Art 8/3; NJW 1999, 1173 ff - Waite u Kennedy = Ehlers JK 99, E M R K Art 6/2; N J W 1999, 3107 ff - Matthews = Ehlers JK 99, E M R K Art 3 l.ZP/2; N J W 2001, 3035 ff-Krenz. Schrifttum: FroweinlPeukert in: Frowein/Peukert (Hrsg) Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, 2. Aufl 1996; Grabenwarter Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001) S 290 ff; Karl (Hrsg) Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1986, Loseblatt.

I. Die Stellung der EMRK im Gefüge des internationalen und nationalen Rechts Grund- oder Menschenrechte des Einzelnen gegenüber den Trägern hoheitlicher Gewalt werden heute auf universeller, regionaler und nationaler Ebene anerkannt. Letzteres wird jedenfalls in der westlichen Welt mittlerweile als selbstverständlich erachtet. Universell gesehen sind neben zahlreichen speziellen Konventionen (zB gegen Folter, Sklaverei, Völkermord, Frauen- und Kinderarbeit)1 vor allem die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948 beschlossene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte2 und die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.19663 zu nennen. Im Gegensatz zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte entfalten die Menschenrechtspakte völkerrechtliche Bindungswirkungen, die teils durch ein periodisches und obligatorisches Berichtssystem, teils durch Zulassung einer Staaten- und Individualbeschwerde durchgesetzt werden sollen.4 Regionale Menschenrechtsverbürgungen gibt es zB in Gestalt der Amerikanischen Menschenrechtskonvention und der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker.5 Vor allem aber ist auf die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4.11.1950 zu verweisen, welche die älteste regionale Menschenrechtskonvention neuzeitlicher Art darstellt und einen Mindestgrundrechtsstandard in Europa gewährleisten will.6

Vgl die Übersicht bei K Ipsen VR § 48 Rn 1 ff Abgedruckt im Sartorius II Nr 19. Vgl BGBl II 1973, 1534, 1570 = Sartorius II Nr 20 und Nr 21. Vgl einerseits Art 40 I IPbürgR und Art 16 I IPwirtR, andererseits Art 41 IPbürgR und das erste Fakultativ- bzw Zusatzprotokoll zum IPbürgR (BGBl II 1992, 1247 = Sartorius II N r 20 a). Die Frage der völkerrechtlichen Verbindlichkeit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist umstritten. Vgl Seidl-HohenveldernlStein Völkerrecht, 10. Aufl 2000, Rn 1585; Hailbronner in: Graf Vitzthum 3. Abschn Rn 245 f; K Ipsen VR § 7 Rn 9. 5 Vgl den Überblick bei Wittinger Jura 1999, 405 ff. 6 BGBl II 1952, 685 = Sartorius II N r 130.

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Die EMRK ist nebst anderen Konventionen, völkerrechtlichen Verträgen und Rahmenübereinkommen (wie etwa der Europäischen Sozialcharta7) vom Europarat verabschiedet worden. Dieser stellt eine von den europäischen Staaten im Jahre 1949 gebildete völkerrechtliche Organisation zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, sowie zur Beförderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts dar.8 Im Jahre 1950 ist die Bundesrepublik Deutschland assoziiertes Mitglied, 1951 Vollmitglied des Europarates geworden. Bis Mitte 2002 sind 43 Staaten Europas (einschließlich der Russischen Föderation und der Türkei) dieser Organisation beigetreten. Gemäß Art 3 der Satzung des Europarates erkennt jedes Mitglied nicht nur den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts, sondern zugleich an, dass jeder, welcher der Hoheitsgewalt eines Mitgliedstaates unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll. Um diese Grundsätze zu bekräftigen, ist die stark von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte9 beeinflusste EMRK am 4.11.1950 in Rom unterzeichnet worden. Nach Ratifizierung durch zehn Staaten (darunter die Bundesrepublik Deutschland) ist die Konvention am 3.9.1953 in Kraft getreten.10 Maßgebend ist allein die englische und französische Sprachfassung.11 Die Konvention ist bis heute durch elf Zusatzprotokolle ergänzt worden.12 Besondere Bedeutung kommt dem am 1.11.1998 in Kraft getretenen 11. Zusatzprotokoll13 zu, weil es den Rechtsschutz vereinfacht und effektiviert hat.14 Seit diesem Zeitpunkt nehmen sich die Richter des Gerichtshofs hauptamtlich der zuletzt jährlich rund 14.000 eingehenden Beschwerden an.15 Dies, sowie der Umstand, dass durch die stark gestiegene Zahl der Vertragsstaaten mittlerweile von Island bis Wladiwostok fast 800 Millionen Menschen potenzielle Beschwerdeträger sind, dürfte dazu führen, dass der EMRK in Zukunft noch eine weit größere Bedeutung als in der Vergangenheit zukommen wird. Bei der Unterzeichnung der Konvention sind zT Vorbehalte angemeldet worden (Art 57 EMRK). Auch wurden nicht alle Zusatzprotokolle von allen Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert.16 Daher variiert der Umfang der aus der EMRK resultierenden völkerrechtlichen Bindungen der Konventionsstaaten. Art 53 EMRK normiert, dass keine Bestimmung der EMRK als Minderung eines der Menschenrechte und Grundfreiheiten ausgelegt werden darf, die in nationalen Gesetzen oder in anderen internationalen Übereinkommen festgelegt sind. Diese Vorschrift belässt den Konventionsstaaten somit einen Spielraum, ein höheres Schutzniveau als nach der EMRK zu garantieren. Allerdings ist dieser Spielraum stets beschränkt, wenn in das Staat-Bürger-Verhältnis ein Dritter mit kollidierenden, durch die EMRK geschützten Grundrechtsansprüchen eindringt. Dann lässt sich der weiterreichende Schutz eines nationalen Grundrechts nur durchhalten, wenn der Schutz eines kollidierenden Grundrechts dadurch nicht das durch die EMRK ver-

Vgl BGBl II 1964, 1262 = Sartorius II Nr 115. Vgl BGBl I 1950, 263 = Sartorius II Nr 110. Vgl die Präambel der E M R K . Vgl BGBl II 1954, 14. Vgl Art 5 9 I V E M R K . Vgl die Übersicht bei Frowein in: Frowein/Peukert Einführung E M R K Rn 2. BGBIII 1995, 579. Vgl Rn 40 ff. Es stellt sich die Frage, ob der Gerichtshof einer so großen Zahl von Beschwerden - noch dazu in angemessener Frist - gerecht werden kann. 16 Vgl die jährlichen Fundstellennachweise B (Beiträge zum BGBl II). 7 8 9 10 11 12 13 14 15

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Allgemeine Lehren bürgte Niveau unterschreitet. Dies führt in der Regel dazu, dass der Grundrechtsschutz bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen an das Niveau der EMRK heranzuführen ist.17 Die Stellung der EMRK im Recht der Konventionsstaaten ist sehr unterschiedlich.18 Die Lösungen reichen vom Verfassungsrang (Österreich), Übergesetzesrang (zB Belgien, Niederlande, Luxemburg, Frankreich), Gesetzesrang (zB Italien, Griechenland) bis hin zur bloß völkerrechtlichen, nicht innerstaatlichen Verbindlichkeit19 (zB Irland, Norwegen). In Deutschland gilt die EMRK als einfaches Bundesgesetz.20 Allerdings könnten bestimmte Gewährleistungen der EMRK (wie zB das Verbot der Folter und der Sklaverei, Art 3, Art 4 I EMRK) zugleich allgemeine Regeln des Völkerrechts verkörpern.21 Gemäß Art 25 S 2 GG gehen solche Regeln den Gesetzen vor. Dies hat zur Folge, dass sich der Gesetzgeber nicht darüber hinwegsetzen darf. Entgegenstehendes Bundesrecht ist zwar nicht nichtig, muss aber außer Anwendung bleiben.22 Der Bundesgesetzgeber darf grundsätzlich durch eine lex posterior von der EMRK abweichen. Allerdings müssten die Gesetze nach der Rechtsprechung des BVerfG im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland ausgelegt und angewendet werden, selbst wenn sie später als ein völkerrechtlicher Vertrag erlassen worden sind. Es sei nämlich nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet habe, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen wolle.23 Der Sache nach läuft dies auf eine objektiv-rechtliche Geltung der Konventionsrechte als Maßstab für die Auslegung und Gestaltung des einfachen Rechts hinaus, in ähnlicher Weise, wie sie aus der Lüth-Rechtsprechung des BVerfG24 zur Drittwirkung der Grundrechte bekannt ist.25 Bei der Auslegung des Grund-

17 Dies trat im Open Door-Fall zu Tage: Nach der irischen Verfassung genießt das ungeborene Leben einen weiterreichenden Schutz als nach der EMRK. Dieser weiterreichende Schutz hätte im konkreten Fall ein Absinken des Schutzes der Meinungsfreiheit einer Schwangerenberatungseinrichtung unter das Niveau der EMRK bedeutet, so dass der weiterreichende Schutz des ungeborenen Lebens iE zur Wahrung eines EMRK-konformen Schutzniveaus der Meinungsfreiheit zurücktreten musste; EGMR, Série A 246 - A - Open Door. Vgl hierzu Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 298 f. 18 Vgl Ress in: Maier (Hrsg) Europäischer Menschenrechtsschutz, 1982, S 260 ff; Frowein in: Frowein/ Peukert Einführung EMRK Rn 6; vgl hierzu Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 299 ff. 19 Soweit ersichtlich, ist die EMRK mittlerweile nur noch in Irland nicht Bestandteil des innerstaatlichen Rechts; vgl Polakiewicz Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S 331. Früher gehörte auch das Vereinigte Königreich zu den Staaten, in denen die EMRK nicht Bestandteil des innerstaatlichen Rechts war. Zur neuen Rechtslage im Vereinigten Königreich vgl. Fenton Jura 2000, 330 ff. 20 Vgl Uerpmann Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, S 72 ff; Oppermann ER Rn 80. AA Bleckmann EuGRZ 1994, 149, 152. Eine Kompetenz des Bundes für die Zustimmung zur EMRK (Art 59 II GG) dürfte deshalb zu bejahen sein, weil sich die EMRK an die (Gesamt-) Staaten wendet und die Gewährleistungen in Deutschland die Grundrechte des Grundgesetzes ergänzen sollen. 21 Ebenso Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 306. 22 Zum bloßen Anwendungsvorrang vgl Streinz in: Sachs (Hrsg) Grundgesetz, 3. Aufl 2002, Art 25 Rn 93. 23 Grundlegend BVerfGE 74, 358, 370. Näher zur konventionskonformen Auslegung (mit weiteren Differenzierungen) Uerpmann (Fn 20) S 48 ff. 24 BVerfGE 7, 198 ff. 25 Vgl auch EuGH, Slg 1997, 1-3689 ff - Familiapress = Erichsen JK 98, EGV, Art 30/1, wonach ein

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gesetzes sind nach Ansicht des BVerfG Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK in Betracht zu ziehen, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt. Deshalb diene die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.26 So hat das BVerfG zB seine Ansicht über die Rechtmäßigkeit einer nur von Männern erhobenen Feuerwehrabgabe nach einer entgegenstehenden Entscheidung des EGMR27 revidiert.28 Mittelbar bekommt die EMRK auf diese Weise im innerstaatlichen Recht doch einen quasi verfassungsrechtlichen Rang. Ein Teil der Rechte der EMRK kann auch in Art 2 I GG hineingelesen und auf diese Weise mit der Verfassungsbeschwerde beim BVerfG gerügt werden.29 Schließlich wirkt sich die EMRK nachhaltig auf die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften aus. Gemäß Art 6 II EUV achtet die Union die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Dieser Grundrechtsschutz richtet sich nicht nur gegen die EU, sondern auch gegen die Europäischen Gemeinschaften als Bestandteile der EU (Art 1 III EUV) sowie gegen deren Organe (Art 46 lit d EUV). Allerdings erzeugt die EMRK keine unmittelbaren Bindungswirkungen im EU- bzw EG-Recht. Zum einen bindet die EMRK nur die Mitglieder des Europarates, zu denen die EU oder die Europäischen Gemeinschaften nicht gehören.30 Auch eine einseitige strikte Bindung an die EMRK (und die dazu ergangene Rspr des EGMR) lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen (weil sich eine solche nicht mit der Verpflichtung zur bloßen „Achtung" der Menschenrechte sowie der gleichzeitigen Bindung an die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verträgt). Vielmehr wird man annehmen müssen, dass die EMRK - und die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der EU - wie in der Vergangenheit3' Rechtserkenntnisquellen für die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellen (—» § 13 Rn 8). Die EMRK hat ferner den Inhalt der vom Europäischen Rat auf dem EUGipfel von Nizza am 7. Dezember 2000 feierlich proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (—> § 19) maßgeblich beeinflusst, wie sich einerseits aus dem 5. Erwägungsgrund der Präambel der Charta und andererseits daraus ergibt, dass sich in

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27 28

29 30 31

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innerstaatliches Verbot von Preisausschreiben in Zeitschriften nicht gegen die Freiheit des Warenverkehrs verstößt, weil das Verbot im Lichte des Art 10 E M R K ausgelegt werden müsse und diese Bestimmung zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt Eingriffe in die Freiheit der Meinungsäußerung zulässt. BVerfGE 74, 358, 370. Vgl auch BVerfGE 82, 106, 115. Zur Frage, o b das BVerwG (E 104, 265 ff) dieser Maßgabe bei der Auslegung des Art 3 E M R K gerecht geworden ist, vgl Frowein D Ö V 1998, 806, 810 f. Vgl E G M R , N V w Z 1995, 365 f - Schmidt = Kunig JK 95, E M R K , Art 14/1; -> § 3 Rn 63, 69. Vgl einerseits BVerfGE 13, 167 ff, andererseits BVerfGE 92, 91 ff. D a s BVerfG hat sich zwar nicht ausdrücklich der Rspr des E G M R angeschlossen, kommt in Abweichung von einer früheren Entscheidung aber zu demselben Ergebnis. Zu möglichen weiteren Konflikten zwischen der Rspr des E G M R und der deutschen Rspr vgl Eiffler JuS 1999, 1068, 1071. Str. Näher dazu Frowein FS Zeidler, Bd II, 1987, S 1763, 1770 f; Dreier in: Dreier (Hrsg) Grundgesetz, Bd I, 1996, Vorb Rn 22; Grabenwarter V V D S t R L 60 (2001), 290, 306 f. Vgl Rn 21 ff. EuGH, Slg 1970, 1125, Rn 3 f Internationale Handelsgesellschaft; Slg 1974,491, Rn 13 - Nold.

Allgemeine Lehren

§ 2 II 1

der Grundrechts-Charta nahezu sämtliche Verbürgungen der E M R K sowie einige Rechte aus Zusatzprotokollen wiederfinden, die nur von einem Teil der EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wurden.'Im Folgenden soll zunächst der Blick auf die Funktionen der Konventionsrechte (Rn 6 ff), die Berechtigten (Rn 14 ff), die Verpflichteten (Rn 19 ff), den räumlichen Geltungsbereich (Rn 26) und die zeitliche Geltung (Rn 27 0 geworfen werden. Sodann werden der Gewährleistungsgehalt und die Schranken der Konventionsrechte untersucht (Rn 29 ff). Abschließend soll kurz zum Rechtsschutz Stellung genommen werden (Rn 40 ff).

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II. Funktionen der Konventionsrechte Fall 1: (EGMR. NVwZ 1999. 57 f f - G u e r r a = Ehlers JK 99. EMRK. Art 8, 10, 50/3) Die Beschwerdeführer (Bf) wohnen in der Nähe einer Chemiefabrik, in der es mehrfach zu Unfällen bis hin zu schwerwiegenden Arsenvergiftungen gekommen ist. Die örtlichen Behörden sind verpflichtet, die Bevölkerung über die Gefahren der Fabrik sowie die Sicherheitsvorkehrungen und das Vorgehen bei Unfällen zu informieren. Nachdem sich die Behörden mit Billigung der angerufenen nationalen Gerichte unter Hinweis auf die noch laufenden Untersuchungen geweigert haben, Informationen herauszugeben, möchten die Bf wissen, ob sich die Einlegung einer Individualbeschwerde beim EGMR empfiehlt. In Anlehnung an G Jellinek11 werden die grundrechtlichen Gewährleistungen vielfach danach unterschieden, welchen Status (Zustand) des Einzelnen sie schützen. Der status negativus wird durch Abwehr- oder Freiheitsrechte, der status positivus durch Leistungsrechte, der status activus durch staatsbürgerliche Rechte und der status activus processualis 14 durch sonstige Verfahrensrechte ausgeformt und gesichert. Diesen verschiedenen Schutzrichtungen lassen sich auch die Garantien der E M R K zuordnen. 1. Gewährleistungen

des status negativus

32 Grabenwarter V V D S t R L 60 (2001), 290, 339. 33 Jellinek S y s t e m d e r s u b j e k t i v e n ö f f e n t l i c h e n Rechte. 2. A u l l 1919, S 87. 94 ff. A u f die V o r a u s s e t z u n g e n u n d S c h w ä c h e n d e r S t a t u s l e h r e k a n n hier nicht e i n g e g a n g e n w e r d e n .

Hüberle

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(Abwehrrechte)

Auch die E M R K schützt schwerpunktmäßig die Freiheit des Einzelnen vom Staat, indem sie dem Einzelnen eine bestimmte Freiheitssphäre garantiert und ihm einen Anspruch auf Unterlassung rechtswidriger Eingriffe des Staates sowie auf Beseitigung bereits vollzogener, aber noch rückgängig zu machender Eingriffe vermittelt. Inhaltlich geht es zunächst um den Schutz des Lebens (Art 2 E M R K ; § 3 Rn 48ff) einschließlich des grundsätzlichen Verbots der Todesstrafe (Art l f 6.ZP E M R K ; - » § 3 Rn 55 0 , der körperlichen Integrität (Art 3 E M R K ; ^ § 3 Rn 39 ff) und Freiheit (Art 4 E M R K , Art 1 4. Z P E M R K ) sowie der Freizügigkeit (Art 2 4. Z P EMRK 1 5 ). Garantiert werden ferner das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 E M R K ; -h> § 3 Rn 3 ff), das Elternrecht (Art 2 l . Z P EMRK"'), das Recht auf Eheschließung (Art 12 E M R K ; § 3 Rn 11),

34 Vgl zu dieser BegrilTsbildung

^

V V D S t R L 30 (1971), 43. 80 f.

35 A n d e r s als A r t 11 G G ( B V e r f G E 6, 32. 35 f; 72, 200, 245) s c h ü t z t A r t 2 II 4 . Z P E M R K a u c h d a s Recht auf Ausreise und A u s w a n d e r u n g . 36 D i e V o r s c h r i f t schließt die Freiheit d e r G r ü n d u n g v o n P r i v a t s c h u l e n ein. Vgl E G M R , 1976. 478, R n 50 Kjeldsen.

EuGRZ

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Dirk Ehlers

§ 2 112

auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art 9 EMRK; —> § 3 Rn 31 ff), auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art 10 f EMRK; —> § 4 Rn 4 ff) sowie auf Eigentum (Art 1 l . Z P EMRK; —> § 5 Rn 3ff). Damit werden die meisten Grundrechtspositionen, die das Grundgesetz garantiert, auch von der E M R K anerkannt, wobei der Sinngehalt im Einzelnen differiert. Allerdings fehlt zB ein Schutz der Berufsfreiheit und des Asylrechts.37 Erst recht garantiert die E M R K dem Einzelnen keine allgemeine Handlungsfreiheit. 2. Gewährleistungen des status positivus

(Leistungsrechte)

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Leistungsrechte zielen auf staatliches Handeln ab (etwa um reale Freiheit verwirklichen zu können). Sie lassen sich danach einteilen, ob sie auf originäre oder derivative Teilhabe gerichtet sind.38 Im zuerst genannten Fall verlangen sie noch nicht vorhandene staatliche Maßnahmen, im letzteren den Zugang zu schon bestehenden staatlichen Einrichtungen oder Leistungen. Ebenso wie im Grundgesetz finden sich in der E M R K kaum Bestimmungen, die dem Einzelnen ausdrücklich ein originäres Teilhaberecht einräumen. Im Wesentlichen ist nur auf die Verfahrensgarantie des Art 13 E M R K (der die Schaffung einer innerstaatlichen Instanz verlangt, die im Falle einer behaupteten Verletzung der Konvention angerufen werden kann) sowie auf das Recht auf Entschädigung bei bestimmten Fehlurteilen (Art 3 7. ZP EMRK) hinzuweisen. Das in Art 2 1. ZP E M R K verankerte Recht auf Bildung wird dahingehend interpretiert, dass nur von den staatlicherseits bereits eingerichteten Ausbildungsgängen bei Vorliegen der Voraussetzungen Gebrauch gemacht werden kann. Dagegen soll auf seiner Grundlage nicht die Einrichtung neuer Ausbildungsgänge gefordert werden können. 39 Zu den originären Leistungsrechten sind aber auch die Ansprüche auf Gewährung staatlichen Schutzes zu rechnen. So verpflichtet Art 2 I E M R K den Staat nicht nur dazu, das Leben gesetzlich zu schützen, sondern er dürfte dem Einzelnen auch ein Recht auf entsprechende gesetzliche Vorkehrungen zugestehen (—» § 3 Rn 60 ff). Wie das BVerfG leitet auch der E G M R unter bestimmten Voraussetzungen aus den Freiheitsrechten Schutzgewähransprüche ab. Insbesondere verpflichtet Art 8 I E M R K den Staat nicht nur zu einer Achtung des Privatund Familienlebens, der Wohnung und der Korrespondenz durch das Unterlassen rechtswidriger Eingriffe. Vielmehr muss der Staat diese Rechtsgüter positiv schützen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen Privater bewahren. 40 So ist der Staat gehalten, ein bestimmtes Verhalten Dritter unter Strafe zu stellen, wenn anderenfalls ein wirkungsvoller Schutz der Konventionsrechte gegen Beeinträchtigungen durch Dritte nicht gewährleistet ist.41 Diese Schutzpflichten binden den Staat nicht nur objektiv-rechtlich, sondern korrespondieren mit einem subjektiven Recht der Betroffenen.

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Derivative Teilhaberechte können sich in erster Linie aus dem Gleichheitssatz ergeben, dem auch und gerade das Gebot gleicher Begünstigung innewohnt. Die E M R K enthält

37 D a s Erbrecht wird jedoch nach Auffassung des E G M R von Art 1 1. ZP E M R K geschützt, E G M R , E u G R Z 1979, 454 ff - Marckx; -> § 5 Rn 17. 38 Vgl zu dieser Unterscheidung Martens V V D S t R L 30 (1971), 7, 21 ff. 39 Vgl Frowein in: Frowein/Peukert Art 2 l.ZP E M R K Rn 2. 40 E G M R , Application Nr 36022/97 - Hatton; -> § 3 Rn 26 f. 41 E G M R , Série A, Vol 91, Rn 27 - X und Y. Vgl zur Judikatur ferner Wildhaberl Breitenmoser in: Karl (Hrsg) Internationaler Kommentar zur E M R K , Stand 1992, Art 8 Rn 74 ff; Kley-Struller E u G R Z 1995, 507, 511 ff.

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Allgemeine Lehren

§2 114

indessen keinen allgemeinen Gleichheitssatz, sondern verbietet im Wesentlichen nur jede Diskriminierung im Hinblick auf den Genuss der in der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten (Art 14 EMRK; —» § 3 Rn 65 ff).42 Der Bezug zur Konvention besteht, wenn der Schutzbereich eines Konventionsrechts berührt wird. Auch die an sich zulässigen Einschränkungen der Konventionsrechte müssen den Anforderungen des Art 14 EMRK genügen. So ist die Untersagung des Läutens von Kirchenglocken zu Ruhezeiten zwar durch Art 9 II EMRK gedeckt, darf sich aber gleichwohl nicht nur gegen bestimmte Religionsgemeinschaften richten.43 Wegen des weiten Katalogs von Konventionsrechten wird so im Ergebnis doch eine Wirkung erzielt, welche der eines allgemeinen Gleichheitssatzes in vielen Fällen nahe kommt. Für bestimmte Fälle (Eheschließung, Eheführung, Ehescheidung, Beziehung der Eltern zu den Kindern) schreibt Art 5 7. ZP EMRK die Rechtsgleichheit im Privatrecht vor. 3. Gewährleistung des status activus (staatsbürgerliche

Rechte)

Auf die Ausformung staatsbürgerlicher Grundrechte hat die EMRK weitgehend verziehtet. Als einziges staatsbürgerliches Recht ist Art 3 l.ZP EMRK zu nennen, der die Vertragsparteien verpflichtet, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten. Durch die zu dieser Vorschrift ergangene Rechtsprechung des EGMR ist das aktive und passive Wahlrecht weiter ausgestaltet worden. So hat der Gerichtshof zB das Prinzip der Gleichheit der Staatsbürger aus Art 3 1. ZP EMRK abgeleitet, obwohl die Wahlrechtsgleichheit in dieser Bestimmung nicht genannt wird.44 Ein gleicher Erfolgswert der abgegebenen Stimmen wird nicht verlangt. Auch schreibt die EMRK kein bestimmtes Wahlsystem vor. 4. Status activus processualis

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(Verfahrensrechte)

Besonderes Gewicht hat die EMRK auf die Gewährung von Verfahrensgarantien gelegt. Die Anforderungen gehen zT über diejenigen des Grundgesetzes hinaus.45 Es zeigt sich erneut, dass andere Rechtsordnungen und Kodifikationen dem Verfahrensgedanken größere Bedeutung beimessen als das deutsche Recht.46 Im Einzelnen schützt Art 5 EMRK vor ungerechtfertigten Verhaftungen,47 Art 6 EMRK enthält Garantien für die Gerichtsverfahren und Art 7 EMRK statuiert den Grundsatz „nulla poena sine lege"48. Ausgeweitet wurden diese Bestimmungen durch das 7. Zusatzprotokoll zur EMRK, das ua verfahrensrechtliche Schutzvorschriften in Bezug auf die Ausweisung ausländischer Personen, die Garantie von Rechtsmitteln in Strafsachen oder die Beachtung des Grundsatzes „ne bis in idem" vorschreibt.49 Daneben können ähnlich wie im deutschen Recht50 42 Damit bleibt die E M R K zB gegenüber Art 7 AllgErklMenschenR oder Art 26 IPbürgR zurück. 43 Peukert in: Frowein/Peukert Art 14 E M R K Rn 4. 44 Vgl zB E G M R , Série A, Vol 113, Rn 54 - Mathieu-Mohin. Siehe zum aktiven Wahlrecht auch Rn 28. 45 Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 312. 46 Vgl zB Ehlers Jura 1996, 617 f, 623 f. 47 Vgl dazu E G M R , N J W 1999, 775 ff - K-F = Ehlers JK 99, E M R K , Art 5 1/1; § 6 Rn 3 ff. 48 Vgl dazu E G M R , N J W 2001, 3035 ff - Krenz; -> § 6 Rn 56 ff. 49 Das 7. ZP zur E M R K ist von der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht ratifiziert worden. 50 Vgl Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl 1995, Rn 358 ff.

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§ 2 114

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auch aus dem materiellen Konventionsrecht Verfahrensgarantien und Folgerungen für die H a n d h a b u n g des nationalen Verfahrensrechts abgeleitet werden. 51 Insgesamt ist es dem E G M R gelungen, einen gemeineuropäischen Standard des „fair triai" zu etablieren, der fortlaufend weiterentwickelt wird. 52 Der genaue Sinngehalt der Verfahrensgarantien erschließt sich oftmals erst nach Heranziehung der maßgeblichen englischen und französischen Sprachfassung. So garantiert Art 6 I 1 E M R K jeder Person bestimmte Verfahrensrechte „in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen". Bei Berücksichtigung der englischen und französischen Ausdrücke („civil rights and obligations" bzw „droits et obligations de caractère civil") ergibt sich, dass die Vorschrift auch einen großen Teil der Streitigkeiten erfasst, die nach der deutschen Rechtsordnung in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit fallen. 51 Das in Art 6 E M R K garantierte Recht auf ein faires Verfahren hat sich als die Vorschrift erwiesen, deren Verletzung am häufigsten geltend gemacht und bisher auch am häufigsten festgestellt wurde. 54 So hat der E G M R unter Berufung auf diese Vorschrift in zwei Fällen sogar eine überlange Verfahrensdauer des BVerfG „gerügt". 5 5

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Lösung Fall 1: Eine auf die EMRK gestützte Individualbeschwerde (Art 34 E M R K ) ist begründet, wenn der Bf in einem durch die EMRK geschützten Recht verletzt ist. Hier kommt eine Verletzung des Rechts auf Leben (Art 2 EMRK), des Rechts auf Empfang von Informationen (Art 10 I 2 E M R K ) und des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 1 EMRK) in Betracht. Da die Bf keinen Anspruch auf Abwehr staatlichen Handelns, sondern auf positive Verpflichtung zur Information geltend machen, können die Vorschriften nur verletzt sein, wenn sich aus ihnen Leistungsrechte ableiten lassen. Dies dürfte hinsichtlich des Konventionsrechts auf Leben (Art 2 I E M R K ) hier zu verneinen sein. Was das Recht angeht, Informationen zu empfangen (Art 10 I 2 EMRK). hat der EGMR im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Journalisten von einem Recht der Öffentlichkeit gesprochen, angemessen informiert zu werden (vgl zB E G M R , E u G R Z 1995, 16, Rn 59 - Observer). Ein Anspruch auf Informationserteilung durch den Staat soll aber nur Journalisten zustehen. Im Übrigen bleibe es bei dem Grundsatz, dass Art 10 EMRK ein Abwehr- und nicht ein Leistungsrecht gewährt. Dagegen verpflichtet Art 8 1 EMRK nach ständiger Rechtsprechung des EGMR den Staat nicht nur dazu, sich eines Eingriffs in das Privat- und Familienleben zu enthalten, sondern gebietet ihm auch positiv eine wirkungsvolle Respektierung des Privat- und Familienlebens. Da der E G M R annimmt, dass schwerwiegende Umweltverschmutzungen das Privat- und Familienleben beeinträchtigen, habe der Staat die Bf über die Risiken informieren müssen, die sie und ihre Familien dadurch eingingen, dass sie in einer im Falle eines Unfalls den Gefahren der Chemiefabrik in besonderer Weise ausgesetzten Ortschaft wohnen blieben. Der Hinweis auf die noch laufenden Untersuchungen verfange nicht, weil den Bf ein weiteres Zuwarten nicht zumutbar gewesen sei. Somit habe der Staat durch das Vorenthalten von Umweltinformationen die Garantie des Art 8 I EMR K verletzt.

51 Vgl Oppermann

E R R n 113.

52 Oppermann E R R n 113; Grahemmrter V V D S t R L 60 (2001). 290, 312. 53 Z B w e r d e n b c a m t c n r c c h t l i c h e Streitigkeiten teilweise e r f a s s t . E G M R , A p p l i c a t i o n N r 28541/95 Pcllegrin. N ä h e r hierzu sowie zu d e m F e h l e n a b s t r a k t e r D e f i n i t i o n e n Ehlers D i e E u r o p ä i s i e r u n g des V e r w a l t u n g s p r o z e ß r e c h t s , 1999. S 89 ff; § 6 R n 32 IT. 54 Vgl a u c h Peukert in: F r o w e i n / P e u k e r t A r t 6 E M R K R n 3. 55 Vgl E G M R , N J W 1997, 2 8 0 9 IT P r o b s t m e i e r : E u G R Z 1997. 3 1 0 f f a u c h Ehlers (Fn 53) S 108 f.

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P a m m c l . Vgl d a z u a b e r

Allgemeine Lehren

§ 2 III

III. Berechtigte der Konventionsrechte Fall 2: ( E G M R , N J W 1999, 3107ff Dentse M a t t h e w s = Ehlers J K 99, E M R K . Art 3 1. ZV/2) D i e Bf ist britische Staatsbürgerin mit Wohnsitz in G i b r a l t a r . Sie b e a n t r a g t e ihre Registrier u n g als Wählerin f ü r die Wahlen zum E u r o p ä i s c h e n P a r l a m e n t . U n t e r Hinweis auf den A n h a n g II des Beschlusses u n d des A k t e s zur E i n f ü h r u n g allgemeiner und u n m i t t e l b a r e r Wahlen der A b g e o r d n e t e n des E u r o p ä i s c h e n P a r l a m e n t s vom 20.9.1976 (Sartorius 11 N r 262) w u r d e dieser A n t r a g abgelehnt. N a c h A n h a n g II wird das Vereinigte Königreich die Vorschriften des W a h l a k t e s nur auf d a s Vereinigte Königreich a n w e n d e n . G i b r a l t a r ist ein v o m Vereinigten Königreich abhängiges Territorium, stellt j e d o c h selbst keinen Teil des Vereinigten Königreiches dar. D e r E G - V e r t r a g findet g e m ä ß Art 299 I V E G V auf G i b r a l t a r A n w e n d u n g . I m Beitrittsvertrag von 1972 ist j e d o c h festgelegt, d a s s nicht alle Bestimmungen des E G - V e r t r a g e s in G i b r a l t a r gelten. I n s b e s o n d e r e ist G i b r a l t a r nicht Teil der Zollunion und gilt als Drittstaat im Sinne der g e m e i n s a m e n Handelspolitik. O b w o h l G i b r a l t a r nicht Teil des Vereinigten Königreichs ist, gelten die d o r t lebenden britischen Bürger als S t a a t s a n g e h ö r i g e im Sinne des EG-Vertrages. Die Bf rügt m i t einer gegen das Vereinigte Königreich gerichteten Individualbeschwerde die Verletzung des Art 3 1 . Z P E M R K . Die Vorschrift garantiert, freie und geheime Wahlen u n t e r Bedingungen abzuhalten, welche die freie Ä u ß e r u n g der M e i n u n g des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden K ö r p e r s c h a f t e n gewährleisten.

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W i e sich a u s A r t 1 E M R K e r g i b t , w e r d e n d u r c h d i e E M R K ( e i n s c h l i e ß l i c h d e r Z u s a t z p r o t o k o l l e ) grundsätzlich alle d e r H o h e i t s g e w a l t d e r V e r t r a g s s t a a t e n u n t e r s t e h e n d e n „Personen" g e s c h ü t z t . A u f d i e S t a a t s a n g e h ö r i g k e i t k o m m t es a n d e r s als n a c h d e n d e u t s c h e n G r u n d r e c h t e n (die z w i s c h e n J e d e r m a n n s - u n d D e u t s c h e n r e c h t e n u n t e r s c h e i d e n ) p r i n z i p i ell n i c h t an. 5 '' A u s d e m S c h u t z g e h a l t d e r V e r b ü r g u n g k a n n sich a l l e r d i n g s e r g e b e n , d a s s d i e s e n u r f ü r b e s t i m m t e P e r s o n e n v o n B e d e u t u n g ist u n d d a h e r a u c h n u r d i e s e n P e r s o n e n z u k o m m e n k a n n . Z B s t e h t d a s R e c h t a u f E h e s c h l i e ß u n g allein „ M ä n n e r n u n d F r a u e n im h e i r a t s f ä h i g e n A l t e r " ( A r t 12 E M R K ) , d a s R e c h t a u f E i n r e i s e allein d e n e i g e n e n S t a a t s a n g e h ö r i g e n ( A r t 3 II 4 . Z P E M R K ) u n d b e s t i m m t e V e r f a h r e n s r e c h t e in B e z u g a u f d i e A u s w e i s u n g allein a u s l ä n d i s c h e n P e r s o n e n ( A r t 1 7 . Z P E M R K ) z u . " W a s d i e E M R K u n t e r P e r s o n e n v e r s t e h t , lässt sich a u s d e r d a s R e c h t d e r I n d i v i d u a l b e s c h w e r d e g a r a n t i e r e n d e n B e s t i m m u n g d e s A r t 34 h e r l e i t e n . D a n a c h sind n a t ü r l i c h e P e r s o n e n , n i c h t s t a a t l i c h e Organisationen oder Personenvereinigungen gemeint.

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S o w e i t d a s R e c h t a u f L e b e n in R e d e s t e h t , d ü r f t e z u d e n n a t ü r l i c h e n P e r s o n e n a u c h der N a s c i t u r u s gehören (wobei das Recht auf Leben nicht jeglicher A b t r e i b u n g entgegensteht 5 x ). A u f d a s A l t e r o d e r d i e G e s c h ä f t s f ä h i g k e i t d e r n a t ü r l i c h e n P e r s o n e n k o m m t es

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56 Fromm in: Frowein/Peukert Art I E M R K Rn 3. 57 Das in Art 3 E M R K niedergelegte Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung und das in Art 8 E M R K garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens vermitteln Ansprüche, die dazu führen können, dass ein Ausländer nicht des Landes verwiesen werden darf. So kann aus Art 3 E M R K folgen, dass ein Ausländer nicht ausgeliefert werden darf, wenn dieser im Verfolgerstaat einer Strafe oder Behandlung ausgesetzt zu sein droht, die mit Art 3 E M R K nicht vereinbar ist. Vgl Grubenmirler V V D S t R L 60 (2001), 290, 314: § 3 Rn 43. 58 So die Tendenz der (früheren) Europäischen Kommission für Menschenrechte. Vgl die Nachw bei Pcukert in: Frowein/Peukert Art 25 E M R K Rn 12.

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§2 III

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Dirk Ehlers

nicht an. Kollidiert der Konventionsschutz der Minderjährigen mit dem ebenfalls geschützten Erziehungsrecht der Eltern (Art 2 S 2 1. ZP EMRK), muss der Staat eine verhältnismäßige Zuordnung vornehmen. Grundsätzlich kann auch ein Minderjähriger oder sogar ein Geschäftsunfähiger ein Konventionsrecht prozessual selbst geltend machen (vgl Rn 45). IdR dürfte in solchen Fällen aber eine anwaltliche Vertretung angeordnet werden (vgl Art 36 II der vom EGMR erlassenen, ab 1.11.1998 geltenden Verfahrensordnung).59 Auch ein postmortaler Konventionsschutz ist denkbar, wie sich daraus ergibt, dass die Erben bei berechtigtem Interesse das Verfahren des verstorbenen Beschwerdeführers vor dem EGMR fortführen dürfen.60 Zu den geschützten Organisationen und Personengruppen gehören Stiftungen und Personenvereinigungen jeglicher Art, sofern sie nichtstaatlicher Provenienz sind. Unerheblich ist, ob die Zusammenschlüsse mit Rechtsfähigkeit ausgestattet sind, nach welchem Recht sie organisiert wurden und wo sie ihren Sitz haben.61 Demgemäß können sich insbesondere die juristischen Personen des Privatrechts auf die EMRK berufen. Allerdings schützen viele Konventionsrechte nur Freiheitssphären, die ihrem Inhalt nach allein auf natürliche Personen anwendbar sind (zB das Recht auf Leben, der Schutz vor Folter, das Recht auf persönliche Freiheit oder das Recht auf Achtung des Familienlebens). Dagegen hat der EGMR 62 im Gegensatz zum EuGH 63 zB das Recht auf Achtung der Wohnung (Art 8 I EMRK) so ausgelegt, dass auch Geschäftsräume geschützt werden (—» § 3 Rn 13). Daher können auch Personenvereinigungen Träger dieses Grundrechts sein. Die Rechte der nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen sind von denen ihrer Mitglieder zu unterscheiden. Dementsprechend sind die Organisationen oder Personengruppen nicht befugt, Rechte ihrer Mitglieder geltend zu machen.64 Auch nach ihrer Auflösung können Organisationen oder Personengruppen sich unter bestimmten Voraussetzungen noch auf die Konventionsrechte berufen (insbesondere wenn die Auflösung Folge der behaupteten Verletzung ist).65 Keinen Schutz genießen staatliche Organisationen oder Personengruppen. Der Staat ist Verpflichteter, nicht Berechtigter der Konventionsrechte. Dies gilt auch dann, wenn er sich privatrechtlicher Organisations- oder Handlungsformen bedient (also zB „fiskalisch" tätig wird).66 Deshalb wird zB nicht das Eigentum von Gemeinden durch Art 1 l . Z P EMRK geschützt.67 Andererseits geht es zu weit, juristischen Personen des öffentlichen 59 Die VerfahrensO ist, soweit ersichtlich, in deutscher Übersetzung noch nicht veröffentlicht worden. Zum englischen Text vgl http://www.echr.coe.int/eng/basictexts.htm. Vgl auch das Merkblatt des EGMR, NJW 1999, 1166. 60 Vgl Peukert in: Frowein/Peukert Art 25 EMRK Rn 13. 61 Vgl auch Partsch in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg) Die Grundrechte, Bd 1/1, 1966, S 235, 295; Gornig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988, S 284. 62 EGMR, EuGRZ 1993, 65, Rn 29 ff - Niemietz = Kunig JK 93, EMRK, Art 8/1. 63 EuGH, Slg 1989, 2919, Rn 18 - Hoechst = Kunig JK 90, EWGV, Art 173/2. 64 Vgl die Nachw bei Rogge in: Karl (Fn 41) Stand 1986, Art 25 Rn 140; dens EuGRZ 1996, 341, 343; Peukert in: Frowein/Peukert Art 25 EMRK Rn 16. 65 Vgl die Nachw bei Peukert in: Frowein/Peukert Art 25 EMRK Rn 17. 66 Peukert in: Frowein/Peukert Art 25 EMRK Rn 16. 67 AA Tettinger FS Börner, 1992, S 625, 633 ff, wonach sich alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts auf das Eigentumsrecht berufen können, weil nach Art 1 I 1. ZP EMRK „jede natürliche oder juristische Person" das Recht auf Achtung ihres Eigentums hat. Vgl auch Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1988, Bd III/l, S 1103. Die von Tettinger zitierte Rspr des EGMR betraf juristische Personen des Privatrechts und gerade nicht des öffentlichen Rechts.

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Allgemeine Lehren

§ 2 IV 1

Rechts generell die Konventionsrechtsfähigkeit abzusprechen. 68 So sind die korporierten Religionsgemeinschaften als nichtstaatliche Organisationen bzw Personengruppen anzusehen, da es sich um gesellschaftliche Einrichtungen handelt (es sei denn, dass sie als Staatskirchen organisiert sind).69 Im Übrigen ist festzustellen, dass noch viele Fragen ungeklärt sind. Wie im deutschen Recht dürften sich auch diejenigen staatlichen Rechtsträger, die „unmittelbar dem durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich zuzuordnen" sind (Beispiel: Meinungsäußerung staatlicher Universitäten in Wahrnehmung ihres wissenschaftlichen Auftrags), 70 sowie die Privatrechtssubjekte mit staatlichen und privaten Anteilseignern (etwa gemischt wirtschaftliche Unternehmen) 71 auf die Gewährleistungen berufen können. Beliehenen muss eine Berufung auf die Konventionsrechte dagegen versagt bleiben, da sie als Träger von Staatsgewalt anzusehen sind, wenn und soweit sie Hoheitsrechte ausüben. IV. Verpflichtete der Konventionsrechte 1. Konventionsstaaten

des Europarates

Wenn die E M R K gemäß Art 1 die der Hoheitsgewalt einer Vertragspartei unterliegenden Personen berechtigt, folgt daraus als Umkehrschluss, dass die Vertragsparteien durch die Konventionsrechte verpflichtet werden. Unter Vertragsparteien sind alle Staaten des Europarates zu verstehen, welche die E M R K ratifiziert haben (Art 59 EMRK) - Konventionsstaaten. Die Bindung bezieht sich auf alle Staatsgewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) und alle Träger von Staatsgewalt (zB auch auf die Bundesländer und kommunalen Gebietskörperschaften). Zu den Trägern von Staatsgewalt sind ebenso wie im deutschen Recht72 auch die Beliehenen und alle Privatrechtssubjekte zu zählen, hinter denen unmittelbar oder mittelbar allein der Staat steht (Eigengesellschaften). Dagegen müssen die gemischt zusammengesetzten Privatrechtsvereinigungen und die korporierten Religionsgemeinschaften, soweit es sich nicht um Staatskirchen handelt, der Sphäre der Privaten zugeordnet werden. Der Staat ist für jede Konventionsverletzung verantwortlich, auch wenn er keine Möglichkeit der Einflussnahme hatte (wie auf die Jurisdiktion der unabhängigen Gerichte) oder Amtsträger weisungswidrig gehandelt haben 73 . Neben positiven Handlungen können auch Duldungen oder Unterlassungen des Staates (zB Verweigerung der Unterstützung durch einen Dolmetscher im Falle des Art 6 III lit e EMRK) eine Verletzung der Konvention herbeiführen. 74 Nicht verantwortlich ist ein Staat für die Ausübung hoheitlicher Gewalt auf seinem Territorium, wenn die Gewalt nicht von ihm selbst, sondern von einem anderen Staat ausgeübt wird. In einem solchen Fall trifft die Verantwortlichkeit nur den anderen Staat,

68 69 70 71 72 73 74

Vgl demgegenüber aber Oppermann ER Rn 85. Vgl Ehlers in: Sachs (Fn 22) Art 140 GG/137 WRV Rn 19. Vgl BVerfGE 31, 314, 322; 39, 302, 314. Vgl zum deutschen Recht Schmidt-Aßmann FS Niederländer, 1991, S 383 ff. Vgl Ehlers in: Erichsen/Ehlers (Hrsg) Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl 2002, § 1 Rn 4. EGMR, EuGRZ 1979, 149, Rn 150 ff- Irland. Vgl auch die Rechtsprechungsbeispiele bei Frowein in: Frowein/Peukert Art 1 EMRK Rn 11 (Pflicht des Staates zum Einschreiten bei Untätigbleiben eines Pflichtverteidigers bzw der Durchsetzung des Rechts auf Trennung von Tisch und Bett).

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§2 IV 2

Dirk Ehlers

sofern es sich um einen Konventionsstaat handelt. 75 Eine solche Lage kann sich insbesondere bei einem transnationalen Verwaltungshandeln auf völkerrechtlicher oder gemeinschaftsrechtlicher Grundlage ergeben. So darf die Polizei beispielsweise nach dem Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen76 unter bestimmten Voraussetzungen grenzüberschreitend tätig werden.77 Auch nach Maßgabe der E M R K ist dann nur der Staat verantwortlich, der die Grenze überschritten hat, und nicht derjenige, auf dessen Territorium gehandelt worden ist. 2. Internationale und supranationale

Organisationen

a) Direkte Bindung 21

22

Da die E M K R auf der Grundlage der Satzung des Europarates erlassen worden ist, sind auch die Organe des Europarates selbst an die Konvention und ihre Zusatzprotokolle gebunden (solange sie nicht durch spätere Abkommen überlagert oder außer Kraft gesetzt werden).78 Da dem Europarat keine Herrschaftsbefugnisse übertragen wurden, kommt dieser Bindung allerdings keine große Bedeutung zu. Immerhin dürfte der Europarat dazu verpflichtet sein, nur solche Mitglieder aufzunehmen, die im Prinzip (dh vorbehaltlich der Anbringung von Vorbehalten79) die in der E M R K positivierten Menschenrechte anerkennen.80 Weitaus wichtiger ist die Frage, ob sonstige internationale oder supranationale Organisationen, die im räumlichen Geltungsbereich der Konvention Hoheitsrechte ausüben, an die E M R K gebunden sind. Eine direkte konventionsrechtliche Verantwortung scheidet aus, da der Beitritt zur E M R K gemäß Art 59 I nur den Mitgliedern des Europarates und somit nur Staaten (Art 4 und 5 der Satzung des Europarates) gestattet ist.81 Ein (vielfach erwogener) Beitritt der Europäischen Gemeinschaft scheitert zudem auch am Gemeinschaftsrecht, da der Europäischen Gemeinschaft derzeit die Zuständigkeit für den Beitritt zu einer dem Menschenrechtsschutz verpflichteten internationalen Organisation fehlt.82 Soweit das europäische Gemeinschaftsrecht auf die E M R K verweist, wirkt diese nur als Rechtserkenntnisquelle, nicht als Rechtsquelle (vgl Rn 1 fF; —> § 13 Rn 8). b) Indirekte Bindung

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Sind die internationalen oder supranationalen Organisationen auch nicht Verpflichtungsadressaten der Konventionsrechte, ändert dies nichts daran, dass die Konventionsstaaten auch dann an die E M R K gebunden bleiben, wenn sie Hoheitsrechte auf eine internationale oder supranationale Organisation übertragen haben. Dies beschwört eine Kollision zwischen dem internationalen bzw supranationalen Recht einerseits und dem (auch innerstaatlich geltenden) Recht der EMRK andererseits herauf. Um dieser Kollision zu ent-

75 76 77 78 79 80

Vgl Partsch (Fn 61) S 299. BGBl II 1993, 1013. Vgl Ehlers (Fn 53) S 8 ff. Vgl auch Partsch (Fn 61) S 299 f. Vgl Art 57 EMRK. Dies ergibt sich ungeachtet der Notwendigkeit einer Ratifikation (Art 59 EMRK) aus Art 3 der Satzung des Europarates. 81 Vgl dazu zuletzt EGMR, NJW 1999, 3107 ff - Matthews = Ehlers JK 99, EMRK, Art 3 1. ZP/2. 82 EuGH, Slg 1996,1-1759 ff - Gutachten 2/94.

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Allgemeine Lehren

§2 IV 2

gehen, hat die - inzwischen aufgelöste83 - Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) eine an die Solange //-Entscheidung des BVerfG84 angelehnte Auffassung vertreten. Danach soll eine Beschwerde auf der Grundlage der EMRK unzulässig sein, wenn im Recht der internationalen bzw supranationalen Organisationen ein vergleichbarer Grundrechtsschutz angelegt ist.85 Dies treffe namentlich auf das europäische Gemeinschaftsrecht zu. Damit hat die EKMR eine Verantwortung der Konventionsstaaten für EG-Akte praktisch verneint.86 Der EGMR hat sich dieser Ansicht aber nicht angeschlossen. Bereits in seiner Entscheidung vom 15.11.1996 hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein Konventionsstaat nicht allein deswegen von seiner konventionsrechtlichen Verantwortlichkeit für einen innerstaatlichen Rechtsakt befreit ist, weil dieser lediglich zwingende Vorgaben des europäischen Gemeinschaftsrechts umsetzt.87 In neueren Entscheidungen hat der EGMR seinen Standpunkt verdeutlicht. Zwar schließe die EMRK die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale oder supranationale Organisationen nicht aus. Dies ändere aber nichts an der Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Einhaltung der Konventionsrechte. Die Verantwortlichkeit bleibe auch im Verhältnis zum europäischen Gemeinschaftsrecht bestehen. Da die von der EMRK garantierten Rechte nicht „theoretical or illusory", sondern „practical and effective" gelten sollten und da die Wirkungen des Gemeinschaftsrechts denjenigen des innerstaatlichen Rechts entsprächen, müsse ein Mitgliedstaat die Konventionsrechte auch gegenüber Gemeinschaftsakten in vollem Umfange sichern.88 Damit geht der EGMR erheblich über die So/ange-Rechtsprechung des BVerfG hinaus.89 Während das BVerfG eine Überprüfungskompetenz für das europäische Gemeinschaftsrecht am Maßstab des nationalen Verfassungsrechts nur daraufhin in Anspruch nimmt, ob der unabdingbare Standard des Grundgesetzes gewahrt wurde, überprüft der EGMR, ob das europäische Gemeinschaftsrecht (oder sonstige internationale bzw supranationale Recht) die Konventionsrechte konkret und wirksam schützt (—> § 13 Rn 13). Andernfalls werden die Vertragsstaaten nach wie vor als verantwortlich angesehen. Indirekt überprüft der EGMR über die Verantwortung der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für die Wahrung der Rechte aus der EMRK damit auch die Akte der Europäischen Gemeinschaft.90 Für die Staaten, die sowohl Mitglied des Europarates als auch der Europäischen Gemeinschaft sind, kann dies zu erheblichen Problemen führen. Folgen sie dem (nach Ansicht des EGMR) konventionswidrigen europäischen Gemeinschaftsrecht, verletzen sie die EMRK. Lassen sie dagegen das Gemeinschaftsrecht unangewendet, missachten sie dessen Vorrang gegenüber dem nationalen Recht.91 Im Zweifelsfall ist den Gemeinschaftsgrundrechten (—> § 13) wegen der Bezugnahme auf die EMRK (Art 6 II EUV), der Unberührtheitsklausel des Art 307 I

83 Vgl Rn 40 ff. 84 BVerfGE 73, 339, 375 f. 85 Vgl namentlich EKMR, ZaöRV 50 (1990), 865, 867 - M. & Co. Näher dazu Giegerich ZaöRV 1990,836 ff. 86 Zutreffend Lenz EuZW 1999, 311 ff. 87 EGMR, Recueil des arrêts et décisions 1996-V, 1614, Rn 30 - Cantoni. 88 Vgl EGMR, NJW 1999, 1173 ff - Waite = Ehlers JK 99, EMRK, Art 6/2; NJW 1999, 3107 ff Matthews = Ehlers JK 99, EMRK, Art 3 1. ZP/2. Näher dazu Rn 21. 89 Vgl neben der og Entscheidung insbesondere noch BVerfGE 37, 271, 279; 89, 155, 174 f. 90 Zutreffend Lenz EuZW 1999, 311,313. 91 Vgl zu diesem Vorrang EuGH, Slg 1964, 1251, 1270 f - Costa.

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§2 V

Dirk Ehlers

EGV für völkerrechtliche Verpflichtungen vor Beitritt zur Gemeinschaft und dem Gebot einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts92 ein Inhalt beizulegen, der mit den in der EMRK eingegangenen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten vereinbar ist.93 Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass sich der EGMR die Letztentscheidungskompetenz über die Konventionsmäßigkeit jeglicher Form von Ausübung hoheitlicher Gewalt in Europa vorbehält. Seiner Rspr liegt möglicherweise die Befürchtung zugrunde, dass der Grundrechtsschutz auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH und das Gericht erster Instanz „mehr theoretisch als effektiv" gewährleistet wird.94 3. 25

Privatpersonen

Entgegen einer mitunter vertretenen Ansicht95 entfalten die Konventionsrechte keine unmittelbare Wirkung gegenüber Privatpersonen. Dies folgt bereits aus Art 1 EMRK und wird durch die Bestimmungen der Art 33 und 34 EMRK bestätigt, weil diese nur Beschwerden gegen die Konventionsstaaten, nicht aber gegen Individuen vorsehen. Allerdings wirken nicht wenige Konventionsrechte - wie etwa das Verbot der Leibeigenschaft (Art 4 I EMRK) sowie das Recht auf Eheschließung (Art 12 EMRK) oder die Gleichberechtigung der Ehegatten (Art 5 7. ZP EMRK) - auch und gerade auf das Privatrecht ein. Ferner ist bereits ausgeführt worden,96 dass sich aus den Konventionsrechten Ansprüche auf Gewährung staatlichen Schutzes vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter entnehmen lassen. In erster Linie ist der Staat verpflichtet, Gesetze zu erlassen, die ein konventionswidriges Verhalten Dritter nicht zulassen.97 Jedenfalls in einem Fall ist der EGMR weiter gegangen und hat eine unmittelbare Verantwortung eines Konventionsstaates für eine körperliche Bestrafung durch den Direktor einer Privatschule angenommen, also nicht an ein staatliches, sondern privates Verhalten angeknüpft, dieses aber dem Staat zugerechnet.98

V. Räumlicher Geltungsbereich 26

Art 1 EMRK knüpft die Verpflichtung der Konventionsstaaten zur Beachtung der EMRK an die Ausübung von Hoheitsgewalt („jurisdiction" bzw „juridiction"). In der Regel übt ein Staat Hoheitsgewalt auf dem eigenen Territorium aus. Jedoch ist der räumliche Geltungsbereich der EMRK weiter. So unterstehen die diplomatischen und konsularischen Vertreter, die Streitkräfte oder die staatlichen Schiffe und Flugzeuge auch außer-

92 93 94 95

Schwalenbach in: Calliess/Ruffert Art 307 EGV Rn 15. Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 331 f. Lenz EuZW 1999, 311,312. Vgl auch Nettesheim EuZW 1995, 105 ff. B G H Z 27, 284, 285 f; Nipperdey in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg) Handbuch der Grundrechte, Bd II, 1954, S 21 Fn 44. Ebenso wie im deutschen Recht (vgl PierothlSchlink Grundrechte, Staatsrecht II, 17. Aufl 2001, Rn 177 fï) lässt sich eine „unmittelbare Drittwirkung" auch nicht daraus herleiten, dass die staatlichen Gerichte im Streitfall zwischen privaten Rechtssubjekten zu entscheiden haben. 96 Vgl Rn 9 f. 97 Vgl E G M R , Série A, Vol 44, Rn 49 - Young. 98 E G M R , Série A, Vol 247-C, Rn 27 f - Costello-Roberts. Zwar fehlte in England ein Gesetz, welches die körperliche Bestrafung von Schülern verbot, so dass der E G M R auf die Schutzpflicht des Staates hätte abstellen können. Er hat dies aber nicht getan.

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Allgemeine Lehren

§ 2 VI

halb des eigenen Territoriums der Hoheitsgewalt des Staates. 1 " Z u d e m ermöglichen es die „Kolonialklausel" des Art 56 E M R K und die entsprechenden Bestimmungen der Zusatzartikel (Art 4 l . Z P E M R K , Art 5 4 . Z P E M R K , Art 5 6 . Z P E M R K , Art 6 7. Z P E M R K ) den Konventionsstaaten, die Konvention einschließlich ihrer Rechtsschutzmöglichkeiten auf Gebiete auszudehnen, für deren internationale Beziehungen sie verantwortlich sind (zB Niederländische Antillen, Falklandinseln usw).""1

VI. Zeitliche Geltung D a die Konvention keine rückwirkende Kraft hat, werden die Konventionsstaaten erst mit dem Beitritt zur Konvention und nur für die Dauer des Beitritts gebunden (sofern kein Vorbehalt gemacht wurde). Für M a ß n a h m e n der Bundesrepublik Deutschland, die vor dem 3.9.1953 erlassen worden sind (dh d e m Inkrafttreten der Konvention), besteht somit keine Konventionsbindung. Allerdings müssen sich vor Inkrafttreten der Konvention erlassene M a ß n a h m e n dann auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention hin überprüfen lassen, wenn sie fortdauernde Auswirkungen zeitigen. Lösung Fall 2: Die zulässige Individualbeschwerde ist begründet, wenn die Bf in einem durch die E M R K geschützten Recht verletzt ist. Als verletztes Recht kommt nur das durch Art 3 l . Z P E M R K garantierte Recht auf Teilnahme an freien Wahlen zu einer gesetzgebenden Körperschaft in Betracht. Die Verletzung setzt voraus, dass der Schutzbereich des genannten Rechts betroffen ist, sich die Betroffenheit als Beeinträchtigung darstellt und einer Rechtfertigung entbehrt (vgl Rn 29 ff), Der Schutzbereich kann nur beeinträchtigt sein, wenn die Bf zum Kreis der Berechtigten gehört, das Vereinigte Königreich Verpflichtungsadressat des Konventionsrechts ist und der räumliche Geltungsbereich der E M R K bzw des 1. Z P E M R K betroffen ist. Ferner müssen die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift gegeben sein. D a Art 3 1. Z P E M R K das Wahlrecht grundsätzlich allen (erwachsenen) Personen zuerkennt, die der Hoheitsgewalt der gesetzgebenden Körperschaft unterliegen, ist die Bf als Berechtigte des Konventionsrechts anzusehen. Eine Verantwortlichkeit des Vereinigten Königreichs f ü r die N i c h t d u r c h f ü h r u n g von Wahlen zum Europäischen Parlament in Gibraltar könnte hier daran scheitern, dass der zum europäischen Gemeinschaftsrecht gehörende A n h a n g II des Wahlaktes eine Wahl in Gibraltar ausschließt. Da die EG nicht Mitglied des Europarats ist, unterliegen Gemeinschaftsakte nicht der Kontrolle durch den E G M R . Die Konventionsstaaten können sich durch die Ü b e r t r a g u n g von Hoheitsrechten auf internationale oder supranationale Gemeinschaften aber nicht der Verantwortung entziehen. Sie sind daher auch nach Übertragung f ü r die Einhaltung des Konventionsschutzes verantwortlich. Somit wird das Vereinigte Königreich nach wie vor durch Art 3 l . Z P E M R K verpflichtet. Mittels der Abgabe von Erklärungen iSd Art 56 E M R K . Art 4 l . Z P E M R K hat das Vereinigte Königreich den räumlichen Geltungsbereich der E M R K und des I. Z P auch auf Gibraltar erstreckt. Schließlich ist das Europäische Parlament als gesetz-

99 Vgl zu d e n S t r e i t k r ä f t e n E G M R . Série A, Vol 240, R n 91 D r o z d = Kiinig J K 93, E M R K . , A r t 1/1; Série A . Vol 310. R n 64 L o u i z i d o u ; vgl a u c h E K M R , E u G R Z 1976. 33. R n 7 IT Z y p e r n . Siehe d a z u a u c h Rumpf E u G R Z 1992, 4 5 7 fT. 100 A n d e r e r s e i t s ist d a s I n d i v i d u a l b e s c h w e r d e r e c h t im H i n b l i c k a u f f ü r d a s H o h e i t s g e b i e t d e r Isle of M a n zeitweilig nicht a n e r k a n n t w o r d e n . Vgl n ä h e r d a z u Pcukcrl in: F r o w e i n / P e u k e r t A r t 63 E M R K Rn 4 f

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27

28

§ 2 VII 2

Dirk Ehlers

gebende Körperschaft anzusehen, da es sieh nicht notwendigerweise um ein nationales Parlament handeln rauss und das Europäische Parlament „the principle form of demoeratic. political accountability in the Community'" repräsentiert. Allerdings wird das Recht auf freie Wahlen nicht absolut gewährleistet, sondern ist Beschränkungen (bzw Ausgestaltungen) unterworfen. Diese dürfen das Wahlrecht aber nicht in seinem Wesensgehalt antasten. Da hier den Bürgern von Gibraltar jede Einflussmöglichkeit auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments genommen wird, ist der Wesensgehalt des Rechts auf freie Wahlen verletzt. Daher hatte die Individualbeschwerde der Bf Erfolg.

VII. Gewährleistungen und Beschränkungen der Konventionsrechte 1. Stufen 29

der

Konventionsrechtsprüfung

In D e u t s c h l a n d wird eine G r u n d r e c h t s p r ü f u n g üblicherweise in drei Stufen vorgenommen, indem zwischen Schutzbereich, Eingriff u n d Rechtfertigung unterschieden wird."" Dieser P r ü f u n g s a u f b a u ist f ü r die A b w e h r f u n k t i o n e n der Freiheitsrechte entwickelt worden u n d auch d o r t nicht selbstverständlich. So besteht die Tendenz zur A n n a h m e quasi unbegrenzter natürlicher Freiheiten (im Gegensatz zu rechtlich gewährten u n d d a m i t o f t m a l s von vornherein begrenzten, gleichzeitig aber auf reale E n t f a l t u n g angelegten Freiheiten). Ferner ist zweifelhaft, o b sich die Ausgestaltung der rechts- bzw n o r m g e p r ä g t e n G r u n d r e c h t e (wie etwa die Vereinigungsfreiheit oder d a s E i g e n t u m s g r u n d r e c h t ) auf diese Weise in den Griff b e k o m m e n lassen. D e n n o c h wird das P r ü f u n g s s c h e m a mit gewissen Modifikationen" 1 2 zumeist auch bei den anderen G r u n d r e c h t s a r t e n (also den Gleichheits-, Leistungs-, staatlich-bürgerlichen u n d Verfahrensrechten) z u g r u n d e gelegt. F ü r die Ü b e r p r ü f u n g von E M R K - V e r l e t z u n g e n fehlt es bisher an einem ausgefeilten Raster. O b w o h l der deutsche P r ü f u n g s a u f b a u a n g r e i f b a r ist, t a u c h e n die behandelten Fragestellungen auch auf der E M R K - E b e n e auf. D a h e r scheint es angängig, den deutschen P r ü f u n g s ansatz auch insoweit z u g r u n d e zu legen. Zusätzlich ist die A n w e n d b a r k e i t der Konvention gesondert zu p r ü f e n . E b e n s o ist es aber auch vertretbar, nach Feststellung der A n w e n d barkeit der Konvention nur zweistufig vorzugehen, d h zunächst d a n a c h zu fragen, o b der Gewährleistungsgehalt der Konventionsrechte beeinträchtigt wurde, u n d s o d a n n zu p r ü fen, o b die Beeinträchtigung rechtmäßig ist. O h n e h i n d a r f ein P r ü f u n g s s c h e m a nicht schematisch angewendet werden. G e h t es zB nur u m die Frage, o b gegen das Diskriminierungsverbot des A r t 14 E M R K verstoßen worden ist, reicht es aus zu p r ü f e n , o b eine U n g l e i c h b e h a n d l u n g vorliegt u n d sich diese rechtfertigen lässt. 2. Die Anwendbarkeit

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der

Konvention

A n d e r s als im deutschen Recht muss z u n ä c h s t festgestellt werden, dass die in Rede stehenden Bestimmungen der E M R K bzw der Zusatzprotokolle ü b e r h a u p t a n w e n d b a r sind. Insbesondere ist zu beachten, dass g e m ä ß Art 57 EMRK jeder Staat die Befugnis hat, bei U n t e r z e i c h n u n g der Konvention (bzw Zusatzprotokolle) oder bei Hinterlegung der Ratifi-

101 Vgl etwa Starck in: v Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg) Das Bonner Grundgesetz, 4. Aufl 1999, Bd 1, Art 1 Rn 228(T; Dreier in: Dreier (Hrsg) Grundgesetz, 1996, Bd 1, Vorbcm Rn 78IT; Jaruss in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 6. Aufl 2002, Vorb vor Art 1 Rn 16 ff; PiemthlSchlmk (Fn 95) Rn 195 ff. 102 Vgl Jaruss in: Jarass/Pieroth (Fn 101) Vorb vor Art 1 Rn 25 IT.

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Allgemeine Lehren

§2 VII4

kationsurkunde durch einseitige Erklärungen (iSd Art 2 I lit d des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge103) Vorbehalte anzumelden. Diese schließen die Rechtswirkung einzelner Vertragsbestimmungen in der Anwendung auf den Staat aus. Eine Konventionsbindung tritt somit nicht ein. Unzulässig sind Vorbehalte zum 6. ZP EMRK (Art 4), durch das die Todesstrafe (grundsätzlich) abgeschafft worden ist. Im Übrigen müssen sich die Vorbehalte auf bestimmte Vorschriften beziehen, die mit den nationalen Gesetzen kollidieren. Vorbehalte allgemeiner Art (dh Erklärungen, die nicht auf bestimmte Regelungen abzielen oder unklar formuliert wurden104) sind unzulässig (Art 57 I 2 EMRK). Der Vorbehalt muss mit einer kurzen Darstellung des betreffenden Gesetzes verbunden sein (Art 57 II EMRK). Die Gültigkeit der (leider zahlreichen105) Vorbehalte unterliegt der Überprüfung durch den EGMR.106 Aufgrund einer mittlerweile restriktiven Auslegung der Voraussetzungen des Art 57 EMRK für die Erklärung von Vorbehalten zu einzelnen Bestimmungen der EMRK erweisen sich viele von Mitgliedstaaten abgegebene Vorbehalte jedoch als ungültig oder in ihrer Wirkung als eingeschränkt.107 3. Schutzbereich, Gewährleistungsgehalt der Konventionsrechte Unter dem Schutzbereich der Konventionsrechte lässt sich der geschützte Wirklichkeitsausschnitt (zB Äußerung einer Meinung im Falle des Art 10 EMRK), unter dem Gewährleistungsgehalt die rechtliche Garantie selbst verstehen (zB Recht auf freie Meinungsäußerung).108 Ebenso wie im deutschen Recht109 wird auch die so genannte negative Freiheit geschützt (also zB die Freiheit, keine Religion zu haben).110 Nicht anders als sonstige völkerrechtliche Verträge (vgl Art 31 I des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge) muss die EMRK im Lichte ihres Zieles und Zweckes ausgelegt werden. Wegen ihres multilateralen, auf dauerhafte Begrenzung der Staatsgewalt gerichteten Charakters ist ähnlich wie im europäischen Gemeinschaftsrecht eine dynamische (im Gegensatz zur statisch-historischen) Auslegung geboten, die dem Grundsatz der Effektivität (effet utile) verpflichtet ist. Dementsprechend betont die Rechtsprechung, dass die EMRK ein „living instrument" sei, und Rechte garantieren wolle, die nicht „theoretical or illusory", sondern „practical and effective" sind.111

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4. Eingriff, Beeinträchtigung Die Hoheitsrechte schützen in ihrem thematisch einschlägigen Bereich nicht vor Nachteilszufügungen jeglicher Art, sondern nur vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen bzw Beeinträchtigungen. Eine Beeinträchtigung ist nur gegeben, wenn ein ausreichend enger Zusammenhang zwischen der staatlichen Maßnahme und der Belastung für den

103 104 105 106 107 108 109 110 111

BGBl II 1985, 926. EGMR, EuGRZ 1989, 21, Rn 52 ff - Belilos. Vgl die Zusammenstellung bei Frowein in: Frowein/Peukert S 893 ff. EGMR, EuGRZ 1989, 21, Rn 50 - Belilos. Vgl zB EGMR, Série A 328-C - Grandinger. Siehe zu dieser Problematik auch Grabenwarter W D S t R L 60 (2001), 290,297 f; GrabenwarterlHoloubek ecolex 2001,490. Vgl zum Sprachgebrauch PierothlSchlink (Fn 95) Rn 203. Krit Hellermann Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, 1993. Vgl zur Religionsfreiheit Frowein in: Frowein/Peukert Art 9 EMRK Rn 2; vgl auch § 3 Rn 30 ff. Grundlegend EGMR, EuGRZ 1979, 162, Rn 31 - Tyrer; EuGRZ 1979, 626, Rn 24 - Airey.

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§2 VII4

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Dirk Ehlers

Berechtigten besteht." 2 Die EMRK spricht auch von Einschränkungen (zB Art 9 II, Art 11 II) oder Eingriffen (Art 8 II, Art 10 I). Eine systematische Eingrilfsdogmatik zur EMRK wurde bislang nicht entwickelt. Vielmehr ist das Vorgehen kasuistisch." 3 So stellt der EGMR vielfach nicht darauf ab, ob die Nachteilszufügung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich bzw mit oder ohne Befehl erfolgt ist. Im Einzelnen kann sich die Lage aber anders darstellen, zB weil ein Rechtsakt" 4 oder eine gewisse Intensität der Beeinträchtigung115 verlangt wird. Grundsätzlich herrscht die Tendenz vor, keine besonderen Anforderungen an den Eingriff bzw die Beeinträchtigung zu stellen,"6 um einen wirksamen Konventionsrechtsschutz zu gewährleisten. ZB soll auch die Mitwirkung an Fremdbeeinträchtigungen (Auslieferung einer Person an einen Staat, in dem der Person eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe droht) den Konventionsrechtsschutz auslösen." 7 Die Nichterfüllung positiver Handlungspflichten wird neuerdings einem Eingriff gleichgestellt."8 Vom Eingriff bzw von der Beeinträchtigung zu trennen sind andere Formen der Rechtsregulierung wie insbesondere die Ausgestaltung der Konventionsrechte durch den Gesetzgeber. Wenn Art 12 EMRK das Recht auf Eheschließung „nach den innerstaatlichen Gesetzen" garantiert, stellt der Erlass diesbezüglicher Gesetze keine Beschränkung dar, sondern ermöglicht erst die Konventionsrechtsausübung. Derartige Normprägungen kennzeichnen viele Konventionsrechte, auch wenn sie im Normtext nicht immer ausdrücklich anklingen (wie zB bei dem Recht auf Achtung des Eigentums und dem Recht auf freie Wahlen, Art 1, 3 l . Z P EMRK). Die Ausgestaltungen der Konventionsrechte mutieren zum Eingriff bzw zur Beeinträchtigung, wenn das Untermaßverbot missachtet oder in eine nach bisherigem Recht bestehende Position eingegriffen wird." 9

112 Vgl Jarass in: Jarass/Pieroth (Fn 101) Vorb vor Art 1 Rn 24. 113 Vgl Weber-Dürler VVDStRL 57 (1998), 57, 86. 114 Nach der Menschenrechtskommission sind medizinische Untersuchungen oder Impfungen nur dann als Eingriff in Art 8 EMRK anzusehen, wenn sie aufgrund einer obligatorischen Anordnung erfolgen (krit hierzu Wildhaberl Breitenmoser in: Karl, Fn 41, Stand 1992, Art 8 Rn 64). Prinzipiell ist anerkannt, dass auch Realakte (wie das Sammeln und Speichern personenbezogener Daten, vgl Frowein in: Frowein/Peukert Art 8 EMRK Rn 5) Eingriffscharakter haben können. 115 So kann von Folter iSd Art 3 EMRK nur gesprochen werden, wenn ein gewisses Minimum an Schwere erreicht wird (EGMR, EuGRZ 1979, 149, Rn 162 - Republik Irland). Auch sollen geringfügige staatliche Maßnahmen und Handlungen keine Eingriffe iSd Art 8 II EMRK darstellen (WildhaberlBreitenmoser in: Karl, Fn 41, Stand 1992, Art 8 Rn 61). Vgl auch EGMR, EuGRZ 1995, 530 ff - Gregoria, wonach nur schwere Umweltverschmutzungen und damit verbundene Emissionen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 I EMRK beeinträchtigen können. 116 Vgl Roth Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, 1994, S 58 ff. 117 Vgl Frowein in: Frowein/Peukert Art 3 EMRK Rn 18 ff. 118 Vgl EGMR, EuGRZ 1995, 530, Rn 54 ff - Gregoria. Krit zur früheren Rspr WildhaberlBreitenmoser in: Karl (Fn 41) Stand 1992, Art 8 Rn 13, 55 ff. 119 Vgl zu dem hier zugrunde gelegten Grundrechtsverständnis BVerfGE 57, 295, 320 ff; Ehlers VVDStRL 51 (1992), 211, 225; Bethge VVDStRL 57 (1998), 7, 29 f. Zum Untermaßverbot vgl BVerfGE 39, 1, 42 ff; Scherzberg Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität", 1989, S 208 ff; Ehlers VVDStRL 51 (1992), 211, 216 ff.

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Allgemeine Lehren

§ 2 VII 5

5. Rechtmäßigkeit des Eingriffs bzw der Beschränkung a) Beschränkbarkeit der Konventionsrechte Beeinträchtigt ein staatliches Tun, Dulden oder Unterlassen den Schutzbereich bzw den Gewährleistungsgehalt eines Konventionsrechts, folgt daraus noch keine Rechtsverletzung. Vielmehr kann die Maßnahme gerechtfertigt sein, weil der Staat das Konventionsrecht beschränken darf. Wie das Grundgesetz unterscheidet auch die E M R K zwischen vorbehaltlos gewährleisteten Rechten und solchen mit einem Schrankenvorbehalt. Vorbehaltlos gewährleistete Rechte stellen eine Ausnahme dar. In Deutschland dürfen derartige Rechte durch kollidierendes Verfassungsrecht begrenzt werden, wobei dieses teils als Schutzbereichsbegrenzung, im Wesentlichen aber als Grundrechtsschranke fungiert und dann einer konkretisierenden gesetzlichen Grundlage bedarf.120 Entsprechendes dürfte für die E M R K gelten,121 wobei sich das Problem wegen des eingeschränkteren Schutzes aber ganz selten stellen wird.122 So ist davon auszugehen, dass das Verbot der Folter oder Sklaverei (Art 3, Art 4 I EMRK) keinerlei Beschränkungen zugänglich ist (—» § 3 Rn 45). Verschiedentlich hat die Rechtsprechung aber immanente oder stillschweigende Grundrechtsschranken anerkannt, um Bagatellfälle auszuklammern 123 oder zB die Bedingungen des Wahlrechts zu regeln124. In Wahrheit handelt es sich hierbei zumeist nicht um Beschränkungen, sondern um die Auslegung von Tatbestandsmerkmalen oder um die Anerkennung eines staatlichen Gestaltungsauftrags. Im Übrigen dürfen die Konventionsrechte nur nach Maßgabe der vorgesehenen Schranken geschmälert werden. Zu unterscheiden ist zwischen allgemeinen und speziellen Schrankenregelungen.

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b) Allgemeine Schrankenregelungen Allgemeine Schrankenregelungen enthalten die Art 15-17 EMRK. Nach Art 15 E M R K dürfen die Konventionsrechte mit gewissen Ausnahmen (Abs 2) im Falle des Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstandes beschränkt werden, soweit die Maßnahmen unbedingt erforderlich sind und nicht im Widerspruch zu sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen. Hierbei wird den nationalen Organen ein Beurteilungsspielraum zugestanden. 125 Die Klausel hat in einer beachtlichen Anzahl von Fällen eine Rolle gespielt (Griechenland, Zypern, Türkei, Nordirland). 126 Art 16 E M R K erlaubt den Konventionsstaaten, die politische Tätigkeit von Ausländern ohne Rücksicht auf das Diskriminierungsverbot des Art 14 E M R K einzuschränken. Die (antiquierte) Vorschrift dürfte auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU nicht anwendbar sein.127 Art 17 E M R K

120 Vgl Sachs in: Sachs (Fn 22) Vor Art 1 Rn 120 ff. 121 Aus dem Umstand, dass die Abs 2 der Art 8—11 EMRK ausdrücklich eine Beschränkung „zum Schutz der Rechte (und Freiheiten) anderer" zulassen, wird man nicht den Gegenschluss ziehen können, dass kollidierende Konventionsrechte im Übrigen unbeachtlich sind. 122 Einschlägige Rspr hierzu gibt es, soweit ersichtlich, nicht. 123 Vgl hierzu Wildhaberl Breitenmoser in: Karl (Fn 41) Stand 1992, Art 8 Rn 579 f. 124 Vgl Rn 28. 125 EGMR, EuGRZ 1979, 149, Rn 207 - Irland. 126 Näher dazu Stein in: Maier (Hrsg) Europäischer Menschenrechtsschutz, Schranken und Wirkungen, 1982, S 135 ff. 127 Vgl EGMR, Série A, Vol 314, Rn 64 - Piermont; Frowein in: Frowein/Peukert Art 16 EMRK Rn 1; Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 333.

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§ 2 VII 5

Dirk Ehlers

lässt einerseits die Berufung von „Freiheitsfeinden" auf die Konventionsrechte nicht zu, verbietet andererseits aber auch dem Staat weitergehende Beschränkungen der Rechte und Freiheiten als in der Konvention vorgesehen. c) Spezielle Schrankenregelungen 36

Daneben gibt es spezielle Schrankenregelungen, die jeweils nur die Einschränkung desjenigen Konventionsrechts erlauben, für das sie formuliert sind. Auch diese speziellen Regelungen weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf. aa) Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung

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Die Beeinträchtigung nicht vorbehaltlos gewährleisteter Konventionsrechte ist idR nur durch oder aufgrund Gesetzes zulässig (vgl zB Art 5, 8 - 11 EMRK, Art 1 l .ZP EMRK, Art 2 4.ZP EMRK, Art 2 7.ZP EMRK). Welche Anforderungen an das Gesetz zu stellen sind, ist bislang unklar geblieben. Mit Rücksicht auf den Common-Law-Rechtskreis soll auch ungeschriebenes Recht ausreichen.128 Gleiches gilt für Gewohnheitsrecht.129 Jedenfalls muss das Gesetz aber ausreichend klar und bestimmt sein.130 bb) Verfolgung zulässiger Ziele

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Die Schrankenbestimmungen der EMRK enthalten eine Aufzählung von bestimmten Eingriffszwecken. ZB muss eine Einschränkung der Religionsfreiheit dem Schutz der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit oder Moral oder der Rechte und Freiheiten anderer dienen (Art 9 II EMRK). Wie Art 18 EMRK (nochmals) ausdrücklich klarstellt, dürfen die Rechte und Freiheiten nur zu den vorgesehenen Zwecken eingeschränkt werden. cc) Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung

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Viele Einschränkungsklauseln der Konvention enthalten die Formel, dass die betreffende Beschränkung für die verfolgten Ziele „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein muss.131 Nach und nach hat der EGMR herausgearbeitet, dass der Terminus Notwendigkeit nicht mit Erforderlichkeit, sondern mit Verhältnismäßigkeit gleichzusetzen ist.132 Die Verhältnismäßigkeit wird im Sinne des deutschen Rechts verstanden.133 Ebenso wie die deutschen Gerichte und seit längerem auch der EuGH 134 unterscheidet der EGMR zwischen Geeignetheit135, Erforderlichkeit136 und Angemessenheit137 (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). In der Anlehnung an diese zunächst in Deutschland entwickelten Vor-

128 129 130 131 132 133 134 135 136

EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 47 - Sunday Times. Vgl auch EKMR, EuGRZ 1977, 419, Rn 63 ff - Klass. Vgl EGMR, ÖJZ 1990, 564, Rn 30 - Kruslin. Vgl die Abs 2 der Art 8 - 11 EMRK. Vgl EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 48 - Handyside. Vgl Grabenwarter W D S t R L 60 (2001), 290, 308. Vgl Schwarze Europäisches Verwaltungsrecht, Bd 2, 1988, S 831 ff; Fache NVwZ 1999, 1033 ff. Vgl EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 70 - Groppera. EGMR, EuGRZ 1985, 170, Rn 52 ff - Barthold. Vgl auch EGMR, EuGRZ 1983, 488, Rn 58 Dudgeon. 137 Vgl EGMR, EuGRZ 1993, 552, Rn 46 - Moustaquim.

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Allgemeine Lehren

§ 2 VIII

Stellungen dürfte einer der wichtigsten Beiträge der jüngeren deutschen Rechtskultur f ü r die europäische Rechtsordnung liegen. Allerdings ist die Kontrolldichte eine andere als in Deutschland. Tendenziell liegt sie niedriger. Im Einzelfall können aber andere M a ß s t ä b e gelten. Die Verhältnismäßigkeit wirkt auch dann als Schranken-Schranke, wenn die E M R K und die Zusatzprotokolle nicht ausdrücklich auf die Notwendigkeit der Einschränkung verweisen.

VIII. Rechtsschutz Fall 3: (Nach EGMR. NJW 1999. 775 ff K-F = Ehlers IK 99. E M R K , Art 5 1/1) Der Bf (ein deutscher Staatsangehöriger) war von deutschen Polizeibeamten wegen des dringenden Tatverdachts eines Einmietbetrages und wegen Fluchtgefahr zur Identitätsfeststellung auf eine Polizeidienststelle verbracht und dort bis zum nächsten Morgen festgehalten worden. Die Zeitspanne betrug 12 Stunden und 45 Minuten. Das anschließende Ermittlungsverfahren stellte die Staatsanwaltschaft ein, weil dem Bf ein Mietbetrug nicht nachgewiesen werden konnte. Daraufhin erstattete der Bf Strafanzeige gegen die an den Geschehnissen beteiligten Polizeibeamten wegen Verdachts der Freiheitsberaubung, der versuchten Nötigung und der Beleidigung. Auch dieses Verfahren wurde eingestellt. In dem vom Bf angestrengten Klageerzwingungsverfahren stellte das OLG fest, dass die Einstellung gerechtfertigt sei. Das BVerfG nahm eine gegen diese Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Daraufhin erhob der Bf eine Beschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem EGMR. Ist die Beschwerde zulässig und begründet? Volle Wirkkraft können Grundrechte erst dann entfalten, wenn ihre Einhaltung von einer unabhängigen Gerichtsbarkeit durchgesetzt werden kann. Durch das am 1.11.1998 in K r a f t getretene 11. Zusatzprotokoll zur EMRK 1 1 8 ist der - zuvor sehr kompliziert und langwierig gestaltete - Menschenrechtsschutz grundlegend reformiert und vereinfacht worden."'' W ä h r e n d früher die Europäische Kommission für Menschenrechte, das Ministerkomitee und der E G M R zusammenwirken mussten, wird heute nur noch der E G M R als Kontrollinstanz tätig. Die Europäische Kommission für Menschenrechte wurde aufgelöst, das Ministerkomitee überwacht nur noch die D u r c h f ü h r u n g der Urteile des E G M R (Art 46 II E M R K ) . Der E G M R nimmt seine Aufgaben als „ständiger Gerichtshof wahr (Art 19 S 2 E M R K ) und verfügt über hauptamtlich tätige (Art 21 III E M R K ) , f ü r die Dauer von sechs Jahren von der parlamentarischen Versammlung (Art 22 E M R K ) gewählte und wieder wählbare (Art 23 E M R K ) Richter. Die Anzahl der Richter entspricht derjenigen der Konventionsstaaten (Art 20 E M R K ) . Der E G M R gliedert sich in drei Spruchkörper, nämlich in Ausschüsse mit drei Richtern, K a m m e r n mit sieben Richtern und eine große K a m m e r mit 17 Richtern (Art 27 I E M R K ) . D a s Plenum (Art 26 E M R K ) nimmt nur Verwaltungsaufgaben wahr. Die Organisation und das Verfahren im Einzelnen richten sich nach der vom E G M R erlassenen Verfahrensordnung von 1998.14,1 Die Gerichtsbarkeit ist f ü r alle Konventionsstaaten obligatorisch (also eines

138 BGBl II 1995, 578. 139 Vgl dazu Meyer-LadewiglPetzold NJW 1999, 1165 f; Schiene JZ 1999. 219 IT; Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg) VwGO. 1999. Einl Rn 145 fT; § 1 Rn 11. 140 Vgl die Nachw in Fn 59.

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§ 2 VIII 2

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Vorbehalts nicht zugänglich).141 Anders als im europäischen Gemeinschaftsrecht (Art 222 EGV) wird die Arbeit des Gerichtshofs nicht durch Generalanwälte unterstützt. 1. 42

Die E M R K sieht auch nach der Reform des Rechtsschutzes zwei Verfahrensarten vor, nämlich die Staatenbeschwerde (Art 33) und die Individualbeschwerde (Art 34). Die Staatenbeschwerde ermöglicht es jedem Konventionsstaat, den E G M R wegen jeder behaupteten Verletzung der Konvention und der Protokolle durch einen anderen Konventionsstaat anzurufen. Der beschwerdeführende Staat macht keine eigenen Rechte geltend und braucht auch kein irgendwie geartetes Interesse am Ausgang des Verfahrens deutlich zu machen. Die Zahl der Staatenbeschwerden ist gering, dennoch wird die Staatenbeschwerde als ein wirksames Mittel zur Sicherung eines Mindeststandards des Menschenrechtsschutzes in allen Konventionsstaaten angesehen.142 2.

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Staatenbeschwerde

Individualbeschwerde

Sehr viel bedeutsamer ist die Individualbeschwerde (Art 34 EMRK), die als ein der Verfassungsbeschwerde vergleichbarer außerordentlicher Rechtsbehelf anzusehen ist.143 Sie hat keine aufschiebende Wirkung, jedoch kann der E G M R den Parteien vorläufige Maßnahmen anzeigen (Art 39 VerfahrensO). a) Zulässigkeitsvoraussetzungen 144 aa) Parteifahigkeit

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Die Individualbeschwerde darf von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe eingelegt werden. Zur Abgrenzung des Personenkreises kann auf die Ausführungen zu III. (Rn 14 ff) verwiesen werden. bb) Prozessfahigkeit, Postulationsfahigkeit

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An die Prozessfähigkeit stellen die E M R K und die VerfahrensO keine besonderen Anforderungen, so dass jeder zugelassen wird, der faktisch in der Lage ist, Prozesshandlungen vorzunehmen. 145 Eine Vertretung (zB minderjähriger Bf durch die Eltern) ist zulässig. Anwaltszwang besteht nicht, jedoch kann eine Vertretung durch einen Anwalt angeordnet werden (Art 36 II VerfahrensO). cc) Beschwerdegegenstand und Beschwerdebefugnis

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Gegenstand der Beschwerde muss ein Verhalten sein, das einem Verpflichtungsadressaten der Konventionsrechte (Rn 19 ff) zuzurechnen ist.

141 Die früheren Fakultativklauseln sind weggefallen. Vgl Schielte ZaöRV 1996, 905, 941. 142 Vgl Frowein JuS 1986, 845, 846. 143 Vgl v Stackelbergh Stackelberg Das Verfahren der deutschen Verfassungsbeschwerde und der europäischen Menschenrechtsbeschwerde, 1988, S 87 ff; Peukert in: Frowein/Peukert Art 25 EMRK Rn 2. 144 Vgl auch KuniglUerpmann Übungen S 189. 145 Vgl Murswiek JuS 1986, 8, 9.

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Allgemeine Lehren

§2 VIII2

Der Bf muss ferner behaupten, durch eine der Hohen Vertragsparteien in einem in der Konvention oder den Protokollen dazu anerkannten Rechte verletzt zu sein. Es besteht Einigkeit darüber, dass die Verletzung eigener Rechte geltend gemacht werden muss.146 Die Geltendmachung soll in einem substantiierten und schlüssigen Vortrag bestehen, durch den angegriffenen Hoheitsakt oder das unterlassene Hoheitshandeln in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt und dadurch direkt betroffen zu sein.147 Trotz der anderen Formulierung dürften im Wesentlichen dieselben Anforderungen wie nach der für die §§ 90 BVerfGG, 42 II VwGO entwickelten sog Möglichkeitstheorie'48 zu stellen sein. Hierfür spricht auch der Umstand, dass der EGMR eine Beschwerde (nur) für unzulässig zu erklären hat, wenn sie offensichtlich unbegründet ist (Art 35 III EMRK). Richtet sich die Beschwerde gegen gesetzliche Bestimmungen, ohne dass der Vollziehungsakt angegriffen wird, muss der Bf unmittelbar (selbst und gegenwärtig) durch das Gesetz (und nicht erst die Vollziehung des Gesetzes) beeinträchtigt werden. Entfallt die Beschwer nachträglich, steht dies der weiteren Sachprüfung idR entgegen.149 dd) Rechtswegerschöpfung Art 35 I EMRK verlangt, dass der EGMR erst „nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe" angerufen wird. Zu den Rechtsbehelfen sind auch formlose Behelfe zu zählen, sofern sie hinreichend zur Abhilfe geeignet sind.150 Erschöpft ist der Rechtsweg erst, wenn das höchste zuständige Gericht erfolglos angerufen wurde. Auch eine nach innerstaatlichem Recht zulässige Verfassungsbeschwerde soll grundsätzlich zur Erschöpfung des Rechtsweges gehören, sofern die Konventionsverletzung damit erfasst werden kann.151 Nach der Rechtsprechung des EGMR sind ferner die aus den von den Konventionsstaaten geschlossenen internationalen Verträgen resultierenden Strukturveränderungen bei der Auslegung der Konvention zu berücksichtigen.152 Daher sind Rechtsbehelfe nach Maßgabe des Europäischen Gemeinschaftsrechts als „innerstaatlich" im Sinne des Art 35 I EMRK anzusehen.153 Nicht erforderlich ist die Einlegung eines Rechtsbehelfs, wenn sie zwar formal möglich, aber ohne jede Erfolgschance ist (zB wegen einer feststehenden entgegenstehenden Rspr).154

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ee) Beschwerdefrist Die Beschwerde kann nur innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung eingelegt werden (Art 35 I EMRK). Handelt es sich um ein

146 Vgl Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Fn 139) Einl Rn 147. 147 Vgl Peukert in: Frowein/Peukert Art 25 EMRK Rn 20. Vgl auch Rogge in: Karl (Fn 41) Stand 1986, Art 25 Rn 214 ff. Der englische Text spricht von „claiming to be the victim of a violation". Unter victim wird eine direkt betroffene Person verstanden (EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 47 Groppera). 148 Vgl zB PierothlSchlink (Fn 95) Rn 1129 ff; Wahl!Schütz in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Fn 139) §42 II Rn64ff. 149 Peukert in: Frowein/Peukert Art 25 EMRK Rn 29. 150 Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Fn 139) Einl Rn 148. 151 Vgl Peukert in: Frowein/Peukert Art 26 EMRK Rn 28. 152 EGMR, EuGRZ 1999, 200, Rn 39 - Matthews. 153 EGMR, Application Nr 13539/88 - Dufay; Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 335. 154 Vgl Murswiek JuS 1986, 8, 10.

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§ 2 VIII 2

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Urteil, beginnt die Frist erst mit der Zustellung und nicht bereits mit der Verkündung zu laufen.155 Für die Einhaltung der Frist kommt es nicht auf den Eingang der Beschwerde, sondern das Datum des ersten Schreibens an (Art 47 V VerfahrensO). Der EGMR kann aber ein anderes Datum für maßgeblich erklären (zB wenn das Beschwerdeschreiben offensichtlich zurückdatiert worden ist).156 Vor Ablauf der Frist muss mindestens der wesentliche Gegenstand der Beschwerde mitgeteilt worden sein. ff) Form, Sprache 49

Die Beschwerde ist schriftlich zu erheben und vom Beschwerdeführer oder dessen Vertreter zu unterzeichnen (Art 45 VerfahrensO). Die Beschwerdeschrift muss nicht in einer offiziellen Sprache (Englisch oder Französisch), sondern kann auch in Deutsch eingereicht werden (Art 34 II VerfahrensO). gg) Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen

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Die EMRK statuiert eine Reihe weiterer Sachentscheidungsvoraussetzungen, die sich zT mit den bereits genannten überschneiden. So darf die Beschwerde nicht anonym (Art 35 II lit a EMRK) oder missbräuchlich (Art 35 III EMRK) 157 eingelegt werden, es darf keine Rechtskraft oder anderweitige internationale Rechtshängigkeit bestehen (Art 35 II lit b EMRK) und die Beschwerde darf auch im Übrigen nicht unvereinbar mit der Konvention sein (Art 35 III EMRK158). Unter bestimmten Voraussetzungen (Tod des Bf, fehlender Antrag der Hinterbliebenen auf Fortführung des Rechtsstreits, allgemeine Bedeutimg der Beschwerde) soll eine an sich unzulässig gewordene Beschwerde dennoch sachlich zu bescheiden sein.159 b) Verfahren

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Das Verfahren vor dem EGMR ist mehrstufig. Zunächst prüft ein Ausschuss der Kammer (Art 27 I 2 EMRK) die Zulässigkeitsvoraussetzungen. Kommt er einstimmig zu dem Ergebnis, dass ohne weitere Prüfung eine Unzulässigkeit anzunehmen ist, weist er die Beschwerde durch endgültige Entscheidung ab (Art 28 EMRK). Ergeht keine negative Entscheidung, hat die Kammer über die Zulässigkeit und Begründetheit zu entscheiden (Art 29 EMRK). Die Verhandlung ist grundsätzlich öffentlich (Art 40 EMRK), wobei im Falle der Zulässigkeit der Beschwerde eine gütliche Einigung angestrebt werden soll (Art 38 f EMRK). Nur in Ausnahmefallen (wenn die Sache besondere Schwierigkeiten aufweist oder die Kammer von einer früheren Entscheidung einer anderen Kammer abweichen will) legt die Kammer - bevor sie selbst eine Entscheidung getroffen hat - die Rechtssache der Großen Kammer vor, sofern nicht eine Partei widerspricht (Art 30 EMRK). 160 Eine Befassung der Großen Kammer mit einer Beschwerde kommt ferner dann in Betracht, wenn eine Partei „in Ausnahmefallen" nach Erlass des Urteils der Kam-

155 Vgl Peukert in: Frowein/Peukert Art 26 E M R K R n 48. 156 In der Praxis wird in solchen Fällen vorn D a t u m des Poststempels ausgegangen. 157 Z u r Notwendigkeit eines Rechtsschutzbedürfnisses vgl Peukert in: Frowein/Peukert Art 25 E M R K R n 38. 158 Vgl dazu Peukert in: Frowein/Peukert Art 27 E M R K R n 22. 159 Demirel Individualbeschwerde vor der Europäischen Menschenrechtskommission, 1997, S 15. 160 Nicht verständlich ist, warum den Parteien ein Widerspruchsrecht eingeräumt wurde.

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Allgemeine Lehren

§ 2 VIII 2

mer die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer beantragt (Art 43 EMRK). In diesem Falle bedarf es zunächst einer Annahme des Antrags durch einen Fünferausschuss der Großen Kammer, wobei es um schwerwiegende Fragen gehen muss (Art 43 II EMRK). Nimmt der Ausschuss den Antrag an, entscheidet er die Sache endgültig durch Urteil (Art 43 III EMRK). Kommt es zum Verfahren des Art 43 EMRK, entscheidet die Große Kammer als gerichtsinterne Rechtsmittelinstanz.'6' c) Begründetheit der Beschwerde und Wirkungen der Entscheidung des EGMR Begründet ist eine Individualbeschwerde, wenn der Bf in einem Konventionsrecht verletzt worden ist. Bei den Entscheidungen des EGMR handelt es sich um inter partes wirkende Feststellungsurteile, die lediglich völkerrechtliche Bindungen entfalten (wie sich ua aus Art 41 EMRK ergibt). Dagegen vermag der EGMR nicht die konventionsverletzenden Maßnahmen (zB die nationalen Gerichtsentscheidungen) aufzuheben oder die Konventionsstaaten zu Leistungen zu verurteilen.162 Der betroffene Konventionsstaat ist verpflichtet, das Urteil zu befolgen (Art 46 EMRK). Zum ersten muss die Rechtsverletzung beendet, zum zweiten Wiedergutmachung geleistet, zum dritten eine gleichartige Verletzung in Zukunft unterbunden werden. Konventionswidrige Gesetze, Verwaltungsakte oder sonstige Verwaltungsmaßnahmen können idR ohne weiteres aufgehoben werden. Probleme bereiten dagegen konventionswidrige Gerichtsentscheidungen. Ist das nationale Gerichtsverfahren rechtskräftig abgeschlossen worden, kommt eine Wiederaufnahme des Verfahrens nicht in Betracht, weil die einschlägigen Vorschriften (vgl insbesondere § 580 ZPO) dies nicht vorsehen.163 Ist die Entscheidung des nationalen Gerichts noch nicht vollstreckt worden, steht Art 46 EMRK einer Vollstreckung zugunsten des Konventionsstaates allerdings entgegen.164 Gestattet das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Konventionsverletzung, spricht der EGMR der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist (Art 41 EMRK). 165 Das setzt voraus, dass der Bf seinen Schaden und die Kausalität der Konventionsverletzung darlegt. Neben materiellen sind immaterielle Schäden ersatzfähig.166 Bei der Bemessung der Höhe des Schadensersatzes sind ggf auch gemeinschaftsrechtliche Schadensersatzansprüche zu berücksichtigen.167 Der EGMR sieht eine Wiedergutmachung nach innerstaatlichem Recht auch dann als unvollkommen an, wenn zwar ein Schadensersatzanspruch besteht, der Bf aber zu dessen Realisierung auf das erneute

161 Problematisch erscheint, dass der Großen Kammer gemäß Art 27 III 2 E M R K mit dem Präsidenten der Kammer und dem Richter, welcher in der Kammer für den als Partei beteiligten Staat mitgewirkt hat, zwei Richter angehören, die bereits beim Erlass des zur Überprüfung stehenden Urteils mitgewirkt haben. Krit Schiene JZ 1999, 219, 225 f. 162 Ganz hM. Vgl BVerfG, N J W 1986, 1425 ff; Frowein in: Isensee/Kirchhof (Hrsg) Handbuch des Staatsrechts, Bd VII, 1992, § 180 Rn 13 ff; Uerpmann (Fn 20) S 172 ff; Dörr in: Sodan/Ziekow (Hrsg) Nomos-Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, 1998, EVR Rn 558 ff; Ehlers (Fn 53) S 139 f. 163 HM. Vgl BFH, DVB1 1978, 501 f; BVerwG, DÖV 1998, 924 ff; Ehlers (Fn 53) S 140 mwN. Ausf dazu Polakiewicz (Fn 19) S 128 ff. 164 Vgl auch Frowein JuS 1986, 845, 850. 165 Vgl dazu Dannemann Schadensersatz bei Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1994. 166 Ossenbühl Staatshaftungsrecht, 5. Aufl 1998, S 527 ff. 167 E G M R , R J D 1998 II, Rn 18 - Hornsby; Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 335 f.

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§ 2 Vili 2

Dirk Ehlers

Beschreiten des innerstaatlichen Rechtsweges angewiesen ist." ,s Für Klagen auf Gewährung der zugesprochenen Entschädigung ist in Deutschland der Rechtsweg nach § 40 II 1 3. Alt V w G O gegeben.1""

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Lösung Fall 3: Bedenken gegen die Zulässigkeit der Individualbeschwerde zum E G M R könnten nur deshalb bestehen, weil der Bf nicht alle Möglichkeiten des innerstaatlichen Rechtsweges ausgeschöpft hat. So ist er weder gegen seine Festnahme noch das Festhalten vorgegangen, sondern hat vielmehr mu ein Klageerzwingungsverfahren im Hinblick darauf angestrengt, ob sich die Polizeibeamten strafbar gemacht haben. Nach der Rspr des E G M R dient das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung (Art 34 E M R K ) dem Zweck, den Vertragsstaaten Gelegenheit zu geben, die ihnen vorgeworfenen Konventionsverletzungen zu verhindern oder ihnen abzuhelfen. Es müssten aber nur die Rechtsbehelfe erschöpft werden, die effektiv und geeignet sind, der behaupteten Verletzung abzuhelfen ( E G M R , Recueil des arrêts et décisions 1996-11, 559. Rn 33 - Remli). Zudem sei das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung mit einein gewissen M a ß an Flexibilität anzuwenden. Nach der Entscheidung des E G M R hat der Bf diesen Anforderungen hier genügt, indem er Anzeige gegen die an der Festnahme und dem Festhalten beteiligten Polizeibeamten erstattet und anschließend ein Klageerzwingungsverfahren unter Berufung darauf betrieben habe, dass seine Festnahme und die Entziehung seiner Freiheit rechtswidrig gewesen seien. Das Klageerzwingungsverfahren stelle einen effektiven und geeigneten Rechtsbehelf dar, da das O L G die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung zumindest teilweise geprüft habe. Vom Bf. könne nicht verlangt werden, weitere Rechtsbehelfe in Anspruch zu nehmen. Begründet ist die Beschwerde, wenn Art 5 l l i t c E M R K verletzt worden ist. Ein hinreichender Tatverdacht bestand. Die Festnahme oder das Festhalten müsste aber rechtmäßig gewesen sein. G e m ä ß § 163 c III StPO darf eine Freiheitsentziehung zum Zwecke der Feststellung der Identität die Dauer von insgesamt 12 Stunden nicht überschreiten. Hier lag eine Überschreitung um 45 Minuten vor. Daher hat der E G M R eine Verletzung des Art 5 1 lit c E M R K angenommen und dem Bf eine Entschädigung in Höhe von 10.000,- D M zu Lasten der Bundesrepublik Deutschland zugebilligt.

168 E G M R . Serie A, Voi 330-B, Rn 40 Papamichalopolous: Sèrie A. Voi 315-C. Rn 50 Sèrie A. Voi 285-C, Rn 17 Barberà; Sèrie A, Voi 17, Rn 30 Neumeister. 169 Vgl Frowin in: Isensce/Kirchhof (Fn 162) ij 180 Rn 18.

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Scollo:

§3 Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot Robert Uerpmann Leitentscheidungen: E G M R , E u G R Z 1989, 314(T Soering = Kimig J K 90, E M R K Art 3/1; N J W 1993. 718 ff Niemietz = Kwüg JK 93, E M R K Art 8/1; N V w Z 1999, 57fT G u e r r a = Ehlers J K 99, E M R K Art 8/3. Schrifttum: Frowin!Peitkert Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, 2. Aufl 1996; Hailbronner Art 3 E M R K - ein neues europäisches Konzept der Schutzgewährung?, DOV 1999. 617 ff; Käün Tragweite und Begründung des Abschiebungshindernisses von Art 3 E M R K bei nichtstaatlicher G e f ä h r d u n g , in: Hailbronner/Klein (Hrsg) Einwanderungskontrolle und Menschenrechte. 1999, S 49-72; Klev-Struller Der Schutz der Umwelt durch die Europäische Menschenrechtskonvention, E u G R Z 1995, 507 lf; Kunig!Uerpmann Übungen im Völkerrecht, 1998. S 181 If; Sehmult-Radefehlt Ökologische Menschenrechte. 2000, S 55 200.

Der folgende Abschnitt behandelt einige der materiellen Kernbestimmungen der E M R K , namentlich den Schutz des Privatlebens, den Schutz der persönlichen Integrität und das Diskriminierungsverbot. Er soll kein Detailwissen zu diesen Garantien vermitteln, sondern er will Verständnis f ü r die Grundstrukturen wecken und so ein eigenständiges Arbeiten mit den Garantien ermöglichen. Die E M R K ist ebenso wie das deutsche Grundgesetz Teil einer gemeinsamen europäischen Grundrechtskultur. 1 Ihre Garantien weisen daher trotz signifikanter Unterschiede auch starke Parallelen auf. An diesen Parallelen und Unterschieden orientiert sich die folgende Darstellung. Sind die Grundstrukturen bekannt, ist es relativ einfach, aus der deutschen Grundrechtsdiskussion bekannte Streitstände auf die E M R K zu übertragen. Freilich hat die E M R K ihre Wirkkraft gerade auch in einigen Bereichen entfaltet, in denen deutsche Grundrechte blass geblieben sind. D a s gilt etwa für den Schutz vor aufenthaltsbeendenden M a ß n a h m e n im Ausländerrecht. Diesen Anwendungsfeldern wird ein besonderes Augenmerk gelten.

1

I. Schutz der Privatsphäre Fall 1:

Der türkische Staatsangehörige M ist in München geboren worden und wächst dort bei seinen Eltern auf. Die Türkei kennt er nur von Ferienaufenthalten. Türkisch spricht er kaum. Schon vor Vollendung des vierzehnten Lebensjahres tritt er wiederholt strafrechtlich in Erscheinung. Nach seinem vierzehnten Geburtstag begeht er weitere Straftaten wie Laden- und Einbruchsdiebstähle, Raubtaten, gefährliche Körperverletzungen. Nötigungen und Hausfriedensbrüche. Er wird zu einer Jugendstrafe verurteilt und nach § 48 11 1 AuslG ausgewiesen. Ist die Ausweisung konventionsgemäß'?

I Uerpmann Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, S 117 130.

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2

§3 II 1. Privat- und Familienleben,

Robert Uerpmann Wohnung und Korrespondenz (Art 8

EMRK)

a) Schutzbereiche aa) Privatleben 3

Mit dem Schutz des Privatlebens, des Familienlebens, der Wohnung und der Korrespondenz enthält Art 8 I E M R K vier verschiedene Schutzbereiche. Das Privatleben ist der weiteste von ihnen. Die übrigen Schutzbereiche sind weitgehend besondere Ausprägungen des Schutzes des Privatlebens. Dem Schutz des Privatlebens kommt eine gewisse Auffangfunktion zu. Art 8 I E M R K zeigt insofern Parallelen zu Art 2 I GG. Anders als das Grundgesetz kennt die E M R K zwar kein allgemeines Freiheitsrecht, das lückenlosen Schutz gegen staatliche Eingriffe vermitteln würde. Der Schutz des Privatlebens nach Art 8 I E M R K übernimmt aber Funktionen, die in Deutschland Art 2 I G G und namentlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art 2 I iVm Art 1 I G G erfüllen. Beispielsweise schützen sowohl das Grundgesetz als auch die E M R K das Privatleben Prominenter vor dem aufdringlichen Zugriff der Presse. Unter dem Grundgesetz übernimmt das allgemeine Persönlichkeitsrecht diesen Schutz,2 während konventionsrechtlich Art 8 E M R K eingreift3. Ebenso lässt sich für den Datenschutz, der grundgesetzlich als Recht auf informationelle Selbstbestimmung im allgemeinen Persönlichkeitsrecht verankert ist,4 unter der E M R K das Recht auf Achtung des Privatlebens heranziehen.5 Erst jüngst hat der E G M R hervorgehoben, dass den Garantien des Art 8 E M R K das Prinzip persönlicher Selbstbestimmung zu Grunde liege.6 Darin zeigt sich wiederum die Nähe zu Art 2 I GG.

4

Auf eine Definition des Privatlebens hat der E G M R ausdrücklich verzichtet.7 Er folgt einem kasuistischen Ansatz, wie er für die Konventionspraxis typisch ist. Verlässliche Begriffsdefinitionen, wie sie Rechtsprechung und Lehre unter dem Grundgesetz entwickelt haben, fehlen für die E M R K weitgehend. Daher soll auch hier auf einen Definitionsversuch verzichtet werden. Statt dessen möchte der Beitrag Leitlinien vermitteln, die bei einer kasuistischen Argumentation helfen können. Der Begriff des Privatlebens ist weit zu verstehen. Er umfasst nicht nur einen inneren Bereich menschlichen Daseins, sondern auch die sozialen Beziehungen, also den Kontakt zur Außenwelt. Abzugrenzen ist das Privatleben vom öffentlich-staatlichen Bereich. Die Wahrnehmung eines öffentlichen Amtes gehört nicht zum Privatleben. Außerhalb des staatlichen Bereichs kann aber auch eine berufliche Tätigkeit unter Art 8 I E M R K fallen. Gerade im beruflichen Bereich nehmen viele Menschen Kontakte zur Außenwelt auf. Zudem lässt sich zwischen Privatleben und Beruf zumindest bei manchen Berufsgruppen kaum ein sinnvoller Trennstrich ziehen. So hat der E G M R im Fall Niemietz den staatlichen Zugriff auf Anwaltsakten als Eingriff in das Privatleben gewertet.8 Nach deutschem

5

2 BVerfGE 73, 118, 201; 97, 125, 146. 3 Court of Appeal, The All England Law Reports 2001, Bd 2, S 289 - Douglas/Hello! Ltd; dazu Amelungl Vogenauer ZEuP 2002, 341 ff; Theusinger Z R P 2001, 529 ff. 4 BVerfGE 65, 1, 41 ff - Volkszählungsurteil; dazu Kunig J U R A 1993, 595 ff. 5 E G M R , H R L J 21 (2000), 221, Rn 65 - Amann; Mock RUDH 1998, 237, 241; zum Schutz von Steuerdaten zweifelnd Schweizerisches Bundesgericht, EuGRZ 1999, 53 f. 6 E G M R , EuGRZ 2002, 234, Rn 61 - Pretty. 7 E G M R , NJW 1993, 718, Rn 29 - Niemietz = Kunig J K 93, E M R K Art 8/1; s auch Mock RUDH 1998, 237, 239. 8 E G M R , NJW 1993, 718, Rn 29 ff - Niemietz = Kunig J K 93, E M R K Art 8/1; dazu auch Kunig/ Uerpmann Übungen S 182 f.

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Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot

§3 II

Verfassungsrecht wäre insoweit am ehesten Art 12 I GG einschlägig. Obwohl die EMRK die Berufsfreiheit als solche nicht garantiert, kann sie über Art 8 I EMRK Schutz vor bestimmten Eingriffen in die Berufsausübung gewähren. Für diese weite Auslegung spricht auch der systematische Zusammenhang mit dem Schutz der Korrespondenz. Dort wird nicht zwischen privater und geschäftlicher Korrespondenz unterschieden. Begreift man den Schutz der Korrespondenz als besondere Ausprägung des Schutzes des Privatlebens, liegt es nahe, das Privatleben ebenfalls entsprechend weit zu fassen. Das Privatleben umfasst auch die Kommunikation mit anderen Menschen. Hier stellen sich allerdings Abgrenzungsprobleme zum spezielleren Schutzbereich der Korrespondenz.9 Was als Korrespondenz von Art 8 I EMRK geschützt wird, muss nicht mehr dem Auffangschutzbereich des Privatlebens zugeordnet werden. Die traditionelle briefliche Kommunikation wird damit ausschließlich vom Schutzbereich der Korrespondenz erfasst. Bei Telefongesprächen erscheint die Zuordnung hingegen zweifelhaft. Legt man den Begriff der Korrespondenz weit aus, lassen sie sich unter diesen spezielleren Schutzbereich fassen. Anderenfalls werden sie als Teil des Privatlebens geschützt. Der EGMR hat sich insoweit nicht festgelegt. In den einschlägigen Entscheidungen führt er sowohl das Privatleben als auch die Korrespondenz an.10 Dogmatisch kann diese Unentschlossenheit nicht ganz befriedigen. Andererseits kommt es auf die Unterscheidung tatsächlich nicht an, weil Privatleben und Korrespondenz beide derselben Schrankenregelung unterliegen. Damit ist es auch weitgehend gleichgültig, wie man neue Kommunikationsformen qualifiziert. Es liegt nahe, die Übertragung von E-mails mit dem Schutz der Korrespondenz zu versehen." Anderenfalls würden sie aber jedenfalls als Teil des Privatlebens geschützt. Zum Privatleben gehören des Weiteren die physischen Lebensbedingungen an einem Ort. Sind die Bewohner eines Gebietes giftigen Abgasen einer Fabrik ausgesetzt, berührt dies ihr Privatleben.12 Damit enthält Art 8 I EMRK Elemente eines Grundrechts auf Umweltschutz.13 Ebenso ist das Privatleben betroffen, wenn eine Person etwa durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen wird.14 Art 8 I EMRK ist daher insbesondere auch als Grenze für Ausweisung und Abschiebung im Ausländerrecht relevant. Zwar garantiert die EMRK Ausländern weder ein Recht auf Einreise noch ein Recht auf Aufenthalt. Art 3 4. ZP EMRK verbietet lediglich die Verbannung eigener Staatsangehöriger und Art 4 4. ZP EMRK schützt allein vor Kollektivausweisungen. Art 1 7. ZP EMRK, das für Deutschland nicht in Kraft ist, beschränkt sich auf Verfahrensgarantien für den Fall der Ausweisung. Diese punktuellen Regelungen schließen es aber nicht aus, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zusätzlich an allgemeinen Garantien der EMRK wie die aus Art 8 EMRK zu messen.

9 Zur Korrespondenz s noch unten Rn 14. 10 EGMR, EuGRZ 1979, 278, Rn 41 - Klass; EuGRZ 1985, 17, Rn 64 - Malone; EuGRZ 1992, 300, Rn 39 - Lüdi; HRLJ 21 (2000), 221, Rn 44 - Amann. 11 Mock RUDH 1998, 237, 243. 12 EGMR, NVwZ 1999, 57, Rn 57 - Guerra = Ehlers JK 99, EMRK Art 8/3 = § 2 Rn 6, 13; s auch schon EGMR, EuGRZ 1995, 530 ff - Lopez Ostra = Küttig JK 96, EMRK Art 8/2. 13 Ausführlich Schmidt-Radefeldt Ökologische Menschenrechte, 2000, S 105 ff; ferner Kley-Struller EuGRZ 1995, 507, 512 ff 14 Mock RUDH 1998, 237, 241, im Grundsatz ebenso ohne Unterscheidung zwischen Privat- und Familienleben EGMR, NVwZ 1998, 164, Rn 23ff - Mehemi; NVwZ 2000, 1401, Rn 32ff Baghli.

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7

§3 II 8

Robert Uerpmann

Das Privatleben hat somit eine starke soziale Komponente. Geschützt wird die Person in ihrem jeweiligen räumlich-gesellschaftlichen Umfeld. Der Schutz erstreckt sich aber auch auf den inneren Bereich der Persönlichkeitssphäre bis hin zur geschlechtlichen Identität und zur sexuellen Selbstbestimmung. Weigert sich der Staat bei Transsexualität, eine erfolgte Geschlechtsumwandlung namens- und personenstandsrechtlich anzuerkennen, ist der Schutzbereich des Privatlebens berührt. 15 Auch Homosexualität fallt in den Schutzbereich des Privatlebens.'6 Vorschriften, die die Vergewaltigung und andere Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung unter Strafe stellen, dienen ebenfalls dem Schutz des Privatlebens." bb) Familienleben

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10

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Das Familienleben ist gleichfalls weit zu verstehen.18 Eine eheliche Verbindung ist nicht erforderlich.19 Auch die Beziehung eines einzelnen Elternteils zu seinem Kind wird als Familienband erfasst. Geschützt wird der tatsächliche soziale Kontakt unabhängig von seiner rechtlichen Anerkennung. Damit fallt die Beziehung eines nichtehelichen Kindes zu seinem Vater schon vor der Feststellung der Vaterschaft ebenso in den Schutzbereich des Familienlebens wie die Beziehung eines Kindes zu Adoptiv- oder Pflegeeltern.20 Auch lässt die Trennung der Eltern bei einem Kind, das bei einem Elternteil lebt, das Familienband zum anderen Elternteil nicht abreißen, soweit beide in Kontakt bleiben.21 Nicht ausreichend ist allerdings die bloße Abstammung. Wichtig ist, dass tatsächlicher Kontakt vorhanden oder zumindest gewollt ist. Unter diesen Voraussetzungen werden auch die Beziehungen zu entfernteren Familienangehörigen wie Großeltern oder Tanten geschützt.22 Der EuGH betont, dass gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften nicht vom Schutz des Familienlebens erfasst seien.23 Angesichts der Weite des Familienbegriffs, der nicht auf rechtlich-formale Bindungen abstellt, scheint dies zweifelhaft.24 Um eine Familie handelt es sich jedenfalls, soweit in einer solchen Beziehung Kinder aufwachsen. Außerdem wird jede Lebensgemeinschaft zumindest als Teil des Privatlebens von Art 8 I EMRK geschützt. Eine Gleichstellung nichtehelicher und namentlich gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften mit der traditionellen Ehe fordert die Konvention freilich nicht. Das ergibt sich schon aus Art 12 EMRK, der das Recht zur Eheschließung gewährleistet und der Ehe damit einen besonderen Platz zuweist. Dabei geht der EGMR bisher vom klassischen Bild der Ehe aus.25 Im Übrigen kommt Art 12 EMRK neben dem Schutz des Familienlebens nach Art 8 I EMRK allerdings keine große Bedeutung zu. 15 16

EGMR, HRLJ 13(1992), 358, Rn 4 4 - 6 3 - B . EGMR, EuGRZ 1983, 488, Rn 37 ff - Dudgeon; EuGRZ 1992, 477, Rn 38 - Norris; NJW 2000, 2089, Rn 70 f - Smith und Grady. 17 EGMR, EuGRZ 1985, 297, Rn 22 - X und Y; dazu noch u Rn 26. 18 Ausführlich Fahrenhorst Familienrecht und Europäische Menschenrechtskonvention, 1994, S 94 ff. 19 BGH, NJW 2001, 2472, 2475 = Coester- Waltjen JK 01, BGB § 1626a/l. 20 Mock RUDH 1998, 237, 241. 21 EGMR, NVwZ 2001, 547, Rn 59 - Ciliz; NJW 2001, 2315, Rn 43 f - Eisholz. 22 Mock RUDH 1998, 237, 241 f. 23 EuGH, Slg 1998,1-621, Rn 33 - Grant = Ehlers JK 99, EGV Art 119/1. 24 Wittinger Familien und Frauen im regionalen Menschenrechtsschutz, 1999, S 42-45. 25 EGMR, Urt v 17.10.1986, Série A, Vol 106, Rn 49 - Rees; dazu auch Fahrenhorst (Fn 18) S 204-212.

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Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot

§3 I I

In der Praxis spielt der Schutz des Familienlebens nicht nur im Ehe- und Kindschaftsrecht26 eine wichtige Rolle, sondern auch im Ausländerrecht27, wenn es um aufenthaltsbeendende Maßnahmen oder Familiennachzug geht.

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cc) Wohnung Mit der Wohnung schützt Art 8 EMRK den räumlich-gegenständlichen Bereich der Individualsphäre. Zur Wohnung gehören auch die Geschäftsräume. Dies hat der EGMR im Fall Niemietz klar gestellt.28 Für die weite Auslegung spricht das oben zum Privatleben Gesagte. Wenn das Berufsleben zum Privatleben zählt, liegt es nahe, den räumlichen Bereich, in dem sich das Berufsleben vollzieht, ebenso zu schützen wie die Wohnung ieS. Der Wohnungsbegriff wird damit ähnlich weit ausgelegt wie bei Art 13 GG.29 Der EuGH hatte dies in der Hoechs/-Entscheidung noch anders gesehen.30 Geschützt werden die Räume vor jeder Form des Eindringens. Auch „Lauschangriffe" berühren den Schutzbereich.31 Die Abgrenzung zum Privatleben mag im Einzelnen schwierig sein, ist aber angesichts der Parallelität der Garantien nicht ergebnisrelevant.

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dd) Korrespondenz Schließlich schützt Art 8 I EMRK das Postgeheimnis. Unter Korrespondenz sind schriftliehe Mitteilungen32 zu verstehen, die auf einem anerkannten Beförderungsweg von einer Person zu einer anderen übermittelt werden.33 Unerheblich ist, ob die Dokumente durch eine staatliche Postverwaltung oder durch private Anbieter befördert werden. Mit der Korrespondenz ist der Vorgang der Nachrichtenübermittlung geschützt, also die Phase, in der Dritte besonders leicht auf die Dokumente zugreifen können. Ist eine Mitteilung noch nicht abgesandt worden oder ist sie bereits beim Empfanger angekommen, handelt es sich nicht mehr um Korrespondenz.34 Dann greift allerdings der allgemeine Schutz des Privatlebens ein. Die Konventionsrechte gelten auch in sog besonderen Gewaltverhältnissen35 wie Militär, Schule oder Gefängnis. So erstreckt sich der Schutz auf die Korrespondenz von Strafgefangenen.36 Damit garantiert Art 8 I EMRK namentlich die ungehinderte Korrespondenz eines Gefangenen mit dem EGMR. 37

26 S zB die in Fn 21 genannten Entscheidungen; dazu allg Fahrenhorst (Fn 18) S 191 ff; Brötel Der Anspruch auf Achtung des Familienlebens, 1991, S 175 ff. 27 ZB EGMR, NVwZ 1998, 164 ff - Mehemi; NVwZ 2000, 1401 ff - Baghli; dazu allg Caroni Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration, 1999, S 170 ff. 28 EGMR, EuGRZ 93, 65, Rn 30-33 - Niemietz. 29 Dazu BVerfGE 32, 54, 69 ff. 30 EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 18 - Hoechst = Kunig JK 90, EWGV Art 173/2 = § 13 Rn 35, 38. 31 EGMR, JZ 2000,993 Rn 25 - Khan. 32 Zu Telefongesprächen schon o Rn 6. 33 Frowein in: Frowein/Peukert Art 8 EMRK Rn 34. 34 Mock RUDH 1998, 237, 243. 35 Zum Begriff v Münch in: v Münch/Kunig (Hrsg) Grundgesetz-Kommentar, Bd I, 5. Aufl 2000, VorbemArt 1-19 Rn 59. 36 Jacobs! White The European Convention on Human Rights, 2. Aufl 1996, S 197 ff, 297 ff. 37 EGMR, Urt v 23.9.1998, Reports 1998-VII, Rn 35 ff - Petra; Mock RUDH 1998, 237, 243 f.

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§3 I I

Robert Uerpmann

b) Beeinträchtigung 16

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Was die Rechtsbeeinträchtigung angeht, gelten zunächst allgemeine Grundsätze (—» § 2 Rn 32). Das Durchsuchen einer Wohnung ist ebenso eine Beeinträchtigung wie die Beschlagnahme persönlicher Dokumente oder das Abhören eines Telefongesprächs. Umgekehrt fehlt es an einer Beeinträchtigung, wenn ein Presseorgan ohne Einwilligung des Betroffenen Fotos aus dem Privatleben eines Prominenten veröffentlicht. Mangels konventionsrechtlicher Bindung kann das Presseorgan nicht in Art 8 EMRK eingreifen.38 Verlangt der Betroffene gerichtlichen Rechtsschutz, ist die Schutzpflichtdimension39 des Konventionsrechts angesprochen. Auch aufenthaltsbeendende Maßnahmen haben Eingriffscharakter, da sie darauf angelegt sind, dem Betroffenen das Weiterleben in seinem aktuellen privaten Umfeld unmöglich zu machen. Hat die Person am Aufenthaltsort familiäre Bindungen, ist das Familienleben beeinträchtigt. Was für Art 8 EMRK weitgehend klar erscheint, ist im Parallelfall des Art 6 I GG umstritten. Die deutsche Rechtsprechung neigt dazu, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auf Schutzpflichten aus Art 6 I GG abzustellen.40 Diese dogmatische Unstimmigkeit dürfte sich aus der unzulänglichen Schrankensystematik des Grundgesetzes erklären. Art 6 I GG ist vorbehaltlos gewährleistet. Nähme man einen Eingriff an, ließe sich dieser nur in engen Grenzen über verfassungsimmanente Schranken rechtfertigen. Diese Konsequenz wird über eine Reduktion des Eingriffstatbestandes umgangen. Bei Art 8 EMRK bedarf es angesichts angemessener Schranken in Abs 2 keiner Korrektur auf der Eingriffsebene. Bei ehe- und kindschaftsrechtlichen Entscheidungen ist zu differenzieren.41 Entzieht das Gericht einem geschiedenen Elternteil das Sorgerecht, wird man von einem Eingriff ausgehen können. Versagt hingegen ein Elternteil dem anderen den Umgang mit dem gemeinsamen Kind und wendet sich der andere hilfesuchend an das Gericht, so fehlt es an einem staatlichen Eingriff. Art 8 EMRK ist in seiner Schutzpflichtdimension angesprochen.42 Schwierig ist die Abgrenzung auch in Umweltschutzfallen. Ein Eingriff liegt vor, wenn die Umweltbelastung unmittelbar von Hoheitsträgern verursacht wird. Das gilt etwa für Belastungen, die von einem Truppenübungsplatz ausgehen. Umweltgefährdendes Verhalten Privater lässt sich dem Staat hingegen grundsätzlich nicht zurechnen. Vielfach wird das private Verhalten allerdings staatlich genehmigt sein. Indem der Staat potenziell umweltgefährdendes Verhalten einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterwirft, kommt er seiner Schutzpflicht nach. Hebt der Staat das präventive Verbot im Einzelfall durch eine Genehmigung wieder auf, unterschreitet er möglicherweise seine Schutzpflicht. Darin allein liegt aber noch kein Eingriff.43 Eingriffscharakter hat die Genehmigung nur, wenn und soweit sie betroffenen Dritten Duldungspflichten auferlegt, wie es etwa bei der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung nach § 14 BImSchG der Fall ist. Dieser Bereich ist auch in der deutschen Grundrechtsdogmatik umstritten. Die

38 39 40 41 42 43

52

—> zu den Konventionsverpflichteten schon § 2 Rn 25. —> dazu schon § 2 Rn 9 sowie u Rn 26 f. BVerfGE 51, 386, 396 f; offen BVerfGE 76, 1, 46; s auch PierothlSchlink Grundrechte, Staatsrecht II, 17. Aufl 2001, Rn 651. E G M R , N V w Z 2001, 547, Rn 62 - Ciliz. ZB E G M R , R U D H 2000, 93, Rn 94 - Ignaccolo-Zenide. Jaeckel Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001, S 150.

Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot

§3 I I

Konventionsdogmatik ist insoweit noch weniger entwickelt, weist aber in dieselbe Richtung. In der Sache Hatton musste der EGMR nächtlichen Fluglärm bewerten, der im Rahmen staatlich reglementierter Nachtflüge am Londoner Flughafen Heathrow entstand. Nach dem oben Gesagten lässt sich die schlichte staatliche Erlaubnis privater Nachtflüge nicht als Eingriff werten. Dementsprechend sah der EGMR in der Nachtflugreglementierung keinen Eingriff. Vielmehr prüfte er, ob das Vereinigte Königreich mit dieser Reglementierung seiner Schutzpflicht aus Art 8 I EMRK ausreichend Rechnung getragen hatte.44 Im Fall Lopez Ostra hatte der EGMR eine schwierige Gemengelage unterschiedlichen staatlichen Verhaltens zu beurteilen.45 Eine umweltverschmutzende Entsorgungsanlage für Gerbereiabfälle war mit staatlichen Subventionen auf einem städtischen Grundstück errichtet worden. Ohne die erforderliche Zulassung ging sie in Betrieb. Verschiedene behördliche Abhilfemaßnahmen hatten nur einen eingeschränkten Erfolg. Da eine Genehmigung gerade nicht erteilt worden war, kam ein Eingriff insoweit nicht in Betracht. Bei den behördlichen Abhilfemaßnahmen handelt es sich um möglicherweise unzureichende Schutzmaßnahmen. Solange sie die Beeinträchtigung nicht verstärken, haben sie ebenfalls keinen Eingriffscharakter. Am ehesten könnte die staatliche Förderung des Anlagenbaus als Eingriff qualifiziert werden, doch müsste man dazu Subventionszweck und Subventionsbedingungen näher beleuchten. Der EGMR ging diesen Fragen nicht nach. Vielmehr ließ er die Frage, ob ein Eingriff vorliege, schlicht offen und begnügte sich mit einer Abwägung, wie sie sowohl bei der Eingriffsrechtfertigung als auch bei der Schutzpflichtprüfung durchzuführen ist.46 Nachdem er die Schutzmaßnahmen für unzureichend erklärt hatte, kam es auf die Frage, ob sogar ein Eingriff vorlag, nicht mehr an. c) Rechtfertigung Eine Beeinträchtigung der Schutzbereiche des Art 8 I EMRK kann nach Maßgabe von Art 8 II EMRK gerechtfertigt sein. Die Schrankenbestimmung stimmt in ihrer Struktur weitgehend mit derjenigen der Art 9 bis 11 EMRK überein. Die Rechtfertigung wird vom EGMR sauber in drei Stufen geprüft (—» § 2 Rn 34 ff). Die Beeinträchtigung muss (aa) gesetzlich vorgesehen sein, (bb) ein legitimes Ziel verfolgen und (cc) in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, also verhältnismäßig sein.

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aa) Gesetzesvorbehalt Die deutsche Übersetzung verlangt in Einklang mit der französischen Fassung, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen sein müsse („prévu par la loi"). Das entsprechende „prescribed by law" findet sich in der ebenfalls authentischen englischen Fassung hingegen lediglich in Art 9 bis 11 EMRK. In Art 8 II EMRK heißt es statt dessen „in accordance with the law". Die englische Fassung könnte dafür sprechen, dass bei Art 8 EMRK, anders als bei Art 9 bis 11 EMRK, lediglich der Vorrang des Gesetzes gelten soll, nicht aber der Vorbehalt des Gesetzes. Diese Auslegung ist allerdings mit der gleichermaßen verbindlichen französischen Fassung nicht vereinbar. Sie entspricht auch nicht der Rechtsprechung des EGMR. 47

44 45 46 47

EGMR, Urt v 2.10.2001, Rn 95 - Hatton; dazu Kukk NVwZ 2002, 307 ff. EGMR, EuGRZ 1995, 530, Rn 51 ff - Lopez Ostra = Kunig JK 96, EMRK Art 8/2. Dazu noch u Rn 27. S zB EGMR, Urt v 23.9.1998, Reports 1998-VII, Rn 36-39 - Petra.

53

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§3

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II

Robert Uerpmann

Zu den Vertragsstaaten der EMRK gehören auch Common-law-Systeme. Der Gesetzesbegriff der Konvention, im Englischen: „law", ist daher weiter als der kontinentaleuropäische Gesetzesbegriff. Er umfasst auch ungeschriebenes Recht.48 Erforderlich ist in jedem Fall, dass die Normen hinreichend zugänglich und vorhersehbar sind.49 Angesichts der Veröffentlichungsvorschriften, denen deutsche Parlamentsgesetze, Verordnungen und Satzungen unterliegen, wird die Zugänglichkeit regelmäßig unproblematisch sein. Mit dem Kriterium der Vorhersehbarkeit führt der EGMR ein Bestimmtheitserfordernis ein, das nicht über das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes hinausgehen dürfte. Jede Beeinträchtigung, die von der innerstaatlichen Rechtsgrundlage nicht gedeckt ist, verstößt zugleich gegen das Konventionsrecht. Die Prüfungskompetenz des EGMR ist insoweit allerdings eingeschränkt. Die Auslegung und Anwendung nationalen Rechts ist vorrangig Aufgabe der nationalen Stellen.50 Die europäische Instanz wird erst dort einschreiten, wo nationale Stellen eine Rechtsgrundlage willkürlich heranziehen.51 Das Verhältnis des EGMR zu den nationalen Instanzen ähnelt damit demjenigen des BVerfG zu den Fachgerichten. Das europäische Verfassungsgericht beschränkt sich wie das deutsche darauf, Entscheidungen auf spezifische Verfassungsrechtsverstöße zu überprüfen. bb) Legitimes Ziel

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Beeinträchtigungen des Art 8 I EMRK sind nur gerechtfertigt, wenn sie eines der in Art 8 II EMRK abschließend aufgezählten Ziele verfolgen. In grundgesetzlichen Kategorien formuliert, liegt ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt vor. Bei der Auflistung handelt es sich um autonome, gemeineuropäische Begriffe, die nicht unter Rückgriff auf spezifisch nationale Begriffsbildungen definiert werden können. So wird man die Begriffe der „nationalen oder öffentlichen Sicherheit" einerseits und der „Ordnung" andererseits nicht im Lichte der polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklausel auslegen können. Allerdings sind die Ziele, die Art 8 II EMRK aufführt, sehr weit. In der Rechtsprechung des EGMR haben sie kaum Konturen erlangt. Meist begnügt sich der Gerichtshof mit der Feststellung, dass ein Eingriff ein oder mehrere legitime Ziele verfolge.52 Die Rechtfertigung wird fast nie an diesem Prüfungspunkt scheitern.53 cc) Verhältnismäßigkeit

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Schließlich muss die Beeinträchtigung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein. Der EGMR verlangt ein „dringendes soziales Bedürfnis" 54 und führt eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch.55 Diese Prüfung entspricht strukturell dem in Deutschland üblichen dreistufigen Vorgehen: Die Beeinträchtigung muss in Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel geeignet, erforderlich und im engeren Sinn verhältnismäßig sein (—> § 2 48 49 50 51 52 53 54 55

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EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 47 - Sunday Times; s auch Kunig JK 93, E M R K Art 1/1. EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 49 - Sunday Times. Schokkenbroek HRLJ 19 (1998), 30, 33; s auch EGMR, EuGRZ 1985, 297, Rn 29 - X und Y. S auch Kunig JK 93, E M R K Art 1/1. ZB E G M R , NJW 1993, 718, Rn 36 - Niemietz = Kunig JK 93, E M R K Art 8/1; NVwZ 2001, 547, Rn 65 - Ciliz; NJW 2001, 2315, Rn 47 - Elsholz. Mock R U D H 1998, 237, 244. „Pressing social need"/„besoin social impérieux". ZB E G M R , NVwZ 2000, 1401, Rn 45 - Baghli.

Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot

§3 II

Rn 39). Bei der Beurteilung, welche Maßnahmen erforderlich und angemessen sind, kommt den nationalen Stellen eine Einschätzungsprärogative56 zu. Die jeweiligen nationalen Stellen sind am ehesten in der Lage, die jeweilige Situation vor Ort differenziert zu beurteilen. Die nationale Entscheidung unterliegt daher nur einer eingeschränkten Überprüfung durch den EGMR. Die Kontrolldichte des Gerichtshofs ist allerdings flexibel und hängt vom Einzelfall ab.57 Man wird hier Argumentationsmuster des BVerfG übernehmen können. So wird der Kontrollmaßstab strenger sein, je schwerer die Beeinträchtigung wiegt. Es ist keine Seltenheit, dass der EGMR Beeinträchtigungen als unverhältnismäßig ansieht.58 d) Schutzpflichtdimension Art 8 EMRK ist die Konventionsnorm mit der am stärksten entwickelten Schutzpflichtdimension. Der Konventionstext, der in Art 8 I EMRK anders als in Art 9 bis 12 EMRK nicht nur vom Recht auf die Schutzgüter spricht, sondern vom „Recht auf Achtung" 59 der Schutzgüter, bringt die Schutzpflicht in dieser Norm besonders deutlich zum Ausdruck. Die Leitentscheidung des EGMR im Fall X und Y erging 1985.60 Sie betraf den strafrechtlichen Schutz einer geistig behinderten Frau vor sexuellem Missbrauch. Das niederländische Recht verlangte seinerzeit einen persönlichen Strafantrag der Betroffenen, den diese aber wegen ihrer geistigen Behinderung nicht rechtswirksam stellen konnte. Da das niederländische Recht eine Vertretung ausschloss, konnte der massive Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung nicht strafrechtlich geahndet werden. Der EGMR sah darin eine konventionswidrige Schutzlücke. Mittlerweile hat die Schutzpflichtdimension namentlich beim Umweltschutz erhebliche Bedeutung erlangt.6' Die Prüfung einer Schutzpflichtverletzung ist schwierig. Der Schrankenvorbehalt des Art 8 II EMRK bezieht sich ausdrücklich nur auf Eingriffe und ist daher nicht anwendbar. Insbesondere passt der Gesetzesvorbehalt nicht, wenn positive Maßnahmen des Staates verlangt werden. Erforderlich ist vielmehr eine Abwägung zwischen dem Schutzinteresse einerseits und sonstigen legitimen staatlichen Interessen andererseits. In dieser Abwägung treffen sich Eingriffsrechtfertigung und Schutzpflichtprüfung. 62 Dabei wird man sagen können, dass auch in der Schutzpflichtdimension insbesondere die in Art 8 II EMRK genannten Ziele legitim sind, doch wird man auch andere Ziele ins Auge fassen können. Bei dieser Abwägung kommt den innerstaatlichen Stellen eine weite Einschätzungsprärogative zu. Nur in eklatanten Fällen wird der EGMR einen Verstoß annehmen können. Solche Fälle kommen freilich durchaus immer wieder vor.63 Das mag nicht zuletzt an der Dynamik des Konventionsstandards liegen.

56 57 58 59 60 61 62 63

„Margin of appreciation"/„marge d'appréciation"; dazu Ovey HRLJ 19 (1998), 10 ff; Schokkenbroek HRLJ 19 (1998), 30, 31. Mock RUDH 1998, 237, 245 f. S zB EGMR, NJW 1993, 718, Rn 37 - Niemietz = Kunig JK 93, EMRK Art 8/1. „Right to respect for"/„droit au respect de". EGMR, EuGRZ 1985, 297, Rn 23-30 - X und Y. Zu den Leitentscheidungen o Fn 12 und Rn 19. Die Parallele betont EGMR, EuGRZ 1995, 530, Rn 51 - Lôpez Ostra = Kunig JK 96, EMRK Art 8/2; NVwZ 2001, 547, Rn 61 - Ciliz. ZB EGMR, EuGRZ 1995, 530, Rn 56-58 - Lôpez Ostra = Kunig JK 96, EMRK Art 8/2; NVwZ 1999, 57, Rn 5 9 f - G u e r r a .

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§3 I 1

Robert Uerpmann

e) Verfahrensdimension 28

In neueren E n t s c h e i d u n g e n des E G M R z u m Ehe- u n d K i n d s c h a f t s r e c h t wird z u d e m eine V e r f a h r e n s d i m e n s i o n v o n Art 8 E M R K erkennbar. Z u m Schutz des Familienlebens gehört es auch, dass der Staat familiäre B e z i e h u n g e n nicht über die K ö p f e der Betroffenen h i n w e g regelt u n d sie a u f diese Weise b e v o r m u n d e t . A n Verfahren, in d e n e n der Staat im Einzelfall regelnd in d a s Familienleben eingreift, sind daher alle Betroffenen hinreichend zu beteiligen.'' 4 D a kindliche A u s s a g e n in ihrer B e d e u t u n g h ä u f i g nur schwer zu würdigen sind, k a n n es sogar g e b o t e n sein, p s y c h o l o g i s c h e n Sachverstand hinzuzuziehen.'' 5 D e r G e d a n k e , dass G r u n d r e c h t e zu ihrer Verwirklichung und Sicherung a u c h Verfahrensgarantien u m f a s s e n , ist aus d e m d e u t s c h e n Verfassungsrecht bekannt.'' ( ' D i e K o n v e n t i o n enthält allerdings mit Art 6 I E M R K spezielle, weit reichende Verfahrensgarantien ( - > d a z u § 6 R n 30 ff).

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Systematische A r g u m e n t e sprechen dafür, Verfahrensgarantien jedenfalls vorrangig aus Art 6 E M R K abzuleiten. D i e A n n a h m e eigener, ungeschriebener Verfahrensgarantien aus Art 8 E M R K ist d a n n w e i t g e h e n d überflüssig. I m Fall Elshoh geht der E G M R d e n umgekehrten Weg. Z u n ä c h s t wird ein Verstoß g e g e n A r t 8 E M R K vor allem mit einem u n z u l ä n g l i c h e n Verfahren begründet.'' 7 A n s c h l i e ß e n d wird k n a p p dargelegt, dass dieselben U m s t ä n d e a u c h einen Verstoß g e g e n Art 6 I E M R K begründen.'' 1 * Art 6 I E M R K verliert d a m i t seine eigenständige B e d e u t u n g .

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Lösung Fall 1: D a M bei seinen E l t e r n lebt, wird er vom Recht auf A c h t u n g seines Familienlebens n a c h A r t 8 I E M R K geschützt. Soweit sein sonstiges L e b e n s u m f e l d in M ü n c h e n betroffen ist, k a n n er d e n Schutz seines Privatlebens geltend m a c h e n . D a die behördliche Ausweisung d a r a u f abzielt, ihm die F o r t s e t z u n g des Familien- u n d Privatlebens in M ü n c h e n u n m ö g l i c h zu m a c h e n , greift sie in beide Schutzbereiche ein. Die R e c h t f e r t i g u n g b e s t i m m t sich n a c h A r t 8 II E M R K . § 48 II 1 A u s l G genügt d e n konventionsrechtlichen A n f o r d e r u n g e n a n ein Gesetz. Als legitimes Ziel k o m m t vor allem die V e r h ü t u n g v o n S t r a f t a t e n in Betracht. M a n m a g a u c h an die A u f r e c h t e r h a l t u n g der O r d n u n g o d e r an d e n S c h u t z d e r Rechte u n d Freiheiten a n d e r e r d e n k e n . Z w e i f e l h a f t ist, o h die Ausweisung in einer d e m o k r a t i s c h e n Gesellschaft n o t w e n d i g ist. Die Frage nach einem d r i n g e n d e n sozialen B e d ü r f n i s f ü h r t zu einer V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t s p r ü f u n g . H i e r m u s s sich die P r ü f u n g auf die k n a p p e n A n g a b e n des Sachverhalts b e s c h r ä n k e n . Angesichts der bisherigen S t r a f t a t e n erscheint es wahrscheinlich, d a s s M a u c h in Z u k u n f t S t r a f t a t e n begehen würde. Die Ausweisung ist ein geeignetes Mittel, weitere S t r a f t a t e n in D e u t s c h l a n d zu verh i n d e r n , Angesichts der langen Liste v o n Vortaten ist k a u m a n z u n e h m e n , d a s s es ein milderes. gleich geeignetes Mittel gibt. Fallentscheidend ist d a m i t die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, bei der das konventionsrechtlich geschützte Bleibeinteresse des M gegen d a s öffentliche Ausweisungsinteresse abzuwägen ist. D i e u n g e w ö h n l i c h e H ä u f u n g von teilweise schwerwiegenden S t r a f t a t e n spricht f ü r die Ausweisung. Andererseits ist M trotz seiner f r e m d e n Staatsangehörigkeit

64 65 66 67 68

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E G M R . Urt v 8.7.1987. Serie A, Vol 121, Rn 62 0" W; NVwZ 2001, 547, Rn 66 71 Ciliz; Wittinger (Fn 24) S 282. E G M R . N J W 2001. 2315. Rn 52 Eisholz; E u G R Z 2001, 588, Rn 43 Sommerfeld. 1' Münch in: v Münch/Kunig (Fn 35) Vorbem Art 1 19 Rn 25 27. E G M R . N J W 2001. 2315. Rn 52 f Elsholz. E G M R . NJW 2001, 2315. Rn 66 Elsholz.

Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot

§ 3 12

materiell Inländer, Er hat nur in Deutschland gelebt und spricht kaum Türkisch, so dass offenbar Deutsch seine Muttersprache ist. Eine Ausweisung würde ihn vergleichbar treffen wie einen Deutschen. Wäre er Deutscher, könnte ihn Deutschland trotz seiner Straftaten nach Art 3 I 4.ZP F.MRK nicht ausweisen, Deutsche Staatsgewalt müsste dem Problem dann allein mit den Mitteln des Strafrechts einerseits und der Jugendhilfe andererseits begegnen. Allein die fehlende deutsche Staatsangehörigkeit rechtfertigt es nicht. M als materiellen Inländer anders zu behandeln. Der Fall weist Parallelen zur Sache Mekemi auf, in der der E G M R die Abschiebung eines straffälligen Ausländers der zweiten Einwanderergeneration als unverhältnismäßig ansah. 6 '' Zwar hielt der E G M R die Ausweisung eines im Inland geborenen Ausländers im Fall Baghli für zulässig. 7 " Im dort entschiedenen Fall war der Beschwerdeführer indes volljährig, unterhielt keine engen Beziehungen zu seinen in Frankreich lebenden Verwandten und hatte seinen Militärdienst in Algerien abgeleistet. Die Bindung an den Aufenthaltsstaat war also viel lockerer als die des M in Fall 1.

2. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art 9 EMRK) a) Schutzbereich A r t 9 E M R K ist die Parallelbestimmung zu A r t 4 I, II G G . G e s c h ü t z t werden G e d a n k e n , Gewissen, Religion u n d W e l t a n s c h a u u n g . Allgemein a n e r k a n n t e Definitionen, wie es sie f ü r die Parallelbegriffe des G r u n d g e s e t z e s gibt, 71 haben sich f ü r A r t 9 E M R K noch nicht herausgebildet. 7 2 Es zeigen sich j e d o c h erhebliche inhaltliche Ü b e r e i n s t i m m u n g e n . Wie bei A r t 4 G G wird nicht nur die innere Ü b e r z e u g u n g einer Person geschützt (sog f o r u m internum), s o n d e r n auch d a s Bekenntnis n a c h a u ß e n (sog f o r u m externum). A r t 4 I, II G G gewährleistet nach Ansicht des B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t s " bekanntlich nicht nur d a s Bekenntnis im engeren Sinn, sondern a u c h das Recht, sein ganzes Leben an den Regeln seines G l a u b e n s oder seiner W e l t a n s c h a u u n g auszurichten. A r t 9 I E M R K ist insoweit noch deutlicher, indem er das Praktizieren von B r ä u c h e n u n d Riten ausdrücklich in den Schutzbereich a u f n i m m t . Will beispielsweise eine Lehrerin a u s religiösen G r ü n d e n ein K o p f t u c h tragen, so fällt dies o h n e Weiteres in den Schutzbereich von A r t 9 I E M R K . 7 4 Dasselbe gilt f ü r das religiös motivierte Schächten. 7 5 D a s Recht der Eltern, die Erziehung ihrer K i n d e r nach eigenen religiösen u n d weltanschaulichen Ü b e r z e u g u n g e n zu gestalten, wird zusätzlich d u r c h A r t 2 S 2 l . Z P E M R K abgesichert. 7 6 E b e n s o wie A r t 4 G G schützt A r t 9 I E M R K neben der positiven Freiheit auch die negative Freiheit, keinen G l a u b e n u n d keine W e l t a n s c h a u u n g zu haben. G e s c h ü t z t werden, wie es der E G M R formuliert, auch Atheisten, Agnostiker, Skeptiker u n d Gleichgültige. 7 7 I m Übri-

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EGMR, NVwZ 1998, 164, Rn 35 37 Meheini. EGMR, NVwZ 2000. 1401. Rn 46 49 Baghli. Dazu Mager in: v Miinch/Kunig (Fn 35) Art 4 Rn 12 ff. Zur konventionsrechtlichen Kasuistik s schon o Rn 4. BVerfGE 32, 98. 106 f; kritisch Mager in: v Miinch/Kunig (Fn 35) Art 4 Rn 17. S EGMR, NJW 2001, 2871, 2872 - Dahlab = Seiweh JK 02, EMRK Art 9/1: VG Stuttgart, NVwZ 2000, 959, 960 = Ehlers JK 01, GG Art 4 I, 11/18. EGMR, RUDH 2000. 247, Rn 73 f C h a a r e Shalom Ve Tsedek. Dazu Dujniovitis in: Grabenwarter/Thienel (Hrsg) Kontinuität und Wandel in der EMRK, 1998, S 139, 153 f. EGMR. NJW 2001, 2871, 2872 Dahlab = Selweh JK 02. EMRK Art 9/1.

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§ 3 12

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gen kann die Religionsfreiheit nicht nur von einzelnen Gläubigen geltend gemacht werden, sondern auch von einer Religionsgemeinschaft. 78 b) Beeinträchtigung 32

Die Feststellung einer Beeinträchtigung kann schwierig sein. Es ergeben sich aber kaum Besonderheiten gegenüber anderen Menschen- und Grundrechten. Parallelen zum Grundgesetz zeigen sich auch hier. Beispielsweise sah der E G M R in der Versagung einer Schächtgenehmigung keinen Eingriff, weil die Gläubigen ausreichend Möglichkeiten hatten, sich aus anderen Quellen mit koscherem Fleisch zu versorgen.79 Das BVerwG argumentierte in Hinblick auf Art 4 I, II G G ähnlich, wenngleich strenger und dogmatisch konsequenter. Es stellte darauf ab, dass kein religiöses Gebot den Verzehr von koscherem Fleisch vorschreibe. Wenn der Staat das Schächten verbiete, bleibe den Gläubigen die Möglichkeit, auf Fleischimporte zurückzugreifen oder auf Fleisch ganz zu verzichten.80 Das BVerfG hat diesen restriktiven Eingriffsbegriff allerdings relativiert. Es stellt darauf ab, dass der erzwungene Verzicht auf Fleisch kaum zumutbar und dass bei Fleischimporten die Unsicherheit größer sei, ob das Fleisch tatsächlich den Glaubensgeboten entspreche.81 Damit nähert es sich der Position des E G M R an.

33

Zweifelhaft ist der Eingriffscharakter einer Abschiebung, wenn die Religions-, Gewissens- oder Gedankenfreiheit des Betroffenen in dem anderen Staat nicht gewährleistet ist. Als belastendem Staatsakt kann einer Abschiebung durchaus Eingriffsqualität zukommen, wie sich schon bei Art 8 E M R K gezeigt hat.82 Der Akt der Abschiebung selbst verhält sich allerdings in Hinblick auf den Schutzbereich von Art 9 E M R K neutral. Dessen Schutzgüter werden erst in dem anderen Staat beeinträchtigt, ohne dass der abschiebende Staat dies beabsichtigen würde. Das spricht dafür, aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht als Eingriff in Art 9 E M R K zu qualifizieren, selbst wenn dem Betroffenen im Ausland eine Beeinträchtigung der Schutzgüter des Art 9 E M R K droht. Das bedeutet nicht, dass solche Fälle konventionsrechtlich irrelevant wären. Vielmehr kann Art 9 E M R K in seiner Schutzpflichtdimension einer Abschiebung jedenfalls dann entgegenstehen, wenn die Religionsfreiheit im Ausland gravierend beeinträchtigt wird.83 Alternativ mag man daran denken, eine Abschiebung, die den Betroffenen massiven Beschränkungen seiner Religionsfreiheit aussetzt, als unmenschlich im Sinne von Art 3 E M R K zu behandeln und so zu einem Abschiebungsschutz zu kommen. 84 c) Rechtfertigung

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Die Rechte des Art 9 I E M R K sind nur zum Teil einschränkbar. Art 9 II E M R K unterwirft die Bekenntnisfreiheit einem qualifizierten Gesetzes vorbehält. Beschränkbar ist also nur das forum externum, während das forum internum vorbehält- und schrankenlos gewährleistet wird.85 Diese Differenzierung ist sinnvoll. Sie trägt der Unantastbarkeit

78 79 80 81 82 83 84 85

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E G M R , RUDH 2000, 247, Rn 72 - Cha'are Shalom Ve Tsedek. E G M R , RUDH 2000, 247, Rn 80-83 - Cha'are Shalom Ve Tsedek. BVerwGE 99, 1, 7 f; zustimmend Trute J U R A 1996, 4 6 2 , 4 6 5 f. BVerfG, NJW 2002, 663 ff. S Rn 17. So im Ergebnis auch BVerwGE 111, 223, 229 f. Zu diesem Lösungsweg noch u Rn 40 fT. Dujmovitis in: Grabenwarter/Thienel (Fn 76) S 141, 152.

Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot

§ 3 II

innerer Überzeugungen ebenso Rechnung wie dem Bedürfnis, menschliches Verhalten, das sich auf andere Menschen auswirkt, rechtlichen Regelungen zu unterwerfen. Die Schrankensystematik der Konvention ist der grundgesetzlichen in diesem Punkt überlegen. Art 4 I, II G G wird zwar weitgehend als vorbehaltloses Grundrecht verstanden, dann aber durch verfassungsimmanente Schranken relativiert.86 Art 9 II E M R K gleicht strukturell dem oben 87 besprochenen Art 8 II EMRK. Die Beschränkung muss gesetzlich vorgesehen sein, und sie muss zum Schutz eines der aufgelisteten legitimen Ziele „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein. Dem besonderen Stellenwert der Religionsfreiheit entspricht es, dass der Katalog legitimer Ziele kürzer ist als bei Art 8 II EMRK, doch dürfte diese Begrenzung angesichts der Weite der verbleibenden Rechtfertigungsgründe kaum praktische Bedeutung erlangen. Geht es darum, eine moslemische Lehrerin daran zu hindern, mit Kopftuch vor der Klasse aufzutreten, lässt sich beispielsweise an den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer denken. Will der Staat Schülerinnen und Schüler vor einer religiösen Beeinflussung schützen, verfolgt er ein legitimes Ziel. Der EGMR 8 8 führt daneben den Schutz der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung an und zeigt damit, wie wenig der Katalog legitimer Ziele als Rechtfertigungsfilter dient. Entscheidend ist die Einzelfallabwägung, in der das konventionsrechtliche Schutzgut und das legitime Beschränkungsziel zum Ausgleich zu bringen sind.8'' Im Fall der moslemischen Lehrerin, die nur mit Kopftuch unterrichten will, wird man hier ähnlich argumentieren können, wie im Rahmen von Art 4 I, II GG.1,0 Eine allgemeingültige Lösung wird sich kaum finden lassen. Wichtig sind die Umstände des Einzelfalls. Dazu gehört das konkrete Verhalten der Lehrerin ebenso wie das Alter ihrer Schülerinnen und Schüler. Prozessual kommt aus der Sicht des EGMR die eingeschränkte Kontrolldichte hinzu. Den nationalen Stellen steht ein gewisser Beurteilungsspielraum zu. Insoweit ist die europäische Kontrolle beschränkt.

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II. Schutz der persönlichen Integrität Fall 2: (EGMR, NVwZ 1998, 161, Rn 50-53 - D) Der AIDS-kranke Drogenkurier D verbüßt eine Haftstrafe im Vereinigten Königreich. Dort wird seine Krankheit gut behandelt. Nach Ende seiner Haft soll D in seinen karibischen Heimatstaat St. Christoph und Nevis abgeschoben werden. Dort ließe sich seine AIDSTherapie und Pflege nicht fortsetzen. Der Abbruch würde seine Lebenserwartung drastisch verringern. Darf D abgeschoben werden?

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Dazu kritisch Mager in: v Miinch/Kunig (Fn 35) Art 4 Rn 93. S Rn 20 ff. E G M R , N J W 2001, 2871 D a h l a b = Schock JK. 02. E M R K Art 9/1. Z u r Praxis des E G M R Dujmovitis in: Grabenwarter/Thienel (Fn 76) S 141 IT. Dazu schon o Fn 74 sowie V G H BW, N J W 2001, 2899 ff: VG Lüneburg, N J W 2001. 767 ff: Böckenförde N J W 2001, 723 IT.

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§3 III

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1. Verbot von Folter sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Bestrafung (Art 3 EMRK) a) Schutzbereiche 39

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Art 3 EMRK verbietet Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Im Grundgesetz findet diese Vorschrift keine unmittelbare Entsprechung. Sie weist sowohl Bezüge zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit iSv Art 2 II 1 GG als auch einen besonderen Menschenwürdegehalt auf. Einerseits erfasst Art 3 EMRK nicht jede Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit. So wird die Anordnung und Durchführung einer Blutprobe bei Verdacht auf Trunkenheit am Steuer schon vom Schutzbereich nicht erfasst. Insoweit kann freilich der oben91 behandelte, sehr weite Schutz des Privatlebens nach Art 8 I EMRK eingreifen.92 Andererseits kann eine Behandlung erniedrigend sein, selbst wenn sie die körperliche Unversehrtheit nicht beeinträchtigt. So würde etwa ein rassendiskriminierendes Gesetz, das Angehörige einer bestimmten Volksgruppe zwingt, in der Öffentlichkeit ein Erkennungszeichen zu tragen, von Art 3 EMRK erfasst.93 Unter dem Grundgesetz wäre insoweit neben Art 3 III 1 GG das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art 21 iVm Art 11 GG einschlägig. Eine Definition der Folter findet sich in Art 1 I 1 des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984.94 Folter ist danach „jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigenden Einverständnis verursacht werden". Die Definition des UN-Ubereinkommens ist für die Auslegung der EMRK nicht verbindlich. Dennoch wird man sie grundsätzlich als gelungene Begriffsbestimmung übernehmen können. Auch der EGMR bezieht sich auf sie.95 Drei Kriterien sind hervorzuheben: (1) Eine Beeinträchtigung muss eine hohe Intensität erreichen, um als Folter qualifiziert werden zu können. (2) Hinzu kommen muss ein finales Element. Wer foltert, will auf den Willen des Gefolterten oder eines Dritten einwirken, sei es um ein Geständnis zu erpressen, sei es um andere zu terrorisieren, zu verschrecken und zu verunsichern. (3) Schließlich muss das Verhalten zumindest mittelbar einem Staat zugerechnet werden können. Folter in diesem engen Sinn ist in EMRK-Staaten selten. Immerhin kann es auch hier insbesondere im Polizeigewahrsam zu Übergriffen kommen, die als Folter zu qualifizieren sind.96 Unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen müssen ebenfalls eine gewisse Schwere erreichen, bleiben aber unterhalb der Schwelle der Folter. Unmenschlichkeit und Erniedri-

91 92 93 94 95 96

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S Rn 3 ff. Frowein in: Frowein/Peukert Art 8 E M R K Rn 14. S auch Frowein in: Frowein/Peukert Art 3 Rn 9. BGBIII 1990,246. E G M R , N J W 2001, 2001, Rn 114 - Salman. S zB E G M R , N J W 2001, 56, Rn 96 105 - Selmouni; NJW 2001, 2001, Rn 114 f - Salman.

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§3 III

gung stehen ihrerseits in einem Stufenverhältnis, wobei die erniedrigende Behandlung die schwächste Stufe darstellt. Eine klare Abgrenzung zwischen den Alternativen der Unmenschlichkeit und der Erniedrigung ist aber weder erforderlich noch möglich. Das Feststellen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung verlangt eine Einzelfallwertung. Wichtige Kriterien sind die Intensität und die Dauer der Beeinträchtigung. Im Laufe der Zeit haben sich Fallgruppen herausgebildet. Schon 1978 wurde die staatliche Prügelstrafe auf der Isle of Man im Fall Tyrer als erniedrigend qualifiziert.97 Im Fall Soering entschied der EGMR 1989, dass die langjährige Haft in einer Todeszelle angesichts der Haftbedingungen im Widerspruch zu Art 3 EMRK stehen könne.98 In den letzten Jahren ist das Anwendungsfeld von Art 3 EMRK vor allem in Abschiebungsfallen ausgedehnt worden. Eine Abschiebung kann namentlich dann konventionswidrig sein, wenn dem Abzuschiebenden im Heimatstaat staatliche oder nichtstaatliche Verfolgung droht.99 Voraussetzung ist freilich das Vorliegen „substanzieller Gründe", die eine „tatsächliche Gefahr" darlegen.100 Die Begriffe des Art 3 EMRK unterliegen dabei einer dynamischen Auslegung.'01 Sie bringen einen gemeineuropäischen Wertmaßstab zum Ausdruck, der sich fortentwickelt. Was, wie die Prügelstrafe auf der Isle of Man, bei der Schaffung der EMRK 1950 vielleicht noch zulässig war, konnte bereits 1978 als erniedrigend erscheinen.102 Gerade bei Übergriffen in Polizeigewahrsam stellen sich häufig Beweisfragen. An sich ist das relevante staatliche Verhalten positiv festzustellen. Bei Misshandlungen in Polizeigewahrsam ist die Sicherung der nötigen Beweise allerdings vielfach fast nur dem beschuldigten Staat möglich. Daher arbeitet der EGMR hier seit einigen Jahren mit einer Beweiserleichterung. Ist eine Person bei der Ingewahrsamnahme guter Gesundheit und verlässt sie den Gewahrsam mit Verletzungen, so obliegt es dem Staat, dafür eine plausible Erklärung zu liefern.103 Vermag er das nicht, stellt der EGMR eine Verletzung von Art 3 EMRK fest. Der Sache nach handelt es sich um einen Anscheinsbeweis.104 Den Staaten wird damit die Obliegenheit auferlegt, Verletzungen während der Haft und ihre Ursachen zu dokumentieren, um einer Verurteilung wegen Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu entgehen.

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b) Beeinträchtigung Folter liegt schon begrifflich nur vor, wenn staatliche Organe Schmerzen oder Leiden zufügen. Auch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe muss vom Staat ausgehen, damit eine Beeinträchtigung vorliegt.

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EGMR, EuGRZ 1979, 163, Rn 29-35 - Tyrer. EGMR, EuGRZ 1989, 314, Rn 105-111 - Soering = Kunig JK 90, EMRK Art 3/1. Kälin in: Hailbronner/Klein (Hrsg) Einwanderungskontrolle und Menschenrechte, 1999, S 49, 54 f. Trechsel in: Barwig/Brinkmann ua (Hrsg) Ausweisung im demokratischen Rechtsstaat, 1996, 223, 237-240; s auch EGMR, NVwZ 1998, 163, Rn 37 - H.L.R. Kälin in: Hailbronner/Klein (Fn 99) S 57 ff; dagegen im ausländerrechtlichen Zusammenhang kritisch Hailbronner DÖV 1999, 617, 620 f. EGMR, EuGRZ 1979, 163, Rn 31 - Tyrer. EGMR, EuGRZ 1996, 504, Rn 34 - Ribitsch; NJW 2001, 56, Rn 87 - Selmouni; dazu Rudolf EuGRZ 1996, 497 ff. Rudolf EuGRZ 1996,497, 500 f.

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Umstritten ist, ob und wann aufenthaltsbeendende Maßnahmen als Eingriff gewertet werden können. Auf das Verhalten des Drittstaats wird man entgegen der Auffassung des 9. Senats des BVerwG105 kaum abstellen können. Dieser ist häufig nicht einmal Vertragsstaat der EMRK. Außerdem geht es nicht um sein konventionswidriges Verhalten, sondern um die Konventionswidrigkeit der Auslieferung oder Abschiebung.106 Maßgebend ist, ob die Auslieferung oder Abschiebung in Anbetracht ihrer Folgen unmenschlich oder erniedrigend ist.107 Gegen eine solche Qualifizierung mag man einwenden, dass der ausliefernde oder abschiebende Staat die Bedrohung in dem anderen Staat nicht zu verantworten habe. Dann ließe sich der Schutz vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen nicht über die Eingriffsabwehrfunktion des Art 3 EMRK begründen, sondern nur über eine Schutzpflichtdimension.108 Auch dieser Weg scheint aber nicht richtig. Für eine Schutzpflicht wäre das Vorverhalten des Konventionsstaates in Form der aufenthaltsbeendenden Maßnahme unerheblich. Was die Konvention ächtet, ist aber gerade die aufenthaltsbeendende Maßnahme, die den Betroffenen unmenschlichen oder erniedrigenden Bedingungen aussetzt. Dieses staatliche Tun ist daher als Beeinträchtigung zu werten. Stellt man in dieser Weise auf das Verhalten des Konventionsstaates ab, ist es unerheblich, von wem die Gefahr im Drittstaat ausgeht.109 Verfolgung durch den Drittstaat macht die Auslieferung oder Abschiebung durch den Konventionsstaat ebenso konventionswidrig wie die Verfolgung durch andere Personen oder sonstige unmenschliche Lebensbedingungen. c) Rechtfertigung

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Die Garantie des Art 3 EMRK ist vorbehaltlos und ausweislich Art 15 II EMRK auch notstandsfest. Gibt es einen hinreichenden Grund, in die körperliche Unversehrtheit einzugreifen, wird der Eingriff regelmäßig schon nicht als unmenschlich, als erniedrigend oder gar als Folter zu qualifizieren sein. Fällt eine Behandlung dagegen in den Schutzbereich des Art 3 EMRK, steht zugleich ihre Konventionswidrigkeit fest. Art 3 EMRK hat in diesem Sinne einen absoluten Charakter.' 10 Eine Parallele zur deutschen Figur verfassungsimmanenter Schranken kennt die EMRK nicht.111 Diese Figur ist Ausdruck einer unzulänglichen Schrankensystematik des Grundgesetzes. Dieses enthält mehrere vorbehaltlose Grundrechte, die offenkundig gewissen Schranken unterliegen müssen. Demgegenüber weisen die Garantien der EMRK wesentlich weiter gehende Schrankenvorbehalte auf, die immanente Schranken überflüssig machen. Art 3 EMRK ist dagegen ein Recht, das nicht nur vorbehaltlos garantiert ist, sondern ebenso wie Art 1 I GG auch schrankenlos. Einschränkungen werden für seltene Ausnahmefalle diskutiert. Dabei geht es etwa um folgendes Szenario: A hat in einer Stadt eine Bombe an einem belebten Platz versteckt, die in zwei Stunden explodieren wird. Die Polizei weiß, dass A und niemand sonst den Platz kennt, doch A schweigt beharrlich. Darf A mit „besonderen Vernehmungsmethoden" dazu gebracht werden, das Versteck preiszugeben? Würde man in

105 106 107 108 109

BVerwGE 99, 331, 334 f; 105, 187, 188 fr; 111,223,227. Trechselvcr. Barwig/Brinkmann (Fn 100) S 234. Kälin in: Hailbronner/Klein (Fn 99) S 63-67. Zu diesem Ansatz Jaeckel (Fn 43) S 162 f. Gusy ZAR 1993, 63, 66; s auch Alleweldt Schutz vor Abschiebung bei drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, 1996, S 15, 26. 110 EGMR, NJW 2001, 56, Rn 95 - Selmouni. 111 Jacobs! White (Fn 36) S 299.

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einer derartigen Extremsituation unter Hinweis auf A r t 2 I E M R K d e m Schutz des Lebens Dritter V o r r a n g e i n r ä u m e n vor d e m Verbot der Folter, 112 ließe sich M i s s b r a u c h k a u m kontrollieren. Vorzugswürdig erscheint es, a m strikten Folterverbot festzuhalten u n d eine derartige A u s n a h m e s i t u a t i o n , sollte sie je eintreten, a m R a n d e der Legalität zu lösen. Jedenfalls k a n n es k a u m angehen, zur A b w e h r möglicher Terroranschläge gleichsam a u f Verdacht zu foltern. d) S c h u t z m e c h a n i s m e n Konventionsverletzungen k ö n n e n nach A r t 33 ff E M R K mit der Beschwerde vor d e m E G M R gerügt werden (-> § 2 R n 43 ff). F ü r A r t 3 E M R K gilt insoweit nichts besonderes. Dieser Schutz greift allerdings nur ein, wenn eine individuelle Verletzung festgestellt werden k a n n . E r f a h r u n g s g e m ä ß d r o h e n Verletzungen von A r t 3 E M R K besonders d o r t , wo staatliche Stellen Personen in G e w a h r s a m halten. G e r a d e in diesen Situationen ist der Nachweis von Folter o d e r unmenschlicher oder erniedrigender B e h a n d l u n g besonders schwierig. Z u d e m werden eingeschüchterte Betroffene sich h ä u f i g scheuen, die Angelegenheit vor G e r i c h t zu b r i n g e n . 1 " Auf die Beweisprobleme hat der E G M R in den letzten Jahren mit der oben 1 1 4 beschriebenen Beweiserleichterung reagiert. U n a b h ä n g i g davon erschien es sinnvoll, den Schutz von Personen in staatlichem G e w a h r s a m d u r c h ein zusätzliches, präventives Verfahren zu sichern. Z u diesem Zweck w u r d e a m 26.11.1987 das E u r o p ä i s c h e Ü b e r e i n k o m m e n zur V e r h ü t u n g von Folter u n d unmenschlicher oder erniedrigender B e h a n d l u n g oder Strafe abgeschlossen. 1 1 5 Materiellrechtlich k n ü p f t das U b e r e i n k o m m e n in seiner P r ä a m b e l u n d mit seiner W o r t w a h l an d a s Verbot des A r t 3 E M R K an. 11 " Verfahrensrechtlich schafft es einen Europäischen Ausschuss zur V e r h ü t u n g von Folter u n d unmenschlicher oder erniedrigender B e h a n d l u n g o d e r Strafe. 117 D e r Ausschuss ist mit u n a b h ä n g i g e n Mitgliedern aus allen Vertragsstaaten besetzt. 11 * Seine A u f g a b e ist es, Gefängnisse u n d a n d e r e H a f t o r t e zu besuchen u n d d a r ü b e r Berichte anzufertigen."" Dabei hat er z u m Teil a l a r m i e r e n d e Z u s t ä n d e aufgedeckt, aber auch Verbesserungen bewirken können. 1 -" Die S c h u t z m e c h a n i s m e n der E M R K werden d u r c h das U b e r e i n k o m m e n von 1987 nur ergänzt, nicht geschmälert. 1 2 1 Lösung Fall 2: Die Abschiebung des D könnte als unmenschliche Behandlung gegen Art 3 E M R K verstoßen. Entgegen der Auffassung des BVerwG kommt es dabei nicht darauf an. ob dem Betroffenen eine unmenschliche Behandlung durch seinen Heimatstaat droht. Maßgeblich ist allein, ob das Verhalten britischer Staatsgewalt als unmenschlich zu qualifizieren ist. Eine

112 113 114 115 116 117 118 119 120

So Brugger JZ 2000, 165, 169 f. AUewcldt EuGRZ 1998, 245, 246. S Rn 42. BGBl II 1989, 946; geändert durch zwei Zusatzprotokolle vom 4.11.1993 BGBl II 1996 1114 AikwcUh EuGRZ 1998, 245, 248. Art 1 des Übereinkommens. Art 4 f des Übereinkommens. Art 7 IT des Übereinkommens. S die Würdigung von AUemUh EuGRZ 1998, 245. 249 ff; speziell zur Türkei den EuGRZ 7000 193 f. " ' 121 Art 17 II des Übereinkommens. 122 BVerwGE 99, 331, 334 f; 105, 187, 188 ff; 1 11, 223, 227.

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Abschiebung des D hätte konkret vorhersehbares gravierende Folgen. Sie würde ihn mit Sicherheit einem nahen Tod aussetzen. Unter heutigen Bedingungen wird man davon ausgehen können, dass ein staatlicher Aki, der die Fortsetzung einer laufenden, lebensnotwendigen medizinischen Behandlung unmöglich macht, grundsätzlich unmenschlich ist. Die Abschiebung beeinträchtigt damit Art 3 EMRK. Da eine Beeinträchtigung dieser Garantie nicht zu rechtfertigen ist, darf D nicht abgeschoben werden. Für Deutschland stellt § 53 IV AuslG klar123, dass ein entsprechendes Abschiebungshindernis auch innerstaatlich zu beachten ist. 2. Recht auf Leben (Art 2

EMRK)

a) Schutzbereich 48

Art 2 I 1 E M R K schützt menschliches Leben. Der Schutz besteht bis zum Tod. Es erscheint sachgerecht, dabei auf den Hirntod abzustellen. Schwieriger ist der Beginn des Schutzes zu bestimmen. Geschützt werden jedenfalls geborene Menschen. Der Schutz des ungeborenen Lebens ist umstritten. Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat einen Schutz unter Hinweis auf die Schranken abgelehnt. 124 Es wäre unverständlich, so der Verfassungsgerichtshof, wenn zwar sogar geborene Menschen unter Umständen getötet werden dürften, die Tötung ungeborenen Lebens hingegen selbst im Falle besonderer Indikation ausgeschlossen sei. Gegen diese Argumentation spricht, dass die Schrankenbestimmungen nur im Falle staatlicher Eingriffe Anwendung finden.125 Nimmt ein privater Arzt auf Wunsch der Schwangeren einen Schwangerschaftsabbruch vor, liegt kein Eingriff vor. Art 2 I 2, II E M R K stünden einer Abtreibung durch Private also nicht entgegen. Damit gibt es keinen durchgreifenden Grund, ungeborenes menschliches Leben aus dem Schutzbereich auszuklammern. 12 '' Der genaue Beginn ist damit freilich noch nicht festgelegt. Namentlich sind etwa Fragen der Stammzellenforschung durch die Einbeziehung ungeborenen Lebens in den Schutzbereich nicht präjudiziert. Solange angesichts neuer medizinisch-technischer Entwicklungen gemeinsame Standards der europäischen Staaten nicht einmal ansatzweise erkennbar sind, ist es nicht Aufgabe des E G M R , in diesem Bereich eine Vorreiterrolle zu übernehmen. 127 Überdies werden regelmäßig Rechtssubjekte fehlen, die diese Fragen als Selbstbetroffene im Wege der Individualbeschwerde nach Art 34 E M R K vor den Gerichtshof bringen könnten.

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Im Gegensatz zu anderen Freiheitsrechten umschließt Art 2 I 1 E M R K nicht die negative Freiheit, nicht zu leben. 128 Ebenso wenig wie unter dem Grundgesetz 129 umfasst das Recht auf Leben unter der E M R K ein Recht auf Selbstmord oder auf aktive Sterbehilfe. Das schließt nicht aus, dass die Selbstbestimmung über das eigene Leben in den Schutz-

123 Z u m rein deklaratorischen C h a r a k t e r der Vorschrift BVerwGE 99. 331, 333. 124 Österreichischer VerfGH, E u G R Z 1975, 74, 78.

125 Kncihs in: Grabenwartcr/Thienel (Fn 76) S 21, 37 f. 126 Frowein in: Frowein/Peukert Art 2 E M R K R n 3; anders allerdings Kncihs in: Grabenwarter/ Thienel (Fn 76) S 40 f. 127 Z u r Z u r ü c k h a l t u n g der Konventionsorgane Trcchscl in: Benedek/Isak/Kicker (Hrsg) Development and Developing International and European Law, 1999, S 671, 672 f. 128 E G M R , E u G R Z 2002, 234, R n 39 f Pretty.

129 Dazu Kunig in: v Münch/Kunig (Fn 35) Art 2 Rn 50.

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bereich von Art 8 I EMRK fällt.' 30 Ein Staat kann jedoch die Sterbehilfe nach Art 8 II EMRK zum Schutz des Lebensrechts der anderen Person beschränken.131 Da das Lebensrecht nach Art 2 I 1 EMRK unverzichtbar ist, darf sich der Staat beim Verbot der Sterbehilfe auch über den Willen des Sterbewilligen hinwegsetzen. Dabei kann vor allem die Missbrauchsgefahr ein Grund dafür sein, Sterbehilfe zu verbieten. Eine räumliche Einschränkung erfahrt der Schutzbereich wie bei jedem Konventionsrecht durch Art 1 EMRK (—> dazu § 2 Rn 26). Diese Einschränkung ratione loci wird vor allem bei Militäreinsätzen im Ausland relevant. Der EGMR hat sich in Zusammenhang mit den NATO-Angriffen auf Belgrad im Zuge des Kosovo-Konflikts grundsätzlich zu der Frage geäußert.132 Art 1 EMRK beschränkt den Anwendungsbereich der Konvention auf solche Personen, die der Hoheitsgewalt der Konventionsstaaten unterstehen. Die deutsche Übersetzung ließe sich vom Wortlaut her dahin verstehen, dass jede faktische Auswirkung mitgliedstaatlicher Hoheitsgewalt der Konvention unterfällt. Dann wäre allerdings die ausdrückliche Anknüpfung an die Hoheitsgewalt in Art 1 EMRK überflüssig. Der Zusatz würde nur besagen, dass die Verantwortlichkeit stets bei einem staatlichen Verhalten ansetzt. Das versteht sich von selbst.133 Im Übrigen ist allein der Originaltext maßgeblich. Im Englischen heißt es „jurisdiction", im Französischen „juridiction". Diese Begriffe bezeichnen eher die staatliche Regelungskompetenz. Da die Hoheitsgewalt eines Staates rechtlich vor allem territorial begrenzt wird, fallen extraterritoriale Akte danach nur ausnahmsweise in den Schutzbereich der Konventionsrechte.'34 Die Konvention soll damit nach Ansicht des EGMR vorrangig solche Personen schützen, die sich in den europäischen Konventionsstaaten aufhalten, nicht aber das Handeln der Konventionsstaaten weltweit begrenzen. Ein Militäreinsatz im Ausland begründet noch keine Hoheitsgewalt über die dort lebenden Menschen, die den Anwendungsbereich der Konvention nach Art 1 EMRK eröffnen würde. Angriffe im Ausland, die dort Menschen töten, fallen also nicht in den Schutzbereich von Art 2 EMRK. Anders verhält es sich beispielsweise im Falle der militärischen Besetzung, dh wenn ein Konventionsstaat die Staatsgewalt in einem fremden Gebiet effektiv kontrolliert. So hatte der EGMR keine Bedenken, die Türkei für eine Verletzung von Art 2 EMRK in Nordzypern verantwortlich zu machen.135 Dort kam allerdings zusätzlich hinzu, dass sich die Bevölkerung Nordzyperns aufgrund der Konventionsmitgliedschaft Zyperns ohnehin im räumlichen Geltungsbereich der Konvention befand.

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b) Beeinträchtigung In der Eingriffsabwehrfunktion verbietet Art 2 EMRK Tötungen, die dem Staat zuzurechnen sind. Ein Tötungsvorsatz ist nicht erforderlich.136 Eine Beeinträchtigung liegt insbesondere dann vor, wenn staatlicher Schusswaffengebrauch zum Tode führt, gleichviel ob der Tod beabsichtigt war oder lediglich eine ungewollte Folge ist. Beruht der Tod auf

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Zur Weite dieses Schutzbereichs schon oben Rn 3 ff. EGMR, EuGRZ 2002, 234, Rn 68 ff - Pretty. EGMR, EuGRZ 2002, 133, Rn 54 ff - Bankovic. S Schröder in: Graf Vitzthum VR 7. Abschn Rn 13. Frowein in: Frowein/Peukert Art 1 EMRK Rn 4. EGMR, Urt v 10.5.2001, http://hudoc.echr.coe.int/, Rn 75 ff, 131 ff - Zypern; in Anknüpfung an EGMR, EuGRZ 1997, 555, Rn 52 ff - Loizidou. 136 EGMR, NJW 2001, 1991, Rn 78 - Ogur; NJW 2001, 2001, Rn 98 - Salman.

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privatem Verhalten oder auf Naturereignissen, liegt kein Eingriff vor. Das gilt etwa in dem oben angesprochenen Fall des Schwangerschaftsabbruchs. Auch wenn ein Privater in Notwehr nach § 32 StGB einen Menschen tötet, liegt kein Eingriff vor. Art 2 I 1 EMRK kommt dann nur in seiner Schutzpflichtdimension zum Tragen.137 An sich sind die Umstände, die die staatliche Verantwortlichkeit für den Tod begründen, positiv festzustellen. Stirbt eine Person in polizeilichem Gewahrsam, wird ein solcher Nachweis häufig allerdings ähnlich schwer zu führen sein wie in den oben138 angesprochenen Fällen von Folter oder unmenschlicher Behandlung. Daher arbeitet der EGMR hier mit einer Beweislastumkehr.139 Ist eine Person bei der Ingewahrsamnahme guter Gesundheit und weist der Leichnam später Verletzungen auf, so ist es Sache des Staates, dies zu erklären. Vermag er angesichts dieser Indizien nicht nachzuweisen, dass der Tod ohne staatliche Einwirkung eingetreten ist, wird ein Eingriff festgestellt. Fraglich ist, ob die Auslieferung bei drohender Todesstrafe in das Recht auf Leben eingreift. Begnügt man sich damit, dass der ausliefernde Staat eine notwendige Bedingung für eine spätere Verurteilung und Hinrichtung setzt, lässt sich ein Eingriff annehmen. Dafür spricht auch, dass die Auslieferung gerade zum Zwecke der Strafverfolgung und -Vollstreckung erfolgt. Liefert der Staat trotz drohender Todesstrafe aus, nimmt er diese Folge zumindest billigend in Kauf. Lässt man den indirekten Zurechnungszusammenhang für eine Tötungshandlung nicht ausreichen, wäre Art 2 EMRK in seiner Schutzpflichtdimension angesprochen. Außerdem wäre dann eine Lösung über Art 3 EMRK zu erwägen. Es lässt sich ohne weiteres annehmen, dass eine Auslieferung bei drohender Todesstrafe eine unmenschliche Behandlung darstellt. Der EGMR entschied 1989 im Fall Soering anders.140 Damals hatte aber das Vereinigte Königreich als Beschwerdegegner das 6. Zusatzprotokoll, das die Todesstrafe verbietet, noch nicht ratifiziert. Unter Geltung des 6. Zusatzprotokolls ist anders zu entscheiden.141 c) Rechtfertigung

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Art 2 EMRK enthält keine einheitliche Schrankenbestimmung, sondern mehrere Ausnahmen und Schranken, die auf Abs 1 S 2 und Abs 2 verteilt sind. Die beiden Sätze sind in der sprachlichen Konstruktion nicht gut aufeinander abgestimmt, was die Auslegung erschwert. Ergänzt werden die Schrankenbestimmungen durch das Verbot der Todesstrafe im 6. Zusatzprotokoll. aa) Einschränkung und Verbot der Todesstrafe

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1950 wurde die Todesstrafe konventionsrechtlich noch nicht verboten. Art 2 1 2 EMRK stellt lediglich besondere Rechtfertigungsanforderungen. Die Verhängung der Todesstrafe steht danach unter Gesetzes- und Gerichtsvorbehalt. Außerdem wird die Verhängung auf Verbrechen, also auf besonders schwere Straftaten begrenzt. Das 6. Zusatzprotokoll vom 28.4.1983 schafft die Todesstrafe in Art 1 ab. Verhängung und Vollstreckung sind verboten. Lediglich in Kriegszeiten sind nach Art 2 6. ZP EMRK

137 138 139 140 141

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Dazu u Rn 61 fT. S Rn 42. EGMR, NJW 2001, 2001, Rn 100-103 - Salman. EGMR, EuGRZ 1989, 314, Rn 101-103 - Soering = Kunig JK 90, EMRK Art 3/1. S auch Trechsel in: Benedek/Isak/Kicker (Fn 127) S 678.

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Ausnahmen zulässig. Ansonsten ist das Verbot nach Art 3 notstands- und nach Art 4 6. ZP EMRK vorbehaltsfest. Das 13. Zusatzprotokoll, das am 3.5.2002 unterzeichnet wurde, aber noch nicht in Kraft getreten ist,142 wird auch die Ausnahmen für Kriegszeiten entfallen lassen, so dass das Verbot der Todesstrafe dann absolut gilt. bb) Verteidigung von Personen Nach Art 2 II lit a EMRK ist eine Tötung gerechtfertigt, wenn sie aus einer Gewaltanwendung folgt, die zur Verteidigung einer Person gegen rechtswidrige Gewalt unbedingt erforderlich ist. Das betrifft vor allem den polizeilichen Schusswaffengebrauch. Es fallt auf, dass die Vorschrift keinen Gesetzesvorbehalt enthält, sondern lediglich materielle Anforderungen normiert.143 Der Text stellt allein auf den Schutz von Personen ab. Die Verteidigung von Sachwerten rechtfertigt tödliche Schüsse nach der Konvention nicht. Fraglich ist, ob Art 2 II EMRK auch einen sog finalen Todesschuss zu rechtfertigen vermag. Dagegen könnte Art 2 1 2 EMRK sprechen. Wird dort die absichtliche Tötung mit Ausnahme der Todesstrafe verboten, scheint Abs 2 nur unbeabsichtigte Tötungen zu erfassen. Es erscheint allerdings kaum stimmig, die rein repressive Tötung eines Menschen im Rahmen des Strafrechts zu erlauben, hingegen die gezielte Tötung zur Rettung anderer Menschenleben ausnahmslos auszuschließen. Abs 2 ist daher als gleichberechtigte Schranke neben Abs 1 S 2 zu lesen. Auch die gezielte Tötung eines Menschen kann durch Art 2 II lit a EMRK gerechtfertigt sein.144 Freilich setzt Art 2 II EMRK voraus, dass die Gewaltanwendung „unbedingt erforderlieh" ist. Im Vergleich zu Art 8 II EMRK, wo es heißt, dass der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein muss, stellt Art 2 II EMRK mit dem qualifizierenden „unbedingt" gesteigerte Rechtfertigungsanforderungen.145 Der Gewalteinsatz unterliegt damit besonders strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen. So wird beispielsweise einem gezielten Schuss regelmäßig ein Warnschuss vorauszugehen haben, es sei den, dass er ausnahmsweise den Verteidigungserfolg konterkarieren würde. Je höher das Risiko ist, dass der Angreifer getötet wird, desto größer muss die abzuwendende Gefahr sein.

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cc) Weitere Schranken Art 2 II EMRK kennt weitere Fälle, in denen staatliche Gewalt, die zum Tode führt, gerechtfertigt ist. Lit b nennt die Gewaltanwendung zur Festnahme oder zur Fluchtverhinderung, lit c die Gewaltanwendung, um Aufruhr oder Aufstand niederzuschlagen. In beiden Fällen gelten die strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen, die schon unter Rn 58 angesprochen wurden. Gezielte Todesschüsse werden hier kaum je zu rechtfertigen sein. Eine letzte Ausnahme sieht Art 15 EMRK vor. Die selten angewandte Vorschrift gestattet in ihren Abs 1, 2 unter engen Voraussetzungen die Einschränkung der Konvention

142 Abrufbar unter http://conventions.coe.int/. 143 Trechsel in: Benedek/Isak/Kicker (Fn 127) S 681. 144 E G M R , HRLJ 16 (1995), 260, Rn 148, 199 f - McCann; Kneihs in: Grabenwarter/Thienel (Fn 76) S 33 f. 145 E G M R , N J W 2001, 1991, Rn 78 - Ogur; N J W 2001, 2001, Rn 98 - Salman; Kneihs in: Grabenwarter/Thienel (Fn 76) S 31 ff.

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im Kriegs- oder Notstandsfall. Nach Art 15 II EMRK sind unter diesen Voraussetzungen auch Tötungen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen zulässig. Die Konvention verweist damit auf die Rechtmäßigkeitsanforderungen des humanitären Völkerrechts, wie sie namentlich in den vier Genfer Rot-Kreuz-Konventionen von 1949 sowie im 1. Zusatzprotokoll zu diesen Konventionen von 1977 niedergelegt sind.146 Bei Militäreinsätzen außerhalb des Konventionsgebietes bedarf es der speziellen Rechtfertigung über Art 15 EMRK nicht. Sie fallen nach dem oben147 Gesagten von vornherein nicht in den Anwendungsbereich der Konvention. d) Schutzpflichtdimension 61

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Geht der Tod nicht auf staatliches Verhalten zurück, sondern auf privates Verhalten oder auf ein Naturereignis, so ist Art 2 1 1 EMRK in seiner Schutzpflichtdimension angesprochen. Dabei sind nicht nur präventive Maßnahmen zum Schutz des Lebens geboten.148 Vielmehr muss der Staat das Leben auch dadurch schützen, dass Tötungen unter Strafe gestellt und verfolgt werden.149 Auf der Ebene des materiellen Strafrechts ist vor allem die Notwehrproblematik umstritten. Grundsätzlich hat der Staat das private Notwehrrecht so zu beschränken, dass das Leben des Angreifers ausreichend geschützt wird.150 Dabei gelten aber nicht die engen Schranken des Art 2 II lit a EMRK. 1S1 So kann unter Umständen auch die Verteidigung von Sachwerten mit lebensgefährlicher Gewalt hingenommen werden, ohne dass der Staat seine Schutzpflicht verletzen würde. Bei einem extremen Missverhältnis zwischen dem verteidigten Rechtsgut und der Lebensbedrohung wird der Staat aber einschreiten müssen. Bei der notwendigen Abwägung kann man sich auch an den Wertungen des Art 2 II EMRK orientieren,152 wenn man berücksichtigt, dass diese Schranken gerade nicht unmittelbar anwendbar sind. In der Gerichtspraxis spielt die konventionsrechtliche Notwehrproblematik nahezu keine Rolle.153 Das mag allerdings auch daran liegen, dass entsprechende Fälle von vornherein nicht zur Anklage gebracht werden. Der strafrechtliche Schutz darf nicht nur auf dem Papier stehen, sondern er muss effektiv durchgesetzt werden. Das bedeutet insbesondere, dass der Staat dort, wo die Todesursache nicht von vornherein klar ist, eine Untersuchung mit den Ziel einzuleiten hat, die Todesursache zu klären und Beweise zu sichern.154 Die Ermittlungen müssen geeignet sein, zur Identifizierung und Bestrafung etwaiger Verantwortlicher zu führen.155 146 Dazu Bothe in: Graf Vitzthum VR 8. Abschn Rn 56 ff. 147 S Rn 50. 148 Zur Versagung medizinischer Versorgung EGMR, Urt v 10.5.2001, http://hudoc.echr.coe.int/, Rn 219-Zypern. 149 Trechsel in: Benedek/Isak/Kicker (Fn 127) S 673 ff. 150 Das deutsche strafrechtliche Schrifttum nimmt diese Schutzpflichtdimension kaum zur Kenntnis; s LencknerlPerron in: Schönke/Schröder (Hrsg) Strafgesetzbuch, 26. Aufl 2001, § 32 Rn 62; TröndlelFischer Strafgesetzbuch, 50. Aufl 2001, § 32 Rn 21 sowie KleinknechtlMeyer-Goßner Strafprozessordnung, 45. Aufl 2001, A 4 MRK, Art 2 Rn 3, jeweils mwN. 151 S Rn 48 ff. 152 So Kneihs in: Grabenwarter/Thienel (Fn 76) S 38 f.; ähnlich Frowein in: Frowein/Peukert Art 2 EMRK Rn2, 11. 153 Uerpmann (Fn 1) S 25 f. 154 EGMR, NJW 2001, 2001, Rn 104 f - Salman. 155 EGMR, NJW 2001, 1991, Rn 88 - Ogur; NJW 2001, 1989-Grams.

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Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot

§ 3 III 1

Das setzt namentlich voraus, dass die Untersuchungsbehörde hinreichend unabhängig ist.15(1 Staatlicher Ermittlungen bedarf es insbesondere auch dann, wenn eine Person in staatlichem Gewahrsam zu Tode kommt. 1 "

III. Diskriminierungsverbot Fall 3: (EGMR. EuORZ 1995. 392 tT - Karlheinz Schmidt = Kunig JK 95, E M R K Art 14/1) In Baden-Württemberg und Bayern bestand bis Mitte der 90er Jahre eine Feuerwehrdienstpflicht für Männer. Männer, die keinen Dienst leisteten, mussten stattdessen eine Abgabe zahlen. Tatsächlich wurde niemand gegen seinen Willen zürn Dienst in der Freiwilligen Feuerwehr verpflichtet, doch war die Feuerwehrabgabe ein wichtiges Finanzierungsinstruraent Frauen unterlagen keiner Dienst- und damit auch keiner Abgabenpflicht. Ein Mann aus Baden-Württemberg griff die ihn treffende Abgabenpflicht mit der Beschwerde in Straßburg an. 1. Das akzessorische

Diskriminierungsverbot

des Art 14

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EMRK

a) Akzessorietät Art 14 E M R K ist ein akzessorischer Gleichheitssatz. Er knüpft an den „Genuß der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten" an und greift daher nur ein, wenn ein anderes Recht der Konvention zumindest vom Schutzbereich her einschlägig ist. Auf eine Verletzung des anderen Rechts kommt es nicht an. Nicht einmal ein Eingriff in das andere Recht muss festgestellt werden. 158 Zu den Konventionsrechten, an die Art 14 E M R K anknüpft, zählen auch die Garantien der Zusatzprotokolle. Die Vorschrift spricht zwar nur von Konventionsrechten, doch sind ihnen die Rechte der Zusatzprotokolle durch entsprechende Vorschriften in den Zusatzprotokollen" 9 gleichgestellt. Die Akzessorietät führt dazu, dass der E G M R staatliches Verhalten in Sachbereichen, die die E M R K thematisch nicht erfasst, auch nicht auf Gleichheitsverstöße überprüfen kann. Das gilt namentlich im Bereich sozialer Rechte. Die E M R K unterscheidet sich insoweit vom Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966. Dessen Art 26 ist vom Wortlaut her nicht akzessorisch. Dementsprechend wendet ihn der UN-Menschenrechtsausschuss auch im Bereich sozialer Rechte an. 160 Die Akzessorietät mag früher sinnvoll gewesen sein. Heute wirkt sie zunehmend anachronistisch. Daher wurde am 4.11.2000 ein 12. Zusatzprotokoll zur E M R K abgeschlossen. 161 Sein Art 1 greift den Wortlaut von Art 14 E M R K auf, formt das Recht aber zu einem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus. Bislang ist dieses Zusatzprotokoll noch nicht in Kraft getreten.

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Die Akzessorietät führt dazu, dass Art 14 E M R K relativ geringe Bedeutung hat. Ist bereits ein Freiheitsrecht verletzt, verzichtet der E G M R häufig darauf, zusätzlich einen Gleichheitsverstoß zu prüfen."'- Ist der Eingriff in ein Freiheitsrecht gerechtfertigt, wird in

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156 157 158 159 160 161 162

E G M R . N J W 2001, 1991, Rn 91 Ogur. E G M R , N J W 2001, 2001, Rn 105 - Salman. E G M R . R U D H 2000, 247. Rn 86 f C h a ' a r e Shalom Ve Tsedek. Art 5 1. ZP. Art 6 4. ZP. Art 6 6. ZP, Art 7 7. ZP. Zu den damit verbundenen Problemen KimiglUerpmcmn Übungen S 208. A b r u f b a r unter http://conventions.coe.int/. ZB E G M R . E u G R Z 1985, 297, Rn 32 - X und Y; N J W 2000, 2089, Rn 115 f

Smith und Grady.

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§ 3 III 1

Robert Uerpmann

den meisten Fällen auch keine sachwidrige Ungleichbehandlung vorliegen. Art 14 EMRK kommt daher nur selten zum Zuge. b) Ungleichbehandlung 67

Art 14 EMRK verbietet Diskriminierungen, also sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen. Die Vorschrift führt eine Reihe von Merkmalen auf, die als Anknüpfungspunkt für Ungleichbehandlungen grundsätzlich unzulässig sind. Sie ähnelt insoweit dem speziellen Gleichheitssatz des Art 3 III GG. Die Aufzählung ist jedoch ausweislich des Wortes „insbesondere" nur beispielhaft. Verboten ist jede Diskriminierung, gleich aus welchen Gründen. Art 14 EMRK ist ein allgemeiner Gleichheitssatz wie Art 3 I GG. Damit stimmt die Prüfungsstruktur der beiden Gleichheitsrechte bis auf die Akzessorietätsproblematik weitgehend überein. Bei beiden Normen ist eine Ungleichbehandlung festzustellen, die den Anwendungsbereich des Gleichheitssatzes eröffnet. c) Rechtfertigung

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Eine verbotene Diskriminierung liegt nur vor, wenn die festgestellte Ungleichbehandlung nicht sachlich gerechtfertigt ist. In Deutschland ist die Gleichheitsdogmatik relativ weit ausdifferenziert. Es wird zwischen dem allgemeinen und speziellen Gleichheitssätzen unterschieden, und innerhalb des allgemeinen Gleichheitssatzes hat das BVerfG mit der sog neuen Formel163 weitere Differenzierungen eingeführt. In der EMRK ist die Unterscheidung zwischen allgemeinen und besonderen Gleichheitssätzen bis auf wenige, unten164 anzusprechende Ansätze unbekannt. Auch innerhalb von Art 14 EMRK ist die dogmatische Strukturbildung noch nicht so weit fortgeschritten. Der EGMR fragt nach einem berechtigten Ziel, das die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag, wobei den Mitgliedstaaten ein Beurteilungsspielraum zukommt. Entsprechend variiert die Kontrolldichte. Grundsätzlich bestehen keine Bedenken, Gedanken, die bei Art 3 I GG entwickelt worden sind, auch bei Art 14 EMRK fruchtbar zu machen. So ist die vom BVerfG formulierte Frage, ob Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen zu rechtfertigen vermögen,165 auch bei Art 14 EMRK sachgerecht. In diesem Sinne fragt der EGMR bei Art 14 EMRK danach, ob ein angemessenes Verhältnis zwischen den angewendeten Mitteln und dem verfolgten Ziel besteht.166 Man wird zudem davon ausgehen können, dass die Auflistung in Art 14 EMRK besonders wichtige Differenzierungsverbote enthält. Je näher die Differenzierungsgründe im konkreten Fall den in Art 14 EMRK genannten stehen, desto höher sind die Rechtfertigungsanforderungen. Im Übrigen dürften die Rechtfertigungsanforderungen steigen, je mehr an unverfügbare, personenbezogene Merkmale angeknüpft wird.167 Daher wird zB eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts nur ganz ausnahmsweise gerechtfertigt sein.168 Das schließt posi-

163 164 165 166 167 168

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BVerfGE 88, 87, 96 f = Kunig JK 93, GG Art 3 1/18 und dazu Bryde/Kleindiek JURA 1999, 36 ff. S Rn 71 ff. BVerfGE 88, 87, 96 f = Kunig JK 93, GG Art 3 1/18 und dazu Bryde/Kleindiek JURA 1999, 36 ff. EGMR, NJW 2001, 2871, 2873 - Dahalab = Schoch JK 02, EMRK Art 9/1. S auch BVerfGE 88, 87, 96 = Kunig JK 93, GG Art 3 1/18. Wit tinger (Fn 24) S 163 f.

H ö c h s t p e r s ö n l i c h e Rechte und D i s k r i m i n i e r u n g s v e r b o t tive F ö r d e r m a ß n a h m e n z u m A u s g l e i c h aus. A n d e r s als A r t 3 II G G " ' " e n t h ä l t lichung der Gleichberechtigung auch im f a k t i s c h e r U n g l e i c h h e i t e n . Setzt sich ein k a n n dies a b e r eine U n g l e i c h b e h a n d l u n g

§ 3 III 1

faktischer Benachteiligungen von F r a u e n nicht die E M R K zwar keinen A u f t r a g zur Verwirkgesellschaftlichen Bereich u n d zur B e k ä m p f u n g M i t g l i e d s t a a t d i e f a k t i s c h e G l e i c h h e i t z u m Ziel, zu L a s t e n v o n M ä n n e r n rechtfertigen.' 7 ( 1

R i c h t i g e n t f a l t e n k a n n sich e i n e G l e i c h h e i t s d o g m a t i k u n t e r d e r E M R K v e r m u t l i c h erst n a c h I n k r a f t t r e t e n d e s 12. Z u s a t z p r o t o k o l l s . B i s l a n g sind d i e L ö s u n g e n d e s E G M R s t a r k f r e i h e i t s r e c h t l i c h g e p r ä g t . D a s zeigt d i e T r a n s s e x u e l l e n - R e c h t s p r e c h u n g . I n D e u t s c h l a n d s t e h t A r t 3 I G G 1 7 1 i m V o r d e r g r u n d , u n t e r d e r E M R K A r t 8 , 7 : . H i e r zeigt sich a u c h , d a s s F r e i h e i t s r e c h t e u n d G l e i c h h e i t s r e c h t e bis z u e i n e m gewissen G r a d f u n k t i o n a l ä q u i v a l e n t

Lösung Fall 3 : In Fall 3 d r ä n g t sich die Gleichheitsproblematik auf. D a die E M R K bislang kein selbständiges D i s k r i m i n i e r u n g s v e r b o t kennt, ist zunächst zu p r ü f e n , o b ein anderes K o n v e n t i o n s r e c h t einschlägig ist. A r t 4 II E M R K verbietet Z w a n g s - und Pflichtarbeit. D a r u n t e r k ö n n t e m a n auch die Feuerwehrdienstpflicht fassen. Allerdings n i m m t Art 4 IIJ lit d E M R K Arbeiten o d e r Dienstleistungen v o n d e m Verbot aus. die zu den üblichen Bürgerpflichten gehören. Diesen A u s n a h m e t a t b e s t a n d sah der E G M R zu Recht als gegeben a n . so dass Art 4 II E M R K nicht verletzt war. Fraglich ist, o b nun A r t 14 E M R K lVm Art 4 E M R K g e p r ü f t werden k a n n . G e h t m a n vom Wortlaut aus, werden Dienstpflichten nach Art 4 III E M R K nicht einmal vom Schutzbereich des A r t 4 I I E M R K erfasst. D a n n wäre Art 14 E M R K u n a n w e n d b a r . D e r E G M R s a h dies anders. I n d e m A r t 4 III lit d E M R K diese D i e n s t p f l i c h t regele, falle sie in den A n w e n d u n g s b e r e i c h der Konvention. D a m i t greife Art 14 E M R K ein. Dieses Verständnis erscheint sachgerecht. Es ü b e r s p a n n t die A k z e s s o r i e t ä t s a n f o r d e r u n g e n nicht und stellt d o c h sicher, dass nur solche D i s k r i m i n i e r u n g e n erfasst werden, die im Z u s a m m e n h a n g m i t d e n ü b r i g e n G e w ä h r l e i s t u n g e n der K o n v e n t i o n stehen. Die A b g a b e n p f l i c h t b e r ü h r t für sich g e n o m m e n weder A r t 4 E M R K n o c h ein a n d e r e s K o n v e n t i o n s r e c h t . Wegen des engen Z u s a m m e n h a n g s mit der Dienstpflicht bezieht sie der E G M R d e n n o c h in den A n w e n d u n g s b e r e i c h des A r t 14 E M R K mit ein. Die Dienstpflicht, die an das Geschlecht a n k n ü p f t , stellt eine klare U n g l e i c h b e h a n d l u n g dar. D a die Abgabenpflicht über die Dienstpflicht mittelbar mit d e m Geschlecht v e r k n ü p f t ist. liegt a u c h hierin eine U n g l e i c h b e h a n d l u n g . Die Frage nach der R e c h t f e r t i g u n g stellt sich f ü r die Dienstpflicht und f ü r die A b g a b e n pflicht unterschiedlich. Der E G M R ä u ß e r t z u n ä c h s t Zweifel an der Rechtfertigung der Dienstpflicht. Er f o r d e r t insoweit objektive u n d vernünftige G r ü n d e sowie ein angemessenes Verhältnis zwischen Mittel und Zweck. Dabei m a c h t er deutlich, dass an eine Ungleichb e h a n d l u n g a u f g r u n d des Geschlechtes strenge A n f o r d e r u n g e n zu stellen sind. D e r U m s t a n d , dass a n d e r e B u n d e s l ä n d e r eine Feuerwehrdienstpflicht f ü r F r a u e n kennen und d a s s auch in S ü d d e u t s c h l a n d F r a u e n freiwillig Dienst leisteten und leisten, spricht gegen eine R e c h t f e r t i g u n g . D e r E G M R ließ dies o f f e n , weil die Dienstpflicht o h n e h i n nur auf d e m Papier bestand. D a m i t k a m es allein auf die R e c h t f e r t i g u n g d e r A b g a b e n p f l i c h t an. Da

169 Dazu BVcrfGE 85. 191. 206 f = Ericliscn JK 92. G G Art 3 II/6; Osterloh in: Sachs. Grundgesetz. 2. Aun 1999. Art 3 Rn 261 ff. 170 ll'HHnger (En 24) S 165 f; zur Bestätigung dieser Rechtslage durch das 12. Zusatzprotokoll 1)7/tinger E u G R Z 2001. 272. 279. 171 BVcrfGE 88. 87. 96 ff = Kimia JK 93. G G Art 3 1/18. 172 S Rn 8.

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§ 3 III 2

Robert Uerpmann

n i e m a n d zwangsverpflichtet wurde, k a m ihr keine Ausgleichs-, s o n d e r n eine reine Finanz i e r u n g s f u n k t i o n zu. F ü r die E n t s c h e i d u n g , nur den m ä n n l i c h e n Teil der Bevölkerung zur F i n a n z i e r u n g der Freiwilligen F e u e r w e h r h e r a n z u z i e h e n , war kein hinreichender G r u n d ersichtlich. D a m i t w a r die A b g a b e n p f l i c h t konventionswidrig. D a s BVerfG hat die E n t s c h e i d u n g des E G M R zum A n l a s s g e n o m m e n , die Feuerwehrabgabe, die bis d a h i n als v e r f a s s u n g s k o n f o r m galt, 17 - k u r z d a r a u f auch a m G r u n d g e s e t z scheitern zu lassen.17-* D a b e i ist das Ergebnis grundgesetzlich viel einfacher zu b e g r ü n d e n als konventionsrechtlich. A r t 3 III 1 G G ist o f f e n k u n d i g beeinträchtigt u n d mangels Rechtf e r t i g u n g o h n e weiteres verletzt.

2. Spezielle 71

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Gleichheitsaspekte

Punktuell Finden sich Gleichheitsaspekte auch außerhalb von Art 14 EMRK. Mit der Gleichberechtigung der Ehegatten enthält Art 5 7.ZP EMRK einen speziellen Gleichheitssatz. Die Vorschrift hat noch keine bedeutende Rolle gespielt.175 Sie ergänzt die Konventionsgarantien kaum, schränkt sie aber auch nicht ein.176 Für Deutschland ist das ganze Protokoll nicht in Kraft. In der Konvention selbst werden Gleichheitsmomente vor allem in den Justizgarantien des Art 6 EMRK177 erkennbar. Das wichtigste Beispiel ist Art 6 III lit e EMRK mit dem Recht auf einen unentgeltlichen Dolmetscher im Strafverfahren. Vom Wortlaut her handelt es sich um eine verfahrensrechtliche Garantie, die einen fairen Prozess gewährleisten soll, ohne eine Gleichheitskomponente aufzuweisen. Zunächst ging man jedenfalls in Deutschland davon aus, dass die Unentgeltlichkeit nur bis zum Abschluss des Verfahrens gelten sollte. Man hielt es für zulässig, den Verurteilten im Rahmen der Gerichtskosten auch mit den Dolmetscherkosten zu belasten. Zur Sicherung eines fairen Verfahrens reicht es in der Tat grundsätzlich aus, wenn der Dolmetscher zunächst aus der Staatskasse bezahlt wird, so dass seine Beiziehung nicht an der Kostenfrage scheitern kann. Im Fall Luedicke entschied der EGMR jedoch, dass auch der Verurteilte nicht mit angefallenen Dolmetscherkosten belastet werden dürfe.1™ Diese Entscheidung ist schlüssig, wenn man Art 6 III lit e EMRK als speziellen Gleichheitssatz interpretiert. Über seine Primärfunktion, eine effektive Verteidigung zu sichern, hinaus soll er den Angeklagten, der der Gerichtssprache nicht mächtig ist, von allen sich daraus ergebenden zusätzlichen finanziellen Lasten freistellen und den Sprachunkundigen so mit dem Sprachkundigen gleichstellen.179 Der Grundsatz des fairen Verfahrens weist ebenfalls Aspekte eines speziellen Gleichheitssatzes auf. Das gilt namentlich für das Prinzip der Waffengleichheit, das der EGMR als Ausprägung des fair-trial-Gedankens ansieht und an dem er die Stellung der Verfahrensbeteiligten misst.l!i"

173 S BVerwG, BayVBl 1994. 315 ff sowie die kritische Bestandsaufnahme von Rozek BayVBl 1993, 6461T. 174 BVerfGE 92. 91 f l 175 Dazu Wittinger( Fn 24) S 177 179. 176 E G M R , R U D H 1994, 27, Rn 22 f Burghartz. 177 —> zu dieser Vorschrift im einzelnen § 6 Rn 30 ff. 178 E G M R , E u G R Z 1979. 34, Rn 38 ff Luedicke. 179 Das Argument klingt in den Gründen der Z-Hcrf/rAe-Entscheidung, E u G R Z 1979, 34 IT, vor allem in Rn 42 an. 180 E G M R , E u G R Z 1991, 519, Rn 24 Borgers.

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§4

Kommunikationsgrundrechte Thilo Marauhn I. Die besondere Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte im System der EMRK Kommunikationsgrundrechte leisten einen wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsentfaltung jedes Menschen, indem sie das grundlegende menschliche Bedürfnis nach Mitteilung und Auseinandersetzung mit anderen Menschen schützen. Darüber hinaus ist freie Kommunikation von erheblicher gesellschaftlicher und politischer Bedeutung, denn ohne sie ist Demokratie nicht denkbar. Der E G M R hat diese beiden Funktionen der Kommunikationsgrundrechte stets betont und hervorgehoben, dass die Gewährleistung einer offenen geistigen Auseinandersetzung den Kern freiheitlicher zwischenmenschlicher Kommunikation bildet. 1 Die E M R K schützt die freie Kommunikation nicht als solche, sondern garantiert in den Art 92, 10 und 11 E M R K mehrere nebeneinander stehende Freiheiten, die in ihrer wechselseitigen Verschränkung und Bedingtheit die vielfaltigen Kommunikationsvorgänge der Lebenswirklichkeit erfassen. Die zentrale Vorschrift des Art 10 E M R K gewährleistet eine Vielzahl von Grundrechten: die Meinungsbildungsfreiheit, die Meinungsäußerungsfreiheit, die Freiheit, Mitteilungen zu empfangen, die Pressefreiheit sowie die Freiheit von Rundfunk, Fernsehen und Film. In der Kombination von Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit kommt zum Ausdruck, dass menschliche Kommunikation kein einseitiger, sondern ein gegenseitiger Prozess ist, auch wenn die Gegenseitigkeit echter Dialoge rechtlich ansonsten kaum fassbar ist.3 Art 10 E M R K erfahrt sodann eine spezifische Ergänzung durch die in Art 11 E M R K gewährleisteten Grundfreiheiten: die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit und die Koalitionsfreiheit. Ähnlich wie der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, der die in der US-amerikanischen Verfassung nicht ausdrücklich garantierte Vereinigungsfreiheit aus der im Ersten Zusatzartikel enthaltenen Meinungsfreiheit abgeleitet hat, 4 betont der E G M R den systematischen Zusammenhang zwischen Art 10 und Art 11 E M R K . Nach seiner Auffassung handelt es sich bei den Garantien des Art 11 E M R K um leges speciales im Verhältnis zu denen des Art 10 EMRK. 5 Dieses Spezialitätsverhältnis wirkt sich nicht nur auf den Anwendungsbereich der beiden Vorschriften aus. Es führt auch zu einer parallelen Auslegung der Schutzbereiche und der Schranken. 6 Neben den notstandsfesten Grundfreiheiten stehen die Kommunikationsgrundrechte an der Spitze aller weiteren Gewährleistungen der E M R K , denn ohne freie Kommunikation 1 EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 49 - Handyside; EuGRZ 1986, 424, Rn 41 - Lingens; EuGRZ 1991, 216, Rn 58 - Oberschlick; EuGRZ 1995, 16, Rn 59 - Observer und Guardian. 2 Zu Art 9 EMRK, der in diesem Kapitel nicht näher erläutert wird, s Frowein in: Grote/Marauhn (Hrsg) Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht, 2001, S 73 ff. 3 Müller Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl 1999, S 184 f. 4 US Supreme Court, NAACP/Alabama ex rel Patterson, 357 US 449 (1958). 5 EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 62 - Ezelin. 6 EGMR, Reports of Judgments and Decisions 1998-1, 1, Rn 42 - Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei.

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3

§4 III

Thilo Marauhn

ist eine wirksame Verteidigung fundamentaler Rechte nicht möglich.7 Dem hat die Straßburger Spruchpraxis insoweit Rechnung getragen, als sie im Interesse von Pluralismus und Toleranz weite Schutzbereiche anerkannt und Eingriffe nur unter engen Voraussetzungen als gerechtfertigt angesehen hat. Eine konturenscharfe Abgrenzung der einzelnen in Art 10 und Art 11 E M R K enthaltenen Gewährleistungen ist weder durchgängig möglich noch unbedingt erforderlich, denn die beiden Vorschriften sollen die zwischenmenschliche Kommunikation umfassend schützen. 8 Allerdings ist den Differenzierungen bei der Rechtfertigung staatlicher Eingriffe zumindest im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung zu tragen. 9

II. Die Meinungs- und die Informationsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1977, 38 fT - Handyside; EuGRZ 1986, 424 ff - Lingens; EuGRZ 1988, 543ff - Müller; EuGRZ 1990, 255ff - Groppera Radio AG; EuGRZ 1991, 216ff Oberschlick; EuGRZ 1992, 484 ff - Open Door and Dublin Well Woman; EuGRZ 1994, 549 ff Informationsverein Lentia; HRLJ 1994, 371 ff - Otto-Preminger-Institut; EuGRZ 1995, 590 ff Vogt; EuGRZ 1995, 16ff - Observer und Guardian; EuGRZ 1996, 302ff - markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; EuGRZ 1999, 8 ff - Janowski; EuGRZ 1999, 453 ff - Bladet Troms0. Schrifttum: Engel AfP 1994, lff; Frowein AfP 1986, 197 ff; Frowein/Peukert Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, 2. Auf] 1996; Gornig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988; Hoffmeister EuGRZ 2000, 538 ff; Klein AfP 1994, 9 ff; Kühimg AfP 1999, 214 ff; Malinverni HRLJ 1983, 443 ff.

1.

Schutzbereiche

a) Die Meinungsfreiheit 4

5

Die in Art 10 I 2 E M R K geschützte Meinungsfreiheit ist die Grundlage und der Oberbegriff der in Satz 1 gewährleisteten Meinungsäußerungsfreiheit. 10 Die Meinungsfreiheit schützt - insoweit der in Art 9 E M R K gewährleisteten Gedankenfreiheit vergleichbar das forum internum, die innere Meinungsbildung. Der Staat ist daran gehindert, den Bürgern Meinungen durch Indoktrinierung oder andere Mittel aufzudrängen." Ebenso dürften eine gezielt einseitige staatliche Informationspolitik wie auch eine gezielt einseitige Berichterstattung in staatlichen Massenmedien konventionswidrig sein.12 Anders als das Bundesverfassungsgericht, das - methodisch nicht überzeugend - den Begriff der „Meinung" über vage Umschreibungen zu erschließen sucht,13 hat der E G M R den Begriff der „Meinung" bislang nicht abstrakt definiert. Man mag diese Zurückhaltung des E G M R kritisieren, sollte aber bedenken, dass Synonyme und wenig präzise Umschreibungen, die das Schutzgut nicht hinreichend verdeutlichen, die Gefahr bergen, die Tatbestands- und die Eingriffsebene zu vermengen. Außerdem kann sich der E G M R 7 8 9 10 11

Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 277 f. EGMR, EuGRZ 1985, 150, Rn 42 - Barthold. Villiger Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), 2. Aufl 1999, S 390. Guradze Die Europäische Menschenrechtskonvention, 1968, S 142. EGMR, EuGRZ 1976, 478, Rn 53 - Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen (Indoktrinierungsverbot vom EGMR ausdrücklich formuliert für die Schule auf der Grundlage von Art 10 EMRK und Art 2 1. ZP EMRK). 12 So auch Frowein in: Frowein/Peukert Art 10 EMRK Rn 4. 13 Vgl nur BVerfGE 61, 1, 8 f.

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Kommunikationsgrundrechte

§4 III

auf den Wortlaut der Äußerungsfreiheit zurückziehen, der so weit gefasst ist, dass insbesondere keine Notwendigkeit besteht, zwischen „Meinungen" und „Tatsachenmitteilungen" zu unterscheiden.14 b) Die Äußerungsfreiheit Die Äußerungsfreiheit schließt die Meinungsäußerungsfreiheit und die Freiheit zur Mitteilung von Informationen und Ideen (gelegentlich auch als aktive Informationsfreiheit bezeichnet) ein. Unter Berücksichtigung der authentischen englischen („freedom of expressions") und französischen („liberté d'expression") Texte kommt daher eine Einschränkung auf „Meinungen" nicht in Betracht. In einer jeweils am Einzelfall orientierten Spruchpraxis hat der EGMR alle Mitteilungen von Sinngehalten, wie Tatsachen, Meinungen und Unterhaltungsbeiträge' 5 unter die Äußerungsfreiheit subsumiert. Der Schutz der Äußerungsfreiheit erstreckt sich insbesondere auch auf solche Inhalte, die den Staat oder einen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen.16 Es sind nicht nur unproblematische oder unkritische Inhalte geschützt. Dem EGMR geht es nämlich um den Schutz einer offenen geistigen Auseinandersetzung als Kern der Meinungsäußerungsfreiheit. Dazu gehört auch die Aufrechterhaltung von Pluralität im Informationssektor. Neben politischen Äußerungen werden auch kommerzielle Meinungsäußerungen vom EGMR dem Schutzbereich von Art 10 I EMRK zugeordnet.17 Dazu gehören sowohl kritische Äußerungen über bestimmte Geschäftspraktiken' 8 als auch Werbemaßnahmen19. Kritik lässt sich gegenüber dieser weiten Auslegung allenfalls damit begründen, dass erfolgreiche Werbung darauf beruht, dem Verbraucher Kaufimpulse auf eine nicht notwendig bewusste Weise zu vermitteln. Es findet demnach keine offene geistige Auseinandersetzung statt, um die es doch bei Art 10 I EMRK eigentlich geht.20 Weder der Wortlaut noch der systematische Zusammenhang legen aber eine restriktive Interpretation des Schutzbereichs nahe, die allein daraus abzuleiten sein soll, dass es keinen Grund gebe, die kommerzielle Meinungsäußerung gegenüber anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten zu privilegieren. Art 10 I EMRK schützt nicht nur Substanz und Inhalt der Mitteilung, sondern auch die Form und die Darstellung der Mitteilung.21 Auch Realhandlungen, die das Missfallen

14 Insoweit kritisch zur Rechtsprechung des BVerfG, die den Unterschied zwischen „Meinungen" und „Tatsachenmitteilungen" schon im Schutzbereich für wesentlich erachtet, Erichsen Jura 1996, 85 ff. 15 EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 54-55 - Groppera Radio AG. 16 EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 49 - Handyside. 17 Eingehend dazu Nolle RabelsZ 1999, 507 ff. 18 EGMR, EuGRZ 1996, 302, Rn 35 - markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann. 19 EGMR, EuGRZ 1985, 150, Rn 58 - Barthold; HRLJ 1994, 184, Rn 35 - Casado Coca (EGMR verneinte in diesem Fall eine Verletzung von Art 10 EMRK, weil es sich nicht um ein absolutes Werbeverbot für Anwälte handelte). Vgl auch EKMR, EuGRZ 1991, 525 - Hempfing (EKMR verneinte eine Verletzung von Art 10 EMRK in diesem Fall, wo der Beschwerdeführer, ein Anwalt, disziplinarisch verwarnt wurde, weil er in einem Rundschreiben die Kunden aufforderte, ihn zu „testen"). 20 Zu dieser Kritik vgl für das GG etwa Ipsen Staatsrecht II, Grundrechte, 5. Aufl 2001, Rn 394. 21 Zutreffend Frowein in: Frowein/Peukert Art 10 EMRK Rn 5.

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an Tätigkeiten anderer ausdrücken, sind von Art 10 I EMRK geschützt.22 Meinungsäußerungen bedürfen grundsätzlich weder hinsichtlich ihrer Form noch hinsichtlich ihrer Darstellung einer besonderen Zulassung. Die Grenze zieht Art 10 I 3 EMRK, der für bestimmte technische Medien einen Genehmigungsvorbehalt vorsieht. c) Die Informationsfreiheit 10

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Art 5 I 1 GG schützt die Freiheit, sich aus „allgemein zugänglichen Quellen" zu informieren, während Art 10 I 1 EMRK ohne nähere Präzisierung der Quellen die „Freiheit zum Empfang ... von Nachrichten oder Ideen" gewährleistet. Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf Art 5 I 1 GG anerkannt, dass solche Informationsquellen „allgemein zugänglich" seien, die technisch geeignet und bestimmt seien, der Allgemeinheit Informationen zu verschaffen. Insbesondere verlieren Quellen diesen Charakter nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht dadurch, dass gegen ihre Verbreitung Maßnahmen ergriffen werden.23 Damit hat das Gericht zwar - gemessen am Wortlaut - einen relativ weiten Schutzbereich eröffnet. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass die deutsche Rechtsund Verfassungstradition sich durch eine bemerkenswerte Zurückhaltung gegenüber an staatliche Stellen gerichteten Informationsansprüchen auszeichnet. Erst in jüngster Zeit wächst - auch in Anbetracht des so genannten Informationszeitalters - die Erkenntnis, dass die Informationsfreiheit im demokratischen Gemeinwesen Bedingung rationaler Meinungs- und Entscheidungsbildung ist.24 Es ist aber nicht nur die demokratisch-politische Funktion der Informationsfreiheit, die es in den Blick zu nehmen gilt. Die Möglichkeit, an Informationen teilzuhaben, ist nicht nur Voraussetzung sozialer Kompetenz. Sie ist auch unabdingbare Voraussetzung persönlicher Entfaltung. Auch kann die Informationsfreiheit einen Beitrag zur Effizienz des Gemeinwesens leisten, indem sie dessen Problemlösungskapazität und Innovationsfähigkeit erhöht.25 Bedauerlicherweise haben die Konventionsorgane die Empfangsfreiheit bislang eher restriktiv ausgelegt und insbesondere eine positive Informationspflicht staatlicher Behörden verneint,26 obwohl der Wortlaut eine solche Auslegung durchaus zulassen würde. Zwar hat der EGMR betont, dass die Medien die Aufgabe haben, Informationen zu verbreiten. Auch habe die Öffentlichkeit das Recht, diese Informationen zu empfangen.27

22 E G M R , Reports of Judgments and Décisions 1998-VII, 2719, Rn 92 iVm Rn 7 - Steel; R U D H 1999, 331, Rn 28 - Hashmann und Harrup. 23 BVerfGE 27, 71, 83 f; stRspr, zuletzt BVerfGE 90, 27, 32. 24 Auf der Ebene des Landesverfassungsrechts und des Landesverwaltungsrechts sind in den letzten Jahren Informationsansprüche eingeführt worden, die über den grundgesetzlichen Mindeststandard hinausgehen, vgl etwa Art 19 der Verfassung des Landes Brandenburg sowie das Akteneinsichts- und Informationszugangsgesetz Brandenburgs (GVB1 1/1998, 46), das Gesetz zur Förderung der Informationsfreiheit im Land Berlin (GVB1 1999, 561), das Gesetz über die Freiheit des Zugangs zu Informationen für das Land Schleswig-Holstein (GVB1 2000, 166) sowie das Gesetz über die Freiheit des Zugangs für Informationen für das Land Nordrhein-Westfalen (GVB1 2001, 806). Zu diesen Entwicklungen Frenzel Zugang zu Informationen der deutschen Behörden, Speyerer Arbeitshefte 131, 2000. 25 Müller (Fn 3) S 278 f. 26 E G M R , Reports of Judgments and Décisions 1998-1, 225, Rn 53 - Guerra. Auch ein (positives) Recht auf Empfang bestimmter Informationen seitens der Behörden kann aus der Informationsfreiheit nicht abgeleitet werden; vgl E G M R , Série A, Vol 160, Rn 52 - Gaskin. 27 E G M R , E u G R Z 1979, 386, Rn 65 - Sunday Times (Nr 1).

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N a c h Auffassung des E G M R garantiert Art 10 I 1 E M R K aber nur den E m p f a n g allgemein zugänglicher Informationen 21 * und deckt sich insoweit mit Art 5 I 1 G G . Innerhalb dieses Rahmens schützt die Informationsfreiheit in erster Linie das Recht des Rezipienten, ungehindert Meldungen, Nachrichten und Meinungen zu empfangen - ein Recht, das für das Rundunkwesen von besonderer Bedeutung ist. Anders als Art 5 I 1 G G stellt Art 10 I 1 E M R K ausdrücklich klar, dass dieses Recht ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen gewährleistet ist. In den Grenzen von Art 10 I 3 und Art 10 II E M R K schließt dies die N u t z u n g der erforderlichen Empfangsgeräte ein. 2 '' Über das bloße (passive) Recht auf Informationsempfang hinaus ist umstritten, o b auch die (aktive) Freiheit zur Informationsbeschaffung vom Schutzbereich des Art 10 1 1 E M R K erfasst wird. Zwar unterscheidet sich der Wortlaut dieser Gewährleistung von den vergleichbaren Bestimmungen des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (Art 19 II) und der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (Art 13 I). Es ist jedoch vertretbar, diesen Wortlautunterschied als Redaktionsversehen zu qualifizieren, denn immerhin enthielt einer der E M R K - E n t w ü r f e ein Recht auf Informationsbeschaffung. , 0 D a ohne Recherchen und aktive Informationsbeschaffung keine wirksame Mitteilungs- und Verbreitungsarbeit geleistet werden, eine Mitteilung nicht erfolgen kann, ist es vertretbar, die Freiheit zur Informationsbeschaffung im Wege der teleologischen Auslegung unter Art 10 I 1 E M R K zu subsumieren." Schließlich kann es nicht Sinn und Zweck der Konvention sein, die Außerungsfreiheit dadurch auszuhebein, dass die Freiheit zur Informationsbeschaffung schutzlos gestellt wird. Art 10 E M R K enthält kein ausdrückliches Zensurverbot. Beschränkungen der Gewährleistungen aus Art 10 I E M R K sind jedoch nur im Rahmen von Art 10 II E M R K zulässig, so dass insbesondere aus dem in Art 10 I 3 E M R K vorgesehenen Zulassungsverfahren keine Rechtfertigung staatlicher Vorzensur für Programme und Sendungen abgeleitet werden kann. 1 2

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d) Die Kunstfreiheit Fall 1: (EGMR, E u G R Z 1988, 543 ff - Müller) Der Künstler M malte im Rahmen einer Ausstellung an Ort und Stelle drei große Gemälde mit dem Titel „Drei Tage, drei Nächte". Die Bilder stellten ua homosexuelle Aktivitäten und Sodomie dar. Am Tage der Eröffnung beschwerte sich ein Vater über die Bilder, nachdem seine minderjährige Tochter heftig darauf reagiert hatte. In der Folge wurden die Bilder eingezogen. M wurde wegen unzüchtiger Veröffentlichungen bestraft. Außerdem wurde die Vernichtung der Bilder angeordnet. Die Kunstfreiheit wird in Art 10 E M R K nicht ausdrücklich erwähnt. Es handelt sich jedoch auch bei der künstlerischen Äußerung um eine Form der Äußerung im Sinne von Art 10 I E M R K , denn der Künstler bringt durch sein schöpferisches Wirken seine persön-

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E G M R . E u G R Z 1986. 424. R n 41 Lingens; Serie A, Vol 116, Rn 74 - Leander. Vgl dazu Villiger (Fn 9) S 413. Vgl Gamig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988, S 291. Probst Art 10 E M R K Bedeutung für den R u n d f u n k in Europa. 1996, S 24 f. Gornig (Fn 30) S 294.

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liehe W e l t a n s c h a u u n g u n d seine G e d a n k e n über die Gesellschaft z u m A u s d r u c k . " Es ist d a h e r grundsätzlich a n e r k a n n t , dass Art 10 E M R K die Freiheit des K u n s t s c h a f f e n s in allen A u s p r ä g u n g e n einschließt. Sie schließt den Werk- u n d den Wirkbereich ein, erstreckt sich also auch auf Personen, die Kunstwerke interpretieren, verbreiten oder ausstellen.

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Lösung Fall l: Die Aktivitäten des M , das Erstellen der Kunstwerke und deren Ausstellung, fallen in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit. denn diese ist nicht auf Äußerungen verbaler Art beschränkt. Nicht nur Realhandlungen, sondern auch Kunstwerke und Filme fallen in den Schutzbereich von Art 10 I E M R K . Die Verurteilung des M und die vorgesehene Vernichtung der Bilder stellen Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit des Künstlers dar. Ein solcher Eingriff muss, um konventionsrechtlich gerechtfertigt zu sein, auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen und einen nach Art 10 II E M R K zulässigen Eingriffszweck verfolgen. In Betracht zu ziehen ist der Schutz der öffentlichen Moral. Bei der Beurteilung, ob die M a ß n a h m e n diesem Zweck dienen, kommt den zuständigen Organen der Konventionsstaaten ein Beurteilungsspielraum zu, der nur eingeschränkt überprüfbar ist. Die Verurteilung des M dürfte den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen, anders als die angedrohte Vernichtung der Bilder. Im Fall der Vernichtung könnte M seine Bilder nicht mehr dort ausstellen, wo sie willkommen sein mögen. Daraus dürfte die Unverhältnismäßigkeit der angedrohten Vernichtung resultieren. Auch eine Rückgabe der Bilder ändert nichts an der Unverhältnismäßigkeit der Androhung (anders aber der Straßburger Gerichtshof).

e) Presse- u n d Medienfreiheit 17

Die Pressefreiheit wird in Art 10 I E M R K nicht ausdrücklich, sondern als Bestandteil der allgemeinen Äußerungs- u n d Informationsfreiheit geschützt. Die E M R K folgt d a m i t der Tradition anderer internationaler Menschenrechtsinstrumente, in denen die Pressefreiheit nicht ausdrücklich genannt, aber o h n e Zweifel geschützt wird. Der E G M R hat die zentrale (demokratische) F u n k t i o n der Presse, die Öffentlichkeit über Fragen von allgemeinem Interesse zu informieren, 1 4 stets b e t o n t u n d die ihr z u k o m m e n d e Wächterrolle („public watchdog"), die Öffentlichkeit auf Mängel, Fehler u n d rechtswidrige M a c h e n s c h a f t e n in Politik u n d Gesellschaft hinzuweisen,' 5 als G r u n d l a g e eines u m f a s s e n d e n G r u n d r e c h t s schutzes f r u c h t b a r gemacht. D e r f u n k t i o n a l e Schutzbereich der Pressefreiheit schließt auch die kritische A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit d e m G e s c h ä f t s g e b a r e n einzelner U n t e r n e h m e n im Wirtschaftsleben ein.1'1 Generell ist beim Schutz der Pressefreiheit zwischen drei Fallg r u p p e n zu unterscheiden: der mit journalistischen Meinungen v e r b u n d e n e n Presseberichterstattung, der Wiedergabe f r e m d e r M e i n u n g e n u n d der Wiedergabe f r e m d e r Tat-

33 E K . M R . E u G R Z 1986. 702, R n 70 Müller. Vgl a u c h E G M R . R e p o r t s of J u d g m e n t s a n d Decisions 19%-V. 1937 IT Wingrove und H R L J 1994, 371 IT O t t o - P r e m i n g e r - I n s t i t u t . 34 E G M R . E u G R Z 1979. 386, R n 65 S u n d a y T i m e s ( N r 1). 35 E G M R . H R L J 1992, 30, R n 50 S u n d a y T i m e s ( N r 2); H R L J 1992, 440. R n 63 Thorgcirson; E u G R Z 1995, 16, R n 59 O b s e r v e r und G u a r d i a n . 36 E G M R , E u G R Z 1996. 302, R n 35 m a r k t intern Verlag G m b H & K l a u s B e e r m a n n : ähnlich gelagert sind die Urteile des E G M R in den Fällen Serie A, Vol 177 Weber, R e p o r t s of J u d g m e n t s a n d Decisions 1998-VI, 2325 Hertel u n d Verein gegen T i e r f a b r i k e n ( V G T ) . http://www.eclii.coe. int/Eng/Judgments.htm.

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Sachenbehauptungen oder Materialien. Diese Differenzierungen wirken sich vor allem im Kontext der presserechtlichen Sorgfaltspflichten aus.37 Der Schutz der Pressefreiheit erstreckt sich auf alle Informationen und Ideen, die mittels Druckerpresse oder anderer Reproduktionsmethoden der Öffentlichkeit vermittelt werden.38 Ob und inwieweit auch inhaltsferne Hilfsfunktionen, die vom Bundesverfassungsgericht in den Schutzbereich der Pressefreiheit nach Art 5 1 2 G G einbezogen werden,39 und damit nicht zuletzt die gesamte Infrastruktur der Presse (also etwa der Zeitungsvertrieb) unter die Gewährleistung von Art 10 I E M R K fallen, ist noch nicht abschließend geklärt. Berücksichtigt man aber, dass der E G M R auch die erforderlichen Übertragungs- und Empfangsmittel in den Schutzbereich der Gewährleistungen des Art 10 I E M R K einbezogen hat, 40 und anerkennt man, dass es beim Schutz der Pressefreiheit nicht nur um den Schutz individueller Presseerzeugnisse geht, sondern gerade auch um den Schutz des Pressewesens als solchem, dann kann man nicht die Augen davor verschließen, dass Eingriffe in die Verteilung der Presseerzeugnisse die Presse als Institution sehr empfindlich treffen können. Im Wege der teleologischen Auslegung ist daher die Infrastruktur des Pressewesens in den Schutzbereich der (ungeschriebenen) Pressefreiheit einzubeziehen. Umstritten ist, ob Art 10 I E M R K zur Einführung eines Gegendarstellungsrechts verpflichtet. Obwohl das Gegendarstellungsrecht im Bewusstsein seiner Existenz nicht in die E M R K aufgenommen wurde, gibt es gute Gründe, in Verbindung mit Art 8 E M R K jedenfalls für die Fälle, „in denen das Persönlichkeitsrecht durch Presseveröffentlichungen verletzt worden ist", ein konventionsrechtlich gewährleistetes Gegendarstellungsrecht anzunehmen. 41 Es dürfte allerdings überzeugender sein, das Gegendarstellungsrecht allein in Art 8 I E M R K zu verankern und es als medienspezifische Form des Ehrschutzes den nach Art 10 II E M R K gerechtfertigten Eingriffen in die Pressefreiheit zuzuordnen. 42 Art 10 I 3 E M R K bestätigt, dass die in Art 10 I E M R K garantierten Freiheiten der Äußerung und der Information auch die Freiheit von Rundfunk, Film und Fernsehen einschließen. Diese Freiheit umfasst die Herstellung, die Ausstrahlung und den Empfang von Sendungen und Programmen. Die Vorschrift unterscheidet nicht nach der Art der Übermittlung der Information, sondern schließt alle Übermittlungsarten (Äther, Kabel, Satelliten, etc) ein. Im Rahmen der Rundfunk-, Film- und Fernsehfreiheit ist besonders hervorzuheben, dass Art 10 I E M R K den freien internationalen Informationsfluss schützt, denn der Schutz wird „ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen" gewährleistet. Soweit es um Herstellung, Ausstrahlung und Empfang unabhängig vom organisationsrechtlichen Rahmen geht, ist der Schutzbereich dieser Teilgewährleistung allenfalls hinsichtlich der Berechtigung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten problematisch. Dass der persönliche Geltungsbereich von Art 10 I E M R K auch Personenvereinigungen und juristische Personen des Privatrechts erfasst, wirft keine besonderen Fragen auf.43 Es dürfte

37 Eingehend zu dieser Differenzierung unter Aufarbeitung der neueren Rspr des E G M R Hoffmeister E u G R Z 2000, 358, 363 ff; zur Einordnung der presserechtlichen Sorgfaltspflichten vgl Rn 47 ff. 38 Vgl Villiger (Fn 9) S 405. 39 BVerfGE 77, 346, 353 f. 40 E G M R , E u G R Z 1990, 261, Rn 47 - Autronic. 41 Frowein in: Frowein/Peukert Art 10 E M R K Rn 16. 42 So das BVerfG zu Art 5 II GG, BVerfGE 63, 131, 142 f. 43 Vgl nur E G M R , E u G R Z 1990, 261, Rn 47 - Autronic; § 2 Rn 17.

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aber a u c h unzweifelhaft sein, dass ein staatliches R u n d f u n k - u n d F e r n s e h u n t e r n e h m e n gegenüber staatlichen Einflüssen eine ausreichende Freiheit haben muss. 44 Anderenfalls w ü r d e die Freiheit im Falle staatlicher M o n o p o l e , die bis in die 1970er Jahre in E u r o p a üblich waren, leer laufen. 22

Es bleibt die Frage, welche B e d e u t u n g der Schutzbereich des A r t 10 I E M R K f ü r die neuen Medien entfaltet. Ähnlich wie das G r u n d g e s e t z unterscheidet die E M R K zwischen dem Schutz von Individual- (Art 8 E M R K ) u n d M a s s e n k o m m u n i k a t i o n (Art 10 E M R K ) . Es liegt d a h e r nahe, hinsichtlich neuer Medien bei den Gewährleistungsgehalten eine Differenzierung in A n l e h n u n g an die verschiedenen K o m m u n i k a t i o n s f o r m e n vorzunehmen. 4 5 D a s Versenden u n d das E m p f a n g e n elektronischer N a c h r i c h t e n (e-mail) fallen in den Schutzbereich von A r t 8 E M R K , w ä h r e n d die Präsentation von I n f o r m a t i o n e n auf einer Internet-Seite (homepage) d u r c h A r t 10 E M R K geschützt wird. Schwierigkeiten ergeben sich allerdings bei K o m m u n i k a t i o n s f o r m e n , die nicht eindeutig der Individualoder der M a s s e n k o m m u n i k a t i o n z u z u o r d n e n sind. Lassen sich bei Diskussionsforen n o c h Differenzierungen d a n a c h v o r n e h m e n , o b es sich u m moderierte o d e r offene Foren h a n delt, so d ü r f t e die G r e n z e zwischen Individual- u n d M a s s e n k o m m u n i k a t i o n bei anderen interaktiven Medien z u n e h m e n d verschwimmen. Dies ist f ü r die E M R K vor allem deshalb nicht ganz unproblematisch, weil es in der Konvention - a n d e r s als im deutschen G r u n d g e s e t z - kein A u f f a n g g r u n d r e c h t gibt. Es d ü r f t e deshalb a u c h k a u m möglich sein, im Wege der Auslegung oder der lückenfüllenden E r g ä n z u n g der E M R K ein Recht der Internet-Freiheit 4 '' zu b e g r ü n d e n . D a aber andererseits a u c h nicht davon auszugehen ist, dass die Konvention bestimmte K o m m u n i k a t i o n s f o r m e n schutzlos stellen will, sollte jeweils a n h a n d der konkreten Einzelfälle eine den unterschiedlichen S c h u t z f u n k t i o n e n der Art 8 und 10 E M R K entsprechende Z u o r d n u n g der einzelnen H a n d l u n g e n erfolgen. 47 Eine solche Lösung kann auch den differenzierten Schranken der E M R K Rechnung tragen. 2.

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Eingriff

Fall 2: ( E G M R , R U D H 1999, 182 ff - Wille) W, Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz des Staates L und ehemaliges Regierungsmitghed. hatte im Rahmen eines wissenschaftlichen Vortrags die Auffassung vertreten, dass dem Staatsgerichtshof des Landes bei einem Streit zwischen Regierung und Parlamenl über die Auslegung der Verfassung eine Entscheidungskompetenz zukomme. Nach Presseberichten über diesen Vortrag richtete das Staatsoberhaupt ein Schreiben an W, in dem ausgeführt wurde, dass W"s Aussagen gegen Sinn und Wortlaut der Verfassung verstießen und das Staatsoberhaupt, in Ausübung der ihm eingeräumten Rechte, W deshalb nicht mehr f ü r ein öffentliches Amt ernennen werde, auch wenn das Parlament ihn d a f ü r vorschlagen sollte. In einem sich anschließenden Briefwechsel legten der Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz und das Staatsoberhaupt ihre gegensätzlichen Standpunkte ohne Annäherung in der Sache erneut dar. W wurde dem Staatsoberhaupt später vom Parlament für eine weitere Amtszeit als Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz vorgeschlagen. Das Staatsoberhaupt lehnte die neuerliche Ernennung ab.

44 Frowin in: Frowein/Pcukert Art 10 EMRK Rn 19. 45 Vgl dazu Grote KritV 1999, 27, 29 31. 4 6 F ü r die D i s k u s s i o n z u m d e u t s e h e n R c c h t vgl Mecklenburg

Z U M 1997, 525 IT.

47 Zur Multimedia-Diskussion Dörr FS Kriele, 1997, S 1417 ff; vgl auch Bröhmer Europäisches M e d i e n r e c h t 1998, 79 IT.

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W ist der Auffassung, die Entscheidung des Staatsoberhaupts, ihn nicht für eine neue Amtszeit zu ernennen, sei eine Sanktion für seine bei einem akademischen Vortrag geäußerten Ansichten über die Verfassung und verletze Art 10 E M R K . A r t 10 II E M R K eröffnet Spielräume f ü r staatliche Eingriffe in die Freiheiten des A r t 10 I E M R K . Ausdrücklich g e n a n n t werden b e s t i m m t e Eingriffsmodalitäten: Formvorschriften, Bedingungen, E i n s c h r ä n k u n g e n oder S t r a f a n d r o h u n g e n . Auf der G r u n d l a g e dieser A u f z ä h l u n g lässt sich allerdings weder eine Eingriffstypologie entwickeln, wie schon der weite Begriff „ E i n s c h r ä n k u n g e n " deutlich m a c h t , noch lassen sich die Probleme des Eingriffsbegriffs u m f a s s e n d erschließen. A u s g a n g s p u n k t ist vielmehr die allgemeine Überlegung, dass nicht jede E i n s c h r ä n k u n g der G r u n d f r e i h e i t e n des A r t 10 I E M R K einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff im Sinne der K o n v e n t i o n darstellt. H e r k ö m m l i c h muss der staatliche H o h e i t s a k t u n m i t t e l b a r u n d wesentlich in das Recht der geschützten Person eingreifen. Dieser Eingriffsbegriff erfasst o h n e Zweifel Veröffentlichungsverbote, wobei zu beachten ist, dass der E G M R eine Vorzensur im Regelfall nicht zulässt, weil sie d a s f ü r den Schutzbereich u n d die Rechtfertigung von Eingriffen zentrale Verhältnis zwischen Regel u n d A u s n a h m e tendenziell verkehrt. 411 U n t e r den „klassischen" Eingriffsbegriff fallen aber auch S a n k t i o n e n disziplinarrechtlicher, verwaltungs- oder gar strafrechtlicher A r t , die an bestimmte Mitteilungen g e k n ü p f t werden. 4 9

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D e r enge Begriff des „ G r u n d r e c h t s e i n g r i f f s " , der im R a h m e n der A r t 8 bis 11 E M R K grundsätzlich z u r A n w e n d u n g kommt,™ wird in Bezug a u f die K o m m u n i k a t i o n s g r u n d rechte seit g e r a u m e r Zeit kritisch hinterfragt u n d weiterentwickelt. Erste A n s ä t z e einer Weiterentwicklung haben indirekte S a n k t i o n e n wie etwa Berufsverbote u n d Schadensersatzrisiken thematisiert, denn auch a u f diese Weise k ö n n e n u n e r w ü n s c h t e M e i n u n g s ä u ß e r u n g e n u n t e r U m s t ä n d e n sehr w i r k s a m b e s c h r ä n k t werden. 5 1 Die Kritik a m engen Eingriffsbegriff geht aber d a r ü b e r hinaus u n d greift zwei weitere Fragestellungen auf: einerseits wird im S c h r i f t t u m die so g e n a n n t e D r i t t w i r k u n g der K o m m u n i k a t i o n s g r u n d rechte thematisiert, 5 2 andererseits musste sich der E G M R selbst mit der Frage auseinandersetzen, o b bereits ein faktischer Einschüchterungsversuch als Eingriff zu qualifizieren ist 51 .

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Ausgehend von der Überlegung, dass „gezielt einseitige Berichterstattung u n d Beeinflussung im staatlichen R u n d f u n k u n d Fernsehen einen Verstoß gegen die Freiheit der Meinungsbildung" 5 4 darstellen k a n n , ist zu diskutieren, o b die immer stärker anwachsende private M e d i e n m a c h t u n d die private M e d i e n k o n z e n t r a t i o n die Meinungsfreiheit in vergleichbarer Weise beeinträchtigen k ö n n e n . Die E M R K thematisiert die D r i t t w i r k u n g als

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48 Zwar hat der EGMR im Fall Observer und Guardian, EuGRZ 1995, 16, Rn 60, Verbotsanordnungen vor der Veröffentlichung nicht ausgeschlossen, hierfür aber einen strengen Prüfungsmaßstab verlangt. Zur Bewertung dieser Entscheidung Frowin in: Frowein/Peukert Art 10 EMRK Rn 24; vgl auch Probst (Fn 31) S 25. 49 Villiger (Fn 9) S 391 f. 50 Villiger (Fn 9) S ; -» ausf dazu § 2 Rn 32 f. 51 Näher dazu Frowin in: Frowein/Peukert Art 10 EMRK Rn 36. 52 Probst (Fn 31) S 27 f; Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 285 f; -» auch § 2 Rn 25. 53 Vgl dazu EGMR, Reports of Judgments and Decisions 1998-VII, 2719 fT Steel, sowie RUDH 1999, 331 ff Hashmann und Harrup. 54 Frowin in: Frowein/Peukert Art 10 EMRK Rn 4.

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solche nicht. Entsprechend z u r ü c k h a l t e n d sind die K o n v e n t i o n s o r g a n e , u n d es ist k a u m d a m i t zu rechnen, dass diese Z u r ü c k h a l t u n g in absehbarer Zeit aufgegeben wird. Andererseits eröffnet d a s K o n z e p t „positiver Pflichten", d a s - weniger im Kontext von A r t 10 E M R K 5 ' ' als vielmehr a n h a n d wichtiger Streitfälle im R a h m e n von Art 8 E M R K (-> vgl dazu § 3 R n 26 0 - von den K o n v e n t i o n s o r g a n e n a n e r k a n n t worden ist, Spielräume, den f ü r die d e m o k r a t i s c h e Gesellschaft im Sinne von A r t 10 II E M R K so zentralen Pluralism u s effektiv zu sichern. Im konkreten Fall ging es bei Schutzpflichten d a n n weniger u m eine Rechtfertigung a n h a n d von A r t 10 II E M R K , sondern u m eine A b w ä g u n g zwischen den Interessen der Allgemeinheit u n d den betroffenen Individualinteressen im R a h m e n von Art 10 I E M R K . " M a g m a n schon indirekte S a n k t i o n e n zu den subtileren Beeinträchtigungen der Meinungsfreiheit zählen, so gilt dies erst recht f ü r die A n d r o h u n g von S a n k t i o n e n , deren A u s f ü h r u n g selbst kein Konventionsrecht entgegensteht. N a c h A u f f a s s u n g des E G M R k o m m t es in einem solchen Fall weder d a r a u f an, o b der Inhalt der D r o h u n g konventionswidrig ist, noch d a r a u f , o b die D r o h u n g selbst unmittelbare Rechtswirkungen entfaltet. Maßgeblich ist allein, o b die M a ß n a h m e bezweckt, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken.® A n k n ü p f e n d an vorsichtige M o d i f i k a t i o n e n des Eingriffsbegriffs in R i c h t u n g auf eine Ö f f n u n g gegenüber anderen als gezielten Einwirkungen auf den Schutzbereich in f r ü h e r e n Entscheidungen^" hat der E G M R n u n m e h r bestätigt, dass a u c h faktische Einschüchterungsversuche einen Eingriff darstellen können." 11 Diese Entwicklungen sprechen dafür, bei der P r ü f u n g einschlägiger Sachverhalte zunächst vom klassischen Eingriffsbegriff auszugehen, d a n n aber im Hinblick auf M o d i f i k a t i o n e n , die sich angesichts spezifischer G r u n d r e c h t s g e f ä h r d u n g e n k a u m von der H a n d weisen lassen, fallspezifische Weiterungen zuzulassen. Lösung Fall 2: Prima läcie könnte man annehmen, es gehe in diesem Fall hauptsächlich um den Zugang zum öffentlichen Dienst. Ein solches Recht wurde nicht in die Konvention aufgenommen. Trotzdem können sich öffentliche Bedienstete gegen ihre Abberufung wehren, falls diese Abberufung ihre aus der Konvention erwachsenden Rechte verletzen würde. Hier kommt die Meinungsäußerungsfreiheit in Betracht, deren Schutzbereich im konkreten Fall eröffnet ist. Es ist dann zu prüfen, ob ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung in Form einer „Formalität, Bedingung, Beschränkung oder Strafe" vorliegt oder ob die M a ß n a h m e im Bereich des Zugangs zum öffentlichen Dienst lag, das nicht im Schutzbereich der Konvention liegt. Das Hauptaugenmerk bei Prüfung dieser Frage ist auf den Brief des Staatsoberhaupts an W zu richten. Diesen Brief erhielt W während seiner Amtszeit als Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz, ohne dass eine Neubesetzung dieser Position aktuell gewesen wäre. Aus dem Inhalt des Briefes geht hervor, wie sich das Staatsoberhaupt in Ausübung der ihm eingeräumten Rechte zukünftig gegenüber W zu verhalten gedenke. Zu

55 Näher dazu Probst (Fn 31 ) S 27; vgl EKMR, Décisions and Reports 62, 151 IT Rommclfanger. 56 Vgl aber EKMR. Décisions and Reports 49. 5 IT X. 57 So jedenfalls der Prüfungsansatz bei Art 8 EMRK: EGMR. Série A, Vol 160. Rn 42 Gaskin; Série A. Vol 172, Rn 41 Powell und Rayner. 58 Iloffmcisler EuGRZ 2000, 358. 359. 59 Vgl etwa EGMR. EuGRZ 1986, 424, Rn 44 Lingens; Série A, Vol 149, Rn 29 Barlod. 60 EGMR. RUDH 1999, 182, Rn 44 IT Wille.

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p r ü f e n ist also, o b bereits der b l o ß e n A b s i c h t s e r k l ä r u n g E i n g r i f f s e h a r a k t e r zuzumessen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die A n k ü n d i g u n g des S t a a t s o b e r h a u p t e s , W nicht m e h r f ü r ein öffentliches A m t e r n e n n e n zu wollen, eine Rüge f ü r die von W getätigten Ä u ß e r u n gen darstellte und diesen e n t m u t i g e n sollte, sie in Z u k u n f t zu wiederholen. Z w a r ist die N i c h t e r n e n n u n g als solche nicht konventionswidrig. Die A n d r o h u n g zielt aber d a r a u f , die M e i n u n g s ä u ß e r u n g s f r e i h e i t des W zu u n t e r d r ü c k e n . Sie stellt daher, obwohl sie selbst nicht u n m i t t e l b a r rechtlich wirkt, einen Eingriff in das Recht des W auf Freiheit der Meinungsä u ß e r u n g d a r u n d lässt sich nicht als ein d e n späteren R e c h t s a k t lediglich vorbereitender A k t qualifizieren. U n t e r der A n n a h m e , dass d e r Eingriff gesetzlich vorgesehen w a r u n d einen legitimen Zweck verfolgte, ist weiter zu p r ü f e n , o b dieser in einer d e m o k r a t i s c h e n Gesellschaft n o t wendig war. Dabei k ö n n t e der Stellung W's als h o c h r a n g i g e m R i c h t e r besondere B e d e u t u n g z u k o m m e n , d e n n bei der Freiheit der M e i n u n g s ä u ß e r u n g solcher Personen b e k o m m e n die Pflichten und die V e r a n t w o r t u n g in Art 10 II E M R K eine b e s o n d e r e B e d e u t u n g . Insbesondere k a n n von W Z u r ü c k h a l t u n g bei der A u s ü b u n g dieses R e c h t s erwartet werden, u m nicht die A u t o r i t ä t und Unparteilichkeit der R e c h t s p r e c h u n g in Frage zu stellen. D e r Vortrag w a r Teil einer R e i h e a k a d e m i s c h e Vorlesungen zum T h e m a Verfassungsrecht und h a t t e fast zwangsläufig a u c h politische Z u s a m m e n h ä n g e . Allein wegen dieser T a t s a c h e sollte W a b e r nicht davon abgehalten werden, sich zu solchen T h e m e n ä u ß e r n zu k ö n n e n . D i e Ansichten waren z u d e m nicht u n h a l t b a r . Die Ansichten des W hatten z u d e m offensichtlich keinen Einfluss auf seine A m t s f ü h r u n g als Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz. D a h e r ist der Eingriff in einer d e m o k r a t i s c h e n G e s e l l s c h a f t nicht notwendig. Es liegt eine Verletzung von A r t 10 E M R K vor.

3.

Rechtfertigung

Eingriffe in die durch Art 10 I E M R K geschützten Freiheiten sind gerechtfertigt u n d d a m i t k o n v e n t i o n s g e m ä ß , w e n n sie auf einer gesetzlichen G r u n d l a g e beruhen, einen der in Art 10 II E M R K abschließend g e n a n n t e n Z w e c k e verfolgen u n d „in einer d e m o k r a t i s c h e n G e s e l l s c h a f t n o t w e n d i g " sind. D i e s e B e d i n g u n g e n m ü s s e n kumulativ vorliegen. W a s die v o n Art 10 II E M R K z u g e l a s s e n e n Eingriffszwecke betrifft, s o fällt auf, dass es sich im Vergleich mit d e n anderen K o n v e n t i o n s g e w ä h r l e i s t u n g e n u m d e n u m f a n g r e i c h s t e n B e s c h r ä n k u n g s k a t a l o g der K o n v e n t i o n handelt.'' 1 U n g e w ö h n l i c h ist auch, dass Art 10 II E M R K der A u f z ä h l u n g der z u g e l a s s e n e n Eingriffszwecke eine B e g r ü n d u n g voranstellt: dass die A u s ü b u n g der gewährleisteten K o m m u n i k a t i o n s g r u n d r e c h t e Pflichten u n d Vera n t w o r t u n g mit sich bringt. N a c h d e m der E G M R in einer frühen E n t s c h e i d u n g n o c h b e t o n t hatte, dass derjenige, der die K o m m u n i k a t i o n s f r e i h e i t e n des A r t 10 I E M R K ausübt, Pflichten u n d Verantwortlichkeiten „übernimmt"/' 2 hat er später klar gestellt, dass aus dieser E i n g a n g s - o d e r B e g r ü n d u n g s f o r m e l keine eigene G r u n d l a g e für E i n s c h r ä n k u n gen folgt/' 1 M ö g l i c h e r w e i s e sollten mit der F o r m e l eher die weitreichenden Beschränk u n g s m ö g l i c h k e i t e n mit d e m spezifischen G e f a h r e n p o t e n t i a l v o n M a s s e n m e d i e n in Verb i n d u n g gebracht und d a m i t legitimiert werden/' 4

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So auch Fromm in: Frowein/Pcukert Art 10 E M R K Rn 23. E G M R , E u G R Z 1977. 38, Rn 49 Handysidc. E G M R , H R L J 1992, 440, Rn 46 Thorgeirson. Probst (Fn 31) S 28.

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a) Die zulässigen Eingriffszwecke 30

Im Rahmen der nach Art 10 II EMRK zulässigen Eingriffszwecke, die den Bezugspunkt für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit bilden, kommt dem Schutz des guten Rufes anderer zentrale Bedeutung zu. Da Beleidigungstatbestände je nach Fassung und Anwendung die Meinungsfreiheit erheblich einschränken können, ist in Anbetracht der Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie (auf die Art 10 II EMRK mit der typischen Formulierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes „in einer demokratischen Gesellschaft ... notwendig" hinweist) sowohl eine restriktive Auslegung des Eingriffszwecks als auch besondere Sorgfalt bei der Prüfung der Rechtfertigung hierauf beruhender Eingriffe geboten.65 Nur auf diese Weise lässt sich die vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten als „chilling effect"66 bezeichnete Gefahr in Grenzen halten, dass Menschen Äußerungen allein deshalb unterlassen, weil sie befürchten, dass ihnen aus der Meinungsäußerung Nachteile erwachsen. Andererseits hat der EGMR nie einen Zweifel daran gelassen, dass Beleidigungsvorschriften zum Schutz des Rechtsfriedens notwendig sind. Insbesondere gilt der Beleidigungsschutz auch für Politiker.67 Allerdings hat der Gerichtshof, einer demokratisch-funktionalen Auslegung folgend, die Grenzen einer Kritik an Politikern weiter gezogen als im Fall von Privatpersonen.68 Dies ist letztlich eine Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Ein besonderes Problem stellt der „Ehrschutz" von staatlichen Institutionen dar. Nachdem der EGMR zunächst einen solchen Beleidigungsschutz anerkannt hatte,69 scheint er nunmehr davon abzurücken. So hat er die Bestrafung eines Wehrpflichtigen wegen Kollektivbeleidigung der griechischen Armee unter dem Gesichtspunkt der nationalen und öffentlichen Sicherheit als unverhältnismäßig angesehen.70 Indem der EGMR die Funktionsfähigkeit der Armee zum geschützten Rechtsgut erhob, dürfte er implizit nunmehr einen besonderen Ehrschutz von staatlichen Institutionen ablehnen.71

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Eng verwandt mit dem Beleidigungsschutz ist der Schutz der Rechte anderer. Dieser Eingriffszweck überschneidet sich teilweise mit dem des Ehrschutzes. Allerdings lassen sich dem Schutz der Rechte anderer weitere Eingriffszwecke zuordnen. So ist anerkannt, dass der Schutz der religiösen Auffassungen anderer72 wie auch der Schutz der Privat- und

65 Differenzierend Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 294 ff; ähnlich Frowein in: Frowein/Peukert Art 10 EMRK Rn 32. 66 Zum „chilling effect" vgl US Supreme Court, NAACP/Alabama ex rel Patterson, 357 US 449 (1958); zu Lehre und Rspr in Deutschland s Grimm NJW 1995, 1703 ff; zur EMRK vgl insb EGMR, HRLJ 1992,440, Rn 68 - Thorgeirson und Prepeluh ZaöRV 2001, 771, 819 f. 67 EGMR, EuGRZ 1986,424, Rn 36 - Lingens. 68 EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 42 - Lingens; EuGRZ 1991, 216, Rn 59 - Oberschlick; vgl dazu Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 294 ff. 69 EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 59 - Thorgeirson (Ehrschutz öffentlicher Einrichtungen); Série A, Vol 236, Rn 46 - Castells (Ehrschutz der Regierung). 70 EGMR, Reports of Judgments and Decisions 1997-VII, 2575, Rn 47 - Grigoriades; zur Geltung von Art 10 EMRK für Soldaten vgl EGMR, Série A, Vol 302, Rn 36 - Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs und Gubi. 71 So ausdrücklich Richter Jambrek in seinem Sondervotum: EGMR, Reports of Judgments and Decisions 1997-VII, 2595, Rn 3-4 - Grigoriades. Eingehend zur Beleidigungsfähigkeit von Streitkräften Nolte AfP 1996, 313 ff. 72 EGMR, HRLJ 1994, 371, Rn 47 f - Otto-Preminger-Institut; Reports of Judgments and Decisions 1996-V, 1937, Rn 52 ff - Wingrove.

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Intimsphäre 73 anderer Eingriffe in die Meinungs- und in die Informationsfreiheit rechtfertigt. In Erwägung zu ziehen ist der Schutz der Rechte anderer auch im Zusammenhang mit der Verbreitung kommerzieller Informationen. Eingriffe auf der Grundlage von Regelungen über den unlauteren Wettbewerb lassen sich diesem Eingriffszweck zuordnen. 74 Neuerdings qualifiziert der EGMR auch das Recht auf effektive Demokratie als „Recht anderer". 75 Es ist nicht zu verkennen, dass sich dieser Eingriffszweck damit zu einer Art Generalklausel entwickelt. Im Hinblick auf die Zulässigkeit und Notwendigkeit politischer Kritik erweisen sich die Eingriffszwecke der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit und der öffentlichen Sicherheit als ausgesprochen sensibel. Das Verteilen von Flugblättern, die eine Aufforderung zur Fahnenflucht verbunden mit konkreten Hinweisen auf Desertionsmöglichkeiten enthalten, lässt sich ohne Zweifel als eine Gefahr für die nationale Sicherheit ansehen.76 Nichts anderes gilt für das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen, 77 wobei diesbezüglich auch der Schutz der Rechte anderer in Erwägung zu ziehen ist. Eher zweifelhaft ist es, die Veröffentlichung der Erinnerungen eines früheren Mitglieds des Geheimdienstes ohne weiteres dem Schutz der nationalen Sicherheit zuzuordnen, insbesondere wenn man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass es eher um den Schutz des Geheimdienstes als den der nationalen Sicherheit geht.78 In einer Reihe von Fällen gegen die Türkei hat der E G M R nunmehr auch ausdrücklich auf den Schutz der territorialen Unversehrtheit Bezug genommen und anerkannt, dass die Unterdrückung separatistischer pro-kurdischer Aussagen aus diesem Grund ebenso wie aus Gründen der nationalen Sicherheit erfolgen kann. 79 Der Eingriffszweck der Aufrechterhaltung der Ordnung (und der Verbrechensbekämpfung) schützt nicht nur die öffentliche Ordnung als solche, sondern ermöglicht auch den Schutz der Ordnung spezifischer sozialer Gruppen oder von Institutionen. 80 Zu denken ist in diesem Kontext etwa an den Schutz der Streitkräfte, 81 den Schutz von Strafanstalten, 82 aber auch an Standesregeln,83 die im Zusammenhang mit der Verbreitung kommerzieller 73 Frowein in: Frowein/Peukert Art 10 E M R K Rn 33, unter Bezugnahme auf Art 8 E M R K . 74 EGMR, EuGRZ 1985, 150 ff - Barthold; EuGRZ 1996, 302 ff - markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; HRLJ 1994, 184 ff - Casado Coca. 75 EGMR, Reports of Judgments and Decisions 1998-VI, 2356, Rn 54 - Ahmed; zuvor schon angedeutet in EGMR, Reports of Judgments and Decisions 1998-1, 175, Rn 38 - Bowmann; näher dazu Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 360. 76 EKMR, Decisions and Reports 19, 5, 38 f - Arrowsmith. 77 EKMR, Decisions and Reports 56, 205, 209 - Kühnen. 78 So die Kritik von Frowein in: Frowein/Peukert Art 10 E M R K Rn 29 am E G M R im Fall Observer und Guardian EuGRZ 1995, 16, Rn 56 und 69; vgl auch die Sondervoten der Richter Petitti (dem sich Richter Pinheiro Farinha anschloss) und Morenilla, zusammengefasst in EuGRZ 1995, 23 ff. 79 Vgl statt aller EGMR, http://www.echr.coe.int/Eng/Judgments.htm, Rn 40 und Rn 48^19 - Arslan (mit kritischen Anmerkungen des E G M R zum konkreten Fall). Wenn Äußerungen mit einem Aufruf zur Gewalt verknüpft sind, lässt der E G M R einen größeren Beurteilungsspielraum zu; kritisch dazu, dass der E G M R bislang noch keine klaren Kriterien dafür entwickelt hat, wann von einem Aufruf zur Gewalt auszugehen ist, Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 362. 80 Frowein in: Frowein/Peukert Art 10 E M R K Rn 30. 81 E G M R , EuGRZ 1976, 221, Rn 98 - Engel. 82 EGMR, EuGRZ 1975, 91, Rn 45 - Golder (zu Art 8 II EMRK). Vgl auch LaeuchlUBosshard Die Meinungsfreiheit gern Art 10 E M R K unter Berücksichtigung der neueren Entscheidungen und der neuen Medien, 1990, S 165 ff. 83 EGMR, HRLJ 1994, 184 ff - Casado Coca.

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Informationen bemüht wurden. Soweit sich die Verbreitung rassistischer Äußerungen84 oder auch der Auschwitzlüge85 nicht oder nur teilweise anderen Eingriffszwecke zuordnen lassen, ist ein Rückgriff auf die Aufrechterhaltung der Ordnung (gegebenenfalls auch kumulativ) in Erwägung zu ziehen. Die Ausgestaltung der Rundfunkordnung, die schon Art 10 I 3 EMRK insoweit ermöglicht, als in diesem Bereich tätige Unternehmen einem Genehmigungsverfahren unterworfen werden können, lässt sich, soweit es dabei um wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen geht, nur dann zweifelsfrei Art 10 II EMRK zuordnen, wenn in diesem Zusammenhang der Eingriffszweck der Aufrechterhaltung der Ordnung bemüht wird.86 Zu beachten ist dabei allerdings, dass im Rahmen der Gewährleistungen der Art 8-11 EMRK allein Art 8 II EMRK ausdrücklich auf „das wirtschaftliche Wohl des Landes" Bezug nimmt. Zu den eher problematischen Eingriffszwecken, die sich eigentlich nur durch eine strikte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf ein dem Schutz der Kommunikationsfreiheiten gerecht werdendes Maß reduzieren lassen, gehört der Schutz der Moral, der sich für staatliche Behörden als erheblich attraktiver erweist als der in unmittelbarem Zusammenhang damit genannte Schutz der Gesundheit. Der Schutz der Moral ist insbesondere im Zusammenhang mit pornographischen Schriften und Videofilmen bemüht worden. Gelegentlich tritt der Schutz der Moral gleichwertig neben den Schutz der Rechte anderer, etwa im Zusammenhang mit dem Schutz religiöser Überzeugungen. Die besondere Problematik beim Schutz der Moral liegt sicherlich darin, dass der Schutz der Moral stark von unterschiedlichen Vorstellungen geprägt ist, dass es keine europäische Konzeption der Moral gibt und dass der EGMR möglicherweise weniger zur Beurteilung der Lage geeignet ist als staatliche Behörden.87 Das Problem des an dieser Stelle in Gestalt eines den staatlichen Behörden und Gerichten verbleibenden Beurteilungsspielraums („margin of appreciation"/„marge d'appréciation") 88 ist anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu diskutieren. Der Schutz der Verbreitung von vertraulichen Nachrichten hat bislang in der Spruchpraxis keine besondere Rolle gespielt. Bei staatlichen Nachrichten liegt hier ein Zusammenhang mit dem Schutz nationaler Sicherheit nahe.89 Ob und inwieweit dieser Eingriffszweck auch zum Schutz der Vertraulichkeit privater Nachrichten herangezogen werden kann, dürfte in Anbetracht neuerer technischer Entwicklungen noch zu klären sein. Immerhin sehen nationale telekommunikationsrechtliche Regelungen den Vertraulichkeitsschutz auch für private Nachrichten vor. Zwar schützt Art 8 EMRK die private Kommunikation vor dem Zugriff Privater allenfalls in engen Grenzen, so dass ein (positiver) Schutzanspruch aus der EMRK nur unter bestimmten, hier nicht näher zu diskutie84 EGMR, Série A, Vol 298, Rn 33-35 - Jersild. 85 EKMR, Decisions and Reports 29, 194 ff - X/Deutschland; Decisions and Reports 82, 117 ff Remer. Der Gerichtshof hat nunmehr in einem obiter dictum festgestellt, dass das Leugnen der geschichtlichen Tatsache des Holocausts kraft Art 17 EMRK nicht dem Schutz von Art 10 EMRK unterfalle; EGMR, Reports of Judgments and Decisions 1998-VII, 2864, Rn 47 - Lehideux und Isorni. 86 Zum Verhältnis zwischen Art 10 I 3 und Art 10 II EMRK vgl unten Rn 54. 87 EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 48 - Handyside; EuGRZ 1988, 543, Rn 34 - Müller. 88 Allgemein zum Beurteilungsspielraum Brems ZaöRV 1996, 240 ff; zum Beurteilungsspielraum im Kontext der Pressefreiheit Prepeluh ZaöRV 2001, 771 ff. 89 So LaeuchWBosshard (Fn 82) S 180. Vgl im Übrigen die Kommissionsentscheidungen: Yearbook of the European convention on human rights 13, 888 ff - X/Deutschland, und Decisions and Reports 35, 224 ff - Z/Schweiz.

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renden Voraussetzungen in Betracht kommt.1,11 Werden aber private Nachrichten durch die staatliche Gesetzgebung geschützt, so können sich diese Schutzmaßnahmen durchaus als Eingriffe in den Schutzbereich von Art 10 I E M R K darstellen, deren Rechtmäßigkeit a n h a n d von Art 10 II E M R K zu prüfen ist. Der Schutz des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung war aus der deutsehen Perspektive lange von eher geringer Bedeutung, wurde dieser G r u n d doch in erster Linie zum Schutz des Rechtsinstituts des „contempt of court", wie er in den Rechtsordnungen des c o m m o n law bekannt ist, aufgenommen. 1 " Allerdings ist dieser Eingriffszweck (neben dem der Aufrechterhaltung der Ordnung) heute im Z u s a m m e n h a n g mit der Berichterstattung über Gerichtsverfahren zu beachten.

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b) Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage Fall 3: (EGMR, Reports of Judgments and Decisions 1998-V1I, 2719 ff - Steel) A stellte sich bei einer Demonstration von Tierschützern gegen die Moorhuhnjagd vor einen Jäger und hinderte diesen so am Schießen. Sie wurde wegen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung festgenommen und verurteilt. Das Gericht zweiter Instanz forderte A auf. einer Anordnung zuzustimmen, nach der sie verpflichtet wäre, für die nächsten zwölf Monate nicht gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu verstoßen, widrigenfalls eine zu hinterlegende Kaution verfiele. Da A dies ablehnte, wurden über sie 28 Tage Haft verhängt. A behauptet eine Verletzung von Art 10 EMRK. Vorausgesetzt wird in der Regel eine die Behörde zum Eingriff ermächtigende generellabstrakte N o r m , der innerstaatlich Gesetzeskraft zukommt. Dies schließt ungeschriebenes Recht ein. Allerdings muss die gesetzliche Grundlage hinreichend zugänglich und vorhersehbar sein (—> § 2 R n 37). Probleme treten insbesondere im Z u s a m m e n h a n g mit der Verwendung eines erweiterten Eingriffsbegriffs auf. Werden nämlich faktische Einschüchterungsversuche als Eingriff qualifiziert, 1 ' 1 so wird es häufig schwierig sein, eine spezielle Rechtsgrundlage im Sinne von Art 10 II E M R K zu finden. Dies führt nicht per se zur Unzulässigkeit des Eingriffs, wenn man berücksichtigt, dass Art 10 II E M R K von seiner Struktur her eigentlich auf rechtliche Eingriffe zugeschnitten ist. Es dürfte bei faktischen Eingriffen daher zulässig sein, vom Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage abzusehen, soweit die M a ß n a h m e im Übrigen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt.1'4

Lösung Fall 3: Zunächst ist zu klären, ob überhaupt der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit betroffen ist. A hat den Jäger physisch an der Ausübung der Jagd gehindert. Es handelt sich also um eine Realhandlung. Allerdings soil diese mit einem gewissen Störungspotential das Missfallen an der Mohrhuhnjagd zum Ausdruck bringen. Die Handlung Iässt sich als solche

90 Zur Bedeutung von Art 8 E M R K lur die Verwendung kryptographischcr Verfahren vgl Diregger D u D 1998. 28 IT. 91 E G M R , E u G R Z 1979. 386. Rn 56 f Sunday Times ( N r 1). 92 So nunmehr E G M R . Reports of Judgments and Decisions 1997-V, 1534. Rn 49 Worm. Vgl auch die rechtsvergleiehende Perspektive bei Gehring Z R P 2000. 197 IT. 93 Vgl dazu o Rn 23 IT. 94 So auch Hoffmcisier E u G R Z 2000. 358. 359.

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also dem Schutzbereieh von Art 10 I E M R K zuordnen. Fraglich ist allerdings, o b die Unfriedlichkeit dieser Handlung und die somit durch drittstörendes Tun vermittelte Meinungsäußerung der Hinordnung in den Schutzbereich entgegensteht. Die Störung Dritter ist jedoch kein Problem des Schutzbereichs, sondern eines der konventionsreehtlichen Rechtfertigung des Eingriffs. Der Eingriff liegt in der gerichtlichen Verurteilung und der Verhängung von Haft. Eine Rechtfertigung ist grundsätzlich nur möglich, wenn der Eingriff vom Gesetz vorgesehen ist. Die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wurde in den letzten Jahrzehnten von der innerstaatlichen Rechtsprechung des betroffenen Landes so präzisiert, dass es nun hinlänglich klar ist. dass eine solche nur vorliegt, wenn das Verhalten einer Person einen Schaden gegenüber einer anderen Person oder Sache verursacht oder verursachen könnte. Es ist ebenso ausreichend klar, dass eine solche Person deswegen festgenommen und angehalten werden kann. Das von der Konvention verlangte Mindestmaß an Deutlichkeit innerstaatlicher Rechtsnormen ist demnach gegeben. Die Festnahme von A verfolgte die legitimen Zwecke Aufrechlerhaltung der Ordnung und Schulz der Rechte anderer. Die verhängte Haft verfolgte überdies den Zweck, das Ansehen der Rechtsprechung im Sinne von Art 10 11 E M R K zu gewährleisten. Die innerstaatlichen Gerichte konnten wegen der Weigerung A's, sich zu verpflichten, für die nächsten zwölf Monate nicht gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu verstoßen, begründeterweise annehmen, dass sie mit ihren Protestaktivitäten in dieser Art und Weise fortfahren würde. Wegen der großen Bedeutung, die der Rechtsstaatlichkeit und dem Ansehen der Rechtsprechung in einer demokratischen Gesellschaft zukommen, kann die H a f t der A trotz der Dauer von 28 Tagen (noch) als verhältnismäßig angesehen werden. c) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 40

Wie bei den übrigen Einschränkungsklauseln der Art 8-11 E M R K ist auch bei der Rechtfertigung von Eingriffen in die Schutzbereiche von Art 10 I E M R K nicht nur zu prüfen, ob ein zulässiger Zweck verfolgt wird. Vielmehr müssen Eingriffe in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, um den Anforderungen von Art 10 II E M R K zu genügen. Ob dies der Fall ist, entscheiden die Konventionsorgane. In Anbetracht der besonderen Bedeutung der Kommunikationsfreiheiten des Art 10 I E M R K für demokratisch verfasste Gesellschaften kommt der Prüfung der Notwendigkeit eines Eingriffs und damit der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Art 10 II E M R K besondere Bedeutung zu (allgm zur Verhältnismäßigkeitsprüfung —> § 2 Rn 39).1,5 Nicht nur müssen die oben genannten Eingriffszwecke als Ausnahmen eng interpretiert und ein Eingriff überzeugend begründet werden. Vielmehr besteht grundsätzlich sogar eine Vermutung für die Zulässigkeit einer Meinungsäußerung.'"' Dies ist auf den ersten Blick überzeugend, hat aber eine nicht unproblematische Differenzierung zur Folge, die sich gerade aus dem zwischen demokratischer Ordnung und Meinungsäußerungsfreiheit bestehenden Zusammenhang ergibt. Der E G M R privilegiert nämlich die politische Meinungsäußerung gegenüber anderen Meinungsäußerungen bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 1 ' 7 und interpretiert Art 10

95 So a u c h d e r E G M R . H R L J 1992. 440. R n 63 T h o r g c i r s o n ; Serie A . Vol 236. R n 42 96 Frowin in: F r o w e i n / P c u k e r t A r t 10 E M R K R n 26.

Castells.

97 So a u c h die E i n s c h ä t z u n g von Vi Hilter ( F n 9) S 4 0 0 u n d Brems Z a ö R V 1996. 240. 274 f. D a z u , d a s s d e r weite B c u r t e i l u n g s s p i c l r a u m n a t i o n a l e r B e h ö r d e n im Bereich des w i r t s c h a f t l i c h e n L e b e n s in b e s t i m m t e n F a l l k o n s t e l l a l i o n e n E i n s c h r ä n k u n g e n e r f a h r e n h a t , vgl Prepelitlt Z a ö R V 2001. 771. 805 IT.

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E M R K insoweit demokratisch-funktional. 98 Auch wenn man die daraus resultierende Diskriminierung kommerzieller und anderer nicht-politischer Meinungsäußerungen nicht teilt, so wird man dem E G M R zumindest konzedieren müssen, dass die Differenzierung mit guten Gründen nicht schon am Schutzbereich ansetzt, sondern erst im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen zum Tragen kommt. Allein dieser Ansatz ist dogmatisch haltbar. Für eine Differenzierung des Schutzbereichs gibt Art 101 E M R K insoweit nichts her. Auch wenn die Straßburger Spruchpraxis bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes regelmäßig nicht zwischen der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit eines Eingriffs unterscheidet, so lassen sich doch Anhaltspunkte für eine Struktur der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von Art 10 II E M R K ausmachen. Dabei ist es trotz der Zurückhaltung des E G M R zu empfehlen, zunächst die Geeignetheit eines Eingriffs und dessen Erforderlichkeit zu prüfen. Schon an der Geeignetheit eines Veröffentlichungsverbots dürfte es fehlen, wenn - wie im Fall der Erinnerungen eines früheren Mitgliedes des britischen Geheimdienstes - das betreffende Werk im Ausland (im konkreten Fall in den Vereinigten Staaten) schon veröffentlicht worden war." Auch das Verbot, in Irland über Abtreibungsmöglichkeiten in Großbritannien zu informieren, wirft Fragen der Geeignetheit auf, wenn interessierte Frauen die Auskünfte ohne großen Aufwand auch anderweitig (etwa über britische Telefonbücher oder Zeitschriften) einholen können.100 Die Erforderlichkeit von Eingriffen ist insbesondere in den Fällen indirekter Sanktionen für Meinungsäußerungen ein Problem. In Betracht zu ziehen ist hier in erster Linie die Spruchpraxis zu den so genannten „Berufsverboten". Wenig überzeugend hatte der E G M R zunächst in zwei Fällen die Auffassung vertreten, eine Verletzung von Art 10 E M R K liege deshalb nicht vor, weil es um den Zugangs zum öffentlichen Dienst gehe, der von der Konvention nicht gewährleistet werde. Dabei übersah der Gerichtshof, dass es nicht um den Zugang zum öffentlichen Dienst ging (in einem Fall war die Ernennung einer Lehrerin auf Probe wegen Täuschung zurückgenommen, 10 ' im anderen Fall ein Beamter wegen rechtsradikaler Äußerungen entlassen worden102), sondern um die Reichweite von an Beamte zu stellenden Loyalitätsanforderungen. Man wird annehmen müssen, dass der E G M R sich mit dem eigentlichen Problem in der Phase des Kalten Krieges nicht befassen wollte. Erst nach dem Ende des (ideologischen) Konflikts zwischen Ost und West setzte sich der E G M R kritisch mit den Loyalitätsanforderungen auseinander und entschied, dass die Festlegung einer Loyalitätspflicht zwar zulässig, ihre Anwendung aber ohne Berücksichtigung der vom Beamten ausgeübten Funktion und ohne Würdigung der Auswirkungen einer bloßen Parteimitgliedschaft auf die Erfüllung der Dienstpflichten unverhältnismäßig sei.103 Dem Erforderlichkeitsgrundsatz hätte im konkreten Fall allen-

98 Zum Zusammenhang zwischen Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation nach wie vor einschlägig: Böckenförde NJW 1974, 1529 ff. 99 Wenig überzeugend insoweit E G M R , E u G R Z 1995, 16, Rn 66 fT - Observer und Guardian; vgl dazu die Kritik bei Frowein in: Frowein/Peukert Art 10 E M R K Rn 27. 100 E G M R , E u G R Z 1992, 484, Rn 55 - Open Door and Dublin Well Woman; eingehend zu dieser Entscheidung Zimmermann NJW 1993, 2966 ff und Langenfeld!Zimmermann ZaöRV 1992, 259 ff (hier auch zur einschlägigen Rechtsprechung des EuGH in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit). 101 E G M R , E u G R Z 1986, 497 ff - Glasenapp. 102 E G M R , E u G R Z 1986, 509 ff - Kosiek. 103 E G M R , EuGRZ 1995, 590, Rn 59-61 - Vogt.

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falls eine andere Maßnahme genügt. Als nicht erforderlich und deshalb unverhältnismäßig sind auch extrem hohe Schadensersatzsummen wegen Beleidigung anzusehen.104 Jenseits der Kriterien der Geeignetheit und der Erforderlichkeit sind im Rahmen von Art 10 II EMRK einige Differenzierungen entwickelt worden, die Auswirkungen auf die Kontrolldichte der Verhältnismäßigkeitsprüfung haben. Dabei geht es um die Privilegierung politischer Kommunikation, um Anforderungen an rufschädigende und ehrverletzende Äußerungen, um den staatlichen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum bei Eingriffen zum Schutz der Moral und um eigenständige Prüfungsmaßstäbe bei Eingriffen in die Rundfunk- und Fernsehfreiheit. d) Die Privilegierung politischer Kommunikation

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Die politische Kommunikation wird dadurch besonders geschützt, dass Eingriffe, die politische Kritik mehr oder weniger unmöglich machen, grundsätzlich als unverhältnismäßig und damit konventionswidrig angesehen werden müssen. So hat der EGMR in mehreren Entscheidungen das Erfordernis eines Wahrheitsbeweises bei Werturteilen im Rahmen politischer Auseinandersetzungen als unverhältnismäßig angesehen und gelegentlich Äußerungen, die von nationalen Gerichten als Tatsachenbehauptungen angesehen wurden, als Werturteile qualifiziert.105 Auch die Forderung, bei einem Bericht über Gerüchte und Erzählungen anderer von Polizeibrutalität, den Nachweis der Richtigkeit zu erbringen,106 und die Verurteilung eines dänischen Journalisten, der in einer Sendung rassistische Äußerungen von Interviewpartnern verbreitet, sich aber nach Auffassung des EGMR davon eindeutig distanziert hatte, ließ der EGMR am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz scheitern.107 Allerdings machte der EGMR auch deutlich, dass tatsächliche Äußerungen nicht ohne jede Grundlage oder gar böswillig gemacht werden dürfen.108 Steht eine Äußerung in einem wirtschaftlichen Kontext, findet ein weniger strenger Maßstab Anwendung; der staatliche Beurteilungsspielraum ist deutlich weiter. So können etwa die Verbreitung richtiger Tatsachenbehauptungen109 oder die Übersendung von Zeitungsartikeln'10 durch Regelungen des unlauteren Wettbewerbs beschränkt werden, ohne dass allein dadurch schon der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt wäre. Dies gilt nur eingeschränkt für Standesregeln und darauf gestützte Werbeverbote. Eine extensive Interpretation und Anwendung standesrechtlicher Bestimmungen kommt in diesem

104 E G M R , HRLJ 1995, 295 ff - Tolstoy Miloslavsky. 105 Wird für Werturteile ein Wahrheitsbeweis verlangt, so liegt in aller Regel eine Verletzung von Art 10 E M R K vor; vgl E G M R , E u G R Z 1986,424, Rn 46 - Lingens; EuGRZ 1991, 216, Rn 63 Oberschlick; Série A, Vol 242-B, Rn 34 - Schwabe; http://www.echr.coe.int/Eng/Judgments.htm, Rn 4 5 - 4 6 - Unabhängige Initiative Informationsvielfalt. Anders dagegen die Entscheidung im Fall Castells, Série A, Vol 236, Rn 48, wo es um Tatsachen ging, die prinzipiell dem Beweis zugänglich waren, die im konkreten Fall aber nicht in das Verfahren eingebracht werden konnten. 106 E G M R , HRLJ 1992, 440, Rn 65 - Thorgeirson. 107 E G M R , Série A, Vol 298, Rn 33-36 - Jersild. 108 E G M R , HRLJ 1992,440, Rn 63, 67 - Thorgeirson. 109 E G M R , E u G R Z 1996, 302, Rn 3 5 - 3 6 - markt intern Verlag G m b H & Klaus Beermann. 110 E G M R , EuGRZ 1996, 306, Rn 2 6 - 3 0 - Jacubowski; krit dazu die Mindermeinung im Gericht; zur Kritik an dem den Staaten eingeräumten weiten Beurteilungsspielraum in der genannten Entscheidung sowie in E G M R , E u G R Z 1996, 302, Rn 35-36 - markt intern Verlag G m b H & Klaus Beermann, vgl auch Calliess E u G R Z 1996, 293, 295 ff.

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Z u s a m m e n h a n g wohl eher nicht in Betracht. Der E G M R betont mit Recht die besondere Bedeutung der Beteiligung fachlich kompetenter Personen an einer öffentlichen Diskussion und macht die Zulässigkeit eines Eingriffs in die Rechte des Art 10 I E M R K davon abhängig, ob der an den Standesregeln zu messende Werbeeffekt eines Diskussionsbeitrages (einer Anwaltkanzlei oder einer Arztpraxis) primär oder bloß sekundär ist. 1 " e) Anforderungen an potentiell rufschädigende und ehrverletzende Äußerungen, insbesondere: Sorgfaltspflichten der Presse Fall 4: (EGMR, E u G R Z 1999, 453 - Bladet Tromso) Die B-Zeitung hatte den Bericht eines vom zuständigen Ministerium ernannten Robbenfanginspektors über seine Jagd-Saison-Beobachtung auf einem namentlich genannten Schiff abgedruckt. Der Inspektor stellte in diesem Bericht die Behauptung auf. einige nicht namentlich genannte Mannschaftsmitglieder hätten Roben lebendig gehäutet und eine bestimmte Robbenart vorschriftswidrig gefangen. Der Bericht war im Kontext einer längeren öffentlichen Debatte über den Robbenfang erschienen, in der alle vertretenen Interessen in der B-Zeitung zu Wort kamen. Allerdings war der Zeitung im Zeitpunkt der Veröffentlichung bekannt, dass der in diesem Fall grundsätzlich gewährte Zugang der Öffentlichkeit zum Bericht vom Ministerium unterbunden worden war, weil die strafrechtlich relevanten Anschuldigungen gegen die Mannschaftsmitglieder geprüft werden sollten. Sowohl der Inspektor als auch die B-Zeitung wurden in der Folge zu Schadensersatzleistungen verurteilt, weil sie den Wahrheitsbeweis für die Tatsachenbehauptungen nicht führen konnten. Der Inspektor und die B-Zeitung behaupten eine Verletzung von Art 10 EMRK.

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Der grundsätzliche Schutz auch heftiger Kritik an Politikern durch Art 10 I E M R K erfährt zu Gunsten des Ehrschutzes insoweit eine erhebliche Einschränkung, als es eine ständige Straßburger Spruchpraxis gibt, die in diesen Fällen die Meinungsäußerung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzieht." 2 Dies ist auf den ersten Blick erstaunlich, denn es sollte eigentlich um die Verhältnismäßigkeit des zu rechtfertigenden staatlichen Eingriffs gehen und nicht um die Angemessenheit der Ausübung von Grundfreiheiten. Vor diesem Hintergrund ist die einschlägige Spruchpraxis insbesondere wegen der potentiellen U m k e h r u n g des Regel-Ausnahme-Verhältnisses zwischen Grundfreiheit und zu rechtfertigendem Eingriff kritisch zu bewerten.

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Der E G M R prüft in diesen Fällen, o b die vom Grundrechtsträger geäußerte Meinung auf andere Weise mit gleicher Wirkung hätte vorgetragen werden können. Vor allem mit Blick auf die Art und Weise der Äußerung, insbesondere deren Schärfe, soll abgewogen werden, o b persönliche Angriffe unbedingt notwendig waren." 1 F ü r den Gerichtshof sind

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111 So die z u t r e f f e n d e W ü r d i g u n g d u r c h ViHigcr ( F n 9) S 404, u n t e r B e z u g n a h m e a u f E G M R . E u G R Z 1985, 150. R n 58 B a r t h o l d ; vgl a b e r a u c h E G M R . H R L J 1994, 184 R n 55 56 Casad o C o e a . w o d e r E G M R a n g e s i c h t s d e r u n e i n h e i t l i c h e n S i t u a t i o n in E u r o p a eine weitere L o c k e r u n g d e r S t a n d e s r c g e l n ü b e r A r t 10 E M R K n i c h t d u r c h s e t z e n wollte. In d e r E n t s c h e i d u n g E G M R . R e p o r t s of J u d g m e n t s a n d Décisions. 1998-1 II, 1042. R n 30 34 S c h ö p f e r , a k z e p t i e r t e d e r E G M R eine e i n e m A n w a l t a u f e r l e g t e B u ß e als v e r h ä l t n i s m ä ß i g , weil dieser in e i n e r Pressek o n f e r e n z die Justiz in u n a n g e m e s s e n e r F o r m a n g e g r i f f e n hatte, statt zu G u n s t e n seines K l i e n t e n z u n ä c h s t d e n o r d e n t l i c h e n R e c h t s w e g zu b e s c h r e i t e n . 112 S t R s p r seit E G M R . E u G R Z 1986. 424. R n 46 - Lingcns. 113 E G M R . Serie A, Vol 149. R n 33 35 E M R K R n 25.

B a r f o d ; krit hierzu Frtmcin

in: F r o w e i n / P e u k e r t A r t 10

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§ 4 II 3

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u n w a h r e Tatsachen, ehrenrührige B e h a u p t u n g e n , nicht n o t w e n d i g e Schärfen s o w i e Werturteile, d e n e n jegliche F a k t e n g r u n d l a g e fehlt, daher im Ergebnis nicht geschützt, weil Eingriffe a u f dieser G r u n d l a g e regelmäßig verhältnismäßig sein dürften. W ä h r e n d die einzelnen Fallbeispiele aus der R e c h t s p r e c h u n g im Ergebnis durchaus zu ü b e r z e u g e n v e r m ö g e n , verdient das m e t h o d i s c h e Vorgehen Kritik. 50

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Im Z u s a m m e n h a n g mit der Wiedergabe fremder T a t s a c h e n b e h a u p t u n g e n o d e r Materialien hat der E G M R eine Reihe v o n Sorgfaltspflichten für die Presse entwickelt, die sich unmittelbar a u f die Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe auswirken. Einerseits hat der E G M R anerkannt, dass für eine im U m l a u f befindliche I n f o r m a t i o n kein d r i n g e n d e s G e h e i m h a l t u n g s i n t e r e s s e m e h r besteht." 4 Bei a n o n y m e n I n f o r m a n t e n dürfte d a s Quellenschutzinteresse j e d e n f a l l s d a n n überwiegen, w e n n d e m Betroffenen auf der anderen Seite nur ein geringer S c h a d e n droht." 5 Insoweit ist die Presse v o n Sorgfaltspflichten n o c h weitg e h e n d freigestellt. Wird der Presse Material a n o n y m zugesandt, s o stellt sich die Frage, o b und inwieweit sich der Journalist vergewissern muss, dass die I n f o r m a t i o n e n zutreffend sind. G r u n d s ä t z l i c h k ö n n e n s o l c h e I n f o r m a t i o n e n w o h l nur veröffentlicht werden, w e n n der Journalist deren Authentizität überprüft hat, 1 "' es sei d e n n es gibt b e s o n d e r e G r ü n d e , die Presse v o n dieser Verpflichtung zu entbinden, wie etwa die Vertrauenswürdigkeit der erlangten I n f o r m a t i o n e n . " 7 Festzuhalten ist, dass der A b d r u c k ehrenrühriger Tatsachenb e h a u p t u n g e n selbst d a n n zulässig sein k a n n , w e n n deren Wahrheitsgehalt a u c h nachträglich nicht bewiesen werden kann. 1 1 8 Lösung Fall 4: Weitgehend u n p r o b l e m a t i s c h zu b e j a h e n sind die Einschlägigkeit des Schutzbereichs, das Vorhandensein eines Eingriffs sowie die Einschlägigkeit des E h r s c h u t z e s als eines zulässigen Eingriffszwecks. Z u p r ü f e n ist d a r ü b e r hinaus, o b der Eingriff einem zwingenden sozialen Bedürfnis e n t s p r a c h , o b er in einem a n g e m e s s e n e n Verhältnis z u m verfolgten legitimen Zweck stand, und o b die B e g r ü n d u n g der innerstaatlichen B e h ö r d e n n a c h A r l 10 II E M R K ausreichend war. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Z e i t u n g nicht nur diesen einen Artikel ü b e r die R o b b e n j a g d veröffentlicht hatte, s o n d e r n ü b e r einen längeren Z e i t r a u m alle unterschiedlichen S t a n d p u n k t e zu Wort k o m m e n ließ. D i e u m s t r i t t e n e n Artikel sollten d e m n a c h nicht einzelne Personen diffamieren, s o n d e r n eine ausgewogene Berichterstattung gewährleisten. D a s Recht der Journalisten, I n f o r m a t i o n e n zu F r a g e n von allgemeinem Interesse zu verbreiten, wird v o n A r t 10 E M R K jedoch nur insoweit geschützt, als sie sich im guten G l a u b e n u n d a u f G r u n d l a g e exakter Tatsachen ä u ß e r n , die journalistische Berufsethik gewahrt ist, sowie zuverlässige und sachliche I n f o r m a t i o n e n liefern. Z u p r ü f e n ist, o b im vorliegenden Fall b e s o n d e r e G r ü n d e vorlagen, die die Z e i t u n g von der Verpflichtung, Tats a c h e n b e h a u p t u n g e n auf ihren Wahrheitsgehalt zu ü b e r p r ü f e n , e n t b u n d e n h ä t t e n . Diese Frage h ä n g t etwa a u c h v o n d e r A r t u n d Intensität der g e m a c h t e n Ä u ß e r u n g e n ab. O b w o h l m a n c h e A n s c h u l d i g u n g e n schwerwiegend waren, w u r d e deren potentielle nachteilige Wirk u n g auf Ruf u n d Rechte jedes einzelnen R o b b e n j ä g e r s d a d u r c h abgeschwächt, dass die Kritik nicht gegen die gesamte Besatzung o d e r einzelne namentlich g e n a n n t e Besatzungs-

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EGMR, EGMR. EGMR, EGMR. Prcpduh

Serie A, Vol 306-A. Rn 44 If Vcrcniging Wcckblad Bluß Reports of Judgmenls and Dccisions 1996-11, 483. Rn 42 45 E u G R Z 1999. 5. Rn 53 55 Frcssoz und Roire. E u G R Z 1999. 453. Rn 66 Bladct Tromso. ZaöRV 2001. 771. 801; Hoffmeister E u G R Z 2000, 358, 366.

Goodwin.

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mitglieder gerichtet war. Zudem konnte die B-Zeitung zum damaligen Zeitpunkt dem Bericht des Inspektors vernünftigerweise vertrauen, handelte es sich doch um einen offiziellen Bericht, hinsichtlich dessen im Übrigen auch nicht absehbar war, dass die Veröffentlichung eventuell rechtswidrig wäre. W ü r d e man der Presse hier noch die Pflicht zu eigenen Recherchen auferlegen, könnte sie ihre ,.KontroH"-Funktion in öffentlichen Angelegenheiten nicht mehr o h n e weiteres erfüllen. Wägt man den vergleichsweise geringen Schaden für die einzelnen Besatzungsmitglieder u n d den Kenntnisstand der B-Zeitung ab, so kann man nicht daran zweifeln, dass diese in gutem Glauben handelte. Der Eingriff stellt sich damit als unverhältnismäßig dar.

f) Der staatliche Beurteilungsspielraum bei Eingriffen zum Schutz der Moral und zum Schutz religiöser Überzeugungen Der EGMR hat stets betont, dass es keine europäische Konzeption von Moral gebe und dass die staatlichen Behörden grundsätzlich besser in der Lage seien, die Angemessenheit von Eingriffen in die Rechte des Art 10 I EMRK zu diesem Zweck zu beurteilen. So hielt er die englischen Gerichte für berechtigt, schädliche Wirkungen für die Moral von Kindern und Heranwachsenden bei der Beurteilung eines umstrittenen Buches zu bejahen.119 In ähnlicher Weise hat der EGMR religiösen Vorstellungen Raum gelassen. Ausdrücklich stellte er fest, dass es nicht möglich sei, in Europa Einvernehmen über den Stellenwert bestimmter religiöser Überzeugungen in der Gesellschaft zu erzielen.120 Obwohl für Beschränkungen der Meinungsfreiheit im Rahmen politischer und sonstiger öffentlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich wenig Raum bleibt, ist es zum Schutz religiöser Überzeugungen vor allem auch wegen der Unmöglichkeit, europaweit einheitliche Wertvorstellungen auszumachen, in erster Linie Sache staatlicher Behörden, die Verhältnismäßigkeit von Eingriffen zu beurteilen. Der EGMR begründet dies auch damit, dass die staatlichen Behörden direkten und ständigen Kontakt mit den gesellschaftlichen Kräften ihrer Länder haben.121 Illustrativ für die Zurückhaltung der Straßburger Organe ist der Fall eines Belgiers, der für die Verteilung einer in den Niederlanden frei erhältlichen Zeitschrift verurteilt wurde. Die Kommission hielt selbst diesen Eingriff für verhältnismäßig.122

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Nicht überzeugend ist die Entscheidung des EGMR im Fall eines Künstlers, der Bilder pornographischen Inhalts gemalt und ausgestellt hatte. Der Künstler sollte nicht nur bestraft werden, sondern es sollten auch seine Bilder vernichtet werden. Während die Kommission nur die Verurteilung für verhältnismäßig hielt, erachtete der EGMR sowohl diese als auch die angedrohte Vernichtung als verhältnismäßig.123 Obwohl die Bilder tatsächlich noch nicht vernichtet und dem Beschwerdeführer dann in der Tat wenige Monate vor dem Urteil des Gerichtshofs zurückgegeben worden waren, hat es der EGMR in diesem Fall versäumt, eine umfassende Angemessenheitsprüfung in Anbetracht des von den Maßnahmen verfolgten Zieles vorzunehmen. Begründen lässt sich diese Entscheidung nur damit, dass der EGMR überfordert wäre, wenn er einheitliche Moralvorstellungen für

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119 EGMR, EyGRZ 1977, 38, Rn 52 - Handyside. 120 EGMR, HRLJ 1994, 371, Rn 50 - Otto-Preminger-Institut. 121 EGMR, Reports of Judgments and Decisions 1996-V, 1937, Rn 58 - Wingrove; vgl dazu auch Kolonovits in: Grabenwarter/Thienel (Hrsg) Kontinuität und Wandel der EMRK, 1998, S 169 ff. 122 EKMR, Decisions and Reports 9, 13 fT - X, Y und Z. 123 EGMR, EuGRZ 1988, 543, Rn 35-36 und 43 - Müller.

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alle Vertragsstaaten herbeiführen müsste. Immer dann, wenn es um Eingriffe geht, die dem Schutz der Moral oder der Religion dienen, greift der vom EGMR stets betonte staatliche Beurteilungsspielraum, der die Kontrolldichte bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung erheblich lockert. g) Der Prüfungsmaßstab bei Eingriffen in die Rundfunk- und Fernsehfreiheit 54

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Für die Rundfunk- und Fernsehfreiheit kommt es im Wesentlichen darauf, welche Vorgaben Art 10 I 3 EMRK für die Regelung der Rundfunkorganisation macht. Ohne Zweifel verbleibt den Mitgliedstaaten eine gewisse Freiheit, die technischen Aspekte von Radiound Fernsehen zu regeln. In diesem Zusammenhang bietet Satz 3 die Grundlage für die Durchsetzung völkerrechtlicher Bestimmungen des Telekommunikationsrechts.124 Dabei ist allerdings der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. So hielt der EGMR die Verweigerung einer behördlichen Genehmigung durch schweizerische Behörden zum Empfang eines Rundfunkprogramms für unverhältnismäßig, weil - abgesehen von einer fehlenden Einwilligung in den Empfang eines sowjetischen Rundfunkprogramms seitens der damaligen UdSSR - keine Gründe ersichtlich waren, den Empfang eines unverschlüsselten, für die Allgemeinheit in der UdSSR bestimmten Programms zu verbieten.125 In ähnlicher Weise dürfte die Beschränkung der Errichtung individueller Empfangsanlagen auf der Grundlage denkmalschutzrechtlicher und baurechtlicher Vorschriften jedenfalls dann einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegen, wenn eine Kollektivantenne kein gleichwertiges Empfangsangebot ermöglicht.126 Ein unverhältnismäßiger Eingriff liegt vor, wenn die Informationsfreiheit in ihrem Kern getroffen wird.127 Soweit die Bestimmung nicht nur technische Aspekte regelt, hat der Gerichtshof das Lizenzierungsverfahren den Bedingungen von Art 10 II EMRK unterstellt. Mit dieser dogmatisch nicht ohne weiteres nachvollziehbaren, teleologisch aber überzeugenden, weil dem technischen Fortschritt und den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragenden - Interpretation von Art 10 I 3 EMRK gehört die Freiheit des Privatrundfunks und Privatfernsehens128 nicht nur zum Schutzbereich des Grundrechts, sondern ein staatliches Radio- und Fernsehmonopol erscheint auch als unverhältnismäßig.129 Jedenfalls dann, wenn ein an die EMRK gebundener Staat das (überkommene) Radio- oder Fernsehmonopol gelockert und Genehmigungen für private Sender eingeführt hat, ist die Erteilung und die Verteilung der Genehmigungen an Art 10 II EMRK zu messen. Dies hindert die Staaten nicht daran, andere als technische Aspekte bei der Erteilung einer Genehmigung zu berücksichtigen, wie beispielsweise Natur und Ziele einer Station, den kulturellen Pluralismus, Besonderheiten der staatlichen Organisation (wie zB bundesstaatliche Eigen124 E G M R , E u G R Z 1990, 255, Rn 60 f - Groppera Radio AG. 125 E G M R , E u G R Z 1990, 261, R n 63 - Autronic. 126 E G M R , E u G R Z 1990, 261, Rn 47 - Autronic. Vgl außerdem die nachfolgenden Kommissionsentscheidungen Radio X/Schweiz, D R 37, 236; A/Schweiz, D R 41, 141; Autronic/Schweiz (Kommissionsbericht), Rn 49; Ebner/Schweiz, Beschwerde Nr 13253/87 (Zulässigkeitsentscheidung der Kommission), Rn 3. 127 Vgl dazu Laeuchli-Bosshard(Fn 82) S 31 ff; Villiger (Fn 9) S 413. 128 Vgl allgemein Engel Privater Rundfunk vor der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1993. 129 E G M R , E u G R Z 1994, 549, Rn 39 und 41-43 - Informationsverein Lentia; vgl auch die friedliche Streitbeilegung im Fall Telesystem Tirol Kabeltelevision, Reports of Judgments and Decisions 1997-III, 970, sowie die Entscheidung E G M R , Reports of Judgments and Decisions 1997-VI, 2188, Rn 31-33 - Radio ABC.

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§4 III

heiten) oder auch nicht-technische Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen.130 Soweit damit Einschränkungsziele verfolgt werden, die nicht nach Art 10 II EMRK gerechtfertigt sind, hält der Gerichtshof dies grundsätzlich für unschädlich und für durch Art 1013 EMRK gedeckt,131 verlangt jedoch die Beachtung der anderen Voraussetzungen von Art 10 II EMRK, insbesondere das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage sowie die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.132 Weitere Vorgaben für die Regelung der Rundfunkorganisation ergeben sich nicht ausdrücklich aus dem Wortlaut der Vorschrift, lassen sich aber in der Spruchpraxis der Konventionsorgane ausmachen. Insbesondere hat der EGMR das Gebot des Medienpluralismus anerkannt und dieses im Zusammenhang mit Art 10 II EMRK und dem „Schutz der Rechte anderer" berücksichtigt.133 Allerdings haben die Konventionsorgane anders als die nicht immer überzeugenden „Fernsehurteile" des Bundesverfassungsgerichts134 - eine begrüßenswerte Zurückhaltung dahingehend geübt, dass sie der Versuchung widerstanden haben, auf der Grundlage der Rundfunk- und Fernsehfreiheit eine umfassende Rechtsordnung für die Massenmedien zu entwickeln. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass der EGMR der Rundfunk- und Fernsehfreiheit gar einen Gestaltungsauftrag für den Gesetzgeber entnehmen würde. Damit besteht für Straßburg auch keine Gefahr, dass grundrechtsdogmatisch eine Metamorphose der Medienfreiheit hin zur Pflicht stattfindet.135

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III. Versammlungsfreiheit Leitentscheidungen: E G M R , E u G R Z 1989, 522 fT - Plattform „Ärzte für das Leben"; H R L J 1991, 185 - Ezelin; http://www.echr.coe.int/Eng/Judgments.htm - Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden; E K M R , E u G R Z 1980, 36 ff - Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. Schrifttum: Fitzpatrick/Taylor

E H R L R 1998, 292 ff.

Ebenso wie das Recht der Meinungsfreiheit gehört das Recht der Versammlungsfreiheit, das in Art 11 I EMRK gewährleistet wird, zu den für ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen grundlegenden Freiheiten. Die Versammlung ist nicht nur eine besondere Form der Meinungsäußerung. Sie löst Isolierung auf, vermittelt ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und ermöglicht die Bildung und Äußerung individueller wie auch kollektiver Meinungen. Damit trägt die Versammlungsfreiheit zur Gewährleistung der Meinungsäußerungsfreiheit bei und sichert als bedeutender Faktor im Vorfeld institutionalisierter politischer Entscheidung die Demokratie.136 Geschützt sind sowohl die Organisatoren von Versammlungen als auch deren Teilnehmer.

130 Frowein in: Frowein/Peukert Art 10 E M R K Rn 19. 131 E G M R , E u G R Z 1994, 549, Rn 32 - Informationsverein Lentia. 132 E G M R , E u G R Z 1990, 255, Rn 61 - Grapperà Radio AG; E G M R , E u G R Z 1994, 549, Rn 32 f - Informationsverein Lentia. 133 E G M R , E u G R Z 1990, 255, Rn 69 und 70 - Grapperà Radio AG; zustimmend Probst (Fn 31) S 26. 134 Vgl dazu Stock J Z 1997, 583 ff. 135 Vgl die Kritik an der Rspr des BVerfG bei Engel AfP 1994, 185 ff. 136 E G M R , E u G R Z 1981, 559, Rn 57 - Young, James und Webster; HRLJ 1991, 185, Rn 37 - Ezelin.

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§ 4 III 1

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Kall 5: (EG VI R, http://www.echr.coe.int/Eng/Judgments.htm Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation I linden) S war Vorsitzender einer Organisation, die mit dem Ziel gegründet worden war, eine spezifische ethnische Minderheit auf einer religiösen und kulturellen Basis zu einigen und deren Anerkennung als Minderheit in B zu erreichen. Nachdem der Organisation die Eintragung als Vereinigung von den Gerichten mit der Begründung verweigert worden war, dass ihre Ziele in Wahrheit gegen die Einheit der Nation und auf die Förderung von ethnischem Hass gerichtet wären und sie eine Gefahr für die territoriale Integrität des Staates darstellen würde, wurde dem S und seiner Organisation über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg wiederholt die Abhaltung von Versammlungen oder Gedenkfeiern an historischen Plätzen behördlich untersagt. Die dagegen angerufenen Gerichte wiesen die Rechtsmittel jeweils mit der Begründung ab, dass aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Organisation um eine verbotene Vereinigung handle, begründete Bedenken bestünden, dass die Versammlungen oder Gedenkfeiern die öffentliche Ordnung und die Rechte und Freiheiten anderer gefährden würden. S und die Organisation sehen sich in ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit nach Art 11 E M R K verletzt.

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Schutzbereich

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Der Begriff der V e r s a m m l u n g wird in Art II I E M R K nicht definiert. In Übereinstimm u n g mit R e c h t s p r e c h u n g u n d Literatur ist d a r u n t e r das Z u s a m m e n k o m m e n von M e n schen mit d e m Zweck zu verstehen, u n t e r e i n a n d e r oder gegenüber Dritten M e i n u n g e n mitzuteilen, zu diskutieren oder ihnen symbolischen A u s d r u c k zu g e b e n . " 7 Fehlt einer G r u p p e von M e n s c h e n d a s Bewusstsein, der gemeinsame Zweck oder ein M i n d e s t m a ß an Organisation, so k a n n m a n k a u m von einer V e r s a m m l u n g sprechen. Ein M e n s c h e n a u f l a u f ist keine Versammlung. Trotz des Beitrags, den die Versammlungsfreiheit zur D e m o k r a t i e leistet, sollte der Schutzbereich nicht auf politische Z u s a m m e n k ü n f t e b e s c h r ä n k t werden. Es ist nicht ersichtlich, w a r u m Versammlungen zu gesellschaftlichen Zwecken nur den Schutz von A r t 8 E M R K genießen sollen, 118 obwohl sie im Einzelfall d u r c h a u s meinungsbildende F u n k t i o n aufweisen k ö n n e n . " ' '

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A r t 11 I E M R K schützt unterschiedliche Erscheinungsformen von Versammlungen, deren Vorbereitung u n d deren D u r c h f ü h r u n g : Z u s a m m e n k ü n f t e mit öffentlichem oder privatem Charakter, Versammlungen unter freiem Himmel oder in geschlossenen R ä u m e n , o r t s g e b u n d e n e Veranstaltungen u n d U m z ü g e sowie Veranstaltungen von kurzer oder unbegrenzter Dauer. Die Versammlungsfreiheit ist nicht nur in privaten R ä u m e n o d e r auf privaten G r u n d s t ü c k e n geschützt. Vielmehr sind im besonderen a u c h öffentliche Plätze f ü r die Realisierung der Versammlungsfreiheit von Bedeutung, k a n n d o c h gerade d o r t die kollektive M e i n u n g s ä u ß e r u n g ihre W i r k u n g entfalten. 1 4 " A r t 11 I E M R K gewährleistet d a h e r nicht nur die (engere) Versammlungsfreiheit, sondern auch die (weitere) D e m o n s t r a tionsfreiheit, in deren Schutzbereich beispielsweise a u c h „sit-ins" fallen. 141 Im Gegensatz zu A r t 8 G G , der die Versammlungsfreiheit „ o h n e A n m e l d u n g oder E r l a u b n i s " garantiert, stellen bloße A n m e l d e - u n d formelle G e n e h m i g u n g s e r f o r d e r n i s s e in Bezug auf die

137 138 139 140 141

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EGMR. EuGRZ 1989, 522. Rn 12 Plattform „Ärzte für das Leben". So aber Frowcin in: Frowein/Peukert Art 11 EMRK Rn 2. Müller (Fn 3) S 327 f. EK.MR, EuGRZ 1980. 36. Rn 3 Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. EK.MR, Decisions and Reports 60. 256. Rn 2 X/Deutschland.

Kommunikationsgrundrechte

§ 4 III 3

Nutzung der öffentlichen Straße allerdings keine Einschränkungen des Rechts der Versammlungsfreiheit dar.142 Schon von ihrer Funktion als unentbehrlicher Bestandteil einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung her ist nur die gewaltfreie Kommunikation in einer demokratischen Gesellschaft geschützt. Der Wortlaut von Art 11 I E M R K bezieht ausdrücklich nur friedliche Versammlungen in den Schutzbereich ein. Da insbesondere bei Demonstrationen auch die gezielte Provokation ein wesentliches Ausdrucksmittel ist, dürfen nur krasse Fälle der Gewalttätigkeit dazu führen, Versammlungen a priori vom Schutzbereich des Art 11 I E M R K auszunehmen. Unfriedlich sind in erster Linie solche Versammlungen, die von Anfang an von den Veranstaltern zur gewaltsamen Durchsetzung von Zielen geplant sind. Nicht ausreichend sind unfriedliche Ereignisse am Rande einer Demonstration oder der Versuch von Extremisten, Versammlungen zu unterlaufen. 143 In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass Art 11 I E M R K den Staaten auch die positive Verpflichtung auferlegt, für den Schutz von Demonstrationen zu sorgen. Sonst könnte aus Furcht vor gewaltsamen Gegendemonstrationen die Ausübung des Rechtes aus Art I I I E M R K praktisch verhindert werden.' 44 Dabei obliegt dem Staat allerdings die Wahl der Mittel. Diese positive Schutzpflicht hat auch Auswirkungen auf die Zulässigkeit von Gegendemonstrationen. Es ist durchaus vertretbar, diese jedenfalls dann nicht mehr dem Schutzbereich von Art 11 I E M R K zuzuordnen, wenn sie ausschließlich darauf abzielen, eine andere Demonstration zu stören. Vorzugswürdig dürfte allerdings eine Bewertung von Gegendemonstrationen anhand von Art 11 II E M R K sein.

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2. Eingriff Während ein Genehmigungserfordernis für die Durchführung von Veranstaltungen auf öffentlichen Plätzen nicht als Eingriff zu werten ist, stellt ein Versammlungsverbot ohne Zweifel einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar. Auch andere Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, die sich auf die Vorbereitung, Organisation und Durchführung von Versammlungen beziehen, lassen sich ohne Probleme als Eingriff qualifizieren. Ebenso stellen spätere disziplinarische oder strafrechtliche Sanktionen wegen der Teilnahme an einer Demonstration einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar.145 3.

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Rechtfertigung

Art 11 II 1 E M R K folgt dem Muster der Eingriffsrechtfertigungen der Art 8 bis 10 EMRK. Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind danach gerechtfertigt, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, einen der in Art 11 II 1 E M R K abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sind. Diese Bedingungen müssen kumulativ vorliegen.

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a) Zulässige Eingriffszwecke Unter den in Art 11 II 1 E M R K genannten Zwecken, die der Rechtfertigung von Eingriffen in die Versammlungs-, die Vereinigungs- und die Koalitionsfreiheit dienen, kommen 142 EKMR, EuGRZ 1980, 36, Rn 3 - Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. 143 EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 39 - Ezelin; EKMR, EuGRZ 1981, 216, Rn 4 - Christians against Racism and Facism. 144 EGMR, EuGRZ 1989, 522, Rn 32 - Plattform „Ärzte für das Leben". 145 EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 39 - Ezelin.

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Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit und zur Aufrechterhaltung der Ordnung für die Versammlungsfreiheit besondere Bedeutung zu. Die übrigen Eingriffszwecke (nationale Sicherheit,146 Verbrechensverhütung, Schutz der Gesundheit und der Moral, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) haben in der Praxis bislang allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt. b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 66

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Der Prüfung der Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen kommt im Rahmen von Art 11 II 1 E M R K entscheidende Bedeutung zu. Dabei ist zwischen direkten und indirekten Eingriffen sowie zwischen Versammlungsverboten und milderen Eingriffen zu unterscheiden. Indirekte Eingriffe unterliegen insofern einer strengen Prüfung, als disziplinarische und strafrechtliche Sanktionen nur unter engen Voraussetzungen und nur in Bezug auf die Personen angewendet werden dürfen, die selbst vorwerfbare Akte begehen. Für andere Personen darf das Recht zur friedlichen Versammlung in Anbetracht seiner Bedeutung nicht auf diesem Wege eingeschränkt werden.147

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Direkte Eingriffe sind in der Gestalt von Versammlungsverboten nur ausnahmsweise zulässig. Ein allgemeines Veranstaltungsverbot über einen Zeitraum von zwei Tagen im Zusammenhang mit den teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Bildung des Kantons Jura wurde von der früheren Kommission als verhältnismäßig angesehen.148 Auch ein sehr viel weiter gehendes, für zwei Monate geltendes Demonstrationsverbot in der Londoner Innenstadt wurde als verhältnismäßig angesehen. Allerdings betonte die frühere Kommission in diesem Fall den Ausnahmecharakter eines solchen generellen Verbots.149

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Unterhalb der Schwelle von Versammlungsverboten ist die Verhältnismäßigkeit direkter Eingriffe anhand einer Abwägung zwischen privaten und öffentlichen Interessen zu beurteilen, bei der die mit der Durchführung der Veranstaltung verbundenen Beeinträchtigungen der in Art 11 II 1 E M R K genannten Schutzgüter, das Ausmaß des Eingriffs und die Möglichkeit weniger weitgehender Maßnahmen in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen sind. In Anbetracht erheblicher Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung ist es etwa zulässig, die Wahl des Ortes einer Versammlung oder der Route einer Demonstration zu beschränken.150 c) Besondere Einschränkungen für staatliche Bedienstete

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Die besonderen Einschränkungen für staatliche Bedienstete, die in Art 11 II 2 E M R K vorgesehen sind, haben bislang nur geringe praktische Bedeutung erlangt - und dies auch eher im Kontext der Vereinigungsfreiheit, wo sie näher behandelt werden, als bei der

146 Vgl auch E K M R , Decisions and Reports 36, 187 ff - Vereinigung X und Y; E G M R , http://www.echr.coe.int/Eng/Judgments.htm - Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden. 147 E G M R , H R L J 1991, 185, Rn 53 - Ezelin; vgl auch E K M R , Decisions and Reports 29, 194, Rn 2 - X . 148 E K M R , E u G R Z 1980, 36, Rn 11 - Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. 149 E K M R , E u G R Z 1981, 216, Rn 5 - Christians against Racism and Facism. 150 Zum Verbot einer Demonstration auf dem Trafalgar Square in London vgl E K M R , Decisions and Reports 81-A, 146 ff - „Negotiate N o w " .

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Kommunikationsgrundrechte

§ 4 IV 1

P r ü f u n g v o n Eingriffen in die Versammlungsfreiheit. In einem Verfahren, bei d e m es u m die Verhältnismäßigkeit disziplinarischer M a ß n a h m e n gegenüber niederländischen S o l d a ten ging, k o n n t e der E G M R sich darauf zurückziehen, dass die Betroffenen nicht w e g e n ihrer T e i l n a h m e an einer V e r s a m m l u n g bestraft w o r d e n waren. 1 5 1 Lösung Fall 5: D a nicht ersichtlich ist, d a s s die O r g a n i s a t o r e n d e r V e r s a m m l u n g e n o d e r G e d e n k f e i e r n gewalttätige A b s i c h t e n gehabt h ä t t e n , ist der Schutzbereicli der Versammlungsfreiheit eröffnet. In Gestalt der V e r s a m m l u n g s v e r b o t e liegt ein .Eingriff in d a s Recht a u f Versammlungsfreiheit vor. Eine gesetzliche G r u n d l a g e unterstellt, verfolgte der Eingriff das legitime Ziel des Schutzes der n a t i o n a l e n Sicherheit und d e r A u f r e c h t e r h a l t u n g d e r öffentlichen O r d n u n g . Fraglich ist. o b der Eingriff in einer d e m o k r a t i s c h e n Gesellschaft n o t w e n d i g war. A u s g e h e n d von d e m engen Z u s a m m e n h a n g zwischen Art 10 E M R K u n d A r t 11 E M R K ist es in diesem Fall b e s o n d e r s problematisch, dass die Eingriffe in die Versammlungsfreiheit z u m i n d e s t teilweise in R e a k t i o n auf die von d e n Teilnehmern vertretenen Ansichten erfolgten. Es besieht kein Zweifel, dass die E i n w o h n e r einer Region eines L a n d e s berechtigt sind. Vereinigungen zur F ö r d e r u n g der speziellen regionalen C h a r a k t e r i s t i k a zu bilden. Insbesondere ist die Tatsache, dass eine solche Vereinigung ein „ M i n d e r h e i t e n b e w u s s t s e i n " geltend m a c h t , f ü r sich allein n o c h kein G r u n d f ü r einen Eingriff in die Rechte des A r t 11 E M R K . Auch die Verweigerung der E i n t r a g u n g genügt nicht, u m eine Praxis v o n systematischen Verboten bezüglich der A b h a l t u n g von V e r s a m m l u n g e n z u rechtfertigen.

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Weder der b e h a u p t e t e Einsatz von Waffen n o c h eine G e f a h r f ü r die öffentliche O r d n u n g ließen sich hinreichend belegen. Allenfalls die Verbreitung separatistischer Ideen ließ sich im k o n k r e t e n Fall nachweisen. Dies reicht aber nicht aus, u m ein V e r s a m m l u n g s v e r b o t zu rechtfertigen. In einer d e m o k r a t i s c h e n Gesellschaft, die auf dem R e c h t s s t a a t s p r i n z i p ber u h t . m u s s politischen Ideen, welche die b e s t e h e n d e O r d n u n g angreifen u n d deren Verwirklichung d u r c h friedliche Mittel angestrebt wird, angemessene Gelegenheit zur Verbreitung, wie etwa d u r c h V e r s a m m l u n g e n o d e r a n d e r e gesetzliche Mittel, gegeben werden. I n s g e s a m t stellt sich der Eingriff d a h e r als in einer d e m o k r a t i s c h e n Gesellschaft nicht n o t w e n d i g dar. A r t 11 E M R K ist verletzt.

IV. Vereinigungsfreiheit Leitcntscheidungen: E G M R , E u G R Z 1981. 551 IT Le Comptc, Van Leuven and De Meycrc: Judgments and Dccisions 1998-1, 1 IT TBKP; R U D H 1999. 17 IT Chassagnou. Schrifttum: Tomuschat in: Macdonald ua (Hrsg) The European System for the Protection of Human Rights. 1993. S 493 f: WihHuiher FS Schefold, 2001. S 257 IT.

1. Schutzbereich D i e Vereinigungsfreiheit schützt d e n freien Z u s a m m e n s c h l u s s v o n P e r s o n e n zu rechtm ä ß i g e n Z w e c k e n . D e r Staat m u s s also in seiner R e c h t s o r d n u n g M ö g l i c h k e i t e n z u m Z u s a m m e n s c h l u s s vorsehen, o h n e dass daraus ein A n s p r u c h a u f b e s t i m m t e R e c h t s f o r m e n resultieren würde. G r u n d s ä t z l i c h steht es den Staaten frei, die V o r a u s s e t z u n g e n für die G r ü n d u n g juristischer Personen zu regeln. I n s b e s o n d e r e schützt Art 11 I E M R K nicht die G r ü n d u n g öffentlich-rechtlicher Institutionen. Selbst w e n n es sich dabei u m Z w a n g s körperschaften h a n d e l n sollte, liegt ein Eingriff in d e n Schutzbereich nach A u f f a s s u n g d e s

151 E G M R . E u G R Z 1976, 221. Rn 108

Engel.

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§4 IV 3

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EGMR nur vor, wenn gleichzeitig die Bildung freier einschlägiger Vereinigungen ausgeschlossen ist.152 Ob und inwieweit die Vereinigungsfreiheit Auswirkungen auf das Gesellschaftsrecht etwa im Sinne einer Einführung neuer Organisationsformen - hat, ist im Einzelnen umstritten. 153 Dagegen hat die Vereinigungsfreiheit in den letzten Jahren als Parteienfreiheit zunehmend Bedeutung für das Parteienrecht erlangt. Hierauf ist bei der Rechtfertigung von Eingriffen zurückzukommen. In den Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit fällt neben dem Zusammenschluss auch die Tätigkeit der Vereinigung, soweit sich dies aus der Konkretisierung in Gestalt der Koalitionsfreiheit ergibt.154 Nicht gewährleistet ist damit allerdings auch schon die Erreichung des Zwecks, für den die Vereinigung gegründet wurde.155 Obwohl Art 11 I E M R K (anders als Art 20 II der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) keine allgemeine Aussage über die so genannte negative Vereinigungsfreiheit, also die Freiheit, aus einer Vereinigung auszutreten oder ihr fernzubleiben, enthält, geht der E G M R davon aus, dass diese Freiheit Bestandteil von Art 11 I E M R K ist.'56 Diese Freiheit ist vor allem für die so genannte negative Koalitionsfreiheit, auf die noch zurückzukommen ist, von Bedeutung. 2. Eingriff

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Eingriffe können sowohl eine breite Vielfalt von Adressaten betreffen als auch sehr unterschiedliche Formen annehmen. Das Verbot von Vereinigungen und die Unterbindung bestimmter Aktivitäten dieser Vereinigungen lassen sich unproblematisch als Eingriffe qualifizieren. Ebenfalls als Eingriff zu werten ist darüber hinaus nationales Recht, das an die Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft in Vereinigungen Sanktionen knüpft. Dies gilt sowohl für gewerkschaftliche Beschäftigungsmonopole („closed shop") 157 , auf die im Zusammenhang mit der Koalitionsfreiheit näher einzugehen ist, als auch für die NichtBeschäftigung im oder Entlassung aus dem Staatsdienst wegen Mitgliedschaft in einer (nicht verbotenen) politischen Partei.158 3.

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Rechtfertigung

Wie im Fall der Versammlungsfreiheit sind Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit dann gerechtfertigt, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, einen der in Art 11 II 1 E M R K abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sind. Hinsichtlich der zulässigen Eingriffszwecke kann auf die Ausführungen zur Versammlungsfreiheit verwiesen werden. Besondere Bedeutung hat die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Bildung und dem Fortbestand politischer Parteien

152 153 154 155 156

E G M R , E u G R Z 1981, 551, Rn 65 - Le Compte, Van Leuven and De Meyere. Vgl dazu Marauhn RabelsZ 1999, 537, 550 ff. E G M R , E u G R Z 1975, 562, R n 38-39 - Nationale Belgische Polizeigewerkschaft. E K M R , Decisions and Reports 9, 5, Rn 52 - Vereinigung X. E G M R , Série A, Vol 264, Rn 35 - Sigurdur Sigurjönsson; vgl zuletzt auch R U D H 1999, 17, Rn 103 - Chassagnou. 157 E G M R , E u G R Z 1981, 559, Rn 49 und 51-53 - Young, James und Webster. 158 E G M R , E u G R Z 1995, 590, R n 4 4 - V o g t .

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§4 V

erlangt. Weder kann eine Partei allein aufgrund ihres Namens159 noch allein aufgrund ihres regierungskritischen Engagements für die Rechte von Minderheiten verboten werden.160 Etwas anderes kann freilich dann gelten, wenn eine Partei verfassungsfeindliche, insbesondere anti-demokratische und menschenrechtswidrige Ziele verfolgt und dabei gewaltsame Mittel zur Erreichung dieser Ziele nicht ausschließt. Dann kommt dem Staat ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu, innerhalb dessen der EGMR die Rechtfertigung von Eingriffen nicht im Einzelnen überprüft.161 Im Fall Vogt stellte der EGMR eine Verletzung der Vereinigungsfreiheit fest, weil die Beschwerdeführerin wegen ihrer Mitgliedschaft in der Deutschen Kommunistischen Partei aus dem Staatsdienst entlassen worden war, das Bundesverfassungsgericht diese Partei jedoch nicht verboten hatte.162 Zwar hat der EGMR ausdrücklich offen gelassen, ob Art 1112 EMRK auch auf deutsche Lehrer im Beamtenverhältnis Anwendung findet. Ein aus der Treuepflicht staatlicher Bediensteter (soweit der personelle Anwendungsbereich dieser Vorschrift reicht) resultierendes Verbot, einer bestimmten Vereinigung beizutreten, dürfte aber in Ausnahmefallen jedenfalls dann von der besonderen Einschränkung gedeckt sein, wenn das Verbot auf gesetzlicher Grundlage beruht und ohne Willkür angewendet wird.163

V. Koalitionsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1975, 562ff - Nationale Belgische Polizeigewerkschaft; EuGRZ 1976, 62 ff - Schwedischer Lokomotivführerverband; EuGRZ 1981, 559 ff - Young, James u Webster; HRLJ 1996, 118 ff - Gustafsson; EKMR, Decisions and Reports 50, 228 ff - Council of Civil Service Unions. Schrifttum: Marauhn RabelsZ 1999, 537 ff; Wildhaber FS Vischer, 1983, S 349 ff; ders GYIL, 1976, 239 ff.

Neben der Versammlungs- und der Vereinigungsfreiheit gewährleistet Art 11 I EMRK in Anlehnung an Art 20 und Art 23 Nr 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Recht, Gewerkschaften zum Schutz ihrer Mitglieder zu bilden und diesen beizutreten. Die ausdrückliche Gewährleistung der Koalitionsfreiheit ist keine Privilegierung dieses wichtigen Bestandteils des allgemeinen Rechts der Vereinigungsfreiheit gegenüber anderen Teilgewährleistungen.164 Vielmehr handelt es sich dabei um eine Klarstellung mit dem Ziel, die Gewerkschaftsfreiheit unabhängig davon zu gewährleisten, ob Koalitionen nach nationalem Recht als Vereinigungen anzusehen sind.165

159 EGMR, Reports of Judgments and Decisions 1998-1, 1, Rn 54 - TBKP. 160 EGMR, http://www.echr.coe.int/Eng/Judgments.htm, Rn 56-57 und 60 - Yazar, Karata§, Aksoy und Halkin Emegi Partisi. 161 EGMR, http://www.echr.coe.int/Eng/Judgments.htm, Rn 80-83 - Refah Partisi, Erbakan, Kazan und Tekdal. 162 EGMR, EuGRZ 1995, 590, Rn 60 f und 66 ff - Vogt. 163 EKMR, Decisions and Reports 50, 228, 240 - Council of Civil Service Unions. 164 Frowein in: Frowein/Peukert Art 11 EMRK Rn 9. 165 van Dijktvan Hoof Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 2. Aufl, 1990, S 431; Tomuschat in: Macdonald ua (Hrsg) The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S 493,494.

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§4 V 1

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Thilo Marauhn

Fall 6: ( E G M R , H R L J 1996, 118 ff - Gustafsson) G war Inhaber eines Restaurants. Er verweigerte die Mitgliedschaft im Hotel- und Gaststättenverband, so dass die Arbeitsverträge seiner Angestellten nicht den Kollektivverträgen unterlagen. Die Unterzeichnung eines entsprechenden Zusatzabkommens lehnte G ebenfalls ab. Daraufhin boykottierten ihn die Gewerkschaften, ua durch die Einstellung von Lieferungen an sein Restaurant. G ersuchte daraufhin die Regierung darum, auf die Gewerkschaften zwecks Einstellung der Boykottmaßnahmen einzuwirken. Diese verwies ihn auf die Zuständigkeit ordentlicher Gerichte. Rechtsmittel gegen die Untätigkeit der Regierung blieben erfolglos. Aufgrund von durch den Boykott verursachten finanziellen Schwierigkeiten musste G schließlich sein Restaurant verkaufen. G sieht sich durch die Untätigkeit der Regierung in seinen Rechten aus Art 11 E M R K verletzt.

1. Schutzbereich 81

Die in Art 11 I E M R K gewährleistete Koalitionsfreiheit schützt sowohl den einzelnen Staatsbürger als auch die Vereinigung selbst und ist daher ein Doppelgrundrecht. Speziell für die Tätigkeit der Gewerkschaften ergibt sich darüber hinaus unmittelbar aus der Formulierung „zum Schutze ihrer Interessen" eine Gewährleistung für die Ausübung ihrer Tätigkeit. Verpflichtungsadressat ist der Staat. Art 11 I E M R K entfaltet keine unmittelbare Drittwirkung. Allerdings kann man von einer mittelbaren Drittwirkung in dem Sinne sprechen, dass eine staatliche Schutzverpflichtung gegenüber Beeinträchtigungen durch Dritte besteht. 1 "' Ist der Staat selbst Arbeitgeber, so greift Art 11 E M R K unmittelbar.1"7 a) Individuelle Koalitionsfreiheit

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Zur individuellen Koalitionsfreiheit des Art 11 I E M R K gehört zunächst das Recht, eine Gewerkschaft zu gründen und ihr beizutreten. Arbeitgebervereinigungen werden nicht ausdrücklich benannt. Es ist aber unstreitig, dass deren Bildung durch die allgemeine Vereinigungsfreiheit geschützt wird. 168 Der E G M R billigte auch freien Arztevereinigungen den Schutz des Art 11 I E M R K zu."'9 ÖfFentlichrechtliche Zwangszusammenschlüsse fallen dagegen - wie schon dargelegt - nicht unter Art 11 EMRK. 1 7 0 D a s Recht, einer Koalition beizutreten, besteht nur im Rahmen der Statuten dieser Koalition, die insoweit aufgrund von Art 11 I E M R K Autonomie genießt. 171

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Die eigentliche Bedeutung der Straßburger Spruchpraxis zur individuellen Koalitionsfreiheit liegt in der Anerkennung der negativen Koalitionsfreiheit. Diese Spruchpraxis wurde zunächst in der Auseinandersetzung mit so genannten „closed shop"-Regelungen entwickelt. Zwar ist der Abschluss einer Vereinbarung zwischen einem privaten Arbeit-

166 Vgl dazu eingehend Frmrein in: Frowein/Peukert Art 11 EMRK Rn 15; Tomuschat in: Macdonald (Fn 165) S 504 f; ran Dijklran Hoof (Fn 165) S 435 und 437 f; EGMR, EuGRZ 1981.559, Rn 49 Young, James und Webster. Vgl hierzu auch WUdhaber FS Vischer, 1983, S 349, 358 f. 167 EGMR, EuGRZ 1976, 62, Rn 37 Schwedischer Lokomotivführerverband; EuGRZ 1976. 68, Rn 33 - Schmidt und Dahlström. 168 Fnmcin in: Frowein/Peukert Art 11 EMRK Rn 1; Tomuschat in: Macdonald (Fn 165) S 494. 169 EGMR. EuGRZ 1981. 551, Rn 65 Le Compte, Van Leuven and De Meyere. 170 EGMR, EuGRZ 1981, 551, Rn 62 ff Le Compte. Van Leuven and De Meyere; EuGRZ 1983, 190, Rn 43 f Albert und Le Compte. 171 EKMR, Decisions and Reports 42, 178, 185 f - Ernest Dennis Cheall.

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§4 V I

geber und einer Gewerkschaft, wonach nur Arbeitnehmer mit einer bestimmten Gewerkschaftszugehörigkeit bei dem betreffenden Arbeitgeber beschäftigt werden dürfen, grundsätzlich von der Vertragsfreiheit beider Seiten gedeckt und fällt mangels unmittelbarer Drittwirkung des Art I I I EMRK nicht in dessen Schutzbereich. Sanktioniert der Staat jedoch dieses System, indem er Entlassungen durch private Arbeitgeber wegen fehlender Gewerkschaftszugehörigkeit zulässt und in diesen Fällen keinen oder nur eingeschränkten Kündigungsschutz gewährt, so stellt sich unmittelbar die Frage nach der negativen Koalitionsfreiheit des betroffenen Arbeitnehmers.172 In ihrer Spruchpraxis betonten die Straßburger Instanzen, sie hätten nicht zur Konventionskonformität des „closed shop" als solchem Stellung genommen.173 Keine Verletzung von Art 11 I EMRK sah der Gerichtshof in einem Fall, in dem der Arbeitnehmer an einem ihm von seinem Arbeitgeber angebotenen anderen Arbeitsplatz hätte weiterarbeiten können.174 Art 11 I EMRK ist nach Auffassung des Gerichtshofs auch auf Boykottmaßnahmen von Gewerkschaften anwendbar, die das Ziel verfolgen, einen Arbeitgeber zur Mitgliedschaft in einem Berufsverband oder zur Teilnahme an einem Kollektiwertragssystem zu zwingen.175 Derartige Maßnahmen berühren den Schutzbereich der negativen Vereinigungsfreiheit. Allerdings soll der Staat nur dann zum Eingreifen verpflichtet sein, wenn die Boykottmaßnahmen tatsächliche Auswirkungen auf die Vereinigungsfreiheit zeigten. b) Kollektive Koalitionsfreiheit, insbesondere Tarifautonomie und Arbeitskampffreiheit Art 11 EMRK schützt nicht nur die individuelle, sondern auch die kollektive Koalitionsfreiheit. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Norm. Die kollektive Koalitionsfreiheit haben die Konventionsorgane in den 1970er Jahren ausdifferenziert.176 Art 11 I EMRK gewährleistet allerdings weder ein spezifisches Konsultationsrecht der Gewerkschaften gegenüber privaten oder staatlichen Arbeitgebern in Berufsangelegenheiten noch einen Anspruch auf den Abschluss bestimmter Tarifverträge.177 In Abgrenzung zu Art 6 der Europäischen Sozialcharta räumt der EGMR lediglich ein, die Gewerkschaft müsse gehört werden,178 sie müsse also „die Möglichkeit haben ..., in der Öffentlichkeit zu wirken"179. Hieraus lassen sich kaum eindeutige Aussagen hinsichtlich der Reichweite der gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit im Rahmen von Art I I I EMRK ableiten.180 Auch lassen sich keine Aussagen zu Mitbestimmungsregelungen treffen.181 Dies ist allerdings vor dem Hintergrund hinnehmbar, dass die Rechte der Gewerkschaften in einer Vielzahl völkerrechtlicher Verträge erheblich detaillierter ausgestaltet sind.

172 173 174 175 176 177 178 179 180 181

So zutreffend dargelegt bei Tomuschat in: Macdonald (Fn 165) S 502 f. EGMR, EuGRZ 1981, 559, Rn 61 - Young, James und Webster. EGMR, Série A, Vol 258-A, Rn 29 - Sibson. EGMR, HRLJ 1996, 118 ff - Gustafsson. Eingehend Wildhaber GYIL 1976, 238 ff. EGMR, EuGRZ 1975, 562, Rn 38 - Nationale Belgische Polizeigewerkschaft; EuGRZ 1976, 62, Rn 39 - Schwedischer Lokomotivführerverband. EGMR, EuGRZ 1975, 562, Rn 39 - Nationale Belgische Polizeigewerkschaft. Frowein in: Frowein/Peukert Art 11 EMRK Rn 11. Frowein in: Vassilouni (Hrsg) Aspects of the protection of individual and social rights, 1995, S 203, 213. Öhlinger Verfassungsrechtliche Probleme der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Unternehmen, 1982, S 145 f.

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§4 V 3 85

Thilo Marauhn

Besteht also weder ein Anspruch auf Aufnahme von Verhandlungen noch ein solcher auf vertragliche Fixierung der Verhandlungsergebnisse, so ist zu fragen, wie es sich mit anderen Kollektivmaßnahmen, insbesondere dem Streikrecht verhält. Der Gerichtshof hat das Streikrecht zwar als eine der wichtigsten Kollektivmaßnahmen bezeichnet, sogleich aber auf die Einschränkungsmöglichkeiten, die auch in der Europäischen Sozialcharta vorgesehen sind, verwiesen. Kollektivmaßnahmen sollen grundsätzlich von Art 11 E M R K garantiert sein, dem Staat bleibe aber ein weiter Spielraum hinsichtlich der Zulässigkeit einzelner Maßnahmen. Danach scheint es zulässig zu sein, den Gewerkschaften an Stelle eines Streikrechts andere angemessene Mittel zum Schutz der Interessen ihrer Mitglieder zur Verfügung zu stellen.182 In dieser Allgemeinheit kann eine solche Schlussfolgerung allerdings nicht überzeugen. Abzustellen ist vielmehr darauf, dass Art 11 E M R K den typischen Zweck gewerkschaftlicher Organisation schützt. Neben einer grundsätzlichen Gleichbehandlung mit dem Einzelnen hinsichtlich der Wahrnehmung ihrer Interessen in Berufsangelegenheiten wird man den Schutzbereich von Art 11 E M R K jedenfalls so weit ausdehnen müssen, wie Gewerkschaften eine Funktion wahrnehmen, die ein Einzelner gerade nicht wahrnehmen kann. 183 Der völlige Ausschluss des Streikrechts dürfte nicht mehr mit Art 11 E M R K vereinbar sein.184 2. Eingriff

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In die Koalitionsfreiheit kann auf unterschiedliche Art und Weise eingegriffen werden. In der Spruchpraxis der Straßburger Organe hat neben direkten Eingriffen, wie einem Gewerkschaftsverbot, in erster Linie die staatliche Sanktionierung der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses wegen fehlender Gewerkschaftszugehörigkeit eine Rolle gespielt. Auch die Zwangsmitgliedschaft in einer privatrechtlichen Vereinigung für Selbständige wurde im Fall eines Taxifahrers, dem in der Folge seines Austritts aus einer Berufsvereinigung seine Taxikonzession entzogen worden war, als Eingriff angesehen.185 Darüber hinaus sind - wie schon dargelegt - auch gewerkschaftliche Boykottmaßnahmen, die einen Arbeitgeber zur Teilnahme an einem Kollektiwertragssystem veranlassen sollen, als Eingriffe zu werten.186 3.

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Rechtfertigung

Weder die individuelle noch die kollektive Koalitionsfreiheit werden von Art 11 E M R K unbegrenzt gewährleistet. Eingriffe sind gerechtfertigt, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, einen der in Art 11 II 1 E M R K abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sind. Hinsichtlich der zulässigen Eingriffszwecke kann auf die Ausführungen zur Versammlungsfreiheit verwiesen werden. Besondere Bedeutung kommt bei der Koalitionsfreiheit der Beschränkungsklausel des Art 11 II 2 E M R K zu. Diese Bestimmung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch.

182 So die Einschätzung von Villiger (Fn 9) S 417 f. 183 So überzeugend Tomuschat in: Macdonald (Fn 165) S 500 f. 184 Frowein in: Frowein/Peukert Art 11 EMRK Rn 13; Frowein in: Vassilouni (Fn 180) S 213. Ebenso Hendy European human rights law review 1998, 582, 587 und 608 ff. 185 EGMR, Série A, Vol 264, Rn 35 - Sigurdur Sigurjônsson. 186 EGMR, HRLJ 1996, 118, Rn 44-45 - Gustafsson.

104

Kommunikationsgrundrechte

§4 V 3

Zunächst stellt sich die Frage, wer zu den Mitgliedern der Staatsverwaltung zu rechnen ist, die neben denen der Streitkräfte und der Polizei genannt werden. Die offene Formulierung birgt Unsicherheiten hinsichtlich des Anwendungsbereichs. Man wird wohl in Anlehnung an die frühere Kommission fordern müssen, dass es sich um Personen handeln muss, die lebensnotwendige Funktionen zum Schutz der nationalen Sicherheit wahrnehmen.187 Es ist also eine funktionale Betrachtung vorzunehmen.188 So wurde das Gewerkschaftsverbot für Angehörige eines britischen Telekommunikationszentrums für militärische und andere amtliche Nachrichtensendungen unter Bezugnahme auf Art 11 II 2 EMRK für konventionsgemäß gehalten.189 Andererseits hat der Gerichtshof ausdrücklich offen gelassen, ob deutsche Lehrer im Beamtenverhältnis unter die besondere Einschränkung fallen.190 Neben dem personellen Anwendungsbereich der Vorschrift ist außerdem ungeklärt, ob die Bestimmung nur die Ausübung der Rechte oder auch ihre Existenz für den genannten Personenkreis besonderen staatlichen Beschränkungen zugänglich macht. Einerseits mag man argumentieren, dass die Ausübung der Rechte vollständig untersagt werden kann, sofern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt bleibt.191 Auf der anderen Seite besteht aber ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Ausübung von Rechten und der Rechtsinhaberschaft, der jedenfalls nahe legt, dass ein Anknüpfen der staatlichen Beschränkung an die Ausübung eine differenziertere Lösung ermöglicht.192 In einer unveröffentlichten Kommissions-Entscheidung wird offensichtlich das gegenüber einem belgischen Polizeibeamten verhängte Koalitionsverbot unter Bezugnahme auf Art 11 II 2 EMRK für konventionsgemäß gehalten. Diese Entscheidung ist deshalb kritisiert worden, weil sie den betroffenen Personen die Koalitionsfreiheit vorenthält, obwohl es eigentlich ausreichen sollte, die Modalitäten der Ausübung dieser Freiheit zu beschränken.193 Schließlich stellt sich mit Blick auf Satz 2 noch die Frage, ob für derartige staatliche Beschränkungen der Koalitionsfreiheit eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist. Nicht zu überzeugen vermag eine von der früheren Kommission geäußerte Auffassung, diese Beschränkungen müssten lediglich den allgemeinen Rechtsmäßigkeitsanforderungen genügen.194 Art 11 I 2 EMRK ersetzt nämlich lediglich die Zweckbestimmung der Beschränkungsklausel des Satzes 1, nicht aber die übrigen Anforderungen an staatliche Beschränkungen.195 Dies gilt in jedem Fall für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.196 Darüber hinaus wird man trotz des unterschiedlichen Wortlauts im Vergleich zu den in Art 8 bis 10 und Art 1 1 1 1 EMRK verwendeten Beschränkungsklauseln für Art 1 1 1 2 EMRK auch eine ähnlich klare Rechtsgrundlage fordern müssen,197 wenn man nicht den

187 EKMR, Decisions and Reports 50, 228, 239 - Council of Civil Service Unions. 188 Tomuschat in: Macdonald (Fn 165) S 511. 189 Zu den in diesem Zusammenhang bei der Internationalen Arbeitsorganisation eingelegten Beschwerden vgl Mills European Human Rights Law Review 1997, 35, 41 ff. 190 EGMR, EuGRZ 1995, 590, Rn 68 - Vogt. 191 So wohl Frowein in: Frowein/Peukert Art 11 EMRK Rn 18. 192 VelulErgec La convention européenne des droits de l'homme, 1990, S 659. 193 van Dijkhan Hoof (Fn 165) S 439 (dort ist auch die Kommissionsentscheidung nachgewiesen). 194 EKMR, Decisions and Reports 50, 228, 240 - Council of Civil Service Unions. 195 So überzeugend Tomuschat in: Macdonald (Fn 165) S 512. 196 Ausdrücklich van Dijklvan Hoof (Fn 165) S 439. 197 Davon geht offensichtlich auch Villiger aus (Fn 9) S 419.

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§ 4 VI

Thilo Marauhn

grundsätzlich auch diesen Trägern staatlicher Funktionen zustehenden Schutz der Versammlungs-, Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit erheblich relativieren will.

91

Lösung Fall 6: Zunächst ist zu prüfen, ob der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit überhaupt betroffen ist. Die Boykottmaßnahmen der Gewerkschaften zielten darauf ab. G zur Teilnahme am Kollektivvertragssystem zu zwingen. G standen dafür zwei Möglichkeiten offen: entweder die Mitgliedschaft im Hotel- und Restaurantverband oder die Unterzeichnung eines Zusatzabkommens. Darin liegt eine Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit des G, die in den Schutzbereich von Art 11 EMRK fällt. Ein Eingriff liegt nur vor. wenn der Staat zum Handeln verpflichtet ist. Eine solche positive Pflicht gemäß Art 11 E M R K ist dann gegeben, wenn die gerügten Handlungen tatsächliche Auswirkungen auf die Vereinigungsfreiheit zeigen. Die Ausübung von Zwang allein selbst wenn dies wie hier wirtschaftliche Schäden verursachte bedingt diese Pflicht noch nicht. Auch wenn man die Bedeutung der Kollektivverträge im Arbeitsrecht berücksichtigt und somit der Auffassung ist, dass die umstrittenen Boykottmaßnahmen der Gewerkschaften einen legitimen Zweck verfolgten, bestehen doch erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit. In der Untätigkeit der Regierung kann man eine Verletzung des Untermaßverbotes sehen." 8

VI. Zusammenfassung 92

Die hohe Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte im System der EMRK kommt in dem umfassenden Schutz, der durch differenzierte Teilgewährleistungen sichergestellt werden soll, zum Ausdruck. Das Nebeneinander vieler Teilfreiheiten in Art 10 und 11 E M R K soll Schutzlücken verhindern. Dabei geht der Gerichtshof davon aus, dass die Gewährleistungen des Art 11 I EMRK gegenüber denen aus Art 10 I EMRK die spezielleren sind und deshalb vorrangig zu prüfen sind, weil die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit besondere Formen der Meinungsäußerung schützen. IW Innerhalb der Freiheiten des Art 11 I E M R K ist die Koalitionsfreiheit ein besonderer Fall der Vereinigungsfreiheit.

93

Abgesehen von der Koalitionsfreiheit, bei der sich eine Reihe von Besonderheiten aus dem Verhältnis zur Europäischen Sozialcharta und zu anderen völkerrechtlichen Gewährleistungen gewerkschaftlicher Aktivitäten ergeben, sind die Schutzbereiche der Kommunikationsgrundrechte grundsätzlich weit auszulegen. Nur so lässt sich der demokratischen Funktion dieser Grundrechte Rechnung tragen, obwohl Art 10 und 11 E M R K nicht auf diese Funktion beschränkt sind. Eingriffe in die Kommunikationsgrundrechte können auch indirekt erfolgen. Es ist dann bei der Rechtfertigung zu differenzieren. Bei der Prüfung der Rechtfertigung sind dann regelmäßig strenge Maßstäbe sowohl an die Eingriffszwecke als auch an die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anzulegen.

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Ob und inwieweit beide Grundrechte auf wirtschaftliche Sachverhalte angewendet werden können, ist nach wie vor in der Diskussion. Trotz des offenen Wortlauts vertritt eine Reihe von Autoren die Auffassung, dass die Kommunikationsgrundrechte wirtschaftliche Freiheiten eher nicht gewährleisten. Nicht nur habe die Konvention ursprünglich

198 D e r E G M R hat im k o n k r e t e n Fall allerdings keine Verletzung festgestellt, vgl E G M R . 1996. 118. R n 54 55 G u s t a f s s o n . 199 E G M R . H R L J 1991, 185, R n 35 Ezelin.

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HRLJ

Kommunikationsgrundrechte

§4 VI

keine erwerbswirtschaftlichen Freiheitsrechte gewährleistet, auch schützten die Kommunikationsgrundrechte nicht bestimmte Inhalte, sondern in erster Linie bestimmte Kommunikationsformen. Beide Argumente vermögen nicht zu überzeugen, zumal sich Art I I I EMRK sowohl der Kategorie der politischen als auch dem Bereich der wirtschaftlichen Rechte zuordnen lässt. Zur wirtschaftlichen Dimension der in Art 10 I EMRK gewährleisteten Rechte liegt nunmehr in ausreichendem Maße Rechtsprechung vor, die klarstellt, dass Art 10 EMRK auch Informationen wirtschaftlicher Natur schützt.200 Die Kommunikationsgrundrechte lassen sich eben nicht auf bloße Ausübungsrechte reduzieren, auch wenn etwa im Rahmen der Vereinigungsfreiheit die Erreichung des Vereinigungszwecks nicht gewährleistet wird.201 Letztlich vermag keines der Argumente für eine restriktive, auf nicht-wirtschaftliche beschränkte Interpretation der Kommunikationsgrundrechte zu überzeugen. So ist davon auszugehen, dass Art 10 und 11 EMRK mit ihrem offenen Wortlaut auch die wirtschaftliche Dimension der Kommunikation schützen.

200 E G M R , E u G R Z 1996, 302, Rn 26 - markt intern Verlag G m b H Klaus Beermann; vgl auch HRLJ 1994, 184, Rn 35 - Casado Coca. 201 Frowein in: Frowein/Peukert Art 11 E M R K Rn 7 m w N - Interessant ist die verfassungsrechtliche Parallele: nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts schützt Art 9 I G G auch die werbewirksame Selbstdarstellung eines Vereins (BVerfGE 84, 372 ff).

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§5 Wirtschaftsgrundrechte Bernhard W. Wegener Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1977, 38 ff - Handyside; EuGRZ 1983, 523 ff - Sporrong und Lönnroth; EuGRZ 1988, 341 ff - James; EuGRZ 1988, 350ff - Lithgow; EuGRZ 1988, 513ff AGOSI; RUDH 1989, 578 ff - Tre Traktörer AB; HRLJ 1992, 36 ff - Pine Valley. Schrifttum: Condorelli in: Pettiti/Decaux/Imbert La Convention Européenne des droits de l'homme, 1999, S 971 ff; Fiedler Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Schutz des Eigentums, EuGRZ 1996, 354 ff; Frowein Der Eigentumsschutz in der Europäischen Menschenrechtskonvention in: FS Rowedder, 1994, S 49 ff; Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996; HarrislO'Boylei Warbrick Law of the European convention on human rights, 1995, S 516 ff; Mitteiberger Die Rechtsprechung des ständigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Eigentumsschutz, EuGRZ 2001, 364 ff; Peukert Der Schutz des Eigentums nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, EuGRZ 1981, 97 ff.

I. Einführung 1

Der internationalrechtliche Schutz der Wirtschaftsgrundrechte ist keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil verzichten völkerrechtliche Regelungen des Grundrechtsschutzes nicht selten auf die Normierung entsprechender Garantien. Zwar normierte schon die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der U N von 1948 in Art 17 eine Gewährleistung des Eigentums.' Anlässlich der Verhandlungen über die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) konnte man sich aber zunächst nicht auf einen Schutz der Eigentumsfreiheit verständigen, so dass diese 1950 ohne eine entsprechende Garantie verabschiedet wurde. Bereits zwei Jahre später einigte man sich dann aber auf ihre Aufnahme in das am 20. März 1952 unterzeichnete 1. Zusatzprotokoll zur EMRK. 2 Jenseits der Eigentumsgarantie fehlt es der EMRK bis heute nahezu völlig an weitergehenden Gewährleistungen wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte.3 Insbesondere verzichtet sie auf eine eigenständige Normierung der Garantie der Berufsfreiheit. 4

2

Motive dieser Zurückhaltung waren - neben dem historisch überwundenen Systemgegensatz - vor allem die Unterschiede in den nationalen Vorstellungen über die Ausgestaltung der eigenen Wirtschaftsordnung, die Sorge vor ihrer zu weitgehenden völkerrechtlichen Überformung und vor einem Verlust einzelstaatlicher Gestaltungsfreiheit zugunsten eines grundrechtlich angeleiteten „gouvernement des juges" im Bereich der

1 „1. Jeder hat das Recht, sowohl allein als auch in Gemeinschaft mit anderen Eigentum innezuhaben. 2. Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt werden." Zur ursprünglichen Absicht des Rechtsausschusses der Beratenden Versammlung des Europarates, eine Eigentumsgarantie der EMRK in Form der Bezugnahme auf Art 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorzuschlagen und zu weiteren Einzelheiten der Vorgeschichte von Art 1 des 1. ZP EMRK: Peukert EuGRZ 1981, 97 f mwN. 2 Zur Entstehungsgeschichte von EMRK und 1. ZP EMRK vgl Robertson Human Rights in Europe, 1977, S 5 ff. 3 Frowein The Protection of Property in: MacDonald/Matscher/Petzold The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S 515. 4 Näher dazu u Rn 47.

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Wirtschaftsgrundrechte

§ 5 II

Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftspolitik.5 Angesichts der im europäischen und globalen Maßstab wachsenden Angleichung der Wirtschafts- und Sozialordnungen haben sich diese Motive in den letzten Jahrzehnten sicherlich relativiert. Noch aber prägt die Zurückhaltung bei der Normierung internationaler Garantien der Wirtschaftsfreiheit, die ihren Niederschlag auch in einer betont eingeschränkten Formulierung der entsprechenden Garantien gefunden hat,6 die eher vorsichtige und tastende Entwicklung der Spruchpraxis des EGMR. 7 Die Zahl der festgestellten Grundrechtsverstöße ist jedenfalls bislang gering geblieben.8

II. Schutz des Eigentums Art 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK, das bislang von 38 der 43 Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert wurde,9 garantiert den „Schutz des Eigentums"10 wie folgt:

3

„Jede natürliche oder juristische Person hat ein Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. Die vorstehenden Bedingungen beeinträchtigen jedoch in keiner Weise das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums in Übereinstimmung mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern, sonstiger Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält."11

4

5 Vgl dazu mit Blick auf die Garantie der Eigentumsfreiheit: Fiedler E u G R Z 1996, 354: „rechtspolitisch delikat", „ureigene Dispositionsbereich des Staates", „existentiellen Lebensnerv". 6 Vgl die entsprechende Bewertung der Garantie des Eigentumsrechts in Art 1 des l . Z P E M R K durch Harris/O'BoylelWarbrick ECHR, 1995, 516: „a much qualified right, allowing the state a wide power to interfere with property". 7 Kritischer noch spricht Mitteiberger E u G R Z 2001, 364, 366 mit Blick auf die Rechtsprechung zu Art 1 des l . Z P E M R K von einer „Phase ..., während welcher der Gerichtshof größtenteils zu Ergebnissen kam, die dem Eigentumsschutz in Europa nicht unbedingt dienlich waren"; vgl zur Kritik im übrigen: Fromont GS Geck, 1990, S 213 f; Dolzer FS Zeidler, 1987, S 1679. 8 Kritisch zur Rechtsprechung zu Art 1 des 1. Z P E M R K : Clements European Human Rights Taking A Case Under The Convention, 1994, S 201: „Article 1 of the First Protocol is frequently invoked, but violations are seldom found". Tendenziell aA Frowein FS Rowedder, 1994, S 49, wonach die Rechtsprechung seit den achtziger Jahren stärkere Konturen gewonnen habe. 9 Zu den fünf Staaten, die bis zum 31.8.2001 das 1. Zusatzprotokoll nicht ratifiziert hatten, gehören die Schweiz (Mitglied seit 1963) und Andorra (Mitglied seit 1994). Die übrigen drei Staaten, Georgien, Armenien und Aserbaidschan, haben entsprechend der zwischenzeitlich üblich gewordenen Praxis die Verpflichtung zur Ratifikation binnen eines Jahres übernommen; dazu auch Mitteiberger E u G R Z 2001, 364, 365 (Fn 9). 10 Überschrift des Art 1 des 1. Zusatzprotokoll E M R K ; soweit im folgenden nurmehr von Art 1 des l . Z P E M R K gesprochen wird, ist die Eigentumsgarantie des Art 1 des 1.Zusatzprotokolls gemeint. 11 Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20. März 1952, BGBl 1956 II S 1879. Die authentische englische Fassung lautet: „Every natural or legal person is entitled to the peaceful enjoyment of his possessions. No one shall be deprived of his possessions except in the public interest and subject to the conditions provided for by law. The preceding provisions shall not, however, in any way impair the right of a

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§ 5 II 1 5

Bernhard W. Wegener

Die Prüfung einer Verletzung des hier gewährleisteten Grundrechts kann grundsätzlich entsprechend dem aus dem deutschen Recht vertrauten Dreischritts von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung erfolgen. 12

1. Schulzbereich der Eigentumsgarantie

6

Fall 1: (nach EGMR, JZ 1997. 405 ff - Gaygusuz) G ist türkischer Staatsangehöriger und arbeitete als sozialversicherter Arbeitnehmer elf Jahre in Österreich. Nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes bezog er Arbeitslosenunterstützung. Nach deren Auslaufen beantragt er die Gewährung der sich anschließenden sog „Notstandshilfe", die nach österreichischem Recht zeitlich unbefristet an diejenigen gezahlt wird, die keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung mehr haben. Sein Antrag wird init dem Hinweis darauf abgewiesen, Notstandshilfe werde nach der gesetzlichen Regelung allein österreichischen Staatsangehörigen gewährt, a) Allgemeines

7

8

Eigentum im Sinne des Art 1 des 1. ZP E M R K meint nicht allein das Eigentum an beweglichen und unbeweglichen Sachen. Erfasst werden vielmehr grundsätzlich alle wohlerworbenen Vermögenswerten Rechte (acquired rights, droits acquis). 11 Zu ihnen zählen etwa auch Anteile an Handelsgesellschaften 14 und ähnliche geldwerte Vermögenspositionen. Die Rechtsprechung der Konventionsorgane bezieht in ihre weite und autonom konventionsrechtliche Auslegung auch solche Rechte mit ein, die nach der Rechtsordnung des Staates, gegen den Beschwerde geführt wird, nicht geschützt sind. 1 ' Träger des Eigentumsrechts sind nach der ausdrücklichen Formulierung des Art 1 I des 1. ZP E M R K nicht allein natürliche, sondern auch juristische Personen. 16 Ob angesichts dieses Umstandes die Interpretation des Eigentumsrechts der E M R K allein an seinem Charakter als einem „Menschenrecht" orientiert werden kann, 17 erscheint zumindest zweifelhaft.11*

12 13 14 15

16 17 18

State to enforce such laws as it deems necessary to control the use of properly in accordance with the general interest or to secure the payment of taxes or other contributions or penalties." Mit der vielfach kritisierten Verwendung der unterschiedlichen Begriffe „possessions / property" bzw „propriété / biens" in den engl bzw franz Originalfassungen verbindet sich kein unterschiedlicher Sinngehalt. Schon in seiner ersten Entscheidung zum Eigentumsrecht betonte der E G M R , dass jeweils das Eigentum in einem einheitlichen Sinne gemeint sei, vgl dazu F.GMR. E u G R Z 1977, 38IT Handyside; sowie spater E G M R , E u G R Z 1979, 454IT Marckx; näher dazu Peukert in: Frowein/Peukert Art 1 des 1. Z P E M R K Rn 4. Z u r Möglichkeit einer solchen Übertragung, ihren Funktionen und ihren Grenzen: —* ij 2 Rn 29. Frowein (Fn 8) S 49. 50. Vgl dazu E G M R , E u G R Z 1988, 350 fT Lithgow. E G M R , E u G R Z 1983, 523 fT Sporrong und Lönnroth; R U D H 1989, 578 IT Tre Traktörer AB; E u G R Z 2001, 397 IT Ehemaliger König; Harris!O'Boylei Warbrick E C H R , 1995, 516, 517 f; Gelin.sky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. Z P zur E M R K , 1996, S 200. Zur (zweifelhaften) Bedeutung der Bestimmung für die kollisionsrechtliche Frage nach Sitz- oder G r ü n d u n g s t h e o r i e des internationalen Gesellschaftsrechts: Engel Z E u P 1993, 150 ff So aber Gelinsky (Fn 15) S 36fï; zu diesem Ansatz im übrigen: Riedel Theorie des Menschenrechtsstandards, 1986, S 65 IT. 118 f. Ähnlieh Frowein (Fn 8) S 49; van Dijk/van / / » « / ' T h e o r y and Practice of the European Convention on H u m a n Rights, 1990, S 454.

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Wirtschaftsgrundrechte

§5 III

b) Schutz des Bestandes, nicht des Erwerbs Vom Begriff des Eigentums nicht umfasst werden bloße Erwartungen und Chancen, die sich noch nicht zu einer Vermögenswerten und rechtlich gesicherten Position verfestigt haben. 19 Insoweit kann in Übereinstimmung mit der Spruchpraxis der Kommission 20 davon gesprochen werden, ein Recht zum Eigentumserwerb werde nicht geschützt. 2 '

9

c) Goodwill Vom Schutzbereich des Eigentums nach Art 1 des 1. ZP E M R K werden auch die geschäftlichen Beziehungen erfasst, die sich ein Unternehmen oder ein Unternehmer in der Vergangenheit erarbeitet hat und die den Vermögenswert des Geschäfts über den reinen Substanzwert hinaus beeinflussen.22 Bedeutung hat der Schutz dieses sogenannten „goodwill" vor allem für die wenig durchsichtige Entscheidungspraxis der Konventionsorgane hinsichtlich der Entziehung von Gewerbeerlaubnissen gewonnen. Danach kann eine solche Entziehung jedenfalls dann, wenn die Erteilung der Erlaubnis von Anfang an an zwischenzeitlich entfallene Bedingungen geknüpft war, keine Eigentumsverletzung darstellen. Ein eigentumsrechtlicher Schutz gegenüber den entsprechenden Maßnahmen soll sich aber aus einer mit der Entziehung einhergehenden Beeinträchtigung des dem Erlaubnisinhaber entgegengebrachten „goodwill" ergeben können. 23

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d) Öffentlich-rechtliche Ansprüche Von besonderer praktischer Bedeutung - aber auch in besonderer Weise umstritten - ist die Einbeziehung öffentlich-rechtlicher Ansprüche in den Schutzbereich des Eigentumsrechts. Zu diesen Ansprüchen zählen etwa Ansprüche aus der Sozialversicherung, besoldungsrechtliche Ansprüche der Beamten oder Ansprüche auf Rückerstattung zu Unrecht bezahlter Abgaben. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erkennt einen Schutz sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche dann an, wenn diese „nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet" sind, „auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten" beruhen und „der Sicherung seiner Existenz" dienen.24 Die Spruchpraxis der Kommission zeigte sich dagegen gegenüber einer Einbeziehung öffentlich-rechtlich begründeter vermögenswerter Positionen in den Schutzbereich des Eigentumsrechts eher zurückhaltend. 25 Auch solche Ansprüche, die - wie etwa Pensions19 20 21 22

Harris! O' Boyle! Warbrick ECHR, 1995, S 517. Vgl dazu die Nachw bei Peukert in: Frowein/Peukert Art. 1 des 1. ZP EMRK Fn 12. So Villiger Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1999, Rn 669. Nach Gelinsky (Fn 15) S 28 findet sich eine Anerkennung dieser Rechtsfigur der Sache nach erstmals in EGMR, EuGRZ 1988, 35 ff - van Marie; zum eigentumsrechtlichen Schutz der „Kundenstämme" eines Rechtsanwalts und eines Steuerberaters, vgl EGMR, NJW 2001, 1556 - Döring und NJW 2001, 1558 - Olbertz. 23 EGMR, RUDH 1989, 578 ff - Tre Traktörer AB; vgl auch EGMR, HRLJ 1991, 93 ff - Fredin; zum Ganzen eingehender Gelinsky (Fn 15) S 27 ff. 24 BVerfGE 69, 272, 300; vgl auch BVerfGE 53, 257; 72, 9, 18; 75, 78; 76, 220, 235; zur traditionell weitaus zurückhaltenderen Rechtsprechung des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs: Pech in: Grabenwarter/Thienel (Hrsg) Kontinuität und Wandel der EMRK: Studien zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1998, S 233 f. 25 Kritisch dazu Gelinsky (Fn 15) S 29 ff, 36 ff; Pech (Fn 24) S 233 ff.

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§5

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Bernhard W. Wegener

II 1

ansprüche - wenigstens zum Teil aus einer eigenen Leistung der Anspruchsinhaber resultierten, sollten danach grundsätzlich keinen Schutz genießen. 26 Eine Ausnahme sollte nur insoweit gelten, als zwischen der H ö h e der geleisteten Beiträge und der Höhe der Pensions- oder Rentenansprüche eine unmittelbare Verbindung dergestalt bestand, dass dem Berechtigten ein „identifizierbarer Anspruch auf einen Anteil am Versicherungsfonds" zustand. Daran sollte es fehlen, wenn das Versicherungssystem dem Gedanken einer generationenübergreifenden Solidargemeinschaft verpflichtet sei. 27 Auch ein nach diesen Kriterien dem Grunde nach in den Schutzbereich des Eigentumsrechts fallender öffentlich-rechtlicher Anspruch ist nach der Spruchpraxis der Kommission aber nicht unbedingt geschützt. Vielmehr soll mit Rücksicht auf haushaltspolitische Erfordernisse allein eine erhebliche nachträgliche Reduktion der einmal erworbenen Ansprüche als vom Schutzbereich der Eigentumsfreiheit umfasst angesehen werden können. 28 Wenn der Spruchpraxis der Kommission dennoch schon in der Vergangenheit zumindest eine Tendenz zu einer weitergehenden Einbeziehung öffentlich-rechtlicher Ansprüche in den Schutzbereich des Eigentumsrechts entnommen worden ist,2'' so wird diese Auffassung durch das in seiner Interpretation wie in seinem Ergebnis allerdings umstrittene Urteil des E G M R in der Sache Gaygusu: bestätigt. 10 L ö s u n g F a l l 1:

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Einen Anspruch aus Art 1 des 1. Z P E M R K (iVm dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK* 1 ) kann G nur dann erfolgreich geltend machen, wenn es sich bei der beantragten „Notstandshilfe" um Eigentum im Sinne dieser Bestimmung handelt. Öffentlich-rechtliche Ansprüche können aber wenigstens nach der älteren Rechtsprechung der Konventionsorgane nur dann als Eigentum angesehen werden, wenn sie zumindest auch auf einer eigenen Leistung des Versicherten beruhen und diesem insoweit ein identifizierbarer Teilanspruch zusteht. Auch wenn dies im Fall der Notstandshilfe nach österreichischem Recht durchaus als fragtich angesehen werden kann.' 0 hat der E G M R im konkreten Fall wohl mit Rücksicht auf die in der Verweigerung liegende Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit - eine Verletzung des Eigentumsrechts bejaht. "

26 Z u r a b w e i c h e n d e n Sieht vgl van Dijklvan Hoof ( F n 18). S 4 5 5 f. 27 X / N i e d e r l a n d e C D 38 (1972), 9 IT = Y B 14, 224 B e s c h w e r d e - N r 4130/69; b e s t ä t i g t in: V o s / N i e d e r l a n d e D R 43 (1985). 190, 191 f; K l e i n e S t a a r m a n n / N i e d e r l a n d e D R 4 2 (1985). 162. 166. 28 M ü l l e r / Ö s t e r r e i c h D R 3 (1976), 31, 32 B e s c h w e r d e - N r 5849/72. 29 Peiikeri in: F r o w e i n / P e u k e r t A r t 1 des 1. Z P E M R K R n 17 f. 30 I d S Pech ( F n 24) S 233, 241. w o n a c h a n g e s i c h t s dieser E n t s c h e i d u n g „ ü b e r h a u p t keine Z w e i f e l " m e h r b e s t e h e n , „ d a ß die z e n t r a l e n A n s p r ü c h e a u s d e m S o z i a l v e r s i c h e r u n g s s y s t e m , a l s o P e n s i o n s a n s p r ü c h e u n d A n s p r ü c h e a u s d e r K r a n k e n - o d e r U n f a l l v e r s i c h e r u n g , n u n m e h r in d e n S c h u t z bereich d e r E i g e n t u m s g a r a n t i e d e s A r t 1 des 1. Z P E M R K f a l l e n " . 31 Z u r rechtlichen K o n s t r u k t i o n u n d F u n k t i o n dieser V e r b i n d u n g s u R n 44. 32 Vgl Hailhronner J Z 1997, 397, 398, d e r die L e i s t u n g m i t R ü c k s i c h t a u f ihre teilweise F i n a n z i e r u n g n i c h t allein a u s V e r s i c h e r u n g s b e i t r ä g e n , s o n d e r n a u c h a u s s t a a t l i c h e n M i t t e l n als E l e m e n t d e r S o z i a l f ü r s o r g e b e g r e i f t . ( N u r ) insoweit e r s c h e i n t - wie Hailhronner zu R e c h t a u s f ü h r t eine E i n o r d n u n g als e i g e n t u m s r e c h t l i c h g e s c h ü t z t e F o r d e r u n g k a u m g e r e c h t f e r t i g t . F ü r eine E i n b e z i e h u n g v o n A n s p r ü c h e n a u f A r b e i t s l o s e n g e l d in d e n S c h u t z b e r e i c h des E i g e n t u m s r e c h t s n a c h A r t 14 G G vgl etwa B V e r f G E 72, 9, 18; 74, 203, 213. 33 E G M R , J Z 1997, 4 0 5 ff

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Gaygusuz.

Wirtschaftsgrundrechte

§ 5 112

e) Geistiges Eigentum Die allgemein zum geistigen Eigentum gezählten Immaterialgüterrechte wie Urheber-, Patent- Verlags-, Marken- und andere Schutzrechte dienen der wirtschaftlichen Nutzung unter Ausschluss von Dritten und können veräußert werden. Auch diese Rechte unterfallen daher nach allgemeiner Meinung dem EigentumsbegrifT des Art 1 des 1. Z P EMRK. 1 4 Die Kommission hat dementsprechend den Eigentumscharakter eines nach niederländischem Recht begründeten Patents bejaht.

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0 Erbrecht Anders als Art 14 G G nimmt Art 1 des 1. Z P E M R K das Erbrecht nicht ausdrücklich in Bezug. Dennoch sieht der E G M R das Recht des Eigentümers, über sein Vermögen von Todes wegen zu verfügen, als vom Schutzbereich des Art 1 des 1. Z P E M R K umfasst an."' Er hat es aber ausdrücklich abgelehnt, eine gesetzliche Regelung der Erbfolge auf Antrag des potentiellen Erben am Eigentumsrecht zu messen. Art 1 des 1. Z P E M R K schütze allein das aktuelle Eigentum lebender Personen, nicht aber bloße Erbanwartschaften." 2. Beeinträchtigungen

des

Eigentumsrechts

Fall 2: (nach EGMR, EuGRZ 1983, 523 ff Sporrong und Lönnroth) Für Grundstücke der S besteht eine staatliehe Enteignungsgenehmigung zugunsten der Kommune. Die Enteignungsgenehmigung ist mit einem Bauverbot verknüpft, das Neubauten auf den Grundstücken untersagt. Eine Entschädigung für zwischenzeitlich getätigte Renovierungen der vorhandenen Bebauung oder für Vermögenseinbußen, die aus der ungewissen Lage hinsichtlich der betroffenen Grundstücke resultieren, wird in den einschlägigen nationalen Vorschriften ausgeschlossen. Die zunächst auf drei Jahre befristete Enteignungsgenehmigung wird von der Kommune nicht in Anspruch genommen aber auf ihr Drängen sukzessive verlängert. Erst nach einem Zeitraum von über zwanzig Jahren werden die Genehmigung und das Bauverbot aufgehoben, weil sich die ursprünglich verfolgten Stadtentwicklungspläne zwischenzeitlich verändert haben. S, die zwischenzeitlich mehrfach vergeblich versucht hat ihre Grundstücke zu verkaufen, die notwendige Renovierungen zurückgestellt hat und Mietausfälle beklagt, sieht sich in ihrem Eigentumsrecht verletzt. Zumindest die ältere Spruchpraxis der Konventionsorgane E G M R und Kommission unterscheidet zwischen drei verschiedenen Eingriffsformen: Enteignungen, nutzungsregelnden Maßnahmen und sonstigen Eingriffen. 18 Maßgeblich für die Unterscheidung sind die Zielrichtung der jeweiligen Maßnahme und die Eingriffsintensität. Ohne Bedeutung ist, ob der Eingriff gezielt erfolgte oder sich als unbeabsichtigte Nebenfolge staatlichen Handelns darstellt. Auch seine Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit nach nationalem Recht spielt für die Einordnung keine Rolle.19

34 Pcukcrt EuGRZ 198!, 97, 103; Gelin.sky (Fn 15) S 32; Riedel(Fn 17) S 69. 35 36 37 38

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Smith Kline/Niederlande D R 66 (1990), 70, 79. E G M R , E u G R Z 1979. 454 ff Marckx. E G M R . E u G R Z 1979, 454 fT - Marckx. Z u r älteren Entscheidungspraxis, die von einer eigenständigen Kategorie „sonstiger Eingriffe" ausgeht, zu der an ihr geäußerten Kritik und zu neueren Tendenzen in der Rechtsprechung des E G M R sogleich u II.c).

39 Gelinsky (Fn 15) S 200.

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§ 5 112

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Bernhard W. Wegener

Fall3: (nach E G M R , EuGRZ 1988, 513 ff-AGOSI) Die deutsche Goldhandelsfirma A verkauft dem britischen Staatsbürger X im Jahre 1975 Krügerrand-Goldmünzen im Wert von 120000 £. Das Eigentum bleibi bis zur Bezahlung vorbehalten. Weil die Bezahlung nicht erfolgt und A den Kaufvertrag später erfolgreich anficht, bleiben die Münzen Eigentum der A. X transportiert die Münzen ohne Wissen der A nach Großbritannien. Bei der nach britischem Recht illegalen Einfuhr werden die Münzen vom Zoll beschlagnahmt. Ein Herausgabeverlangen der A wird von den britischen Behörden abgelehnt. Die Münzen seien rechtmäßig beschlagnahmt worden und das Eigentum an ihnen nach den einschlägigen Vorschriften verfallen. a) Enteignungen

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Die P r ü f u n g einer nationalen M a ß n a h m e am Maßstab der Enteignungsnorm des Art 1 I 2 des l . Z P E M R K setzt nicht voraus, dass ein formeller Eigentumstransfer stattgefunden hat. Zur Sicherung eines effektiven Eigentumsschutzes werden vielmehr auch faktische Eigentumsentziehungen einbezogen. F ü r die Abgrenzung zu Nutzungsregelungen nach Art 1 II des 1. Z P E M R K kommt es vor allem darauf an, ob von den betroffenen Vermögenswerten weiterhin in wirtschaftlich sinnvoller Weise Gebrauch gemacht werden kann. D a r ü b e r hinaus können auch nutzungsregelnde nationale M a ß n a h m e n an der Enteignungsnorm des Art 1 I 2 des 1. Z P E M R K zu messen sein, wenn die M a ß n a h m e n der Vorbereitung einer Enteignung dienen und es deshalb an einer bloß nutzungsregelnden Intention des nationalen Hoheitsträgers fehlt. 4 " b) Nutzungsregelnde M a ß n a h m e n

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23

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Umgekehrt hat der E G M R auch solche M a ß n a h m e n als Nutzungsregelung nach Art 1 II des 1. Z P E M R K begriffen, die eine vollständige Entziehung des Eigentums zur Folge hatten. D a f ü r soll es ausreichen, wenn die entziehenden M a ß n a h m e n sich als Sanktion der Verletzung einer Nutzungsregelung darstellen. 41 Nach der Rechtsprechung der Konventionsorgane sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht zur Entschädigung für nutzungsregelnde Eingriffe in das Eigentum gemäß Art 1 II des 1. Z P E M R K verpflichtet. Hierin konkretisiert sich die auch aus dem deutschen Recht vertraute Sozialbindung des Eigentums. 42 Wie nach Art 1 4 1 2 G G , so können aber auch unter der Geltung der E M R K zulässige Inhaltsbestimmungen ausnahmsweise entschädigungspflichtig sein, sofern unbillige Härten anders nicht vermieden werden können. Lösung Fall 3: Der Verfall der Krügerrand-Goldmünzen stellt einen Eingriff in das von Art 1 I des 1. ZP E M R K geschützte Eigentum dar. Obwohl der Verfall der Münzen diese der Eigentümerin

40 A l l g e m e i n z u r E n t e i g n u n g n a c h A r t 1 I 2 des 1. Z P E M R K : Peukert E u G R Z 1988, 510 IT; Gelinskv ( F n 15) S 4 2 IT. 41 Vgl d a z u d a s im ü b r i g e n viel kritisierte Urteil in d e r S a c h e E G M R . E u G R Z 1988, 513IT A G O S I . H i n s i c h t l i c h d e r E i n o r d n u n g s o l c h e r „ K o n f i s k a t i o n e n " in die K a t e g o r i e d e r N u t z u n g s r e g e l u n g z u s t i m m e n d Gelinsky ( F n 15) S 47 f, 54. 42 Z u dieser Parallele Frowcin ( F n 8) S 49, 50.

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Wirtschaftsgrundrechte

§ 5 112

dauerhaft entzieht, sieht der E G M R darin keine Enteignung, sondern nur die rechtliehe Folge des Verbots der Einfuhr. Weil letzteres lediglich eine Nutzungsregelung darstelle, sei auch der Verfall als „Nutzungsregel" gemäß Art 1 II des 1. Z P E M R K zu beurteilen.« c) „Sonstige" Beeinträchtigungen Z u Recht abgelehnt wird die A n n a h m e einer eigenständigen Kategorie sonstiger Eingriffe nach A r t 1 I des 1. Z P E M R K d u r c h die Konventionsorgane. 4 4 D e r Eingangssatz des A r t 1 des 1. Z P E M R K beschreibt n a c h zutreffender Auslegung allein den Schutzbereich der E i g e n t u m s g a r a n t i e u n d m a c h t die nachfolgend eröffneten Eingriffsmöglichkeiten rechtfertigungspflichtig. E r hat insoweit eingriffsbeschränkende, nicht aber eingriffsermöglichende F u n k t i o n . 4 5 In seiner j ü n g e r e n R e c h t s p r e c h u n g scheint sich der E G M R dieser A u f f a s s u n g zumindest insoweit a n z u n ä h e r n , als er eine explizite U n t e r s c h e i d u n g zwischen einzelnen Eingriffsarten jedenfalls in komplexen Sachverhalten f ü r entbehrlich ansieht u n d den Eingriff an der die Eigentumsfreiheit b e g r ü n d e n d e n G r u n d n o r m des A r t 1 I 1 des 1. Z P E M R K misst. 4 '' In j ü n g e r e n Entscheidungen ist a u ß e r d e m n u r m e h r von drei in A r t 1 des 1. Z P E M R K enthaltenen „Regeln" die Rede, von denen sich die zweite (enteignende Eingriffe gem. A r t 1 I 2 des 1. Z P E M R K ) u n d die dritte (nutzungsregelnde Eingriffe gern A r t 1 II des 1. Z P E M R K ) mit spezifischen Begrenzungen des Rechts auf A c h t u n g des E i g e n t u m s beschäftigten, die im Lichte des allgemeinen G r u n d satzes der ersten Regel (Art 1 I 1 des 1. Z P E M R K ) auszulegen seien. 47 A u c h soll eine P r ü f u n g „sonstiger Eingriffe" allein a n h a n d der ersten Regel nur d a n n in Frage k o m m e n , wenn f ü r eine A n w e n d u n g der E i n g r i f f s n o r m e n der zweiten u n d dritten Regel kein R a u m ist. 48

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Soweit die K o n v e n t i o n s o r g a n e sonstige E i g e n t u m s b e e i n t r ä c h t i g u n g e n f ü r zulässig erachten, gelten diese nur d a n n als mit A r t 1 I 1 des 1. Z P E M R K vereinbar, sofern eine Entschädigungsregelung existiert o d e r aber d a s nationale Recht anderweitige Vorkehrungen z u m Ausgleich der erlittenen Nachteile vorsieht. A n die Rechtfertigung sonstiger Eingriffe werden d a m i t h ö h e r e A n f o r d e r u n g e n gestellt als an die nutzungsregelnder M a ß nahmen. 4 9

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43 EGMR, EuGRZ 1988, 513 ff - AGOSI. Nach Auskunft von Frowein (Fn 8) S 49, 65 bekam die Firma im Anschluss an das Urteil die Hälfte des Wertes der Münzen erstattet. 44 Vgl dazu EGMR, EuGRZ 1983, 523 ff - Sporrong und Lönnroth; vgl aber auch die schon zu diesem Urteil insoweit geäußerte abweichende Ansicht von acht Richtern. Zur Unterscheidung auch Mitteiberger EuGRZ 2001, 364, 366 f. 45 Gelinsky (Fn 15) S 86 ff. 46 EGMR, RJD 2000-1, Ziff 106 - Beyeler; Späte Ausübung eines Vorkaufsrechts für ein Gemälde von Vincent van Gogh. 47 Vgl dazu etwa EGMR, EuGRZ 2001. 397 ff - Ehemaliger König. 48 EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff - James. 49 Gelinsky (Fn 15) S 203.

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§ 5 113

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Lösung Fall 2: D i e E n t e i g n u n g s g e n e h m i g u n g stellt keine E n t e i g n u n g iSv A r t 1 I 2 des 1. Z P E M R K dar. Eine solche hat zu keinem Z e i t p u n k t s t a t t g e f u n d e n und ist n a c h A u f h e b u n g der G e n e h m i g u n g a u c h nicht m e h r zu erwarten. Die B e s c h r ä n k u n g d e r E i g e n t u m s r e c h t e der S erreichte auch w ä h r e n d der Gültigkeit der E n t e i g n u n g s g e n e h m i g u n g nicht ein solches A u s m a ß , d a s s sie in ihren W i r k u n g e n einer E n t e i g n u n g gleichzusetzen gewesen wäre. D e r E G M R sieht sich allerdings a u c h gehindert, die E n t e i g n u n g s g e n e h m i g u n g nach ihren W i r k u n g e n als eine Regelung der „ N u t z u n g des E i g e n t u m s " iSv Art 1 II des 1. Z P E M R K e i n z u o r d n e n . Die G e n e h m i g u n g h a b e zu keinem Z e i t p u n k t d a r a u f abgezielt, die N u t z u n g zu beschränken o d e r zu kontrollieren. Als (später nicht verwirklichte) A n f a n g s s t u f e einer Enteignung k ö n n e sie als „sonstige Beschränkung 1 " allein an Art 1 I 1 des 1. Z P E M R K gemessen werden. 5 " In d e r Sache erweist sich die E n t e i g n u n g s g e n e h m i g u n g wegen ihrer u n a n g e m e s s e n langen D a u e r u n d wegen des Ausschlusses eines Ersatzes d e r aus ihr resultierenden Vermögensschäden als Verletzung des E i g e n t u m s r e c h t s der E M R K . 5 1

3. Rechtfertigung 28

29

B e r n h a r d W. Wegener

von

Eigentumsbeeinträchtigungen

N a c h d e m Text d e s A r t 1 d e s 1. Z P E M R K u n d d e r R e c h t s p r e c h u n g d e r K o n v e n t i o n s o r g a n e b e m i s s t sich d i e R e c h t f e r t i g u n g v o n E i n g r i f f e n in d a s E i g e n t u m s r e c h t a n drei kumulativen Voraussetzungen. Die entsprechenden staatlichen M a ß n a h m e n müssen gesetzmäßig erfolgen, dem öffentlichen Interesse dienen und d e m G r u n d s a t z der Verhältnismäßigkeit genügen. Fall 4: ( n a c h E G M R. E u G R Z 1977, 38 ff H a n d y s i d e ) D e r britische Verleger H will die englische F a s s u n g eines d ä n i s c h e n Buches mit d e m Titel , T h e little Red S c h o o l b o o k " auf den M a r k t bringen. D a s Buch b e h a n d e l t als N a c h s c h l a g e werk f ü r Schüler allgemeine Fragen von Erziehung u n d Unterricht und thematisiert in einem U m f a n g von etwa 10% seines I n h a l t s Fragen d e r Sexualkunde. D a s Buch wird v o n der britischen Polizei b e s c h l a g n a h m t . In den n a c h f o l g e n d e n Verfahren vor britischen G e r i c h t e n wird H wegen Verstoßes gegen den O b s c e n e P u b l i c a t i o n s Act zu einer G e l d s t r a f e verurteilt. Z u d e m wird die E i n z i e h u n g u n d Vernichtung der b e s c h l a g n a h m t e n Bücher angeordnet. a) G e s e t z m ä ß i g k e i t d e r B e e i n t r ä c h t i g u n g

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N a c h A r t 1 I 2 d e s 1. Z P E M R K ist eine E n t e i g n u n g n u r u n t e r d e n d u r c h G e s e t z u n d d u r c h die Allgemeinen G r u n d s ä t z e des Völkerrechts52 vorgesehenen B e d i n g u n g e n zuläs-

50 Zur Kritik an dieser dogmatischen Einordnung bereits soeben II.c). 51 E G M R , E u G R Z 1983, 523IV Sporrong und Lönnroth. Dazu, dass die unangemessen lange Dauer eines Flurbereinigungsverfahrens sich als eine neben einer Verletzung von Art 6 I E M R K selbständige Verletzung auch des Art 1 I des l . Z P E M R K erweisen kann: E G M R . NJW 1989, 650 IT Poiss; zu einer Verneinung einer überlangen Verfahrensdauer hinsichtlich eines eigentumsreehtliehen Entschädigungsverfahrens: E G M R , E u G R Z 1999, 319 Papaehelas. 52 Diesem Merkmal kommt in der Entscheidungspraxis des E G M R allerdings schon deshalb eine vergleichsweise geringe Bedeutung zu, weil das Völkerrecht Regeln für die Enteignung nur hinsichtlich des Eigentums von Ausländern kennt. Eine einfache Übertragung der im Völkerrecht anerkannten und mit der Formulierung des Art 1 I 2 des l . Z P E M R K in Bezug genommenen (vgl dazu Weiß Die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfrei-

116

Wirtschaftsgrundrechte

§5 113

sig. Auch Art 1 II des 1. ZP EMRK erlaubt nur eine gesetzmäßige Regelung der Nutzung des Eigentums. Der Entzug oder die Ausgestaltung des Inhalts des Eigentums verlangt dabei nach einer hinreichend bestimmten rechtlichen Grundlage, die insbesondere eine hinreichende Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit der staatlichen Eingriffe ermöglichen muss.53 Nach der jüngeren Rechtsprechungspraxis des EGMR ist die Gesetzmäßigkeit des Eigentumseingriffes die erste und bedeutendste Voraussetzung zu seiner Rechtfertigung.54 So hat der EGMR entschieden, dass eine fortdauernde Entziehung von Eigentum konventionswidrig sei, wenn diese im Widerspruch zu Normen des nationalen Rechts erfolgt sei oder aufrechterhalten werde.55 Allerdings reklamiert der Gerichtshof angesichts der Besonderheiten des jeweiligen nationalen Rechts insoweit nur eine begrenzte eigene Prüfungskompetenz.56 In erster Linie sei es Aufgabe der innerstaatlichen Behörden und Gerichte, das nationale Recht auszulegen und anzuwenden und ggf über seine Verfassungsmäßigkeit zu entscheiden.57 Unklarheiten des anwendbaren nationalen Rechts müssen dabei dennoch nicht zwangsläufig zu Lasten des jeweiligen Beschwerdeführers gehen. Im Gegenteil verlangt gerade das Kriterium der Gesetzmäßigkeit des Eingriffs nach einer für den Betroffenen hinreichend zugänglichen, präzisen und vorhersehbaren Ausgestaltung des nationalen Rechts.58 b) Schutz des öffentlichen Interesses Art 1 1 2 des 1. ZP EMRK erlaubt Enteignungen im „öffentlichen Interesse". Art 1 II des 1. ZP EMRK spricht von der Möglichkeit der Rechtfertigung von nutzungsregelnden Eigentumsbeschränkungen durch das „Allgemeininteresse". Beide Begriffe werden in Rechtsprechung und Literatur als deckungsgleich verstanden.59 Auch für „sonstige Eingriffe" verlangt der EGMR eine Legitimation durch ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel der jeweiligen Maßnahme.60 Dabei formuliert der EGMR zurückhaltend, die innerstaatlichen Stellen verfügten aufgrund ihrer „unmittelbaren Kenntnis" der lokalen Situation oder der „jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse" über einen weiten Einschätzungsspielraum bei der Bestimmung des Allgemeininteresses an einer Beschränkung des Eigentums.61 Die gerichtliche Prüfung durch den EGMR beschränkt sich allein darauf, zu prüfen, ob die entsprechenden Motive des Gesetzgebers sich als „offensichtlich unbegrün-

53 54 55 56 57 58 59 60 61

heiten, 1954, S 20) Beschränkungen und Kompensationserfordernisse auf die Enteignung der eigenen Staatsangehörigen lehnt der E G M R aus teleologischen Gründen ab, vgl E G M R , E u G R Z 1988, 341 ff-James. Mitteiberger E u G R Z 2001, 364, 367. E G M R , E u G R Z 1999, 317 ff - Iatridis; E u G R Z 2001, 397 ff - Ehemaliger König. E G M R , E u G R Z 1999, 317 ff - Iatridis, Aufrechterhaltung der Wirkungen einer Zwangsräumung trotz gegenteiliger Entscheidungen der nationalen Gerichtsbarkeit. E G M R , E u G R Z 1992, 5 ff - Häkansson und Sturesson. E G M R , E u G R Z 2001, 397 ff - Ehemaliger König. E G M R , E u G R Z 1996, 593 ff - Hentrich; E u G R Z 1988, 350 ff - Lithgow; R J D 2000-1, Ziff 109 Beyeler. Dazu E G M R , E u G R Z 1988, 341 ff - James; Peukert in: Frowein/Peukert Art 1 des 1. ZP E M R K Rn 48; Mitteiberger E u G R Z 2001, 364, 367. E G M R , R J D 2000-1, Ziff 111 - Beyeler. Vgl etwa E G M R , R U D H 1991, 551 ff - Wiesinger, unter Hinweis auf E G M R , HRLJ 1991, 93 ff Fredin; sowie E G M R , R U D H 1994, 21 ff - Raimondo.

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§5

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Bernhard W. Wegener

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det" darstellen. 62 Insbesondere kann auch die Begünstigung privater Dritter im „öffentlichen Interesse" liegen. Unzulässig ist eine solche Begünstigung allerdings dann, wenn sie den alleinigen Zweck der hoheitlichen Maßnahme darstellt und eine Förderung sonstiger öffentlicher Interessen nicht erkennbar ist. 63 Verlangt wird im übrigen keine Übertragung des Eigentums in den Gemeingebrauch. Vielmehr können sozial- oder wirtschaftspolitische Erwägungen den Gesetzgeber auch zu einer Umverteilung von Eigentum zugunsten bestimmter Bevölkerungsgruppen berechtigen.''4 Soweit erkennbar ist in Anwendung dieser Maßstäbe erst in einer Entscheidung des E G M R ein öffentliches Interesse hinsichtlich einer Eigentumsbeeinträchtigung verneint worden/' 5 Lösung Fall 4: Die Beschlagnahme der Bücher wie die Anordnung ihrer Einziehung und Vernichtung greifen in das in Art 1 des 1. Z P E M R K geschützte Eigentumsrecht des H ein. Weil die Beschlagnahme. Einziehung und Vernichtung sich als konfiskatorische Konsequenz eines Publikationsverbots für obszöne Schriften darstellen, werden sie vorn E G M R einheitlich als Ergebnis der Anwendung einer nationalen Vorschrift begriffen, die nicht der Entziehung, sondern lediglich der Regelung der Benutzung des Eigentums iSv Art 1 II des 1. Z P E M R K dient. 66 Nach Auffassung des E G M R setzt dieser zweite Absatz aber „die Vertragsstaaten als alleinige Richter über die .Notwendigkeit' eines Eingriffs ein" und eröffnet ihnen einen besonders weiten Beurteilungsspielraum. An einer von der der nationalen Instanzen abweichenden Beurteilung der moralischen Verwerflichkeit des Schulbuches sieht sich der Gerichtshof deshalb gehindert. 67 c) Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung

34

Wesentlichste Frage und damit zentrales richterliches Instrument bei der Beurteilung von staatlichen Eigentumsbeeinträchtigungen ist auch für den Grundrechtsschutz nach der E M R K die allgemeine Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. 68 Der E G M R begreift das Verhältnismäßigkeitserfordernis in ständiger Rechtsprechung als ungeschriebene Rechtfertigungsvoraussetzung des Art 1 des 1. ZP EMRK. 6 ''

62 E G M R , E u G R Z 1988. 341 IT James. 63 Vgl d a z u V e r f G H W i e n . E u G R Z 1990, 425 ff w o n a c h die V e r w e i g e r u n g einer A u s f u h r b e w i l l i g u n g f ü r K u p f e r d r a h t a b f ä l l e n i c h t allein d a m i t b e g r ü n d e t w e r d e n k a n n , d u r c h sie ginge e i n e m i n l ä n d i schen P r o d u z e n t e n eine vergleichsweise g ü n s t i g e i n l ä n d i s c h e B e z u g s q u e l l e f ü r K u p f e r v e r l o r e n , d a s er d e s h a l b a u f d e m W e l t m a r k t zu d e u t l i c h e n h ö h e r e n Preisen b e s c h a f f e n müsse. 64 E G M R , E u G R Z 1988. 341 ff James. 65 E G M R , R U D H 1994, 21 ff R a i m o n d o . kein ö f f e n t l i c h e s Interesse a n d e r V e r z ö g e r u n g e i n e r gerichtlich a n g e o r d n e t e n R e s t i t u t i o n z u v o r zu U n r e c h t k o n f i s z i e r t e n E i g e n t u m s . 66 Vgl d a z u s c h o n R n 21, insbes F n 41. 67 E G M R . E u G R Z 1977, 38 IT H a n d y s i d e . 68 D a z u Cremoiui T h e P r o p o r t i o n a l i t y P r i n c i p l e in t h e J u r i s p r u d e n c e o f t h e E u r o p e a n C o u r t of H u m a n R i g h t s in: F S B e r n h a r d t . 1995, S 32.3; Eissen Le p r i n c i p e d e p r o p o r t i o n n a l i t é d a n s la j u r i s p r u d e n c e d e la C o u r e u r o p é e n n e des d r o i t s d e l ' h o m m e in: P c t t i t i / D e e a u x / I m b e r t , La C o n v e n t i o n E u r o p é e n n e d e s d r o i t s d e l ' h o m m e . 1999. S 65 IT: Fiedler E u G R Z 1996. 354, 355 : - > § 2 R n 39. 69 Mittelberger

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E u G R Z 2001. 364. 368 f.

Wirtschaftsgrundrechte

§5 113

aa) Legitimer Zweck Nach der Rechtsprechung des EGMR muss jede eigentumsbeeinträchtigende Maßnahme einen berechtigten Zweck verfolgen.™ Die Prüfung dieses Punktes deckt sich inhaltlich mit der Frage nach dem die Maßnahme rechtfertigenden „öffentlichen Interesse" iSv Art 1 1 2 des l.ZPEMRK. 7 1

35

bb) Erforderlichkeit Dem Kriterium der Erforderlichkeit einer eigentumsbeschränkenden staatlichen Maßnähme ist in der Spruchpraxis der Konventionsorgane wegen des den Mitgliedstaaten insoweit zugebilligten weiten Prognosespielraums72 bislang noch keine besondere Bedeutung zugewachsen.73 Die Kommission hat kurz vor Ende ihrer Tätigkeit sogar noch festgestellt, Art 1 des 1. ZP EMRK enthalte überhaupt kein Erforderlichkeitskriterium.74 Auch dem EGMR ist der Vorwurf gemacht worden, er berücksichtige in seiner Rechtsprechung nicht hinreichend, ob die konkret gerügten Eigentumsbeeinträchtigungen nicht durch eingriffsmildernde Maßnahmen hätten vermieden werden können.75 In der Tat hat der EGMR ausdrücklich festgestellt, in Art 1 des 1. ZP EMRK könne kein „Erfordernis einer strikten Notwendigkeit" hineingelesen werden. Die bloße Möglichkeit alternativer Verfahrensweisen mache für sich genommen eine nationale Maßnahme noch nicht ungerechtfertigt. Sie biete lediglich „einen Gesichtspunkt unter anderen", der berücksichtigt werden müsse, um festzustellen, ob die gewählten Mittel als vernünftig und angemessen zur Erzielung des legitimen Zwecks erachtet werden könnten. Innerhalb dieser Grenzen sei es dem Gerichtshof „verwehrt festzustellen, ob" eine Maßnahme „die beste Lösung des Problems" darstelle oder ob das den nationalen Stellen einzuräumende Ermessen anders hätte ausgeübt werden müssen.76

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cc) Gerechter Ausgleich der Interessen Zum zentralen Argumentationstopos avanciert dabei in der Rechtsprechung der Konventionsorgane die Frage, ob zwischen den Forderungen des Allgemeininteresses und den Erfordernissen eines effektiven Individualrechtsschutzes ein „gerechter Ausgleich" oder auch ein „Gleichgewicht" besteht.77 Die Rechtsprechung erstreckt die eigene Prüfung nationaler Maßnahmen, die der Sache nach einer Prüfung ihrer Angemessenheit oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nach deutschem Rechtsverständnis weithin ent-

70 71 72 73 74 75 76 77

E G M R , R J D 2000-1, Ziff 1 1 1 - Beyeler. Vgl dazu schon o Rn 31. Vgl dazu insbesondere E G M R , E u G R Z 1977, 38 ff - Handyside. Mitteiberger E u G R Z 2001, 364, 368 spricht gar davon, das Kriterium der Erforderlichkeit sei „nicht von Bedeutung". Vgl E G M R , E u G R Z 2001, 397 ff - Ehemaliger König. Gelinsky (Fn 15) S 203 unter Hinweis auf die Entscheidung in der Sache E G M R , E u G R Z 1988, 513 ff - AGOSI. E G M R , E u G R Z 1988, 341 ff - James. Engl/franz: „proper balance"/,,juste équilibre", vgl etwa E G M R , R U D H 1991, 551 ff - Wiesinger; ähnlich für die Beurteilung des Verhältnisses von Enteignung und Kompensation E G M R , H R L J 1995, 30 ff - Heilige Klöster: „fair balance". Zu den aus der Verwendung dieses Begriffs drohenden „Gefahren beliebig steuerbarer Ergebnisse" Fiedler E u G R Z 1996, 354, 355.

119

37

§5

Bernhard W. Wegener

113

spricht, mit Hilfe dieses Abwägungstopos auch auf die tatsächlichen Einzelheiten des konkret zu beurteilenden Einzelfalles.™ dd) Kompensationserfordernis Fall 5: ( n a c h E G M R , E u G R Z 1988. 341 ff

James)

38

Durch Gesetz werden sog „Langzeitpächter" berechtigt, die von ihnen bewohnten und instand gehaltenen Häuser zu gesetzlich festgelegten Konditionen zu erwerben und so den vertraglich vereinbarten „Heimfair' an den Verpächter zu verhindern. Die den ehemaligen Verpächtern zuzahlenden Kaufpreise liegen dabei deutlich unter den am Markt zu erzielenden Preisen

39

Seit der Entscheidung in der Sache James hält der E G M R die Enteignung oder die sonstige (faktische) vollständige Wegnahme von Eigentum ohne Entschädigung für nur in Ausnahmefällen rechtfertigungsfähig. 7 '' Umgekehrt kann eine gesetzlich vorgesehene Entschädigung die Härten eines Eigentumsentzugs oder einer Eigentumsbeschränkung so weit abmildern, dass sich die M a ß n a h m e n insgesamt als verhältnismäßig erweisen. 8 " Voraussetzung ist allerdings, dass die vorgesehene Kompensation den betroffenen Eigentümern auch tatsächlich zukommt und für sie der Sache nach nicht völlig ohne Wert ist. So hat der E G M R die Berechtigung zur Jagd auf fremden Grundstücken als untaugliche Kompensation der gesetzlich auferlegten Pflicht zur Duldung der Jagd durch Dritte auf dem eigenen Grundstück angesehen. Wer - wie die Beschwerdeführer - die Jagd aus ethischen G r ü n d e n ablehne, für den sei die Einräumung eines solchen kompensatorischen Rechts ohne Wert. 81

40

Die Entschädigungspflicht 8 2 gilt gegenüber Inländern wie gegenüber Ausländern. 8 ' Auch für die Ermittlung der H ö h e der damit notwendigen Kompensation ziehen E G M R und Kommission das Kriterium des gerechten Ausgleichs heran. Dabei muss nicht in jedem Fall der volle Verkehrswert des entzogenen Eigentums gezahlt werden. 84 So kann unter Umständen auf einen Ausgleich für inflationsbedingte Vermögenseinbußen verzichtet werden, die sich bis zum Zeitpunkt der Auszahlung der Entschädigung ergeben. 85

78 Vgl d a f ü r E G M R , E u G R Z 1996, 593 ff Hentrich. In einer G e s a m t b e t r a c h t u n g aber dennoch kritisch gegenüber der in der Rechtsprechung (nicht) erreichten Kontrollintensität: Gelinsky (Fn 15) S 202 f. 79 E G M R , E u G R Z 1988, 341 IT James: „the protection of the right of property ... would be largely illusionary and ineffective in the abscnce of any equivalent principle"; vgl auch E G M R , H R L J 1995, 30ff Heilige Klöster; E u G R Z 2001, 397 ff Ehemaliger König. N ä h e r zur Bedeutung des Kompensationserfordernisses auch für die Fälle der de-facto-Enteignung: Frowein (Fn 8) S 49,

58 fT; Fiedler EuGRZ 1996. 354, 355 f. 80 81 82 83

E G M R . E u G R Z 2001, 397 ff Ehemaliger König. E G M R , N J W 1999, 3695 fT Chassagnou. Zu ihr eingehend Riedel E u G R Z 1988, 333 ff. Allerdings lehnt der E G M R eine Übertragung der für die Enteignung von Ausländern geltenden strengen kompensationsrechtlichen Regeln, wie sie sich aus den in Art 1 I 1 des 1. Z P E M R K in Bezug genommenen „allgemeinen Regeln des Völkerrechts" ergeben, auf die Enteignung von Inländern ab. Eine „Inländerdiskriminierung" im Bereich der Enteignungsentschädigung ist deshalb zulässig; vgl dazu E G M R , E u G R Z 1988, 341 ff James. 84 E G M R , E u G R Z 1988, 341 ff James. 85 E G M R . E u G R Z 1988. 350 ff Lithgow; näher dazu Gelinsky (Fn 15) S 144 ff.

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Wirtschaftsgrundrechte

§5

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Ablehnend steht der Gerichtshof allerdings solchen rechtlichen Regelungen gegenüber, die die zu leistende Entschädigung unter Hinweis auf unwiderlegliche gesetzliche Fiktionen pauschal mindern. Verworfen wurde deshalb eine griechische Entschädigungsregelung, nach der der Bau einer Nationalstraße für die betroffenen Anwohner stets als eine Wertsteigerung anzusehen sei, die bei der Berechnung der Entschädigung für die teilenteigneten Grundstücke pauschal in Anrechung zu stellen sei. Auch Argumente der Verwaltungspraktikabilität sollen ein solches System wegen seiner „exzessiven Starrheit" nicht rechtfertigen können.*'' Im übrigen verlangt der E G M R lediglich, dass die Höhe der Entschädigung in einem „vernünftigen Zusammenhang" zum Wert des enteigneten Objekts steht.*7 Dabei billigt der E G M R den Mitgliedstaaten einen weiten Ermessensspielraum bei der Festsetzung der Entschädigung zu. So soll insbesondere auch der „soziale" oder auch „sozialisierende" Charakter 8 8 der staatlichen Maßnahme Berücksichtigung finden können, sofern er den Grundsätzen einer „demokratischen Gesellschaft" noch entspricht. 8 '' Enteignende Maßnahmen zum Zwecke der Durchsetzung von Wirtschafts- und Agrarreformen können demnach auch bei geringer oder fehlender Kompensation eher auf Akzeptanz stoßen, als sonstige, eher im Einzelfall veranlasste Enteignungen. Lösung Fall 5: Der durch Gesetz begründete Zwang zum Verkauf der ursprünglich bloß verpachteten Häuser stellt sich als Eigentumsentziehung nach Art 1 1 2 des 1. ZP EMRK dar. Diese Enteignung liegt, auch wenn sie private Dritte begünstigt, im von der Vorschrift vorausgesetzten „öffentlichen Interesse". Die Enteignungen werden auch nicht dadurch konventionswidrig, dass sie keine vollständige Entschädigung der betroffenen Alteigentümer vorsehen. Zwar hält der EGMR eine Entschädigung für grundsätzlich geboten. In ihrer Höhe müsse sie jedoch nicht dem Marktpreis entsprechen. Insbesondere sind die Härten, die sich aus der Anwendung einer allgemeinen Enteignungsmaßnahme im Einzelfall ergeben können, im Interesse der Gleichförmigkeit, Rechtssicherheit und Schnelligkeit der Enteignung insgesamt grundsätzlich hinzunehmen. 9 " 4. Eigentumsrecht

und andere Garantien der

41

42

EMRK

Fall 6: (nach EGMR, HRLJ 1992, 36 ff - Pine Valley) Die Firma H erwirbt ein Gelände, das außerhalb der normalen Bauzonen liegt, für das aber eine besondere Planungsgenehmigung zum Bau eines Kaufhauses existiert. Die Planungsgenehmigung ist in ein öffentliches Register eingetragen. Nach Erwerb des Grundstückes

86 E G M R . E u G R Z 1999. 319 ff m w N Papachelas. 87 E G M R . E u G R Z 1988. 350 ff L i t h g o w : „ a n a m o u n t reasonably related t o its v a l u e " / „ r a i s o n n a b l e m e n t en r a p p o r t avec la v a l e u r d u b i e n " ; f ü r eine weitere A u s d i f f e r e n z i e r u n g d e r a n g e w a n d t e n

Kriterien vgl ComhreUi in: Pettiti/Decaux/lmbert (Fn 68) S 990 ff. 88 Vgl d a f ü r s c h o n E G M R . E u G R Z 1988, 341 ff J a m e s : „ g r e a t e r social j u s t i c e " / „ j u s t i c e s o c i a l " . 89 F ü r diese F o r m e l n vgl E G M R , E u G R Z 1988, 350 ff L i t h g o w ; u n t e r B e r u f u n g d a r a u f a b l e h n e n d zu e i n e r „ k l a s s e n s p e z i f i s c h o r i e n t i e r t e n K o l l e k t i v i e r u n g " u n d z u r P e r p e t u i e r u n g d e r W i r k u n g e n d e r k o m m u n i s t i s c h e n B o d e n r e f o r m z w i s c h e n 1945 u n d 1949 in O s t d e u t s c h l a n d : Fiedler E u G R Z 1996.354,356. 90 E G M R . E u G R Z 1988, 341 ff - J a m e s ; Vgl a u c h E G M R , E u G R Z 1988, 350 ff - Lithgow, f ü r die B e s c h r ä n k u n g des M a ß e s d e r E n t s c h ä d i g u n g in Fällen d e r V e r s t a a t l i c h u n g b e s t i m m t e r I n d u s t r i e zweige.

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43

§ 5 III

Bernhard W. Wegener

wird die Planungsgenehmigung in einem Musterprozess vom Obersten Gerichtshof des Landes für nichtig erklärt. Während für eine Vielzahl vergleichbarer ariderer Fälle ein Gesetz die Nichtigkeit nachträglich beseitigt und die Wirkung der ursprünglich rechtswidrig erteilten besonderen Planungsgenehmigungen wiederherstellt, unterbleibt dies für das Grundstück der H. 44

45

Der durch Art 1 des 1. Z P E M R K garantierte Schutz des Eigentums erfährt in besonderen Fällen eine Verstärkung durch weitere Garantien der E M R K . Eine solche Funktion hat etwa das Diskriminierungsverbot des Art 14 E M R K (allgm —> § 3 Rn 65 ff). Zwar soll der Bestimmung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „keine eigenständige Bedeutung" zukommen. Sie soll vielmehr den Einzelnen nur vor einer unberechtigten Ungleichbehandlung hinsichtlich des Gebrauchs seiner in anderen Vorschriften der Konvention und der ergänzenden Protokolle normierten Freiheiten schützen. Soweit der Gerichtshof bereits auf eine Verletzung der in Art 1 des 1. Z P E M R K garantierten Eigentumsfreiheit erkennt, hält er es deshalb regelmäßig für entbehrlich, auch noch eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes zu prüfen. Anderes soll nur gelten, wenn eine klare Ungleichbehandlung bei der Ausübung des Eigentumsrechts einen wesentlichen Aspekt des Streitfalles darstellt. Als einen solchen gerade in der Ungleichbehandlung sich manifestierenden Verstoß gegen Art 1 I des 1. Z P E M R K iVm Art 14 E M R K hat der Gerichtshof eine französische Gesetzgebung gewertet, die lediglich die Eigentümer kleiner Grundstücke verpflichtete, den Zutritt Dritter zum Zwecke der Jagd zu dulden, Eigentümer größerer Grundstücke aber von dieser Verpflichtung ausnahm.'" Eine den Eigentumsschutz verstärkende Funktion kann daneben vor allem der Bestimmung über das faire Verfahren in Art 6 E M R K zukommen. Lösung Fall 6: Obwohl die Planungsgenehmigtmg von Anfang an nichtig war, sieht der EGMR in der dies feststellenden gerichtlichen Entscheidung einen Eingriff in das Eigentum der H. Mit Rücksicht auf die Rechtswidrigkeit der Genehmigung und auf die Kenntnis der H von den insoweit bestehenden rechtlichen Zweifeln hält der Gerichtshof die Nichtigerklärung allerdings für verhältnismäßig und als solche für nicht entschädigungspflichtig. Eine Entschädigungspflicht ergibt sich allerdings angesichts der nicht gerechtfertigten Ungleichbehandiung aus Art 1 I 1, II des 1. ZP EMRK iVm dem Diskrimimenmgs verbot des Ari 14 EMRK,'"

III. Sonstige wirtschaftsrechtliche Garantien 46

Neben dem Eigentumsrecht kennt die E M R K im Unterschied zur Universellen Erklärung der Menschenrechte der UN keine weiteren Wirtschaftsgrundrechte. Lediglich einen eher unbedeutenden Sonderfall normiert Art 1 des 4. ZP: Danach darf „niemand ... die Freiheit allein deshalb entzogen werden, weil er nicht in der Lage ist, eine vertragliche Ver-

91 Vgl E G M R , N J W 1999. 3695 IT Chassagnou. 92 Zu Art 6 E M R K § 6 Rn 30 ff. Zur Bedeutung des Art 6 I E M R K für eigentumsrelevante Verfahren. vgl o in Fn 51. Speziell zur F u n k t i o n des Art 6 E M R K im EG-Kartellrechl: Weiß EWS 1997. 253. 255 f: dort auch zum Schutz von Geschäftsräumen durch Art 8 E M R K . 93 E G M R . H R L J 1992. 36 IT Pinc Valley.

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Wirtschaftsgrundrechte

§ 5 IV

pflichtung zu erfüllen." Die Regelung, nach der das Instrument des „Schuldturms" 94 konventionswidrig ist, macht die Beugehaft, die Art 5 I lit b EMRK ausdrücklich anerkennt, nicht unzulässig.95 Die Anordnung der Haft zur Erzwingung einer eidesstattlichen Versicherung gemäß § 901 ZPO und ähnliche Vorschriften werden durch Art 1 des 4. ZP nicht berührt. 9 '' Im übrigen fehlt es an der Gewährleistung wichtigerer Wirtschaftsgrundrechte, etwa der Berufs- oder Gewerbefreiheit.97 Letztere soll sich auch nicht im Wege der Ableitung einer allgemeinen Handlungsfreiheit ergeben können. Auch für sie findet sich jedenfalls nach herrschender Meinung in der Konvention kein hinreichender Anhaltspunkt. 98 Bislang haben die Konventionsorgane den gelegentlichen Bemühungen um eine Erweiterung des Kreises der Wirtschaftsgrundrechte weithin wiederstanden. 99

47

IV. Einfluss der Europäischen Sozialcharta Fall 7: (nach BVerwGE 91, 327 ff Landeserziehungsgeld) Die T, eine türkische Staatsangehörige, wohnt seit mehreren Jahren zusammen mit ihrem türkischen Ehemann, der als Arbeitnehmer tätig ist, in Baden-Württemberg. Sie beantragt für das gemeinsame Kind Landeserziehungsgeld. Ihr Antrag wird von der zuständigen Behörde abgelehnt, weil die einschlägigen Richtlinien des Landesministeriums eine Auszahlung des Erziehungsgelds nur für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der EU vorsehen. Die EMRK verzichtet nach dem Gesagten weithin auf den Schutz anderer als der klassisehen wirtschaftlichen Freiheitsgrundrechte. Insbesondere enthält sie keine sozialen Leistungsrechte (—> vgl § 2 Rn 9). Solche enthält auch die vom Europarat als „sozialrechtliches Pendant zur EMRK"111" beschlossene Europäische Sozialcharta (ESC)"" von 1961 nur in einer strukturell abgeschwächten Variante.1"2 Die Rechte der Sozialcharta, wie etwa das Recht auf Arbeit (Art 1 ESC), auf ein gerechtes Arbeitsentgelt (Art 4 ESC), auf soziale Sicherheit (Art 12 ESC) und auf Fürsorge (Art 13 ESC) oder das Vereinigungs(Art 5 ESC) und Streikrecht (Art 6 IV ESC) sind lediglich als Programmbestimmungen ausgestaltet, die von den Vertragsstaaten in ihr nationales Recht umgesetzt werden müssen.

94 Der entsprechende Sinn der Bestimmung ergibt sich nicht zuletzt aus dem 11. ZP, das für sie die Überschrift: „Verbot der Freiheitsentziehung wegen Schulden" eingeführt hat. 95 Villiger (Fn 21) R n 682. 96 E 5025/71 X/Bundesrepublik Deutschland, Y b 14. 692, 697 f; hier zit nach Froneiii/Peukert in: dies Art l d e s 4 . Z P E M R K . 97 Fnmein in: Frowein/Peukert Art 4 E M R K . 98 Laute E u G R Z 1996, 357, 362: Peukert in: Frowein/Peukert Art 5 E M R K R n 7 f; vgl -> § 2 Rn 8. § 3 R n 3. 99 Vgl dazu insbesondere Melchior Rights N o t Covered by the Convention in: M a c D o n a l d / M a t scher/Petzold The European System for the Protection of H u m a n Rights, 1993, S 593. 599 f. 100 Huithronner J Z 1997, 397, 398. 101 Vgl BGBl 1964 II S 1262. Sartorius II N r 115. 102 Allgemein zur ESC vgl AgnellilBerenstein ua Die Europäische Sozialcharta Wege zu einer europäischen Sozialordnung, 1978. Zur gewerkschaftlichen Kritik an der rechtlichen Schwäche der ESC vgl GahugliolFonteneuulLörcher A r b u R 1997, 345 ff.

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§ 5 IV

Bernhard W. Wegener

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Dies folgt aus Teil III des Anhangs zur ESC."" Danach enthält die Charta „rechtliche Verpflichtungen internationalen Charakters ..., deren Durchführung ausschließlich der in ihrem Teil IV vorgesehenen Überwachung unterliegt." Die in Art 21 bis 29 ESC geregelte „Überwachung" sieht aber - anders als die E M R K - weder behördliche noch gerichtliche Kontrollen innerhalb der einzelnen Vertragsstaaten, sondern lediglich ein Berichts-, Prüfungs- und Empfehlungsverfahren auf zwischenstaatlicher Ebene vor. Die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates angeregte Schaffung eines Europäischen Sozialgerichtshofs oder einer für die Kontrolle der Einhaltung der in der ESC enthaltenen Bestimmungen zuständigen Kammer des E G M R ist auch im Rahmen der unlängst erfolgten Revision der ESC nicht umgesetzt worden. 104 Unmittelbar aus den Bestimmungen der ESC lassen sich nach herrschender Meinung deshalb keine individuellen Rechte ableiten.1115

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Nicht nur ihrer gerichtlichen Durchsetzungsschwäche wegen, sondern auch inhaltlich wird die Wirkkraft der in der ESC normierten Rechte wenigstens zum Teil als stark beschränkt angesehen. Die ESC umschreibe „primär und wesentlich den bereits als vorhanden vorausgesetzten Mindeststandard von Rechtsinstitutionen sozialer Sicherheit" und ziele anders als das Sozialrecht der EG nicht auf die Veränderung des Rechts der M i t g l i e d s t a a t e n . O b sich diese Bewertung angesichts der umfangreichen Verpflichtungstatbestände der ESC und der Vorbehalte, die selbst Vertragsstaaten wie die Bundesrepublik für erforderlich hielten1"7, aufrechterhalten lässt, mag allerdings bezweifelt werden. "I!i

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Lösung Fall 7: Die T hat keinen Anspruch auf die Zahlung des Landeserziehungsgeldes. Ein solcher Anspruch ergibt sich insbesondere nicht aus Art 16 ESC. Zwar verpflichtet die Bestimmung die Vertragsstaaten, den wirtschaftlichen, gesetzlichen und sozialen Schutz des Familienlebens. insbesondere durch Sozial- und Familienleistungen zu fördern. Einen individuell einklagbaren Anspruch auf konkrete Fördermittel begründet die Vorschrift aber angesichts des bloß völkerrechtlichen Charakters der ESC nicht. Der Umstand, dass sowohl die Türkei

103 D e r A n h a n g ist n a c h A r t 38 E S C v e r b i n d l i c h e r B e s t a n d t e i l d e r C h a r t a selbst. 104 D a z u u n d zu d e n V e r ä n d e r u n g e n d u r c h die a m 1.7.1999 in K r a f t getretene, von D e u t s c h l a n d a b e r n o c h nicht ratifizierte „ R e v i d i e r t e E u r o p ä i s c h e S o z i a l c h a r t a " vgl Dötsch A u A 2001. 27 IT. 105 Vgl d a z u B V e r w G E 65, 188, 196; 66, 268, 274; B A G . J Z 1985, 4 4 5 0'. mit a b l e h n e n d e r Besprec h u n g Konzen J Z 1986, 157 IT; V G H M a n n h e i m , D Ö V 2000, 874; Wengler D i e U n a n w e n d b a r k e i t d e r E u r o p ä i s c h e n S o z i a l c h a r t a im S t a a t , 1969, S 11 f; Piscliel D i e B e d e u t u n g d e r e u r o p ä i s c h e n S o z i a l c h a r t a f ü r d a s R e c h t in d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d , 1966: Harris T h e E u r o p e a n Social C h a r t e r , 1964. S 290; Zuleeg Z a ö R V 35 (1975) 341. 352. F ü r d e n t a s t e n d e n Versuch d e r B e g r ü n d u n g e i n e r a b w e i c h e n d e n A n s i c h t vgl Lörclier E u Z W 1991, 3951". 106 So Eichcnhofer in: O e t k e r / P r e i s E A S . B 1200, 1995. R n 4; k o n s e q u e n t wird in dieser D a r s t e l l u n g des E u r o p ä i s c h e n S o z i a l r c c h t s d e n n a u c h a u f A u s f ü h r u n g e n z u r E S C w e i t e s t g e h e n d verzichtet. 107 Die B u n d e s r e p u b l i k hat v o n d e r in A r t 20 E S C v o r g e s e h e n e n M ö g l i c h k e i t e i n e r n u r einges c h r ä n k t e n R a t i f i k a t i o n d e r C h a r t a G e b r a u c h g e m a c h t u n d d e n A r t 4 IV ( R e c h t a u f a n g e m e s s e n e K ü n d i g u n g s f r i s t ) , A r t 7 I ( M i n d e s t b e s c h ä f t i g u n g s a l t e r 15 J a h r e ) , A r t 8 II ( V e r b o t d e r K ü n d i g u n g w ä h r e n d M u t t e r s c h a f t s u r l a u b s ) u n d A r t 8 IV ( S o n d e r r e g e l u n g e n f ü r N a c h t a r b e i t u n d g e f ä h r l i c h e A r b e i t e n von A r b e i t n e h m e r i n n e n ) sowie A r t 10 IV (finanzielle U n t e r s t ü t z u n g d e r b e r u f l i c h e n B i l d u n g ) E S C n i c h t z u g e s t i m m t : vgl d a z u A r t 1 d e s Z u s t i m m u n g s g e s e t z e s z u r E S C : B G B l 1964 II S 1262. S a r t o r i u s II N r 115. 108 F ü r eine positivere, a l l e r d i n g s a u c h s c h o n ältere. E i n s c h ä t z u n g d e r „ p r a k t i s c h e n A u s w i r k u n g e n d e r E u r o p ä i s c h e n S o z i a l c h a r t a " vgl Fuchs in A g n e l l i / B e r e n s t e i n ua ( F n 102) S 289 ff m w N .

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Wirtschaftsgrundrechte

§ 5 IV

als auch Deutschland als Signatarstaaten der E S C die entsprechende Verpflichtung als f ü r sich verbindlich anerkannt haben, verpflichtet die Landesbehörden auch in Verbindung mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art 3 1 G G nicht, die Regelungen über das von ihr auf freiwilliger haushaltsrechtlicher Basis gewährte Landeserziehungsgeld so auszugestalten, dass sie auch türkische Staatsangehörige erfassen. 1 0 '

109 So BVerwGE 91, 327, 330 mwN; anders noch die Vorinstanz: VGH Mannheim, NVwZ-RR 1993, 83 ff.

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§6 Justiz- und Verfahrensgrundrechte Christoph Grabenwarter Leitentscheidungen: E G M R , N J W 1989, 652 Deumeland = Kimig JK. 89, EMRK. Art 6 1/1; E u G R Z 1996, 577IT A m u u r ; E G M R , N J W 2001, 3035 - Krenz; Urt v 29. 5. 2001, Nr. 37950/97 Fischer. 1 Schrifttum: Frowein in: G S Rolv Ryssdal, 2000, 545 ff; Grabenwarter Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgcrichtsbarkeit, 1997: Mimloch I C L Q 42 (1993), 494 IT; Trechsel in: M a c d o n a l d / M a t s c h c r / Petzold (Hrsg) T h e European System for the Protection of H u m a n Rights, 1993, S 277 IT.

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Im folgenden Abschnitt werden jene Garantien der E M R K behandelt, die Verfahrensrechte in einem weiteren Sinn zum Gegenstand haben. Verglichen mit den Grundrechten des Grundgesetzes enthält die E M R K eine weit größere Zahl von Verfahrensgrundrechten. Sie sind - beeinflusst vom anglo-amerikanischen Recht - um einiges detaillierter gefasst und überwiegen auch quantitativ in der Rspr die klassischen Freiheitsrechte. Demgemäß überrascht es nicht, dass die Verfassungsordnungen zahlreicher Mitgliedstaaten gerade in diesem Bereich maßgeblichen Einfluss erfahren haben. 2 Nicht zufällig definierte das BVerfG die Bedeutung der E M R K im deutschen Recht aus Anlass der zwar nach der E M R K , nicht aber nach dem Grundgesetz explizit grundrechtlich verankerten Unschuldsvermutung. 1

2

Unter Justiz- und Verfahrensgrundrechten werden durchaus unterschiedliche Rechtspositionen zusammengefasst, die jedoch ihrerseits einen gemeinsamen Bezugspunkt haben, nämlich den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes als Ausdruck eines europäischen Verfassungsprinzips der Rechtsstaatlichkeit. 4

I. Der Schutz der persönlichen Freiheit (Art 5 EMRK) 3

Der Inhalt des Art 5 E M R K lässt sich geleitet von der Regelungsstruktur des G r u n d gesetzes in drei Teile teilen. Art 5 I 1 E M R K enthält die allgemeine Garantie der Freiheit der Person (vergleichbar Art 2 II 2 G G ) , Satz 2 enthält die Zulässigkeitsbedingungen für bestimmte Eingriffstatbestände (vergleichbar Art 104 I G G ) , Art 5 II bis V E M R K enthalten schließlich besondere Verfahrensgarantien im Z u s a m m e n h a n g mit Freiheitsentziehungen (vgl Art 104 II und III G G ) . Faü 1: (EGMR, E u G R Z 1996, 577 ff - Amuur) Somalische Staatsbürger kommen am 9.3.1992 mit dem Flugzeug aus Syrien auf dem Flughafen Paris-Orly an. Da ihre Pässe gefälscht sind, wird ihnen die Einreise verweigert. Die Rückreise nach Syrien ist nicht möglich. Die Somalier suchen um Asyl an und werden in

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1 2 3 4

Aktuelle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können im Internet unter http://www.eehr.coe.int/ abgerufen werden. F ü r Bsp vgl Grabenwarter FS Steinberger, 2002, S 1129, 1130 f. BVerfGE 74. 358, 370: 82, 106, 115. Grabenwarter Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1997, S 696 ff.

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Justiz- und Verfahrensgrundrechte

§ 6 12

einem zur „ T r a n s i t z o n e " e r k l ä r t e n Teil eines H o t e l s am F l u g h a f e n a n g e h a l t e n . Ihr Ansuchen bleibt erfolglos. A m 29.3.1992 werden sie n a c h diplomatischen V e r h a n d l u n g e n nach Syrien zurückgeschickt, das nicht Mitglied der G e n f e r F l ü c h t l i n g s k o n v e n t i o n ist. Eine gesetzliche G r u n d l a g e f ü r die A n h a l t u n g gibt es nicht. Vor d e m E G M R m a c h e n die Flüchtlinge eine Verletzung ihres Rechts auf Freiheit der Person n a c h Art 5 I E M R R geltend. Z u Recht?

1. Das Recht auf Freiheit und

Sicherheit

Der sachliche Schutzbereich des Art 5 E M R K umfasst neben dem Verbot der Willkürliehen Festnahme und Freiheitsentziehung (Abs l) 5 die Garantie der richterlichen Kontrolle des Freiheitsentzugs. Art 5 E M R K ist auch bei kurzzeitiger Freiheitsentziehung anwendbar. 6 Bei der Beurteilung, ob eine Freiheitsentziehung iSd Art 5 E M R K vorliegt, ist von der konkreten Situation des Betroffenen auszugehen. 7 Obwohl die Begriffe „Freiheit und Sicherheit" in Art 5 I E M R K getrennt aufgeführt sind, hat das „Recht auf Sicherheit" keine selbständige Bedeutung erlangt. 8 Die Bewegungsfreiheit ist ausdrücklich durch die Freizügigkeitsgarantie des Art 2 4. ZP E M R K geschützt und wird deswegen nicht vom Schutzbereich des Art 5 E M R K erfasst.1' Ebenso wenig erfasst der Schutzbereich des Art 5 I E M R K die Bedingungen der Haft. 1 " 2. Die

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Eingriffstatbestände

Mögliche Eingriffe in die persönliche Freiheit sind im Katalog des Art 5 I lit a bis f E M R K abschließend geregelt. Die entsprechenden Tatbestände sind restriktiv auszulegen." Die Kontrolle der Eingriffsvoraussetzungen erfolgt in erster Linie durch die nationalen Gerichte. Der E G M R überprüft nur den betreffenden Einzelakt, nicht auch das zugrunde liegende anwendbare nationale Recht. Eine Ausnahme besteht jedoch dann, wenn die E M R K selbst - wie in Art 5 I E M R K - auf das innerstaatliche Recht verweist.12 Zulässige Eingriffe in das Grundrecht müssen zunächst in Übereinstimmung mit dem gesetzlich vorgeschriebenen innerstaatlichen Verfahren erfolgen. Art 5 E M R K nennt als

5 E G M R , E u G R Z 1996, 577, Rn 42 Amuur; E u G R Z 1979, 650, Rn 37 Wintcrwerp; Série A, Vol 3, Rn 14 Lawless; R J D 1997-11, Rn 41 Loukanov. 6 Villiger Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention ( E M R K ) , 2. Aufl 1999, Rn 316; Murdoch 1CLQ 42 (1993), 494 fT. 7 E G M R , E u G R Z 1986, 5, Rn 41 X/Vereinigtes Königreich; E u G R Z 1983. 633, Rn 92 Guzzardi; E u G R Z 1976, 221, Rn 59 - Engel. 8 Im Urteil E G M R , E u G R Z 1987, 101, Rn 54, 60 - Bozano, wird das „Recht auf Sicherheiterwähnt, ohne dass Konsequenzen daraus gezogen werden; van Dijklvan Hoof Theory and Practice of the European Convention on H u m a n Rights, 3. Aufl 1998, S 344 f; Kopetzki in: Machacek/ Pahr/Stadler (Hrsg) Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd III, 1997. S 261, 290; Trechsel E u G R Z 1980, 514, 518; ders Liberty, S 282 f. 9 E G M R , E u G R Z 1996, 577. Rn 42 - Amuur; E u G R Z 1983, 633. Rn 92 Guzzardi; E u G R Z 1976, 221, Rn 58 Engel. 10 E G M R , Urt v 2.8.2001, N r 44955/98, Rn 16 - Vittorio; dazu Uerpmann, Rn. 37 ff. 11 E G M R , R J D 1997-11, Rn 41 - Loukanov; Série A, Vol 311, Rn 42 - Quinn; Série A, Vol 148, Rn 41 - Ciulla; Série A. Vol 129, Rn 43 Bouamar. 12 E G M R , E u G R Z 1979, 650, Rn 46 - Winterwerp; grundsätzlich anders vgl Série A, Vol 13, Rn 97 Ringeisen.

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§6 12

Christoph Grabenwarter

Bedingungen für die Verfahrensmäßigkeit der Haft, dass das innerstaatliche Recht eine Inhaftnahme vorsieht, dass das vorgesehene Verfahren selbst im Einklang mit der EMRK steht und im Einzelfall tatsächlich eingehalten wurde.13 Das innerstaatliche geschriebene oder ungeschriebene Recht muss hinreichend präzise sein, um es dem Betroffenen zu ermöglichen, - auch unter Einholung von Rechtsrat - die Folgen seines Handelns vorauszusehen.14 Ausreichend für die Rechtmäßigkeit ist eine gefestigte Rspr zur Auslegung verfahrensrechtlicher Normen. 15 Die materielle Rechtmäßigkeit der Haft richtet sich nach Art 5 I lit a bis f EMRK: a) Verurteilung 8

Verurteilungen iSv Art 5 I lit a EMRK umfassen straf- oder disziplinarrechtliche Tatbestände und setzen die Feststellung einer Schuld voraus.16 Das „Gericht" iSd Art 5 I lit a EMRK muss von der Exekutive unabhängig sein.17 Entscheidend ist, dass die Haft der Verurteilung nicht nur zeitlich nachfolgt, sondern kausal von ihr abhängt.18 Gemeint ist die Haft ab der erstinstanzlichen Verurteilung, nicht erst ab Rechtskraft des Urteils.19 Aus Art 5 I lit a EMRK lässt sich kein Recht auf Aussetzung der Haft ableiten, zB bei einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe nach Ermessen.20 b) Nichtbefolgung von Gerichtsbeschlüssen oder einer durch Gesetz vorgesehenen Verpflichtung

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Bei dem Haftgrund der „Nichtbefolgung eines rechtmäßigen Gerichtsbeschlusses oder ... einer durch Gesetz vorgesehenen Verpflichtung" gern Art 5 I lit b EMRK entspricht der Begriff des „Gerichts" dem des Art 5 I lit a 21. Ein „Gerichtsbeschluss" kann auch bei Handeln einer Verwaltungsbehörde gegeben sein.22 Während die auf die Nichtbefolgung eines gerichtlichen Beschlusses hin angeordnete Haft repressiven Charakter hat,23 weist die Haft aufgrund der Nichtbefolgung des Zwangs, eine Verpflichtung zu erfüllen (zB den Pass bei sich zu tragen24), keinen punitiven Charakter auf, denn sobald der Betroffene die ihm obliegende Verpflichtung erfüllt hat, fällt der Haftgrund weg.25

13 14 15 16 17 18 19

20 21 22 23 24 25

EGMR, Série A, Vol 296-C, Rn 37 - Kemmache. EGMR, RJD 1998-VII, Rn 54 - Steel. EGMR, Urt v 8.11.2001, Nr 43626/98, Rn 51 - Laumont. EGMR, RUDH 1990, 158, Rn 38 - B/Österreich; Villiger (Fn 6) Rn 330; Kopetzki in: Machacek/Pahr/Stadler (Fn 8) S 323; Trechsel (Fn 8) S 297; ders EuGRZ 1980, 518, 523 ff. EGMR, EuGRZ 1976, 221, Rn 68 - Engel. EGMR, RUDH 1990, 158, Rn 38 - B/Österreich; Série A, Vol 115, Rn 40 - Monnell; EuGRZ 1988, 316, Rn 42 - Weeks; EuGRZ 1987, 101, Rn 53 - Bozano. EGMR, RUDH 1990, 158, Rn 36 - B/Österreich; Série A, Vol 7, Rn 9 - Wemhoff; aA Reindl in: Grabenwarter/Thienel (Hrsg) Kontinuität und Wandel der EMRK, 1998, S 45,48: bis Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils Untersuchungshaft iSd Art 5 I lit c EMRK. Villiger (Fn 6) Rn 332 mwN. Dazu o Rn 8. Peukert in: Frowein/Peukert Art 5 EMRK Rn 67. Peukert in: Frowein/Peukert Art 5 EMRK Rn 64. EKMR, DR 52, 111, 118. EKMR, DR 25, 15, 81; Kopetzki in: Machacek/Pahr/Stadler (Fn 8) S 330.

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Justiz- und Verfahrensgrundrechte

§6 12

c) Präventiv- und Untersuchungshaft Die Präventiv- und Untersuchungshaft gern Art 5 I lit c EMRK dient der Sicherung der strafrechtlichen Untersuchung und steht stets in einem strafrechtlichen Kontext.26 Ihr Zweck muss die Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde sein.27 Der Begriff der „Gerichtsbehörde" beruht auf demselben Begriffsverständnis wie jenes für die Begriffe des „Richters" bzw des „richterlichen Beamten" in Art 5 III EMRK. Der Inhalt der strafbaren Handlung bestimmt sich nach dem innerstaatlichen Recht.28 Art 5 I lit c EMRK nennt als kumulative Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Haft den Zweck der richterlichen Vorführung und den Tatverdacht oder die Ausführungsoder Fluchtgefahr. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist Art 5 I lit c EMRK verletzt.29 Grundvoraussetzung für die Untersuchungshaft ist der hinreichende Tatverdacht. Bei der Inhaftnahme genügt er als ausschließlicher Haftgrund, nicht aber bei der Fortdauer der Untersuchungshaft, 30 für die Art 5 III EMRK maßgeblich ist.3' Sieht das innerstaatliche Recht eine höhere Eingriffsschwelle vor, so ist diese maßgebend,32 mit der Folge, dass neben dem in Art 5 I lit c EMRK ausdrücklich genannten hinreichenden Tatverdacht und der Fluchtgefahr auch die klassischen Haftgründe der Verdunklungs- und Wiederholungsgefahr konventionsrechtlich erheblich sind, soweit sie nach dem innerstaatlichen Recht Voraussetzung für die Untersuchungshaft sind.33 Das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts ist zu bejahen, wenn genügend Tatsachen vorliegen, die objektiv darauf schließen lassen, dass der Betroffene die strafbare Handlung hätte begehen können.34 Nicht erforderlich ist eine bereits vollständig erfolgte Sachverhaltsaufklärung. Die Nachprüfung dieser Voraussetzungen durch den EGMR beschränkt sich auf eine Willkürkontrolle.35 Gern Art 5 I lit c EMRK muss nicht notwendig die Wiederholungsgefahr gegeben sein, sondern es genügt bereits die bloße Ausführungsgefahr. Voraussetzung für die Haft ist in diesem Fall das Vorliegen konkreter Gründe, die auf die Begehung einer bestimmten künftigen strafbaren Handlung schließen lassen.36

26 E G M R , Série A, Vol 148, Rn 38 - Ciulla. 27 E G M R , HRLJ 1994, 331, Rn 68 - Murray; Série A, Vol 25, Rn 199 - Irland; Série A, Vol 3, Rn 13 f - Lawless. 28 Peukert, in: Frowein/Peukert Art 5 E M R K Rn 72, zu der Frage, ob darunter auch bloßes Ordnungsunrecht fallt. 29 Vgl E G M R , HRLJ 1994, 331, Rn 55 - Murray; R U D H 1990, 418, Rn 32 - Fox; E u G R Z 1983, 633, Rn 102 - Guzzardi. 30 E G M R , Série A, Vol 7, Rn 4 - Stögmüller; EuGRZ 1985, 700, Rn 44 - D e Jong. 31 Dazu u Rn 21 ff. 32 Villiger (Fn 6) Rn 346. 33 E G M R , Série A, Vol 296-C, Rn 42 - Kemmache; E K M R , D R 34, 119, 124. 34 Zum Sonderfall der Terrorismusbekämpfung vgl E G M R , R U D H 1990, 418, Rn 32 - Fox, HRLJ 1994, 331, Rn 50 ff - Murray; Urt v 16.10.2001, Nr 37555/97, Rn 34 - O'Hara. 35 E G M R , R J D 1997-VI, Rn 51 f - Erdagöz; R U D H 1990,418, Rn 34 - Fox; E K M R , D R 88-B, 94, 113; D R 16, 111, 118; D R 54, 35, 38; Peukert in: Frowein/Peukert Art 5 E M R K Rn 75 ff. 36 E G M R , E u G R Z 1983, 633, Rn 102 f - G u z z a r d i .

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Christoph Grabenwarter

d) Inhaftnahme Minderjähriger 14

Die Inhaftnahme Minderjähriger (lit d) umfasst Maßnahmen der Fürsorge und des Jugendstrafrechts,37 so dass auch die vorübergehende Inhaftnahme bis zur Entscheidung über eventuelle Erziehungsmaßnahmen zulässig ist.38 Eine elterliche Entscheidung für ein psychiatrisches Kinderkrankenhaus fällt hingegen nicht in den Anwendungsbereich des Art 5 EMRK. 39 Die Freiheitsentziehung nach lit d kann auch von einer Verwaltungsbehörde angeordnet werden.40 e) Unterbringung Kranker und Landstreicher

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Bei der Unterbringung Kranker oder Landstreicher nach Art 5 I lit e EMRK verfügen die nationalen Behörden über einen Beurteilungsspielraum.41 Art 5 I lit e EMRK lässt eine Inhaftnahme bei Vorliegen ansteckender Krankheiten zu, die zwingend durch ein objektives ärztliches Attest festzustellen sind,42 ferner bei Alkohol- oder Rauschgiftsucht sowie bei Geisteskrankheit. Die die Haft rechtfertigende Gefährlichkeit der betreffenden Person kann für die Allgemeinheit oder für die in Haft genommene Person selbst bestehen.43 Dazu zählt insb auch die Ausbreitung ansteckender Krankheiten.44 f) Verhinderung des unberechtigten Eindringens in das Staatsgebiet, Abschiebungs- und Auslieferungshaft

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Art 5 I lit f EMRK sieht drei Haftgründe vor: Die Verhinderung des unberechtigten Eindringens in das Staatsgebiet, die geplante Abschiebung sowie die geplante Auslieferung. Die Rechtmäßigkeit dieser Inhaftierungen erfordert über die Einhaltung der verfahrensund materiellrechtlichen Vorschriften hinaus auch die Beachtung des Gesamtziels des Art 5 EMRK. 45 Die Maßnahme muss staatlichem und internationalem Recht entsprechen.46 Um eine Verfälschung des Haftgrundes zu vermeiden, darf die Festnahme in Fällen der Auslieferung oder Abschiebung ausschließlich zu diesem Zweck erfolgen.47 Anders als bei Art 5 I lit c EMRK kommt es bei Art 5 I lit f EMRK alleine darauf an, ob ein schwebendes Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren besteht. Ob die Auslieferung selbst rechtmäßig ist, ist für Art 5 EMRK irrelevant.48 Allerdings sind weitere vom innerstaatlichen Recht vorgesehene Voraussetzungen auch auf der Ebene der EMRK relevant.49 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

EGMR, Série A, Vol 129, Rn 50, 52 - Bouamar. EGMR, Série A, Vol 129, Rn 50 - Bouamar. EGMR, Série A, Vol 144, Rn 72 - Nielsen. Villiger (Fn 6) Rn 335. EGMR, EuGRZ 1992, 535, Rn 63 - Herczegfalvy; EuGRZ 1985, 642, Rn 27 - Luberti; EuGRZ 1982, 101, Rn 43 - X/Vereinigtes Königreich; EuGRZ 1979, 650, Rn 40 - Winterwerp. EGMR, EuGRZ 1986, 8, Rn 37 - Ashingdane; EuGRZ 1982, 101, Rn 40 - X/Vereinigtes Königreich; EuGRZ 1979, 650, Rn 39 - Winterwerp. EGMR, EuGRZ 1983, 633, Rn 98 - Guzzardi. Kopetzki in: Machacek/Pahr/Stadler (Fn 8) S 333. EGMR, RUDH 1997, 365, Rn 129 - Chahal. EKMR, DR 12, 14, 27. EGMR, RUDH 1997, 365, Rn 112 - Chahal. Die Konventionsmäßigkeit des Ausweisungs- und Auslieferungsverfahrens richtet sich nach Art 1 7. ZP EMRK, dazu u Rn 64 ff. EKMR, DR 12, 14, 27.

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Justiz- und Verfahrensgrundrechte

§ 6 13

Lösung Fall 1: Da den Asylbewerbern die Einreise nach Frankreich verwehrt wird und eine Ausreise nach Syrien nur nach diplomatischen Verhandlungen zwischen Frankreich und Syrien, sohin zunächst nur theoretisch, möglich ist, sohin nur theoretisch möglich ist, liegt in der Anhaltung eine Freiheitsbeschränkung, die einer Freiheitsentziehung gleichzuhalten ist. Zudem bestanden für die Flüchtlinge in Syrien, das die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert hatte, keine vergleichbaren Garantien wie in Frankreich. Der Schutzbereich des Art 5 1 E M R K ist eröffnet, in der Anhaitung liegt ein Eingriff in das Grundrecht. Art 5 1 F M R K wurde verletzt, da keine hinreichende gesetzliche Grundlage besteht.®

3. Rechte der festgenommenen Person a) I n f o r m a t i o n s r e c h t Gern A r t 5 II E M R K muss jeder F e s t g e n o m m e n e in möglichst k u r z e r Frist u n d in einer ihm verständlichen Sprache über die G r ü n d e seiner F e s t n a h m e informiert werden. N a c h d e m Wortlaut bezieht sich die I n f o r m a t i o n s p f l i c h t des Staates nur a u f die „ F e s t n a h m e " . Diese G a r a n t i e gilt j e d o c h f ü r alle in A r t 5 I E M K R vorgesehenen F o r m e n der Freiheitsentziehung. 5 1 Art u n d U m f a n g der U n t e r r i c h t u n g richten sich nach den U m s t ä n d e n des Einzelfalls. Die U n t e r r i c h t u n g muss jedenfalls in einer d e m F e s t g e n o m m e n e n verständlichen Sprache erfolgen u n d die tatsächlichen u n d juristischen G r ü n d e der Freiheitsentziehung darlegen. 5 : Mit der I n f o r m a t i o n soll d e m Festgehaltenen die Möglichkeit gegeben werden, effektiven Rechtsschutz gern A r t 5 IV E M R K zu erlangen. Die Fristen, innerhalb derer die U n t e r richtung erfolgen soll, müssen „möglichst kurz" 5 1 sein u n d sollten in der Regel 24 Stunden nicht überschreiten, wobei die U m s t ä n d e des Einzelfalls zu berücksichtigen sind. 54 b) Angemessene H a f t d a u e r u n d richterliche V o r f ü h r u n g gern A r t 5 III E M R K A r t 5 III E M R K ergänzt A r t 5 I lit c E M R K , d e r die U n t e r s u c h u n g s h a f t regelt, u n d enthält zwei G a r a n t i e n : die V o r f ü h r u n g vor den Richter u n d - bei A u f r e c h t e r h a l t u n g der vorläufigen F e s t n a h m e - die D u r c h f ü h r u n g eines zügigen Verfahrens v e r b u n d e n mit der raschen E r l a n g u n g einer Entscheidung. Die V o r f ü h r u n g muss vor einen Richter oder richterlichen Beamten erfolgen. Die Zuständigkeit k ö n n e n die Staaten wahlweise einem G e r i c h t oder einer B e h ö r d e mit ver50 EGMR, EuGRZ 1996, 577, Rn 48, 53 - Amuur; der EGMR betont überdies, dass die Aufenthaltsbedingungen der Asylbewerber keiner gerichtlichen Kontrolle unterlagen und dass diese keinerlei Zugang zu rechtlicher, humanitärer oder sozialer Betreuung hatten; dazu Kriebaum iiv Grabenwartcr/Thienel (Fn. 19) S 71 ff. 51 EGMR, RUDH 1990. 60, Rn 27 f Van der Leer: EuGRZ 1982, 101. Rn 66 X/Vcreinigtes Königreich; EKMR, DR 16. 111, 117; DR 34. 119. 124; anders EGMR, RUDH 1990. 466. Rn 22 Keus. 52 EGMR. RUDH 1990. 418. Rn 40 Fox; RUDH 1990, 60. Rn 27 f Van der Leer; EuGRZ 1982, 101, Rn 66 X/Vereinigtes Königreich; EKMR. DR 16, 111, 117 53 EGMR. RUDH 1990. 418, Rn 40 Fox. 54 Villiger (Fn 6) Rn 351; EGMR, HRLJ 1994, 331, Rn 78 Murray (3 Stunden - keine Verletzung); RUDH 1990, 60, Rn 31 Van der Leer (zufällige Kenntnisnahme der Haftgründe genügt nicht); RUDH 1990, 418, Rn 42 Fox (7 Stunden keine Verletzung); EKMR DR ">1 ^50 ^53 fDR 30, 93. 95.

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§6 13

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Christoph Grabenwarter

gleichbaren rechtsstaatlichen Garantien übertragen.55 Erforderlich ist die Unabhängigkeit des Richters oder richterlichen Beamten gegenüber der Exekutive.56 Eine Vorführung ist „unverzüglich", wenn eine Frist von 24 bis 48 Stunden57, in besonderen Fällen von bis zu vier Tagen58, nicht überschritten wird. Die zulässige Dauer der Untersuchungshaft ist abhängig vom Einzelfall, sie kann für Verdächtige terroristischer Straftaten länger sein,59 aber schon sechs Tage ohne richterliche Uberprüfung wurden als zu lang angesehen.60 Die Beurteilung, ob eine „angemessene Frist" für die Dauer der Untersuchungshaft eingehalten wurde, unterliegt in erster Linie der Beurteilung durch die nationalen Gerichte.61 Es handelt sich hierbei um eine Einzelfallentscheidung, der eine Abwägung zwischen den Allgemeininteressen einerseits und den Interessen des Betroffenen andererseits zugrunde liegt.62 Zunächst ist das Fortbestehen eines hinreichenden Tatverdachts conditio sine qua non für die Rechtmäßigkeit der Aufrechterhaltung der Haft, 63 aber nach einiger Zeit genügt dieser alleine als Begründung nicht mehr. Vielmehr muss dann überprüft werden, ob andere Motive wie Schwere der Tat, Störung der öffentlichen Ordnung, Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr oder Wiederholungsgefahr ebenfalls fortbestehen.64 Liegen ausreichende Haftgründe vor, überprüft der EGMR in einem zweiten Schritt, ob die nationalen Behörden das Verfahren mit der erforderlichen Sorgfalt betrieben haben.65 c) Recht auf richterliche Haftprüfung gern Art 5 IV EMRK

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Das in Art 5 IV EMRK garantierte Recht auf richterliche Haftprüfung spiegelt die angelsächsische „Habeas corpus-Doktrin" wider. Die Garantie des Art 5 IV EMRK gilt für alle in Art 5 I EMRK vorgesehenen Formen der Haft. Die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit

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E G M R , E u G R Z 1980, 202, Rn 27 - Schiesser. E G M R , E u G R Z 1980, 202, Rn 31 - Schiesser. So Villiger (Fn 6) Rn 358. E G M R , HRLJ 1988, 293, Rn 62 - Brogan. E G M R , HRLJ 1988, 293, Rn 61 - Brogan. E G M R , Urt v 16.10.2001, N r 37555/97, Rn 46 - O'Hara (6 Tage); HRLJ 1997, 221, Rn 78 Aksoy (14 Tage); R J D 1998-VI, Rn 40 - Demir (16 und 23 Tage); R J D 1997-VII, Rn 45 - Sakik (12 und 14 Tage). E G M R , Série A, Vol 321, Rn 55 - Van der Tang; HRLJ 1995, 286, Rn 50 - Ya_ci; Série A, Vol 319-B, Rn 52 - Mansur; E u G R Z 1994, 101, Rn 84 - Tomasi; HRLJ 1992, 112, Rn 67 - Toth; HRLJ 1992, 42, Rn 45 - Kemmache; HRLJ 1991, 302, Rn 35 - Letellier; Série A, Vol 8, Rn 5 Neumeister; Série A, Vol 7, Rn 12 - Wemhoff; zum insoweit bestehenden Unterschied zu Art 6 E M R K : E G M R , Série A, Vol 9, Rn 5 - Stögmüller. E G M R , Urt v 4.10.2001, Nr 27504/95, Rn 58 - Ilowiecki; R J D 1996-VI, Rn 74 - Scott; Série A, Vol 321, Rn 55 - Van der Tang; E u G R Z 1993, 384, Rn 30 - W/Schweiz; vgl Série A, Vol 7, Rn 10 - Wemhoff. E G M R , Urt v 4.10.2001, Nr 27504/95, Rn 59 - Ilowiecki; R U D H 1990, 158, Rn 42 - B/Österreich; Série A, Vol 9, Rn 4 - Stögmüller. E G M R , R J D 1997-11, 374, Rn 35 - Muller; Série A, Vol 321, Rn 55 - Van der Tang; E u G R Z 1993, 384, Rn 30 - W/Schweiz; E u G R Z 1994, 101, Rn 84 - Tomasi; HRLJ 1992, 117, Rn 36 Clooth; HRLJ 1992, 112, Rn 67 - Toth; HRLJ 1992, 42, Rn 45 - Kemmache; HRLJ 1991, 302, Rn 35 - Letellier. E G M R , Urt v 31.7.2001, Nr 42211/98, Rn 46 - Zannouti; Urt v 26.7.2001, N r 34097/96, Rn 42 ff - Kreps.

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Justiz- und Verfahrensgrundrechte

§6 H l

der Inhaftnahme („lawfulness") erfolgt am Maßstab des internen Rechts und des Völkerrechts.66 Die Haftprüfung muss beantragt werden.67 Der Anspruch entsteht immer dann, wenn eine Verwaltungsbehörde die Inhaftnahme verfügt hat.68 Hat hingegen ein Gericht die Haft angeordnet, so ist zu differenzieren zwischen der Haft im Anschluss an die Verurteilung und der Untersuchungshaft. In dem Urteil des zuständigen Gerichts liegt grundsätzlich auch eine Überprüfung der Haft im Sinn des Art 5 IV EMRK. 69 Bei Fortdauer der Haft besteht ein Anspruch auf Haftprüfung nur dann, wenn neue Umstände die Rechtmäßigkeit der Haft nachträglich in Frage stellen können.70 Die Haftprüfung muss „in angemessenen Abständen" erfolgen.71 Die überprüfende Behörde muss gerichtlichen Charakter aufweisen.72 Sie darf nicht nur beratend tätig werden, sondern muss verbindliche Entscheidungen treffen können. Im Haftprüfungsverfahren müssen nicht alle Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK erfüllt werden. Grundlegende Garantien wie die persönliche Anhörung,73 die Angabe einer Begründung, der Anspruch auf Rechtsvertretung und Akteneinsicht sind jedoch zu gewährleisten.

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d) Das Recht auf Haftentschädigung Art 5 V EMRK sieht eine Entschädigung für EMRK-widrige Haft vor. Die Vorschrift begründet direkte Ansprüche für Privatpersonen.74 Voraussetzungen für eine Entschädigung nach Art 5 V EMRK sind, dass der Beschwerdeführer in Haft genommen wurde, dass innerstaatliche Gerichte (uU auch der EGMR) 75 eine Verletzung von Art 5 I bis IV EMRK festgestellt haben, dass dem Beschwerdeführer aufgrund dieser Verletzung ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist und dass der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft wurde.76

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II. Justizgrandrechte im Zusammenhang mit Verfahren vor Gerichten 1. Das Recht des fair trial gern Art 61 EMRK Art 6 I EMRK bildet das Kernstück der Justizgrundrechte der EMRK. Die in ihm enthaltene Gerichtsgarantie lässt sich in Organisationsgarantien und in Verfahrensgarantien 66 E G M R , R U D H 1997, 365, Rn 127 - Chahal; EuGRZ 1988, 316, Rn 57 - Weeks. 67 E G M R , Série A, Vol 12, Rn 82 f - D e Wilde; Série A, Vol 129, Rn 55 - Bouamar; Villiger (Fn 6) Rn 366. 68 E G M R , E u G R Z 1985, 642, Rn 31 - Luberti; EuGRZ 1976, 221, R n 77 - Engel; Série A, Vol 12, Rn 76 f - D e Wilde. 69 E G M R , Série A, Vol 375-C, Rn 30 - Perez. 70 E G M R , E u G R Z 1979, 650, Rn 55 - Winterwerp; E u G R Z 1984, 6, Rn 45 ff - Van Droogenbroeck; Série A, Vol 375-C, Rn 30 - Perez; E K M R , D R 40, 5, 26; Villiger (Fn 6) Rn 368. 71 E G M R , E u G R Z 1979, 650, R n 55 - Winterwerp; dazu auch Urt v 24.7.2001, N r 40787/89, R n 37 ff - Hirst. 72 E G M R , HRLJ 1993,184, Rn 58 - Brannigan. 73 E G M R , E u G R Z 1979, 650, R n 60 - Winterwerp. 74 Charrier Code de la Convention européenne des Droits de l'Homme, 2000, Art 5 Rn 45. 75 Villiger (Fn 6) Rn 374. 76 E G M R , Série A, Vol 145-B, Rn 67 - Brogan; R U D H 1990, 425, Rn 38 - Wassink; R U D H 1990, 466, Rn 29 - Keus; R J D 1997-III, Rn 64 ff - Tsirlis; E K M R , D R 19, 213, 219; D R 42, 127, 131; 52, 236, 242; D R 77-A, 98, 107; D R 81-B, 130, 133.

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aufgliedern. Zu den Organisationsgarantien gehört das Recht auf Zugang zu einer mit gewissen Mindestgarantien ausgestatteten Spruchinstanz (b). Die Verfahrensgarantien umfassen neben der allgemeinen Garantie des fairen Verfahrens einschließlich besonderer Verfahrensrechte im Strafprozess (c) das Gebot der Verfahrensöffentlichkeit (d) sowie das Gebot der angemessenen Verfahrensdauer (e). a) Der Schutzbereich des Art 6 1 EMRK 31

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Wie bei keinem anderen Grundrecht der EMRK hat die Umschreibung des Schutzbereichs Aufmerksamkeit in Judikatur und Lehre erfahren. Art 6 I EMRK garantiert die Verfahrensgrundrechte für alle Verfahren, in denen entweder über zivilrechtliche Streitigkeiten („civil rights") oder über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage („criminal Charge") entschieden wird. Zum Inhalt des Begriffs „civil rights" gelangt man auf der Grundlage einer rechtsinhaltsbezogenen Unterscheidung von Zivilrecht und öffentlichem Recht auf der Basis der Rechtsvergleichung, wobei die - vom römischen Recht geprägte - klassische kontinental-europäische Begriffsbildung maßgeblich ist. Der Begriff umfasst nicht nur zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen Privaten ieS, sondern auch bestimmte öffentlich-rechtliche Verfahren, welche Auswirkungen auf Vertragsbeziehungen77 oder auf Vermögenswerte Positionen78 haben. In Verfahren über sozialversicherungsrechtliche Ansprüche und Abgaben wird eine Abwägung zwischen privat- und öffentlich-rechtlichen Aspekten der Streitigkeit vorgenommen.79 Für die Frage der Anwendbarkeit auf beamtenrechtliche Streitigkeiten kommt es nach der jüngeren Judikatur des EGMR für die Eröffnung des Schutzbereichs darauf an, welche Funktion der Beamte bekleidet. War der Beamte zur Ausübung von hoheitlichen Befugnissen ermächtigt, so ist die Streitigkeit regelmäßig nicht vom Grundrecht erfasst.80 Nicht in den Schutzbereich fallen von vornherein Streitigkeiten aus dem Kernbereich des öffentlichen Rechts. Dazu gehören staatsbürgerschaftliche Angelegenheiten, Asylverfahren, Verfahren über das Aufenthaltsrecht von Ausländern, Verfahren über das Wahlrecht sowie abgabenrechtliche Verfahren, welche den Umfang der Verpflichtung zur Zahlung von Steuern betreffen.81 Auch die Abgrenzung der strafrechtlichen Streitigkeiten ist letzten Endes rechtsinhaltsbezogen. Denn der EGMR wählt das nationale Recht als Ausgangspunkt und ordnet alle strafrechtlichen Verfahren nach nationalem Recht dem Schutzbereich zu. Darüber hinausgehend sind aber alle Verfahren von Art 6 EMRK erfasst, bei denen eine Zuordnung nach der Natur der Zuwiderhandlung maßgeblich ist. Auf der Tatbestandsseite ist hierbei entscheidend, dass der sachliche und persönliche Anwendungsbereich der Norm nicht von vornherein auf spezifische Personengruppen beschränkt ist. Auf der Rechtsfolgenseite ist entscheidend, dass Sanktionen mit präventivem und repressivem Charakter drohen. Nach 77 EGMR, EuGRZ 1978,406, Rn 90 - König. 78 EGMR, HRLJ 1992,419, Rn 40 - Editions Périscope. 79 EGMR, Série A, Vol 304, Rn 51 Schouten; NJW 1989, 652, Rn 60 ff - Deumeland = Kunig JK 89, EMRK Art 61/1. 80 EGMR, NVwZ 2000, 661, Rn 64 ff - Pellegrin. Der EGMR verweist für die Abgrenzung dabei hilfsweise auf die Ausnahme des Art 39 IV EGV. 81 Aus der Judikatur EGMR, RUDH 1997, 73, Rn 45 ff - Pierre-Bloch; Urt v 5.10.2000, Nr 39652/98, Rn 35 ff - Maaouia; Urt v 12.7.2001, Nr 44759/98, Rn 29 - Ferrazzini; sowie die Nachw bei Grabenwarter (Fn 4) S 49 ff.

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diesem Kriterium fallt etwa das Ordnungswidrigkeitenrecht unter Art 6 EMRK, 82 nicht aber das Disziplinarrecht. Das Disziplinarrecht ist nur dann von Art 6 EMRK umfasst, wenn das dritte Kriterium einer gewichtigen Strafdrohung erfüllt ist. Dies ist dann der Fall, wenn das Gewicht der zu gewärtigenden negativen Konsequenzen, die für den Beschuldigten auf dem Spiel stehen, hinreichend ist. Das wird in der Rspr jedenfalls für mehr als nur geringfügige Haftstrafen sowie für Geldstrafen angenommen, wenn ersatzweise eine Freiheitsstrafe verhängt wird oder droht.83 Auch der Entzug der Berufsberechtigung als typische schwerste Sanktion des Disziplinarrechts freier Berufe begründet die Anwendbarkeit des Art 6 EMRK unter strafrechtlichen Gesichtspunkten.84 b) Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht Das Recht auf Zugang zu einem auf Gesetz beruhenden, unabhängigen und unparteiischen Gericht („ tribunal") bildet eine Organisationsgarantie. Mit dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage sollen ad hoc-Zugriffe auf die Gerichtsorganisation durch die Exekutive vermieden werden, es dient mittelbar auch der Unabhängigkeit. Dieser Gesetzesvorbehalt umfasst vor allem die Zusammensetzung des Gerichts, seine Organisation im Übrigen sowie seine Zuständigkeit. Unabhängigkeit des Gerichts setzt die (grundsätzliche) Unabsetzbarkeit der Mitglieder, ihre Unversetzbarkeit und eine bestimmte Mindestamtsdauer voraus. Unparteiisch ist ein Gericht nur dann, wenn weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht eine Befangenheit der Richter des Gerichts gegeben ist. Die subjektive Prüfung stellt auf die persönliche Beziehung zwischen dem konkreten Richter und der Partei des Verfahrens ab; sie wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet. Eine rassistische Bemerkung eines Mitglieds des Gerichts in einem Verfahren gegen einen afrikanischen Einwanderer kann die Unparteilichkeit in dieser Hinsicht vernichten.85 Die objektive Prüfung abstrahiert von den Einzelpersonen und fragt abstrakt, ob nach den Organisations- und Verfahrensvorschriften, insb nach der Reichweite und Natur der von einem Richter im Vorfeld des Verfahrens gesetzten Maßnahmen, eine Befangenheit angenommen werden muss.86 Schließlich muss das Gericht über hinreichende Entscheidungsbefugnisse in Rechts- und Tatsachenfragen verfügen.87 Das Recht auf Zugang zu Gericht ist nicht absolut gewährleistet, sondern unterliegt Beschränkungen, die zulässig sind, solange sie ein legitimes Ziel verfolgen und soweit ein vernünftiges Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und den damit angestrebten Zielen besteht. Die Schranken dürfen den Gerichtszugang nicht so erschweren, dass der Wesensgehalt („very essence") des Rechts verletzt wird.88 Der Zugang zum Gericht darf mit anderen Worten Beschränkungen unterworfen werden, die im Hinblick auf das verfolgte Ziel dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Für die Frage nach dem legitimen Ziel und den in der Abwägung zu berücksichtigenden Mitteln finden sich mehr82 EGMR, EuGRZ 1985, 62, Rn 47 ff - Öztürk. 83 EGMR, Série A, Vol 177, Rn 22, 34 - Weber. 84 Grabenwarter (Fn 4) S 100 f; österreichischer Verfassungsgerichtshof Slg 11506/1987; unklar die Rspr des EGMR zB Série A, Vol 325-A, Rn 28 - Diennet; Urt v 28.5.1998, Nr 38/1997/822/1025-1028, Rn 33 - Gautrin; Urt v 26.9.2000, Nr 33933/96, Rn 59 - Guisset. 85 EGMR, RJD 1996-11, Rn 47 f - Remli. 86 EGMR, EuGRZ 1985, 407, Rn 26 - De Cubber; Urt v 6.6.2000, Nr 34130/96, Rn 45 - Morel. 87 Vgl EGMR, RUDH 1993, 399, Rn 29 - Zumtobel. 88 EGMR, EuGRZ 1986, 8, Rn 57 - Ashingdane; EuGRZ, 1988, 350, Rn 194 - Lithgow; EuGRZ 1991, 335, Rn 59 - Philis; Villiger (Fn 6), Rn 431.

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fach Hinweise in der Rspr des EGMR. Beginnend mit dem Fall Golder führt der E G M R in stRspr aus, dass das Recht auf Zugang zu Gericht schon seiner Natur nach einer Regelung durch den Staat verlange, die nach Ort und Zeit wechseln könne, abhängig von den Bedürfnissen und den Mitteln der Gemeinschaft und der Einzelpersonen. 89 Beschränkungen des Zugangs zu Gericht können Ziele verfolgen, die sich je nach Art der Beschränkung, je nach Art des Gerichts und je nach der betroffenen Rechtsordnung unterscheiden können. Sie können im Schutz vor missbräuchlichen und wiederholten Klagen90 ebenso liegen, wie in der Vermeidung eines Durcheinanders von Rechtsbehelfen einer Vielzahl von Aktionären im Fall einer weitreichenden Verstaatlichungsmaßnahme 91 oder in der Sicherung der Unabhängigkeit des Berichtswesens von Kontrollorganen über die Geschäftsführung von bestimmten Kapitalgesellschaften 92 . Ferner können auch völkerrechtliche Immunitäten 93 und die parlamentarische Immunität eine angemessene Beschränkung des Zugangs zu Gericht bilden94. c) Der Grundsatz des fairen Verfahrens

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Das Recht, „in billiger Weise" gehört zu werden, bringt den Grundsatz des fairen Verfahrens („fair hearing") zum Ausdruck. Es beinhaltet eine Vielzahl von Teilgarantien, die alle auf das Ziel eines Verfahrensablaufs gerichtet sind, in dem die Parteien unter im Wesentlichen gleichartigen Bedingungen ihren Prozessstandpunkt vertreten können. 95 Dieser Anspruch verlangt insb, dass der Betroffene seine Rechtsposition effektiv vertreten kann. Zum Fairnessgrundsatz gehören zunächst Teilgewährleistungen, wie der Grundsatz der Waffengleichheit, das Recht auf Akteneinsicht, der Anspruch auf rechtliches Gehör sowie das Recht auf Begründung von Entscheidungen. Daneben werden Rechte des Angeklagten als Ausdruck des Fairnessgebots angesehen, die einerseits in Art 6 III und II E M R K verankert sind und andererseits in der Rspr entwickelt wurden, wie zB der Grundsatz des nemo tenetur. aa) Der Grundsatz der Waffengleichheit

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Der Grundsatz der Waffengleichheit ist Bestandteil des Fairnessgebots des Art 6 I E M R K und bildet gleichzeitig eine besondere Ausprägung des Gleichheitssatzes.96 Danach muss jede Partei Gelegenheit haben, ihren Fall einschließlich ihrer Beweise zu präsentieren, und zwar unter Bedingungen, die keinen wesentlichen Nachteil gegenüber ihrem Gegner bedeuten. 97 Das bedeutet, dass die einander gegenüberstehenden Parteien verfahrensrechtlich grundsätzlich gleichgestellt werden müssen. Es kommt nicht darauf an, ob die Gegenpartei den Vorteil tatsächlich ausgenutzt hat, sondern ob ein solcher abstrakt besteht, und ob dieser von der Partei ausgenutzt werden könnte.98

89 90 91 92 93 94 95 96 97 98

EGMR, EuGRZ 1975, 91, Rn 38 - Golder. EGMR, EuGRZ 1986, 8, Rn 58 - Ashingdane. EGMR, EuGRZ, 1988, 350, Rn 197 - Lithgow. EGMR, HRLJ 1994, 344, Rn 70 - Fayed. EGMR, NJW 1999, 1173, Rn 59 ff - Waite = Ehlers JK 99, EMRK Art 6/2. Dazu Matscher ÖZÖR 1980, 20 f. Miehslerl Vogler in: Internationaler Kommentar zur EMRK, Art 6 Rn 341. Vgl Grabenwarter (Fn 4) S 596 f. EGMR, RUDH 1993,426, Rn 33 - Dombo Beheer; RJD 1996-V, Rn 38 - Ankerl. EGMR, EuGRZ 1991, 519, Rn 27 f - Borgers.

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bb) Anspruch auf rechtliches Gehör Aus Art 6 EMRK folgt auch eine dem Art 103 I GG korrespondierende Garantie. VorausSetzung für die effektive Ausübung des rechtlichen Gehörs ist es, dass die Parteien Kenntnis vom Akteninhalt, insb von den von der gegnerischen Partei vorgebrachten Stellungnahmen und Beweismitteln haben." Wesentlich ist in diesem Zusammenhang unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit auch, über welche Möglichkeiten der Stellungnahme die Gegenseite verfügte. Gab es hier einen Wissensvorsprung einer Partei gegenüber den anderen Parteien und konnte diese folglich weitergehende Stellungnahmerechte ausüben, so bedeutet das regelmäßig eine Verletzung des Art 6 EMRK. 100 Mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör ist auch der Anspruch auf Begründung der Entscheidungen verbunden. Das Ausmaß der Begründungspflicht wird dabei entscheidend von der konkreten Verfahrenssituation und dem Rechtssystem beeinflusst. So hängt es von der jeweiligen nationalen Rechtsstaatsvorstellung ab, wie groß das Ausmaß der Begründung sein muss.101 Aus der Perspektive der Verfahrenssituation ist maßgeblich, welches Parteivorbringen im Verfahren erfolgte, ob es sich um eine Entscheidung erster Instanz oder höherer Instanz handelte und schließlich von welcher Präzision die angewendeten gesetzlichen Bestimmungen sind. Bei Ermessensentscheidungen ist die Begründungspflicht regelmäßig höher.'02

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cc) Besondere Rechte des Angeklagten Art 6 III EMRK enthält eine demonstrative Aufzählung von Rechten des Angeklagten. In der Rspr des EGMR ist klargestellt, dass diese ihrerseits Bestandteile des Konzepts des fairen Verfahrens nach Art 6 I EMRK sind. Alle diese Garantien sind vom Gedanken der Effektivität der Verteidigung geprägt, sei es, dass ein bestimmtes Zeitmoment normiert ist,103 sei es, dass Nachteile aus Sprachproblemen des Angeklagten hintangehalten werden,104 sei es, dass der Kontakt mit dem Verteidiger sichergestellt wird,105 sei es, dass ökonomische Nachteile für die Verteidigung ausgeglichen werden106 oder sei es, dass die Effektivität und die Waffengleichheit in der Hauptverhandlung sichergestellt werden107. Insb zum Zeugen- und Sachverständigenbeweis hat sich eine umfangreiche Judikatur des EGMR herausgebildet. Nach Art 6 III lit d EMRK hat der Angeklagte das Recht, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Bei der Ermittlung der Pflichten des Gerichts zur Ladung von Zeugen und Sachverständigen ist nach der Judikatur des EGMR zu fragen, ob die Nicht-

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EGMR, EuGRZ 1992, 190, Rn 66 f - Brandstetter; EuGRZ 1993,453, Rn 63 - Ruiz-Mateos. EGMR, EuGRZ 1993,453, Rn 67 - Ruiz-Mateos. EGMR, Série A, Vol 303-B, Rn 27 - Hiro Balani. EGMR, RUDH 1994,401, Rn 55 - De Moor; Série A, Vol 127-B, Rn 53 - H/Belgien. Möglichst kurze Frist der Information über Art und Grund der Beschuldigung - Art 6 III lit a EMRK; ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung - lit b. „Verständliche Sprache" der Information über die Anklage - Art 6 III lit a EMRK; unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers - lit e. Art 6 III lit c EMRK. Unentgeltlicher Pflichtverteidiger - Art 6 III lit c EMRK; unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers - lit e. Recht auf Anwesenheit und eigene Verteidigung - lit c; Waffengleichheit beim Zeugenbeweis litd.

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ladung oder Nichtzulassung von Fragerechten durch legitime Gründe gerechtfertigt werden kann. Dabei ist zwischen dem Gewicht dieser Gründe und den Nachteilen für den Angeklagten abzuwägen.108 Zu den Rechten des Angeklagten gehört auch das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst zu beschuldigen {„nemo tenetur"), das im deutschen Recht in § 136 I 2 StPO positiviert ist und in der Menschenwürde nach Art 1 I G G wurzelt.109 Der „nemo tenetur"Grundsatz ist in Art 6 E M R K nicht ausdrücklich erwähnt, wird vom E G M R aber zum Kernbereich eines fairen Verfahrens gerechnet, wobei dieser stets auf den engen Zusammenhang mit der Unschuldversmutung gern Art 6 II E M R K hinweist.110 Es obliegt der Strafverfolgungsbehörde, den Beschuldigten zu überführen, ohne hierfür auf Beweismittel zurückzugreifen, die durch Zwangs- oder Druckmittel ohne den Willen des Beschuldigten erlangt wurden.111 Die Garantie ist nicht lediglich auf Aussagen beschränkt, 112 sondern umfasst auch den Zwang zur eigenhändigen Herausgabe von Beweismaterial.113 Nicht geschützt sind Ergebnisse von Atem-, Blut-, Urin- oder Körpergewebeproben, die unter Zwang erreicht wurden, deren Existenz jedoch nicht vom Willen des Beschuldigten abhängt. 114 Es handelt sich weiterhin nicht um ein absolutes Recht.115 So ist etwa das Ziehen nachteiliger Schlüsse aus dem Schweigen des Beschuldigten unter bestimmten Voraussetzungen mit der Garantie vereinbar.116 Schließlich gehört das Prinzip der Unschuldsvermutung zu den Rechten des Angeklagten, wenngleich es neben der Garantie des fair trial selbständig geregelt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Art 6 II E M R K ein entsprechendes rechtsstaatliches Gebot nach dem Grundgesetz angenommen. 117 Das Gebot der Unschuldsvermutung hat mehrere Dimensionen. Im Vorfeld und während eines Strafverfahrens verbietet es Äußerungen staatlicher Behörden und Gerichte, wonach eine bestimmte Person eine strafbare Handlung begangen habe, noch bevor sie gerichtlich ver-

108 Für Einzelheiten vgl Grabenwarter (Fn 4) S 636 ff mit umfangreichen Nachw aus der Rspr des EGMR. 109 BVerfGE 38, 105, 114 f; 55, 144, 150; 56, 37,43; Dreier in: Dreier (Hrsg) Grundgesetz-Kommentar, Bd 1, 1996, Art 1 I Rn 81. Ausf zum Ganzen Müller EuGRZ 2001, 546 ff. 110 EGMR, Urt v 21.12.2000, Nr 34720/97, Rn 40 - Heany; RJD 1996-VI, Rn 68 - Saunders; EuGRZ 1996, 587, Rn 46, 58 - Murray. 111 EGMR, Urt v 21.12.2000, Nr 34720/97, Rn 40 - Heany; RJD 1997-VI, Rn 46 - Serves; RJD 1996-VI, Rn 68 - Saunders. 112 Das Recht zu schweigen ist nicht auf unmittelbar selbstbelastende Aussagen beschränkt, sondern umfasst auch Aussagen, die auf den ersten Blick nicht belastend erscheinen. Entscheidend ist, welche Verwendung die unter Zwang erlangten Aussagen im Verlauf eines Strafverfahrens finden (EGMR, RJD 1996-VI, Rn 71 - Saunders). 113 EGMR, RUDH 1993, 232, Rn 44 - Funke (Anders als etwa Art 14 § 3 g IPBPR). 114 EGMR, Urt v 21.12.2000, Nr 34720/97, Rn 40 - Heany; EGMR, RJD 1996-VI, Rn 69 - Saunders; Villiger (Fn 6) Rn 502. 115 EGMR, Urt v 21.12.2000, Nr 34720/97, Rn 47 - Heany; Urt v 2.5.2000, Nr 35718/97, Rn 56 Condron; EuGRZ 1996, 587, Rn 47 - Murray; sa EGMR, ZulE v 5.12.2000, Nr 44014/98, Rn 2 - Randall. 116 EGMR, Urt v 2.5.2000, Nr 35718/97, Rn 61 f - Condron; EuGRZ 1996, 587, Rn 50 f, 54 Murray; sa EGMR, ZulE v 5.12.2000, Nr 44014/98, Rn 2 - Randall. Hierzu auch Kühne EuGRZ 1996, 571 ff. Im Zusammenhang mit dem Recht auf den Beistand eines Verteidigers EGMR, Urt v 6.6.2000, Nr 28135/95, Rn 43 - Magee. 117 BVerfGE 74, 358,370.

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urteilt wurde.118 Daneben verbietet es Art 6 II E M R K , wenn ein Angeklagter trotz Einstellung des Verfahrens und daher mangels Feststellung seiner Schuld dennoch zur Tragung der Verfahrenskosten verpflichtet wird, wenn hieraus Schuldannahmen abgeleitet werden können." 9 Schließlich hat der Staat auch eine Schutzpflicht gegenüber vorverurteilender Medienberichterstattung. 120 d) Die Öffentlichkeit des Verfahrens Art 6 E M R K schreibt die Öffentlichkeit des Verfahrens in zweierlei Hinsicht vor: Zum einen gebietet er mündliche Verhandlungen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind, zum anderen wird die Öffentlichkeit der verfahrensbeendenden Entscheidungen gefordert. Explizit wird die Medienöffentlichkeit im Rahmen der Ausschlusstatbestände erwähnt. Während die Öffentlichkeit der Entscheidungen vorbehaltlos gewährleistet wird, steht die Öffentlichkeit von Verhandlungen unter einem unmittelbar anwendbaren Eingriffsvorbehalt: Die Öffentlichkeit kann während der gesamten Verhandlung oder eines Teiles derselben im Interesse der Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einem demokratischen Staat ausgeschlossen werden, ferner wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder unter besonderen Umständen, wenn die Öffentlichkeit die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde (in diesem Fall jedoch nur in dem nach Auffassung des Gerichts erforderlichen Umfang). Dieser Vorbehalt weist inhaltlich große Parallelen zu den Gesetzesvorbehalten der Art 8 bis 11 E M R K auf.121 Daneben hat die Rspr weitere Gründe entwickelt, aus denen eine öffentliche Verhandlung oder die öffentliche Verkündung eines Urteils unterbleiben kann. Für die öffentliche Verhandlung geht die stRspr davon aus, dass keine Verletzung des Grundrechts vorliegt, wenn die betroffene Prozesspartei auf das Recht verzichtet hat. Ein solcher Verzicht wird angenommen, wenn er freiwillig und unzweideutig erfolgt ist. Unzweideutig ist der Verzicht nach der Rspr des E G M R nicht nur bei ausdrücklicher Erklärung, sondern auch dann, wenn dieser konkludent erfolgt. Dies wird vom E G M R wenigstens in Zivilverfahren auch dann angenommen, wenn ein Antrag auf eine Verhandlung unterblieben ist, es sei denn, das Verfahrensgesetz sieht überhaupt keine Verhandlung vor.122 Für Strafverfahren muss ein Verzicht jedoch ausdrücklich erklärt werden. 123 Ausnahmsweise ist ein Verzicht zur Rechtfertigung des Unterbleibens der Verhandlung aber dann nicht hinreichend, wenn dieser einem wichtigen öffentlichen Interesse zuwiderlaufen würde. 124 In Rechtsmittelverfahren kann die Verhandlung auch ohne Verzicht unterbleiben, es sei denn, die Bedeutung und Notwendigkeit einer Verhandlung für die Beweiserhebung und -Würdigung sowie für die Lösung von Rechtsfragen oder die Bedeutung des Verfahrensausgangs für den Betroffenen machen sie erforderlich. 125

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EGMR, EuGRZ 1988, 390, Rn 51 - Schenk; RUDH 1995, 295, Rn 41 - Allenet de Ribemont. EGMR, RUDH 1993, 358, Rn 29 ff - Sekanina. EKMR, DR 14, 112 f. Für Einzelheiten und Abweichungen vgl ausf Grabenwarter (Fn 4) S 481 ff. EGMR, RUDH 1994, 25, Rn 22 - Fredin; Série A, Vol 312-A, Rn 44 - Fischer. EGMR, Urt v 20.12.2001, Nr 32381/96, Rn 26 - Baischer. EGMR, EuGRZ 1992, 5, Rn 66 Hâkonsson; RJD 1997-III, Rn 62 Pauger. Vgl Grabenwarter (Fn 4) S 526 mwN.

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Das Recht auf öffentliche Verkündung der Entscheidungen nach Art 6 I EMRK hat der EGMR in einer teleologischen Reduktion auf einen Anspruch auf Veröffentlichung des Urteils beschränkt, um dem Standard der Urteilsveröffentlichung in den Vertragsstaaten zu entsprechen. Dabei reicht es aus, wenn der Kontrollzweck der Veröffentlichung durch eine andere Art und Weise, in der das Urteil der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, ebenso gut wie bei öffentlicher Verkündung erfüllt wird.126 Die Beschränkungstatbestände für Verhandlungen sind auf die Urteilsveröffentlichung nicht anwendbar. Dem Gebot des Schutzes der Privatsphäre nach Art 8 EMRK kann durch Anonymisierungen von Entscheidungen Rechnung getragen werden. e) Das Gebot angemessener Verfahrensdauer

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Nach Art 6 I EMRK hat das Gericht „innerhalb einer angemessenen Frist" zu entscheiden. Diese Garantie ist einerseits Bestandteil des Gebots effizienten gerichtlichen Rechtsschutzes, steht andererseits aber in einem Spannungsverhältnis zu den einzelnen Gewährleistungen des fairen Verfahrens, da ein Mehr an Verfahrensrechten regelmäßig das Verfahren verlängert127. Insb im Strafverfahren geht es darum, die Ungewissheit über den Ausgang eines Strafverfahrens möglichst kurz zu halten. Die Berechnung der für das Grundrecht maßgeblichen Zeitspanne beginnt in Zivilverfahren mit der Erhebung der Klage,128 im Strafverfahren bereits vor Beginn des Hauptverfahrens in dem Zeitpunkt, in dem erste Schritte der Strafuntersuchung nach außen hin gesetzt werden. Bei verwaltungsgerichtlichen Verfahren kann auch die Dauer des vorangehenden Verwaltungsverfahrens zu berücksichtigen sein. Das Ende des Verfahrens bildet regelmäßig die abschließende Entscheidung der letzten Instanz sowie eines nachfolgenden verfassungsgerichtlichen Verfahrens.129 Für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer stellt die Judikatur auf eine Einzelfallbetrachtung ab, in der vier Kriterien zur Anwendung gelangen.130 Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer. Wenn der Ausgang des Verfahrens für den Betroffenen von besonderer Bedeutung ist, so führt regelmäßig bereits eine kürzere Zeitspanne zu einer Verletzung. Besondere Bedeutung wird in Strafverfahren bei Inhaftierung des Beschwerdeführers, im Zivilverfahren bei familienrechtlichen Angelegenheiten oder bei Verfahren mit Auswirkungen auf den Lebensunterhalt des Betroffenen angenommen. Komplexität des Falles: Wenn ein Verfahren im Hinblick auf Sach- oder Rechtsfragen besondere Komplexität aufweist, kann eine vergleichsweise längere Verfahrensdauer gerechtfertigt sein (zB komplexe Wirtschaftsstrafsachen). Verhalten des Beschwerdeführers: Wenn der Beschwerdeführer durch sein Verhalten das Verfahren verzögert hat, so ist das bei der Beurteilung der Verfahrensdauer zu berücksichtigen. Nicht zum Nachteil des Betroffenen darf berücksichtigt werden, wenn dieser alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ergreift.131 Vor allem im Strafverfahren ist

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EGMR, EuGRZ 1985, 548, Rn 27 - Pretto. EGMR, EuGRZ 1978, 406, Rn 100 - König. EGMR, HRLJ 1992, 419, Rn 43 - Editions Périscope. EGMR, NJW 2001, 213, Rn 29 - Klein. Krit dazu Breuer Sonderheft Weber, Beilage zur NJW 2002, 6 ff. 130 Vgl hierzu exemplarisch EGMR, NJW 1989, 652, Rn 78 ff - Deumeland = Kunig JK 89, EMRK Art 61/1. 131 EGMR, Sèrie A, Voi 117, Rn 57 - Poiss; EuGRZ 1985, 548, Rn 34 - Pretto.

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Justiz- und Verfahrensgrundrechte

§ 6 112

nicht gefordert, dass der Angeklagte mit den Strafverfolgungsbehörden aktiv zusammenarbeitet. 112 Verhalten der Behörden: Maßgeblich ist schließlich, o b die Behörden und Gerichte des Staates das Verfahren zügig betrieben haben oder aber längere Phasen der Inaktivität gezeigt haben. Auch punktuelle oder länger andauernde Überlastungen von Gerichten können zu Lasten des Staates gehen. N a c h der Rspr hat der Staat sein Gerichtssystem so einzurichten, dass er den Anforderungen des Art 6 E M R K gerecht werden k a n n . " 1 2. Nulla poena sine lege (Art 7

54

EMRK)

Fall 2: (EGMR, NJW 2001, 3042 ff - W/Deutschland) Der 50-jährige W hatte sich von 1970 bis 1973 zum Wehrdienst der Nationalen Volksarmee der ehemaligen D D R verpflichtet. Arn 15.2.1972 tötete er mit fünf kurzen Feuerstößen von je zwei Schüssen einen Flüchtling, der versucht hatte, von Ost-Berlin durch die Spree schwimmend nach West-Berlin zu gelangen. Er wurde beglückwünscht, erhielt das Leistungsabzeichen der Grenztruppen der DDR und eine Geldprämie in Höhe von 150 Mark. Am 17.6.1993 verurteilte ihn die Jugendkammer des LG Berlin nach dem zur Tatzeit gelten-' den Recht der DDR (§ 113 StGB-DDR), wandte jedoch dann das mildere Strafgesetz der Bundesrepublik an und bestrafte ihn nach §§ 212, 213 StGB und §§ 1, 105 1 Nr 1 JGG. Ist diese Verurteilung konventionskonform?

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Der Grundsatz nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz) in Art 7 E M R K enthält ein Rückwirkungsverbot und ein Klarheitsgebot für den Gesetzgeber. Der Anwendungsbereich dieser Garantie entspricht dem des Art 6 E M R K , umfasst also neben dem Strafrecht auch das Ordnungswidrigkeitenrecht und Teile des Disziplinarrechts. D a s Rückwirkungsverbot ergibt sich aus dem Wortlaut des Art 7 E M R K . D a n a c h darf niemand wegen einer H a n d l u n g oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Bei der Beurteilung der Frage, o b Handlungen eines Beschwerdeführers zur Tatzeit bereits Straftaten waren, genießen die innerstaatlichen Gerichte einen Spielraum. Es ist vorrangig deren Aufgabe, das staatliche Recht auszulegen und anzuwenden. 1 1 4 Speziell f ü r das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen nach innerstaatlichem Recht berücksichtigt der E G M R , o b ein Beschwerdeführer selbst an der Begründung einer Staatspraxis mitgewirkt hat, welche die Strafbarkeit beseitigen soll. Ein Angeklagter könne - so der E G M R - sein zunächst rechtswidriges Verhalten, das zu seiner Verurteilung geführt habe, nicht mit der einfachen Feststellung rechtfertigen, dass es dieses Verhalten tatsächlich gab und in der Praxis ein dieses Verhalten legitimierender Rechtfertigungsgrund vorhanden war. 115

56

Neben dem Rückwirkungsverbot enthält Art 7 E M R K auch ein Gesetzmäßigkeits- und Klarheitsgebot. N u r ein Gesetz darf einen Straftatbestand bestimmen und eine Strafe androhen. D a s Gesetz darf nicht zu Lasten eines Angeklagten extensiv ausgelegt werden, etwa durch Analogie. D a r a u s folgt, dass ein Straftatbestand eindeutig vom Gesetz festgelegt sein muss. Diesem Erfordernis wird dann Genüge getan, wenn dem Wortlaut der jeweiligen Vorschrift, soweit erforderlich mit Hilfe der Auslegung durch die Gerichte, zu

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132 133 134 135

EGMR, EGMR, EGMR, EGMR.

E u G R Z 1983, 371, Rn 82 Ecklc. R J D 1997-IV, Rn 40 Philis; R J D 1998-VI1I, Rn 38 N J W 2001, 3035, R n 49, 5 1 , 6 6 Kreuz. N J W 2001, 3035, Rn 74 Kreuz.

Podbielski.

141

57

§ 6 112

Christoph Grabenwarter

entnehmen ist, für welche Handlungen und Unterlassungen der Einzelne strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Art 7 E M R K enthält daher kein Verbot einer schrittweisen Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch richterliche Auslegung, vorausgesetzt, die Entwicklung ist iE mit dem Wesen des Straftatbestandes vereinbar und ausreichend vorhersehbar. I1I>

59

Lösung Fall 2: Da W wegen einer Handlung oder Unterlassung strafrechtlich verurteilt worden ist, kommt Art 7 EMRK zur Anwendung. Fraglich ist, ob die Tötung an der Berliner Mauer zum Zeitpunkt ihrer Begehung strafbar war. Kein Zweifel besteht daran, dass die Tötung den Tatbestand des §113 StGB-DDR (Totschlag) erfüllte. Fraglich ist, ob Rechtfertigungsgründe vorliegen. Bei richtiger Sicht wurden solche durch die wenngleich rechtsstaatlichen Standards nicht entsprechende Staatspraxis in DDR begründet, wonach die diensttuenden Grenzsoldaten im Fall einer geglückten Flucht mit strafrechtlichen Ermittlungen durch die Militärstaatsanwalt zu rechnen hatten. Der EGMR ist anderer Ansicht. Er räumt zwar ein, dass es eine solche Staatspraxis gegeben habe. Die dieser Staatspraxis zu Grunde liegende Staatsräson müsse jedoch ihre Grenzen in der Verfassung und in der Gesetzgebung der DDR selbst finden, wobei zu berücksichtigen sei, dass das Recht auf Leben zur Tatzeit bereits international den obersten Rang in der Wertehierarchie der Menschenrechte einnahm. 137 Die Praxis habe offensichtlich gegen die in der DDR-Verfassung verankerten Grundrechte sowie gegen die völkerrechtliche Verpflichtung zur Wahrung von Menschenrechten verstoßen, die unter anderem durch die Ratifikation des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte begründet wurde. Mit dieser Ansicht verkennt der EGMR wie schon zuvor das Bundesverfassungsgericht dass der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte nicht in innerstaatliches DDR-Recht transformiert wurde und so jedenfalls für den Grenzsoldaten keine Wirkung entfalten konnte1™. Der EGMR bejaht im Übrigen auch die Vorhersehbarkeit der Verurteilung. Zwar sei W als junger Soldat der Indoktrinierung der jungen Rekruten der Volksarmee ausgesetzt gewesen und riskierte die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen bei geglücktem Grenzübertritt eines Flüchtlings. Doch handelte es sich bei der Verfassung und dem StGB der DDR nicht um obskure Verordnungen, weshalb der Grundsatz „Niemand kann sich auf Unkenntnis des Gesetzes berufen" auch für W gelte. Außerdem habe sich W freiwillig auf drei Jahre verpflichtet, und er kannte wie jeder Bürger der DDR die Art des Grenzregimes. Er musste also wissen, dass die Verpflichtung zum Wehrdienst die Möglichkeit einschloss, an die Grenze abkommandiert zu werden und auf unbewaffnete Flüchtlinge schießen zu müssen. Ein einfacher Soldat könne sich überdies „nicht voll und blindlings" auf Befehle berufen, die offensichtlich nicht nur die ureigenen Rechtsgrundsätze der DDR. sondern auch die völkerrechtlich geschützten Menschenrechte verletzten, insb das Recht auf Leben, das den obersten Rang in der Wertehierarchie der Menschenrechte einnehme. Die Verurteilung verstoße daher iE nicht gegen Art 7 EMRK. Mit dieser Argumentation bemüht der EGMR wie schon vor ihm das Bundesverfassungsgericht die Radbruch'sche Formel, indem er sie völkerrechtlich variiert und reformuliert. Eine tragfahige rechtsdogmatische Begründung beinhaltet sie nicht.130

136 E G M R . Serie A . Vol 335-B. R n 34 IT 137 E G M R . N J W 2001, 3035. R n 72

S W.

Kreuz.

138 Vgl bereits Dreier JZ 1997.421.425. 139 K r i t z u m Urteil Ran N J W 2001. 3008 IT. sowie RocUcckc

142

N J W 2001. 3024 f.

Justiz- und Verfahrensgrundrechte 3. Das Verbot der Doppelbestrafung

§6 113 und-Verfolgung

Art 4 7. ZP EMRK beinhaltet das Verbot der Doppelbestrafung („ne bis in idem"). Deutschland hat das 7. Zusatzprotokoll zwar unterzeichnet, bisher allerdings nicht ratifiziert. Im Grundgesetz findet sich die Gewährleistung als eines der sog grundrechtsgleichen Rechte in Art 103 III GG.140 Nach Art 4 7.ZP EMRK darf niemand „wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz oder dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden." Art 4 7.ZP EMRK entfaltet keine zwischenstaatliche Geltung, sondern schützt nur vor einer erneuten Bestrafung oder Verhandlung der Sache durch „denselben" Staat.141 Voraussetzung für die „Sperrwirkung" der Norm ist ein durch rechtskräftiges Urteil oder Freispruch endgültig abgeschlossenes strafrechtliches Verfahren.142 Anwendbar ist die Garantie nur, soweit es sich um (zwei) strafrechtliche Sanktionen iSd EMRK handelt. Von der „Sperrwirkung" des Art 4 7. ZP EMRK nicht erfasst sind daher erneute Sanktionierungen anderer Art (zB disziplinarrechtliche Maßnahmen).143 Der Begriff „strafrechtlich" entspricht dem Strafrechtsbegriff der Art 6 und 7 EMRK.144 Liegen zwei strafrechtliche Sanktionen vor, so stellt sich die Frage, ob diese wegen derselben „strafbaren Handlung" („offence/infraction") verhängt wurden.145 Entscheidend ist nicht, dass den Bestrafungen dieselbe tatsächliche Handlung zugrunde liegt.146 Der Umstand allein, dass ein und dieselbe tatsächliche Handlung mehrere Straftatbestände verwirklicht, verstößt noch nicht gegen das Verbot der Doppelbestrafung.147 Allerdings können zwei unterschiedliche Straftatbestände dasselbe strafrechtliche Unrecht abdecken. Ein Verstoß liegt dann vor, wenn jemand wegen derselben tatsächlichen Handlung aufgrund derselben Vorschrift oder aufgrund unterschiedlicher, materiell jedoch mindestens teilweise identischer Vorschriften bestraft wird.148 Der Gerichtshof untersucht, ob die Straftatbestände in ihren „wesentlichen Elementen" identisch sind („the same essential elements").149 Ist das der Fall, so liegt ein Fall der Gesetzeskonkurrenz und damit eine Verletzung vor. Kein Verstoß liegt vor, wenn die Straftatbestände im Verhältnis der Idealkonkurrenz zueinander stehen.150

60

In Art 4 II 7.ZP EMRK ist klargestellt, dass der Grundsatz des ne bis in idem nicht die Wiederaufnahme eines Verfahrens ausschließt, soweit neue oder neu bekannt gewordene

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140 S hierzu BVerfGE 3, 248, 250 ff; 75, 1, 8 ff. 141 Zur zwischenstaatlichen Geltung der grundgesetzlichen Gewährleistung siehe Specht Die zwischenstaatliche Geltung des ne bis in idem, 1999. 142 EGMR, Urt v 29.5.2001, Nr 37950/97, Rn 22 - Fischer; JB1 1995, 577, Rn 53 - Gradinger (m Anm Grabenwarter). 143 Europarat, Explanatory Report relating to Protocol N° 7, HRLJ 1985, 82, Rn 32. 144 Charrier (Fn 74), S 352; Van Dijk/Van Hoof (Fn 8), S 690. S o Rn 56. 145 Hierzu EGMR, RJD 1998-V, 1990, Rn 26 f - Oliveira; Urt v 29.5.2001, Nr 37950/97, Rn 23 ff Fischer. Überholt ist das Urteil des EGMR, JB1 1995, 577, Rn 55 - Gradinger. 146 So aber noch EGMR, JB1 1995, 577, Rn 55 - Gradinger. 147 EGMR, Urt v 29.5.2001, Nr 37950/97, Rn 25 - Fischer. 148 EGMR, Urt v 29.5.2001, Nr 37950/97, Rn 25, 29 - Fischer. 149 EGMR, Urt v 29.5.2001, Nr 37950/97, Rn 25 - Fischer. 150 EGMR, RJD 1998-V, 1990, Rn 26 - Oliveira.

143

§6 IV

Christoph Grabenwarter

Tatsachen vorliegen oder das frühere Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel151 aufweist. 4. Recht auf Nachprüfung einer gerichtlichen Verurteilung 62

Nach Art 2 7.ZP EMRK hat jeder, der von einem Gericht wegen einer strafbaren Handlung verurteilt wurde, das Recht, das Urteil von einem übergeordneten Gericht nachprüfen zu lassen. Das nachprüfende Gericht muss nicht dieselben Kompetenzen haben wie ein Gericht im Sinn des Art 6 EMRK. Auch bloße Revisionsinstanzen oder Gerichte, die über die Annahme oder Zulassung eines Rechtsmittels entscheiden, erfüllen dieses Merkmal.152 Darüber hinaus kann der Gesetzgeber Ausnahmen vorsehen für Bagatellsachen in Fällen, in denen ein Höchstgericht das Verfahren in erster Instanz geführt hat, und schließlich wenn die Verurteilung erst in zweiter Instanz auf Grund eines Rechtsmittels gegen den Freispruch der ersten Instanz erfolgte (Art 2 II 7. ZP EMRK). 5. Das Recht auf Entschädigung für Fehlurteile (Art 3 7. ZP

63

EMRK)

Bei rechtskräftiger Verurteilung und nachfolgender Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem Ergebnis der Unschuld des Verurteilten sieht Art 3 7.ZP EMRK eine Entschädigungspflicht des Staates für den bereits verbüßten Teil der ungerechtfertigten Strafe vor. Die Entschädigungspflicht entfällt, wenn der Betroffene die Schuld daran trägt, dass die neu auftretenden Tatsachen nicht rechtzeitig bekannt geworden sind.

III. Verfahrensgarantien bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen 64

Art 1 7. ZP EMRK enthält einige Verfahrensgarantien in Bezug auf die Ausweisung von Ausländern. Als rechtsstaatliches Mindesterfordernis wird vorgeschrieben, dass ein Ausländer, der zuvor seinen rechtmäßigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Staates hat, nur auf Grund einer rechtmäßig ergangenen Entscheidung ausgewiesen werden darf. Darüber hinaus werden als Mindestverfahrensgarantien bestimmte Rechte normiert, die in ausgebauter Form in Art 6 I und III EMRK enthalten sind. Der Ausländer muss die Möglichkeit haben, Gründe vorzubringen, die gegen seine Ausweisung sprechen, ferner seinen Fall prüfen lassen können und schließlich drittens sich zu diesem Zweck vor der zuständigen Behörde vertreten lassen können.153 Ausnahmsweise kann ein Ausländer ohne Gewährung dieser Rechte ausgewiesen werden, wenn die Ausweisung im Interesse der öffentlichen Ordnung erforderlich ist oder aus Gründen der nationalen Sicherheit erfolgt.

IV. Das Recht auf wirksame Beschwerde 65

Nach Art 13 EMRK hat jedermann, der eine Verletzung seiner durch die Konvention geschützten Rechte behauptet, das Recht einer „wirksamen Beschwerde" bei einer nationalen Instanz. Art 13 EMRK kann nur iVm einer anderen Bestimmung der EMRK oder

FroweinlPeukert in: Frowein/Peukert, Art 4 Rn 3, nennen beispielhaft die Bedrohung oder Bestechung von Zeugen oder Richtern. 152 EGMR, ZulE v 31.8.1999, Nr 34311/96 - Hubner. 153 Für Einzelheiten vgl Wiederin Aufenthaltsbeendende Maßnahmen im Fremdenpolizeirecht, 1993, S 85 ff. 151

144

Justiz- und Verfahrensgrundrechte

§6 IV

eines Zusatzprotokolls gerügt werden. Wie bei Art 19 IV GG ist nicht die Rechtsverletzung selbst Voraussetzung, es genügt vielmehr, dass der Beschwerdeführer die Verletzung geltend macht.154 Voraussetzung ist jedoch, dass die Verletzung in vertretbarer Weise angenommen werden kann.155 Die nationale Instanz kann in einem Gericht, insb in einem Verfassungsgericht bestehen. Sie muss jedoch nicht notwendigerweise gerichtlich organisiert sein, entscheidend ist, dass die Befugnisse und Verfahrensgarantien vor der Instanz wirksam sind.'56 Auch verpflichtet Art 13 EMRK die Mitgliedstaaten nicht zur Einführung eines Normenkontrollverfahrens.'57 Voraussetzung ist lediglich, dass es einen Rechtsanspruch auf Zugang und Entscheidung gibt und dass die Entscheidung eine adäquate Abhilfemöglichkeit im Falle einer Rechtsverletzung bietet. Diese kann in der Aufhebung der angefochtenen Maßnahme, aber auch in einer Entschädigung bestehen. Die Garantie des Art 13 EMRK hat im Laufe der Zeit eine kontinuierliche Aufwertung erfahren. Die Kommission für Menschenrechte vertrat anfanglich die Auffassung, Art 13 EMRK sei nur anwendbar, wenn zuvor eine andere Verletzung der Konvention festgestellt worden sei.158 Der EGMR stellte schon früh fest, dass eine solche Feststellung keine Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art 13 EMRK sei.159 Nachdem der Gerichtshof sodann die Auffassung vertrat, dass die vertretbare Annahme einer Konventionsverletzung dann nicht gegeben sie, wenn ein Fall „offensichtlicher Unbegründetheit" vorliege,160 scheint er nun dahin zu tendieren, das Vorliegen eines Eingriffs genügen zu lassen.161 Im Verhältnis zu anderen Garantien ist Art 13 EMRK dahingehend beschränkt, dass er grundsätzlich nicht neben den Rechtsweggarantien in Art 6 I und Art 5 IV EMRK zur Anwendung kommt, da er von diesen als leges speciales überlagert wird.162 Allerdings entschied der EGMR jüngst, dass Art 13 EMRK das Recht auf eine wirksame Beschwerde zu einer innerstaatlichen Instanz wegen einer behaupteten Verletzung der Verpflichtung nach Art 6 I EMRK zu einer Verhandlung innerhalb angemessener Frist garantiert.163

154 155 156 157 158 159 160 161 162 163

EGMR, EuGRZ 1979, 278, Rn 64 - Klaas. EGMR, Série A, Vol 131, Rn 52 -Boyle & Rice. EGMR, EuGRZ 1984, 147, Rn 113 - Silver. EGMR, Série A, Vol 98, Rn 85 - James; EGMR, Série A, Vol 102, Rn 206 - Lithgow. Vgl. Frowein in: Frowein/Peukert, Art 13 EMRK Rn 2 Fn 3. EGMR, EuGRZ 1979, 278, Rn 64 - Klass. EGMR, Série A, Vol 172, Rn 33 - Powell. EGMR, RJD 1997-VIII, Rn 53 - Camenzind. Vgl. Frowein, GS Ryssdal, S 545, 549 f. EGMR, EuGRZ 1979, 626, Rn 35 - Airey; EGMR, Série A, Vol 52, Rn 88 - Sporrong. EGMR, NJW 2001, 2694, Rn 146 ff. - Kudla.

145

66

67

3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Gemeinschaften §7 Allgemeine Lehren Dirk Ehlers Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1963, 1 ff - van Gend & Loos; Slg 1964, 1251 ff - Costa/ENEL; Slg 1974, 837 ff - Dassonville; Slg 1974, 1299 ff - van Binsbergen; Slg 1974, 1405 ff - Walrave; Slg 1979, 649ff - Cassis de Dijon; Slg 1991, I-2357ff - Vlassopoulou; Slg 1993, 1-6097 - Keck; Slg 1995, 1-1141 ff - Alpine Investments; Slg 1995,1-4165 ff - Gebhard; Slg 1995,1-4921 ff - Bosman, Slg 1997, 1-3689 ff - Familiapress = Erichsen JK 98, EGV Art 30/1; Slg 1997,1-6959 ff - Kommission/Frankreich = Erichsen JK 98, EGV Art 30/2; Slg 2000,1-4139 ff - Angonese = Ehlers JK01, EGV Art 39/1. Schrifttum: Jarass Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten, EuR 1995, 202 ff; ders Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten II, EuR 2000, 705 ff; Ehlers!Lackhoff JZ 1996, 467 ff; Kingreenl Störmer Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, 263 ff; Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999.

I. Eigenart und Stellung der Grundfreiheiten im Gefüge des europäischen Gemeinschaftsrechts 1. Bedeutung der Grundfreiheiten Die Europäische Gemeinschaft (EG) ist zwar nicht nur, aber auch und gerade eine Wirtschafts- und Währungsunion mit einem gemeinsamen Markt.1 Ihre Tätigkeit umfasst unter anderem die Errichtung eines Binnenmarktes, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist (Art 3 I lit c EGV). Die angesprochenen Freiheiten stellen zugleich die Stützpfeiler der gemeinschaftsrechtlichen Wirtschaftsverfassung dar.2 Sie gelangen insbesondere zur Anwendung, wenn mitgliedstaatliche Regelungen den innergemeinschaftlichen Wirtschaftsverkehr behindern. So sind Importverbote für nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraute Biere aus dem EG-Ausland,3 Ausländerregelungen der Berufs-Fußballverbände in Europa,4 Zweigniederlassungsverbote für im EG-Ausland gegründete Gesellschaften mit ausschließlicher Geschäftstätigkeit im Inland,5 die Ablehnung der Kostenerstattung für eine ärztliche Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat6 sowie Genehmigungsvorbehalte für den Grundstückserwerb durch

1 Vgl bereits Art 2 EGV. 2 Vgl a Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 13. Zur Frage des Verfassungscharakters des Vertragsrechts der Gemeinschaften vgl Pernice DVB12000, 1751, 1753; Huber DVB12000, 1754 f. 3 EuGH, Slg 1987, 1227 ff- Kommission/Deutschland. 4 EuGH, Slg 1995,1-4921 ff - Bosman. 5 EuGH, Slg 1999,1-1459 ff Centros. 6 EuGH, Slg 1998,1-1931 ff - Kohll.

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1

§7 12

Dirk Ehlers

Ausländer7 für unvereinbar mit den Grundfreiheiten erklärt worden. Dies zeigt beispielhaft, dass die Grundfreiheiten die nationalen Gestaltungsspielräume auf dem Gebiet des Wirtschafts- und Sozialrechts erheblich einengen. 2. Die einzelnen Grundfreiheiten 2

3

4

5

Obwohl der Begriff „Grundfreiheit" im Text des EG-Vertrages nicht auftaucht, 8 besteht Übereinstimmung darüber, dass sich je nach Zählweise vier oder sechs Grundfreiheiten unterscheiden lassen: nämlich die Freiheit des Warenverkehrs (Art 25, 28, 29 EGV; —> § 8), die Freiheit des Personenverkehrs, bestehend aus der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art 39 EGV; -> § 9) und der Niederlassungsfreiheit (Art 43 EGV; § 10), die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs (Art 49 EGV; ->§11) und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art 56 EGV; -> § 12). Die Warenverkehrsfreiheit bezieht sich in erster Linie auf die grenzüberschreitende Mobilität von Produkten,9 dh von körperlichen oder sonstigen handelbaren Gegenständen10. Diese müssen aus der Gemeinschaft stammen oder sich im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden (Art 23 II EGV)." Während Art 25 EGV Ein- und Ausfuhrzölle sowie Abgaben gleicher Wirkung verbietet (sog tarifäre Handelshemmnisse), untersagen die Art 28, 29 EGV alle mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung (nichttarifäre Handelshemmnisse). Die Personenverkehrsfreiheit in Gestalt der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit ist primär einschlägig, wenn Unionsbürger (Art 17 EGV) oder (im Falle der Niederlassung auch) Gesellschaften (Art 48 EGV; —> § 10 Rn 62 f!) dauerhaft in den anderen Mitgliedstaat übersiedeln wollen, um sich dort wirtschaftlich zu betätigen. Doch geht der Schutz weiter. So umfasst die Arbeitnehmerfreizügigkeit zB auch das Recht, sich um im EG-Ausland angebotene Stellen zu bewerben, sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet zu verbleiben.12 Ferner können sich auch die Familienangehörigen des Arbeitnehmers (-> § 9 Rn 29) sowie der Arbeitgeber13 auf die Freiheit berufen. Während die Freizügigkeit der Arbeitnehmer vor allem die abhängig Beschäftigten schützt,'4 wendet sich die Niederlassungsfreiheit an die selbstständig Erwerbstätigen. Die Dienstleistungsfreiheit umfasst die körperlichen und nichtkörperlichen Leistungen iSv Art 50 EGV. Die Dienstleistungen können nicht nur dadurch erbracht werden, dass 7 EuGH, Slg 2000,1-5965 ff - Albore. 8 Dagegen wird der Begriff in der E M R K (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten) sowie in der Verweisungsnorm des Art 6 II E U V verwendet, hat dort aber eine andere Bedeutung. 9 Vgl Jarass EuR 1995, 202, 205. 10 Wie zB Elektrizität. 11 Waren stammen aus der Gemeinschaft, wenn sie in einem Mitgliedstaat der EG vollständig gewonnen, hergestellt oder wesentlich be- oder verarbeitet worden sind, vgl Art 23 ff Zollcodex VO 2913/92, ABl 1992 Nr L 302/1. Im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden sich diejenigen Waren aus dritten Ländern, für welche die Einfuhr-Förmlichkeiten erfüllt sowie die vorgeschriebenen Zölle und Abgaben erhoben und nicht ganz oder teilweise rückvergütet worden sind (Art 24 EGV). 12 Vgl Art 39 III lit a, b, d EGV; -> § 9 Rn 19 ff. 13 EuGH, Slg 1998,1-2521, Rn 16 ff - Clean Car; § 9 Rn 28. 14 Vgl Art 1 I VO 1612/68, ABI 1968 257/2 („Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis").

148

Allgemeine Lehren

§7 I3

Leistungserbringer und Leistungsempfanger in ihrem Aufenthaltsort verbleiben und nur die Leistung die Grenze überquert, es ist auch möglich, dass sich entweder der Leistungserbringer oder der Leistungsempfanger (vorübergehend) in den anderen Mitgliedstaat begibt oder dass Leistungserbringer und Leistungsempfänger zum Zwecke der Erbringung der Dienstleistung gemeinsam einen dritten Mitgliedstaat aufsuchen. 15 Insoweit garantiert die Dienstleistungsfreiheit auch einen freien Personenverkehr. Die Kapitalverkehrsfreiheit gewährleistet die Übertragung von Geld und ähnlichen Werten über die Grenzen eines Mitgliedstaates der Gemeinschaft hinweg (primär zu Anlagezwecken), der Freiheit des Zahlungsverkehrs unterfallen alle Zahlungen mit grenzüberschreitendem Bezug.16 3. Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit der Grundfreiheiten Das Gemeinschaftsrecht stellt eine von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unabhängige Rechtsordnung mit unmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten dar. Die unmittelbare Geltung wird teils aus der Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung 17 , teils aus der Übertragung der nationalen Hoheitsgewalt auf die EG abgeleitet.18 Von der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts ist die unmittelbare Wirkung oder Anwendung zu unterscheiden. Eine unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Rechtskreis liegt bei Zugrundelegung eines weiten Verständnisses bereits dann vor, wenn irgendwelche Adressaten des innerstaatlichen Rechtskreises durch das Gemeinschaftsrecht berechtigt oder verpflichtet werden. Dies können zB auch die Mitgliedstaaten sein, wenn und soweit sie eine Richtlinie umsetzen. Zumeist wird von unmittelbarer Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts aber nur in einem engeren Sinne gesprochen. Danach soll es darauf ankommen, ob das Gemeinschaftsrecht den Unionsbürgern und sonstigen Privatpersonen Rechte verleiht oder Pflichten auferlegt. 19 Ob dies der Fall ist, hängt von der Auslegung der Regelungen ab.20 Alle Grundfreiheiten legen ihren Adressaten (Rn 40 ff) unbedingte Verpflichtungen auf. Die früher vorgesehenen Übergangszeiten 21 sind abgelaufen, so dass alle Grundfreiheiten im innerstaatlichen Rechtskreis unmittelbar anwendbar sind. Allerdings geht das einschlägige primärrechtskonforme Sekundärrecht den Grundfreiheiten vor, weil ebenso wie im nationalen Recht 22 diejenige Rechtsquelle anzuwenden ist, die dem zu entscheidenden Fall am nächsten steht. 23 Das Sekundärrecht muss im Lichte der Grundfreiheiten ausgelegt werden. Treten neue Mitglieder der EG bei, können in der Beitrittsakte (oder im Vertragsrecht) wiederum Übergangsvorschriften vorgesehen werden. So verfolgen verschiedene Mitgliedstaaten die

15 16 17 18 19 20 21 22 23

Vgl Roth in: HdBEUWirtschR E I Rn 100; Kluth in: Calliess/Ruffert Art 50 EGV Rn 24 f. Vgl Bröhmer in: Calliess/Ruffert Art 56 EGV Rn 8, 56; -> § 12 Rn 6. Oppermann ER Rn 672. In Deutschland bestimmt sich die Übertragung der Hoheitsrechte auf die Europäische Gemeinschaft nach Art 23 I 2 GG. EuGH, Slg 1963, 1, 24 ff - van Gend & Loos; Slg 1978, 629, 643 f - Simmenthai II; Kadelbach Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999, S 57 ff; Borchardt E U Rn 113. Die unmittelbare Wirkung braucht nicht ausdrücklich angeordnet zu werden, vgl EuGH, Slg 1963, 1, 25 - van Gend & Loos. Art 7 I, Art 31, 33, 35, Art 48 I, Art 521, Art 59 I, Art 67 EWGV. Vgl Ehlers in: Erichsen/Ehlers (Hrsg) Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl 2002, § 4 Rn 4. EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8 - Cassis; v Bogdandy JZ 2001, 157, 166.

149

§7 16

Dirk Ehlers

Absicht, im Falle einer (Ost-)Erweiterung der EG befristete Übergangsmaßnahmen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit vorzusehen. 4. Subjektiv-rechtlicher Charakter der Grundfreiheiten 8

Ein freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten (Art 3 I lit c EGV) kann sich nur entwickeln, wenn die Grundfreiheiten nicht nur Bindungen erzeugen, sondern dem Einzelnen die Rechtsmacht eingeräumt wird, sich gegenüber den Verpflichteten auf die Freiheitsverbürgungen zu berufen. Seit dem van Gend & Looi-Urteil des EuGH 24 besteht Übereinstimmung darüber, dass die Grundfreiheiten nicht nur objektiv-rechtliche Wirkungen entfalten, sondern dem Schutz der einzelnen Wirtschaftsteilnehmer zu dienen bestimmt sind. Somit stellen sie (iSd deutschen Terminologie) subjektive Rechte dar.25 Dies bedeutet, dass sie vor den Gemeinschaftsgerichten und den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können (Rn 90 ff). 5. Vorrang der Grundfreiheiten

9

Für die Grundfreiheiten gelten die zum Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht entwickelten Grundsätze. Kollidieren Gemeinschaftsrecht und nationales Recht, kommt dem Gemeinschaftsrecht - nach Ansicht des EuGH in jedem Falle,26 nach Ansicht des BVerfG nur in den Grenzen der sog Solange-Rechtsprechung27 - Vorrang zu. Hierbei ist grundsätzlich von einem bloßen Anwendungsvorrang auszugehen.28 Dies bedeutet, dass das gemeinschaftsrechtswidrige staatliche Recht gültig bleibt und insoweit unanwendbar ist, als das Gemeinschaftsrecht selbst unmittelbare Anwendung verlangt. Zur Nichtanwendung des dem Gemeinschaftsrecht widersprechenden nationalen Rechts sind alle mit der Rechtssache befassten Instanzen (also auch die erstinstanzlichen Gerichte und die Verwaltungsbehörden29) - und darüber hinaus möglicherweise auch die privaten Verpflichtungsadressaten des Gemeinschaftsrechts (Rn 42) - verpflichtet. 6. Abgrenzung zu anderen Rechten des primären

10

Gemeinschaftsrechts

Das Primärrecht der Europäischen Gemeinschaften (dh das Vertragsrecht, die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze und das die Verträge ergänzende Gewohnheitsrecht) gewährleistet neben den Grundfreiheiten zahlreiche weitere Rechte. Sie sind von den Grundfreiheiten abzugrenzen. Unterschieden werden kann zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Rechten.

24 Vgl Fn 20. 25 Allgemein zur Frage, wann klagefähige Rechte aus dem europäischen Gemeinschaftsrecht hergeleitet werden können, Ehlers Die Europäisierung des Verwaltungsprozeßrechts, 1999, S 47 IT. 26 Vgl EuGH, Slg 1964, 1251, 1271 - Costa; Slg 1970, 1125, Rn 3 - Internationale Handelsgesellschaft; Slg 1990,1-2433, Rn 18 - Factortame. 27 Vgl BVerfGE 37, 271, 280 ff - Solange I; 73, 339, 375 ff - Solange II; 89, 155, 174 f; BVerfGE 102, 147, 161 ff. 28 EuGH, Slg 1991, 1-297, Rn 19 - Nimz; BVerfGE 75, 223, 244; 85, 191, 204. Zu den Ausnahmen (Nichtigkeit) vgl Ehlers in: Erichsen/Ehlers (Fn 22) § 3 Rn 46. 29 Vgl EuGH, Slg 1989, 1839, Rn 28 ff - Costanzo. S hierzu krit Schmidt-Aßmann in: Ehlers/Krebs (Hrsg) Grundfragen des Verwaltungsrechts und Kommunalrechts, 2000, S 1, 17 ff.

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Allgemeine Lehren

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a) Geschriebene Rechte aa) Das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV Art 12 EGV verbietet im Anwendungsbereich des EG-Vertrages „unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrags" jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Wie der Vorbehalt zeigt, kommt Art 12 EGV nur zum Zuge, wenn „der Vertrag keine besondere Regel der Nichtdiskriminierung vorsieht".30 Dementsprechend steht Art 12 EGV in einem Subsidiaritätsverhältnis zu den Grundfreiheiten. 31 Da die Vorschrift nur eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, lässt sie jedenfalls eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung verschiedener Staatsangehöriger aus anderen Gründen zu,32 enthält also ebenso wie die Grundfreiheiten kein absolutes Differenzierungsverbot.33 Da der Anwendungsbereich des EG-Vertrages iVm den Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft zu bestimmen ist, hält der EuGH Art 12 EGV auch für anwendbar, wenn ein Unionsbürger von seinem Recht auf Freizügigkeit (Art 18 EGV) Gebrauch machen will.34 Dies läuft darauf hinaus, dass die Unionsbürger im Zusammenhang mit der Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts grundsätzlich nicht schlechter gestellt werden dürfen als die Staatsbürger des jeweiligen Mitgliedstaates.35

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bb) Besondere Gleichheitsrechte Ferner ergeben sich insbesondere aus dem EG-Vertrag in erheblichem Ausmaße besondere Gleichheitsrechte. Zumeist geht es um das Verbot einer Schlechterstellung der EGAusländer gegenüber den Inländern sowie um die Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen auf dem Gemeinsamen Markt. Hinzuweisen ist etwa auf die auch den Einzelnen schützenden Verbote der Art 2536, 3137, 7238, 9039 und 294 EGV. Die Vorschriften verdrängen als leges speciales die Grundfreiheiten. Gelegentlich verbieten die EG-Vorschriften auch andere Ungleichbehandlungen. ZB sind nach Art 34 II 2 EGV Diskriminierungen zwischen Erzeugern oder Verbrauchern innerhalb der Gemeinschaft im Rahmen einer gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte auszuschließen. Besondere Bedeutung kommt der Bestimmung des Art 141 EGV zu, die den Männern und Frauen mit unmittelbarer Wirkung40 auch im Verhältnis zu nicht staatlichen Arbeitgebern ein gleiches Entgelt garantiert (selbst wenn nur Inländer betroffen sind) und darüber hinaus weitere Festlegungen für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen trifft (—> § 17 Rn 37 ff).41 Vorschrif-

30 EuGH, Slg 1996, 1-929, Rn 20 - Skanavi & Chryssanthakopoulos. Vgl zB aber auch E u G H , Slg 1993,1-5145, Rn 17-Collins. 31 Zum Charakter der Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote vgl die Ausführungen bei Rn 19. 32 Vgl EuGH, Slg 1980, 3005, Rn 7 f - Hochstrass. 33 Str vgl die Übersicht bei Epiney in: Calliess/Ruffert Art 12 EGV Rn 37 ff; —» § 17 Rn 31 f. 34 EuGH, Slg 2001,1-6193, Rn 34 ff - Grzelczyk = Ehlers JK 02, EGV Art 12/1. 35 Krit Kluth in: Calliess/Ruffert Art 18 EGV Rn 5. 36 Vgl EuGH, Slg 1963, 1, 24 f - van Gend & Loos. 37 Vgl EuGH, Slg 1976, 91, Rn 15 f - Manghera. 38 Vgl EuGH, Slg 1992,1-3141, Rn 13 ff - Kommission/Deutschland. 39 Vgl EuGH, Slg 1966, 257, 265 ff - Lütticke. 40 EuGH, Slg 1976, 455, Rn 4 ff - Defrenne. 41 Die Quotenregelungen im öffentlichen Dienst (vgl EuGH, Slg 1995, 1-3051, Rn 21 ff - Kaianke; Slg 1997,1-6363, Rn 23 ff - Marschall; Slg 2000,1-1875 ff - Badeck) sowie die Beschäftigung von

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ten der genannten Art haben einen anderen Regelungsgehalt als die Grundfreiheiten und treten daher neben diese. cc) Sonstige Rechte 14

Weiterhin kennt der EG-Vertrag Rechtsverbürgungen, die sich nicht auf den Einzelnen als Wirtschaftssubjekt beziehen, sondern ihn in seiner Eigenschaft als Unionsbfirger (Art 17 EGV) ansprechen. Hinzuweisen ist auf das Recht auf Freizügigkeit (Art 18 EGV), das kommunale Wahlrecht (Art 19 EGV), das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz in Drittländern (Art 20 EGV) und das Petitionsrecht (Art 21 EGV). Daneben ergibt sich aus Art 255 EGV ein Recht auf Zugang zu Dokumenten der Gemeinschaftsorgane. Diese Gewährleistungen stehen nicht in einem Konkurrenzverhältnis zu den Grundfreiheiten, ergänzen diese vielmehr (—> ausf § 20). b) Ungeschriebene Rechte

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Von den Grundfreiheiten abzugrenzen sind schließlich die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, die der EuGH auf der Grundlage des Art 220 EGV aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und den internationalen Verträgen, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention,42 im Wege der wertenden Rechtsvergleichung abgeleitet hat. Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören insbesondere die Gemeinschaftsgrundrechte.43 Einen Verweis auf die Gemeinschaftsgrundrechte enthält Art 6 II EUV. Ferner hat der Europäische Rat (Art 4 II EUV) in Nizza eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union proklamiert (—> § 19). Teilweise überschneiden sich die Gewährleistungen der GrundrechtsCharta mit den bereits bestehenden Verbürgungen des Primärrechts einschließlich der Grundfreiheiten. Weder Art 6 II EUV noch die Grundrechts-Charta sind aber Bestandteile der Gemeinschaftsverträge. Sie stellen daher keine Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts dar, sondern wirken (im Falle des Art 6 II EUV insoweit, als auf die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verwiesen wird) als Rechtserkenntnisquellen für die Gewinnung der Gemeinschaftsgrundrechte.44 Diese binden in erster Linie die Gemeinschaften, bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts aber auch die Mitgliedstaaten (—> § 13 Rn 28 ff). Damit können sich die Anwendungsbereiche der Grundfreiheiten und der Gemeinschaftsgrundrechte überschneiden. Nach der hier vertretenen Ansicht stellen die Grundfreiheiten spezielle Formen der Grundrechte dar, welche den allgemeinen Grundrechten vorgehen und diese verdrängen, soweit sie anwendbar sind.45 Im Übrigen können die Gemeinschaftsgrundrechte nach der Rechtsprechung des EuGH uU bei der Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten zu berücksichtigen sein.46

42 43 44 45

46

Frauen in den Streitkräften (vgl EuGH, Slg 1999,1-7403 ff - Sirdar; Slg 2000,1-69 ff - Kreil) sind bisher nur am sekundären Gemeinschaftsrecht gemessen worden. Vgl Ehlers Jura 2000, 372 ff. Vgl die Leitentscheidungen EuGH, Slg 1969, 419, Rn 7 - Stauder; Slg 1970, 1125, Rn 3 - Internationale Handelsgesellschaft; Slg 1974,491, Rn 13 - Nold; Slg 1979, 3727, Rn 15 f - Hauer. Vgl aber auch Kingreen JuS 2000, 857, 859. AA Kingreen in: Calliess/Ruffert Art 6 EUV Rn 81 mit Fn 222, der die Annahme von Idealkonkurrenz für vorzugswürdig hält, um die unterschiedlichen Schutzrichtungen und Schutzwirkungen der Grundfreiheiten und EG-Grundrechte zur Geltung zu bringen. Vgl zu einem solchen Fall EuGH, Slg 1997,1-3689, Rn 24 - Familiapress -> § 13 Rn 27, 33.

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Allgemeine Lehren 7. Dogmatik

der

§ 7 II 1 Grundfreiheiten

Obwohl die Grundfreiheiten von konstitutiver Bedeutung für den Wirtschaftsverkehr in der Gemeinschaft sind, lässt ihre dogmatische Strukturierung zu wünschen übrig. Daher sollen im Folgenden die übergreifenden Aspekte der Grundfreiheiten in den Blick genommen werden, ohne auf die Freiheiten im Einzelnen einzugehen. Zunächst wird das Augenmerk auf die Funktionen der Grundfreiheiten (Rn 18 ff), die Berechtigten (Rn 35 fl), die Verpflichteten (Rn 40 ff), den räumlichen Geltungsbereich (Rn 45) und die zeitliche Geltung (Rn 46) gerichtet. Sodann werden die Schutzbereiche, Beeinträchtigungen und Schranken der Grundfreiheiten untersucht (Rn 47 ff). Abschließend soll kurz zum Rechtsschutz Stellung genommen werden (Rn 90 ff).

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II. Funktionen der Grundfreiheiten Fall 1: (EuGH, Slg 2000,1-7919 ff - forsten) Gegen den niederländischen Staatsangehörigen C hat eine deutsche Ordnungsbehörde ein Bußgeld in Höhe von 2.000 DM wegen Verstoßes gegen die deutschen Rechtsvorschriften zur Bekämpfung der Schwarzarbeit verhängt, weil C im Rahmen eines Bauvorhabens in Deutschland Estricharbeiten vorgenommen hat, ohne in die Handwerksrolle eingetragen zu sein. Nach Einlegung eines Einspruchs hat das deutsche Amtsgericht dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die Dienstleistungsfreiheit der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, welche die Verrichtung handwerklicher Tätigkeiten in dessen Hoheitsgebiet durch in anderen Mitgliedstaaten ansässige Dienstleistende davon abhängig macht, dass diese in die Handwerksrolle eingetragen sind (vgl § 1 I 1, § 9 HandwO). Den Grundfreiheiten kommen verschiedene Funktionen zu. Zum einen stellt sich die Frage, ob es sich bei den Grundfreiheiten nur um Gleichheitsrechte (Rn 19 ff) oder auch um Freiheitsrechte (Rn 24 f) handelt, die dem Einzelnen Abwehrrechte vermitteln. Zum anderen könnten die Grundfreiheiten auch Leistungsrechte (Rn 28 ff) und Verfahrensrechte (Rn 33) enthalten sowie von objektiv-rechtlicher Bedeutung (Rn 34) sein. Dagegen erscheint es von vornherein ausgeschlossen, den Grundfreiheiten staatsbürgerliche oder unionsbürgerliche Rechte zu entnehmen. 1. Grundfreiheiten

als

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Gleichheitsrechte

a) Das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten Den Grundfreiheiten werden in erster Linie Diskriminierungsverbote entnommen, die das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV bereichsspezifisch konkretisieren. 47 Ein Binnenmarkt lässt sich nicht verwirklichen, wenn EG-Ausländer im Falle eines grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs schlechter als Inländer behandelt werden. Dementsprechend bestimmt Art 30 EGV, dass Einfuhr- oder Ausfuhrbeschränkungen zwar unter gewissen Voraussetzungen zulässig sind, diese aber niemals „ein Mittel der willkürlichen Diskriminierung" sein dürfen. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gebietet „die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung" (Art 39 II EGV), die Niederlassungsfreiheit umfasst die Aufnahme und die Aus-

47 Vgl Epiiwy Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, S 7 —> ij 17 Rn 18.

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§7 I I I

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Übung von Tätigkeiten „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen" (Art 43 II EGV), und die Dienstleistungsfreiheit ermöglicht den vorübergehenden Aufenthalt in einem anderen Staat „unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt" (Art 50 III EGV). Der Kapital- und Zahlungsverkehr „zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern" wird vor Beschränkungen geschützt (Art 56 I, II EGV). Bei den Beschränkungen kann es sich auch um diskriminierende Belastungen handeln. b) Der Vergleichsmaßstab 20

Wann eine Diskriminierung im Sinne der Grundfreiheiten vorliegt, hängt von dem zugrunde zu legenden Vergleichsmaßstab ab. Die Grundfreiheiten beziehen sich auf Maßnahmen „zwischen den Mitgliedstaaten".48 Sie richten sich auf Marktzugang, nicht auf vollständige Marktgleichheit im gesamten Gemeinschaftsgebiet. Daher erfassen sie nach der zutreffenden stRspr des EuGH 49 - anders als die Gemeinschaftsgrundrechte - nur grenzüberschreitende Sachverhalte50 (wobei allein die hypothetische Möglichkeit eines Grenzübertritts nicht ausreicht51). Demgemäß ist ein Vergleich zwischen dem inländischen und dem ausländischen Sachverhalt anzustellen.52 Dagegen fungieren die Grundfreiheiten nicht als Maßstab für sonstige Ungleichbehandlungen. Insbesondere können rein innerstaatliche Sachverhalte nicht an den Grundfreiheiten gemessen werden.53 Dies impliziert zugleich, dass den Mitgliedstaaten eine (reine) Inländerdiskriminierung durch die Grundfreiheiten nicht untersagt wird.54 Selbst wenn sich aus dem Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV iVm den Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft das Verbot einer Inländerdiskriminierung ableiten lassen sollte,55 würden die Grundfreiheiten diesen Vorschriften als leges specialis vorgehen. Deshalb ist es zB nicht gemeinschaftsrechtswidrig, das deutsche Reinheitsgebot für Bier nur für deutsche Brauereien oder die Meisterprüfung nach der Handwerksordnung nur für deutsche Handwerker aufrechtzuerhalten. Auch das deutsche Verfassungsrecht verbietet eine solche Diskriminierung in der Regel nicht. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art 3 I GG scheidet aus, weil die Vorschrift nur Bindungswirkungen für den jeweiligen Hoheitsträger innerhalb seines Kompetenzbereichs entfaltet. Die deutschen Freiheitsrechte (namentlich Art 12 GG) stehen einer Inländerdiskriminierung nur entgegen, wenn das Regelungsziel wegen der Ausklammerung der EG-Ausländer nicht mehr erreicht werden kann.

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Das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten verbietet, EG-Ausländer schlechter als Inländer zu behandeln. Doch kann das Diskriminierungsverbot auch den Inländern

48 So zB Art 28 EGV. 49 Vgl zB EuGH, Slg 1992,1-341, Rn 9 - Steen I; Slg 1994, 1-2715, Rn 9 - Steen II. Weitere Nachw bei Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV - nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, S 55 mit Fn 182. 50 AA zB Epiney (Fn 47) S 201, 203, 209 f; Lackhoff (Fn 49) S 55 ff, 67 ff. 51 EuGH, Slg 1984, 2539, Rn 18 - Moser; Slg 1997,1-2629, Rn 16 - Kremzow. 52 Geht es nicht um die Beurteilung einer mitgliedstaatlichen, sondern einer EG-Maßnahme, ist stets ein grenzüberschreitender Sachverhalt anzunehmen. 53 Im Einzelnen kann es schwierig sein, interne von grenzüberschreitenden Sachverhalten abzugrenzen. Vgl zB Kingreen (Fn 2) S 140 ff. 54 Vgl zB Streinz ER Rn 685. 55 Borchardt EU Rn 687. AA zu Recht Kingreen § 17 Rn 23 ff; Kadelbach § 20 Rn 85 ff.

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Allgemeine Lehren

§7 I I I

zugute kommen. So ist ein grenzüberschreitender Sachverhalt ebenfalls gegeben, wenn ein Inländer (respektive eine nach inländischen Vorschriften gegründete juristische Person) eine Ware in einen anderen Mitgliedstaat ausführen will,56 sich zwecks Annahme einer Arbeit, einer Niederlassung oder Erbringung einer Dienstleistung in das EG-Ausland begeben möchte,57 vom Inland aus dienstleistend in anderen EG-Staaten in Erscheinung zu treten beabsichtigt oder einen Kapital- und Zahlungsverkehr mit dem EG-Ausland abwickeln möchte. In allen diesen Fällen greift eine Berufung des Inländers auf die Grundfreiheiten gegenüber dem eigenen Staat durch. Ferner kann auch eine frühere Ansässigkeit in einem anderen EG-Mitgliedstaat ausreichend sein. Hat ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats zuvor in einem anderen Mitgliedstaat die erforderliche Qualifikation für einen bestimmten Beruf erlangt, darf er sich seinem eigenen Mitgliedstaat gegenüber auf die Personenverkehrsfreiheiten berufen, um im Inland Zugang zu dem Beruf zu erlangen.58 Darüber hinaus kommen die Grundfreiheiten auch den Vertragspartnern der geschützten Personen zugute,59 etwa die Freizügigkeit der Arbeitnehmer den Arbeitgebern60 oder die Dienstleistungsfreiheit den Dienstleistungsempfangern61. ZB kann sich ein Tourist, der von staatlichen Instanzen in einem anderen Mitgliedstaat schlechter als einheimische Touristen behandelt worden ist (kostenloser Museumsbesuch), auf die Dienstleistungsfreiheit berufen.62 Bei den Vertragspartnern kann es sich auch um Inländer handeln. Schließlich ist bereits erwähnt worden, dass die Personenfreiheiten auch die (aus- oder inländischen) Familienangehörigen der (primär) Berechtigten schützen (Rn 2 f). c) Arten der Diskriminierung Eine Diskriminierung kann offen, unmittelbar, formal bzw rechtlich oder aber versteckt, mittelbar, materiell bzw faktisch sein.63 Im ersten Fall ergibt sich die Differenzierung zwischen inländischen und grenzüberschreitenden Sachverhalten zum Nachteil der die Grenze überschreitenden Produkte oder Personen ausdrücklich aus der getroffenen Regelung (zB weil auf die ausländische Herkunft einer Ware oder die Staatsangehörigkeit abgestellt wird), im zweiten (in der Praxis weitaus häufigeren) Fall werden die Produkte oder Personen ausländischer Herkunft 64 zwar nicht als solche angesprochen, aber typischerweise stärker betroffen.65 Eine versteckte Diskriminierung ist etwa gegeben, wenn eine Kennzeichnungspflicht für Verbrauchsgüter in der Sprache des Gebietes besteht, in

56 Zur Verlagerung des Sitzes der Geschäftsleitung einer Gesellschaft in das EG-Ausland vgl EuGH, Slg 1988, 5483, Rn 1 ff- Daily Mail. 57 EuGH, Slg 1999, 1-2517 ff - Ciola = Ehlers JK 00, EGV Art 49/1; Slg 1999, 1-7641, Rn 20 Vestergaard. 58 Vgl EuGH, Slg 1979, 399, Rn 24 f - Knoors; Slg 1981, 2311, Rn 19 - Broekmeulen. 59 Jarass EuR 2000, 705, 708. 60 EuGH, Slg 1998,1-2521, Rn 16 ff - Clean Car. 61 Vgl Fn 57. 62 EuGH, Slg 1994, 911, Rn 10 - Kommission/Spanien. 63 Die Begriffe werden synonym verwendet. 64 Soweit eine Grenzüberschreitung trotz Inländerbetroffenheit gegeben ist, werden die inländischen Produkte oder Personen den ausländischen gleichgestellt. 65 Vgl etwa EuGH, Slg 1974, 153, Rn 11 f - Sotgiu; Slg 1988, 4635, Rn 30 - Beentjes; Slg 1996, 1-2617, Rn 17 ff - O'Flynn.

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der das Erzeugnis auf den Markt gebracht werden soll.66 Der EuGH legt einen sehr weiten Diskriminierungsbegriff zugrunde. Auf eine Benachteiligungsabsicht des Mitgliedstaates kommt es nicht an. Die Unterscheidung von offenen und versteckten Diskriminierungen ist insbesondere auch für die Beschränkung der Grundfreiheiten von Bedeutung (vgl Rn 47 fl). d) Wirkungsweise des Diskriminierungsverbots 23

Greift das Diskriminierungsverbot durch, hat der Berechtigte ein Abwehrrecht, dh einen Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch, wenn es um Nachteilszufügungen geht. Beruht die Diskriminierung auf der Vorenthaltung einer Vergünstigung, hat der Berechtigte idR einen Anspruch auf Gleichstellung (Rn 29). 2. Die Grundfreiheiten als Freiheitsrechte

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Der durch die Grundfreiheiten geschützte freie Produkt- und Personenverkehr kann nicht nur durch diskriminierende, sondern auch durch unterschiedslos geltende mitgliedstaatliche Regelungen, welche In- und Ausländer in gleicher Weise betreffen, behindert oder unmöglich gemacht werden. So ist der selbstständige Betrieb eines Handwerks in Deutschland (grundsätzlich) nur Personen gestattet, welche die Meisterprüfung bestanden haben.67 Wird dieses Erfordernis auf EG-Ausländer erstreckt, die dauernd handwerkliche Leistungen in Deutschland erbringen wollen, könnte der Maßnahme zwar uU eine (versteckte) Diskriminierungswirkung abgesprochen werden. Sie hätte aber gleichwohl zur Folge, dass der Marktzutritt von EG-Ausländern nahezu ausgeschlossen wird, weil es Meisterprüfungen im Ausland (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht gibt und nicht erwartet werden kann, dass die Ausländer vor ihrer selbstständigen beruflichen Betätigung in Deutschland erst eine Meisterprüfung ablegen. Die Maßnahme würde gleichwohl gegen die Grundfreiheiten (hier Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit) verstoßen, weil diese nicht nur Diskriminierungs-, sondern auch Beschränkungsverbote enthalten. Dies kommt bereits im Wortlaut der Vertragsbestimmungen zum Ausdruck. 68 Der EuGH hat den Grundfreiheiten allerdings erst nach und nach neben Diskriminierungsverboten auch Beschränkungsverbote entnommen. Die Ausweitung erfolgte im Jahre 1974 zunächst für die Waren- und Dienstleistungsfreiheit. In der (bis heute gültigen) Leitentscheidung Dassonville sah er als Maßnahme gleicher Wirkung (Art 28 EGV) „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten (an), die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern" 69 . Unter Beschränkungen iSd Dienstleistungsfreiheit (Art 49 EGV) sollen alle Anforderungen fallen, die „geeignet sind, die Tätigkeiten des Leistenden zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen" 70 . Ob die Personenverkehrsfreiheiten als Beschränkungsverbote ausgelegt werden können, war lange strittig.71 In seinem (das unterschiedslos im

66 67 68 69 70 71

Vgl EuGH, Slg 1999,1-3175 f f - C o l i m . Vgl § § 1 , 7 HandwO. Nur die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist sprachlich etwas anders formuliert. EuGH, Slg 1974, 837, Rn 5 - Dassonville. EuGH, Slg 1974, 1299, Rn 10 f f - v a n Binsbergen. Für Beschränkungsverbote bereits Ehlers N V w Z 1990, 810, 811; Behrens EuR 1992, 145, 151 fT; Roth in: HdBEUWirtschR E I Rn 69 ff.

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In- und Ausland angewandte Transfersystem im Profifußball betreffenden) BosmanUrteil 72 hat der EuGH die Frage für die Arbeitnehmerfreizügigkeit positiv beantwortet. Mitte der neunziger Jahre wurde in verschiedenen Urteilen die Niederlassungsfreiheit entsprechend interpretiert. 73 Eine Beschränkung der Personenverkehrsfreiheiten liegt insbesondere vor, wenn sich zwar keine offene oder versteckte Schlechterstellung grenzüberschreitender Vorgänge feststellen lässt, wohl aber die Grenzüberschreitung selbst behindert wird.74 Eine solche Behinderung kann selbst dann gegeben sein, wenn die Inländer noch schlechter als die EG-Ausländer behandelt werden.75 Dass die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art 56 EGV) auch unterschiedslos geltende Beschränkungen verbietet, folgt bereits aus dem eindeutigen Wortlaut („alle" Beschränkungen). 76 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eine Beschränkung der Grundfreiheiten anzunehmen ist, wenn nationale Maßnahmen die Ausübung dieser „Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können" 77 . Ergeben sich aus allen Grundfreiheiten nicht nur Diskriminierungs-, sondern auch Beschränkungsverbote, stellen sich diese zugleich als Freiheitsrechte dar. Im Schrifttum ist dieses Verständnis der Grundfreiheiten zwar nach wie vor umstritten. 78 Doch hätte es ansonsten der Verbürgungen wegen des ohnehin schon bestehenden Diskriminierungsverbotes des Art 12 EGV nicht bedurft. Auch lässt sich nur so eine weitergehende Marktöffnung erreichen. Da die Grundfreiheiten nur anwendbar sind, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt (Rn 20), setzt auch das Beschränkungsverbot Transnationalität voraus. Der grenzüberschreitende Sachverhalt wird aber umfassend (dh unabhängig von der Behandlung rein innerstaatlicher Vorgänge) geschützt. Die Eindringtiefe in das Recht der Mitgliedstaaten erhöht sich somit. Rechtstechnisch ergeben sich aus Beschränkungsverboten Abwehr-, dh Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche, wenn der verpflichtete Hoheitsträger einem Beschränkungsverbot zuwiderhandelt oder zuwiderzuhandeln droht.

72 EuGH, Slg 1995,1-4921, Rn 92 ff - Bosman. 73 Vgl namentlich EuGH, Slg 1993,1-1663, Rn 16 f - Kraus; Slg 1995,1-4165, Rn 34 ff - Gebhard; vgl zum Letzteren Ehlers!Lackhoff JZ 1996,467,468. Ausf zum Ganzen Lackhoff (Fn 49) S 358 ff. 74 Vgl etwa für die Gründung von Zweigniederlassungen EuGH, Slg 1999,1-1459 ff - Centros. Nach der Rechtssache Graf (Slg 2000, 1-493, Rn 23) hat der EuGH eine unterschiedslos anwendbare Regelung über Kündigungsabfindungen als Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit eingestuft, weil sie die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates daran hindern oder davon abhalten kann, ihr Herkunftsland zu verlassen. S auch Jarass, EuR 2000, 705, 711. 75 Vgl EuGH, Slg 2000, 1-2681, Rn 47 ff - Lehtonen, wonach Transferfristen für Basketballspieler die Arbeitnehmerfreizügigkeit von EG-Ausländern selbst dann verletzen können, wenn für inländische Spieler noch längere Fristen gelten. 76 Näher zu dem (vom EuGH bisher noch nicht hinreichend definierten) Begriff der Kapitalverkehrsbeschränkungen Bröhmer in: Calliess/Ruffert Art 56 EGV Rn 37 ff. 77 EuGH, Slg 1995,1-4165, Rn 37 - Gebhardt. Vgl auch Slg 1996,1-1905, Rn 10 - Guiot; Slg 1999, 1-8453, Rn 33 - Arblade; Slg 2001,1-2189, Rn 22 - Mazzoleni u ISA. 78 Für ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten zB Kingreen (Fn 2) S 115 ff mwN. Vgl auch Jarass EuR 1995, 202, 216 ff, der jedenfalls nunmehr den Grundfreiheiten aber auch Beschränkungsverbote entnimmt (EuR 2000, 705, 710 ff).

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Lösung Fall 1: Gegen die Zulässigkeil des Vorabentscheidungsersuchens gern Art 234 I lit a. II EGV bestehen keine Bedenken. Da C vorübergehend (vgl Art 50 III EGV) eine gewerbliche Tätigkeit (vgl Art 50 II lit a EGV) in einem anderen EG-Staat ausüben will, ist die Dienstleistungsfreiheit einschlägig. Art 49 EGV verbietet (nicht gerechtfertigte) Diskriminierungen und Beschränkungen. Das deutsche Recht verpflichtet unabhängig von der Staatsangehörigkeit alle handwerklich Tätigen zur Eintragung in die Handwerksrolle ( § 1 1 1 HandwO). Der EuGH geht deshalb (implizit) davon aus, dass keine (offene oder versteckte) Diskriminierung vorliegt. Da die Eintragungspflicht aber geeignet ist, die Erbringung der Dienstleistung „zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen", wird eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit angenommen. Eine solche kann abgesehen von Art 55 iVm Art 46 EGV nur gerechtfertigt werden, wenn sie auf zwingenden Gründen des Allgemeininteresses beruht, für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmelandes tätigen Personen oder Unternehmen gilt und das Interesse nicht durch Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleister in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist. Die ersten beiden Voraussetzungen sind gegeben. Namentlich stellt das Ziel, die Qualität der durchgeführten handwerklichen Arbeiten durch die Eintragung zu sichern und deren Abnehmer vor Schäden zu bewahren, einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar. Der E u G H zweifelt aber bereits daran, ob es einer Eintragung bedarf. Die Prüfung, welche der Eintragung in die Handwerksrolle vorausgehe, habe im Falle von EG-Ausländern einen formellen Charakter, weil die inländische Behörde an die Feststellungen des Herkunftslandes gebunden sei Jedenfalls hege ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Rn 47) vor, wenn das Verfahren so ausgestaltet werde, dass die Erbringung der Dienstleistung verzögert oder erschwert würde. Außerdem dürfe die Eintragung nicht zusätzliche Verwaltungskosten und die obligatorische Zahlung von Beiträgen an die Handwerkskammer nach sich ziehen. Im Ergebnis folgt aus dieser Auslegung des EuGH, dass das in Deutschland geltende System der Eintragung in die Handwerksrolle für ausländische Dienstleister gegen Art 49 EGV verstößt. Wegen des AnwendungsVorrangs des Gemeinschaftsrechts durfte die Geldbuße daher nicht verhängt werden. Das Amtsgericht muss den Betroffenen C freisprechen.

3. Die Grundfreiheiten als Leistungsrechte 27

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Fall 2: (EuGH, Slg 1997,1-6959 ff - Kommission/Italien = Embsen JK 99. EGV Art 30/2) Nach erfolgloser Abgabe einer begründeten Stellungnahme erhebt die EG-Kommission vor dem E u G H Klage auf Feststellung, dass die Französische Republik gegen Art 28 EGV verstoßen hat. Begründet wird dies damit, dass französische Landwirte seit vielen Jahren Anschläge auf Lastwagen verüben, mit denen Obst und Gemüse aus Spanien und Italien nach Frankreich importiert wird. Die französische Regierung verteidigt sich mit dem Hinweis. dass sie alle ihr zur Verfügung stehenden Maßnahmen getroffen habe. Wird die Klage erfolgreich sein? Leistungsrechte zielen auf positives hoheitliches Handeln ab. Sie lassen sich danach einteilen, o b sie auf abgeleitete Teilhabe (Rn 29), hoheitlichen Schutz (Rn 30) oder originäre Teilhabe (Rn 32) gerichtet sind. a) Abgeleitete Teilhaberechte

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Abgeleitete Teilhaberechte wurzeln im Gleichheitssatz und räumen dem gleichheitswidrig Ausgeschlossenen das Recht auf Teilhabe an einer gewährten hoheitlichen Begünstigung ein. Handelt es sich bei den Grundfreiheiten in erster Linie um Diskriminierungsverbote

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Allgemeine Lehren

§ 7 II 3

und somit um Gleichheitsrechte, kann nichts anderes gelten. Allerdings folgt aus einem rechtswidrigen Begünstigungsausschluss noch nicht notwendigerweise, dass die Leistung gewährt werden muss. So ist es im nationalen Recht anerkannt, dass sich ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz auf dreifache Weise beheben lässt: Die Begünstigung wird ausgedehnt, sie wird allen entzogen oder der Verstoß wird zum Anlass genommen, den Sachverhalt auf andere Weise neu zu regeln. Einen Anspruch auf die Leistung hat der Bürger nur in Ausnahmefällen, nämlich wenn eine verfassungsrechtliche oder (im Falle eines Verwaltungshandelns) gesetzliche Verpflichtung zur gleichheitswidrig vorenthaltenen Begünstigung besteht, wenn der Gesetzgeber ein komplexes Regelungssystem geschaffen hat und erkennbar daran festhalten will oder wenn eine Selbstbindung eingetreten ist (was grundsätzlich nur im Hinblick auf die Verwaltung denkbar erscheint).79 Im Gemeinschaftsrecht stellt sich die Rechtslage anders dar, weil normalerweise nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Beseitigung der Diskriminierung zu Lasten der Inländer erfolgen soll. Wird etwa den ausländischen Arbeitnehmern zu Unrecht eine Arbeitsunterstützung vorenthalten, ist nicht damit zu rechnen, dass zur Wiederherstellung der Gleichheit auch die deutschen Arbeitnehmer die Unterstützung verlieren sollen. Somit richtet sich das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten viel häufiger als im nationalen Recht auf Teilhabe, wenn und soweit die Diskriminierung auf der Vorenthaltung einer Begünstigung beruht.80 b) Recht auf hoheitliche Schutzgewähr Im deutschen Recht wird aus den Freiheitsgrundrechten unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch gegen den Staat auf Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater abgeleitet.81 Entsprechende Wirkungen vermögen die Grundfreiheiten zu entfalten. Handelshemmnisse können nicht nur von den Mitgliedstaaten oder den Europäischen Gemeinschaften selbst, sondern auch von Privaten ausgehen. Die Mitgliedstaaten (oder die EG) sind in ihrer Eigenschaft als Garanten der Grundfreiheiten82 ggf verpflichtet, hiergegen einzuschreiten. Die Verpflichtung zum Schutz kann mit einem Anspruch des zu Schützenden korrespondieren. Allerdings steht das Wie des Schutzes grundsätzlich im Ermessen der Mitgliedstaaten. Eine Verpflichtung zu einem bestimmten Einschreiten kann es nur in Ausnahmefällen geben. Wann der Einzelne einen Anspruch auf fehlerfreie Entscheidung bzw auf Vornahme bestimmter Schutzmaßnahmen hat, ist (ebenso wie im nationalen Recht) noch nicht hinreichend geklärt.83 Ein Anspruch dürfte erst anzunehmen sein, wenn das Untätigbleiben einer Beschränkung gleichkommt.

79 Vgl dazu auch PierothlSchlink Grundrechte, 17. Aufl 2001, Rn 485 f. 80 Vgl auch Kingreen (Fn 2) S 192. 81 Vgl die Rechtsprechungsnachweise bei Sachs in: Sachs (Hrsg) Grundgesetz, 3. Aufl 2002, Vor Art 1 G G Rn 35 mit Fn 65. Näher dazu Dietlein Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S 51 ff; krit Isensee FS Großfeld, 1999, S 485, 500 ff. 82 Vgl Burgi EWS 1999, 327, 329 f. 83 Näher zu den grundfreiheitlichen Schutzpflichten und den damit verbundenen Konsequenzen Schwarze EuR 1998, 53 ff; Szczekalla DVB1 1998, 219 ff; Burgi EWS 1999, 327 ff; Kühimg N J W 1999,403 f.

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§ 7 114

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Dirk Ehlers

Lösung Fall 2: Bedenken gegen die Zulässigkeil der Klage bestehen nicht. Die Kommission hat das in Art 226 E G V vorgesehene Verfahren eingehalten. Auch besteht keine Zuständigkeit für das Gericht erster Instanz (Art 225 EGV). weil der Beschluss 88/591/EGKS, EWG, E U R A T O M des Rates 84 dies nicht vorsieht. Begründe! ist die Klage, wenn Frankreich gegen Art 28 EGV verstoßen hat. Der freie Warenverkehr kann nicht nur durch Handlungen, sondern auch durch Unterlassungen eines Mitgliedstaates beeinträchtigt werden, wenn Privatpersonen den Handelsverkehr stören. Es steht im Ermessen der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung allein zuständigen Mitgliedstaaten, zu entscheiden, welche Maßnahmen in einer solchen Situation am geeignetsten sind, u m Beeinträchtigungen der Einfuhr zu beseitigen. Da sich Frankreich im vorliegenden Fall aber offenkundig und beharrlich geweigert hat, ausreichende und geeignete M a ß n a h m e n zu ergreifen, um die Sachbeschädigungen zu unterbinden, hat der E u G H zu Recht einen Verstoß gegen Art 28 EGV angenommen. c) Recht auf originäre Teilhabe

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Sieht m a n von den A n s p r ü c h e n auf G e w ä h r u n g von Schutz sowie den sogleich zu beh a n d e l n d e n verfahrensrechtlichen A n s p r ü c h e n ab, lässt sich aus den G r u n d f r e i h e i t e n ein A n s p r u c h auf Schaffung noch nicht v o r h a n d e n e r Einrichtungen oder die Gewährung zusätzlicher Vergünstigungen sonstiger Art nicht ableiten. Die normativen G r u n d l a g e n geben dies nicht her. Eine U m p o l u n g der G r u n d f r e i h e i t e n von Diskriminierungs- und B e s c h r ä n k u n g s v e r b o t e n in Leistungsgebote w ü r d e diese auch ü b e r f o r d e r n , den Spielraum der Mitgliedstaaten u n d des Gemeinschaftsgesetzgebers zu weit z u r ü c k d r ä n g e n u n d der europäischen Gerichtsbarkeit zu viel R a u m geben. Allenfalls in krassen A u s n a h m e f ä l l e n k ö n n t e etwas anderes gelten. 8 5 4. Die Grundfreiheiten

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als

Verfahrensrechte

Aus den G r u n d f r e i h e i t e n d ü r f t e n sich ferner Verfahrensgarantien e n t n e h m e n lassen. In R e c h t s p r e c h u n g u n d Literatur hat diese D i m e n s i o n der G r u n d f r e i h e i t e n bisher allerdings k a u m A u f m e r k s a m k e i t g e f u n d e n . Dies m a g d a r a u f z u r ü c k z u f ü h r e n sein, dass auch die A n w e n d u n g des Diskriminierungs- oder B e s c h r ä n k u n g s v e r b o t s o f t m a l s verfahrensrechtliche Auswirkungen haben k a n n , o h n e dass es notwendigerweise einer unmittelbaren Ableitung von Verfahrensrechten aus den G r u n d f r e i h e i t e n bedarf. Wird zB ein A n w a l t aus einem anderen Mitgliedstaat in D e u t s c h l a n d nicht zugelassen, weil er kein deutsches Staatsexamen abgelegt hat, stellt dies eine D i s k r i m i n i e r u n g oder eine B e s c h r ä n k u n g der Niederlassungsfreiheit dar. Die D i s k r i m i n i e r u n g oder B e s c h r ä n k u n g ist gerechtfertigt, wenn das deutsche Recht ein Verfahren zur Verfügung stellt, in d e m die Gleichwertigkeit des im H e r k u n f t s l a n d erworbenen D i p l o m s g e p r ü f t wird u n d wenn der A n w a l t die M ö g lichkeit erhält, die noch fehlenden Kenntnisse u n d Fähigkeiten (zB im Hinblick auf den deutschen Rechtskreis) in einer (vom Staatsexamen zu unterscheidenden) Z u s a t z p r ü f u n g nachzuweisen. Statt negativ zu argumentieren, k ö n n t e aber a u c h positiv aus der Nieder-

84 A B l N r 319/1; S a r t II N r 248. 85 Z B d ü r f t e die G r ü n d u n g e i n e r j u r i s t i s c h e n P e r s o n in e i n e m a n d e r e n M i t g l i e d s t a a t n a c h d e m R c c h t dieses M i t g l i e d s t a a t e s n i c h t d a d u r c h u n m ö g l i c h g e m a c h t w e r d e n , d a s s ü b e r h a u p t keine Rcclitsformen für juristische Personen vorgesehen werden.

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Allgemeine Lehren

§ 7 115

lassungsfreiheit ein Recht auf die genannten Verfahrensvorkehrungen abgeleitet werden, wenn die Zulassung zum Anwaltsberuf nach nationalem Recht vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation abhängt. So hat der EuGH in seiner VlassopoulouEntscheidung davon gesprochen, dass eine „Prüfung ... nach einem Verfahren vorgenommen werden muss, das mit den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts ... in Einklang steht" 86 . Unabhängig von der juristischen Konstruktion zeigt das Beispiel, dass sich aus den Grundfreiheiten nicht nur gelegentlich, sondern oftmals Verfahrensrechte ergeben.87 Auch die Schutzrechte laufen oftmals auf den Ausbau von Verfahrenspositionen hinaus. Schließlich hat der EuGH dem Gemeinschaftsrecht im Falle seiner unmittelbaren Anwendung und subjektivrechtlichen Wirkung einen Anspruch des Einzelnen auf effektiven Rechtsschutz entnommen. 88 Daher sollen die Mitgliedstaaten im Interesse der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts auch zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet sein.89 Der EuGH hat sich hierbei zwar in erster Linie auf Art 10 EGV berufen. Kommt es aber auf den Effet-utile-Gedanken an, kann dieses Gebot auch den Grundfreiheiten selbst entnommen werden. 5. Die Grundfreiheiten als Elemente objektiver Ordnung Von einer objektiv-rechtlichen Geltung der Grundfreiheiten wird kaum gesprochen. Gelegentlich wird eine solche Wirkung ausdrücklich abgelehnt. 90 Indessen lassen sich subjektive Rechte nur aus dem objektiven Recht herleiten.91 Objektives Recht und subjektives Recht können sich, müssen sich aber nicht entsprechen, weil nicht alle Verhaltensbindungen des objektiven Rechts mit einem subjektiven Recht korrespondieren. Die Grundfreiheiten haben eine objektiv-rechtliche Bedeutung. So strahlen sie auf alle Rechtsgebiete der Mitgliedstaaten sowie auf das von den Organen der Gemeinschaft erlassene Recht aus. Dies hat zur Folge, dass das gesamte mitgliedstaatliche Recht (einschließlich des Privatrechts) und das Sekundärrecht der Gemeinschaften grundfreiheitskonform ausgelegt werden muss.92 Ferner verpflichten die Grundfreiheiten die Mitgliedstaaten (und Gemeinschaften) unter bestimmten Voraussetzungen zur Gewährung hoheitlichen Schutzes (Rn 30) und zu Verfahrensvorkehrungen (Rn 33). Da den Grundfreiheiten möglichst reale Geltung verschafft werden soll, dürften ihnen bereits dann (nicht einklagbare) Bindungswirkungen entnommen werden können, wenn ein Anspruch (sei es auch nur auf ermessensfehlerfreie Entscheidung) noch nicht gegeben ist.93 In keinem Falle wirken die Grundfreiheiten kompetenzbegründend oder kompetenzerweiternd. Will die EG die

86 EuGH, Slg 1991,1-2357, Rn 22 - Vlassopoulou. 87 Vgl statt vieler auch E u G H , Slg 1996,1-2691, Rn 8 ff - Kommission/Italien. 88 Vgl E u G H , Slg 1986, 1651, Rn 18 f - Johnston; Slg 1987, 4097, Rn 14 - Heylens; Tonne Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1997, S 200 ff; Ehlers (Fn 25) S 3, 126. 89 Vgl E u G H , Slg 1990,1-2433, Rn 19 - Factortame. 90 Kingreen (Fn 2) S 200 f. 91 Missverständlich daher zB auch BVerfGE 7, 198, 205; 50, 290, 337, wonach die deutschen Grundrechte „auch" eine objektive Wertordnung enthalten. 92 Vgl auch Jarass EuR 1991, 211, 222; dens EuR 1995, 202, 211; Zuleeg VVDStRL 53 (1993), 154, 165 ff. 93 Allgemein zur Wirkung von Grundrechten als Elemente objektiver Ordnung Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl 1999, § 9 Rn 290 ff.

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§7 III 2

Dirk Ehlers

Grundfreiheiten konkretisieren oder erweitern oder das einschlägige mitgliedstaatliche Recht angleichen, muss von den Ermächtigungen zur Ausgestaltung der Grundfreiheiten (zB Art 40,44,47, 52, 53 EGV) Gebrauch gemacht werden.

III. Berechtigte der Grundfreiheiten 1. Staatsangehörige der Mitgliedstaaten 35

Träger der Grundfreiheiten sind vor allem die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten. Dies ergibt sich für die Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit aus den Art 39 II, Art 43 I, Art 49 I EGV. Für die Freiheit des Waren- sowie des Kapital- und Zahlungsverkehrs kann nichts anderes gelten. Über den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit entscheiden grundsätzlich94 die Mitgliedstaaten allein. Als deutsche Staatsangehörige sind alle Deutschen iSd Art 116 GG anzusehen.95 Zu den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten gehören zT auch die Angehörigen überseeischer Länder und Hoheitsgebiete wie zB von Gibraltar oder Martinique96 (vgl näher dazu Rn 45). Berechtigt werden in erster Linie die EG-Ausländer, bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts (Rn 20) auch die Inländer. Besitzt eine Person sowohl die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EG als auch eines Drittstaates, reicht Ersteres aus.97 Teilweise werden weitere Anforderungen gestellt. ZB gesteht Art 43 I 2 EGV nur Ansässigen die Errichtung einer sekundären Niederlassung zu. Unerheblich ist, ob die Staatsangehörigen volljährig oder geschäftsfähig sind. Hierauf kann es nur für die Geltendmachung (zB in einem gerichtlichen oder einem Verwaltungsverfahren) ankommen (Rn 90 ff). 2. Juristische Personen und Personenmehrheiten innerhalb der Gemeinschaft

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Kraft ausdrücklicher Anordnung der Art 48 I, Art 55 EGV werden im Bereich der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit die Gesellschaften den natürlichen Personen, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind, gleichgestellt. Unter Gesellschaften versteht der EG-Vertrag Gesellschaften des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen (Art 48 II EGV). Auf eine rechtliche Verselbstständigung kommt es nicht an. Entscheidend ist nur eine rechtlich vorstrukturierte Organisationsform, so dass deutsche Gesellschaften bürgerlichen Rechts auch dann erfasst werden, wenn man ihnen neben der Rechtsfähigkeit auch eine Teilrechtsfahigkeit abspricht.98 Aus der Erwähnung von Genossenschaften und juristischen Personen des öffentlichen Rechts folgt, dass der Begriff des Erwerbszwecks weit zu verstehen ist und nicht iSe Gewinnstrebens ausgelegt werden darf. Ausreichend ist vielmehr jede Teilnahme am Wirtschaftsleben mittels Angebots einer entgeltlichen, auf

94 Zu den Ausnahmen vgl Wölker in: G T E Vorb Art 48 bis 50 E G V Rn 44. 95 Dies ergibt sich auch aus einer in die Schlussakte aufgenommenen Erklärung der Bundesrepublik Deutschland bei der Unterzeichnung der Römischen Verträge (BGBl II 1957, 764). 96 Näher dazu Wölker in: G T E Vorb Art 48 bis 50 EGV Rn 46 ff. 97 Vgl EuGH, Slg 1992,1-4239, Rn 11 - Micheletti. 98 H M vgl Randelzhofer in: Grabitz/Hilf Art 58 E G V Rn 3. Krit Bröhmer in: Calliess/Ruffert Art 48 EGV Rn 4.

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teilweise Kostendeckung abzielenden Tätigkeit." Z u den juristischen Personen gehören neben den Stiftungen und Vereinen auch die juristischen Personen des öffentlichen Rechts staatlicher Provenienz und sogar die Staaten selbst, sofern sie sich (zB durch nichtrechtsfähige Betriebe) im EG-Ausland wirtschaftlich betätigen wollen. Gleichstellungsvoraussetzung mit den natürlichen Personen ist aber, dass die „Gesellschaften" nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründet worden sind und in der Gemeinschaft eine Präsenz (satzungsmäßigen Sitz, Hauptverwaltung, Hauptniederlassung) haben ( A r t 48 I E G V ) . A u f die Staatsangehörigkeit der Gesellschafter 100 kommt es ebenso wenig wie auf das Vorliegen einer tatsächlichen dauerhaften Verbindung mit der Wirtschaft eines Mitgliedstaates an.101 Im Falle des A r t 43 I 2 E G V muss die Gesellschaft in der Gemeinschaft ansässig sein. D a sich ein Binnenmarkt nicht verwirklichen lässt, wenn sich Gesellschaften iSd A r t 48 I I E G V nicht auf die Freiheit des Waren- sowie des Kapital- und des Zahlungsverkehrs berufen können, gilt insoweit dasselbe wie für die Inanspruchnahme der Niederlassungsund Dienstleistungsfreiheit. Selbst die Arbeitnehmerfreizügigkeit soll nach der Rechtsprechung des E u G H nicht nur natürlichen Personen zugute kommen. Vielmehr könne sich auch ein Arbeitgeber auf A r t 39 E G V berufen, wenn er im Mitgliedstaat seiner Niederlassung einen Angehörigen aus einem anderen Mitgliedstaat mangels dessen Wohnsitzes im Inland nicht beschäftigen dürfe.102 Unerheblich ist, ob es sich bei dem Arbeitgeber um eine natürliche oder juristische Person handelt. 3. Drittstaatler sowie juristische außerhalb der Gemeinschaft

Personen und

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Personenmehrheiten

Unter bestimmten Voraussetzungen können sich auch Drittstaatler oder juristische Personen und Personenmehrheiten außerhalb der Gemeinschaft auf die Grundfreiheiten berufen. So unterfallen der Warenverkehrsfreiheit auch Waren aus dritten Ländern, die sich im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden ( A r t 23 II, A r t 24 E G V ) . Dies spricht dafür, alle mit solchen Waren handelnde Personen unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einem Mitgliedstaat in den Schutz einzubeziehen.103 Entsprechendes ist für den freien Kapital- und Zahlungsverkehr anzunehmen, weil dieser auch Beschränkungen „zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern" verbietet und damit die freie Zirkulation von Kapital in der Gemeinschaft ungeachtet seiner Herkunft ermöglichen soll.104 Schließlich schützen die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit auch die (möglicherweise aus Drittstaaten stammenden) Familienangehörigen der Berechtigten und vermitteln ihnen einen selbstständigen Anspruch auf Einhaltung der Freiheiten.105 Gemäß A r t 15 I I I der Charta der Grundrechte ( R n 15) sollen die Staatsangehörigen dritter Länder, die im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten arbeiten dürfen, Anspruch auf Arbeitsbedingungen haben, die denen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger entsprechen.

99 100 101 102 103

Vgl a Oppermann ER Rn 1586; Scheuer in: Lenz Art 48 EGV Rn 1. Vgl Ahlt Europarecht, 2. Auf] 1996, S 109. Lackhoff (Fn 49) S 193 f. EuGH, Slg 1998,1-2521, Rn 19 ff- Clean Car. Ebenso Jarass EuR 2000, 705, 708. A A Kingreen (Fn 2) S 79 mit dem Hinweis darauf, dass die Warenverkehrsfreiheit gern Art 310 EGV Gegenstand von Assoziationsabkommen sein kann. 104 Im Ergebnis ebenso Weber in: Lenz Art 56 EGV Rn 24. 105 Vgl auch Brechmann in: Calliess/Ruflert Art 39 EGV Rn 8; Lackhoff (Fn 49) S 182.

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§ 7 IV 2

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IV. Verpflichtete der Grundfreiheiten

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Fall 3: ( E u G H , Slg 2000,1-4139 ff - Angonese = Ehlers J K 01. E G V Art 39/1) Der Kl des Ausgangsverfahrens ist italienischer Staatsangehöriger deutscher Muttersprache und hat sein Studium in Österreich absolviert. Er bewarb sich auf eine Ausschreibung hin bei einer privaten Bankgesellschaft in Bozen (Bekl). Für die Zulassung zum Auswahlverfahren forderte die Bankgesellschaft den Beweis der Zweisprachigkeit in Form einer Bescheinigung der öffentlichen Verwaltung, die nur in Bozen ausgestellt wird. Da der Kl die Bescheinigung nicht beibrachte, wurde seine Bewerbung abgewiesen. Nach Einreichung einer Klage bei einem italienischen Gericht setzte dieses das Verfahren aus und ersuchte den EuGl 1 um Vorabentsehetdung der Frage, ob der in Art 39 EGV niedergelegte Grundsatz der Freizügigkeit einer Beschränkung des Nachweises der Zweisprachigkeit auf ein bestimmtes Diplom entgegensteht.

1. Mitgliedstaaten der Europäischen 40

Gemeinschaften

Verpflichtungsadressaten der G r u n d f r e i h e i t e n sind in erster Linie die Mitgliedstaaten. D a die G r u n d f r e i h e i t e n unmittelbare W i r k u n g im innerstaatlichen Recht entfalten ( R n 7), ist der Begriff des Mitgliedstaates in einem f u n k t i o n a l e n Sinne zu verstehen. Erfasst werden alle Träger von Staatsgewalt. D a z u gehören neben B u n d , L ä n d e r n u n d K o m m u n e n sowie den sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts staatlicher Provenienz einschließlich der K a m m e r n 1 0 6 die zur G ä n z e u n m i t t e l b a r oder mittelbar von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts getragenen juristischen Personen des Privatrechts (wie die staatlichen oder k o m m u n a l e n Eigengesellschaften). G e b u n d e n wird sowohl der Mitgliedstaat, in d e m der E m p f ä n g e r der wirtschaftlichen Leistung sitzt oder in dem die Niederlassung begehrt wird, als auch der Ausgangsstaat." 1 7 Unerheblich ist, welcher H a n d lungsformen sich die Mitgliedstaaten bedienen. 1 " 8 Ferner werden alle Einrichtungen, deren Verhalten einem Mitgliedstaat a u f g r u n d des von ihm ausgeübten beherrschenden Einflusses zugerechnet werden k a n n , in A n s p r u c h genommen." 1 '' Einen beherrschenden Einfluss k a n n der Staat zB a u s ü b e n , wenn die Mitglieder der nicht zur staatlichen Verwaltungsorganisation g e h ö r e n d e n E i n r i c h t u n g vom Staat e r n a n n t u n d aus öffentlichen Mitteln finanziert w e r d e n " " oder wenn die der staatlichen Aufsicht unterstehende E i n r i c h t u n g mit Rechten ausgestattet wird, „die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften f ü r die Beziehungen zwischen Privatpersonen g e l t e n " 1 " .

2. Europäische Gemeinschaften 41

N e b e n den Mitgliedstaaten sind a u c h die Europäischen Gemeinschaften selbst u n d ihre Organe an die G r u n d f r e i h e i t e n g e b u n d e n . " 2 Einerseits k a n n der B i n n e n m a r k t ebenfalls

106 Vgl zu den Standesorganisationen mit hoheitlichen oder hohcitsähnlichen Befugnissen EuGH, Slg 1989, 1295. Rn 15 f Royal Pharmaceutical Society; Slg 1993. 1-6787, 6821 Hünermund. 107 Jarass EuR 2000. 705. 714. 108 Vgl EuGH, Slg 1982, 4005, Rn 3 IT Kommission/Irland. 109 Vgl EuGH, Slg 1983, 4083, Rn 16 f Apple and Pear Development Council; Slg 1990. 1-4625, Rn 16 IT Hennen Olie. 110 EuGH, Slg 1990, 1-4625. Rn 15 Hennen Olie. 111 Vgl EuGH, Slg 1990, 1-3313, Rn 18 Foster. 112 Vgl EuGH, sfg 1984. 1229. Rn 18 REWE; Slg 1994. 1-3879, Rn 11 Meyliui; Jarass EuR

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durch Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaften behindert werden. Andererseits sollen die Grundfreiheiten im gesamten Gemeinschaftsgebiet Beachtung finden. Sie stehen als primärrechtliche Rechtsquellen an der Spitze der gemeinschaftsrechtlichen Normenhierarchie und gehen daher im Kollisionsfall dem Sekundärrecht (Art 249 I EGV: „nach Maßgabe dieses Vertrags") vor.113 Es wäre auch widersprüchlich, wenn die Gemeinschaften den Mitgliedstaaten Pflichten auferlegen dürften, die für sie selbst nicht gelten. Soweit ersichtlich, haben der EuGH und das Gericht erster Instanz eine Verletzung der Grundfreiheiten durch die Gemeinschaftsorgane bisher allerdings noch nicht bejaht. 114 3.

Privatpersonen

Nicht eindeutig geklärt ist, ob die Grundfreiheiten auch für Privatpersonen verpflichtende Wirkungen zu entfalten vermögen.115 Der EuGH hat eine unmittelbare Bindung Privater an die Grundfreiheiten (sog unmittelbare Drittwirkung) jedenfalls im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Dienstleistungsfreiheit sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV anerkannt. 116 Es soll verhindert werden, dass Beschränkungen, die den Mitgliedstaaten untersagt sind, durch Handlungen Privater in Ausnutzung ihrer Vertragsfreiheit errichtet werden. Die Fälle betrafen aber vor allem Maßnahmen, in denen es um den Schutz Einzelner vor der Macht privater Verbände (insbesondere Sportverbände) ging.117 In der neueren Rspr scheint der EuGH darüber hinausgehen und auch im Übrigen eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten gegenüber privaten Wirtschaftsteilnehmern anerkennen zu wollen.118 Die Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten ist alles andere als unproblematisch. Schon der Wortlaut der Bestimmungen („zwischen den Mitgliedstaaten") knüpft zumeist an ein staatliches Handeln an. Auch die Rechtfertigungsgründe für die Beschränkung der Grundfreiheiten (insbesondere: öffentliche Ordnung und Sicherheit) sind auf ein staatliches Tätigwerden zugeschnitten. Ob diese Gründe auch von Privatpersonen geltend gemacht werden können (wie der EuGH annimmt 119 ), ist sehr zweifelhaft, da Private andere Zwecke als die Träger von Staatsgewalt verfolgen. Zwar gewähren die Grundfreiheiten Schutz vor diskriminierenden oder freiheitsbeschränkenden privatrechtlichen Normen, weil diese den Staaten zuzurechnen sind. Geht es dagegen um ein diskriminierendes oder freiheitsbeschränkendes privatautonomes Handeln, spricht vie-

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1995, 202, 211; Schwemer Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, 1995, S 45; Kingreen/Störmer EuR 1998, 263, 277. Zum Anwendungsvorrang des niederrangigen Rechts vgl Rn 7. Vgl aber auch v Bogdandy JZ 2001, 157, 166, der der Rspr des EuGH entnimmt, dass lediglich offensichtliche Verstöße der Rechtssetzungsorgane der Union verboten sind. Vgl EGGH, Slg 1984, 2171, Rn 13 ff - Denkavit; Slg 1994, 1-3879, Rn 9 ff - Meyhui; Slg 1997, 1-3629, Rn 24 ff - Kieffer. Näher dazu Roth FS Everling, Bd II, 1995, S 1231 ff; Jaensch Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997; Kluth AöR 122 (1997), 557 ff; StreinzlLeíble EuZW 2000,459 ff. Vgl EuGH, Slg 1974, 1405, Rn 16 ff - Walrave; Slg 1976, 1333, Rn 17 ff - Doná; Slg 1995, 1-4921, Rn 84 - Bosman; Slg 2000, 1-2681 ff - Lehtonen. Zur Warenverkehrsfreiheit vgl EuGH, Slg 1981, 181, Rn 16 ff - Dansk Supermarked (dazu Roth FS Everling, Bd II, 1995, S 1231, 1234 0, zur Niederlassungsfreiheit EuGH, Slg 1977, 1091, Rn 28 - van Ameyde. Vgl Herdegen ER Rn 284. Vgl Rn 39. Ferner EuGH, Slg 1998,1-2521, Rn 19 ff - Clean Car. Vgl besonders deutlich EuGH, Slg 1995,1-4921, Rn 86 f - Bosman.

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les f ü r d i e A n n a h m e , d a s s d i e G r u n d f r e i h e i t e n ä h n l i c h w i e d i e n a t i o n a l e n G r u n d r e c h t e nur A n s p r ü c h e gegen den Staat (oder die E G ) auf Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen P r i v a t e r v e r m i t t e l n k ö n n e n ( R n 30). 1 : 0 I m Ü b r i g e n bliebe d e r S c h u t z g e g e n ü b e r p r i v a t e n H a n d l u n g e n d a n n d e n W e t t b e w e r b s v o r s c h r i f t e n ( A r t 81 ff E G | : | ) u n d d e m S e k u n d ä r r e c h t überlassen.

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Lösung Fall 3: I. Zulässigkeit d e r Vorlage: Die Vorlage bezieht sich auf die A u s l e g u n g des Art 39 E G V u n d d a m i t a u f die Auslegung des Vertrages iSv Art 234 1 Iii a EGV. Bedenken gegen die Z u lässigkeit d e r Vorlage k ö n n t e n sich d e s h a l b ergeben, weil es auf die E n t s c h e i d u n g des E u G H u U nicht a n k o m m t . Die E G - G r u n d f r e i h e i t e n beziehen sich nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte ( R n 20). D a der Kl. der von G e b u r t an Bewohner der Provinz Bozen war. nie üi einem a n d e r e n Staat eine wirtschaftliche Tätigkeit a u s g e ü b t hat und d a s S t u d i u m in Österreich in keinem spezifischen Z u s a m m e n h a n g z u m Rechtsstreit steht, lässt sich hier an einem G e m e i n s c h a f t s b e z u g des Falles zweifeln. D e r E u G H ü b e r p r ü f t j e d o c h g r u n d s ä t z l i c h nicht die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung. N a c h s t R s p r d a r f d a s E r s u c h e n eines n a t i o n a l e n G e r i c h t s nur zurückgewiesen werden, wenn „offensichtlich" kein Z u s a m m e n h a n g zwischen d e r erbetenen Auslegung des G e m e i n s c h a f t s r e c h t s und d e m G e g e n s t a n d des A u s g a n g s v e r f a h r e n s besteht (so z B E u G H , Slg 1998, 1-2055, 2065 - C a b o u r ) . Eine solche Offensichtlichkeit verneint der E u G H hier. II. Vereinbarkeit des S p r a c h e n n a c h w e i s e s mit A r t 39 E G V : D i e F r a g e der Vereinbarkeit stellt sich nur, w e n n A r t 39 E G V auch Privatpersonen bindet. O b w o h l es hier nicht um i n t e r m e d i ä r e Gewalten (gesellschaftliche I n s t i t u t i o n e n mit besonderen M a c h t b e f u g n i s s e n ) geht, k o m m t der E u G H zu d e m Ergebnis, dass das in Art 39 E G V a u s g e s p r o c h e n e Verbot der D i s k r i m i n i e r u n g a u f g r u n d der Staatsangehörigkeit a u c h f ü r Privatpersonen gilt. D a s Gericht stützt sich hierbei a u f drei A r g u m e n t e : seinem Wortlaut n a c h schließe Art 39 E G V eine u n m i t t e l b a r e A n w e n d u n g a u f P r i v a t p e r s o n e n nicht aus (1), die A r b e i t n e h m e r f r e i z ü g i g keit k ö n n e nicht nur durch staatliche, s o n d e r n auch durch private M a ß n a h m e n behindert werden (2) u n d schließlich gebiete es die einheitliche A n w e n d u n g des G e m e i n s c h a f t s r e c h t s , Art 39 E G V nicht a n d e r s als Art 12 und 141 E G V auszulegen, die ebenfalls jegliche Disk r i m i n i e r u n g verhindern sollten (3). Folgt m a n dieser (keineswegs zwingenden) A r g u m e n tation, ist a u c h die verklagte private Bankgesellschaft an A r t 39 E G V g e b u n d e n . Die von der Bekl aufgestellte Verpflichtung, w o n a c h der' Z u g a n g zu einem A u s w a h l v e r f a h r e n zur Einstellung v o n P e r s o n a l v o m Besitz einer einzigen S p r a c h e n b e s c h e i n i g u n g der Verwaltung in Bozen a b h ä n g i g ist, stellt auch eine D i s k r i m i n i e r u n g dar. da es für Personen, die nicht in der Provinz Bozen w o h n e n , schwierig oder u n m ö g l i c h ist, die Bescheinigung zu erwerben, und die S t a a t s a n g e h ö r i g e n der a n d e r e n Mitgliedstaaten im Verhältnis zu den E i n w o h n e r n d e r Provinz Bozen benachteiligt werden. Die D i s k r i m i n i e r u n g lässt sich nach Ansieht des E u G H a u c h nicht rechtfertigen. Z w a r sei es legitim, von einem Bewerber um eine Stelle S p r a c h k e n n t n i s s e eines b e s t i m m t e n Niveaus zu verlangen. Es müsse aber als unverhältnism ä ß i g angesehen werden, w e n n es u n m ö g l i c h sei, die Nachweise auf andere Weise zu erbringen als durch ein einziges in einer einzigen Provinz eines Mitgliedstaates ausgestelltes D i p l o m . D a h e r hat der E u G H ein Z u w i d e r h a n d e l n gegen Art 39 E G V a n g e n o m m e n .

120 Krit zur Rspr des E u G H auch Jnenseli Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997. 81 IT: Kliiili AöR 122 (1997) 557. 568 ff; Strein:ILeihle EuZW 2000. 459. 464 IT; Kadelhaehl Petersen E u G R Z 2002, 213. 220. Für eine unmittelbare Drittwirkung Steiiulorf/ in: FS Lerche. 1993. 575, 581 IT; (hinten Die Drittwirkung der Grundfreiheiten. 2000. 56 IT. 121 Durch die Wettbewerbsvorschriften werden nicht sämtliche handelsbehindernde private Ver-

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Allgemeine Lehren

§7 VI

V. Räumlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten Den räumlichen Geltungsbereich des EG-Vertrages und damit den der Grundfreiheiten umschreibt Art 299 EGV. Angeknüpft wird an das Staatsgebiet der Mitgliedstaaten, dh jenen Teils der Erdoberfläche, des darunter befindlichen Bodens, des Luftraums sowie der Gewässer, über die der Staat nach völkerrechtlichen Grundsätzen122 die Gebietshoheit ausübt. Da an die Mitgliedstaaten als solche angeknüpft wird, gilt das Prinzip der beweglichen Vertragsgrenzen. Verändert sich das Hoheitsgebiet eines Staates (wie zB nach der deutschen Wiedervereinigung), wird damit (vorbehaltlich vertraglicher Sonderregelungen) der Geltungsbereich des EG-Vertrages einschließlich der Grundfreiheiten ausgedehnt. Bestimmte überseeische und sonstige Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten unterfallen dem EG-Vertrag (Art 299 II, IV, V EGV), während andere Gebiete (Art 299 III iVm Anh II) ebenso wie die europäischen Zwergstaaten (zB Andorra, Monaco, San Marino, Vatikanstadt) ganz oder teilweise ausgenommen sind.123 Von den Grundfreiheiten erfasst werden alle Rechtsbeziehungen, die aufgrund des Ortes, an dem sie entstanden sind oder an dem sie ihre Wirkung entfalten, einen räumlichen Bezug zum Gebiet der Gemeinschaft aufweisen.124 Ferner wirken die Grundfreiheiten über die Außengrenzen der Gemeinschaft hinaus, wenn sie einen engen Bezug zum Recht eines Mitgliedstaates und damit zu den einschlägigen Regeln des Gemeinschaftsrechts besitzen. So hat der EuGH etwa entschieden, dass sich eine belgische Staatsangehörige, die in der deutschen Botschaft in Algier beschäftigt ist, auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen kann.125 Auch wenn die Mitgliedstaaten Nutzungsrechte außerhalb ihrer Hoheitsgewässer besitzen, sind sie an die Freiheiten des Personenverkehrs und an die Dienstleistungsfreiheit gebunden.126

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VI. Zeitlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist am 1.1.1958 in Kraft getreten. Mit Ablauf der Übergangsfristen haben die Grundfreiheiten unmittelbare Wirkung erlangt (Rn 7). Für neu beigetretene Staaten richtet sich der Zeitpunkt des Inkrafttretens der Grundfreiheiten nach der Beitrittsakte. Gern Art 312 EGV gilt der Vertrag auf unbegrenzte Zeit. Eine Kündigung ist nicht vorgesehen. Da die Mitgliedstaaten die Herren der Verträge geblieben sind,127 kommt aber eine außerordentliche Kündigung nach Maßgabe des (restriktiv auszulegenden) allgemeinen Völkerrechts (Art 60 ff WVRK) in Betracht. Ein Ausschluss von Mitgliedstaaten dürfte kaum in Frage kommen, allenfalls

122 123 124 125 126 127

haltensweisen verboten, sondern nur solche, die zu einer spürbaren Handlungsbeeinträchtigung geeignet sind. Zudem werden weitere Voraussetzungen verlangt (spürbare Wettbewerbsverfälschung, unternehmerisches und nicht rein privates Handeln, marktbeherrschende Stellung), vgl Streinz/Leible EuZW 2000, 459, 464. Vgl Graf Vitzthum in: Graf Vitzthum VR 5. Abschn Rn 15; KIpsen VR § 5 Rn 4. Vgl auch die Protokolle zu den Gemeinschaftsverträgen, zB Protokoll Nr 16 betreffend den Erwerb von Immobilien in Dänemark, Sart II Nr 151. Vgl im Hinblick auf einen auch außerhalb der Gemeinschaft tätigen Radsportverband EuGH, Slg 1974, 1405, Rn 28 f - Walrave. EuGH, Slg 1996,1-2253, Rn 15 ff - Boukhalfa. Vgl Streinz ER Rn 96. AA Pernice DVB12000, 1751 ff.

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§ 7 VII 1

Dirk Ehlers

kann eine einstweilige Suspendierung von mitgliedstaatlichen Rechten zulässig sein (im Hinblick auf die Grundfreiheiten nur, wenn diese für die Mitgliedstaaten günstig sind).12" In zeitlicher Hinsicht bestimmt sich die Auslegung der Grundfreiheiten grundsätzlich nach dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens und der unmittelbaren Anwendbarkeit. 12 '' In seltenen Ausnahmefällen (wenn eine objektiv existierende, bedeutende Unsicherheit über die Tragweite der Gemeinschaftsbestimmung bestand und die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen gegeben ist,11" kann sich aus dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit die Notwendigkeit ergeben, die Rechtswirkungen einer die Grundfreiheit konkretisierenden Entscheidungen des E u G H auf die Zukunft zu beschränken. 111

VII. Schutzbereiche, Beeinträchtigungen und Schranken der Grundfreiheiten 47

Für die Überprüfung der Vereinbarkeit von Maßnahmen mit den Grundfreiheiten des europäischen Gemeinschaftsrechts hat sich bisher kein festes Schema eingebürgert. Doch lässt sich ähnlich wie bei der Prüfung von Grundrechtsverletzungen danach unterscheiden, ob der Schutzbereich (bzw Geltungs- oder Anwendungsbereich) einer Grundfreiheit berührt wird (Rn 49 ff), ob eine Beeinträchtigung vorliegt (Rn 59 ff) und ob die Beeinträchtigung gerechtfertigt ist (Rn 72 ff). 1. Schutzbereich

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der

Grundfreiheiten

Kall 4: (EuGH. Slg 1991,1-5627 ff Bleis) Die deutsche Staatsangehörige B hat beim französischen Bildungsministerium die Zulassung zum externen Auswahlverfahren für den Erwerb eines Befähigungsnachweises für das Lehramt an höheren Schulen im Fach Deutsch beantragt. Der Antrag wurde wegen ihrer Staatsangehörigkeit abgelehnt. Das daraufhin angerufene französische Gericht hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die Beschäftigung als Lehrkraft für das höhere Lehramt eine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung iSd Art 39 IV EG V darstellt. Die Grundfreiheiten vermögen ihren Schutz nur zu entfalten, wenn ein Tun, Dulden oder Unterlassen in sachlicher, personeller, räumlicher und zeitlicher Hinsicht an den Grundfreiheiten gemessen werden kann. a) Sachlicher Schutzbereich

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In sachlicher Hinsicht setzen die Grundfreiheiten dreierlei voraus. Zunächst muss ein grenzüberschreitender Bezug gegeben sein (vgl Rn 19 ff u 240- Sodann werden nur bestimmte Verhaltensweisen von Personen geschützt: nämlich solche, die sich auf den Warenverkehr, die Betätigung von Arbeitnehmern, die Niederlassung, den Dienstleistungsverkehr sowie den Kapital- oder Zahlungsverkehr beziehen (vgl Rn 2 ff). Die einschlägigen

128 Vgl Art 7 E U V und Art 309 EGV. 129 Vgl E u G H , Slg 1995, 1-2229, R n 42 Roders; Slg 1998, 1-5325. Rn 46 Kommission/Frankreich. 130 E u G H , Slg 1995, 1-2229, R n 43 Roders; E u G H . Slg 2001. 1-6193, R n 53 - Grzelczyk = Ehlers JK 02, E G V Art 12/1. 131 E u G H , Slg 2000. 1-3625, Rn 39 Buchner.

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Allgemeine Lehren

§ 7 VII1

Garantien sind weit auszulegen. Schließlich darf keine Bereichsausnahme vorliegen, dh keine Ausklammerung aus dem Schutzbereich. Der EG-Vertrag kennt verschiedene ausdrückliche Bereichsausnahmen. So findet die 51 Garantie der Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung (Art 39IV EGV —> § 9 Rn 27). Ferner erstrecken sich die Bestimmungen über die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nicht auf die Tätigkeiten, die in einem Mitgliedstaat dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind (Art 45 I iVm Art 55 EGV § 10 Rn 42; § 11 Rn 33). Zudem kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission beschließen, dass die Kapitel über die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit auf bestimmte Tätigkeiten keine Anwendung finden (Art 45 II iVm Art 55 EGV). Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben, gelten gern Art 86 II 1 EGV die Vorschriften des Vertrages nur, soweit die Anwendung dieser Vorschrift nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Teilweise werden die genannten Bestimmungen nicht als sachliche Bereichsausnahmen, 52 sondern als Schrankenregelungen in Gestalt von Rechtfertigungsnormen angesehen. Während sich eine Grenze des sachlichen Anwendungsbereichs durch eine abstrakte Festlegung sowie dadurch auszeichne, dass es nicht auf die relative Bedeutung kollidierender Rechtsgüter ankomme, sei für die Rechtfertigung einer Maßnahme kennzeichnend, dass sie verhältnismäßig sein müsse.132 Dieser Betrachtungsweise ist nicht zu folgen.133 Zum einen ist der Wortlaut der genannten EG-Vorschriften eindeutig („keine Anwendung", „gelten ..., soweit"; im englischen Text: „shall not apply", „shall be the subject of the rules ... insofar"). Des Weiteren zeigt auch die Gegenüberstellung von Art 45 und 46 EGV, dass der EG-Vertrag zwischen Bereichsausnahmen und Rechtfertigungsbestimmungen unterscheidet. In Art 46 EGV wird die Rechtfertigungsebene ausdrücklich angesprochen. Wäre Art 45 EGV ebenfalls eine Rechtfertigungsnorm, gäbe eine gesonderte Regelung keinen Sinn. Schließlich sind Bereichsausnahmen ebenso wie unbestimmte Rechtsbegriffe im Tatbestand einer Norm durchaus einer relativierenden Abwägung zugänglich.134 Der Abwägungsprozess verläuft aber nicht identisch wie bei Rechtfertigungsvorschriften. So geht es hier nicht darum, eine praktische Konkordanz zwischen kollidierenden Rechtsgütern herzustellen, sondern die Bereichsausnahmen teleologisch im Lichte der Vertragsbestimmungen nachvollziehend auszulegen. In diesem Sinne spricht der EuGH zB davon, dass die Ausnahmen nicht weiter reichen dürfen, „als der Zweck es erfordert, um dessen Willen sie vorgesehen sind".135 Da es sich bei den Bereichsausnahmen um gemeinschaftsrechtliche Freistellungsrege- 53 lungen handelt, bestimmt sich deren Reichweite nach dem Gemeinschaftsrecht und nicht 132 Vgl namentlich Jarass EuR 1995, 202, 221 f; dens FS Everling, Bd I, 1995, S 593, 604 f; dens EuR 2000, 705, 717 f. 133 Vgl Ehlers NVwZ 1990, 810, 812; Kingreen (Fn 2) S 76 f; Streinz ER Rn 697; Lackhoff (Fn 49) S 152 f. 134 Vgl etwa BVerwGE, NVwZ 1995, 1129, wonach ein Ausweisungsgrund schwerwiegend iSd § 48 I AuslG ist, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers ein deutliches Übergewicht hat. 135 Vgl EuGH, Slg 1974, 631, Rn 42 f - Reyners. Vgl ferner EuGH, Slg 1988, 1637, Rn 10 - Kommission/Griechenland.

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§ 7 VII 1

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Dirk Ehlers

nach mitgliedstaatlichem Recht.136 Es besteht Übereinstimmung darüber, dass die Vorschriften ihrem Ausnahmecharakter entsprechend eng auszulegen sind. So zählen zu den Beschäftigungen in der öffentlichen Verwaltung iSv Art 39 IV EGV nur diejenigen Stellen, die „eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind".137 Unter die Ausnahmeregelung fallen zB Richter, Soldaten und Polizisten, nicht aber Beschäftigte der öffentlichen Verwaltung in den Bereichen Forschung, Bildungswesen, Gesundheitswesen oder Versorgung mit Wasser, Gas und Elektrizität. 138 Eine Ausübung öffentlicher Gewalt iSv Art 45 I EGV ist nur anzunehmen, wenn die Tätigkeit mit dem Recht verbunden ist, einseitig verbindliche Anordnungen zu treffen.139 Auch bei der Anwendung des Art 86 II EGV wird betont, dass die Ausnahme von der Geltung der Vertragsvorschriften erforderlich sein muss.140 Ohnehin darf nach Art 86 II 2 EGV die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaße beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. Fraglich ist, ob es neben den geschriebenen auch ungeschriebene Bereichsausnahmen gibt. Seit seiner grundlegenden Cassis de .Di/'ow-Entscheidung aus dem Jahre 1979141 geht der EuGH in stRspr davon aus, dass die Grundfreiheiten auch durch „zwingende Erfordernisse" (im Allgemeininteresse liegende Zwecke142) begrenzt oder eingeschränkt werden dürfen. Ob es sich hierbei um Bereichsausnahmen in Form negativer Tatbestandsmerkmale oder um Rechtfertigungsgründe handelt, ist umstritten. 143 Die Rspr des EuGH ist nicht eindeutig. In der Casju-Entscheidung scheint der EuGH von Tatbestandsmerkmalen des Art 30 EGV (heute Art 28 EGV) ausgegangen zu sein. In anderen (insbesondere neueren) Entscheidungen wird aber ausdrücklich von Rechtfertigung gesprochen.144 Da eine volle Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen ist, empfiehlt es sich, die zwingenden Erfordernisse der Rechtfertigungsebene zuzuordnen. b) Personeller, räumlicher und zeitlicher Schutzbereich

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Die Grundfreiheiten schützen nur bestimmte Personen (Rn 35 ff). Ferner setzt ihre Anwendung voraus, dass der Geltungsbereich der Grundrechte in räumlicher (Rn 45) und zeitlicher (Rn 46) Hinsicht gegeben ist. Wegen der Einzelheiten kann auf die oben getroffenen Ausführungen verwiesen werden. 136 Vgl etwa (für Art 39 IV EGV) EuGH, Slg 1980, 3881 f - Kommission/Belgien. 137 EuGH, Slg 1980, 3881 - Kommission/Belgien; Slg 1996, 1-3285 ff - Kommission/Griechenland. Nach hM müssen die Kriterien kumulativ vorliegen. Vgl Brechmann in: Calliess/RufFert Art 39 EGV Rn 106; Schneiderl Wunderlich in: Schwarze Art 39 EGV Rn 135; -> § 9 Rn 27. 138 Vgl Schneider/Wunderlich in: Schwarze Art 39 EGV Rn 140 mit Rspr-Nachw. 139 Vgl auch Schlussanträge GA Mayras, EuGH, Slg 1974, 631, 665 - Reyners (wenn der Staat „dem Bürger gegenüber von Sonderrechten, Hoheitsprivilegien und Zwangsbefugnissen Gebrauch macht"). Näher dazu Jarass RIW 1993, 1, 4; Troberg in: GTE Art 55 EGV Rn 2; Lackhoff (Vn 49) S 158. 140 Vgl statt vieler v Burchard in: Schwarze Art 86 EGV Rn 51 ff, 71 fT. 141 EuGH, Slg 1979, 649 ff - REWE. 142 EuGH, Slg 1997,1-3689, Rn 8 - Familiapress. 143 Für immanente Tatbestandsausnahmen zB JestedtlKaestle EWS 1994, 26, 27; Schilling EuR 1994, 50, 52; Ahlt (Fn 100) S 91. Für die Einordnung als Rechtfertigungsgründe Hirsch, ZEuS 1999, 503, 511; LechelerlGundel Übungen S 107, 109 f; Jarass EuR 2000, 705, 719. 144 Vgl zB EuGH, Slg 1997,1-3689, Rn 18 - Familiapress; Slg 1997,1-3843 ff - De Agostini.

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Allgemeine Lehren

§ 7 VII 1

c) K o n k u r r e n z e n D a die G r u n d f r e i h e i t e n einen unterschiedlichen Schutzbereich haben, entscheidet die B e s t i m m u n g des Schutzbereichs zugleich über die Abgrenzung der Grundfreiheiten untereinander. Diese A b g r e n z u n g k a n n namentlich d a n n Schwierigkeiten bereiten, wenn es u m die Z u o r d n u n g von A n n e x r e c h t e n geht. Z B k a n n die W e r b u n g f ü r ein P r o d u k t als flankierendes Recht der Warenverkehrsfreiheit anzusehen sein, 145 die W e r b u n g k a n n sich aber ebenso als Dienstleistung darstellen. 14(1 Fällt ein Verhalten unter den Schutzbereich mehrerer G r u n d f r e i h e i t e n , zwischen denen ein Spezialitätsverhältnis besteht, bestimmt sich der Schutz allein n a c h der speziellen Regelung. So hat die Dienstleistungsfreiheit nur subsidiären C h a r a k t e r , weil Dienstleistungen nur Leistungen sind, die „nicht den Vorschriften über den freien Waren- u n d Kapitalverkehr u n d über die Freizügigkeit der Personen unterliegen" (Art 50 I E G V ) . Gern A r t 305 E G V gehen die Bestimmungen des E G K S V u n d E A G V denen des EG-Vertrages u n d d a m i t a u c h den G r u n d f r e i h e i t e n vor. Im Zweifel neigt der E u G H dazu, Handlungsweisen n a c h ihrem S c h w e r p u n k t der einen oder anderen G r u n d f r e i h e i t zuzuordnen. 1 4 7 So wird m a n etwa die M i t n a h m e des U m z u g s g u t s bei einem U m z u g von einem Mitgliedstaat in einen anderen zwecks A u s ü b u n g einer selbstständigen Erwerbstätigkeit sowie die in diesem Z u s a m m e n h a n g erfolgenden Direktinvestitionen der Niederlassungs- u n d nicht der Warenverkehrs- sowie der Kapitalverkehrsfreiheit z u z u o r d nen haben. Im Übrigen schließen sich die G r u n d f r e i h e i t e n nicht notwendigerweise aus. Sie k ö n n e n wegen verschiedener N o r m z w e c k e auch n e b e n e i n a n d e r A n w e n d u n g finden. 1 4 " Lösung Fall 4: Gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens gern Art 234 EGV bestehen keine Bedenken. Eine Beschäftigung iSv Art 39 IV E G V ist nur anzunehmen, wenn eine Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben gegeben ist. die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates (o anderer öffentlicher Körperschaften) gerichtet sind und deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen. Als Ausnahme vom Grundprinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist Art 39 IV E G V so auszulegen, dass sich seine Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der durch die N o r m geschützten Interessen unbedingt erforderlich ist. Die pädagogische Tätigkeit eines Lehrers ist nicht typischerweise mit hoheitlichen (einseitigen) Befugnissen verbunden. Zudem ist nicht ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des Stelleninhabers zum Staat unerlässlich. Daher stellt die Beschäftigung als Lehrkraft für das höhere Lehramt keine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung iSd Art 39 IV E G V dar.

145 Zur Unvereinbarkeit eines diskriminierenden Werbeverbots für Waren mit der Warenverkehrsfreiheit vgl Rn 61. 146 Vgl zB EuGH, Slg 1995, 1-1141 fT Alpine Investments. 147 Vgl zB EuGH, Slg 1994, 1-1039, Rn 20 ff Schindler; Slg 1994, 1-4837, Rn 14 - van Schaik. 148 Die Rspr des EuGH ist nicht eindeutig. So spricht der EuGH teilweise davon, dass die Schutzbereiche der Art 39. 43 u 49 EGV einander ausschließen (EuGH, Slg 1995. 1-4165, Rn 18 ff Gebhard), andererseits begnügt er sich mit einer Gesamtschau (etwa der Art 39 u 43 EGV) oder stellt einen Verstoß gegen „Art 48. 52" (heute Art 39 u 43 EGV) fest (EuGH, Slg 1996, 1-1307. Rn 24 Kommission/Frankreich; Slg 1997, 1-3327, Rn 16 - Kommission/Irland). Wie hier MiilIcr-GrafJ in: GTE Art 30 EGV Rn 332.

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§ 7 VII 2 2. Beeinträchtigung

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Dirk Ehlers des Schutzbereichs

der

Grundfreiheiten

Fall 5: (EuGH, Slg 1995,1-1923 ff-Mars) Die M-GmbH Führt aus Frankreich Eiscremeriegel nach Deutschland ein, die in Frankreich von einem amerikanischen Konzern zum Zwecke des europaweiten Vertriebs rechtmäßig hergestellt werden. Im Rahmen einer Werbekampagne ist die Menge der Eisriegel um 10 % erhöht worden. Auf der Verpackung wurde hierauf mittels des Aufdrucks „plus 10 %" auf farblich hervorgehobener Fläche hingewiesen, wobei der Hinweis deutlich mehr als 10 % der Gesamtfläche des Riegels ausmacht. Ein in Deutschland gegründeter Verein zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs klagt vor einem deutschen Gericht auf Unterlassung der Werbeaktion. Einerseits liege ein Verstoß gegen das GWB vor (f 14). Der Aufdruck „plus 10 f f " sei geeignet, beim Verbraucher die Vorstellung hervorzurufen, das neue Erzeugnis werde zum gleichen Preis wie das alte angeboten. Die Händler dürften daher nicht den Preis erhöhen. Eine Preisbindung sei aber nicht mit dem GWB vereinbar. Andererseits sei die optische Gestaltung irreführend, da Verbraucher annehmen könnten, die Vergrößerung sei bedeutender als angegeben. Das deutsche Gericht möchte der Klage stattgeben, hat aber Bedenken, ob dies mit Art 28 EGV vereinbar wäre. a) Handeln eines Verpflichteten

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Der Schutzbereich der Grundfreiheiten kann nur durch das Handeln eines Verpflichteten beeinträchtigt werden. Als Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten kommen nach der Rspr des E u G H nicht nur die Mitgliedstaaten und die Europäischen Gemeinschaften, sondern uU auch Privatpersonen in Betracht (vgl näher dazu Rn 40 ff). b) Art und Weise der Beeinträchtigung aa) Erfordernis einer Diskriminierung oder Beschränkung

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Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten setzen weiter voraus, dass die Verpflichteten in bestimmter Weise auf die Grundfreiheiten einwirken. Als Modalitäten der Einwirkung kommen Diskriminierungen (Rn 19 ff) sowie unterschiedslose Beschränkungen (Rn 24 0 in Betracht. Besteht eine Rechtspflicht zum Handeln - zB in Form der Gewährung hoheitlichen Schutzes (Rn 30) oder der Vornahme von Verfahrensvorkehrungen (Rn 33) können sich auch Unterlassungen und Duldungen als Beschränkungen darstellen. bb) Vorliegen einer Diskriminierung oder Beschränkung (1) Diskriminierungsbegriff

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Der E u G H legt einen sehr weiten Diskriminierungsbegriff zugrunde. Eine Diskriminierung ist anzunehmen, wenn ein grenzüberschreitender Vorgang notwendig oder typischerweise schlechter als der rein interne behandelt wird. Das Diskriminierungsverbot enthält somit ein Schlechterstellungsverbot.149 Dieses ist in der Regel, aber nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit einer Inländergleichbehandlung (weil zur Beseitigung der Diskriminierung auch eine Besserstellung der EG-Ausländer gegenüber den Inländern in Betracht kommt).1™ Relevant sind nur Schlechterstellungen im Hinblick auf den grenzüberschrei-

149 Vgl zB E u G H , Slg 19B9, 195, R n 10 fT C o w a n ; Jarass E u R 1995, 202, 216. 150 F ü r ein R e e h t d e r I n l ä n d e r a u f G l e i c h b e h a n d l u n g d a g e g e n Lackhoff ( F n 49) S 222 ff.

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Allgemeine Lehren

§ 7 VII 2

tenden Vorgang, nicht sonstige Ungleichbehandlungen (zB allein von Erzeugern und Verbrauchern oder Männern und Frauen). Eine Schlechterstellung in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn sich die Differenzierungen nicht ohne Rückgriff auf ein Kriterium mit grenzüberschreitendem Bezug oder grenzüberschreitender Auswirkung (zB Staatsangehörigkeit, Wohnsitz, Herstellungsort, Niederlassungsort, Sprache usw) begründen lässt. Neben offenen werden auch versteckte Diskriminierungen erfasst (Rn 22). Unerheblich ist, ob die Schlechterstellung des grenzüberschreitenden Vorgangs -

auf finalem Handeln beruht oder unbeabsichtigt war, auf einen Rechts- oder einen Realakt zurückgeht, unmittelbar oder mittelbar verursacht worden ist, tatsächlich oder potentiell wirkt und sie schwerwiegende oder geringe Beeinträchtigungen nach sich zieht.

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Ganz entfernte Wirkungszusammenhänge dürften allerdings auszuscheiden sein. ,sl

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(2) Beschränkungsbegriff Dem weiten Diskriminierungsbegriff entspricht ein ebenso weiter Beschränkungsbegriff. 64 Dies lässt sich besonders deutlich am Beispiel der Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit zeigen. Art 28 EGV verbietet nicht nur mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen (die heute kaum noch vorkommen), sondern auch alle Maßnahmen gleicher Wirkung. Nach der DassonviY/e-Formel des EuGH fällt darunter jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, „die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern"' 52 . Dies bedeutet, dass es auf die Finalität, Vorhersehbarkeit und rechtliche Qualität der Maßnahme nicht ankommt und auch noch nicht eingetretene, aber mögliche Behinderungen sowie geringfügige Schutzbereichsbeeinträchtigungen als Beschränkungen anzusehen sind. Im Ergebnis ist danach nur auf die Wirkung der Maßnahme bzw auf den Erfolg abzustellen. Eine Beschränkung liegt bereits dann vor, wenn die (grenzüberschreitende) Ausübung der Warenverkehrsfreiheit in irgendeiner Weise behindert oder weniger attraktiv gemacht wird. Entsprechendes ist für die anderen Grundfreiheiten anzunehmen (Rn 24). Der äußerst weite Beschränkungsbegriff des EuGH, der sich deutlich von den an das 65 Vorliegen von Grundrechtseingriffen in Deutschland gestellten Anforderungen absetzt, führte dazu, dass eine schier unübersehbare Zahl mitgliedstaatlicher Maßnahmen im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten einem Rechtfertigungstest unterzogen werden konnten und mussten. So hat der EuGH zB auch das Sonntagsverkaufsverbot in Wales153 oder das in Deutschland geltende wettbewerbsrechtliche Verbot einer Preisgegenüberstellung154 als Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit angesehen. Es sei zwar wenig wahrscheinlich, dass sich die Verbraucher durch derartige Regelungen vom Erwerb der Erzeugnisse abhalten ließen. Gleichwohl könnten aber negative Folgen für das

151 Die Rechtslage ist insoweit ebenso wie bei den Beschränkungen. Vgl dazu die folgenden Ausführungen. 152 Vgl Fn 69. 153 EuGH, Slg 1989, 3851 ff - Torfaen Borough Council; vgl auch EuGH, Slg 1991,1-1027 ff - Marchandise; Slg 1992,1-6635 ff - B & Q. 154 EuGH, Slg 1993, 1-2361, Rn 11 f - Yves Rocher = Kunig JK 94, EWGV Art 30/4; vgl auch EuGH, Slg 1982,4575, Rn 14 f - Oosthoek.

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Verkaufsvolumen und folglich auch für das Einfuhrvolumen nicht ausgeschlossen werden.' 55 Um einer uferlosen Ausdehnung der Grundfreiheiten und einer damit verbundenen Überlastung des E u G H entgegenzuwirken, hat der Gerichtshof in dreifacher Hinsicht versucht, zu einer Eingrenzung der Grundfreiheiten zu kommen. Zunächst hat er in seiner Cass/s-Rspr herausgearbeitet, dass Beschränkungen der Grundfreiheiten hingenommen werden müssen, wenn sie auf zwingenden Erfordernissen beruhen. 156 Hierbei handelt es sich nach der hier vertretenen Ansicht allerdings nicht um eine Tatbestandsbeschränkung, sondern um die Zulassung weiterer Rechtfertigungsgründe (Rn 50 ff). Dagegen hat der Gerichtshof erstmals in der Rechtssache Keck eine Tatbestandsreduzierung vorgenommen. 157 Schließlich hat der E u G H verschiedentlich darauf hingewiesen, dass eine gewisse Nähebeziehung zwischen Maßnahme und beeinträchtigender Wirkung gegeben sein müsse. Eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten soll danach ausscheiden, wenn die Auswirkungen einer Maßnahme zu unbestimmt und zu mittelbar sind.158 Wo die Grenze einer solchen die Dassonville-Formel beschränkende „rule of remoteness" zu ziehen ist, ist bislang nicht hinreichend deutlich geworden und dürfte sich auch nur im Einzelfall klären lassen.159 Besonderes Interesse verdient die Einschränkung der Reichweite der Grundfreiheiten durch die Äec/c-Rspr des E u G H (—> § 8 Rn 32 ff). In der Rechtssache Keck hat es der Gerichtshof abgelehnt, das französische Verbot, Waren unter Einkaufspreis weiterzuverkaufen, an der Garantie des Art 28 EGV zu messen. Entgegen der bis dahin geltenden Rspr seien mitgliedstaatliche Regelungen, die nur bestimmte Verkaufsmodalitäten betreffen, nicht als Maßnahmen gleicher Wirkung anzusehen, weil sie iSd Urteils Dassonville nicht geeignet seien, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern. Voraussetzung ist nach der Entscheidung des E u G H allerdings, dass die Regelungen inländische und ausländische Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berühren. Die A^ecfc-Rspr, die durch zahlreiche Entscheidungen des E u G H bestätigt worden ist,160 zwingt dazu, produkt- und vertriebsbezogene Maßnahmen voneinander abzugrenzen. Im Gegensatz zu den ersteren stellen sich letztere nicht als Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit dar, wenn sie unterschiedslos gelten. Die Abgrenzung von produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen kann erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Eine schematische Trennung lässt sich nicht durchführen. 161 So stellen Werbeverbote zumeist Verkaufsmodalitäten dar. Wird auf einem Produkt geworben (vgl Rn 58) oder handelt es sich um

155 So für das Sonntagsverkaufsverbot EuGH, Slg 1991,1-997, Rn 8 Conforama. 156 E u G H , Slg 1979, 649 ff - REWE. 157 E u G H , Slg 1993, 1-6097, Rn 14 ff. Siehe hierzu statt vieler Behrens EuR 1992, 145 fT; Roth Z H R 1995, 78, 86 f; Oliver Free movement of goods in the European Community, 3. Auf! 1996, S 100 ff; dens CMLRev 1999, 97 ff. 158 Vgl namentlich EuGH, Slg 1996, 1-2975, Rn 32 - Semeraro; ferner Slg 1993, 1-5009, Rn 9 C M C Motorradcenter; Slg 1994, 1-3453, Rn 24 - Peralta; Slg 1999, 1-6269, Rn 16 - BASF; Slg 2000,1-493, Rn 24 f - Graf. 159 Vgl näher dazu Becker EuR 1994, 162, 170; Ebenroth FS Pieper, 1998, S 133, 142; Oliver CMLRev 1999, 97 ff; DeckertlSchroeder JZ 2001, 88, 90. 160 Vgl zur Rspr die Angaben bei Müller-Graff in: G T E Art 30 EGV Rn 255; Epiney in: Callies/ Ruffert Art 28 EGV Rn 29. 161 Vgl auch Kingreen (Fn 2) S 125; Becker in: Schwarze Art 28 EGV Rn 49; - » § 8 Rn 34 ff.

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ein generelles Werbeverbot, ist die Rechtslage eine andere.162 Leitend dürfte der Gedanke sein, dass eine Erschwerung des Zugangs zu einem Markt in einem anderen Mitgliedstaat immer an Art 28 EGV gemessen werden muss, während die diskriminierungsfreie Regulierung zugelassener Waren den Mitgliedstaaten überlassen bleiben kann. 163 Nicht hinreichend geklärt ist ferner, ob sich die Grundsätze der Äecfc-Rspr auf die anderen Grundfreiheiten übertragen lassen. Am naheliegendsten ist eine Übertragung auf die Dienstleistungsfreiheit, weil jedenfalls dann, wenn nur die Dienstleistung die Grenze überschreiten soll, die Mobilität einer produktähnlichen Leistung in Rede steht (—> aA § 11 Rn 52). Der EuGH hat deshalb in der Entscheidung Alpine Investments (in der es um das Verbot einer grenzüberschreitenden Telefonwerbung ging) die Kriterien der KeckEntscheidung auch für die Dienstleistungsfreiheit fruchtbar gemacht. 164 Doch dürfte der Grundgedanke der Keck-Rspr auch bei den anderen Grundfreiheiten insofern heranzuziehen sein, als es darum geht, den überaus weiten Anwendungsbereich der Grundfreiheiten dann näher einzugrenzen, wenn nicht der Markt- oder Berufszugang (dh das Ob der wirtschaftlichen Betätigung), sondern das Verhalten im Markt oder die Berufsausübung (also das Wie der wirtschaftlichen Betätigung) in Rede steht.165 Voraussetzung ist allerdings stets, dass es sich um nicht diskriminierende Beschränkungen handelt.

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cc) Abgrenzung von Diskriminierungen und Beschränkungen In welchem Verhältnis das Diskriminierungs- und das Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten zueinander stehen, lässt sich der Rechtsprechung und Literatur nicht eindeutig entnehmen. Zumeist enthält eine Beschränkung zugleich eine (zumindest versteckte) Diskriminierung und umgekehrt. So lag in der Rechtssache Cassis de Dijon[66, in der es um die Beschränkung des Warenverkehrs für alkoholische Getränke durch Festsetzung eines Mindestalkoholgehalts ging, zwar formal eine für In- und Ausländer unterschiedslos geltende Maßnahme vor. Tatsächlich war die Inlandsproduktion aber im Vorteil, weil sie typischerweise bereits dem Standard entsprach und somit ohne zusätzliche Anpassungskosten vermarktet werden konnte.167 In keiner Weise diskriminierend, sondern nur beschränkend wirken dagegen zB allgemein geltende Transferregeln im professionellen Sport,168 nationale Regelungen, nach denen inländischen und EG-ausländischen Arbeitnehmern kein Abfindungsanspruch zusteht, wenn sie ihr Arbeitsverhältnis selbst kündi-

162 Vgl Stein EuZW 1995,435, 436. 163 Nach den Ausführungen im Urteil Keck „fallen nationale Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, nur dann nicht in den Anwendungsbereich des Art 28 EG, wenn diese nicht geeignet sind, den Marktzugang für Erzeugnisse aus einem anderen Mitgliedstaat zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tun". Vgl auch EuGH, Slg. 2001,1-1795 ff - Gourmet International; Becker in: Schwarze Art 28 EGV Rn 49. 164 EuGH, Slg 1995,1-1141, Rn 33 ff - Alpine Investments. 165 Vgl für die Arbeitnehmerfreizügigkeit Brechmann in: Calliess/Ruffert Art 39 EGV Rn 49, für die Niederlassungsfreiheit Schlag in: Schwarze Art 43 EGV Rn 55, für die Freiheit des Kapitalverkehrs Bröhmer in: Calliess/Ruffert Art 56 EGV Rn 51. Wie hier DeckertlSchroeder JZ 2001, 88 ff. 166 EuGH, Slg 1979, 649 ff - REWE. 167 Gundel Jura 2001, 79, 83. 168 Vgl EuGH, Slg 1995,1-4921, Rn 99 - Bosman. Nach Epiney (Fn 47) S 61 f, ist es nicht möglich, versteckte Diskriminierungen und Beschränkungen auseinander zu halten.

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gen,"'1' sowie nationale Regelungen, die inländische und EG-ausländische Arbeitgeber zur Zahlung eines Mindestlohns an ihre Arbeitnehmer verpflichten 17 ". Eine Verletzung (nur) des Beschränkungsverbots ist sogar denkbar, wenn die Inländer typischerweise schlechter als die EG-Ausländer behandelt werden. 171 Der E u G H tendiert dazu, bei offenen Diskriminierungen nur hierauf (und nicht auf die Beschränkung) abzustellen. 172 Im Falle eines Zusammentreffens von versteckten Diskriminierungen und Beschränkungen wird jedenfalls dann, wenn der Markt- oder Berufszugang als solcher behindert und damit in den Kernbereich der Gewährleistung eingegriffen wird, vielfach nur das Beschränkungsverbot geprüft. 1 7 ' Geht es dagegen um den Randbereich der Gewährleistungen (zB um die Einzelheiten der Ausübung eines selbstständigen Berufs), wird oft nur danach gefragt, ob eine Diskriminierung vorliegt. 174 So ergibt sich aus der Xec£-Rspr, dass die Regelung von Verkaufsmodalitäten nur an den Grundfreiheiten gemessen werden kann, wenn eine Diskriminierung vorliegt. Hieraus ist gefolgert worden, dass sich das Beschränkungsverbot und das Verbot einer (faktischen) Diskriminierung nicht überschneiden, sondern die Grundfreiheiten im Kernbereich nur Beschränkungsverbote, im Randbereich nur Diskriminierungsverbote darstellen. 175 Nach der hier vertretenen Ansicht können indessen Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote nebeneinander stehen. Hierfür spricht auch, dass die Grundfreiheiten primär als Diskriminierungsverbote formuliert sind, sich Kernund Randbereichsbeeinträchtigungen oft schwer auseinanderhalten lassen und jedenfalls offene Diskriminierungen auch im Falle von Zugangsbeschränkungen nicht einfach als unerheblich abgestempelt werden dürfen. Wenn und soweit sowohl ein Diskriminierungsais auch ein Beschränkungsverbot gilt, müssen beide getrennt untersucht werden. Uberschneiden sich Diskriminierung und Beschränkung, kommt es auf das Auseinanderhalten dieser beiden Beeinträchtigungsformen jedoch dann nicht entscheidend an, wenn die Rechtfertigungsgründe identisch sind (vgl R n 72 ff).

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Lösung Fall 5: Da die Eisriegel des amerikanischen Konzerns in Frankreich hergestellt werden, handelt es sich um eine aus einem Mitgliedstaat stammende Ware (Art 23 II EGV), Ein staatliches (durch Wettbewerbsvorschriften und (oder) Gerichtsurteil ausgesprochenes) Verbot, das sich gegen das Inverkehrbringen der Ware in Deutschland richtet, stellt sich iSd DassonviUeFormel als eine Maßnahme gleicher Wirkung dar, weil der imiergemeinschaftliche Handel beschränkt wird Es geht auch nicht nur um eine bloße Verkaufsmodalität iSd Keck-Rspr. Der Produktbezug ergibt sich aus dein Umstand, dass die angegriffene Werbung auf der

169 E u G H . Slg 2000, 1-493. R n 15 ff G r a f . 170 E u G H . E u Z W 2002, 245, R n 16 ff P o r t u g a i a Constru § 2 R n 37). Gleiches k ö n n t e auch f ü r die G r u n d f r e i h e i t e n a n z u n e h m e n sein. In j e d e m Falle bedarf die Beeinträchtigung der G r u n d f r e i h e i t e n einer ausreichend klaren u n d bestimmten Rechtsgrundlage.

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EuGH, Slg 1989, 2859. Rn 19 Hoechsl. —> Zu den Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt vgl auch § 13 Rn 41. Im Ergebnis tendenziell ebenso Jarass EuR 1995, 202, 222. Vgl auch Jarass EuR 1995, 202. 222; Kingrcun (Fn 2), S 153.

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b) Ausdrückliche Schranken 74

Der EG-Vertrag enthält für alle Grundfreiheiten ausdrückliche Schrankenregelungen (Art 30, Art 39 III, Art 46 iVm Art 55, Art 57 I, Art 58 I EGV). Alle Regelungen erlauben zumindest eine Beschränkung aus G r ü n d e n der öffentlichen Ordnung und (oder) Sicherheit. F ü r die Beschränkung des Warenverkehrs nennt der Vertrag zahlreiche weitere Rechtfertigungsgüter (Sittlichkeit, Gesundheit, Leben, nationales Kulturgut, gewerbliches und kommerzielles Eigentum). Die Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit darf auch aus G r ü n d e n der Gesundheit beschränkt werden (bei den zuletzt genannten Freiheiten allerdings nur, wenn es um Sonderregelungen für Ausländer geht). Eine Beschränkung der Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs ist insbesondere im Verhältnis zu Drittstaaten (Art 57 E G V ) sowie aus steuerlichen G r ü n d e n erlaubt, wobei die Schranken der Niederlassungsfreiheit unberührt bleiben (Art 58 II EGV). Die im Vertragstext aufgezählten Rechtfertigungsgüter sind abschließend. 18 " Die Schrankenregelungen gelten für sämtliche Formen der Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten.

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Als Öffnungsklausel f ü r die Rechtfertigung mitgliedstaatlicher M a ß n a h m e n könnte vor allem der Begriff „öffentliche Ordnung und (oder) Sicherheit" in Frage kommen. Diese gemeinschaftsrechtlichen Rahmenbegriffe sind indessen - gänzlich anders als im deutschen Recht - nach stRspr des E u G H eng auszulegen."11 Dies wird insbesondere aus dem Ausnahmecharakter hergeleitet. Es müssen staatliche Interessen von fundamentaler Bedeutung berührt sein,1X2 dh wesentliche Grundregeln des Gemeinwesens (öffentliche Ordnung) oder die innere oder äußere Sicherheit (öffentliche Sicherheit). Nicht dazu gehört beispielsweise der Verbraucherschutz. 1 8 1 Im Übrigen können auch andere Bestimmungen des EG-Vertrages die Grundfreiheiten partiell zurückdrängen. So stellt ein Gesetz, das den in bestimmten Teilen eines Staatsgebiets ansässigen Betrieben einen prozentualen Anteil an öffentlichen Lieferaufträgen garantiert, nicht nur eine M a ß n a h m e gleicher Wirkung, sondern auch eine Beihilfe dar. Wendet man Art 28 und Art 87 E G V parallel an, können die besonderen Regelungen der Art 87 ff EGV, insbesondere die Rechtfertigungsvorschriften, unterlaufen werden. Daher wird man in solchen Fällen davon auszugehen haben, dass sich das „ O b " der Förderung allein nach den Art 87 ff E G V bestimmt, während das „Wie", dh die nähere Ausgestaltung der Beihilfe, auch am M a ß s t a b der Art 28 ff E G V zu überprüfen ist. 184

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c) Ungeschriebene Schranken

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Fall 6: (EuGH, Slg 1998, 1-1931 ff Kohll) Nach luxemburgischen Recht werden die Kosten einer ärztlichen Behandlung im Ausland von der gesetzlichen Krankenversicherung nur erstattet, wenn auf einer Auslandsreise ein Notfall eintritt oder der Patient zuvor eine Genehmigung der Krankenversicherung eingeholt hat. Der luxemburgische Staatsangehörige K möchte eine Zahnregulierung in Deutsch-

180 Die Insbesondere-Regelung des Art 85 I lit b E G V bezieht sich auf unerlässliehe M a ß n a h m e n . 181 Vgl etwa E u G H , Slg 1977, 5, Rn 12 ff - Bauhuis; Slg 1981. 1625. Rn 7 Kommission/Irland; Slg 1991, 1361, 1377 Kommission/Griechenland. 182 Vgl Becker in: Schwarze Art 30 E G V Rn 11. 183 Vgl E u G H . Slg 1984. 3651, Rn 18 f Kohll. 184 Vgl Ehlers J Z 1992, 199 f. AA wohl E u G H . Slg 1990, 1-889, Rn 22 ff Du Pont de N e m o u r s Italiana.

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land v o r n e h m e n lassen. Die G e n e h m i g u n g h i e r f ü r ist ihm aber verweigert w o r d e n . E r m ö c h t e wissen, o b dies m i t d e n G r u n d f r e i h e i t e n v e r e i n b a r ist.

aa) Entwicklung der Rechtsprechung Entnimmt man einerseits den Grundfreiheiten nicht nur ein weites Diskriminierungs-, sondern auch ein weites Beschränkungsverbot und legt man andererseits die Schrankenregelungen des EG-Vertrages äußerst eng aus, führt dies zu einem sehr geringen Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten. Dies wird der Regelungsintention der Grundfreiheiten jedoch nicht gerecht. Der E u G H hat deshalb in der Cassis de Z)yon-Entscheidung zwingende Erfordernisse der Mitgliedstaaten als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe anerkannt (Rn 50 ff). Als solche wurden „insbesondere" die Erfordernisse einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes hervorgehoben. Doch kommen auch sonstige im Allgemeininteresse liegende Zwecke mit Ausnahme rein wirtschaftlicher Gründe 1 8 5 in Betracht. Die zunächst für den freien Warenverkehr entwickelten ungeschriebenen Schranken sind später auf alle anderen Grundfreiheiten übertragen worden, wobei die Terminologie ohne Unterschied in der Sache leicht variiert. 186 Der Casws-Rspr ist ein Wertungswiderspruch vorgeworfen worden, weil die enge Auslegung der ausdrücklichen Schrankenregelungen und die Verneinung ihrer Analogiefähigkeit nicht mit der großzügigen Anerkennung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe in Einklang gebracht werden könne. 181 In methodischer Hinsicht wird dafür plädiert, die ausdrücklichen Tatbestandsmerkmale „öffentliche Ordnung" und „öffentliche Sicherheit" erweiternd auszulegen. 188 Doch wird das Vorgehen des Gerichtshofs jedenfalls dann verständlich, wenn man die geschriebenen Schrankenregelungen auf alle Formen der Beeinträchtigung, die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe dagegen nur auf bestimmte Beeinträchtigungen bezieht (vgl die folgenden Ausf).

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bb) Geltung der ungeschriebenen Schranken für diskriminierende Beeinträchtigungen Die Ca.v.vi.v-Rspr ist für unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, dh ausschließlich für nicht diskriminierende Beschränkungen, entwickelt worden.18"' In vielen neueren Entscheidungen hat der E u G H den Rechtfertigungsgrund der zwingenden Erfordernisse indessen auch auf versteckte Diskriminierungen bezogen. 190 In der Literatur wird teilweise 185 Vgl E u G H , Slg 1998, 1-1831, R n 39 - Decken Slg 2000, 1-151, Rn 33 Sass = Schach JK 00, E G V Art 28/1T 186 Vgl für die Arbeitnehmerfreizügigkeit zB E u G H . Slg 1996, 1-2617, R n 19 - O ' F l y n n : „objektive Erwägungen"; für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit E u G H , Slg 1991, 1-4221, R n 15 ff Säger; Slg 1997, 1-3589, R n 8 - Familiapress: „Allgemeininteresse"; Slg 1999, 1-2835, R n 19 Pfeiffer: „zwingende G r ü n d e des Gemeinwohls".

187 Vgl Kingreen (Fn 2) S 52. 120 f. 188 Vgl Schweitzer!Hummer ER Rn 1135. 189 Vgl zB E u G H , Slg 1981. 1625, Rn 10 Kommission/Irland; Slg 1994, 1-1039, Rn 51 fT Schindler; Slg 1999, 1-6067. R n 31 Läärä. 190 So auch NovaklSchnitzler E u Z W 2000, 627 ff; und Gimdel Jura 2001, 79 fT - mit umfangreichem Nachw der Rspr; aA aber E u G H , Slg 1999. 1-2517. Rn 16 - Ciola = Ehlers JK 00. E G V Art 49/1 (diskriminierende M a ß n a h m e n lassen sich mit dem Gemeinschaftsrecht nur vereinbaren, wenn sie unter eine „ausdrücklich abweichende Bestimmung" fallen).

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die A u f f a s s u n g vertreten, dass jegliche D i s k r i m i n i e r u n g d u r c h zwingende Erfordernisse gerechtfertigt werden kann. 1 '" Diese A u f f a s s u n g geht j e d o c h zu weit. D a offene Diskriminierungen besonders schwer wiegen u n d d e m B i n n e n m a r k t k o n z e p t diametral zuwiderlaufen, lassen sie sich nur d u r c h ausdrückliche Schrankenregelungen rechtfertigen. D a gegen ist mit der überwiegenden R s p r in der neueren Zeit davon auszugehen, dass die zwingenden G r ü n d e des Allgemeinwohls auch G r u n d l a g e f ü r die Rechtfertigung versteckter Diskriminierungen sein können. Abgesehen davon, dass sich B e s c h r ä n k u n g e n u n d faktische Diskriminierungen nur schwer v o n e i n a n d e r abgrenzen lassen, wäre ein geschlossener, nicht erweiterungsfähiger K a n o n von Rechtfertigungsmotiven f ü r die Fallg r u p p e der faktisch diskriminierenden M a ß n a h m e n ebenso unangemessen wie im Falle der „reinen" Beschränkungen. 1 , 2 In j e d e m Falle wirkt die Verhältnismäßigkeitsprüfung ( R n 85) als Korrektiv. Lösung Fall 6: Auch wenn das Gemeinschaftsreeht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt, müssen die Grundfreiheiten beachtet werden. Das Genehmigungserfordernis wirkt grenzüberschreitend und berührt die Dienstleistungsfreiheit (Art 49 EGV) des Dienstleistungserbringers (Arzt) und Dienstleistungsemplangers (K). D a die luxemburgische Regelung auf den Ort der Behandlung, nicht die Nationalität des Erbringers oder Empfängers, anknüpft und die Kosten in Luxemburg praktizierender Ärzte aus dem EG-Ausland erstattet werden, liegt keine offene Diskriminierung vor. Die Regelung wirkt sich aber typischerweise nachteilig auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten aus. Daher ist eine mittelbare Diskriminierung anzunehmen. Auch wenn nicht die Entgegennahme der Leistung durch den Patienten verboten, sondern nur die Erstattung der Ivosten abgelehnt wird, liegt eine erhebliche Behinderung des Zugangs zu den Dienstleistungen vor. Somit stellt sich die M a ß n a h m e auch als Beschränkung dar. Als Rechtfertigungsgründe kommen sowohl Art 46 E G V (iVm Art 55 EGV) als auch die zwingenden G r ü n d e des Allgemeininteresses in Betracht. Die luxemburgische Regelung soll dem Gesundheitsschutz, der Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung sowie der Erhaltung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Sozialversicherungssystems dienen. Hierbei handelt es sich um relevante Gesichtspunkte und nicht nur um rein wirtschaftliche Gründe. Jedoch ist eine Gefährdung der geschützten Interessen nicht ersichtlich. Das gilt auch für die Leistungsfähigkeit des Sozialversicherungssystems, wenn nur Behandlungskosten nach den Tarifen des Versicherungsstaats erstattet werden. O b sich aus der EG-VO N r 1408/71 ein Genehmigungserfordernis ergibt, kann dahinstehen, d a Sekundärrecht im Falle eines Verstoßes gegen das Primärrecht nichtig ist. Im Übrigen lässt sich die VO primärrechtskonform auslegen. Somit darf die luxemburgische Regelung nicht angewendet werden. 1 '"

191 Vgl Weiß EuZW 1999. 493, 497; Babenberg in: Lenz Art 49/50 EGV Rn 26; Leibte in: Grabitz/ Hilf Art 28 EGV Rn 20; -> § 8 Rn 58. 192 Gimilel Jum 2001, 79, 83. 193 Die Grundfreiheiten finden auch auf Krankenversicherungssysteme Anwendung, denen wie das deutsche und anders als das luxemburgische das Sachleistungsprinzip zugrunde liegt, EuGH. NJW 2001, 3391, Rn 55 - Geraets-Smits. Hierzu Kingreen NJW 2001, 3382 ff.

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d) Schranken-Schranken Fall 7: (EuGH, Slg 2000, 1-151 ff - Sass = Schock JK 00. EGV Art 28/1) Nach § 53 I der österreichischen GewO (ÖstGewO) dürfen Lebensmittelhändler Waren im Umherziehen feilbieten. Nach § 53 a II ÖstGewO darf das Feilbieten in einem bestimmten (mehrere Gemeinden umfassenden) Verwaltungsbezirk nur von Gewerbetreibenden ausgeübt werden, die das betreffende Gewerbe auch in einer ortsfesten Betriebsstätte in diesem Verwaltungsbezirk oder in einer an diesen Verwaltungsbezirk angrenzenden Gemeinde ausüben. Es dürfen nur solche Waren feilgeboten werden, die auch in dieser ortsfesten Betriebsstätte feilgehalten werden. Das erstinstanzliche österreichische Gericht hat einer österreichischen Firma untersagt, Lebensmittel in einem bestimmten österreichischen Verwaltungsbezirk im Umherziehen feilzubieten, solange sie nicht das Lebensmittelhändlergewerbe in einem Verwaltungsbezirk oder einer an ihn angrenzenden Gemeinde in einer ortsfesten Betriebsstätte ausübe. Das letztinstanzliche österreichische Gericht hat den EuGH um Vorabentscheidung ersucht, ob Art 28 EGV Rechtsvorschriften nach Art des § 53 a ÖstGewO entgegensteht. Dürfen die Grundfreiheiten beschränkt werden, unterliegen die Schranken ihrerseits Gegenschranken. Als solche Gegenschranken könnten namentlich die Gemeinschaftsgrundrechte (Rn 83), das sekundäre Gemeinschaftsrecht (Rn 84) und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Rn 85) in Betracht kommen.

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aa) Gemeinschaftsgrundrechte und sonstige Primärrechtsbestimmungen Die Grundfreiheiten können nur dann wirksam eingeschränkt werden, wenn die Maßnahmen auch den Anforderungen des primären Gemeinschaftsrechts im Übrigen gerecht werden. So muss die Gemeinschaft bei einer Einschränkung der Grundfreiheiten die Anforderungen der kompetenzrechtlichen Schrankentrias des Art 5 EGV beachten. Ferner sind die Gemeinschaftsgrundrechte sowohl von den Gemeinschaften selbst als auch von den Mitgliedstaaten (bei Durchführung des Gemeinschaftsrechts) zu beachten (Rn 15). Dementsprechend hat der Gerichtshof entschieden, dass die Schrankenregelungen 1 " und zwingenden Erfordernisse 195 „im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen sind". So stellen die Gesichtspunkte „Aufrechterhaltung der Medienvielfalt" und „Verbraucherschutz" grundsätzlich zwingende Erfordernisse dar. Wird aus diesen Gründen der Verkauf von Presseerzeugnissen mit anschließender Gewinnverlosung verboten, müssen aber die Auswirkungen auf das von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützte Grundrecht der Meinungsfreiheit in Rechnung gestellt werden. Dies gebietet die Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung. 1 '"' Die Grundrechte können somit die Einschränkung der Grundfreiheiten begrenzen (—> § 13 Rn 12). Ob es sich hierbei um selbstständige Gegenschranken oder Auslegungsregeln für die Interpretation der Schrankenregelungen handelt, kann dahinstehen. Im Ergebnis macht es keinen Unterschied, ob eine Maßnahme die Grundfreiheiten oder die EG-Grundrechte verletzt. Da sich aus den Gemeinschaftsgrundrechten eine Schutzpflicht ergeben kann, ist ein Mitgliedstaat zur Wahrnehmung dieser Schutzpflicht uU gehalten, die Ausübung einer Grundfreiheit zu beschränken.' 1,7

194 E u G H , Slg 1991,1-2925. R n 43

ERT.

195 E u G H , Slg 1997. 1-3689. R n 24

Familiapress.

196 Lackhoff (Fn 49) S 459 f; krit Kingrccn (Fn 2) S 166 fT. 197 Vgl E u G H , Slg 1991. 1-4007 R n 23

Collcctieve A n t e n n e v o o r z i c n i n g G o u d a ; - » $ '-3 R n 12.

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bb) Sekundäres Gemeinschaftsrecht 84

Ähnliches wie für die Gemeinschaftsgrundrechte gilt für das sekundäre Gemeinschaftsrecht. So sagt die Übereinstimmung einer Maßnahme mit dem sekundären Gemeinschaftsrecht nichts über die Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten aus (vgl Rn 76). Ein Mitgliedstaat (oder ein privater Verpflichtungsadressat der Grundfreiheiten) kann aber eine die Grundfreiheiten einschränkende Maßnahme dann nicht rechtfertigen, wenn und soweit gültiges Sekundärrecht ihm dies untersagt (zB weil Harmonisierungsmaßnahmen getroffen worden sind, die hinsichtlich des konkret verfolgten Schutzziels anderes vorsehen).'98 Dies ergibt sich für die Mitgliedstaaten aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts (Rn 9). Hat das Sekundärrecht in zulässiger Weise eine abschließende Regelung getroffen, fehlt den Mitgliedstaaten die Kompetenz zum Erlass abweichender Vorschriften.199 cc) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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Schließlich muss die Beschränkung der Grundfreiheiten nach stRspr des EuGH verhältnismäßig sein.200 Die Notwendigkeit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung lässt sich sowohl aus den Schrankenregelungen, die „gerechtfertigte" Maßnahmen verlangen (Art 30, Art 39 III, Art 46 iVm Art 55, Art 58 I EGV), als auch aus dem Begriff der „zwingenden" Erfordernisse oder Gründe des Allgemeinwohls ableiten. Im Übrigen stellt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Übermaßverbot201) einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts dar. Wie im deutschen Recht kommt es für die Beurteilung beeinträchtigender Maßnahmen meist entscheidend auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung an. Die Beeinträchtigungen müssen geeignet, erforderlich und angemessen (verhältnismäßig ieS) sein, um die mit ihr angestrebten (zulässigen) Zwecke zu verwirklichen.202 Im Hinblick auf die Geeignetheit einer mitgliedstaatlichen Maßnahme wird den Mitgliedstaaten eine Einschätzungsprärogative zugestanden. Maßgebend ist in aller Regel die Erforderlichkeitsprüfung. Der Umstand, dass andere Mitgliedstaaten weniger strenge Schutzvorschriften erlassen haben, spricht noch nicht gegen die Erforderlichkeit.203 Nicht erforderlich ist eine nationale Regelung aber, wenn das Ziel der Maßnahme durch gleichwertige Anforderungen des Herkunftsstaates erreicht wird.204 Die Angemessenheit einer Regelung verneint der EuGH nur selten. Vielfach wird das Kriterium überhaupt nicht genannt. Unangemessen sind Maßnahmen nur, wenn zwischen der Schwere der Einschränkung und der zu erwartenden Schutzgutsicherung ein grobes Missverhältnis besteht.205 Bei der gerichtlichen Überprüfung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme ist der Kontrollmaßstab

198 Vgl EuGH, Slg 1989, 617, Rn 7 f f - Schumacher; Slg 1994, 1-2039, Rn 12fF - Kommission/ Deutschland; Slg 1994,1-5243, Rn 14 - Ortscheit; Slg 1996,1-2553, Rn 18 ff - Hedley Lomas. 199 Jarass EuR 2000, 705, 719 f, vgl aber Art 95 IV EGV. 200 Vgl dazu statt vieler Craiglde Bürca EC Law, 2. Aufl 1997, S 343 ff; Fache N V w Z 1999, 1033 ff; Jarass EuR 2000, 705, 721 ff - jeweils mit zahlreichen Nachw der Rspr. 201 Zur Terminologie vgl Krebs Jura 2001, 228 ff. 202 Vgl aus neuerer Zeit etwa EuGH, Slg 2001,1-837, Rn 3 0 f - Mac Quen. 203 Vgl EuGH, Slg 1995, 1-1141, Rn 50ff - Alpine Investments; Slg 1996, 1-6511, Rn 42 - Broede; Slg 1999,1-7289, Rn 34 - Zenatti; Slg 2001,1-837, Rn 33 f - Mac Quen. 204 Vgl EuGH, Slg 1991,1-4221, Rn 15 ff - Säger; Slg 1994,1-4249, Rn 19 - Houtwipper; Slg 1995, 1-4186, Rn 38 f - G e b h a r d . 205 Vgl Heinsohn Der öffentlich-rechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1997, S 125; Lackhoff (Fn 49) S 465.

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Allgemeine Lehren

§ 7 VII 4

tendenziell strenger, wenn es um mitgliedschaftliche Aktivitäten (und nicht um Gemeinschaftsakte), um die Freiheit des Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- oder Zahlungsverkehrs (und nicht die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder Niederlassungsfreiheit) sowie um offene Diskriminierungen (und nicht um unterschiedslos anwendbare Beeinträchtigungen) geht.2"6 Lösung Fall 7: An der Zulässigkeit der Vorlage gern Art 234 EGV könnte es deshalb fehlen, weil es um die Beurteilung eines reinen Inländersachverhalts geht. Doch verstoßen Inländerdiskriminierungen in Österreich gegen das verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot. Folglich dürfte die Regelung des § 53 a ÖstGewO im Falle eines Verstoßes gegen die Warenverkehrsfreiheit auch auf Österreicher nicht angewendet werden. Im Übrigen ist es grundsätzlich allein Sache der mitgliedstaatlichen Gerichte, über die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zu urteilen. Der E u G H prüft ausgehend von der Ddssonville-Foimel, ob § 53 a ÖstGewO eine Maßnahme gleicher Wirkung iSd Art 28 E G V darstellt. D a es nur um die Regelung von Verkaufsmodalitäten geht, kommt es nach der Keck-Rspr darauf an. ob das Inverkehrbringen der inländischen und ausländischen Erzeugnisse in gleicher Weise behindert wird. Der E u G H verneint dies, weil die Händler mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, wenn sie nicht aus dem Grenzgebiet kommen, zusätzlich eine ortsfeste Betriebsstätte errichten müssen und daher zusätzliche Belastungen hinnehmen müssen. Die Argumentation ist zweifelhaft, weil die entfernt wohnenden Ausländer nicht anders behandelt werden als die entfernt wohnenden Österreicher. Folgt man dem E u G H , liegt sowohl eine versteckte Diskriminierung als auch eine Beschränkung vor. Als Rechtfertigungsgründe kommen der Gesundheitsschutz (Art 30 EGV) sowie die Gewährleistung der Versorgung in Berggebieten (zwingendes Erfordernis) in Betracht. Doch ist die österreichische Regelung unverhältnismäßig, weil weniger einschneidende Maßnahmen (Ausstattung der benutzten Fahrzeuge mit Kühlanlage, Beschränkung der im ganzen Land geltenden Regelung auf die Bergregionen) in Betracht gekommen wären. Daher hat der E u G H entschieden, dass Art 28 EGV dem § 53 a ÖstGewO entgegensteht.

4. Schematische

Zusammenfassung

Fasst man die Überlegungen zusammen, sollten die Grundfreiheiten wie folgt geprüft werden: I. Schutzbereich der Grundfreiheit 1. Sachlicher Schutzbereich a) Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts b) Vorliegen einer sachlich geschützten Tätigkeit c) Keine Bereichsausnahme 2. Persönlicher Schutzbereich 3. Räumlicher Schutzbereich 4. Zeitlicher Schutzbereich II. Beeinträchtigung des Schutzbereichs 1. Handeln eines Verpflichteten 2. Vorliegen einer Diskriminierung

206 Vgl a u c h

Jaruss

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87 ^

E u R 2000. 705. 723.

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§ 7 VIII 1

Dirk Ehlers

a) Offene Diskriminierung b) Versteckte Diskriminierung 3. Vorliegen einer Beschränkung a) Dassonville-Formel oder entsprechende Umschreibungen b) Keine Ausklammerung iSd Keck-Rspr c) Hinreichende Nähebeziehung III. Rechtfertigung der Beeinträchtigung 1. Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage 2. Ausdrückliche Schranken 3. Ungeschriebene Schranken a) Offene Diskriminierungen (nur durch ausdrückliche Schranken) b) Versteckte Diskriminierungen und Beschränkungen (auch durch ungeschriebene Schranken) c) Beschränkungen (auch durch ungeschriebene Schranken) 4. Schranken-Schranken a) Gemeinschaftsgrundrechte (und sonstige Primärrechtsbestimmungen) b) Sekundäres Gemeinschaftsrecht c) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

VIII. Rechtsschutz 1. Rechtsschutzmöglichkeiten

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des

Einzelnen

Fall 8: In der Stadthalle der Gemeinde G findet einmal im Jahr ein beliebter Regionalmarkt statt, auf dem typische Produkte aus der Region veräußert werden. Betrieben wird die Stadthalle von einer gemeindeeigenen GmbH. Deren Bestimmungen sehen vor. dass Mietverträge für die Marktstände nur mit regionalen Betrieben geschlossen werden. Der K stellt in einer Fabrik in Portugal Trachtenbekleidung her, darunter auch Jacken, die in der Region von G traditionell getragen werden. Diese Jacken möchte er auf dein kommenden Regionalmarkt in G anbieten. Die G m b H hat auf seine Anfrage jedoch erklärt, dass er nicht berücksichtigt werden könne, da sein Betrieb nicht aus der Region stamme. Der k fragt, auf welchem Rechtsweg er gegen die G vorgehen kann. Da die Grundfreiheiten unmittelbar anwendbar sind (Rn 7) und dem Einzelnen Rechte verleihen (Rn 8), kann sich dieser gegen eine Verletzung der Grundfreiheiten vor Gericht zur Wehr setzen. Richtet sich das Rechtsschutzbegehren gegen eine mitgliedstaatliche Maßnahme, sind die jeweiligen mitgliedstaatlichen Gerichte zuständig. Der Rechtsweg bestimmt sich nach nationalem Prozessrecht. In Deutschland sind (vorbehaltlich abdrängender Sonderzuweisungen) die Verwaltungsgerichte zuständig, weil sich die G r u n d freiheiten als primär staatsbezogene, sekundär gemeinschaftsbezogene Vorschriften (Rn 40 ff) iSd Kriterien der Subjektstheorie 2 " 7 als öffentlich-rechtliche Vorschriften (nicht verfassungsrechtlicher Art) darstellen oder zumindest solchen Vorschriften gleichzustellen sind. An der Betrachtungsweise ändert sich nichts, wenn die Mitgliedstaaten privatrechtlich in Erscheinung treten und hierbei die Grundfreiheiten verletzen. Sollten die G r u n d freiheiten - nicht nur partiell - unmittelbare Drittwirkung entfalten können (abl R n 42),

207 Ehlers in: E r i c h s c n / E h l c r s ( F n 22) § 2 R n 17 IT.

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Allgemeine Lehren

§ 7 VIII 2

müssten sie nach der hier vertretenen Ansicht der Kategorie des gemeinsamen Rechts zugeschlagen werden.208 Dies würde bedeuten, dass sie dem Privatrecht zuzuordnen wären, wenn ein Privater verpflichtet wird, dem öffentlichen Recht, wenn Verpflichtungsadressat ein Träger von Staatsgewalt oder supranationaler Gewalt ist. Die hM müsste demgegenüber konsequenterweise stets Jedermannsrecht und damit Privatrecht annehmen. Ist die Auslegung der Grundfreiheiten nicht zweifelsfrei, können oder müssen sich die nationalen Gerichte im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens gern Art 234 EGV an den EuGH wenden. Die Verletzung einer Grundfreiheit durch deutsche Staatsgewalt kann auch zu einer Verletzung deutscher Grundrechte führen. Darf sich ein EG-Ausländer auf deutsche Grundrechte berufen209 und liegt ein Grundrechtseingriff vor, führt die Verletzung einer Grundfreiheit wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts dazu, dass sich der Grundrechtseingriff nicht rechtfertigen lässt. Demgemäß können Verletzungen der Grundfreiheiten auch mittels Erhebung einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden, wenn und soweit zugleich eine Beeinträchtigung nationaler Grundrechte vorliegt. Dies zeigt ein weiteres Mal die Verzahnung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung mit der Gemeinschaftsrechtsordnung. Wendet sich der Einzelne gegen das Verhalten fremder Mitgliedstaaten, können grundsätzlich nur deren Gerichte Rechtsschutz gewähren. Anders ist die Rechtslage, wenn die fremden Mitgliedstaaten im Inland tätig werden und nicht hoheitlich in Erscheinung treten.210 So haben die deutschen Gerichte gern Art 5 Nr 5 EuGVÜ 2 " über Klagen gegen öffentliche Unternehmen aus dem europäischen Ausland zu entscheiden, wenn diese von einer Niederlassung in der Bundesrepublik aus tätig werden. Kontrollmaßstab können auch die Grundfreiheiten sein. Rügt der Einzelne eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch die Europäischen Gemeinschaften, kommt nur eine Nichtigkeitsklage gern Art 230 IV EGV in Betracht, die gern Art 225 II EGV, Art 3 I lit a des Beschlusses des Rates (88/591/EGKS, EWG, EURATOM) zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vor dem Gericht erster Instanz zu erheben wäre. Voraussetzung ist, dass eine an den Betroffenen adressierte Entscheidung oder eine Entscheidung vorliegt, die, obwohl sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen ist, den Einzelnen unmittelbar und individuell betrifft.

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2. Durchsetzung der Grundfreiheiten durch die EG-Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten Neben den individuell Beeinträchtigten kann auch die EG-Kommission im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens gern Art 226 EGV die Beachtung der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten durchsetzen. Dieselbe Möglichkeit steht den Mitgliedstaaten nach Art 227 EGV zu, wenn sie der Auffassung sind, dass andere Mitgliedstaaten gegen eine Grundfreiheit verstoßen haben. Schließlich können auch die Mitgliedstaaten und EGOrgane nach Maßgabe des Art 230 II u III EGV Nichtigkeitsklage erheben. 208 Vgl Ehlers in: Erichsen/Ehlers (Fn 22) § 2 Rn 23. 209 Näher dazu Wernsmann Jura 2000, 657 ff. 210 Bei hoheitlichem Auftreten genießen die fremden Staaten Immunität. Vgl BVerfGE 16, 27, 61 f. Näher zum Ganzen Ehlers (Fn 25) S 7 ff. 211 Sart II Nr 160.

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§ 7 VIII 2

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Dirk Ehlers

Lösung Fall 8: In Betracht kommen der ordentlichen Gerichten nach § 13
| Eine Streitigkeit ist öffentlich-rechtlich, wenn sie i ' ' 'den ist. Hierbei kommt es auf den I , , . • • Anspruchs an. K begehrt von G. ihm durch Einwirkung auf die Betreibergesellschaft Zugang zu dem Regionalmarkt zu verschaffen. Somit kommen Ansprüche aus den kommunalrechtlichen Benutzungsbestimmungen und aus Ar, 3 1 GG in Betracht. Diese Ansprüche sind öffentlich-rechtlicher Natur, so dass der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist. Hinzu kommt ein möglicher Anspruch aus Art 28 EGV wegen Beeint rächt,gung der Warenverkehrsfreiheit. Würde man die Grundfreiheiten dem Jedermannsrechl und damit dem Privatrecht zuordnen, wäre dieser """'¡ch-rechthchen Charakters, so dass die ordentlichen Gerichte hierüber zu o. Da gern §17 1! 1 G K ein Wahlrecht, an welche Gerichtsbarkeit er sich wendet. Nach hier vertretener Auffassung sind die Grundfreiheiten jedoch dem öffentlichen Rech, zuzuordnen. Daher ist nur der Verwaltungsrechtsweg gegeben (es sei denn, es stehen weitere privatrechtliche Anspruchsgrundlagen etwa § 826 BGB oder § 19 I GWB - zur Verfügung). —

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§8 Freiheit des Warenverkehrs Astrid Epiney Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1974, 837 ff - Dassonville; Slg 1979, 649 ff - Cassis de Dijon; Slg 1993,1-6097 ff- Keck; Slg 1995,1-1923ff - Mars; Slg 1997,1-3843 ff - de Agostini. Schrifttum: Ahlfeld Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997; Füller Grundlagen und inhaltliche Reichweite der Warenverkehrsfreiheiten nach dem EG-Vertrag, 2000; Hoffmann Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000; Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; Millarg Die Schranken des freien Warenverkehrs in der EG, 2001.

Die Freiheit des Warenverkehrs wird nach der Konzeption des EG-Vertrages durch eine ganze Reihe von Bestimmungen gewährleistet: Art 25 ff EGV enthalten die für die Zollunion maßgeblichen Vorschriften. Im Einzelnen ist hier einerseits der Abbau von Ein- und Ausfuhrzöllen sowie von Abgaben gleicher Wirkung (Art 25 EGV), andererseits die Einführung eines Gemeinsamen Zolltarifs gegenüber Drittstaaten (Art 26 EGV) vorgesehen. Während Art 25 EGV unmittelbar wirksam ist, Einzelnen entsprechende Rechte verleiht und insofern dieselben Charakteristika wie die Grundfreiheiten1 aufweist2, wird der Gemeinsame Zolltarif (notwendigerweise) durch gemeinschaftliches Sekundärrecht eingeführt.3 Das Verbot der mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen und der Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 28-30 EGV) ergänzt das in Art 25 EGV ausgesprochene Verbot der tarifären durch ein solches der nichttarifären Handelshemmnisse und liefert somit einen wesentlichen Beitrag zur Öffnung der Märkte in Bezug auf die grenzüberschreitende Warenzirkulation. Art 31 EGV schließlich sieht die Umformung staatlicher Handelsmonopole vor. Diese die Verbote der tarifären und nicht tarifären Handelshemmnisse ergänzende Bestimmung soll verhindern, dass das Verhalten staatlicher Handelsmonopole die Wirksamkeit der Regeln über den freien Warenverkehr einschränkt.4 Die folgenden Ausführungen beschränken sich - im Sinne der Anlage dieses Bandes auf den an zweiter Stelle genannten Aspekt, dem im Übrigen auch in der (gerichtlichen) Praxis die weitaus größte Bedeutung zukommt. In Bezug auf die inhaltliche Tragweite der Art 28, 29 EGV kann - entsprechend den ausgeführten allgemeinen Lehren (—> § 7 Rn 47 ff) - zwischen Schutzbereich (1.), Beeinträchtigung (2.) und Rechtfertigung (3.) unterschieden werden. Dabei werden die bereits allgemein ausgeführten Probleme nur am

1 Zum Begriff § 7 Rn 7. 2 Während der Begriff der Zölle relativ klar ist, wirft derjenige der Abgaben gleicher Wirkung einige Fragen auf. Vgl hierzu mwN aus der Rspr BBPS Rn 733 ff. 3 Vgl hierzu ausf Voß in: Grabitz/Hilf Art 23 EGV Rn 17 ff; s sodann (wenn auch etwas veraltet) Sack in: HdBEUWirtschR C II. 4 Allerdings werden staatliche Handelsmonopole nicht verboten, sondern (auch) den Regeln des freien Warenverkehrs unterstellt. Vgl im Einzelnen zu der Bestimmung und ihrer Auslegung durch den E u G H mwN Epiney in: Calliess/Ruffert Art 31 EGV.

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Astrid Epiney Rande angesprochen, so dass der Akzent auf den für den Bereich des Warenverkehrs spezifischen oder besonders relevanten Fragestellungen liegt. I. Schutzbereich 6 7 8

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Der räumliche Anwendungsbereich der Art 28, 29 EGV ergibt sich aus Art 299 EGV und entspricht damit dem Geltungsbereich des EG-Vertrags.5 Art 23 II EGV ist der sachliche Anwendungsbereich speziell der Art 28, 29 EGV zu entnehmen. Danach sind zwei Aspekte von Bedeutung: Erstens muss es sich um eine „Ware" handeln. Dieser Begriff wird im Vertrag nicht definiert; allerdings ist er durch die Rechtsprechung des EuGH 6 einer gewissen Klärung zugeführt worden. Danach sind unter Waren bewegliche körperliche Sachen zu verstehen, denen grundsätzlich ein Geldwert zukommt, so dass sie Gegenstand von Handelsgeschäften sein können. Der EuGH legt hier teilweise aber auch eine pragmatische Sicht zugrunde, so wenn er die Warenqualität von Abfall wegen der ansonsten auftretenden Abgrenzungsschwierigkeiten - Abfall kommt manchmal, aber nicht immer ein Geldwert zu, und diese Beurteilung kann sich auch recht schnell ändern - bejaht.7 Elektrischer Strom und Gas sind ebenfalls als Ware anzusehen8, wofür insbesondere ihre Handelsfähigkeit und ihre praktische Handhabung als geldwertes Gut sprechen. Auch wenn es um bewegliche Sachen geht, kann die Wareneigenschaft und damit die Einschlägigkeit von Art 28, 29 EGV dann zu verneinen sein, wenn der beweglichen Sache als solcher gar keine Bedeutung und kein bzw ein vergleichsweise zu vernachlässigender Wert zukommt, insb weil der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit auf einem anderen Gebiet zu suchen ist. So ist etwa die Beschlagnahme von Lotterielosen und des diesbezüglichen Werbematerials im Gefolge der Anwendung eines allgemeinen Verbots von Lotterieveranstaltungen nicht unter dem Gesichtspunkt der Warenverkehrs-, sondern demjenigen der Dienstleistungsfreiheit zu prüfen, steht doch die Versendung der Materialien in untrennbarem Zusammenhang mit der Durchführung von Lotterieveranstaltungen.9 Hingegen ist die Wareneigenschaft zu bejahen, wenn ein Produkt als „Speicherungsbehälter" dient, wie etwa bei Schallplatten.10 Zweitens muss die Ware entweder aus den Mitgliedstaaten stammen oder aber - im Fall von aus Drittstaaten stammenden Waren - sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Der Nachweis des Gemeinschaftscharakters der Waren ist im Einzelnen im Zollkodex geregelt." Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang sodann auf Sonderregelungen für spezifische Waren und Bereichsausnahmen: Erstere bestehen hinsichtlich der dem EGKS- und dem EAG-Vertrag unterfallenden Waren, wobei aber diese Verträge ebenfalls den Abbau der Binnenschranken vorsehen. In Erwägung ziehen könnte man, die Vorschriften des EG-Vertrages jedenfalls subsidiär anzuwenden12, was dann in Betracht kommt, wenn die 5 6 7 8 9 10 11 12

- » I m Einzelnen § 7 Rn 45. Vgl aus der neueren Rspr insb EuGH, Slg 1999,1-7319, Rn 30 ff - Jägerskiöld. EuGH, Slg 1992,1-4431, Rn 22 ff - Kommission/Belgien = Kunig JK 93, EWGV Art 30/3. EuGH, Slg 1994,1-1477, Rn 28 - Almelo. EuGH, Slg 1994,1-1039, Rn 22 f - Schindler. Hierzu und zur Abgrenzung von den „Erfindungen" Voß in: Grabitz/Hilf Art 23 EGV Rn 12. Hierzu ausf Voß in: Grabitz/Hilf Art 23 EGV Rn 16 ff. So Voß in: Grabitz/Hilf Art 23 EGV Rn 14.

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Freiheit des Warenverkehrs

§ 8 III

konkreten Garantien des EG-Vertrages weiter gehen13. Auf die landwirtschaftlichen Erzeugnisse finden ua die Vorschriften über den freien Warenverkehr soweit Anwendung, als Art 33-38 EGV nichts Abweichendes bestimmen (Art 32 II EGV). Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der Handel mit Waffen, Munition und Kriegsmaterial gemäß Art 2961 lit b) EGV eingeschränkt werden kann. Auch die Anwendbarkeit der Art 28 ff EGV setzen im Übrigen nach der Rechtsprechung des EuGH einen grenzüberschreitenden Sachverhalt voraus.14 Sog „umgekehrte Diskriminierungen" - dh solche Fälle, in denen inländische Erzeugnisse im Gefolge der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (zB des Art 28 EGV) schlechter gestellt sind als aus dem EU-Ausland eingeführte Waren - sind danach aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht zulässig. In Anbetracht der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts - insb der Einführung des Ziels der Errichtung eines „grenzenlosen" Binnenmarktes - dürfte jedoch das ausschließliche Abstellen auf eine Grenzüberschreitung als Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts seinem Stand nicht mehr Rechnung tragen. Angemessener wäre hier eine differenzierendere Betrachtungsweise, so dass das Fehlen eines grenzüberschreitenden Elements zwar bei der Art und Weise der Prüfung des Art 28 EGV auf der Rechtfertigungsebene von Bedeutung sein könnte, nicht jedoch schon von vornherein die Anwendung dieser Bestimmung ausschlösse.15

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II. Beeinträchtigung Art 28, 29 EGV verbieten mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung, wobei beide Bestimmungen aufgrund ihrer unterschiedlichen inhaltlichen Tragweite16 getrennt erörtert werden sollen (Rn 17 ff, 42 ff). Von vornherein können diese Bestimmungen aber nur unter der Voraussetzung eingreifen, dass ein Verpflichteter handelt. 1. Adressaten

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(Verpflichtete)

Normadressaten der Art 28 ff EGV sind in erster Linie die Mitgliedstaaten, von denen auch in der Praxis der weitaus größte Teil der Beschränkungen dieser Grundfreiheiten ausgeht. In Verbindung mit Art 10 EGV ergibt sich im Übrigen auch eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen gegen Handelshindernisse einzuschreiten, die von Privaten ausgehen.17 Eine staatliche Maßnahme liegt auch dann vor, wenn Private ihre gewerblichen Schutzrechte geltend machen: Zwar muss der Rechtsinhaber seinen Anspruch geltend machen; die dann einfuhrbeschränkende Maßnahme Beschlagnahme, Vermarktungsverbot unter bestimmten Voraussetzungen oä - geht aber

13 So enthalten der EGKS- und der EAG-Vertrag etwa nur ein Verbot mengenmäßiger Beschränkungen, nicht aber Maßnahmen gleicher Wirkung. 14 —» Hierzu bereits im Einzelnen § 7 Rn 20, 25. Vgl aus der Rechtsprechung speziell zu Art 28 EGV, E u G H , Slg 1987, 809, Rn 12 - Mathot; Slg 1987,995, Rn 7 - Rousseau. 15 Ausf zu diesem Ansatz Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, insb S 200 ff; zum Problemkreis auch Hammerl Inländerdiskriminierung, 1997. 16 Zumindest auf der Grundlage der Rspr und der hier vertretenen Ans. 17 EuGH, Slg 1997, 1-6959, Rn 24 ff - Kommission/Frankreich = Erichsen JK 99, EGV Art 30/3. -» Hierzu ausf § 7 Rn 43.

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§8 III

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Astrid Epiney

von staatlichen Organen (Behörden oder Gerichten) aus.18 Unerheblich ist es im Übrigen, ob die staatliche Maßnahme zwingenden Charakters ist oder nicht; entscheidend ist allein die diskriminierende oder beschränkende Wirkung.19 So sah der EuGH etwa eine Werbekampagne der irischen Behörden, vermehrt einheimische Produkte zu kaufen, als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung an.20 Aber auch die Gemeinschaftsorgane selbst müssen sich an die Vorgaben der Art 28 ff EGV halten21, was sich schon aus der Normenhierarchie (Primärrecht geht Sekundärrecht vor) ergibt. Ob und inwieweit Privatpersonen durch Art 28 ff EGV verpflichtet22 werden, ist ebenso wie im Rahmen der übrigen Grundfreiheiten (—» § 7 Rn 42 f) - (noch) nicht abschließend geklärt. Die Rechtsprechung hierzu dürfte mittlerweile davon ausgehen, dass Art 28 ff EGV keine Drittwirkung zukommt.23 Eine Verneinung einer umfassenden Drittwirkung liegt jedenfalls im Rahmen der Art 28 ff EGV vor dem Hintergrund der Funktion und Zielsetzungen der Art 28 ff EGV im Gesamtsystem des Vertrages nahe: Denn zunächst sollen diese Bestimmungen im Wesentlichen das Verbot von Zöllen und Abgaben gleicher Wirkung durch die Unterbindung nichttarifärer Handelshemmnisse ergänzen. Auch ist es für die effektive Verwirklichung des freien Warenverkehrs nicht unbedingt notwendig, private Verhaltensweisen zu erfassen, sind diese doch Gegenstand anderer Bestimmungen des Vertrages, nämlich der Wettbewerbsregeln (Art 81 f EGV). Im Übrigen erscheint eine nunmehr auch offenbar vom EuGH im Rahmen des Art 39 EGV zugrunde gelegte umfassende Drittwirkung24 grundsätzlich problematisch: Denn sie dürfte der ebenfalls zu beachtenden Privatautonomie und Vertragsfreiheit kaum Rechnung tragen und insofern auch über die Funktion der Grundfreiheiten hinausgehen, ganz abgesehen von den damit einhergehenden Auslegungs- und Anwendungsproblemen, etwa auf der Rechtfertigungsebene. Der bislang in der Rechtsprechung vorherrschende Ansatz der Beschränkung der Drittwirkung auf Regelungswerke, die eine ähnliche rechtliche oder faktische Bindungswirkung entfalten wie staatliche Normen 25 , erscheint daher überzeugender: Er erlaubt die effektive Durchsetzung der Grundfreiheiten in den problematischen Bereichen und ist schon deshalb ausreichend, weil ansonsten die staatliche Schutzpflicht greift.

18 Vgl aus der Rspr zB E u G H , Slg 1994,1-2789, Rn 33 f - Ideal Standard; Slg 1990,1-3711, Rn 8 f Haag II; aus der Literatur nur Leible in: Grabitz/Hilf Art 29 EGV Rn 6. 19 Hierzu noch sogleich u. 20 E u G H , Slg 1981, 1625, Rn 1 2 - Kommission/Irland. 21 EuGH, Slg 1994,1-3879, Rn 11 - Meyhui. 22 Privatpersonen sind (selbstverständlich) insoweit Adressaten der Art 28 ff EGV, als sie sich auf diese Bestimmungen berufen können. 23 EuGH, Slg 1982, 4005, Rn 6 ff - Kommission/Irland; Slg 1988, 5249, Rn 11 - Bayer; die entgegengesetzte Aussage in EuGH, Slg 1981, 181, Rn 17 f - Dansk Supermarked hat der Gerichtshof später nicht mehr aufgegriffen, so dass davon ausgegangen werden kann, dass der E u G H nunmehr einer Drittwirkung ablehnend gegenübersteht. Auch EuGH, Slg 1997,1-6959, Rn 24 ff Kommission/Frankreich = Erichsen JK 99, EGV Art 30/3 dürfte in diese Richtung gehen, denn der Umstand, dass der E u G H mit keinem Wort auf die Frage der möglichen Verantwortlichkeit der Privaten einging, deutet wohl darauf hin, dass er eine Drittwirkung ablehnt. 24 EuGH, Slg 2000,1-4139, Rn 34 ff - Angonese = Ehlers J K 01, EGV Art 39/1; § 9 Rn 46. 25 Vgl schon E u G H , Slg 1974, 1405ff - Walrave; s sodann Slg 1995,1-4921 ff - Bosman.

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Freiheit des Warenverkehrs

§ 8 112

2. Einfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 28 EGV) a) M e n g e n m ä ß i g e B e s c h r ä n k u n g e n A r t 28 E G V verbietet zunächst Einfuhrbeschränkungen. H i e r u n t e r sind M a ß n a h m e n zu verstehen, die die W a r e n e i n f u h r der M e n g e oder d e m Wert n a c h begrenzen. 2 6 K o n k r e t n e h m e n E i n f u h r b e s c h r ä n k u n g e n in der Regel die F o r m von K o n t i n g e n t e n an; erfasst sind aber auch - als stärkste F o r m der B e s c h r ä n k u n g - Ein- oder D u r c h f u h r v e r b o t e . D a m i t geht auch die Feststellung einher, dass sonstige, nicht u n m i t t e l b a r die E i n f u h r selbst b e s c h r ä n k e n d e M a ß n a h m e n - also insb solche, die b e s t i m m t e A n f o r d e r u n g e n an die Beschaffenheit von P r o d u k t e n stellen - als M a ß n a h m e n gleicher W i r k u n g anzusehen sind. 27 E i n f u h r b e s c h r ä n k u n g e n sind per definitionem (offen) diskriminierend; nicht diskriminierende M a ß n a h m e n sind d a h e r u n t e r d e m G e s i c h t s p u n k t der M a ß n a h m e n gleicher Wirk u n g zu p r ü f e n . M e n g e n m ä ß i g e E i n f u h r b e s c h r ä n k u n g e n k o m m e n allerdings derzeit allenfalls ausnahmsweise (zB bei umweltpolitisch motivierten M a ß n a h m e n etwa z u m A r t e n s c h u t z ) vor, so dass ihre praktische B e d e u t u n g vernachlässigt werden k a n n .

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b) M a ß n a h m e n gleicher W i r k u n g Fall I: ( E u G H , E u Z W 2001, 251 ff - Gourmet International.) In Schweden besteht ein Werbeverbot für alkoholische Getränke in Zeitungen und ZeitSchriften sowie Rundfunk und Fernsehen. Gestützt auf dieses Verbot beantragte der Konsumentombudsman (Verbraucherbeauftragte) beim zuständigen Gericht. G o u r m e t International Products AB (GIP) zu verbieten, Werbeanzeigen für alkoholische Getränke in Zeitungen, Zeitschriften sowie Rundfunk und Fernsehen veröffentlichen zu lassen. Das Gericht möchte der Klage stattgeben, hegt aber Zweifel an der Vereinbarkeit eines solchen Verbots mit Art 28 EGV. Z e n t r a l f ü r die Tragweite u n d B e d e u t u n g des A r t 28 E G V ist d a s Verbot von Maßnahmen gleicher Wirkung wie Einfuhrbeschränkungen. Ihre Einbeziehung in den T a t b e s t a n d des A r t 28 E G V ist vor d e m H i n t e r g r u n d zu sehen, dass der freie Warenverkehr h ä u f i g d u r c h nicht quantifizierbare M a ß n a h m e n ebenso „ w i r k s a m " , aber weniger „ s i c h t b a r " wie d u r c h E i n f u h r b e s c h r ä n k u n g e n behindert wird bzw werden k a n n . F ü r die B e s t i m m u n g des Begriffs der M a ß n a h m e n gleicher W i r k u n g ist vor diesem H i n t e r g r u n d in erster Linie die Wirkung einer Maßnahme entscheidend: E n t f a l t e t diese gleiche oder vergleichbare Folgen f ü r die E i n f u h r von Waren aus anderen Mitgliedstaaten wie E i n f u h r b e s c h r ä n k u n g e n , wird sie vom T a t b e s t a n d des A r t 28 E G V erfasst. I m Einzelnen k ö n n e n d a m i t in Abhängigkeit von d e m „ O b " u n d „ W i e " einer D i s k r i m i n i e r u n g verschiedene A r t e n von M a ß n a h m e n gleicher W i r k u n g unterschieden werden.

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aa) O f f e n e Diskriminierungen Z u n ä c h s t fallen all diejenigen M a ß n a h m e n , die ausdrücklich nach der W a r e n h e r k u n f t (Inland einerseits, E U - A u s l a n d andererseits) differenzieren, unter den Begriff der M a ß -

26 E u G H . Slg 1973. 865, Rn 7 Geddo. 27 Vgl aus der Rspr etwa E u G H . Slg 1983, 203, Rn 21 f Kommission/Vereinigtes Königreich; Slg 1989, 229, Rn 4 f Kommission/Deutschland. Zu Einzelfragen der Abgrenzung rnwN Epiney in: Calliess/RulTert Art 28 EGV Rn 8 ff.

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nahmen gleicher Wirkung. Beispiele aus der Praxis in diesem Zusammenhang sind etwa obligatorische gesundheitspolizeiliche Untersuchungen für eingeführte Waren28 oder Kennzeichnungspflichten nur für eingeführte Waren29. bb) Versteckte Diskriminierungen 24

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Verboten sind aber auch versteckte Diskriminierungen, also solche Maßnahmen, die zwar an ein „neutrales" Kriterium anknüpfen, jedoch in der Sache im Wesentlichen eingeführte Produkte betreffen bzw benachteiligen (—> allgem hierzu § 7 Rn 22). Die Abgrenzung versteckter Diskriminierungen von den sogleich zu behandelnden Beschränkungen ist im Einzelnen problematisch und wohl kaum praktikabel unter Zugrundelegung allgemein handhabbarer Kriterien, jedenfalls im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten. 30 Im Übrigen kommt dieser Unterscheidung jedenfalls im Rahmen des Art 28 EGV keine praktische Bedeutung zu, da sich die Rechtfertigungsgründe für versteckte Diskriminierungen und Beschränkungen decken.31 Die in der Literatur32 teilweise vertretene Ansicht, im „Kernbereich" - also zB dem Zugang selbst zu einer Beschäftigung im Rahmen des Art 39 EGV - der Grundfreiheiten gelte ein allgemeines Beschränkungsverbot, während in den „Randbereichen" - zB der Regelung der Ausübung einer Beschäftigung im Anwendungsbereich des Art 39 EGV nur ein (weit verstandenes) Diskriminierungsverbot gelte, kommt jedenfalls im Zusammenhang mit Art 28 EGV auf der Grundlage der Rechtsprechung (der in der Literatur weitgehend gefolgt wird) keine Bedeutung zu: Denn Art 28 EGV ist allgemein als Beschränkungsverbot auszulegen, und Einschränkungen des Tatbestandes ergeben sich aus der sog Keck-Formel, so dass für eine Differenzierung nach „Kern- und Randbereichen" der Grundfreiheiten kein Raum mehr bleibt und auch kein Bedürfnis besteht. Im Übrigen ist diese Differenzierung schon vom Ansatz her problematisch: Zunächst impliziert sie, dass im Falle des Kernbereichs allgemein ein schwererer Eingriff in die Rechte der Betroffenen vorliege, was aber jedenfalls nicht zwingend ist, können doch zB bestimmte Beschäftigungsmodalitäten möglicherweise zumindest faktisch zu Zugangsbeschränkungen führen. Damit in engem Zusammenhang stehend ist die Überlegung, dass sich Kern- und Randbereich häufig wohl nur schwer voneinander trennen lassen. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden auf eine Abgrenzung zwischen versteckten Diskriminierungen und Beschränkungen verzichtet, und die Problembereiche werden im Folgenden im Zusammenhang mit der Erörterung der Beschränkungen behandelt. cc) Beschränkungen

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Auch nicht diskriminierende, sondern „nur" den Warenverkehr beschränkende Maßnahmen fallen grundsätzlich unter den Tatbestand des Art 28 EGV, was schon insofern nahe liegt, als auch diese im Ergebnis ähnliche Wirkungen wie Einfuhrbeschränkungen entfalten können. Als Beispiel kann man etwa an Regelungen der Produktbeschaffenheit oder die Werbung betreffende Vorschriften denken. 28 29 30 31 32

Vgl den Sachverhalt in EuGH, Slg 1989, 3997 ff - Kommission/Deutschland. Vgl den Sachverhalt in EuGH, Slg 1981, 1625 ff - Kommission/Irland. Vgl zu Art 12 EGV und den hier maßgeblichen Kriterien Epiney (Fn 15) S 102 ff. S u Rn 48 ff u —> § 7 Rn 79. Vgl etwa Lecheler/Gundel Übungen, S 177; in diese Richtung wohl auch Jarass EuR 2000, 705, 711.

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Allerdings bedarf das Vorliegen der Voraussetzungen, unter denen eine solche Beschränkung vorliegt, der Präzisierung, denn ansonsten könnten alle Maßnahmen, die einen irgendwie gearteten Bezug zum freien Warenverkehr aufweisen, von Art 28 EGV erfasst werden. Ausgangspunkt hierfür ist nach wie vor die sog Dassonville-Formel: Danach ist unter einer Maßnahme gleicher Wirkung jede staatliche Regelung, „die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern", zu verstehen.33 Damit ist also die beschränkende Wirkung der Maßnahmen entscheidend, so dass die Eignung einer Maßnahme, handelsbeschränkende Wirkungen zu entfalten, maßgeblich ist. Unerheblich ist dabei, ob diese tatsächlich eingetreten sind oder nicht.34 Diese weite Fassung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung hat zur Folge, dass Waren, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt worden sind, grundsätzlich in die anderen Mitgliedstaaten eingeführt und dort vermarktet werden können, auch wenn sie nicht den nationalen Anforderungen (insbesondere Produkt- oder Zulassungserfordernissen) entsprechen. Vorbehalten bleibt aber natürlich das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen. Darüber hinaus können auch nicht produktbezogene Regelungen, wie etwa Produktions- und Vermarktungsvorschriften, unter die Dassonville-¥ormt\ fallen. Denn auch sie sind grundsätzlich geeignet, (negative) Auswirkungen auf das Volumen (bestimmter) eingeführter Produkte zu entfalten. Deutlich wird damit auch, dass die konsequente Anwendung der Dassonville-Formel zur Folge hat, dass der Tatbestand des Art 28 EGV sehr weit ausgedehnt wird und kaum eine staatliche Maßnahme nicht erfasst werden kann, entfalten doch zahlreiche Regelungen zumindest mittelbar und potenziell Rückwirkungen auf die Einfuhr von Produkten, so dass eine kaum eingrenzbare Zahl nationaler Vorschriften an den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts, konkret an Art 28 EGV, gemessen werden kann bzw könnte. Vor diesem Hintergrund hat die Rechtsprechung verschiedene Ansätze entwickelt, die die tatbestandliche Reichweite des Art 28 EGV im Vergleich zur Dassonville-FormeX eingrenzen. Zu nennen sind zunächst verschiedene Urteile des Gerichtshofs, in denen dieser einen hinreichend engen Bezug zum freien Warenverkehr verneinte. So lehnte der EuGH das Vorliegen einer Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung in seiner Entscheidung zum deutschen Nachtbackverbot (Verbot der Auslieferung von Brötchen vor 6 Uhr morgens) mit der Begründung ab, hier gehe es um eine nationale Verkaufsregelung, die keinen grenzüberschreitenden Bezug aufweise und deshalb den Handel zwischen den Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigen könne.35 Ebensowenig erachtete der Gerichtshof Art 28 EGV in Bezug auf das belgische Verbot des Ausschanks von Alkoholika zu Nachtzeiten für einschlägig: Denn die Maßnahme stehe in keinem Zusammenhang mit der Einfuhr von Waren, so dass sie schon nicht geeignet sei, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.36 Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof es mit ähnlicher Begründung ablehnte, Sonntagsverkaufsverbote am Maßstab des Art 28 EGV zu messen.37 Interessant sind diese Urteile insb deshalb, weil bei

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EuGH, Slg 1974, 837, Rn 5 - Dassonville. Ausdrücklich E u G H , Slg 1984, 1299, Rn 20 - Prantl. EuGH, Slg 1981, 1993, Rn 10 - Oebel. E u G H , Slg 1982, 1211, Rn 9 - Blesgen. E u G H , Slg 1989, 3851, Rn 14 - Torfaen Borough.

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allen fraglichen Maßnahmen letztlich eine mittelbare und potenzielle Beeinträchtigung des Einfuhrvolumens von Produkten kaum zu verneinen war, so dass allein auf der Grundlage der Dassonville-Formel der Tatbestand des Art 28 EGV hätte bejaht werden müssen. Besonders auffallend ist dies beim belgischen Nachtausschankverbot für Alkoholika: Denn dessen Sinn und Zweck besteht ja gerade darin, nachfrage- und damit auch einfuhrhemmend zu wirken. Ableiten kann man aus dieser „frühen" - weil vor der KeckRspr38 angesiedelten - Rspr39 nur, dass gerade bei nicht (offen oder versteckt) diskriminierenden Maßnahmen potenzielle Markteinbußen und damit Auswirkungen auf das Volumen eingeführter Produkte nicht in jedem Fall ausreichen, damit der Tatbestand des Art 28 EGV eröffnet ist. Allerdings wurde nicht klar, nach welchen Kriterien genau die Tragweite der Dassonville-Formel eingeschränkt werden sollte. Insofern leitete dann das Keck-\Jrtti\ aus dem Jahr 199340 eine gewisse auch dogmatische Klarstellung ein. Gegenstand des Urteils war das französische Verbot des Verkaufs bestimmter Waren zum Verlustpreis, das nicht am Maßstab des Art 28 EGV gemessen werden könne. Zur Begründung stellte der EuGH darauf ab, dass „bestimmte Verkaufsmodalitäten" nicht in den Anwendungsbereich des Art 28 EGV fielen, sofern sie zwei Voraussetzungen erfüllen: Erstens müssen sie für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und zweitens müsse der Absatz inländischer und eingeführter Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich gleich berührt sein.41 Die KeckRspr schränkt damit schon den Tatbestand des Art 28 EGV ein, dies im Gegensatz zu der zeitlich vor ihr entwickelten sog Casiw-ife-Z>;)on-Rechtsprechung, die aus dogmatischer Sicht auf der Rechtfertigungsebene anzusiedeln ist.42 Da der EuGH den Begriff der „bestimmten Verkaufsmodalitäten" allerdings nicht definierte, stellte sich schon bald die Frage, welche nationalen Maßnahmen genau denn nun nicht (mehr) in den Anwendungsbereich des Art 28 EGV fallen sollen. Gewisse Anhaltspunkte lassen sich einmal aus der .Kecfc-Formel selbst, zum anderen aber auch aus der Folgerechtsprechung entwickeln, wobei in erster Linie folgende Aspekte von Bedeutung sind: Maßnahmen, die sich in irgendeiner Form auf die Beschaffenheit von Produkten (unter Einschluss ihrer Verpackungen, jedenfalls sofern diese untrennbar mit dem Produkt verbunden ist) selbst beziehen, stellen keine Verkaufsmodalitäten dar. So stellt etwa das Verbot, die Verpackung eines Schokoladenriegels unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Zusatz „+10 %" zu kennzeichnen, eine Maßnahme gleicher Wirkung dar und ist am Maßstab des Art 28 EGV zu prüfen.43 Ebenso ist das Verbot, bestimmte Erzeugnisse unter einer gewissen Bezeichnung zu vermarkten, nicht als Verkaufsmodalität anzusehen, so etwa das Verbot, ein kosmetisches Mittel unter dem Namen „Clinique" zu vermarkten.44 Aufgrund der engen Verbundenheit mit dem zu verkaufenden Produkt ist

38 S sogleich im Text im nächsten Abs. 39 Vgl neben den angeführten Fällen noch die weiteren Nachweise bei Middeke Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, 1994, S 132 f, unter Berücksichtigung der verschiedenen Ansätze zu ihrer dogmatischen Einordnung; ausf zu der einschlägigen Rspr auch Hammer Handbuch zum freien Warenverkehr, 1998, S 35 ff. 40 EuGH, Slg 1993,1-6097 ff - Keck. 41 EuGH, Slg 1993,1-6097, Rn 16 - Keck. 42 S u Rn 53 ff u § 7 Rn 54. 43 EuGH, Slg 1995,1-1923, Rn 12 f - Mars. 44 EuGH, Slg 1994,1-317 ff - Clinique; s auch Slg 1996,1-6039 ff - Graffione.

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auch das Verbot, in Zeitschriften oder sonstigen Drucksachen Gewinnspiele anzubieten, als Maßnahme gleicher Wirkung wie Einfuhrbeschränkungen anzusehen.45 Maßnahmen, die die Art und Weise der Vermarktung eines Produkts bestimmen, ohne jedoch mit diesem „verbunden" zu sein, sind grundsätzlich als Verkaufsmodalitäten anzusehen. So ist das Gebot, Säuglingsnahrung nur in Apotheken zu verkaufen, als Verkaufsmodalität einzustufen.46 Aber auch die Regelung der Öffnungszeiten von Tankstellen wird vom EuGH als Verkaufsmodalität angesehen.47 Bei den Grenzfällen kommt es nach der Rechtsprechung des EuGH iE darauf an, ob eine bestimmte Maßnahme bereits den Marktzugang eines Produkts verhindert, also maW zur Folge hat, dass das jeweilige Produkt erst gar nicht auf den Markt des betroffenen Mitgliedstaates gelangen kann.48 Bei vertriebsbezogener Werbung etwa geht es nicht um den Zugang zum Markt, wird dieser doch „schrankenlos" gewährleistet, sondern um die Art und Weise des Vermarktens des Produkts. So ist denn auch nach der Rspr des EuGH das Verbot der Fernsehwerbung für bestimmte Erzeugnisse grundsätzlich als Verkaufsmodalität einzuordnen, es sei denn, ein solches Verbot entfaltet stärkere Auswirkungen auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten.49 Schließlich ist daran zu erinnern, dass Verkaufsmodalitäten jedenfalls dann nicht vorliegen können, wenn eine Maßnahme unterschiedliche Wirkungen für einheimische und eingeführte Produkte entfaltet, letztere also offen oder versteckt diskriminiert. Dies sei etwa bei einer Regelung der österreichischen Gewerbeordnung der Fall, wonach nur derjenige Lebensmittel „herumziehend" feilbieten darf, der in dem betreffenden oder einem angrenzenden Gewerbebezirk eine ortsfeste Niederlassung unterhält, führe diese Regelung doch dazu, dass Anbietern aus dem Ausland damit der Zugang zu diesem Spektrum des österreichischen Marktes verwehrt wäre.50 Ähnlich argumentierte der EuGH in Bezug auf das sehr umfassende schwedische Verbot der Werbung mit Alkohol: Eine solche Regelung führe dazu, dass der Marktzugang für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten stärker behindert werde als für die ohnehin schon besser bekannten einheimischen Produkte.51 Alle Abgrenzungsprobleme52 sind auch mit diesen Anhaltspunkten nicht gelöst, wie etwa das Bsp eines generellen Werbeverbots für ein bestimmtes Produkt (zB Alkohol oder Tabak) zeigt: Die einschlägigen Urteile des EuGH betonen, wie erwähnt, einerseits, es 45 46 47 48

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EuGH, Slg 1997,1-3689, Rn 12 - Familiapress = Erichsen JK 98, EGV Art 30/1 = -> § 13 Rn 27, 33. EuGH, Slg 1995,1-1621, Rn 15 - Kommission/Griechenland. EuGH, Slg 1994,1-2227, Rn 13 ff - t'Heukske. In diese Richtung etwa EuGH, Slg 1995,1-1621, Rn 11 f - Kommission/Griechenland; Slg 1995, 1-1141, Rn 37 - Alpine Investments; ausdrücklich nunmehr EuGH, EuZW 2001, 251, Rn 18 Gourmet International: Nach den Ausführungen im Urteil Keck „fallen nationale Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, nur dann nicht in den Anwendungsbereich des Art 28 EGV, wenn diese nicht geeignet sind, den Marktzugang für Erzeugnisse aus einem anderen Mitgliedstaat zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tun". EuGH, Slg 1995,1-179, Rn 20 ff - Leclerc; Slg 1997,1-3843, Rn 39 f - de Agostini. EuGH, Slg 2000, 1-151, Rn 9 - Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = Schoch JK 00, EGV Art 28/1. Sehr krit zu diesem Urteil vor dem Hintergrund der seiner Ans nach zu weiten Auslegung des Begriffs der versteckten Diskriminierung Gundel EuZW 2000, 311 f. EuGH, EuZW 2001, 251, Rn 20 f - Gourmet International. S auch noch sogleich die Lösung zu Fall 2. Für die auch in der Literatur verschiedene Wege aufgezeigt wurden. Vgl für eine Zusammenstellung der verschiedenen vertretenen Ansätze Epiney in: Calliess/Ruffert Art 28 EGV Rn 35 mwN.

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gehe etwa bei Fernsehwerbung um eine Verkaufsmodalität 53 , weil offenbar der Zugang zum Markt selbst ja nicht eingeschränkt werde und die Möglichkeit des Verkaufs des entsprechenden Produkts unbeschränkt möglich bleibe. Andererseits aber weist der E u G H darauf hin, eine Maßnahme gleicher Wirkung liege immer dann vor, wenn das (vollständige) Verbot einer Form der Absatzförderung eines Erzeugnisses in einem Mitgliedstaat nachteilige Auswirkungen auf Erzeugnisse anderer Mitgliedstaaten entfalte. 54 Dies erscheint auch insofern einsichtig, als jedenfalls ein quasi generelles Werbeverbot dazu führen dürfte, dass inbs neu eingeführte Produkte fast nicht lanciert werden können. Da auch neue inländische Produkte wohl nur sehr schwer in den Markt eingeführt werden können, nähert sich eine solche Maßnahme in ihren Wirkungen einer Marktzugangsbeschränkung an. Wo nun genau die Grenze zwischen beiden Fallgestaltungen zu ziehen ist, bleibt nach wie vor offen. Insofern hätten die Urteile des E u G H in Bezug auf die nicht produktbezogene Werbung durchaus auch anders ausfallen können. Der Ansatz des EuGH kann aber auch unabhängig von derartigen Abgrenzungsproblemen hinterfragt werden: Geht man nämlich davon aus, dass der Sinn und Zweck des Art 28 EGV in erster Linie darin zu sehen ist, dass die in den verschiedenen Mitgliedstaaten produzierten Waren im Unionsgebiet frei zirkulieren können, liegt es nahe, darauf abzustellen, ob ganz allgemein die Rahmenbedingungen für die Vermarktung oder den Vertrieb von Produkten geregelt werden oder ob es darum geht, bestimmte Produkte in irgendeiner Weise einer besonderen Regelung zu unterwerfen. Letzteres ist aber immer dann der Fall, wenn eine nationale Vorschrift nicht alle Produkte, sondern eine eingrenzbare Produktgruppe - wie zB Säuglingsnahrung, Tabak, Alkoholika usw - betrifft. Dieser Ansatz drängt sich auch vor dem Hintergrund auf, dass - wie das Beispiel der Beschränkung des Verkaufs bestimmter Produkte auf bestimmte spezialisierte Stellen zeigt - zahlreiche an sich den Marktzugang nicht berührende Regelungen für die Wirtschaftsteilnehmer ggf recht weitgehende Markteinbußen zur Folge haben können und insofern in ihren Auswirkungen mit unmittelbar produktbezogenen Regelungen durchaus vergleichbar sind. Im Übrigen ließen sich mit dem hier vertretenen Ansatz auch problemlos die Grenzfalle lösen: So geht es bei dem erwähnten generellen Werbeverbot eben um die Reglementierung eines bestimmten abgrenzbaren Produkts oder Produktgruppe, so dass eine Maßnahme gleicher Wirkung zu bejahen ist. Auf eine irgendwie geartete „Spürbarkeit" der Maßnahme oder eine „Nähebeziehung" zwischen der Maßnahme und der beeinträchtigenden Wirkung kommt es darüber hinaus jedenfalls nicht an55: Denn letztlich geht es hier um eine Art Abschwächung des Kriteriums der Geeignetheit einer Maßnahme, handelsbeschränkende Wirkungen entfalten zu können, deren Konturen aber denkbar unklar und kaum einer voraussehbaren Konkretisierung zugänglich sind. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die in diese Richtung gehende Rspr 56 weitgehend heute durch die Keck-Rspr überholt ist und eine Maßnahme 53 EuGH, Slg 1995,1-179, Rn 20 ff - Leclerc; s auch Slg 1993,1-6787, Rn 19 ff - Hünermund. 54 EuGH, Slg 1997,1-3843, Rn 40 - de Agostini; ebenso EuZW 2001, 251, Rn 20 f - Gourmet International. 55 Anders offenbar -» § 7 Rn 66. Wie hier etwa Füller Grundlagen und inhaltliche Reichweite der Warenverkehrsfreiheiten nach dem EG-Vertrag, 2000, S 111 ff; Leible in: Grabitz/Hilf Art 28 EGV Rn 15; Dauses in: HdBEUWirtschR, C.I. Rn 89; s unter Bezugnahme auf die jüngere Rechtsprechung auch schon Epiney NVwZ 1999, 1076, 1077; ausf zum Problemkreis auch Keßler Das System der Warenverkehrsfreiheit im Gemeinschaftsrecht, 1997, S 21 ff. 56 S die Nachw in Fn 35 ff.

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gleicher Wirkung in diesen Fällen auf ihrer Grundlage zu verneinen wäre. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die „geringe Intensität" einer Maßnahme jedenfalls auf der Rechtfertigungsebene im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist. Allerdings ist die Rechtsprechung des E u G H hier nicht immer klar: Während der E u G H teilweise eine Art Spürbarkeit oder eine Nähebeziehung von Maßnahme und beschränkender Wirkung als notwendig anzusehen scheint 57 , deuten andere Urteile darauf hin, dass dies gerade nicht der Fall ist, so wenn bei der Frage des Vorliegens einer beschränkenden Wirkung einer Regelung - die zweifelhaft war - ausschließlich auf ihren rechtlichen Gehalt, nicht hingegen auf das Erfordernis einer irgendwie gearteten Spürbarkeit abgestellt wird®. Lösung Fall 1: Ein Werbeverbot wie das zur Debatte stehende betrifft allgemein Alkohol, also auch eingeführten Alkohol, so dass insofern der Anwendungsbereich der Art 28 ff EGV eröffnet ist (vgl auch Art 23 1] EGV). Das ins Auge gefasste Gerichtsurteil stellt eine staatliche Maßnahme dar. Weiterhin handelt es sich um eine M a ß n a h m e gleicher Wirkung im Sinne der Dassonville-Formd, da ein Werbeverbot dazu führen kann und sogar soll, dass der Absatz (auch) eingeführter Alkoholika zurückgeht, so dass der innergemeinschaftliche Handel behindert ist. Fraglich könnte aber sein, ob eine Verkaufsmodalität im Sinne der KcckFormel vorliegt. Grundsätzlich geht es bei dem zur Debatte stehenden Verbot nicht um eine produktbezogene, sondern um eine verkaufsbezogene Maßnahme, da die Art und Weise der Vermarktung geregelt wird und die Werbung auch nicht untrennbar mit dem Produkt verbunden wird. Zudem wird der Marktzugang von Alkoholika als solcher nicht berührt; die Vermarktung bleibt nach wie vor ohne Weiteres möglich. Insofern könnte die Annahme naheliegen, es handele sich um eine Verkaufsmodalität. In Anbetracht des Umstandes aber, dass das schwedische Verbot nicht nur eine Form der Förderung des Absatzes eines Erzeugnisses untersagt, sondern die Hersteller und Importeure an nahezu jeder Verbreitung von an die Verbraucher gerichteter Werbung hindert und dass gerade bei Genussmitteln wie dem Alkohol herkömmlichen gesellschaftlichen Gebräuchen bei der Auswahl der Getränke eine wichtige Rolle zukommt, entfaltet das in Frage stehende umfassende Werbeverbot stärkere Auswirkungen auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten als auf einheimische Erzeugnisse, so dass ein Hemmnis für den Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten vorliegt und der Anwendungsbereich des Art 28 EGV eröffnet ist. D a s Verbot könnte jedoch aus Gründen des Gesundheitsschutzes (Art 30 EGV) gerechtfertigt sein, da es zum Kampf gegen den Alkoholismus beitragen soll. Aus dem Sachverhalt sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass das Verbot nicht den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen würde; hierfür bedarf es im Übrigen der Untersuchung der rechtlichen und tatsächlichen Umstände, die das vorlegende Gericht durchzuführen hat.

57 Vgl etwa EuGH, Slg 1996. 1-2975, Rn 32 f - Semeraro; Slg 1993. 1-5009, Rn 8 fT CMC Motorradeenter; Slg 1994, 1-3453, Rn 24 Peralta; Slg 1999, 1-6269, Rn 16 - BASF. 58 EuGH. Slg 2000. 1-151. Rn 25 ff Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = Schach JK. 00. EGV Art 28/1; s auch Slg 1998. 1-6197. Rn 16 IT Kommission/Frankreich. Gegen einen „Spürbarkeitstest" wohl auch EuGH. Slg 1984, 1299, Rn 20 Prantl; Slg 1993. 1-2361, Rn 17 fT Yves Rocher = Kimig JK 94. EWGV Art 30/4; Slg 1998, 1-8033. Rn 22 Bluhme; Slg 1999, 1-3845 ff EDSrl. 197

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3. Mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung 42

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Gemäß Art 29 EGY sind mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung verboten. Der Verbotszweck des Art 29 EGV stimmt insofern mit demjenigen des Art 28 EGV überein, als verhindert werden soll, dass der freie Warenverkehr dadurch behindert wird, dass die Mitgliedstaaten über eine Beschränkung der Ausfuhr die Nachfrage auf dem innerstaatlichen Markt sättigen.59 Insofern kann bei der Auslegung des Art 29 EGV durchaus an die im Rahmen des Art 28 EGV entwickelten Grundsätze angeknüpft werden.60 Allerdings ist die Dassonville-Formel vor dem Hintergrund über die im Rahmen des Art 28 EGV entwickelten Ansätze einzuschränken, als ihre „vollumfangliche" Heranziehung letztlich dazu führte, dass nahezu jede Produktions- oder Vertriebsregelung gegen Art 29 EGV verstieße, wird doch hierdurch der innergemeinschaftliche Handel regelmäßig zumindest mittelbar und potenziell betroffen, da derartige Regelungen die Herstellungskosten negativ beeinflussen. So geht denn auch der EuGH davon aus, dass Art 29 EGV nur auf solche Maßnahmen Anwendung finden könne, die „spezifische Beschränkungen der Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und damit unterschiedliche Bedingungen für den Binnenhandel innerhalb eines Mitgliedstaates und seinen Außenhandel schaffen, so dass die nationale Produktion oder der Binnenmarkt des betroffenen Staates zum Nachteil der Produktion oder des Handels anderer Mitgliedstaaten einen besonderen Vorteil erlangt" 61 . In der Folgerechtsprechung wurde dieser Ansatz bestätigt, wobei allerdings nicht mehr verlangt wurde, dass der Vorteil für den Absatz auf dem Binnenmarkt des jeweiligen Staates mit einem Nachteil der ausländischen Produktion einhergeht. Zu überzeugen vermag dieser Ansatz schon deshalb, weil nur im Falle besonderer Vorschriften für den Export bzw - in der Sprache des EuGH - bei „spezifischen Beschränkungen der Ausfuhrströme" der Absatz auf dem Binnenmarkt bevorzugt wird und damit nur unter dieser Voraussetzung der Handel zwischen den Mitgliedstaaten tatsächlich in Mitleidenschaft gezogen wird.62 Letztlich führt diese einschränkende Auslegung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung im Rahmen des Art 29 EGV damit dazu, dass dieser Bestimmung lediglich ein Verbot solcher Maßnahmen zu entnehmen ist, die zwischen den für den inländischen Markt bestimmten Produkten und denjenigen Waren, die ausgeführt werden sollen, unterscheiden. Von vornherein ausgeschlossen vom Anwendungsbereich des Art 29 EGV sind damit allgemeine, auf alle Produkte anwendbare Maßnahmen. In diesem Sinn werden also nur diskriminierende Maßnahmen erfasst, wobei die Differenzierung allerdings an die Bestimmung der Waren anknüpfen muss.

III. Rechtfertigung 46

Ist das Vorliegen einer mengenmäßigen Ein- oder Ausfuhrbeschränkung oder einer Maßnahme gleicher Wirkung zu bejahen und damit der Tatbestand des Art 28 oder 29 EGV 59 Vgl zum Normzweck des Art 29 EGV Müller-Graff'm: GTE Art 30 EGV Rn 1 f, Art 34 EGV Rn 1. 60 Leible in: Grabitz/Hilf Art 29 EGV Rn 2 ff; Müller-Graff in: GTE Art 34 Rn 1 ff. 61 EuGH, Slg 1979, 3409, Rn 7 - Groenveld. Aus der jüngeren Rspr EuGH, Slg 1999,1-3845, Rn 10 EDSrl; Slg 2000,1-3123, Rn 36 ff - Belgien/Spanien in Bezug auf das Erfordernis, in einer Region hergestellten Wein auch dort abzufüllen, wenn die entsprechende Ursprungsbezeichnung verwendet werden soll. 62 Ausf BBPS Rn 763 f. AA allerdings Füller (Fn 55) S 244 ff. 198

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§ 8 III 1

gegeben, ist die entsprechende Maßnahme grundsätzlich verboten. Allerdings eröffnet das Gemeinschaftsrecht Rechtfertigungsmöglichkeiten, wobei zwischen ausdrücklich im Vertrag geregelten Rechtfertigungsgründen (b) und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen (sog „zwingenden Erfordernissen") (c) unterschieden werden kann. Gemeinsam ist beiden Kategorien, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist (d). Im Übrigen stellen sich bei allen Rechtfertigungsgründen eine Reihe gemeinsamer Fragen, die daher bereichsübergreifend erörtert werden sollen (a). Der Sinn und Zweck dieser Möglichkeit des Abweichens vom grundsätzlichen Verbot der Art 28, 29 EGV ist darin zu sehen, dass gewährleistet werden soll, dass die Anwendung dieser Bestimmungen nicht dazu führen soll, dass bestimmten Schutzanliegen nicht mehr Rechnung getragen werden kann. Insofern geht es also nicht um eine allgemeine Schutzklausel (zugunsten der Mitgliedstaaten) oder um ein „Herausschälen" bestimmter gegenständlich definierter Bereiche aus dem Anwendungsbereich der Regelungen über den freien Warenverkehr, sondern ermöglicht wird nur die Verfolgung bestimmter Schutzziele und damit der Schutz bestimmter Rechtsgüter63 unter Beachtung der gemeinschaftsrechtlich determinierten Anforderungen. Aus diesen Grundsätzen folgt dann auch, dass die Schutzgüter - seien sie nun ausdrücklich im Vertrag geregelt oder aber ungeschriebener Natur - als gemeinschaftsrechtliche Begriffe nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen auszulegen sind. Allerdings verweisen die verwandten Begriffe teilweise wiederum auf mitgliedstaatliche Konzepte, so insb die Konzepte der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sittlichkeit. Aber auch hier setzt das Gemeinschaftsrecht insofern Grenzen, als sich die Ausfüllung des Bedeutungsgehalts dieser Begriffe durch die Mitgliedstaaten in einer gewissen Bandbreite bewegen muss.64

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1. Bereichsübergreifende Aspekte a) Keine sekundärrechtlichen Regelungen Eine Rechtfertigung kommt von vornherein nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass der entsprechende Bereich nicht durch das Sekundärrecht geregelt ist.65 Diese nur für mitgliedstaatliche Regelungen einschlägige Einschränkung ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der den Mitgliedstaaten eröffneten Möglichkeit des Rückgriffs auf die Rechtfertigungsgründe des Art 30 EGV sowie die zwingenden Erfordernisse: Denn wenn das entsprechende Rechtsgut (schon) durch gemeinschaftliche Regelungen geschützt wird, fehlt das Bedürfnis nach einem autonomen mitgliedstaatlichen Schutz, würde doch ansonsten die bestehende gemeinschaftliche Harmonisierung unterlaufen werden. Das Gemeinschaftsrecht geht also in diesen Fällen maW davon aus, dass dem Schutz des betreffenden Rechtsguts durch die sekundärrechtliche Regelung Rechnung getragen werden soll. Bestätigt wird diese Sicht durch die Regelungen der Art 95 IV ff EGV, die eben gerade (ausnahmsweise) auch im Rahmen des Anwendungsbereichs gemeinschaftlichen Sekun-

63 Ausdrücklich etwa EuGH, Slg 1979, 2555, Rn 5 - Kommission/Deutschland. 64 Immerhin impliziert dieses „Bandbreitenkonzept", dass die Inhalte etwa der öffentlichen Ordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten variieren (können), wie etwa das Bsp der Lotterien zeigt, die in einigen Mitgliedstaaten (teilweise) verboten sind, in anderen aber nicht. Vgl den Sachverhalt in E u G H , Slg 1994,1-1039 ff - Schindler; Slg 1997,1-3689 ff - Familiapress = Erichsen JK 98, EGV Art 30/1. 65 E u G H , Slg 1996,1-253, Rn 18 - Hedley Lomas; Slg 1995,1-1831, R n 42 f - Decker; - » § 7 Rn 84.

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därrechts den Mitgliedstaaten unter bestimmten (engen) Voraussetzungen das Anlegen eines höheren Schutzstandards erlauben. Allerdings greifen diese Einschränkung der Möglichkeit der Berufung auf Art 30 EGV sowie die zwingenden Erfordernisse (selbstverständlich) nur insoweit, als tatsächlich eine abschließende Harmonisierung vorliegt66, wobei der abschließende Charakter 67 einer gemeinschaftlichen Regelung immer dann zu verneinen ist, wenn der Schutz des entsprechenden Rechtsguts nicht umfassend geregelt ist68. Nach der Rspr des EuGH 69 ist das Verbot der Heranziehung der allgemeinen primärrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Falle einer abschließenden sekundärrechtlichen Regelung insofern „absolut" zu verstehen, als es auch dann eingreift, wenn die Erreichung des sekundärrechtlich angestrebten Schutzniveaus deshalb nicht möglich ist, weil andere Mitgliedstaaten ihre gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen nicht einhalten, und dies auch in den Fällen, in denen der einschlägige Gemeinschaftsrechtsakt kein Kontroll- oder Sanktionsverfahren vorsieht.70 Dieser Ansatz entspricht dem auch sonst vom EuGH angewandten Grundsatz, dass die Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts durch einen anderen Mitgliedstaat nichts an der eigenen Pflicht zur Beachtung des Gemeinschaftsrechts ändert. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Heranziehung dieser grundsätzlich zwingenden Sicht auch bei der hier diskutierten Konstellation zwingend und sachgerecht ist: Sinn und Zweck der Rechtfertigungsmöglichkeiten nach Art 30 EGV und durch die zwingenden Erfordernisse ist ja darin zu sehen, dass die entsprechenden Rechtsgüter geschützt werden. Dieses Anliegen kann zwar dann nicht mehr greifen, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber selbst das Schutzniveau festlegt; allerdings lebt es doch immer dann wieder auf, wenn das darin zugrunde gelegte Schutzniveau nicht erreicht wird bzw werden kann. Insofern geht es dann nicht mehr um die „typische" Konstellation, dass ein Mitgliedstaat seine Konzeption oder sein Schutzniveau an die Stelle der gemeinschaftlichen Regelungen stellen möchte oder dass ein Mitgliedstaat unter Berufung auf die Nichteinhaltung der vertraglichen Verpflichtungen durch einen anderen Mitgliedstaat seinen gemeinschaftsrechtlichen Pflichten ebenfalls nicht nachkommen möchte, so dass man jedenfalls bei gravierenden und eindeutigen Verletzungen der sekundärrechtlichen Normen durch andere Mitgliedstaaten das Recht auf einen Rückgriff auf Art 30 EGV oder die zwingenden Erfordernisse hätte zulassen können.71 b) Verhältnis des Art 30 EGV zu den „zwingenden Erfordernissen", Anwendungsbereich der Rechtfertigungsgründe und dogmatische Einordnung

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Wie bereits eingangs erwähnt, sind dem Gemeinschaftsrecht sowohl ausdrückliche, im Vertrag geregelte Rechtfertigungsgründe, die in Art 30 EGV enthalten sind, als auch 66 Vgl EuGH, Slg 1998,1-6871, Rn 26 ff - Kommission/Deutschland; Slg 1994,1-5243, Rn 14 - Ortscheit. 67 Die Frage des abschließenden Charakters einer Regelung kann allerdings ggf schwierig zu beantworten sein. Vgl hierzu Slot ELR 1996, 378 ff; umfassend Furrer Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen, 1994. 68 Vgl die Beispiele aus der Rsp in EuGH, Slg 1991, 1-3069, Rn 16 ff - Denkavit; Slg 1998,1-1251, Rn 26 ff - Compassion in World Farming; Slg 1994,1-5243, Rn 13 ff - Ortscheit. 69 EuGH, Slg 1996,1-2553, Rn 19 - Hedley Lomas. 70 Diese Problematik stellt sich im Wesentlichen bei der zugegebenermaßen begrenzten Situation der Ausfuhrbeschränkungen. 71 AA Müller- Graff in : GTE Art 36 EGV Rn 14, 32.

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ungeschriebene Rechtfertigungsgründe zu entnehmen. Letztere wurden durch den EuGH in seiner Cassis de Dijon-Rspr72 entwickelt. Diese Regelung wirft die Frage nach dem Verhältnis der beiden Kategorien von Rechtfertigungsgründen, ihrem jeweiligen Anwendungsbereich sowie der dogmatischen Einordnung der zwingenden Erfordernisse als tatbestandsausschließende Gründe oder Rechtfertigungsgründe auf. Die Rspr des EuGH zu diesen Fragen lässt sich durch folgende Punkte zusammenfassen: Art 30 EGV sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen, und der Aufzählung der dort genannten Rechtfertigungsgründe komme ein abschließender Charakter zu.73 Dieser Ansatz schließt es aus, sozusagen analog zu Art 30 EGV weitere Rechtfertigungsgründe zu entwickeln. Gleichwohl wurde relativ bald deutlich, dass die in Art 30 EGV aufgeführten Rechtfertigungsgründe nicht ausreichend sind, um dem Anliegen eines effektiven Schutzes wichtiger Rechtsgüter Rechnung zu tragen, stammt die in Art 30 EGV enthaltene Liste doch aus dem Jahr 1957, und im Laufe der Zeit zeigte sich die Notwendigkeit, auch andere Schutzziele zu verfolgen, wie etwa solche des Verbraucher- oder Umweltschutzes. Vor diesem Hintergrund betonte der EuGH in dem diesbezüglich grundlegenden Cassis de Dijon-Urteil74, dass auf innerstaatlichen Rechtsvorschriften beruhende Handelshemmnisse immer dann hinzunehmen seien, wenn sie „notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes", mit denen ein „im allgemeinen Interesse liegendes Ziel, das den Erfordernissen des freien Warenverkehrs, der eine der Grundlagen der Gemeinschaft darstellt", gerecht wird, verfolgt wird.75 Während es zunächst noch fraglich war, in welchem Verhältnis die zwingenden Erfordernisse zu den Rechtfertigungsgründen des Art 30 EGV stehen76, hat der EuGH inzwischen klargestellt, dass nur solche Interessen als zwingende Erfordernisse in Betracht kommen, die nicht schon durch Art 30 EGV erfasst werden77. Nicht ganz klar ist die Rspr in Bezug auf die Frage, ob die zwingenden Erfordernisse als tatbestandsausschließende Gründe oder aber als Rechtfertigungstatbestände anzusehen sind. Die vom Gerichtshof verwandten Formulierungen dürften darauf hindeuten, dass dieser von ersterem Ansatz ausgeht.78 Dass der EuGH offenbar einen konzeptionellen Unterschied zwischen beiden Konstellationen macht, ergibt sich auch daraus, dass die Rechtfertigungsgründe des Art 30 EGV

72 E u G H , Slg 1979, 649 ff - Cassis de Dijon. 73 EuGH, Slg 1991,1-1361, Rn 9 - Kommission/Griechenland; Slg 1982, 2187, Rn 27 - Kommission/ Italien. 74 In dieser Rechtssache ging es um eine deutsche Vorschrift, wonach Fruchtsaftliköre als solche nur dann verkehrsfahig sind, wenn sie einen Mindestalkoholgehalt von 25 % aufweisen, was bei dem französischen Likör „Cassis de Dijon" gerade nicht der Fall war. 75 EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8, 14 - Cassis de Dijon. 76 Wurde doch der Gesundheitsschutz, der schon in Art 30 EGV enthalten ist, auch als Bsp für ein zwingendes Erfordernis aufgeführt. 77 EuGH, Slg 1991,1-4151, Rn 13 - Aragonesa. 78 Vgl etwa EuGH, Slg 1991, 1-4151, Rn 13 - Aragonesa; Slg 1989, 229, Rn 16 - Kommission/ Deutschland. S aber auch E u G H , Slg 1997,1-3689, Rn 18 - Familiapress = Erichsen JK 98, EGV Art 30/1, wo der E u G H von Rechtfertigung spricht.

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immer eingreifen könnten, also auch bei offenen Diskriminierungen nach der Warenherkunft, während ein Rückgriff auf die zwingenden Erfordernisse bei offenen Diskriminierungen ausgeschlossen sei79; allerdings ist darauf hinzuweisen, dass gerade im Bereich des Umweltschutzes verschiedentlich auch unmittelbar diskriminierende Regelungen grundsätzlich einer Rechtfertigung zugänglich erachtet wurden80, so dass die Rspr insoweit nicht ganz konsistent erscheint81. Diese Rspr führt jedoch zu einigen Unstimmigkeiten - ganz abgesehen davon, dass der EuGH teilweise einen recht großen Argumentationsaufwand betreiben musste, um an sich offen diskriminierende Maßnahmen dann doch als nicht offen diskriminierend einzustufen, so dass die Rechtfertigungsmöglichkeit aus Gründen des Umweltschutzes eröffnet werden konnte82: So erscheint die dogmatische Einordnung der zwingenden Erfordernisse als tatbestandsausschließende Gründe insofern nicht über alle Zweifel erhaben, als diese letztlich eine parallele Funktion wie Rechtfertigungsgründe haben und sie im Übrigen auch nach den gleichen Grundsätzen geprüft werden. Ferner bleibt auch im Falle des Vorliegens zwingender Erfordernisse die einfuhrbeschränkende Wirkung aufrechterhalten, so dass der Tatbestand der Art 28, 29 EGV an sich erfüllt ist; insofern erscheint ihre Qualifizierung als Rechtfertigungsgründe näherliegend. Damit in engem Zusammenhang steht die Überlegung, dass der Ausschluss einer Rechtfertigungsmöglichkeit offener Diskriminierungen durch zwingende Erfordernisse nicht sachgerecht erscheint: Dadurch wird nämlich in gewissen Fällen ein ausreichender Schutz der betroffenen Rechtsgüter verhindert, ist es doch gerade nicht von vornherein ausgeschlossen, dass etwa Erwägungen des Umweltschutzes auch offen diskriminierende Maßnahmen zu rechtfertigen vermögen. Etwaigen „Missbräuchen" kann auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit begegnet werden.83 Diese Sicht trüge auch den doch parallel gelagerten Funktionen der durch Art 30 EGV und die zwingenden Erfordernisse eröffneten Rechtfertigungsmöglichkeiten sowie ihrer letztlich parallelen Anwendung und Prüfung Rechnung.84 Wenn man diesem Ansatz

79 Vgl etwa EuGH, Slg 1981, 1625, Rn 11 - Kommission/Irland; Slg 1983, 127, Rn 11 - Schutzverband; Slg 1992,1-4431, Rn 33 ff - Kommission/Belgien = Kunig JK 93, EWGV Art 30/3; wohl auch Slg 1998, 1-1831, Rn 45 ff - Decker; bei versteckten Diskriminierungen (und sowieso bei Beschränkungen) hingegen können darüber hinaus auch die zwingenden Erfordernisse eingreifen, vgl EuGH, Slg 2000,1-151, Rn 25 ff - Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = Schoch JK 00, EGV Art 28/1, wo es um eine versteckte Diskriminierung ging, der EuGH aber grundsätzlich den Rückgriff auf das zwingende Erfordernis der Sicherstellung der Nahversorgung zugunsten ortsansässiger Unternehmen nicht ausschloss. Ähnlich EuGH, Slg 1997, 1-3843, Rn 44f de Agostini; s in diese Richtung auch bereits EuGH, Slg 1981, 1625, Rn 11 ff - Kommission/ Irland. Die Rspr ist hier allerdings nicht immer ganz klar, vgl etwa EuGH, Slg 1985, 305, Rn 27 ff - Cullet; aus jüngerer Zeit auch EuGH, Slg 1999, 1-2517, Rn 14 - Ciola = Ehlers JK 00, EGV Art 49/1. 80 EuGH, Slg 2000, 1-3743, Rn 48 - Syhavnens; iE auch schon Slg 1992, 4431, Rn 34 f - Kommission/Belgien = Kunig JK 93, EWGV Art 30/3. S auch EuGH, EuZW 2001, 242 ff - Preussen Elektra, wo es um eine Differenzierung nach dem Sitz des Stromlieferanten ging, wenn auch der EuGH die Frage des Vorliegens einer offenen Diskriminierung nicht ausdrücklich ansprach. 81 Vgl ausf jüngst zu dieser Problematik Heselhaus EuZW 2001, 645 ff. 82 So im Falle des wallonischen Einfuhrverbots für Abfälle, vgl EuGH, Slg 1992,1-4431, Rn 33 ff Kommission/Belgien = Kunig JK 93, EWGV Art 30/3. 83 S in diesem Zusammenhang auch Heselhaus EuZW 2001, 645, 648 f, der bei offenen Diskriminierungen für eine besonders strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung plädiert. 84 -> AA § 7 Rn 79. Wie hier etwa Weiss EuZW 1999, 493, 497; Leible in: Grabitz/Hilf Art 28 EGV

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folgt, e n t b e h r t die B e t o n u n g des abschließenden C h a r a k t e r s des A r t 30 E G V j e d e n Sinns, werden die d o r t a u f g e f ü h r t e n R e c h t f e r t i g u n g s g r ü n d e doch in j e d e m Fall zumindest f u n k tional d u r c h die zwingenden Erfordernisse ergänzt. Insgesamt d ü r f t e also eine einheitliche R e c h t f e r t i g u n g s d o g m a t i k letztlich a m sinnvollsten sein: In einem ersten Schritt wird gep r ü f t , o b der T a t b e s t a n d des A r t 28 oder 29 E G V erfüllt ist, in einem zweiten die Einschlägigkeit eines „öffentlichen Interesses" (entweder ein in A r t 30 E G V a u f g e f ü h r t e r G r u n d oder ein „zwingendes E r f o r d e r n i s " ) g e p r ü f t , u n d in einem dritten Schritt ist nach der Verhältnismäßigkeit der M a ß n a h m e zu fragen. IE f ü h r t die hier vertretene Sicht aber nur bei der Frage der A n w e n d b a r k e i t der zwingenden Erfordernisse auf offene Diskriminierungen zu anderen Resultaten als die R s p r des E u G H . c) N i c h t wirtschaftlicher C h a r a k t e r Fall 2: ( E u G H , Slg 1995,1-563 IT - Evans Medical) Diacetylmorphin ist ein Opiumderivat. Die Herstellung und Verarbeitung dieses Stoffes in Großbritannien war bislang einzig zwei in Großbritannien ansässigen Pharmaunternehmen gestattet; Dritten war die Einfuhr des Stoffes untersagt. Diese Regelung sollte sicherstellen, dass eine zuverlässige Versorgung mit dem als Schmerzmittel verwendeten Diacetylmorphin gewährleistet und der illegale Handel unterbunden wurde. Teilweise wurde aber auch vermutet, dass die Existenzfähigkeit des einzigen zugelassenen Herstellers durch diese Regelung gesichert werden sollte. Der britische Innenminister änderte diese Praxis nun unter Berufung ua auf ihren Verstoß gegen Art 28 EGV, wogegen die betroffenen Pharmaunternehmen klagen. Das zuständige Gericht legt dem E u G H ua die Frage vor, ob es tatsächlich stimme, dass die Regelung nicht mit Art 28 EGV in Einklang steht.

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Eine Rechtfertigung der B e s c h r ä n k u n g des freien Warenverkehrs k o m m t nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass die geltend g e m a c h t e n R e c h t f e r t i g u n g s g r ü n d e einen nicht wirtschaftlichen Charakter aufweisen." 5 Dies bedeutet letztlich eine E i n s c h r ä n k u n g derjenigen G r ü n d e des öffentlichen Interesses, die im R a h m e n des A r t 30 E G V oder der zwingenden Erfordernisse geltend g e m a c h t werden können: Sobald den verfolgten Zielsetzungen ein wirtschaftlicher C h a r a k t e r z u k o m m t , k o m m t eine H e r a n z i e h u n g der zwingenden Erfordernisse oder des A r t 30 E G V (in dessen R a h m e n etwa die öffentliche O r d n u n g einschlägig sein könnte) nicht in Frage. Ein wirtschaftlicher C h a r a k t e r ist im Ergebnis d a n n a n z u n e h m e n , wenn es bei den ergriffenen M a ß n a h m e n letztlich u m Wirtschaftslenkung, die Erreichung wirtschaftspolitischer Zielsetzungen oder ganz allgemein die A b w e n d u n g wirtschaftlicher Nachteile geht.

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D e r Ausschluss solcher G r ü n d e aus d e m A n w e n d u n g s b e r e i c h des A r t 30 E G V sowie der zwingenden Erfordernisse ergibt sich a u s Sinn u n d Zweck der A r t 28 ff EGV: Die „ G r u n d p h i l o s o p h i e " dieser Bestimmungen - wie auch der a n d e r e n G r u n d f r e i h e i t e n - geht doch gerade dahin, dass B e s c h r ä n k u n g e n des freien Verkehrs der P r o d u k t i o n s f a k t o r e n zu

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Rn 20. Hitkenberg EuR 2000, 99 f geht sogar soweit, dass sie die Rspr dahingehend auslegt, dass der EuGH nunmehr von einem einheitlichen Begriff der Beschränkung ausgehe (es also maW nicht mehr auf das Vorliegen einer offenen oder versteckten Diskriminierung ankomme), dann nach dem Vorliegen einer (tatbestandsausschließenden) Verkaufsmodalität frage und schließlich eine einheitliche Rechtfertigungsprüfung durchführe. 85 StRspr. s etwa EuGH, Slg 1995, 1-563, Rn 36 - Evans: Slg 1984, 2727, Rn 35 f - Campus Oil; Slg 1985, 305, Rn 30 ff - Cullet; jüngst EuGH, Slg 2001. 1-7915, Rn 21 Kommission/Griechenland.

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beseitigen sind, dies in der Annahme, dass sie wirtschaftlicher Effizienz entgegenstehen. Wenn dies aber so ist, können ja nicht Maßnahmen, die gerade über handelsbeschränkende Mittel wirtschaftliche Zielsetzungen verfolgen, von Art 30 EGV oder den zwingenden Erfordernissen gedeckt werden. Ansonsten könnten die durch Art 30 EGV und die zwingenden Erfordernisse eröffneten Rechtfertigungsmöglichkeiten dazu „missbraucht" werden, den durch die Anwendung der Art 28 f EGV möglicherweise (momentan) entstehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu begegnen. Das Verbot der Geltendmachung wirtschaftlicher Gründe schließt aber nicht aus, dass das primäre Schutzziel einer bestimmten Regelung über wirtschaftspolitische Maßnahmen verfolgt wird. Es wird also nur die eigenständige Verfolgung wirtschaftlicher Zielsetzungen um deren selbst willen ausgeschlossen; wenn aber wirtschaftspolitische Maßnahmen nur „Mittel zum Zweck" sind und letztlich anderen Zielsetzungen dienen, können sie grundsätzlich von Art 30 EGV und den zwingenden Erfordernissen erfasst werden. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn es um die Versorgung der Bevölkerung mit wichtigen Medikamenten aus Gründen des Gesundheitsschutzes geht. 86 Allerdings können solche Maßnahmen an der Verhältnismäßigkeit* 7 scheitern. Ausgeschlossen ist eine Berufung auf Art 30 EGV oder die zwingenden Erfordernisse aber jeweils dann, wenn es um Störungen der öffentlichen Ordnung im Gefolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten geht, wie dies etwa im Falle von Boykottmaßnahmen bei Einfuhren aus anderen Mitgliedstaaten der Fall sein kann. Denn es widerspricht der vertraglichen Systematik, das Funktionieren der Grundfreiheiten als Störung der öffentlichen Ordnung zu qualifizieren und somit im Ergebnis unter eine Art Vorbehalt der polizeilichen Generalklausel zu stellen. Lösung Fall 2: Die Vorlagefrage ist zulässig, obwohl die in Frage stehende Praxis bereits geändert worden ist: Denn die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen soll es dem nationalen Gericht ermöglichen, sich zu vergewissern, dass die Änderung der nationalen Praxis tatsächlich geboten war, um den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen. Diacetylmorphin ist eine Ware im Sinne des Art 23 II EGV, da es Gegenstand von Handelsgeschäften sein kann und im Hinblick auf diese grenzüberschreitend verbracht wird. Das Verbot der Einfuhr von Diacetylmorphin stellt eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Art 28 EGV dar, wird doch die Einfuhr einer Ware dem Wert oder der Menge nach begrenzt bzw in diesem Fall gar verboten. Eine Rechtfertigung kommt nur für Maßnahmen nicht wirtschaftlicher Art in Betracht, dh für solche, die nicht der Wirtschaftslenkung oder der Erreichung wirtschaftspoliüseher Zielsetzungen dienen. Gerade solche stehen aber bei der Sicherung des Überlebens eines Unternehmens zur Debatte, so dass diese Erwägung nicht zur Rechtfertigung der Einfuhrbeschränkung herangezogen werden kann. Hingegen dient die regelmäßige Versorgung des Landes mit einem für wichtige medizinische Zwecke gebrauchten Stoff dem Gesundheitsschutz (Art 30 EGV) und vermag damit grundsätzlich eine Behinderung des innergemeinschaftlichen Handels zu rechtfertigen. Die Maßnahme muss aber dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Der Sachverhalt erlaubt hier keine abschließende Feststellung (die im Übrigen dem nationalen Gericht obliegt), ob hier eine mildere Maßnahme denkbar gewesen Wäre.

86 E u G H , Slg 1995, 1-563. Rn 36 f 1-1831. Rn 39 IT Decker. 87 S u Rn. 79 ff.

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Evans; s auch Slg 1984. 2727. Rn 34 ff C a m p u s Oil: Slg 1998,

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d) Zur Frage der Notwendigkeit eines territorialen Bezugs In erster Linie sollen Art 30 EGV und die Anerkennung der zwingenden Erfordernisse natürlich sicherstellen, dass die verfolgten Schutzziele auf dem Gebiet des jeweiligen Mitgliedstaates88 verfolgt und verwirklicht werden können. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass ein Mitgliedstaat über nationale Maßnahmen auch Zielsetzungen verfolgt, die letztlich auf dem Gebiet eines anderen Staates „angesiedelt" sind. So kann etwa ein Einfuhrverbot für gefährdete Tierarten (nur) den Schutz der Tiere in einem anderen Staat zum Ziel haben. Fraglich ist nun, ob die Mitgliedstaaten über die Berufung auf Art 30 EGV oder die zwingenden Erfordernisse auch solche „extraterritorialen Zielsetzungen" verfolgen dürfen oder ob dies von vornherein ausgeschlossen ist. In Anknüpfung an Sinn und Zweck der Rechtfertigungsmöglichkeiten durch die in Art 30 EGV genannten und von den zwingenden Erfordernissen erfassten Rechtsgüter erscheint jedenfalls ein allgemeiner Ausschluss einer solchen Verfolgung „extraterritorialer Schutzinteressen" nicht sachgerecht: Denn diese Bestimmung soll es den Mitgliedstaaten doch gerade ermöglichen, die betreffenden Rechtsgüter zu schützen, wobei die Intensität dieses Schutzes grundsätzlich in ihrem Beurteilungsspielraum steht.89 Dann aber ist kein Grund ersichtlich, warum nationale Maßnahmen nicht auch grundsätzlich den Schutz von Rechtsgütern, die sich außerhalb ihres Territoriums befinden, zum Gegenstand haben können. Allerdings muss diese Möglichkeit immer dort eine Grenze finden, wo der Kompetenzbereich anderer (Mitglied-) Staaten beginnt; es wäre also nicht mit der Konzeption der Rechtfertigungsmöglichkeiten durch Art 30 EGV und die zwingenden Erfordernisse vereinbar, wenn ein Staat seine Vorstellungen in einem bestimmten Bereich anderen Staaten aufdrängte. MaW kommt es auf die Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Regelung der entsprechenden Belange an. Daher müssen die Mitgliedstaaten auch tatsächlich ein „eigenes" Schutzinteresse darlegen, dessen Vorliegen aber gerade nicht in Anknüpfung an das Territorium zu bestimmen ist. Vielmehr kommt es auf eine (auch) rechtlich begründbare eigene Verantwortung für das Schutzgut an, die sich auch aufgrund internationaler Verflechtungen bzw Interdependenzen ergeben kann.90

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e) Zur Bedeutung der gemeinschaftlichen Grundrechte Mitgliedstaatliche oder gemeinschaftliche Maßnahmen zum Schutz der in Art 30 EGV genannten oder durch die zwingenden Erfordernisse erfassten Rechtsgüter können auch grundrechtlich geschützte Positionen berühren, so etwa, wenn die Meinungsäußerungs-

88 Oder auch der Gemeinschaft. Diese Konstellation soll aber im Folgenden außer Betracht gelassen werden. Sie wirft im Wesentlichen die Frage der Konformität entsprechender einseitiger Maßnahmen mit dem GATT/WTO-Recht auf. Vgl hierzu mwN Epiney DVB1 2000, 77 ff. 89 Hierzu u Rn 83 ff. 90 Der EuGH musste diese Frage noch nicht entscheiden. In der Literatur gehen die Ansichten von einer grundsätzlichen Unzulässigkeit der Verfolgung „extraterritorialer Rechtsgüter" (Gornig/ Silagi EuZW 1992, 753, 756; wohl auch Everling NVwZ 1993, 209, 211) über eine ausnahmsweise Zulässigkeit im Falle der Existenz einer „globalen Gesamtverantwortung" der Staaten für bestimmte Interessen (Müller-Graff in: GTE Art 36 EGV Rn 37 ff; ähnlich Weiher Nationaler Umweltschutz und internationaler Warenverkehr, 1997, S 99 ff) bis hin zu einer Anknüpfung an „internationale Schutzinteressen", bei deren Einschlägigkeit eine Rechtfertigungsmöglichkeit eröffnet sei (so Kahl Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht 1993, S 192 f; Middeke Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, 1994, S 167 f)-

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freiheit durch Maßnahmen, die die Pressevielfalt erhalten sollen, eingeschränkt wird, aber auch schon immer dann, wenn die Wirtschaftsfreiheit berührt wird. Die gemeinschaftlichen Grundrechte (—> ausf hierzu § 13)91 binden selbstverständlich die Gemeinschaft und ihre Organe selbst. Sie entfalten aber auch insoweit Bindungswirkung für die Mitgliedstaaten, als diese Gemeinschaftsrecht anwenden oder durchführen. 92 Dann aber sind die gemeinschaftlichen Grundrechte auch in den Fällen, in denen es um mitgliedstaatliche Regelungen geht, die in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen und sich im Hinblick auf ihre Zulässigkeit auf gemeinschaftsrechtliche Begriffe - wie die in Art 30 EGV oder im Rahmen der zwingenden Erfordernisse relevanten Schutzgüter - berufen, zu beachten. Vor diesem Hintergrund ist wohl die Rspr des EuGH zu sehen, die betont, dass die im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Rechtfertigung für die Grundfreiheiten beschränkende Maßnahmen der Mitgliedstaaten „im Lichte der Grundrechte" auszulegen sei.93 Diese grundsätzliche Anwendbarkeit der gemeinschaftlichen Grundrechte entfaltet im Wesentlichen auf zwei Ebenen Rückwirkungen: Zum einen muss das im Rahmen der Heranziehung des Art 30 EGV oder der zwingenden Erfordernisse geltend gemachte Rechtsgut auch Einschränkungen des berührten Grundrechts rechtfertigen können, was in aller Regel der Fall sein wird. Zum anderen und vor allem ist auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit der Betroffenheit eines Grundrechts Rechnung zu tragen: Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit ieS müssen auch im Hinblick auf die Grundrechtsbeeinträchtigung geprüft werden. In aller Regel jedoch werden diese Aspekte der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit der „normalen" Verhältnismäßigkeitsprüfung zusammenfallen, stellt doch gerade die handelsbeschränkende Maßnahme einen Eingriff in das jeweilige Grundrecht dar.94 2. Geschriebene

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Rechtfertigungsgründe

Art 30 EGV erlaubt die Anwendung von gegen Art 28, 29 EGV verstoßender Maßnahmen aus einer Reihe im Einzelnen aufgezählter Gründe. Wie erwähnt 95 geht der EuGH auf der Grundlage einer engen Auslegung der einzelnen Rechtfertigungsgründe davon aus, dass die in Art 30 EGV enthaltene Liste abschließend ist. Im Einzelnen können vier Gruppen von Ausnahmetatbeständen unterschieden werden, wobei im Folgenden - auf

91 Vgl zum Grundrechtsschutz in der EU Kokott AöR 121 (1996), 599 ff; vor dem Hintergrund der „Proklamation" der Grundrechts-Charta etwa Besselink MJ 2001, 68ff; v. Bogdandy JZ 2001, 157 ff; Calliess EuZW 2001, 261 ff; Weber GYIL 2000, 101 ff. 92 Vgl ausf zu der Frage der Bindungswirkung der gemeinschaftlichen Grundrechte Epiney (Fn 15) S 125 ff; aus der Rspr insb EuGH, Slg 1991,1-2925, Rn 43 - ERT; Slg 1992,1-2575, Rn 23 - Kommission/Deutschland = Kunig JK 92, EWGV Art 30/2; Slg 1997, 1-3689, Rn 27 - Familiapress = Erichsen JK 98, EGV Art 30/1; - » § 13 Rn 29 ff. 93 EuGH, Slg 1992,1-2575, Rn 23 - Kommission/Deutschland = Kunig JK 92, EWGV Art 30/2; Slg 1997,1-3689, Rn 24 - Familiapress = Erichsen JK 98, EGV Art 30/1. In der Literatur wird diesem Ansatz des EuGH überwiegend gefolgt. Vgl etwa Holznagel Rundfunkrecht in Europa, 1996, S 156; Becker in: Schwarze Art 30 EGV Rn 62; sehr krit aber Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 164; ähnlich Stürmer AöR 123 (1998), 541, 567. 94 IE wohl ebenso § 7 Rn 83. 95 O Rn 53 ff.

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der Grundlage der einschlägigen Rspr - allerdings nur ein kurzer Überblick über den Aussagegehalt der einzelnen Tatbestände erfolgt.96 Die Schutzgüter öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit nehmen Bezug auf verschiedene Aspekte des ordre public: Hier geht es letztlich um die Beachtung der wesentlichen Grundregeln eines Gemeinwesens97, wobei die öffentliche Ordnung eine Art Oberbegriff darstellt und die öffentliche Sicherheit98 und Sittlichkeit99 spezifische Aspekte herausgreifen.100 Der Schutz der Gesundheit des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen - dem in der Rspr des EuGH eine sehr große Bedeutung zukommt - erfasst nur solche Maßnahmen, die den Schutz von Menschen, Pflanzen oder Tieren als solchen zum Gegenstand haben; notwendig ist also - immer nach der Rspr des EuGH - ein unmittelbarer Bezug zu den genannten Schutzgütern, während im Hinblick auf die genannten Rechtsgüter nur mittelbar wirkende Maßnahmen (zB solche, die in erster Linie dem Verbraucher- oder Umweltschutz dienen) von den „zwingenden Erfordernissen" erfasst werden.101 Das Schutzgut des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert nimmt Bezug auf das Interesse der Mitgliedstaaten, dem Land bestimmte künstlerische Werke oder sonstige für die nationale Identität bedeutende Gegenstände zu erhalten. In der Rspr spielte dieses Schutzinteresse bislang keine Rolle.102 Der Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums nimmt auf solche rechtliehen Instrumente Bezug, die gewerbliche oder kommerzielle Rechtspositionen schützen sollen. Hierunter fallen nach der Rspr des EuGH in erster Linie das Patentrecht103, das Warenzeichen-104 und Urheberrecht105, aber auch Ursprungsbezeichnungen und geographische Herkunftsangaben 106 .

96 Für weiterführende Hinweise insb auf die einschlägige Rspr sei auf die Kommentarliteratur verwiesen. Aus der Monographieliteratur jüngst Millarg Die Schranken des freien Warenverkehrs in der EG. Systematik und Zusammenwirken von Cassis-Rechtsprechung und Art. 30 EG-Vertrag, 2001, S 139 ff. 97 ZB die Verhinderung von Betrug im Zusammenhang mit der Gewährung von Ausfuhrbeihilfen EuGH, Slg 1994,1-2757, Rn 44 - Deutsche Milchkontor. 98 Die öffentliche Sittlichkeit betrifft in der Sache das Schutzsystem des Staates zur Erhaltung seines Gewaltmonopols, aber auch den Schutz der Existenz des Staates sowie seiner zentralen Einrichtungen. Vgl etwa EuGH, Slg 1991, 1-4621, Rn 22 ff - Richardt = Kunig JK 92, EWGV Art 30, 36/1. 99 Die öffentliche Sittlichkeit nimmt Bezug auf Moralvorstellungen, nach denen sich das Zusammenleben der Menschen richten soll. Vgl EuGH, Slg 1986, 1007, Rn 14 - Conegate; Slg 1979, 3795 ff - Henn und Darby. 100 Vgl Müller-Graff in: GTE Art 36 EGV Rn 49. In diese Richtung wohl auch EuGH, Slg 1984, 2727, Rn 33 - Campus Oil. 101 Vgl aus der Rspr zB EuGH, Slg 1998,1-8033 ff - Bluhme; Slg 1998, 1-5121 ff - van Harpegnies; Slg 1987, 1227 - Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier). 102 Vgl zu den sich stellenden Auslegungsfragen mwN Epiney in: Calliess/Ruffert Art 30 EGV Rn 37. 103 EuGH, Slg 1988, 3585, Rn 14 f - Thetford. 104 EuGH, Slg 1978, 1139, Rn 7 f - Hoffmann-La-Roche. 105 EuGH, Slg 1987, 1747, Rn 11 ff - Basset. 106 EuGH, Slg 1992,1-3669, Rn 10 - Delhaize; Slg 2000,1-3123, Rn 50 - Belgien/Spanien; Slg 1992, 1-5529, Rn 25 - Exportur.

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Im Einzelnen wirft die Auslegung dieser Rechtsgüter allerdings einige Fragen auf, denen hier aber nicht weiter nachgegangen werden kann. 107 3. Ungeschriebene

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Schranken

Wie bereits erwähnt 108 , entwickelte der EuGH in seinem Urteil Cassis de Dijonm den Grundsatz, dass Handelsbeschränkungen auch durch sog zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden können, wobei der EuGH davon ausgeht, dass diese nur auf versteckte Diskriminierungen und Beschränkungen, nicht hingegen auf offene Diskriminierungen Anwendung finden können."" Der EuGH hat die ursprüngliche Cassu-Formel in zahlreichen Urteilen angewandt und teilweise auch weiterentwickelt" 1 , insb durch die ausdrückliche Anerkennung weiterer zwingender Erfordernisse, wie etwa des Umweltschutzes" 2 , der Sicherstellung des finanziellen Gleichgewichts von sozialen Sicherungssystemen 1 kultureller Zwecke" 4 oder auch der Sicherung der Nahversorgungsbedingungen in relativ abgelegenen Gebieten" 5 . Jedenfalls sind die zwingenden Erfordernisse nicht abschließend formuliert („insbesondere"), so dass a priori alle öffentlichen Interessen hierunter subsumiert werden können, immer unter der Voraussetzung, dass sie aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht als solche anerkannt werden können, so dass sie insb keinen wirtschaftlichen Charakter aufweisen dürfen.' 4.

Verhältnismäßigkeit Fall 3: ( E u G H . Slg 2000. 1-3123 ff Belgien) N a c h den einschlägigen gesetzlichen V o r g a b e n in S p a n i e n ist die Zuliissigkeit d e s F ü h r e n s d e r U r s p r u n g s b e z e i e h n u n g „ R i o j a " f ü r den a u s d e r g l e i c h n a m i g e n Region s t a m m e n d e n Wein u a d a v o n a b h ä n g i g , d a s s d e r Wein in d e r A n b a u r e g i o n a b g e f ü l l t wird. Belgien hat S p a n i e n wegen dieses A s p e k t s d e r U r s p r u n g s r e g e l u n g v o r d e m E u G H verklagt. S p a n i e n hält d a s E r f o r d e r n i s d e r A b f ü l l u n g in d e r R e g i o n selbst f ü r n o t w e n d i g , d a n u r a u f diese Weise die Q u a l i t ä t des Weins gewährleistet w e r d e n könne, w ä h r e n d Belgien hier eine u n z u l ä s s i g e B e s c h r ä n k u n g des freien W a r e n v e r k e h r s g e l t e n d m a c h t .

107 Vgl im Einzelnen mit zahlreichen Nachw aus der Rspr Epincv in: Calliess/Ruffert Art 30 E G V Rn 38 ff. 108 S o Rn 53 11'. 109 E u G H , Slg 1979. 649 Cassis de Dijon. 110 S o Rn 53 IT. 111 Vgl die Zusammenstellung der Rspr bei Ahlfehl Zwingende Erfordernisse im Sinne der CassisReehtspreehung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S 85 ff; Millarg (Fn 96) S 163 IT. 112 E u G H , Slg 1988, 4607, Rn 8 f Kommission/Dänemark (Pfandnaschen); Slg 1992, 1-4431 Kommission/Belgien. 113 E u G H , Slg 1998, 1-1831, Rn 39 Decker. 114 E u G H , Slg 1985. 2605. Rn 21 fT - Cinetheque; Slg 1991, 1-4069, Rn 29 f Kommission/Niederlande (Mediawet); Slg 1993, 1-487, R n 9 f - O m r o e p (Mediawet); allerdings ist die Rspr hier auch teilweise recht zurückhaltend, vgl etwa E u G H , 1985, 1, Rn 28 ff Ledere, in Bezug auf Art 49 EGV. 115 E u G H , Slg 2000, 1-151, Rn 34 Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = Schach JK 00, E G V Art 28/1. 116 Hierzu o R n 59 ff.

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Liegt ein Rechtfertigungsgrund (entweder einer der in Art 30 EGV genannten oder aber ein zwingendes Erfordernis) vor, muss die jeweilige (nationale oder gemeinschaftliche) Maßnahme noch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, dh die betreffende Maßnahme muss zur Verfolgung des angestrebten Ziels geeignet sein, das mildeste Mittel darstellen - maW dem Grundsatz der Erforderlichkeit entsprechen - sowie angemessen (verhältnismäßig ieS) sein.117 Dieser in stRspr anerkannte Grundsatz beruht letztlich auf der Heranziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze und ist auch vor dem Hintergrund des Sinns und Zwecks der Art 28, 29 EGV sowie der anerkannten Rechtfertigungsmöglichkeiten zwingend, soll doch die Beschränkung des freien Warenverkehrs auf das notwendige Maß eingeschränkt werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Schutzziel stehen. Aus Art 30 S 2 EGV, wonach die unter Berufung auf Art 30 EGV ergriffenen Maßnahmen weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels darstellen dürfen, können keine weitergehenden Anforderungen abgeleitet werden. Vielmehr decken sich diese Erfordernisse iE mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit."8 Es ist denn auch kaum vorstellbar, dass „willkürliche Diskriminierungen" oder „verschleierte Beschränkungen" des Handels geeignet und erforderlich sein können. Eine Rechtfertigung nach Art 30 EGV oder auf der Grundlage der Heranziehung zwingender Erfordernisse kommt allerdings von vornherein nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass eine Gefahr für die Schutzgüter besteht. Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine solche mit einer (soweit dies überhaupt möglich ist) hundertprozentigen Sicherheit nachgewiesen werden muss. Ein gewisser Unsicherheitsfaktor kann also durchaus bestehen; notwendig ist aber eine substantiierte und nachvollziehbare Darstellung des Bestehens einer Gefahrdungslage. So deuten zB Kolibakterien auf pathogene Mikroorganismen hin, die eine wirkliche Gefahr für die Gesundheit darstellen." 9 Hingegen konnte nicht substantiiert glaubhaft gemacht werden, dass die in bestimmten Bieren vorhandenen Zusatzstoffe angesichts der Ernährungsgewohnheiten120 der deutschen Bevölkerung eine Gesundheitsgefahr mit sich bringen.'21 Ebenso wenig vermag der geringe Nährwert eines Nahrungsmittels eine Gefahrdung der Gesundheit zu begründen.122

117 Wobei der EuGH eine Maßnahme allerdings nur in Ausnahmefallen an der Angemessenheit scheitern lässt. Vgl (allerdings in Bezug auf Art 12 EGV) EuGH, Slg 1997, 1-1, Rn 19 ff Pastoors. Zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Art 28 EGV etwa EuGH, Slg 1998, 1-1831, Rn 39ff - Decker; Slg 1997, 1-3689, Rn 19ff - Familiapress = Erichsen JK 98, EGV Art 30/1; Slg 1998,1-8033 ff - Bluhme; Slg 1988, 4607, Rn 11 ff - Kommission/Dänemark (Pfandflaschen). 118 Wobei die Rspr des EuGH hier allerdings nicht einheitlich ist. Vgl zum Problemkreis m w N aus Literatur und Rspr Epiney in: Calliess/Ruffert Art 30 EGV Rn 47 ff. 119 EuGH, Slg 1984, 2367, Rn 17 - Melkunie. 120 Die durchaus grundsätzlich berücksichtigt werden können. Vgl EuGH, Slg 1984, 3263, Rn 16 Heijn; Slg 1986, 1511, Rn 20 - Muller. 121 EuGH, Slg 1987, 1227, Rn 49 - Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier). 122 EuGH, Slg 1989, 229, Rn 10 - Kommission/Deutschland.

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a) Zum Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten 81

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit123 regelt eine Mittel-Zweck-Relation, die Frage geht maW dahin, ob eine bestimmte Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet, erforderlich und angemessen ist. Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit beantwortet also nicht die Frage nach dem anzulegenden Schutzniveau bzw dem verfolgten Ziel, sondern setzt dessen Festlegung voraus. In Anbetracht des Umstandes, dass Art 30 EGV sowie die zwingenden Erfordernisse grundsätzlich nur in denjenigen Fällen zur Anwendung kommen können, in denen gerade keine gemeinschaftliche Festlegung des Schutzniveaus besteht, obliegt es den Mitgliedstaaten zu bestimmen, welches Schutzniveau sie zugrunde legen wollen; sie können also maW entscheiden, wie weit zB der Schutz der Gesundheit oder der Verbraucherschutz reichen soll.124 Diese Kompetenz der Mitgliedstaaten bezieht sich auch auf tatbestandliche Unsicherheiten, zB über die Gefährlichkeit bestimmter Stoffe125. Fraglich ist aber, ob sich die Befugnis der Mitgliedstaaten126 auch darauf bezieht, die jeweiligen Konzeptionen der verfolgten Schutzpolitiken festzulegen, also etwa zu bestimmen, auf der Basis welcher Grundsätze der Verbraucherschutz zu konzipieren ist. Diese Fragestellung kann durchaus - zumindest bei gewissen Politiken, wie gerade dem Verbraucherschutz - von entscheidender Bedeutung für die Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung und ihr Ergebnis sein: So ist zB die Erforderlichkeit einer Maßnahme unterschiedlich zu beurteilen, je nachdem, ob das Bild des „verständigen Verbrauchers" oder dasjenige des „flüchtigen" oder „zerstreuten" Verbrauchers zugrunde gelegt wird. Der EuGH legt hier wenigstens in Teilbereichen das Prinzip zugrunde, dass die Konzeption der jeweiligen Politik und damit die Grundlagen für die Verhältnismäßigkeitsprüfung nach gemeinschaftlichen Maßstäben bestimmt werden müssen. So wird insb im Bereich des Verbraucherschutzes (in Verbindung mit dem Gesundheitsschutz) auf ein gemeinschaftliches Konzept des „mündigen" Verbrauchers zurückgegriffen, das dann auf der Ebene der Erforderlichkeitsprüfung dazu führt, dass grundsätzlich zwingende Regelungen der Produktbeschaffenheit und ein daraus folgendes Vertriebsverbot nicht zulässig sind, da Kennzeichnungspflichten die mildere Regelung darstellen.127 Zu überzeugen vermag dieser Ansatz jedoch nicht: In den Fällen, in denen eine gemeinschaftliche Regelung fehlt (und um diese geht es hier), kommt den Mitgliedstaaten grundsätzlich die Kompetenz zu, die jeweiligen Politiken zu bestimmen und die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen. Diese Kompetenz bezieht sich nicht nur auf das „Ob" der Verfolgung der entsprechenden Zielsetzungen, sondern auch auf das „Wie", das

123 Vgl jüngst umfassend zu diesem Grundsatz im Gemeinschaftsrecht, wenn auch in Bezug auf die Rechtsetzung Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000. S auch Jarass EuR 2000, 705, 721 ff. 124 So iE auch die Rspr. Vgl zB EuGH, Slg 1987, 1227, Rn 41 - Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier); Slg 1984, 2367, Rn 18 - Melkunie. Aus der Literatur Ahlfeld (Fn 111) S 62 ff; s auch schon ausf zum Problemkreis EpineylMöllers Freier Warenverkehr und nationaler Umweltschutz, 1992, S 70 ff. 125 Vgl EuGH, Slg 1983, 2445, Rn 19 - Sandoz; Slg 1983, 3883, LS 6 - van Bennekom; Slg 1986, 151 l , R n 20-Muller. 126 Für gemeinschaftliche Regelungen stellt sich das Problem in dieser Form nicht. 127 StRspr. Vgl nur EuGH, Slg 1987, 1227, Rn 35 ff - Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier); Slg 1979, 649, Rn 13 - Cassis de Dijon; Slg 1994,1-3537, Rn 19 - van der Veldt.

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neben der Festlegung des Schutzniveaus eben auch die Definition der der jeweiligen Politik zugrunde liegenden Konzeptionen erfasst. Es ist nicht ersichtlich, warum die Gemeinschaft ihre Konzeption an die Stelle derjenigen der Mitgliedstaaten setzen können soll, geht es hier doch nicht um die Definition gemeinschaftlicher Begriffe, sondern um die Festlegung politischer Akzente. Insofern erscheint die Rspr des EuGH nicht ganz unbedenklich. Immerhin konzentriert sich die einschlägige Rechtsprechung bislang auf den Bereich des Verbraucherschutzes, während in anderen Politikbereichen offenbar großzügiger verfahren wird.128 Im Übrigen nimmt der EuGH in jüngerer Zeit teilweise die Kontrolldichte zurück, so wenn er in Bezug auf das Verbot, eine Creme unter der Bezeichnung „Lifting" zu verkaufen, festhält, dass eine solche Regelung dann gegen den Vertrag verstoße, wenn ein durchschnittlich informierter, aufmerksamer Durchschnittsverbraucher erwarte, dass die Creme eine dem operativen Lifting vergleichbare Wirkung zeigt.129 Die Feststellung, ob dies der Fall ist oder nicht, wird dann dem nationalen Gericht überantwortet.130 b) Die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im Einzelnen Wie eingangs erwähnt, umfasst das Prinzip der Verhältnismäßigkeit die Anforderungen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit. Geeignet ist eine Maßnahme immer dann, wenn sie das verfolgte Ziel grundsätzlich zu erreichen vermag. Ob diese Voraussetzung (wahrscheinlich131) erfüllt ist, muss ggf mittels entsprechender wissenschaftlicher Untersuchungen festgestellt werden. Die Geeignetheit einer Maßnahme ist zB auch dann nicht gegeben, wenn ein Mitgliedstaat eingeführte Waren einer bestimmten Qualität als Gefahr ansieht und vor dieser schützen möchte, gegenüber vergleichbaren einheimischen Waren aber keine Maßnahmen ergreift.132 Eine Maßnahme ist auch dann geeignet, wenn sie das angestrebte Ziel nicht vollständig zu erreichen vermag, hierfür jedoch einen - wenn auch nur kleinen - Beitrag zu leisten vermag, wie dies zB bei Maßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes häufig der Fall ist. Insgesamt wird vor diesem Hintergrund die Geeignetheit der Maßnahme vom EuGH recht selten verneint.133 Die Erforderlichkeit einer Maßnahme ist immer dann gegeben, wenn das angestrebte Schutzziel auch durch den Warenverkehr weniger einschränkende Maßnahmen nicht erreicht werden kann. Auszugehen ist bei der Prüfung der Erforderlichkeit aber immer von dem definierten Schutzziel. Die Erforderlichkeit ist etwa bei sog „Doppelkontrollen" - so zB das Erfordernis technischer Analysen für eingeführte Produkte, die schon im Herkunftsstaat durchgeführt worden sind und deren Ergebnisse zugänglich sind - regelmäßig zu verneinen.134 Auch die mit Einfuhrkontrollen verbundenen Zielsetzungen können

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So insb im Gesundheitsschutz, vgl die Nachw in Fn 124. Was natürlich nicht der Fall ist. Vgl EuGH, Slg 2000,1-117 ff - Lauder. Auch hier ist den Mitgliedstaaten bei tatbestandlichen Unsicherheiten ein gewisser Gestaltungsspielraum einzuräumen. Vgl ausf Epiney (Fn 15) S 303 ff. 132 EuGH, Slg 1985, 1007, Rn 15 - Conegate; s auch Slg 1990,1-4285, Rn 6 f - Kommission/Italien. 133 Vgl aber auch EuGH, Slg 1989, 229, Rn 10 - Kommission/Deutschland; Slg 1979, 649, Rn 11 Cassis de Dijon; die Geeignetheit wurde etwa in folgenden Fällen bejaht: EuGH, Slg 1991, 1-3069, Rn 23 - Denkavit; Slg 1991,1-4151, Rn 15 - Aragonesa. 134 EuGH, Slg 1998,1-5121 - Harpegnies; Slg 1998,1-6197, Rn 22 ff - Kommission/Frankreich.

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§8

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häufig auf andere Weise, etwa durch Vermarktungsregelungen oder sonstige Kontrollen, erreicht werden.11'' Damit die Erforderlichkeit bejaht werden kann, muss in vertretbarer Weise dargelegt werden, dass das ebenfalls in Betracht kommende mildere Mittel nicht ebenso wirksam gewesen wäre. Allerdings ist den Mitgliedstaaten auch hier bei tatbestandlichen Unsicherheiten ein gewisser Gestaltungsspielraum einzuräumen. So weist der EuGH gerade in jüngeren Urteilen darauf hin, dass bei Schwierigkeiten in Bezug auf die Frage der Wirksamkeit der Maßnahmen schon dann von der Erforderlichkeit der Maßnahme ausgegangen werden könne, wenn keine Anhaltspunkte ersichtlich seien, dass die nationale Maßnahme über das hinausgehe, was zur Erreichung des Zwecks erforderlich sei.11'' Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass hier - wie auch bei dem folgenden Schritt der Angemessenheitsprüfung - ggf auch die Beeinträchtigung von Grundrechten zu berücksichtigen ist. Bei der Angemessenheit einer Maßnahme geht es um die Abwägung zwischen der Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs und ggf der Einschränkung von Grundrechten einerseits und dem verfolgten Schutzinteresse andererseits. Wie bereits eingangs 117 erwähnt scheitert eine Maßnahme allenfalls in Ausnahmefällen an der Angemessenheit. L ö s u n g Fall 3:

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Die Vertragsverletzungsklage Belgiens ist zulässig (Art 227 EGV). Die fragliche Maßnahme stellt eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Ausfuhrbeschränkung (Art 29 EGV) dar: Denn zwar ist nach wie vor die Ausfuhr von nicht abgefülltem Wein unbeschränkt möglich; dieser darf aber nicht die Ursprungsbezeichnung Rioja tragen. Letzteres beeinträchtigt aber seine Absatzmöglichkeiten, spielen Ursprungsbezeichnungen doch eine wichtige Rolle bei der Vermarktung von Produkten, insbesondere von Wein. Die Voraussetzungen der Dassonville-Farmel sind also gegeben. Da sich die Maßnahme nur auf ausgeführte Produkte (nicht abgefüllter Wein, der so aus der Region ausgeführt wird) bezieht, liegt auch eine spezifische Beschränkung der Ausfuhrströme vor. Wein, der nämlich nur innerhalb der Region befördert und in zugelassenen Kellereien abgefüllt wird, kann nach wie vor die Ursprungsbezeiehnung tragen. Ursprungsbezeichnungen gehören zu den gewerblichen Schutzrechten. Sie sollen den Inhaber davor schützen, dass die Bezeichnungen durch Dritte missbräuchlich benutzt werden und diese dadurch einen Vorteil erlangen. Iin Übrigen sollen sie gewährleisten, dass das mit ihnen versehene Erzeugnis aus einem bestimmten geographischen Bereich stammt und bestimmte besondere Eigenschaften aufweist. Damit ist eine Rechtfertigung nach Art 30 EGV grundsätzlich möglich. Fraglich ist jedoch die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, insb die Erforderlichkeit: Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Umstand, dass der Abfüllvorgang schwierig ist und nur von Personen bzw Unternehmen mit großer Sachkenntnis durchgeführt werden sollte, will man vermeiden, dass der Wein an Qualität einbüßt und damit seine Eigenarten verliert. Gleiches gilt für die Beförderung in nicht abgefülltem Zustand. Vor diesem Hintergrund bejaht der EuGH die Erforderlichkeit: Die erwähnte Sachkenntnis sei am ehesten bei den Unternehmen der betroffenen Region vorzufinden, die eben eine größere Erfahrung im Umgang mit gerade diesem Qualitätswein hätten, so dass eine größere Wahrscheinlichkeit gegeben sei. dass die genannten Vorgänge fachgerecht

135 Vgl z B E u G H , Slg 1994. 1-3303, R n 25 K o m m i s s i o n / D e u t s c h l a n d : Slg 1988, 547, R n 15 IT Kommission/Vereinigtes Königreich. 136 E u G H , Slg 2000, 1-5681, R n 4 0 IT K e m i k a l i e i n s p c k t i o n e n ; Slg 1999, 1-3599, R n 36 IT Heinonen. 137 S o R n 79 ff.

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durchgeführt würden. Auch seien die Kontrollen in anderen Mitgliedstaaten teilweise weniger streng als in Spanien. Schließlieh reiche auch eine alleinige Kennzeichnungspflicht nicht aus, da im Falle von Qualitätseinbußen das Ansehen aller unter der Ursprungsbezeichnung „ R i o j a " vermarkteten Weine geschädigt würde. Zu überzeugen vermag der grundsätzliche Ansatz des E u G H allerdings nicht: So ist nicht ersichtlich, warum die Abfüllung und Beförderung von R i o j a schwieriger sein soll als diejenige sonstiger Qualitätsweine, so dass man j a auch a u f das Kriterium „Unternehmen aus Regionen mit Qualitätsweinen" hätte abstellen können. Vor allem aber bestehen wohl andere Methoden zur Feststellung der Qualifikation der Unternehmen, die den freien Warenverkehr weniger stark beschränken würden, wie etwa ein Zulassungsverfahren, eine Prüfung des erforderlichen Sachwissens oder regelmäßige Kontrollen.

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§9 Arbeitnehmerfreizügigkeit Ulrich Becker Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1974, 1405 ff - Walrave; Slg 1982, 1935ff - Levin; Slg 1986, 2121 ff Lawrie-Blum; Slg 1995,1-4921 ff - Bosman. Schrifttum: Hailbronner Ausländerrecht, Loseblattwerk, Abschn D: Recht der EG; Schulz Freizügigkeit für Unionsbürger, 1997.

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Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist traditionell gesehen der tragende Pfeiler der Personenfreizügigkeit in der EU, die wichtigste Norm, die es Unionsbürgern (vgl Rn 28) ermöglicht, sich in andere Mitgliedstaaten zu begeben und dort zu leben.1 Ihre Rechtsgrundlage ist Art 39 EGV. Die Vorschrift ist ebenso wie die anderen Grundfreiheiten unmittelbar anwendbar.2 Sie gewährt das Recht auf Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat und in diesem Zusammenhang zugleich ein Einreise- und Aufenthaltsrecht (Rn 4ff). Allerdings folgen Freizügigkeitsrechte auch aus anderen Grundfreiheiten: Aus der Niederlassungsfreiheit (Art 43 EGV) für Personen, die auf Dauer in einem anderen Mitgliedstaat einer selbständigen Tätigkeit nachgehen wollen, und aus der Dienstleistungsfreiheit (Art 49 EGV), weil die aktive Dienstleitungsfreiheit einen vorübergehenden Aufenthalt des Leistungserbringers und die passive Dienstleistungsfreiheit einen vorübergehenden Aufenthalt des Leistungsempfängers in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsstaat voraussetzen3 (vgl zur Abgrenzung Rn 35). Freizügigkeit steht nach allen genannten Normen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Betätigung und erschien deshalb lange Zeit lediglich als Begleitrecht der Marktfreiheiten. Das hat sich geändert mit dem Mitte der achtziger Jahre verstärkt einsetzenden Bemühen um Herstellung eines Binnenmarktes und vor allem mit der Schaffung der Europäischen Union. 4 Denn im Binnenmarkt sollen sich Personen frei bewegen können, ohne dass es auf den Zweck der Bewegung ankommt. Deshalb wurden durch Sekundärrecht neue Freizügigkeitsrechte geschaffen, und zwar zunächst für Rentner und Studenten, dann auch für alle übrigen Personen.5 Mit dem Maastrichter Vertrag wurde ein neuer Teil über die Unionsbürgerschaft in den EGV eingefügt (Art 17 ff EGV; —> hierzu allgm § 20). Damit erhielt das allgemeine Freizügigkeitsrecht eine (gemeinschafts-)

1 Auch der Schutzbereich der Freizügigkeitsgarantie des Art 11 G G erfasst das Recht, Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, vgl BVerfGE 2, 266, 273 ff; daneben nach überw Meinung das Recht zur Einreise in das, aber nicht zur Ausreise aus dem Bundesgebiet, vgl BVerfGE 6, 32, 34ff; näher dazu Gusy in: v Mangoldt/Klein/Starck, Bonner Grundgesetz-Kommentar, Bd 1 , 4 . Aufl 1999, Art 11 Rn 36 ff. Zu Art 11 G G und dessen historischem Hintergrund ausf Ziekow Uber Freizügigkeit und Aufenthalt, 1997. 2 Vgl nur E u G H Slg 1974, 1337, Rn 5ff - Van Duyn; - » § 7 Rn 7. 3 Grundlegend zur passiven Dienstleistungsfreiheit E u G H Slg 1984, 377, Rn 16 f - Luisi und Carbone. 4 Vgl zur Entwicklung Becker EuR 1999, 522 ff. 5 Genauer: für die aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätigen, R L 90/365, ABl 1990 N r L 180/28; für Studenten R L 93/96, ABl 1993 Nr L 317/59 (als Neuerlass der R L 90/366, ABl 1990 Nr L 180/30); für alle übrigen Personen R L 90/364, ABl 1990 Nr L 180/26.

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Arbeitnehmerfreizügigkeit

§9 II

verfassungsrechtliche Grundlage (Art 18 EGV).6 Dieses Recht ist gegenüber den speziellen wirtschaftsbezogenen Freizügigkeitsrechten und damit auch gegenüber Art 39 EGV subsidiär.7 Ob Art 18 EGV unmittelbar anwendbar ist, hat der EuGH bis heute nicht entschieden.8 Die Frage ist aber zu bejahen, wobei die sekundärrechtlichen Beschränkungen beachtlich bleiben.9 Im Übrigen ist die Entwicklung hin zu einem einheitlichen Freizügigkeitsrecht absehbar.10

I. Schutzbereich 1.

Vorbemerkung

Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit spielt das sekundäre Gemeinschaftsrecht eine wichtige Rolle. Schon vor Ablauf der im EWGV vorgesehenen Übergangszeit wurden die Gemeinschaftsrechtsakte erlassen, die wegen der verschiedenen ausländerrechtlichen Bestimmungen in den Mitgliedstaaten erforderlich erschienen, um die grenzüberschreitende Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte zu ermöglichen." Bis heute von Bedeutung sind die Richtlinien über die Aufhebung von Aufenthaltsbeschränkungen (insbesondere RL 68/360) 12 und über den ordre-public-Vorbehalt (RL 64/221) B , die Verordnungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (VO 1612/68)14 und das Verbleiberecht (VO 1251/70) l5 . Diese Bestimmungen konkretisieren zum Teil den Schutzbereich und die Schranken des Art 39 EGV, zum Teil gehen sie über die Vertragsbestimmung inhaltlich hinaus. Sie sind

6 Vgl auch Art 45 GRCh (ABl 2000 Nr C 364/1), der allerdings im Zusammenhang mit Art 52 II GRCh gelesen werden muss. 7 Vgl EuGH, Slg 1999, I - l l f f - Calfa. Hingegen dürfte Art 18 EGV der Ableitung eines Aufenthaltsrechts aus Art 12 EGV (vgl EuGH, Slg 1985, 593, Rn 19fT - Gravier) vorgehen. 8 In Verbindung mit Art 12 EGV verleiht die Unionsbürgerschaft jedenfalls Rechte im Aufenthalt, vgl dazu EuGH, Slg 1998,1-2691 ff - Martinez Sala; E u G H , EuZW 2002, 52ff - Grzelczyk. Den Charakter des Art 18 EGV als Grundfreiheit betonend E u G H , Slg 2000, 1-9265, R n 23 f Yiadom. Weitergehend jetzt EuGH, Urt v 11.7.2002, Rs C-224/98, Rn 25 ff - D'Hoop. Zur Rspr Castro Oliveira C M L R 2002, 77, 78 ff. 9 Vgl die Bezugnahme auf Durchführungsvorschriften in Art 18 I EGV; E u G H , Slg 2000, 1-2623, Rn 30 ff - Kaba. 10 Vgl Vorschlag der Kommission für eine R L über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, KOM 2001 (257) endg, ABl 2001 Nr C 270/6. 11 Vgl zur Entwicklung nur Wölker in: G T E Art 49 EGV Rn 3 ff. 12 R L 68/360, ABl 1968 Nr L 257/13, zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft, RL 73/148, ABl 1973 N r L 172/14, zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs. 13 R L 64/221, ABl 1964 Nr 56/850, zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. 14 VO 1612/68, ABl 1968 N r L 257/2, über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft. 15 VO 1251/70, ABl 1970 N r L 142/24, der Kommission über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben, vgl zum Verbleiberecht nach selbstständiger Tätigkeit R L 75/34, ABl 1974 N r L 14/10.

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ihrerseits im Lichte der G r u n d f r e i h e i t auszulegen,"' u n d ihr enger Z u s a m m e n h a n g zur Arbeitnehmerfreizügigkeit legt es nahe, sie im Folgenden bei der Beschreibung von Schutzbereich u n d Schranken mit zu berücksichtigen. 1 7 Z u b e a c h t e n ist allerdings, dass der A n w e n d u n g s b e r e i c h des S e k u n d ä r r e c h t s von j e n e m des A r t 39 E G V abweichen k a n n ; d a s G e m e i n s c h a f t s r e c h t enthält insofern unterschiedliche Arbeitnehmerbegriffe. 1 8 2. Sachlicher

Schutzbereich

a) A r b e i t n e h m e r e i g e n s c h a f t

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Fall 1: ( E u G H , Slg 1989, 1621 ff Bettray) Der deutsche Staatsangehörige B, der bereits 1980 in die Niederlande eingereist war, wurde 1983 wegen seiner Drogenabhängigkeit nach dem Gesetz über die soziale Arbeitsbeschaffung für einen unbefristeten Zeitraum in einer gemeindlichen Arbeitsorganisation gegen Entgelt zur Verrichtung bestimmter Dienste eingestellt. Die Tätigkeit diente der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und sollte B die Gelegenheit geben, unter Bedingungen zu arbeiten, die soweit wie möglich auf das abgestimmt sind, was für die Ausübung entgeltlicher Arbeit unter normalen Bedingungen üblich ist. Als B eine Aufenthaltserlaubnis beantragte, wurde dieser Antrag von den niederländischen Behörden abgelehnt. B sei nicht als Arbeitnehmer anzusehen und könne deshalb aus Art 39 EGV kein Aufenthaltsrecht ableiten. Bei seiner Tätigkeit handele es sich um eine Beschäftigung eigenen Typs mit sozialem Charakter, die Produktivität von B sei gering und die Entlohnung, die B erhalte, müsse dementsprechend zum großen Teil aus öffentlichen Mitteln gezahlt werden. F ü r die Bestimmung des sachlichen (und nicht nur des persönlichen) Schutzbereichs von A r t 39 E G V besitzt der Begriff des A r b e i t n e h m e r s zentrale Bedeutung. N a c h st R s p r des E u G H handelt es sich u m einen gemeinschaftsrechtlichen Begriff, der a u s sich heraus auszulegen ist. I m G r u n d e g e n o m m e n ist das selbstverständlich, wenn m a n der G r u n d a n n a h m e folgt, dass d a s G e m e i n s c h a f t s r e c h t eine a u t o n o m e R e c h t s o r d n u n g darstellt. Weil aber in den nationalen R e c h t s o r d n u n g e n aller Mitgliedstaaten ebenfalls der Arbeitnehmerbegriff b e k a n n t u n d die Versuchung deshalb g r o ß ist, nationale Interpretationsansätze zu ü b e r n e h m e n , sah sich der E u G H immer wieder zu der Feststellung veranlasst, die nationalen Behörden u n d Gerichte d ü r f t e n bei der A n w e n d u n g des A r t 39 E G V keine eigenen, zusätzlichen Voraussetzungen verlangen.''' Ein zweiter, nicht nur f ü r den Arbeitnehmerbegriff wichtiger Auslegungsgrundsatz besagt, dass A r t 39 E G V nicht einschränkend, sondern im Hinblick auf die grundlegende B e d e u t u n g der G r u n d f r e i h e i t u n d die Vertragsziele weit auszulegen ist: 2 " N a c h Ansicht des E u G H k o m m t es d a r a u f an, den Freizügigkeitsbestimmungen zu voller Wirksamkeit zu verhelfen' 1 (effet-utile-Gxxmds&tz).

16 Vgl bereits E u G H , Slg 1976, 497, R n 241T

Royer.

17 O h n e d a s s d a s S e k u n d ä r r e c h t d e n A n w e n d u n g s b e r e i c h d e r G r u n d f r e i h e i t e n b e s c h r ä n k e n k ö n n t e , vgl d a z u E u G H , Slg 2000, 1-6623, R n 2 9 f Hocsman. Zur konkretisierenden Wirkung auch

WeutheriW Beaumont EC Law, 2. Aufl 1995. S 548ff. 18 So liegt zB d e r S o z i a l r c c h t s k o o r d i n i c r u n g d u r c h V O 1408/71, A B l 1971 N r L 149/2 ein eigener, a u f die n a t i o n a l e n S o z i a l l e i s t u n g s s y s t e m e Bezug n e h m e n d e r A r b e i t n e h m e r b c g r i t T z u g r u n d e , d e r z u m Teil weiter, z u m Teil e n g e r als A r t 39 E G V ist. Vgl a b e r a u c h z u r p a r a l l e l e n A u s l e g u n g , soweit keine a u s d r ü c k l i c h e n A b w e i c h u n g e n b e s t e h e n , E u G H , Slg 1995, 1-4741. R n 18 IT M e n g n e r . 19 Vgl n u r E u G H . Slg 1982. 1035. R n 11 ff 20 Vgl E u G H , Slg 1986, 1741, R n 13 ff 21 E u G H . Slg 1982. 1035. R n 15IT

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Levin; Slg 1988, 3205, R n 22IT

K e m p f ; Slg 1986, 2121, R n 16ff

Levin: „volle W i r k u n g s k r a f t " .

Brown. Lawrie-Blum.

Arbeitnehmerfreizügigkeit

§9 12

Arbeitnehmer zeichnen sich dadurch aus, dass sie (1) eine wirtschaftliche Leistung erbringen, (2) unselbstständig tätig werden und (3) für ihre Tätigkeit eine Vergütung als Gegenleistung erhalten, ohne dass (4) eine Qualifizierung ihrer Tätigkeit als sittenwidrig den Schutzbereich verschließt. (1) In dem Erfordernis der wirtschaftlichen Leistung kommt der allgemeine Bezug aller Grundfreiheiten zu wirtschaftlichen Tätigkeiten zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu stehen rein soziale22, eventuell auch kulturelle und sportliche Tätigkeiten. Allerdings darf diese Begrenzung nicht so verstanden werden, dass bestimmte Sektoren als ganze von der Anwendung der Grundfreiheiten ausgeschlossen wären. Ausnahmen bestehen vielmehr nur dann, wenn die konkrete Tätigkeit nicht in einem wirtschaftlichen Austauschverhältnis erfolgt.23 So ist etwa die Beschäftigung bei einem Sozialversicherungsträger natürlich eine Arbeitnehmertätigkeit. Der Umstand, dass in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen wie dem Sport und der Kultur Besonderheiten bestehen oder dass bestimmte Berufe wegen ihres Gemeinwohlbezugs besonderen Regulierungen unterliegen, grenzt zudem den Schutzbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht ein, sondern kann höchstens im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen eine Rolle spielen. Dementsprechend können Profisportler 24 und für religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften Tätige25 ebenso Arbeitnehmer sein wie Rechtsanwälte und Ärzte.26 Anderes dürfte für ehrenamtliche Tätigkeiten gelten, selbst wenn eine Aufwandsentschädigung gezahlt wird, und noch offen ist die Abgrenzung bei Amateursportlern.27 Der Status, den ein Erwerbstätiger besitzt (Arbeiter oder Angestellter, Tätigkeit in der Privatwirtschaft oder im öffentlichen Dienst, vgl auch Rn 27) oder der Umfang der Tätigkeit und deren Produktivität (vgl auch Rn 10) spielen keine Rolle. Der EuGH verlangt nur, dass es sich um eine „tatsächliche und wirtschaftliche Tätigkeit" handeln muss, die sich nicht als „völlig untergeordnet und unwesentlich" darstellt.28 Dafür genügt unproblematisch eine Teilzeittätigkeit und jede andere fremdnützige Betätigung; Abgrenzungsprobleme hängen in erster Linie mit den weiteren Voraussetzungen der Weisungsgebundenheit und der Entgeltlichkeit zusammen. (2) Die Tätigkeit muss unselbständig ausgeübt werden, was im Sinne einer Weisungsgebundenheit zu verstehen ist. Dieses Merkmal dient zugleich der Abgrenzung zur Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, die jeweils eine selbständige Erwerbstätigkeit voraussetzen (vgl auch Rn 35).29 Der EuGH hat dazu allgemein ausgeführt, die Beurteilung hänge „von der Gesamtheit der jeweiligen Faktoren und Umstände ab, die die Beziehun-

22 Wie die Sicherungsfunktion von Sozialleistungsträgern, vgl zuletzt EuGH, EuZW 2002, 146ÍT INAIL. 23 Der Schutz ganzer Einrichtungen wie etwa der bestehenden Sozialversicherungssysteme kann nur über eine Eingrenzung der Beschränkungsverbote oder großzügigere Rechtfertigungsanforderungen erfolgen, und selbst die nur auf einzelne Rechtsverhältnisse bezogene Herausnahme sozialer Tätigkeiten aus dem Anwendungsbereich ist nicht unumstritten. 24 Vgl Slg 1974, 1405flf - Walrave; Slg 1995,1-4921 ff - Bosman; Slg 2000,1-2681 ff - Lehtonen. 25 Vgl EuGH, Slg 1988,6159, Rn 11 ff - Steymann. 26 Vgl zu den entsprechenden sektoralen Anerkennungsrichtlinien unten, Rn 34. 27 Vgl, bezogen auf die Dienstleistungsfreiheit, EuGH, Slg 2000,1-2549 ff - Deliége. 28 EuGH, Slg 1982, 1035, Rn 1 7 f f - Levin. 29 Im nationalen Recht existieren entsprechende Notwendigkeiten der Abgrenzung, und zwar im Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht, vgl etwa HanaulAdomeit Arbeitsrecht, 12. Aufl 2000, S 150 ff; Schulinllg! Sozialrecht, 7. Aufl 2002, S 71 ff; Tipke/Lang Steuerrecht, 16. Aufl 1998, § 9 Rn 552.

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gen zwischen den Parteien charakterisieren, wie etwa die Beteiligung an den geschäftlichen Risiken des Unternehmens, die freie Gestaltung der Arbeitszeit und der freie Einsatz eigener Hilfskräfte". 30 Das bezieht sich auf die Unterscheidung von unternehmerischem Handeln, das seinerseits insbesondere durch die Übernahme des Unternehmensrisikos geprägt ist. Nach der Rechtsprechung schließt zB eine Entlohnung im Wege einer Ertragsbeteiligung die Arbeitnehmereigenschaft nicht aus,31 während es an der notwendigen „Unterordnung" fehlt, wenn ein Geschäftsführer zugleich alleiniger Gesellschafter ist.32 Auch in anderen Konstellationen bereitet eine gelockerte Weisungsgebundenheit Schwierigkeiten. Vollkommen zu Recht hat der EuGH etwa darauf hingewiesen, bei Familienarbeitsverhältnissen komme es auf die tatsächliche Ausführung an.33 Auf die Klarstellung der entscheidenden Indizien hat er aber verzichtet, wie überhaupt seine Judikatur insgesamt gesehen hinsichtlich der Abgrenzung zwischen unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit - verglichen mit der arbeits- und sozialrechtlichen Rechtsprechung in Deutschland - spärlich ist. Da das Kriterium der Weisungsgebundenheit beiden Rechtsordnungen bekannt und für die Qualifizierung einer Tätigkeit als unselbstständige von wesentlicher Relevanz ist, lässt sich - bei aller gebotenen Vorsicht (vgl Rn 4ff)- die nationale Rechtsprechung aber in der Sache weitgehend übertragen.34 (3) Was die Entlohnung angeht, so wird nicht vorausgesetzt, dass die Gegenleistung der unselbständigen Tätigkeit zur alleinigen Deckung des Lebensunterhalts genügt. Auch muss sie weder den tariflichen Bestimmungen entsprechen noch die Höhe eines vorgesehenen Mindestlohns erreichen; in welcher Form sie gewährt wird, ist unerheblich. Im Zusammenhang mit den großzügig gehandhabten anderen Kriterien kann das zu Ergebnissen führen, deren Vereinbarkeit mit der wirtschaftlichen Ausrichtung der Grundfreiheiten auf den ersten Blick zweifelhaft erscheint. Denn für den Arbeitnehmerstatus genügt schon eine geringfügige Tätigkeit von 12 Stunden wöchentlich oder weniger,35 und eine lediglich ganz kurze Beschäftigung gibt Anlass zu Zweifeln, ob überhaupt eine wirtschaftliche Leistung erbracht wird.36 Damit scheitert die Inanspruchnahme des Art 39 EGV nicht daran, dass öffentliche Mittel zur Existenzsicherung zusätzlich in Anspruch genommen werden müssen;37 bereits untergeordnete Tätigkeiten vermitteln ein Aufenthaltsrecht und einen Anspruch auf Sozialleistungen. Andererseits enthält Art 39 EGV keinerlei Einschränkungen, und sein Anwendungsbereich würde zu sehr verkürzt, wenn der Erwerb eines ohnehin schwer bestimmbaren Existenzminimums gefordert würde. Im Übrigen entspräche dies auch nicht der Entwicklung hin zu einem allgemeinen Freizügigkeitsrecht (vgl Rn 1 ff).

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EuGH, Slg 1989, 4459, Rn 36fT - Agegate. EuGH aaO. EuGH, Slg 1996,1-3089, Rn 26 ff - Asscher. EuGH, Slg 1999,1-3289, Rn 15 ff - Meeusen. Das bestätigen jedenfalls die bis jetzt vom EuGH entschiedenen Fälle, wobei zu beachten ist, dass im Einzelfall auch die gerichtlichen Beurteilungen innerhalb Deutschlands durchaus voneinander abweichen können. Verfolgt man den hier befürworteten Ansatz, bereitet die oft als unklar angesehene Einstufung von leitenden Angestellten keine großen Probleme mehr. 35 Vgl EuGH, Slg 1986, 1741, Rn 12ff - Kempf; Slg 1989, 2743, Rn 13ff - Rinner-Kühn; Slg 1995, 1-4741, Rn 18ff - Mengner. 36 Zur beschränkten Dauer von Gelegenheitsarbeiten EuGH, Slg 1992,1-1027, Rn 14ff Raulin. 37 EuGH, Slg 1986, 1741, Rn 1 4 f f - Kempf.

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Arbeitnehmerfreizügigkeit

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Die Beschäftigung zur Berufsausbildung ist eine Arbeitnehmertätigkeit, ein Studium hingegen nicht. Fraglich ist die Situation bei Praktikanten. Sie sind Arbeitnehmer, wenn das Praktikum „unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis durchgeführt wird"; bei der Beurteilung kommt es darauf an, ob die aufgewendete Zeit genügt, um berufliche Fähigkeiten zu entwickeln.' 8 (4) Grundsätzlich wird die Arbeitnehmereigenschaft nicht durch den Umstand ausgeschlossen, dass eine Tätigkeit als Verstoß gegen die guten Sitten angesehen wird, zumindest, wenn mit dieser Charakterisierung nicht ein vollständiger Ausschluss vom Arbeitsmarkt einhergeht. Daran bestanden im Falle der erwerbsmäßigen Prostitution Zweifel. 19 Nachdem der E u G H zunächst lediglich implizit von einem Schutz durch die Grundfreiheiten ausgegangen war,40 hat er jüngst (zum Assoziationsabkommen mit Polen) festgestellt, dass es sich bei der Prostitution um eine Erwerbstätigkeit handele, die in den Mitgliedstaaten zwar reglementiert, aber nicht grundsätzlich verboten ist.41 Einschränkungen bedürfen deshalb der Rechtfertigung (vgl Rn 47). Lösung Fall 1: Arbeitnehmer sind in einem Arbeitsverhältnis stehende Personen. Nach st Rspr des EuGH besteht das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Im vorliegenden Fall hat B Leistungen erbracht und dafür eine Gegenleistung bekommen, weshalb die Annahme einer Bereichsausnahme ausscheidet. Dass es sich um eine bestimmte, gesetzlich ausgeformte Beschäftigung handelte, ist unerheblich. Allerdings verlangt der EuGH, dass auch die konkret ausgeübte Tätigkeit als „tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit" anzusehen ist. Dagegen sprechen der Zweck der Beschäftigung und deren Durchführung. Denn dieser dient der Wiedereingliederung des B. soll B also in die Lage versetzen, später eine reguläre Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Die im Rahmen des Gesetzes über die soziale Arbeitsbeschaffung eingesetzten Personen werden nicht nach ihren Fähigkeiten ausgesucht, sondern die von ihnen auszuführenden Verrichtungen vielmehr den vorhandenen Fähigkeiten angepasst. Schließlich wurde die gesamte gemeindliche Arbeitsorganisation nur zu dem Zweck geschaffen, die Arbeitsfähigkeit der beschäftigten Personen wiederherzustellen. B ist deshalb kein Arbeitnehmer iSv Art 39 EGV.42

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b) Zeitliche Erstreckung Arbeitnehmer ist, wer in einem Arbeitsverhältnis steht. Damit erstreckt sich der durch Art 39 EGV gewährte Schutz auf die Dauer der unselbstständigen Erwerbstätigkeit. Was aber gilt, wenn ein Arbeitsverhältnis erst begründet werden soll (1), oder umgekehrt, wenn das Arbeitsverhältnis beendet worden ist (2)?

38 E u G H . Slg 1992. 1-1071, R n 15 ff Bernini. 39 Vgl B V e r w G E 60. 284. 289 IT. 4 0 E u G H , Slg 1982. 1665, R n 5 IT 41 E u G H . E u Z W 2002. 120ff

Adoui und Cournaille.

J a n y = Ehlers J K 02, E G V A r t 43/2.

42 N i c h t gegen eine A r b c i t n e h m c r c i g c n s c h a f t s p r i c h t d e r U m s t a n d , d a s s d a s E n t g e l t a u s ö f f e n t l i c h e n M i t t e l n g e z a h l t w i r d , vgl zu B e s c h ä f t i g u n g s v e r h ä l t n i s s e n im R a h m e n v o n § 19 B S H G (im k o n k r e t e n Fall mit e i n e r vollen w ö c h e n t l i c h e n A r b e i t s z e i t u n d e i n e m N e t t o e i n k o m m e n , d a s einer v e r g l e i c h b a r e n B e s c h ä f t i g u n g a u f d e m r e g u l ä r e n A r b e i t s m a r k t e n t s p r a c h ) E u G H . 1998. 1-7747. R n 25 IT B i r d e n .

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(1) Art 39 III lit a EGV gewährt den Arbeitnehmern ausdrücklich das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben. Ganz offensichtlich muss also ein Arbeitsverhältnis noch nicht bestehen, sondern dessen Abschluss nur beabsichtigt sein. Garantiert wird damit der freie Zugang zu einer Beschäftigung. Das umfasst ein Einreise- und Aufenthaltsrecht und das Recht auf Gleichbehandlung bei der Stellenbewerbung43 (vgl Rn 19 ff), ohne dass die Einreise im Hinblick auf bestimmte, bereits ausgeschriebene Stellenangebote erfolgen müsste. Bis heute ungeregelt ist aber die Frage, für welche Dauer in einem anderen Mitgliedstaat Arbeit gesucht werden darf, ab welcher Zeit umgekehrt davon auszugehen ist, dass eine Arbeitsaufnahme scheitert und deshalb aus Art 39 EGV kein Aufenthaltsrecht mehr abgeleitet werden kann.44 Der EuGH hat die Annahme, dies sei jedenfalls nach einer vergeblichen Stellensuche über sechs Monate hin der Fall, akzeptiert.45 Auf einen spürbar kürzeren Zeitraum werden sich Stellensuchende nicht verweisen lassen müssen,46 wobei immer entscheidend bleibt, ob im Einzelfall noch mit Erfolg bei der Stellensuche gerechnet werden kann. (2) Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses haben Arbeitnehmer ein Verbleiberecht gemäß Art 39 III lit d EGV, das durch die VO 1251/70 näher ausgestaltet wird (vgl Rn 3). Der grundlegende Gedanke ist der, dass Beschäftigte auch nach Ausscheiden aus dem Arbeitsleben in ihrem gewohnten Lebensumfeld bleiben können sollen. Dementsprechend knüpft das Verbleiberecht an eine Aufgabe der Beschäftigung wegen Erreichens des Rentenalters oder Eintritts einer Erwerbsunfähigkeit an und setzt eine vorangegangene Beschäftigung von einer bestimmten Dauer voraus.47 Wird ein Wanderarbeitnehmer arbeitslos, so darf er im Hinblick auf seine berufliche Wiedereingliederung nicht anders behandelt werden als inländische Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage.48 Seine Einstufung als Arbeitnehmer und insbesondere die Dauer seines weiteren Aufenthaltsrechts hängen von den Umständen ab und sind auch sekundärrechtlich nicht eindeutig geregelt.49 Wenn eine Beschäftigung aus anderen als den vorgenannten Gründen aufgegeben wird, entfallt der Arbeitnehmerstatus, die mit ihm verbundenen Rechte gehen verloren. Von diesem Grundsatz bestehen aber Ausnahmen.50 Aus dem Umstand, dass ausländische Arbeitnehmer ein Recht auf Zugang zu Berufsschulen und Umschulungseinrichtungen

43 Vieles spricht dann auch für einen Anspruch auf steuerliche und soziale Gleichbehandlung (dazu nachfolgend Rn 19ff). Zur Stellensuche auch Art 5 VO 1612/68, ABl 1968 N r L 257/2. 44 Vgl auch Streinz ER Rn 747 f. 45 EuGH, Slg 1991,1-745, Rn 21 ff - Antonissen. 46 A A (drei Monate ausreichend) Magiera D Ö V 1987, 221, 223 f. Zumindest automatisch darf nach Ablauf eines 3-Monats-Zeitraums keine Aufenthaltsbeendigung erfolgen, EuGH, Slg 1997, 1-1035, Rn 18fT - Kommission/Belgien. 47 Vgl näher Art 2 VO 1251/70 (Fn 15), der ein Verbleiberecht auch unter bestimmten Voraussetzungen für den Fall der Verlagerung der unselbstständigen Erwerbstätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat vorsieht. Zum Nachweis der Vorausetzungen und zur Zwei-Jahres-Frist für die Ausübung des Verbleiberechts Art 4 und 5 VO 1251/70. 48 Art 7 I V O 1612/68 (Fn 14). 49 Einzelheiten sind umstritten, insbesondere auch, ob zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit zu differenzieren ist; vgl Scheuer in: Lenz Art 39 E G V Rn 60f; näher RandelzhoferlForsthoff in: Grabitz/Hilf Art 39 EGV Rn 45 ff. Vgl zur aufenthaltsrechtlichen Stellung bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit Art 7 II RL 68/360. 50 Insbesondere für die Aufrechterhaltung der aus dem Arbeitsverhältnis erworbenen Rechte, vgl EuGH, Slg 1997,1-6689, Rn 40ff - Meints; Slg 1998,1-5325, Rn 41 ff - Kommission/Frankreich.

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besitzen, 51 hat der E u G H geschlossen, auch Studenten könnten ausnahmsweise die Vergünstigungen f ü r Arbeitnehmer in Anspruch nehmen, wenn zwischen dem Studium und einer zuvor ausgeübten Berufstätigkeit ein Z u s a m m e n h a n g besteht. 52 D a s sichert, grundsätzlich unabhängig von der D a u e r der Beschäftigung, 5 1 ein Aufenthaltsrecht und ein Recht auf Förderung der Hochschulausbildung. Fall 2: (EuGH S!g 1999,I-3289ff Meeusen) Die belgische Staatsangehörige M lebt in Belgien, übt aber in den Niederlanden eine E r w e r b s t ä t i g s t aus, und zwar für eine dort ansässige Gesellschaft, deren Geschäftsführer und einziger Gesellschafter ihr Ehemann ist. Ihre Tochter T. die 18 Jahre alt ist und der M Unterhalt gewähr!, lebt ebenfalls in Belgien und beginnt dort ein Studium. Sie beantragt bei den zuständigen Behörden eine Förderung durch eine niederländische Studienbeihilfe, die den Grundbedarf von Studierenden abdeckt. Die Förderung wird verweigert mit dem Hinweis darauf, ihre Voraussetzung sei entweder die niederländische Staatsangehörigkeit oder ein Wohnort in den Niederlanden. c) Geschützte Betätigungen G a n z grundsätzlich erfordert der Schutz des Art 39 E G V - wie die Inanspruchnahme aller anderen Grundfreiheiten auch - ein grenzüberschreitendes Element. Auf rein innerstaatliche Sachverhalte ist die N o r m nicht anwendbar. 5 4 D a r a u s folgt zugleich, dass sie Inländerdiskriminierungen nicht erfasst. 55 Im Rahmen des Art 39 E G V liegt die Grenzüberschreitung darin, dass sich eine Person in einen anderen Mitgliedstaat begibt (bzw begeben will), um dort zu arbeiten. O b dies auf D a u e r geschieht, der Beschäftigte also im Beschäftigungsstaat seinen Wohnsitz nimmt, oder ob er in seinem Heimatstaat wohnen bleibt und in den Beschäftigungsstaat pendelt, dh als Grenzarbeitnehmer tätig wird, 56 ist unerheblich. Zudem muss es sich nicht unbedingt um die Beschäftigung bei einem ausländischen Unternehmen handeln; insbesondere genügt auch die A u f n a h m e einer Tätigkeit bei einer internationalen Organisation. 5 7

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Art 39 E G V schützt sowohl vor M a ß n a h m e n eines fremden Mitgliedstaates als auch des eigenen Heimatstaates, der seinerseits die grenzüberschreitende Beschäftigung grundsätzlich nicht behindern darf (vgl R n 41 ff). 5s Auf den ersten Blick scheint die Vorschrift differenzierte Regelungen zu enthalten, die aber zusammenspielen. Ausgehend von der allgemeinen und umfassenden Verbürgung in Abs 1, enthalten ihre Absätze 2 und 3 als Konkretisierungen verschiedene Rechte: das Diskriminierungsverbot in Bezug auf die Beschäftigungsbedingungen (1), das durch einen Anspruch auf steuerliche und soziale Gleichbehandlung ergänzt wird (2), und die begleitenden Rechte auf Einreise und Aufent-

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51 Art 7 III VO 1612/68 (Fn 14). 52 E u G H , Slg 1988, 3161, Rn 35fT Lair; vgl zur Abgrenzung auch Slg 1992, 1-1027IT Raulin. 53 Allerdings unter dem Vorbehalt, dass Missbräuche ausgeschlossen sind, E u G H , aaO, Rn 43tT; vgl auch Slg 1988, 3205, Rn 22 ff - Brown. 54 Vgl nur E u G H . Slg 1992,1-341 fT Stehen; Slg 1998,1-4239IT - Kapasakalis. 55 Das ist keineswegs unstreitig, muss hier aber nicht vertieft werden; einschränkend Epincy in: BBPS Rn 778 ff; näher dazu § 7 Rn 20. 56 Z u m Begiff Art 1 lit b VO 1408/71 (Fn 18). 57 Vgl E u G H , Slg 2000, 1-8081 ff - Ferlini. 58 Vgl nur E u G H , Slg 1994, 1-50, Rn 9ff - Scholz.

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halt (3). Vor dem wanderungsbedingten Verlust von Rechten der sozialen Sicherheit soll die auf der Grundlage des Art 42 EGV geschaffene Koordinierung der nationalen Sozialleistungssysteme schützen (4). (1) Bezogen auf die Beschäftigung, Entlohnung und die sonstigen Arbeitsbedingungen müssen die auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlungen abgeschafft werden (Art 39 II EGV). Dieses Diskriminierungsverbot, das sich auch auf Tarif- und Einzelverträge bezieht,59 umfasst jeden Aspekt der Berufstätigkeit. Verboten sind etwa eine Arbeitserlaubnispflicht für Wanderarbeitnehmer 60 und der Vorrang der Arbeitsvermittlung eigener Staatsangehöriger,61 die Schlechterstellung bei Kündigung und Wiedereingliederung,62 die Vorenthaltung von Nebenleistungen,63 die Benachteiligung bei Aufstiegsmöglichkeiten64 oder durch Befristung von Arbeitsverhältnissen65. Das Erfordernis der Gleichbehandlung bezieht sich auch auf die Zugehörigkeit zu Gewerkschaften und die Ausübung gewerkschaftlicher Rechte.66 (2) Art 7 II VO 1612/68 verbürgt Arbeitnehmern, die Unionsbürger sind,67 ein grundlegendes soziales Recht, nämlich den Anspruch auf „die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer". Zu den steuerlichen Vergünstigungen zählen etwa die Abzugsfahigkeit von Ausgaben,68 die Steuerrückerstattung 69 oder das Ehegattensplitting70, wobei es eine wichtige Rolle spielt, in welchem Staat die Einkünfte besteuert werden. Keineswegs ist jede Ungleichbehandlung von in- und ausländischen Arbeitnehmern bei der Erhebung direkter Steuern ausgeschlossen; insbesondere können als Folge der beschränkten Steuerpflicht auch die Möglichkeiten zur Berücksichtigung steuermindernder Tatbestände beschränkt werden.71 Die Rechtsprechung des EuGH zu den sozialen Vergünstigungen ist kaum mehr überschaubar.72 Deren Begriff wird vom Gerichtshof weit ausgelegt und erfasst „alle Vergünstigungen, die - ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht - den inländischen

59 Zur Nichtigkeit entgegenstehender Absprachen Art 7 IV VO 1612/68 (Fn 14); zur unmittelbaren Anwendbarkeit der günstigeren Bestimmungen EuGH, Slg 1998, 1-47 ff - Schoening-Kougebetopoulou. 60 Vgl § 284 I SGB III. 61 Vgl zum Zugang zu Stellen näher Art 1 - 6 VO 1612/68 (Fn 14). 62 Vgl Art 7 I VO 1612/68 (Fn 14). 63 Ohne Unterscheidung von vorgeschriebenen und freiwilligen Leistungen, vgl EuGH, Slg 1974, 153 ff- Sotgiu. 64 EuGH, Slg 1998,1-1095ff - Kommission/Griechenland; Slg 1998,1-47ff - Schoening-Kougebetopoulou. 65 EuGH, Slg 1993,1-4309ff - Allue I; Slg 1993,1-5185ff - Spotti. 66 Art 8 VO 1612/68 (Fn 14); dazu etwa EuGH, Slg 1994,1-1891 ff - Kommission/Luxemburg. 67 Ob der Anspruch auch für Arbeitslose und Arbeitsuchende gilt, ist nicht unumstritten, vgl Randelzhoferl Forsthoff in: Grabitz/Hilf Art 39 EGV Rn 159; soweit der Arbeitnehmerstatus auf diese Personen erstreckt wird, ist die Geltung aber schon zwingende Konsequenz und für eine Differenzierung kein Platz. Im Übrigen verliert die Diskussion durch das allgemeine Freizügigkeitsrecht (vgl Rn 6fl) an Bedeutung. Zur Berechtigung der Familienangehörigen unten Rn 28 ff. 68 Vgl EuGH, Slg 1992,1-249 ff-Bachmann 69 Vgl EuGH, Slg 1990,1-1779ff- Biehl; Slg 1995,1-225 ff - Schumacker. 70 Vgl EuGH, Slg 2000,1-3337 ff - Zurstrassen. 71 Dazu und zu den Grenzen dieses Grundsatzes bei fehlenden nennenswerten Einkünften im Wohnsitzstaat EuGH, Slg 1995,1-225 ff - Schumacker. 72 Ausf Überblick bei Wölker in: GTE Art 48 EGV Rn 47ff.

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Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnortes im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern."73 Einbezogen sind damit ua Ausbildungsbeihilfen,74 Hilfen zum Lebensunterhalt wie die Sozialhilfe oder ein Mindesteinkommen,75 Familienbeihilfen einschließlich etwa von Fahrpreisermäßigungen 76 etc. Die Vergünstigungen müssen aber keineswegs in einer Geld- oder Sachleistung, sondern können auch in der Einräumung sonstiger Positionen bestehen; so zählen zu ihnen das Recht zur Nutzung der eigenen Sprache vor Gericht 77 und das Aufenthaltsrecht für nichteheliche Partner 78 . Ausgenommen bleiben aber staatsbürgerliche und an eine besondere Vorgeschichte im Heimatstaat anknüpfende Rechte.79 Gesondert geregelt ist die Teilhabe am Wohnungsmarkt.80 (3) Gemäß Art 39 III lit b und c EGV haben Arbeitnehmer das Recht, sich zur Stellensuche frei in den Mitgliedstaaten zu bewegen und sich dort zur Ausübung der Beschäftigung aufzuhalten. Die Garantie des Zugangs zur Beschäftigung schließt die Ausreise aus dem Heimatstaat und den Zugang zum Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten notwendig mit ein. Näher ausgestaltet werden die Einreise- und Aufenthaltsrechte durch RL 68/360 (vgl Rn 3); der Durchführung in Deutschland dient das Aufenthaltsgesetz/EWG 8 '. Danach darf die Vorlage eines Ausweises oder Passes, nicht aber ein Sichtvermerk verlangt werden.82 Zur Bestätigung des Aufenthaltstrechts wird eine Aufenthaltserlaubnis

73 Vgl nur EuGH, Slg 1998, 1-2691, Rn 25 ff - Martinez Sala; gegenüber der VO 1408/71, ABl 1971 Nr L 149/2 (vgl nachfolgend im Text) ist keine Abgrenzung mehr erforderlich; vgl aber auch Steinmeyer in: Fuchs (Hrsg) Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, Bd IV, 2. Aufl 2000, Art 7 VO 1612/68 Rn 5 ff. 74 Vgl EuGH, Slg 1988, 5589ff - Matteucci. 75 Vgl EuGH, Slg 1987, 2811 ff - Lebon. 76 E u G H , Slg 1975, 1085ff - Cristini. 77 E u G H , Slg 1985, 2681 ff - Mutsch. 78 EuGH, Slg 1986, 1283 ff - Reed. Das muss Aufenthaltsrechte für ausländische homosexuelle Lebenspartner ohne weiteres mit einschließen, sofern diese Inländern gewährt werden. Die Mitgliedstaaten bleiben aber berechtigt, bei den Voraussetzungen für einen (auch abgeleiteten) Daueraufenthalt nach Staatsangehörigkeit bzw Aufenthaltsstatus zu differenzieren, vgl E u G H , Slg 2000, 1-2623, Rn 30ff - Kaba. 79 Wie das Wahlrecht und die Kriesopferfürsorge, vgl Steinmeyer in Fuchs (Fn 73) Art 7 VO 1612/68 Rn 11 ff. 80 Art 9 VO 1612/68 (Fn 14). 81 I d F v 31.1.1980, BGBl I 1980, 116 m Änd. Von einer Umsetzung zu sprechen, wäre insofern zu kurz, als das Gesetz auch die unmittelbar aus Art 39 EGV fließenden Rechte betrifft. Im Rahmen der Schaffung des ZuwanderungsG ist eine Neufassung unter der Bezeichnung FreizügigkeitsG/EU geplant. 82 Art 3 R L 68/360; sichtvermerkspflichtig können aber Angehörige aus Drittstaaten sein. Die Zulässigkeit von Grenzkontrollen wird nicht durch die Freizügigkeitsbestimmungen an sich in Frage gestellt, sondern erst durch deren Ersetzung durch Außenkontrollen, vgl E u G H , Slg 1999, 1-6207, R n 39ff - Wijsenbeek; vgl Art 61, 62 EGV und die gestufte Einbeziehung des Schengener Abkommens in das Gemeinschaftsrecht, dazu Epiney in: Hummer (Hrsg) Die E U nach dem Vertrag von Amsterdam, 1998, S 103 ff. Das AufenthG/EWG enthält in § 9 eine Meldepflicht und in § 10 eine allgemeine Verpflichtung zum Identitätsnachweis für Einreise und Aufenthalt.

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ausgestellt, die nur deklaratorischen Charakter hat,83 räumlich unbeschränkt sein und eine Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren haben muss.84 Welche Nachweise für ihre Ausstellung verlangt werden dürfen, ist sekundärrechtlich geregelt.85 Wird die Einreise oder die Erteilung bzw Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse verweigert, sind besondere verfahrensrechtliche Garantien vorgesehen.86 (4) Soziale Sicherungssysteme weisen einen engen Bezug zum staatlichen Hoheitsgebiet auf: Die Einbeziehung in die Systeme richtet sich nach einer territorialen Anknüpfung, entweder bezogen auf die Beschäftigung oder den Wohnsitz;87 Leistungsvoraussetzungen beziehen sich in der Regel auf Vorgänge im Hoheitsgebiet, und ein Leistungsexport ist vielfach eingeschränkt, wobei allerdings die jeweiligen Bezüge von der Struktur der Systeme abhängig sind.88 Für Wanderarbeitnehmer können sich dadurch Gefahrdungen ihrer sozialen Sicherheit ergeben: Möglicherweise erwerben sie in verschiedenen Beschäftigungsstaaten nur kurze Anwartschaften für die Alterssicherung, die als solche nicht für eine Leistungsberechtigung genügen; oder es werden etwa die Familienverhältnisse im Heimatstaat nicht berücksichtigt, obwohl diese im Beschäftigungsstaat Einfluss auf die Leistungsgewährung haben etc. Um solche freizügigkeitsbedingten Nachteile zu vermeiden, sieht Art 42 EGV eine Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme vor. Die Zuständigkeit für die soziale Sicherung bleibt bei den Mitgliedstaaten, eine Harmonisierung im Sinne einer Schaffung einheitlicher Voraussetzungen oder Leistungen wird nicht bezweckt. Jedoch sollen die Systeme aufeinander abgestimmt und damit der Verlust von Rechten vermieden werden. Ihrer Bedeutung entsprechend, wurden die ersten Koordinierungsvorschriften schon sehr früh nach völkerrechtlichem Muster geschaffen.89 Heute ist Rechtsgrundlage der Koordinierung die VO 1408/7190, die auch Selbständige91 und Beamte92 erfasst, also im Anwendungsbereich über Art 39 EGV hinausgeht. Sachlich gesehen bezieht sie sich auf

83 Vgl bereits EuGH, Slg 1976,497, Rn 30ff - Royer. Nicht erlaubnispflichtig ist ein nur dreimonatiger Aufenthalt und der Aufenthalt der Grenzgänger und Saisonarbeitnehmer, Art 8 R L 68/360 (Fn 12). 84 Art 6 R L 68/360; bei zeitlich beschränkten Beschäftigungen ist die Erteilung einer zeitweiligen Aufenthaltserlaubnis zulässig. 85 Art 4 III R L 68/360; die Formalitäten dürfen nicht die Erfüllung des Arbeitsvertrags verhindern, Art 5 R L 68/360. 86 Art 8 und 9 RL 64/221 (Fn 13); vgl dazu und zur Verneinung der Frage, ob die Beendigung eines nicht erlaubten, mehrmonatigen Aufenthalts als Einreiseverweigerung anzusehen ist, E u G H , Slg 2000,1-9265, Rn 27 ff - Yiadom. 87 Wichtigste Ausnahme ist die Ausstrahlung bei vorübergehender Auslandstätigkeit, § 4 SGB IV; allerdings sieht Art 14 Nr 1 VO 1408/71 (Fn 18) eine zeitliche Grenze für diese Fälle der sog Entsendung vor. 88 Dort, wo Eigentumsrechte erworben werden, gehen diese durch einen Gebietswechsel nicht verloren, vgl zu Art 14 G G BVerfGE 51, 1 ff; Schutz vermittelt insofern auch die E M R K , vgl E G M R , JZ 1997,405ff - Gaygusuz; dazu Davy ZIAS 2001, 221 ff. 89 VO Nr 3 und Durchführungs-VO Nr 4 aus dem Jahre 1958, ABl 1958, 561 und 597, nach dem Vorbild der damaligen Sozialversicherungsabkommen und des Abkommens N r 102 der IAO über die Mindestnormen der sozialen Sicherung, BGBl II 1957, 1322. 90 S Fn 18 mit der DurchführungsVO 574/72, ABl 1972 Nr L 74/1 m And. 91 Einbezogen auf der Rechtsgrundlage des ex-Art 235 EWGV (Art 308 EGV) durch VO 1390/81, ABl 1981 Nr L 143/1. 92 Zu dem Erfordernis der Einbeziehung E u G H , Slg 1995,1-4033 ff - Vougioukas.

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die Leistungen bei Krankheit u n d Mutterschaft, 9 3 Invalidität, Alter u n d Tod, Arbeitsunfällen u n d Berufskrankheiten, Arbeitslosigkeit, das Sterbegeld sowie die Familienleistungen u n d -beihilfen. 9 4 O h n e auf Einzelheiten einzugehen, 9 5 bestimmt sie das anwendbare Recht 9 6 u n d sieht grob gesagt die Zusammenrechnung v o n Versicherungszeiten, die weitgehende Gleichstellung v o n Auslandssachverhalten 9 7 und den Leistungsexport 9 8 vor. d) Bereichsausnahmen Art 39 IV E G V enthält - insofern ist der Wortlaut eindeutig - eine Bereichsausnahme: Für die „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung" gilt die Freizügigkeitsgarantie nicht (—> § 7 R n 51 ff). Bedenkt man, wer in Deutschland, unabhängig v o n einem bestimmten Status, im öffentlichen Dienst beschäftigt ist, s o scheint in weiten Teilen der Arbeitswelt Art 39 E G V keine A n w e n d u n g zu finden. In diesem Sinne darf die Bereichsa u s n a h m e aber nicht verstanden werden. D e r E u G H hat schon früh klargestellt, sie sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Von ihr seien nur die Stellen erfasst, „die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der A u s ü b u n g hoheitlicher Befugnisse u n d an

93 Einschließlich der Pflegeversicherung; zur Qualifizierung der Leistungen EuGH, Slg 1998,1-843 ff - Molenaar = Küttig, JK 98, EGV Art 48 II/l. 94 Ohne dass es darauf ankäme, wie die nationalen Systeme ausgestaltet sind; vgl zur funktionellen Äquivalenz auch EuGH, Slg 1992, 1-3423, Rn 16fF - Paletta I. Für den Anwendungsbereich haben die Mitgliedstaaten Erklärungen abgegeben (Art 5 VO 1408/71, ABl 1971 Nr L 149/2), die allerdings nur hinsichtlich der positiven Einbeziehung, nicht aber insoweit verbindlich sind, als sie Systeme unerwähnt lassen. Leistungen der sozialen Sicherheit sind solche, die den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt werden, ohne dass im Einzelfall eine in das Ermessen gestellte Prüfung ihres persönlichen Bedarfs erfolgt, und die sich auf die in Art 4 VO 1408/71 genannten Risiken beziehen; vgl zur Einbeziehung des deutschen Erziehungsgeldes E u G H , Slg 1996,1-4926, Rn 20f - Hoever. 95 Vgl für einen Überblick Becker in: Schwarze Art 42 EGV Rn 12fF; näher Fuchs (Fn 73), Bd III; Hervey European Social Law and Policy, 1998; HaverkatelHuster Europäisches Sozialrecht, 1999; Eichenhofer Sozialrecht der Europäischen Union, 2001. Sehr vielfaltig ist mittlerweile die Rspr des E u G H zu den Koordinierungsvorschriften, was durch eine sachgebietsbezogene Suche unter dem Stichwort „Freizügigkeit" in CELEX oder der Rechtsprechungsdatenbank des E u G H leicht überprüft werden kann. Zu den Schwächen der derzeitigen Regelung Schulte!Barwig (Hrsg) Freizügigkeit und Soziale Sicherheit, 1999. 96 Für Arbeitnehmer grundsätzlich das Recht des Beschäftigungsstaates, Art 13 II VO 1408/71 (Fn 18); nach Aufgabe des Arbeitnehmerstatus wird an den Wohnsitz angeknüpft, vgl dazu EuGH, Slg 1998,1-3419, R n 40ff - Kuusijaervi. Zum Verhältnis zum zwischenstaatlichen Sozialrecht Art 6 und 7 VO 1408/71; zur Anwendbarkeit von Sozialversicherungsabkommen E u G H , Slg 1991, 1-323 fT - Rönfeldt; Slg 1995, 1-3813 ff - Thevenon; Urt v 5.2.2002, Rs C-277/99 Kaske. 97 In speziellen Vorschriften und grundsätzlich vermittelt durch das Diskriminierungsverbot, vgl dazu Becker VSSR 2000, 221 ff; zur „Entterritorialisierung" näher Willms Soziale Sicherung durch Europäische Integration, 1990, S 49 ff. 98 Vgl Art 10 und 10a VO 1408/71 (Fn 18); der Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit ist auf drei Monate beschränkt, Art 69 VO 1408/71. Sachleistungen werden nicht exportiert; im Falle der Krankheit gibt es aber eine Sachaushilfe, dh die Leistungen werden auf Rechnung des Beschäftigungsstaats in anderen Mitgliedstaaten nach der Maßgabe der dort geltenden Bestimmungen erbracht, Art 22 VO 1408/71. Dieser Export ist nicht zu verwechseln mit der Einwirkung der Grundfreiheiten auf das sozialrechtliche Territorialitätsprinzip; unsystematisch Arndt ER S 145 f.

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der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind."99 Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob ein Mitgliedstaat auf bestimmten Stellen nach nationalem Recht Beamte einsetzt100 oder der Arbeitgeber eine öffentlich-rechtliche Einrichtung ist. Dementsprechend gilt die Freizügigkeit etwa im Schul- und Hochschuldienst.,01 Anders ist die Situation bei Polizisten, Soldaten und Richtern. Immer muss darauf abgestellt werden, ob mit der konkreten Beschäftigung die Ausübung von Hoheitsrechten zugunsten der Wahrung allgemeiner Belange verbunden ist. So ist etwa nicht allgemein das Gesundheitswesen von der Anwendung des Art 39 EGV ausgenommen,102 jedoch möglicherweise die Tätigkeit in der Leistungsverwaltung.103 Auch können bestimmte Leitungsfunktionen in der Verwaltung wegen ihrer Bedeutung einen besonderen Schutz erfordern.104 3. Persönlicher

Schutzbereich

a) Unionsbürger und ihre Familienangehörigen 28

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Auch wenn Art 39 EGV keine entsprechende Festlegung enthält, fallen unter den persönlichen Schutzbereich der Norm, der allgemeinen Konzeption des EGV entsprechend, zunächst nur die Unionsbiirger (Art 17 EGV), also die Staatsangehörigen der EUMitgliedstaaten.105 Zu beachten ist, dass sich neben den Arbeitnehmern auch Arbeitgeber gegen Eingriffe in die Arbeitnehmerfreizügigkeit wehren können.106 Ebenfalls weitgehend in den Schutz der Arbeitnehmerfreizügigkeit einbezogen sind die Familienangehörigen von Arbeitnehmern. Grundlage dafür ist auch im Gemeinschaftsrecht der Schutz von Ehe und Familie,107 zumindest die nähere Ausgestaltung ist aber dem Sekundärrecht überlassen. Gegenwärtig (vgl auch Rn 1 ff) führt das zu Differenzierungen. 99 E u G H , Slg 1980, 3881, Rn 10 ff - Kommission/Belgien. Beide Voraussetzungen gelten kumulativ, was allerdings streitig ist, vgl näher nur Schneiderl Wunderlich in: Schwarze Art 39 EGV Rn 135 ff. Zur Kritik an der Rspr Brechmann in: Calliess/Ruffert Art 39 EGV Rn 104 ff. 100 Vgl § 4 I, II BRRG, wonach heute auch ausländische Unionsbürger grundsätzlich in ein Beamtenverhältnis berufen werden können. Vgl Strauß Funktionsvorbehalt und Berufsbeamtentum, 2000, S 189 ff. 101 E u G H , Slg 1986, 2121 ff - Lawrie-Blum (Studienreferendare); Slg 1991, 1-5627 ff - Bleis (höheres Lehramt); Slg 1996,1-3207 ff - Kommission/Luxemburg (Grundschulen). 102 Vgl zum Krankenpflegepersonal EuGH, Slg 1986, 1725 ff - Kommission/Frankreich. 103 Vgl Wölker in: G T E Art 48 EGV Rn 120 ff. Allerdings ist diese Ausnahme sehr weit und müsste auch die Sozialversicherungsträger umfassen, obwohl vergleichbare Tätigkeiten auch von privaten Versicherungsunternehmen ausgeübt werden. 104 Vgl E u G H , Slg 1987,2625 ff - Kommission/Italien. 105 Und zwar unabhängig von einer eventuellen Doppelstaatsangehörigkeit; allg M, vgl nur Bleckmann ER Rn 1561 ff; Oppermann ER Rn 1512; Slreinz ER Rn 661. Flüchtlinge und Staatenlose sind immerhin in den Schutz durch einige Sekundärvorschriften einbezogen; vgl zur VO 1408/71 und der Voraussetzung eines grenzüberschreitenden Elements jetzt E u G H , Slg 2001, 1-7413 ff Khalil. Zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit E u G H , Slg 2001,1-1237, Rn 19ff - Kaur. 106 E u G H , Slg 1998, 1-2521, Rn 19 ff - Clean Car Autoservice, mit dem Hinweis zum einen auf die Wirksamkeit des Art 39 EGV zum anderen auf den Umstand, dass sich auch Arbeitgeber auf Rechtfertigungsgründe stützen können. Zur Bezeichnung als „Korrelarberechtigte" Randelzhoferl Forsthoff in: Grabitz/Hilf vor Art 39-55 EGV Rn 39 ff. 107 Ob aber die Freizügigkeit der Angehörigen damit auch unmittelbar aus Art 39 EGV ableitbar

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So wird zwar nicht hinsichtlich der allgemeinen Nachzugsvoraussetzungen und der Rechte auf und im Aufenthalt, aber hinsichtlich der Sichtvermerkspflicht danach unterschieden, ob die Angehörigen Unionsbürger sind oder nicht.108 Bezogen auf die den Arbeitnehmern zustehenden Rechte im Aufenthalt ist immer zu klären, ob sie nur für die unmittelbar Freizügigkeitsberechtigten oder auch die Angehörigen gelten. In einem zentralen Punkt, dem Anspruch auf steuerliche und soziale Vergünstigungen (Art 7 II VO 1612/68, vgl Rn 19ff), hat der EuGH die Familienangehörigen als selbst berechtigt angesehen.109 Kindern von Arbeitnehmern ist ein Recht auf gleiche Teilnahme am allgemeinen Unterricht und an der Berufsausbildung eingeräumt."0 Damit sind etwa Zulassungsquoten für ein Studium111 oder der Ausschluss von Stipendien112 nicht vereinbar. Für die Leistung einer Ausbildungsförderung durch den Aufnahmestaat kommt es nicht darauf an, in welchem Mitgliedstaat die Ausbildung stattfindet."3 b) Drittstaatsangehörige Abgesehen von den vorstehend genannten abgeleiteten Rechte für Angehörige genießen Drittstaatsangehörige grundsätzlich kein Recht auf Freizügigkeit.1,4 Durch das EWRAbkommen werden aber die Angehörigen der EWR-Mitgliedstaaten den Unionsbürgern gleichgestellt, so dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit im gesamten EWR gilt. Das Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz wird 2002 in Kraft treten."5

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ist, erscheint fraglich; richtigerweise müsste für die Begründung eigener Rechte zumindest zusätzlich auf den Schutz durch ein Grundrecht rekurriert werden, vgl aber auch Wölker in: G T E vor Art 48-50 Rn 40 ff. Angesichts der relativ großzügigen Rspr des E u G H wird die Frage praktisch kaum relevant. Vgl zu den Voraussetzungen (Unterhaltsgewährung, Nachzugsalter für Kinder unter 21 Jahren) und den Rechten allgemein Art 10 und 11 VO 1612/68 (Fn 14) und Art 4 IV R L 68/360 (Fn 12); zur Sichtvermerkspflicht Art 3 II R L 68/360. Zur Ehegatteneigenschaft trotz Getrenntleben EuGH, Slg 1985, 567ff - Diatta; zum Erfordernis einer angemessenen Wohnung E u G H , Slg 1989, 1263 ff - Kommission/Deutschland. Zur (zulässigen) Schlechterstellung von drittstaatsangehörigen Familienangehörigen bei der Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis E u G H , Slg 2000,1-2623 ff - Kaba. Sofern sie die Voraussetzungen des Art 10 I VO 1612/68 (Fn 14) erfüllen, vgl nur E u G H , Slg 1985, 1873, Rn 22ff - Deak; Slg 1992, 1-1071, Rn 28ff - Bernini. Für eine Anwendung zugunsten der von Art 10 II VO 1612/68 erfaßten Verwandten Schneider/Wunderlich in: Schwarze Art 39 EGV Rn 88. Allerdings ist weiterhin erforderlich, dass die Vergünstigung vergleichbaren Angehörigen von einheimischen Arbeitnehmern zusteht, vgl E u G H , Slg 1992, 1-4401, Rn 11 ff - Taghavi. Vgl Art 12 VO 1612/68 (Fn 14); die Vorschrift verzichtet auf die Festlegung eines Nachzugsalters und begründet ein eigenständiges Aufenthaltsrecht, vgl Schulz Freizügigkeit für Unionsbürger, 1997, S210ff. Vgl E u G H , Slg 1988, 5445 ff - Kommission/Belgien. Vgl E u G H , Slg 1974, 773 ff - Casagrande. Unabhängig von dem Wohnorterfordernis in Art 12 VO 1612/68 (Fn 14), vgl E u G H , Slg 1990, 1-4185, Rn 16 ff-Di Leo. Vgl aber auch die Ansätze zu einem europäischen Zuwanderungskonzept, Vorschlag für eine R L über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer unselbstständigen oder selbstständigen Tätigkeit, KOM 2001 (386) endg; dazu Hailbronner ZAR 2002, 83, 84ff. Dazu und zum Text: http://www.europa.admin.ch/baAi/index.htm.

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A n d e r e n D r i t t s t a a t s a n g e h ö r i g e n k ö n n e n Rechte d u r c h Assoziierungsabkommen eing e r ä u m t werden. 1 "' A n dieser Stelle soll n u r k u r z auf die A b k o m m e n mit der Türkei (1) u n d mit den Beitrittskandidaten f ü r die Osterweiterung (2) hingewiesen w e r d e n . " 7 In diesem Z u s a m m e n h a n g sei e r w ä h n t , dass die Freizügigkeit im Falle der Erweiterung übergangsweise im Verhältnis zu den neuen Mitgliedstaaten eingeschränkt werden k a n n . l l s (1) F ü r die in D e u t s c h l a n d lebenden türkischen Staatsangehörigen ist von großer praktischer Bedeutung, dass der E u G H die auf der G r u n d l a g e des A s s o z i i e r u n g s a b k o m m e n s mit der Türkei ergangenen Beschlüsse des Assoziationsrats ( A R B ) f ü r Bestandteile des G e m e i n s c h a f t s r e c h t s erklärt hat, die u n m i t t e l b a r a n w e n d b a r sind, sofern die allgemeinen Voraussetzungen der hinreichenden Bestimmtheit u n d U n b e d i n g t h e i t erfüllt sind." 1 ' Auf diese Weise wird zwar kein erstmaliger Z u g a n g f ü r Arbeitnehmer, nach o r d n u n g s g e m ä ß e r Beschäftigung werden über A r t 6 A R B 1/80 aber Aufenthaltsrechte gewährt. 1 2 0 Ebenfalls u n m i t t e l b a r a n w e n d b a r ist d a s in A r t 3 A R B 3/80 niedergelegte Verbot der Diskriminier u n g im Bereich der sozialen Sicherheit. 121 (2) Die Europaabkommen mit den mittel- u n d osteuropäischen L ä n d e r n 1 2 2 enthalten kein Freizügigkeitsrecht f ü r unselbständig Tätige. 1 2 1 U n m i t t e l b a r a n w e n d b a r sind aber die in ihnen vorgesehenen Diskriminierungsverbote, die eine G l e i c h b e h a n d l u n g hinsichtlich der Arbeitsbedingungen vorsehen. 1 2 4 Lösung Fall 2: M ist A r b e i t n e h m e r i n . D a s s sie m i t d e m Alleingesellschafter verheiratet ist, spielt keine Rolle, solange sie tatsächlich weisungsgebunden tätig wird (vgl R n 6). M ist zwar nicht A r b e i t n e h m e r i n , k a n n sich aber als Familienangehörige selbst auf Art 7 II VO 1612/68 berufen, obwohl d o r t die A n g e h ö r i g e n als Berechtigte nicht a u s d r ü c k l i c h g e n a n n t sind (vgl Rn 6). Die Voraussetzungen der A n g e h ö r i g e n e i g e n s c h a f t erfüllt sie problemlos. F e r n e r lallt die Studienbeihilfe unter den sehr weitgefaßten Begriff der sozialen Vergünstigung (vgl R n 19ff).

116 Näher Weiß Die Personenverkehrsfreiheiten von Staatsangehörigen assoziierter Staaten in der EU, 1998. 117 Vgl auch Hailbronner ZAR 2002, 7, lOfT. 118 Zu der bisherigen Praxis und den Grenzen für Übergangsvorschriften Becker EU-Erweiterung und differenzierte Integration, 1999. 119 Grundlegend E u G H , Slg 1990, 1-3461 ff Sevince = Küttig, JK 91, EWGV Art 177/1. Zu den A R B Hailbronner Ausländerrecht, Loseblatt, Abschn D 5. 120 Vgl E u G H , Slg 1992, 1-6781 ff - Kus; Slg 1995, I-1475IT - Bozkurt; Slg 2000, 1-957ff Nazli. Vgl zur Familienzusammenführung Art 7 A R B 1/80; dazu zuletzt E u G H . Slg 2000. 1-487IT Ergat; Slg 2000, 1-4747 ff Eyiip. Näher dazu Scheuer in: Lenz Art 39 EGV Rn 18 ff; Hailbronner (Fn 119) Abschn D 5; Renner Ausländerrecht in Deutschland, 1998, S 211 ff; Gutmann Die Assoziationsfreizügigkeit türkischer Staatsangehöriger, 2. Aufl 1999. 121 E u G H . Slg 1999. 1-2685, Rn 48ff Sürül. 122 Überblick bei Randehhoferl Forsthoff in: Grabitz/Hilf vor Art 39-55 EGV Rn 37. 123 Wegen der weitergehenden Bestimmungen über die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheil wird insofern die Abgrenzung zwischen selbstständiger und unselbstständiger Tätigkeit relevant, vgl dazu und zur Verwendung der für den EGV geltenden Kriterien E u G H , EuZW 2002, 120IT Jany = Ehlers JK 02, EGV Art 43/2. 124 Dementsprechend ist auch (vgl Rn 38 ff) die Befristung von Verträgen mit polnischen Fremdspraehenlektoren unzulässig, vgl E u G H , Urt v 29.1.2002, Rs C-162/00 - Pokrzeptowicz-Meyer.

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§9

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Fraglich ist nur, o b die Leistungsgewährung deshalb ausgeschlossen ist, weil M Grenzarbeitnehmerin ist. D e n n in der vorliegenden Konstellation, so wendeten die niederländischen Behörden ein. bestehe keinerlei Z u s a m m e n h a n g zum Zweck des Art 7 11 VO 1612/68: Dieser sei es. die M o b i l i t ä t der A r b e i t n e h m e r und die Integration des Wanderarbeitnehmers und seiner F a m i l i e im A u f n a h m e l a n d zu erleichtern. D e r E u G H ist d e m nicht gefolgt: A r t 7 II VO 1612/68 gelte ohne Einschränkung auch für Grenzarbeitnehmer. Sinn der Bestimmung sei es, vor Diskriminierungen zu schützen. Die Studienfmanzierung müsse deshalb den K i n d e r n von Wanderarbeitnehmern unter denselben Voraussetzungen gewährt werden, die für K i n d e r inländischer A r b e i t n e h m e r gelten. Ein zusätzliches Wohnorterfordernis verstößt deshalb gegen Gemeinschaftsrecht.

4.

Konkurrenzen

Die A b g r e n z u n g der Arbeitnehmerfreizügigkeit gegenüber der Niederlassungs- und Dienst-

35

leistungsfreiheit (—» hierzu a u c h § 10 R n 2 0 f f ; § 11 R n 3 5 ) erfolgt n a c h d e m K r i t e r i u m der Selbständigkeit bzw Unselbständigkeit der Tätigkeit: A r b e i t n e h m e r sind weisungsgebunden tätig (vgl R n 4 ff). In Einzelfällen k a n n die U n t e r s c h e i d u n g schwierig sein; wegen der sich stark ä h n e l n d e n G e h a l t e der G r u n d f r e i h e i t e n legt der E u G H d a r a u f kein besonderes G e w i c h t . 1 2 5 E i n e Rolle spielt d a n e b e n d u r c h a u s a u c h die D a u e r der E r w e r b s t ä t i g k e i t . W e r den A r b e i t n e h m e r v o r ü b e r g e h e n d für ihre A r b e i t g e b e r in einem a n d e r e n

Mitgliedstaat

tätig, also entsandt, so stellen etwaige E r s c h w e r n i s s e für deren T ä t i g k e i t Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit des U n t e r n e h m e r s dar, die u U a u c h z u m S c h u t z der A r b e i t n e h m e r gerechtfertigt sein können. 1 2 '' In diesen Fällen zieht der E u G H die A r b e i t n e h m e r f r e i z ü g i g keit als (zusätzlichen) P r ü f u n g s m a ß s t a b nicht heran, obwohl, wie insbesondere der Fall der G r e n z a r b e i t n e h m e r zeigt, E i n g l i e d e r u n g in den B e s c h ä f t i g u n g s s t a a t nicht

Voraus-

setzung der A r b e i t n e h m e r e i g e n s c h a f t ist.

II. Beeinträchtigung Fall 3 : ( E u G H , Slg 1 9 9 9 , 1 - 3 4 5 IT

Terhoeve)

D e r niederländische Staatsangehörige T arbeitete in den ersten zehn M o n a t e n des Jahres 1990 im Vereinigten Königreich, dann in den Niederlanden. E r war während der ganzen Zeit in der niederländischen Sozialversicherung pflichtversichert. Die dafür abzuführenden Beiträge wurden zusammen mit der Einkommenssteuer e r h o b e n , und zwar m a x i m a l bis zu einer H ö h e von 9 . 3 0 0 Gulden. D a T in zwei L ä n d e r n gearbeitet hatte, musste er n a c h den geltenden Vorschriften für 1990 zweimal steuerlich veranlagt werden, wobei die sozialversicherungsrechtliche Bemessungsgrenze jeweils gesondert galt. A u f diese Weise sollte er für die Zeit seiner Berufstätigkeit im Ausland bereits 9 . 3 0 0 Gulden, für die Zeit der Berufstätigkeit im Inland weitere 1 . 4 0 0 Gulden an Sozialversicherungsbeiträgen zahlen. T fühlt sich durch die Erhebungsmodalitäten in seinem R e c h t a u f Freizügigkeit verletzt. Die niederländischen B e h ö r d e n entgegnen. T könne sich nicht a u f das Gemeinschaftsrecht berufen. da er in seinem Heimatstäat wohne, dort sozialversichert sei und dort besteuert werde.

125 Vgl aber zu den Europaabkommen, Rn 30ff: zur Unterscheidung im Bereich der VO 1408/71 (Fn 18) E u G H , Slg 2000, 1-2005 ff - Banks. 126 EuGH. Slg 1990. I-1417IT Rush Portuguesa: Slg 1994, 1-3803IT Vander Eist: Slg 1999, 1-8453IT Arblade: Slg 2001, 1-7831 0' Finalarte; EuZW 2002, 245 ff - Portugaia Construpöes.

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§ 9 II 1

Ulrich Becker

Zudem würden die Veranlagungsbestimmungen für alle in den Niederlanden Sozialversicherten gleichermaßen gelten. Im Übrigen falle das Recht der sozialen Sicherheit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Diese dürften deshalb auch das Verfahren der Beitragserhebung regeln.

1. 37

Diskriminierungen

a) Offene Diskriminierungen knüpfen an die Staatsangehörigkeit an. Sie stellen die stärkste Form des Eingriffs d a r und können deshalb nach der überw M nur dann zulässig sein, wenn sie durch geschriebene Rechtfertigungsgründe gestattet werden. 127 Ihr Verbot ergibt sich zum Teil aus Sekundärrecht, 1 2 8 wird im Übrigen in Art 39 II E G V ausdrücklich normiert, gilt aber allgemein f ü r die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Sie kommen mittlerweile relativ selten vor, weil die Mitgliedstaaten staatsangehörigkeitsbezogene Ungleichbehandlungen in ihren Rechtsordnungen weitgehend beseitigt haben. Dass dies eine gewisse Zeit gedauert hat und einzelne formale Diskriminierungen bis heute fortbestehen, ist angesichts der Vielfalt der relevanten Vorschriften, etwa auch des Steuer- und Sozialrechts, sowie der lange Zeit gerade im Hinblick auf das Ausländerrecht betonten nationalen Souveränität einerseits verständlich, andererseits aber angesichts des Standes der europäischen Integration und der Bemühungen um Schaffung eines Binnenmarktes auch für Personen inakzeptabel. Dass sie überhaupt noch anzutreffen sind, beruht auf verschiedenen G r ü n d e n . Z u m Teil war die Anwendbarkeit gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben für bestimmte Rechtspositionen nicht hinreichend geklärt 1 2 9 oder es wurden bestimmte Tätigkeiten für besonders empfindlich gehalten."" Z u m Teil existieren nach wie vor einige erst auf den zweiten Blick erkennbare Diskriminierungen, die offensichtlich in Randbereichen dem Schutz der dort Tätigen dienen. So betrifft die letzte (in einem Vertragsverletzungsverfahren getroffene) Entscheidung des E u G H zu einer offenen Diskriminierung im Anwendungsbereich des Art 39 E G V eine Vorschrift, nach der die Berufsausübung von Zahnärzten eine Eintragung bei der Zahnärztekammer und diese wiederum den Wohnsitz im Kammerbezirk vorsah, 131 bei Wohnsitzverlagerung in andere Mitgliedstaaten nur die eigenen Staatsangehörigen einen Anspruch auf Beibehaltung der Kammerzugehörigkeit hatten. 132 Im Ergebnis half der Beklagten auch der Einwand wenig, die Rechtslage sei

127 Dazu Rn 49 ff und - » § 7 Rn 22. 79. 128 Etwa Art 2 VO 1612/68 (Fn 14), Art 3 VO 1408/71 (Fn 18); zum Verhältnis zu Art 39 EGV, Rn 3 IT. 129 So etwa die Anwendbarkeit der Koordinierungsvorschriften auf das deutsche Erziehungsgeld, vgl dazu Eichenhofer S G b 1997, 449 IT; Becker S G b 1998, 553 ff; Trinkt Die gemeinschaftsrechtlichc Koordinierung deutscher Familienleistungen, 2001. Die entsprechende Grundsatzentscheidung des E u G H ist nur sehr zögerlich und erst in jüngster Zeit in das geltende Recht eingearbeitet worden. Ähnlich die Versagung von Studienbeihilfen für das Auslandsstudium, E u G H , Slg 1990, 1-4185 ff - Di Leo. 130 Vgl etwa zur Tätigkeit bei privaten Sicherheitsdiensten E u G H , Slg 1998. 1-6717 fl" Kommission/ Spanien; zu Arbeitsplätzen in der Schiffahrt E u G H , Slg 1993, 1-6235fT - Kommission/Belgien: zur Wählbarkeit in Berufskammern E u G H , Slg 1991, 1-3507 fT - ASTI. 131 Was bereits eine Verletzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit darstellt, vgl nachfolgend. 132 E u G H , Slg 2001,1-541 ff Kommission/Italien.

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Arbeitnehmerfreizügigkeit

§9 I I I

mittlerweile so unklar, dass die diskriminierenden Vorschriften in der Praxis gar keine Anwendung mehr fänden.133 b) Sehr viel häufiger als offene sind versteckte Diskriminierungen in Vorschriften des Berufs-, Arbeits- oder Sozialrechts, weil diese herkömmlicherweise oft durch eine territoriale Ausrichtung geprägt sind. Dass eine Diskriminierung vorliegt, wenn eine Bestimmung zwar nicht formal, aber faktisch „im wesentlichen", „ganz überwiegend" oder „ihrem Wesen nach eher" fremde Staatsangehörige betrifft und damit eigene Staatsangehörige im Ergebnis begünstigt, hat der EuGH zur Arbeitnehmerfreizügigkeit bereits früh festgestellt,134 ohne in seiner Rechtsprechung den genauen Maßstab für das unterschiedliche Betroffensein zu präzisieren135 oder je nach erkennbarer Finalität zu unterscheiden.136 Versteckte Diskriminierungen können, da sie nicht unmittelbar an der Staatsangehörigkeit ansetzen, sachliche Gründe haben und deshalb nicht nur durch die geschriebenen, sondern auch die ungeschriebenen Schranken gerechtfertigt werden137 (vgl Rn41ff). Im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit beruhen mittelbare Diskriminierungen zumeist auf Vorschriften, die den Nachweis bestimmter beruflicher Qualifikationen 138 , den Nachweis von Sprachkenntnissen139 oder einen Wohnsitz im Inland 140 erfordern. Solche Anforderungen sind nur mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, wenn sie objektiv schützenswerten Rechtsgütern dienen (vgl Rn 49ff) und verhältnismäßig sind (s Rn 52ff). Aber auch andere Ungleichbehandlungen können überwiegend ausländische Arbeitnehmer treffen.141 So sind Belastungen mit Abgaben verboten, die allgemein erhoben werden, aber (nur) für Wanderarbeitnehmer ohne Gegenleistung bleiben.142 Ein weiterer, bereits mehrfach entschiedener Beispielsfall ist die Befristung von Verträgen für Fremdsprachenlektoren, wenn Verträge für andere Universitätsbedienstete nicht ebenfalls regelmäßig nur

133 Weil die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beachtung des Gemeinschaftsrechts die Schaffung einer klaren Rechtslage fordert. 134 EuGH, Slg 1974, 153, Rn 11 ff - Sotgiu; Slg 1978, 1489, Rn 16ff - Kenny. 135 Vgl zu den oben wiedergegebenen Umschreibungen: EuGH, Slg 1986, 1, Rn 24ff - Pinna; Slg 1992, 1-5785, Rn 42ff - Kommission/Vereinigtes Königreich; Slg 1996, 1-2617, Rn 20ff O'Flynn. 136 Insbesondere werden die Begriffe der mittelbaren, verdeckten oder verschleierten Diskriminierung nebeneinander und ohne erkennbares Konzept verwendet. Sinnvollerweise ist die mittelbare Diskriminierung der Oberbegriff, verstecken oder verschleiern setzt ein zusätzliches finales Element voraus. Ob diese Unterscheidung von Bedeutung für die Grundfreiheitsprüfung sein sollte, ist eine andere und eher zu verneinende Frage. 137 Das ergibt sich aus der Rspr mit ausreichender Eindeutigkeit, wenn auch nicht immer ganz klar ist, welche Ausführungen sich auf die Prüfung des Eingriffs und welche sich auf jene der Rechtfertigungsgründe beziehen; - » v g l § 7 Rn 79. 138 Vgl etwa EuGH, Slg 1999,1-4773, Rn 28 ff - Fernández de Bobadilla; Slg 2001, 837, Rn 23 ff Quen. 139 Vgl nur EuGH, Slg 1989, 3967, Rn 23 ff - Groener. 140 EuGH, Slg 1998,1-47, Rn 21 ff - Schöning-Kougebetopoulu; Slg 1998,1-2521, Rn 30ff - Clean Car Autoservice. 141 Vgl etwa zur Nichtanrechnung ausländischer Beschäftigungszeiten, Rn 19 ff; zur Erschwerung einer Anrechnung EuGH, Slg 2000,1-497 ff - ÖGB. 142 Vgl EuGH, Slg 2000, 1-4585 ff - Sehrer; Slg 2000, 1-1049 ff - Kommission/Frankreich; der EuGH greift allerdings ohne nähere Prüfung auf das Beschränkungsverbot zurück.

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§ 9 112

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auf Zeit abgeschlossen werden.143 Für entsprechende Sonderbehandlungen sind zumeist keinerlei Rechtfertigungsgründe ersichtlich. Der EuGH hält ferner auch ein auf soziale Vergünstigungen bezogenes Wohnsitzerfordernis (vgl Rn 19 ff) für mittelbar diskriminierend;144 dieser Ansatz zwingt in den Fällen, in denen sich aus der Funktion der Vergünstigung kein objektiver Grund für eine territoriale Begrenzung ergibt, zu einem Leistungsexport.145 Gemäß der Rspr des EuGH führt ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot dazu, dass zugunsten der benachteiligten Wanderarbeitnehmer die Regelungen gelten, die für die übrigen Betroffenen vorgesehen sind; anders als im deutschen Verfassungsrecht kann die Feststellung einer Ungleichbehandlung damit im Ergebnis unmittelbar zur Gewährung von Vergünstigungen führen.' 46 2.

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Beschränkungen

a) Ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit wie die Warenverkehrsfreiheit ebenfalls ein Beschränkungsverbot enthält, dh alle Behinderungen unabhängig von dem Vorliegen einer Diskriminierung als Eingriffe anzusehen sind, war lange Zeit fraglich und ist auch heute nicht ganz unumstritten. Das beruht im wesentlichen auf zwei Gründen: Zunächst auf der allgemeinen Schwierigkeit, mittelbare Diskriminierungen und Beschränkungen voneinander abzugrenzen.147 Jedoch besteht zwischen beiden Eingriffsformen zumindest theoretisch ein wesentlicher Unterschied, der eine kategoriale Unterscheidung erlaubt: Für Beschränkungen kommt es auf einen Vergleich mit der Behandlung von anderen Personen gerade nicht an. Ein weiterer, spezifisch auf Art 39 EGV bezogener Einwand ist der, dass die Vorschrift die geschützten Rechte im Einzelnen umschreibt, es eines allgemeinen Beschränkungsverbots schon deshalb nicht bedürfte. Demgegenüber ist auf die Konkretisierungsfunktion der Abs 2 und 3 und die allgemeine, umfassend zu schützende Freizügigkeitsgarantie in Abs 1 hinzuweisen (vgl Rn 19 ff). Spätestens nach der berühmten ßo.w?a«-Entscheidung ist der Standpunkt des EuGH klar geworden, der Art 39 EGV mit allgemeinen Erwägungen als Beschränkungsverbot auslegt. Das kommt in der Formel zum Ausdruck, „dass sämtliche Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung von beruflichen Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Gemeinschaft erleichtern sollen und solchen Maßnahmen entgegenstehen, die die Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen." 148 b) Wie bei anderen Beschränkungsverboten bleibt das Problem, angesichts der Vielfalt möglicher Eingriffe eine Eingrenzung noch oberhalb der Rechtfertigungsebene zu ver143 EuGH, Slg 1989, 1591 ff - Allue I; Slg 1993, I-4309ff - Allue II; mittelbar diskrimierend sind auch andere arbeitsrechtliche Schlechterstellungen der Lektoren, vgl Slg 2001,1-4923 ff - Kommission/Italien; vgl zu den Europaabkommen, Rn 30 ff. 144 EuGH, Slg 1997,1-6689, Rn 43ff - Meints. 145 Vgl in diesem Zusammenhang zum Bestattungsgeld EuGH, Slg 1996,1-2617ff - O'Flynn. 146 Vgl EuGH, Slg 1998, 1-47, Rn 33ff - Schoening-Kougebetopoulou; Slg 1999, 1-345, Rn 57ff Terhoeve; —> vgl auch § 7 Rn 29. 147 Der EuGH selbst unterscheidet - seinem allgemeinen Begründungsstil entsprechend - nicht eindeutig, greift vielmehr auf seine eigenen Ansätze für die Entwicklung eines Beschränkungsverbots des Öfteren auch dann zurück, wenn es um eine mittelbare Diskriminierung geht, vgl nur EuGH, Slg 2000,1-4585, Rn 32, 34 - Sehrer (s Fn 142). 148 EuGH, Slg 1995,1-4921, Rn 9 4 f f - Bosman; vgl zuvor bereits Slg 1993,1-1663, Rn 3 2 f f - Kraus.

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Arbeitnehmerfreizügigkeit

§ 9 112

suchen. Insbesondere wenn b e d a c h t wird, dass auch mittelbar u n d potenziell wirkende M a ß n a h m e n Eingriffscharakter aufweisen können, erscheint es fraglich, o b auch jede nur e n t f e r n t mittelbar wirkende Beeinträchtigung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auslösen soll. 149 Einen möglichen A n s a t z zur Differenzierung k ö n n t e zwar nicht die F o r d e r u n g einer s p ü r b a r e n W i r k u n g , aber eine Ü b e r t r a g u n g der sog Rechtsprechung 1 5 0 auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit bieten. Dabei ist allerdings eine f o r m a l e U n t e r s c h e i d u n g zwischen Berufszulassungs- u n d Berufsausübungsregelungen wenig weiterführend. 1 5 1 D e n n es muss, d e m Sinn der Ä'