Erkenne Dich selbst!: Strategien der Sichtbarmachung des Körpers im 20. Jahrhundert 9783412217693, 9783412223809


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Erkenne Dich selbst!: Strategien der Sichtbarmachung des Körpers im 20. Jahrhundert
 9783412217693, 9783412223809

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Erkenne Dich selbst!

Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden herausgegeben von Gisela Staupe Band 11

Erkenne Dich selbst! Strategien der Sichtbarmachung des Körpers im 20. Jahrhundert Herausgegeben von Sybilla Nikolow

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die VolkswagenStiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Modell einer sogenannten Gläsernen Frau, die um 1935 in den Werkstätten des Deutschen Hygiene-Museums hergestellt und danach in die USA verkauft wurde. Das Modell wurde 1988 nach Deutschland zurückgeführt und steht heute als Dauerleihgabe des Deutschen Historischen Museums Berlin in der Dauerausstellung Abenteuer Mensch des Deutschen Hygiene-Museums Dresden. © 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Annette Wunschel und Katja Kynast, beide Berlin Korrektorat: Rebecca Wache, Castrop-Rauxel Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22380-9

Inhalt

Vorwort .............................................................................................................................................. 9 Sybilla Nikolow „Wissenschaftliche Stillleben“ des Körpers im 20. Jahrhundert ................................... 11

Orte: Die „Museen der Zukunft“ als Gegenwartsmuseen der Moderne Helmuth Trischler Zwischen Geschichte und Zukunft. Ein neuer Museumstyp im Europa des frühen 20. Jahrhunderts ................................ 47 Claudia Stein Die „Geschichte der Hygiene“ in der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden ............................................................................................................................................. 59 Thomas Steller „Kein Museum alten Stiles“. Das Deutsche Hygiene-Museum als Geschäftsmodell zwischen Ausstellungswesen, Volksbildungsinstitut und Lehrmittelbetrieb, 1912–1930 ........ 72 Lioba Thaut Leibesvisitation. Blicke auf den Körper in fünf Jahrhunderten. Strategien der Sichtbarmachung in einer Sonderausstellung 1990/91 am Deutschen Hygiene-Museum ........................................................................................... 88 Susanne Roeßiger Ein Speicherort für Körpergeschichte. Die Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums .......................................................... 105 Ludmilla Jordanova „Erkenne Dich selbst!“. Reflexionen über medizinische Präsentationen in öffentlichen Ausstellungen ...... 118

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Inhalt

Praktiken I: „Erkenne Dich selbst!“ in Modellen des Körpers Anna Maerker „Wunderbare Vorrichtungen“ oder „nutzloses Spielzeug“? Debatten über den öffentlichen Nutzen der Visualisierung des Körperinneren vom 17. bis zum 19. Jahrhundert .............................................................................................. 133 Nick Hopwood Der Embryologe und sein Homunkulus. Deutungen einer Marmorbüste von 1900 ............................................................................ 144 Christian Sammer Durchsichtige Ganzkörpermodelle im Krieg der Systeme. Die Gläsernen Figuren aus Dresden und Köln, 1949–1989 ........................................... 179 Sandra Mühlenberend „Dingliche Sendboten in alle Welt“. Die anatomischen Lehrmodelle des Deutschen Hygiene-Museums ........................ 198

Praktiken II: „Erkenne Dich selbst!“ anhand von Prüfapparaten Noyan Dinçkal „Lebensproben“. Eignungs- und Leistungsmessung im Sport, 1900–1930 ................................................. 215 Sybilla Nikolow „Erkenne und prüfe Dich selbst!“ in einer Ausstellung 1938 in Berlin. Körperleistungsmessungen als objektbezogene Vermittlungspraxis und biopolitische Kontrollmaßnahme ............................................................................................ 227 Lars Bluma Die Objektivierung des bergmännischen Körpers. Praktiken der Sichtbarmachung im Kontext von Versicherungsrationalität und berufsspezifischen Krankheiten ................................................................................................ 269 Max Stadler „Vom guten Sehen bei künstlicher Beleuchtung“. Lichttechnische Aufklärung um 1930 .................................................................................... 286

Inhalt

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Medien: Wissensvermittlung im „Zeitalter des Auges“ Anja Laukötter Vom Ekel zur Empathie. Strategien der Wissensvermittlung im Sexualaufklärungsfilm des 20. Jahrhunderts ............................................................................................................................. 305 Michael Tymkiw Den Körper spielerisch erkunden. Die Ausstellung Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin und ihr Nachleben ............. 320 Anna-Gesa Leuthardt „Die Fülle des Ausstellungsmaterials allgemeinverständlich zusammenfassen …“. Populäre Führer im Medienensemble der Ausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums ........................................................................................................................ 343 Claudia Stein und Roger Cooter Die Geschichte des Gesundheits- und Hygieneplakats neu betrachtet. Die ökonomische Neuerfindung des Wissens über das Selbst ..................................... 357 Danksagung ..................................................................................................................................... 377 Die Autoren und Autorinnen .................................................................................................... 380 Personenregister ............................................................................................................................. 387 Sachregister ...................................................................................................................................... 388

Vorwort

Als am Ende des 18. Jahrhunderts die ersten (öffentlichen) Museen gegründet wurden, standen vor allem zwei verschiedene Präsentationsweisen der dort aufbewahrten Objekte zur Verfügung: die Darstellung in atmosphärischen Arrangements, die zeitlich zueinander passende Objekte als ein Tableau in den Raum setzte, und die reihende Darstellung, die Objekte einer Klasse in eine zeitliche Entwicklung zueinander brachte. Doch diese vergleichsweise einfachen Ordnungen waren 100 Jahre später durch eine explodierende Vielzahl von Ausstellungsmöglichkeiten und neuartigen Wissensobjekten radikal erweitert worden: Durchsichtige menschliche Figuren, die Kräfte des Menschen messende Instrumente und bewegte Bilder über den Verdauungstrakt zogen die Besucher in den Bann. Die zuvor auf dem ökonomischen Parkett der Gewerbe- und Industrieausstellungen erprobten Installationsweisen gingen in Museen über und wurden für eine Sichtbarmachung des Menschen in den Dienst genommen. Man könnte – wie es dieser Band tut – sogar einen Schritt weiter gehen und formulieren, dass die neuen wissenschaftsgestützten Visualisierungstechniken das Selbstverständnis des modernen Menschen hervorbrachten. Der Ort des dazugehörigen Imperativs „Erkenne Dich selbst!“ war das Deutsche Hygiene-Museum. Dieses Buch ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts und einer wissenschaftlichen Konferenz, das aus der Förderlinie „Forschung in Museen“ der VolkswagenStiftung Hannover finanziert und in der Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen HygieneMuseum, Dresden, dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin, und der Universität Bielefeld entstanden ist. Im Vordergrund stand zunächst die Geschichte eines Museums und seiner Bestände, doch schnell wurde deutlich, dass es nicht allein um eine Institutionengeschichte gehen konnte, als vielmehr um eine Verflechtungsgeschichte mit den zeitgleichen Orten, Medien und Praktiken, an, in und mit denen das neue Wissen um den Menschen präsentiert, diskutiert und ausgestellt wurde. Das Deutsche Hygiene-Museum als ein dezidiert dem Menschen gewidmetes „Gegenwartsmuseum“ und die Repräsentationsweisen vom menschlichen Körper als Wissensobjekte ergeben zusammen eine Geschichte der Sichtbarmachung des Menschen im 20. Jahrhundert. Diese darzustellen ist das Ziel des vorliegenden Bandes. Die Zusammenarbeit zwischen Museum und akademischer Disziplin (Wissenschaftsund Medizingeschichte) zeigt, dass man weder bei einer bloßen Aufarbeitung von Sammlungsbeständen noch bei einer objektfernen Geschichtsschreibung verharren muss. Zu spannend sind die verschiedenen, gerade in den letzten Jahren entwickelten methodischen Ansätze zur Einbeziehung und Darstellung von (Wissenschafts-)Praktiken und (Wissenschafts-)Objekten. „Forschung in Museen“ erfahren wir dann als besonders fruchtbar,

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Vorwort

wenn sie mit größtmöglicher Offenheit der Perspektiven und auf Augenhöhe zwischen den Beteiligten erfolgt. Bei allem aktuellen Effizienz- und Quotendruck sind für das Deutsche Hygiene-Museum Forschungsprojekte wie dieses eine Möglichkeit, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Universitäten und Instituten nicht nur flüchtige Kontakte zu generieren, sondern von den Blickweisen und Erfahrungsräumen der jeweils anderen in vielfältiger Weise zu profitieren. Ausstellungen wie Leibesvisitation Anfang der 1990er-Jahre oder, ganz aktuell, Blicke! Körper! Sensationen! zur Geschichte des anatomischen Wachskabinetts hätten ohne Tuchfühlung zwischen Forscherinnen und Forschern innerhalb und außerhalb des Museums nicht entstehen können, und dies gilt in gleicher Weise für die Dauerausstellung des Museums wie auch für die Aufarbeitung von Sammlungsbeständen. Wir danken der VolkswagenStiftung für die großzügige Unterstützung dieses Projekts und der Arbeitsgruppenleiterin Sybilla Nikolow für die engagierte Umsetzung. Anke te Heesen, Hans-Jörg Rheinberger und Klaus Vogel

Sybilla Nikolow

„Wissenschaftliche Stillleben“ des Körpers im 20. Jahrhundert

In einer Vitrine ein nackter junger Mann aus Papiermaché, daneben mehrere Flaschen mit den Elementen, aus denen der menschliche Körper aufgebaut ist, im jeweiligen Mengenverhältnis. In seiner Hand eine Aufschrift, die zwischen -„ “ beginnt: „I am fearfully and wonderfully made“ und endet: Reduced to a familiar form, I am in the main made of charcoal and water and the total value of such my constituents as are shown here is about $18,–.1

Dies notierte der niederländische Historiker und Literaturwissenschaftler Johan Huizinga über seinen Besuch im American Museum of Natural History in sein erst knapp 50 Jahre nach seinem Tod erstmals veröffentlichtes Tagebuch. Seine Visite erfolgte im Rahmen einer Reise zu verschiedenen US-amerikanischen Universitäten und Bildungseinrichtungen, die er auf Einladung der Rockefeller Foundation im Frühjahr 1926 unternahm.2 Aus seinem Tagebuch erfahren wir, dass er nach Ankunft mit dem Schiff in New York am 17. April 1926 die Sehenswürdigkeiten der Stadt erkundete und zahlreiche Kollegen traf. Am Vormittag des 24. April war dann, nachdem er schon mehrere Male im Metropolitan Museum of Art gewesen war, auch das naturhistorische Museum an der Reihe. An den Notizen über seinen Besuch ist zunächst bemerkenswert, dass er von den klassischen Highlights des Hauses, den berühmten evolutionsgeschichtlichen Lebensraumdioramen, nur am Rande Notiz nahm.3 Stattdessen fesselte seine Aufmerksamkeit ein anderes Schaustück so sehr, dass er sogar stehen blieb und in Auszügen abschrieb, 1 Johan Huizinga [1993] 2011: Amerika. Aus dem Niederländischen von Annette Wunschel. München: Wilhelm Fink Verlag, 277. Ich danke Annette Wunschel (Berlin) für den Hinweis auf diese Quelle. 2 Thomas Macho 2011: Johan Huizinga in Amerika. In: ebd.: 349–368, hier 357 f. 3 Victoria E. M. Cain 2010: „The Direct Medium of the Vision“. Visual Education, Virtual Witnessing and the Prehistoric Past at the American Museum of Natural History, 1890–1923. Journal of Visual Culture, 9, 284–303; Marianne Sommer 2011: Serielle Inszenierung. Die Osborn-Knight-Restaurationen der Evolutionsgeschichte. In: Stefanie Samida (Hg.): Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript, 129–156.

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was ihm dort mitgeteilt wurde. Die Genauigkeit, mit der Huizinga gerade dieses Objekt­ ensemble im Tagebuch wiedergab, ist im Vergleich mit seinen stichwortartigen Notizen über Künstler und Werke im Metropolitan auffällig. Wir dürfen annehmen, dass er im Kunstmuseum bereits wusste, was ihn erwartete. Ähnliches ist von der Vitrine im Naturkundemuseum nicht zu sagen. Was sich hier den Augen der Besucher bot, erklärte sich nicht von selbst. Auf den ersten Blick scheint das Arrangement kaum einem sinnvollen Zusammenhang zu gehorchen: eine menschliche Attrappe, umstellt von Gefäßen verschiedener Art. Der Ort der Vorführung und die Nacktheit der Figur verweisen darauf, dass nicht ein konkreter Mensch, sondern die Gattung gemeint war. Doch, was die Flaschen zu bedeuten hatten, ob sie etwa für Nahrungsmittel standen, wird erst nach der Lektüre der Aufschrift klar, die die Pappmascheefigur in der Hand hielt. Huizinga musste daraus zitieren, um den Sinn der Installation wiedergeben zu können. Sein Tagebucheintrag dokumentiert die Verwunderung und Befremdung, die die neuen Wissensobjekte des Körpers im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Ausstellungen wie dieser unter den Besuchern auslösen konnten. Das Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht für die Vorführungspraktiken in den visuellen Medien dieser Zeit aufschlussreich: Erstens zeugt es davon, wie die Exponate als Zeugnisse wissenschaftlicher Sichtweisen auf den Körper kenntlich gemacht wurden. Huizingas Auslassungen im Zitat deuten darauf hin, dass auf dem Schild Detailinformationen über den chemischen Charakter der Flascheninhalte zu erfahren waren, deren Einzelheiten ihn weniger interessierten als die Zusammenfassung im letzten Satz. Erst nach der Lektüre der gesamten Aufschrift konnte er aber schließlich von „Elementen, aus denen der menschliche Körper aufgebaut ist“, sprechen. Zweitens zeigt es, welche konkreten Mittel eingesetzt wurden, um die wissenschaftlichen Darstellungen des Körpers für die Vermittlungsarbeit zu mobilisieren. Im Beispiel wurde „ein nackter junger Mann aus Papiermaché“ von den Nahrungsmittelchemikern autorisiert, an ihrer Stelle das Wort zu ergreifen und einen Vortrag über die stoffliche Zusammensetzung des Menschen zu halten. Entsprechend ist der Text auf dem Schild als Zitat gekennzeichnet und die Rede in der Ich-Form abgefasst. Die Laborergebnisse wurden auf diese Weise in den Status von Wahrheitsaussagen über die Gattung Mensch erhoben. Das papierne Exemplar adressierte als Vertreter der Menschheit seine Artgenossen und seine Worte transportierten eine wissenschaftsgestützte Selbstwahrnehmung, die die Besucher implizit aufforderte, sich anzuschließen. Worum es hier zudem ging, war die Vermittlung einer modernisierten Fassung der klassischen Forderung „Erkenne Dich selbst!“. Sie stand jetzt nicht mehr für eine dem Subjekt überlassene Innensicht, sondern für die wissenschaftliche Erkennbarkeit des Körpers mit seinen Leistungen und Ausfällen. Neu war nicht nur das Interesse am Körper in diesem Zusammenhang, sondern auch der Ort, an dem diese neue Selbstsicht die Öffentlichkeit erreichte. In der Frühen Neuzeit stand das Motto über dem Eingang von anatomischen Theatern, in denen Veranstaltungen vor akademischem und studentischem

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Publikum durchgeführt wurden.4 Teilweise waren die Demonstrationen auch öffentlich und wurden, so in Berlin, in deutscher Sprache abgehalten.5 Die Ausstattung der Theater und anderer Schauräume wie den anatomischen Sammlungen durch Präparate, Modelle und Illustrationen dokumentiert, dass der gelehrte Blick des Anatomen ins Innere des Körpers von Anfang an mit dem moralischen Appell des Memento mori verbunden war. In seinem Artikel „Anatomie“ in der Französischen Enzyklopädie räumte Denis Diderot den anatomischen Vorführungen höchste Priorität ein und deutete das klassische Motto in Abgrenzung von den Cartesianern in radikal materialistischer Manier als Kenntnis des eigenen Körpers, die jedem Menschen als Mittel zur Selbstaufklärung empfohlen wurde.6 Im 19. Jahrhundert wurden mit dieser Forderung dann bürgerliche Leser dazu angehalten, sich anhand der Lektüre hygienischer Ratgeber medizinisches Wissen anzueignen und ihre Lebensweise danach auszurichten.7 Mit der Wende zum 20. Jahrhundert heftete sich nun dieser Imperativ an neue wissenschaftliche Repräsentationsformen des Körpers, welche dem Laienpublikum nun visuell, materiell und haptisch zugänglich gemacht wurden. In den Ausstellungen wie in anderen visuellen Medien wurde nun jeder Mann und jede Frau dazu aufgefordert, die Gültigkeit des neuen körperbezogenen Wissens durch die eigene Anschauung zu beglaubigen. Drittens wurden, wie so häufig in dieser Praxis, durch die Art und Weise der Aufbereitung bestimmte Aneignungsweisen dieses neuen Körperwissens nahegelegt und andere weniger ermöglicht. Im Beispiel wurde den Besuchern am Ende der wissenschaftlichen Erläuterung eine populäre Zusammenfassung des Fachwissens angeboten, die bereits Anknüpfungspunkte aus der Lebenswelt enthielt. Diese Version stand nicht im Gegensatz zur wissenschaftlichen Hauptrede, sondern diente ihrer Ergänzung und Unterstützung. Sie ist ebenfalls eng mit der wissenschaftlichen Darstellung des Körpers verbunden und auch nicht frei von Fachbegriffen und Größen. So werden die Besucher vom Hauptbestandteil Wasser eine Vorstellung gehabt haben, vom Kohlenstoff in Reinform aber schon weniger, und Zahlen kommen in dem populären Schlusssatz nur noch als Zahlungsmittel vor. Die Angabe des Preises am Ende gibt den vorherigen wissenschaftlichen Erläuterungen den Eindruck einer Einkaufsliste. 4 Z.B. in Soemmerings anatomischem Theater in Kassel (Ulrike Enke 2002: Von der Schönheit der Embryonen. Samuel Thomas Soemmerings Werk „Icones embryonum humanorum“ 1799. In: Barbara Duden, Jürgen Schlumbohm und Patrice Veit (Hg.): Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17. –20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 205–233, hier 207). 5 Thomas Schnalke 2012: Bühne, Sammlung und Museum. Zur Funktion des Berliner anatomischen Theaters im 18. Jahrhundert. In: Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardig (Hg.): Spuren der Vergangenheit. Theatrum anatomicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich. Berlin/New York: De Gruyter, 1–27, hier 13 f. 6 Miram Bozovic 2012: Anatomie, Sektion, Philosophie. Diderot und Bentham. In: ebd.: 221–241, hier 231 f. 7 Vgl. dazu Philipp Sarasin 2001: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers, 1765–1914. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 118–124.

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Huizingas Tagebucheintrag dokumentiert auch die Rezeptionsbedingungen einer solchen Strategie der Sichtbarmachung des Körpers: Die Details der wissenschaftlichen Darstellung, die vermutlich aus einer stöchiometrischen Aufstellung der jeweiligen Elemente bestand, werden von ihm nicht im Einzelnen hinterfragt. Stattdessen übernahm er ins Tagebuch den populären Merksatz, der für ihn zum Schlüssel für das Verständnis der gesamten Installation wird: Der Marktwert des chemischen Menschen beträgt derzeit 18 Dollar. Huizinga, der mit kulturhistorisch wachem Auge durch das Land reiste und alles festhielt, was ihm als Anzeichen für mögliche zeittypische Ausprägungen der US-amerikanischen Kultur dienen konnte, ließ auch die Eindrücke im naturhistorischen Museum nicht unkommentiert stehen. Entsprechend seines betont sachlichen und reflektierenden Stils im Tagebuch und wissenschaftlichem Werk8 vermerkte er in der Einführung des Beispiels zunächst einige einordnende Gedankensplitter zu dieser Museumsgattung: So beginnt der Eintrag vom 24. April 1926 folgendermaßen: „Museum of Natural History, erneut Indianer, haufenweise. Hier ist mehr Publikum unterwegs. Meist Kinder. Alles pädagogisch eingerichtet: Dioramen von Vögeln, idem von geologischen Formationen.“ Diesen Stichworten folgen ein Gedankenstrich und die oben angegebene ausführliche Beschreibung der Installation. Im daran anschließenden Abschnitt liefert er eine kulturhistorische Interpretation der Vitrine: Das Wissen in Amerika, permanent an den Mann gebracht: graphisch, illustrativ, tabellarisch, und dadurch gleichsam depersonalisiert, veräußerlicht, vollkommen öffentlich gemacht. – Die wissenschaftlichen Stillleben von Nahrungsmitteln. – Childs’ Speisekarte vermerkt nach jedem Gericht die Kalorienzahl. – Siehe die beigefügte Notiz.9

Die Bewertung des Popularisierungsphänomens, das er als amerikanisch ansieht, zeigt ihn als aufmerksamen Zeitzeugen, der die Verbreitung wissenschaftlicher Sichtweisen auf den Körper bis in die Menükarten der damals prominentesten Restaurantkette nachspürte. Mit der Bezeichnung der Installation als „wissenschaftliches Stillleben“ bietet uns der ausgewiesene Kenner des niederländischen Goldenen Zeitalters eine ikonografische Einordnung des Gesehenen an. Wie im traditionellen Vorbild sind in der Installation leblose Gegenstände zu sehen, die nach inhaltlichen, symbolischen und ästhetischen Überlegungen ausgewählt und komponiert wurden. Eine mögliche Lesart wäre, die chemischen Elemente in den Flaschen als Elixiere des Lebens zu verstehen, denn chemisch gesehen ging es um die Grundvoraussetzung für das Leben auf der Erde. Im konkreten Fall erinnert die Ausstellung der Pappfigur an das Motiv der Vergänglichkeit des irdischen Lebens im barocken Stillleben. Im Gesamtarrangement wird dieses Sujet

8 Macho 2011: 354 f. 9 Huizinga [1993] 2011: 277.

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durch Symbole aus der modernen Laborwissenschaft und Wirtschaftsordnung überformt: die chemische Tabelle, die Messgefäße und die Angabe des Marktwertes. In Huizingas Interpretation scheinen noch zwei weitere Aspekte der Installation auf, die gleichfalls helfen können, das Beispiel im breiteren Kontext wissenschaftsgestützter Sichtbarmachungen des Körpers zu verorten. Dies ist zum einen der Eindruck der völligen Transparenz des dargestellten Wissens, der durch die Art der Darstellung den zeitgenössischen Betrachtern nahegelegt wird, auch vom verbildlichten Gegenstand anzunehmen. Hier leitet es sich von der in Justus Liebigs Forschungslabor in Gießen perfektionierten Methode der analytischen Chemie ab, nach der die in der Natur vorfindlichen Stoffe solange in immer kleinere Bestandteile zerlegt werden, bis man zu den sogenannten Grundbausteinen des Lebens vordringt.10 Das Ziel dieser Forschung besteht darin, mithilfe der auf diese Weise gewonnenen Modelle Baupläne zur künstlichen Synthetisierung von Naturstoffen zu erstellen. Die Transparenz der Darstellung befördert hier eine Vorstellung des Dargestellten in einer Weise, die nahelegt, anzunehmen, es würden Wasser und Kohlenstoff ausreichen, um es Gott in seinem Schöpfungswerk gleich zu tun.11 Zum anderen verweist Huizingas Bemerkung, hier würde demonstriert, wie „Wissen in Amerika permanent an den Mann gebracht“ wird, darauf, dass die Methoden der Inszenierung dieses neuen Wissens vom Menschen eng mit der Kultur der Warenpräsentation in Ausstellungen, Schaufenstern und Warenhäusern verbunden waren.12 Die Zurschaustellung von Fässern und das Preisschild, das der papierne Stellvertreter des Menschen in der Hand hielt, erinnern daran, wie Produkte auf einem Markt oder in einer Messe zum Verkauf angeboten wurden. Im Unterschied zu den Welt- und Gewerbeausstellungen sowie den industriellen Abteilungen der großen Fachausstellungen, wie den Gesundheitsausstellungen, an denen sich das Deutsche Hygiene-Museum beteiligte, wurden hier jedoch keine materiellen Produkte veräußert. Auch wenn im New Yorker Museum wie auf einer Auktion der Pro-Kopf-Preis auf den Dollar genau beziffert wurde, ging es nicht um den Ausverkauf eines konkreten Menschen oder der Gattung Mensch, sondern um die Vermarktung des Wissens vom Menschen. Der Subtext der Installation war ein anderer: Das neue Körperwissen wurde hier als Aufdeckung der letzten Geheimnisse der Menschheit gefeiert. Wissen wurde als Ware in dem Sinne verstanden, dass angenommen wurde, seine Anwendung reiche aus, um dem Menschen ein langes Leben auf Erden zu sichern.

10 Frederic L. Holmes 1989: The Complementary of Teaching and Research in Liebig’s Laboratory. Osiris, 5, 121–166. 11 Aus dem Beginn der Rede „I am fearfully and wonderfully made“ klingt die Ehrfurcht vor der Schöpfung Gottes an. Die folgenden Angaben über die chemische Beschaffenheit des Menschen lassen sich in diesem Sinne als deren Entzifferung verstehen. 12 Siehe zur neuen Kultur des Exponierens in dieser Zeit Gudrun M. König 2009: Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900. Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag.

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Vergleiche zwischen den Werbemethoden der Industrie und den Popularisierungsstrategien des neuen Wissens vom Körper in Ausstellungen wurden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht nur von Huizinga für die US-amerikanische Kultur angestellt, sondern nahezu gleichzeitig und gleichlautend im Feuilleton der Tagespresse in Deutschland geäußert. Die kulturkritischen Kommentare von Huizingas Kollegen, Walter Benjamin, der darauf aufmerksam machte, dass „Popularisierung längst kein Grenzland der Wissenschaften“ mehr sei, sondern sich inzwischen „mit Hilfe der Industrie emanzipiert“ habe, sind legendär und fehlen heute in kaum einer Geschichte der Wissenspopularisierung.13 Aber sie waren bei weitem nicht die ersten und einzigen Reflexionen ihrer Art, in denen registriert wurde, „wie die junge, frisch und scharf zupackende Reklame des 20. Jahrhunderts, wie ihre zielbewußte Arbeit mit großen Linien und starken Farben die Uebermittlung von reinem Gedankengut entscheidend beeinflußt hat“.14 Es ist aber vielleicht kein Zufall, dass derartige Bemerkungen gerade angesichts der Berliner Ernährungsausstellung im Frühjahr 1928 geäußert wurden, bei der die Präsentationen des Deutschen HygieneMuseums zu den chemischen und physiologischen Grundlagen der Ernährung des Menschen, unter anderem mit einer gut bekannten Darstellung des Nahrungsbedarfs, die wissenschaftliche Abteilung füllte. Es war dort in Berlin eine ikonografisch verwandte Darstellung zur New Yorker Installation zu sehen, die ihrerseits bereits für die populäre Halle der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden entwickelt worden war. Sie demonstrierte den Abb. 1: Installation zum Nahrungsbedarf in Jahresbedarf an Lebensmitteln eines der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911, durchschnittlichen Mannes und wurde im Fotoalbum, linker Bildausschnitt (S-DHMD, Saal III „Ernährung“ gezeigt (Abb. 1).15 2001/195.44). 13 Walter Benjamin: Jahrmarkt des Essens. Epilog zur Berliner Ernährungsausstellung. Frankfurter Zeitung, 2. September 1928 [wieder abgedruckt in Gesammelte Schriften. Das Passagenwerk. Hg. von Tillman Rexroth. 1. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, V. Bd., 1. Teilbd., 527–532]. 14 O. [Otto] A. Palitzsch: Die Schule des Essens. Eröffnung der Ernährungs-Ausstellung. Vossische Zeitung, 6. Mai 1928. 15 Siehe Offizieller Katalog der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden Mai bis Oktober 1911. Berlin: Druck und Verlag von Rudolf Mosse 1911, 387. Einen Eindruck liefert das Fotoalbum, das in der Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums [im Folgenden S-DHMD] einsehbar ist.

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Auch hier wurden einzelne Produkte naturalistisch mittels Attrappen in Form einer Lebensmittelpyramide dargestellt und die Besucher konnten auf einer beigestellten Tafel die verzehrten Mengen im Detail nachlesen. Die Installation wurde durch verschiedene Sonder- und Wanderausstellungen mitgeführt und entsprechend aktualisiert, so auch für die Berliner Ernährungsausstellung, und landete schließlich in der Dauerausstellung des Hauses von 1930.16 Es ist nicht ausgeschlossen, dass US-amerikanische Museumsexperten die Installation schon 1911 in Dresden gesehen haben und anschließend den Nahrungsverbrauch für ihr Publikum in eine lebensmittelartige Darstellung des chemischen Menschen transformiert haben. Auf Diskussionen in der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgehend, war das Wissen um den Stoffwechsel seitdem immer wieder popularisiert worden.17 Neu war, dass man es nun auf diese Weise auch visuell darstellte. Die Bezugnahme zwischen den Praktiken der Wissenschaftspopularisierung und den Werbemethoden in der Industrie erfolgte dabei in beide Richtungen: Reklametechniken hielten Einzug in die Vermittlung wissenschaftlicher Sichtweisen auf den Körper, und wissenschaftliche Darstellungstechniken des Körpers waren nun auch in den industri-

Abb. 2: Ausstellungsstand der Kaffee Hag in der Industrieabteilung der Großen Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen 1926 (Murschhauser 1927: 539).

16 Siehe Fotoalbum zur Dauerausstellung 1930 (S-DHMD, 2001/244.18). 17 Siehe für einen Überblick Rolf Wollensberger 1997: Die Normierung des Stoffwechsels. In: Beatrix Messmer (Hg.): Die Verwissenschaftlichung des Alltags. Anweisungen zum richtigen Umgang mit dem Körper in der schweizerischen Populärpresse 1850–1900. Zürich: Chronos, 133–176 und für ein Beispiel weiter unten.

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ellen Abteilungen großer Gesundheitsausstellungen zu sehen. Ein relativ wahllos herausgegriffenes Foto von der Großen Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen (GE-SO-Lei), die 1926 in Düsseldorf stattfand, dokumentiert beispielsweise den Stand der Kaffee-Hag-Handelsgesellschaft, dessen Ganzkörperdarstellung des Menschen den Titel „Ärztliches Coffeinverbot“ trug. Zu sehen ist, wie die Ausstellung der koffeinfreien Produkte dieses Unternehmens auch dazu genutzt wurde, um auf Gesundheitsschäden durch Koffein hinzuweisen. Man tat dies durch die wissenschaftliche Veranschaulichung der „Wirkung […] auf die einzelnen Organe des menschlichen Körpers in Bewegungsmodellen“ und Schaubildern, so berichtete der wissenschaftliche Leiter der Gesamtausstellung Hans Murschhauser in seinem Aufsatz zum Thema „Ernährung“ im Katalog, in dem auch das Foto abgedruckt war (Abb. 2).18 In den wissenschaftlichen Ausstellungen aus Dresden war es anders als in New York nicht nötig, auf einen Pappkameraden zurückzugreifen, um das Publikum anzulocken. Hier hielt man sich eng an die wissenschaftliche Darstellungstradition der Anatomie und Physiologie. So gab es in der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 die bereits im Zusammenhang mit der Vorführung des Nahrungsbedarfs angesprochene Populäre Abteilung. Sie trug den Titel Der Mensch und zeigte ihn in lebensechten Präparaten, Modellen und auf Schaubildern bis ins kleinste Detail. Beispielsweise war im Saal I unter dem Thema Abb. 3: Darstellung des Knochengerüsts des Knochengerüst ein expandiertes Skelett menschlichen Körpers in der Halle 25 der Großen zu sehen, das in 220 Einzelheiten zerlegt Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge war. In Abb. 3 ist die Version aus der Sonund Leibesübungen 1926, Fotoalbum Der Mensch, 1906–1926 (S-DHMD, 2009/218.38). derschau des Deutschen Hygiene-Muse18 Hans Murschhauser 1927: Die Ernährung. In: GE-SO-LEI. Grosse Ausstellung Düsseldorf 1926 für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen. Im Auftrage des Ausstellungsvorstandes hg. von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. med. Dr. med. vet. h.c. Dr. jur. h.c. Arthur Schlossmann als geschäftleitendem Ausstellungsvorstand. Zusammengestellt und bearbeitet von Dr. med. Marta Fraenkel, wissenschaftlicher Sekretärin. Bd. 2. Düsseldorf: Druck und Verlag von L. Schwann, 525–539, hier 539.

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ums zu sehen, die in der Großen Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen gezeigt wurde und ebenso Der Mensch hieß. Sie zeigt das sogenannte Knochenbrett in Halle 25. Aus Gründen der besseren Einsicht wurden hier die Einzelteile in einem Schaukasten fixiert. Interessanterweise wurde dieses Objekt im Fotoalbum der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 genau gegenüber zur Ablichtung des Objektensembles zum Nahrungsbedarf dokumentiert, obwohl sich beide Exponate in verschiedenen Räumen der Ausstellung befunden haben. Diese fotografische Zusammenstellung aus Skelett und Lebensmittelverbrauch wirkt damit wie ein Vorbild für die spätere Behandlung des Themas im American Natural History Museum. Eine andere Methode, bei der gleichfalls natürliches Material verwendet wurde, bestand in der Zusammenstellung des so bezeichneten durchsichtigen Menschen aus durchscheinend gemachten Feuchtpräparaten. Diese Sichtbarmachungsmethode des Körperinneren hatte der Leipziger Anatom Werner Spalteholz zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Forschungszwecke und die anatomische Lehre an der Universität entwickelt. Spalteholz-Präparate wurden in Dresden seit 1911 auch in den Dresdner Werkstätten gefertigt und in Ausstellungen eingesetzt.19 Ab 1925 wurde das Ensemble aus einzelnen Präparaten in einem separat abgedunkelten Pavillon präsentiert und diente unter dem Titel Der durchsichtige Mensch der Zusammenführung von Objekten verschiedener Organe, wovon man sich ein besonders nachhaltiges Verständnis von Bau und Funktion des menschlichen Körpers versprach (Abb. 4). Abb. 4: Schaukasten aus der Sondergruppe Der durchsichtige Mensch in der Ausstellung Vererbung, Fortpflanzung, Rassenhygiene und Geschlechtskrankheiten 1925 in Dresden, Fotoalbum Der Mensch, 1906–1926 (S-DHMD, 2009/218.30).

19 Zu Entwicklung und Einsatz dieser Objektgruppe in den Ausstellungen des Deutschen HygieneMuseums gibt es noch Forschungsbedarf. Siehe für eine erste Orientierung Sybilla Nikolow 2011: Schwein. In: Abteilung III des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte Berlin (Hg.): Eine Naturgeschichte für das 21. Jahrhundert. Hommage zu Ehren von Hans-Jörg Rheinberger. Berlin: MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, 124–126.

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Was Huizinga in den USA beobachtete, fand zeitgleich in Zentraleuropa statt: ein tief greifender Wandel im Museumswesen, der etablierte Museen, die sich beispielsweise auf wissenschaftliche Forschungssammlungen gründeten, ebenso wenig unberührt gelassen hatte, wie er den Weg für die Etablierung neuer Einrichtungen freimachte. Induziert wurde dieser Veränderungsprozess von verschiedenen Faktoren, so vom neuen Selbstverständnis der Institutionen als Stätten der Volksbildung20 wie von neuen Wissensbeständen und der gestalterischen Herausforderung, die vom dynamischen Fachausstellungswesen der Zeit auf die überkommenen Präsentationstechniken im Museum ausging.21 So forderte der Lebensreformer und Publizist Heinrich Pudor in seinem Beitrag für die junge Fachzeitschrift Museumskunde 1910 ein „lebendiges Museum“, in dem „das Leben selbst als Museumsobjekt oder [wenigstens, S. N.] lebende Museumsstücke“ ihren Platz fänden. Er kritisierte die „noch viel zu sterile Realität“ der traditionellen Museen, die aus seiner Sicht „noch zu sehr Kultur-Leichenkammer“ seien, und wünschte sich „Gegenwartsmuseen“, die den „aktuellen Aufgaben der Gegenwart, den Lebensinteressen der Nation, der Technik, der Industrie, der Landwirtschaft, dem Handwerk“ dienen und damit zu Volkshochschulen würden.22 Der deutschnational gesinnte Pudor wollte nach dem Modell der skandinavischen Freilichtmuseen auf diese Weise deutsches Handwerk und deutsche Produkte in Gewerbe- und Technikmuseen unter Artenschutz stellen. Der Wissenschafts- und Gesellschaftstheoretiker des Roten Wiens Otto Neurath, der mit seinem Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum einen völlig neuen Museumstyp schuf und auf der gegenüberliegenden Seite des politischen Spektrums agierte, stellte kurz vor seiner erzwungenen Emigration in der US-amerikanischen Zeitschrift Survey Graphic noch weiter gehende Überlegungen zum „Museum der Zukunft“ an. Obwohl seine Zustandsbeschreibung ähnlich ausfiel, gingen seine Vorschläge über das Pudor’sche Programm einer nationalen Geschmackserziehung hinaus. Auch er startete mit dem Vorwurf, die heutigen Museen seien eher Kuriositätenkabinette als Volksbildungsanstalten, und fragte: „[W]arum muß der arme Besucher eines Naturkundemuseums Hunderte von Vögeln ansehen, selbst wenn er vielleicht die Unterschiede kaum erkennen kann,

20 Alexis Joachimides 2001: Die Museumsreformbewegung in Deutschland und die Entstehung des modernen Museums 1880–1940. Dresden: Verlag der Kunst sowie Andreas Kuntz [1976] 1996: Das Museum als Volksbildungsbildungsstätte. Museumskonzeptionen in der Volksbildungsbewegung in Deutschland zwischen 1871 und 1919. 2. Aufl. Münster/New York: Waxmann 21 Siehe zur gemeinsamen Geschichte von Ausstellungs- und Museumswesen in diesem Zeitraum Anke te Heesen 2012: Theorien des Museums. Hamburg: Junius, 73–88, zur Praxis des Deponierens und Exponierens in diesem Zusammenhang: Anke te Heesen und Margarethe Vöhringer (Hg.) 2014: Wissenschaft im Museum – Ausstellung im Labor. Berlin: Kadmos Kulturverlag sowie zur aktuellen Debatte Daniel Tyradellis 2014: Müde Museen. Oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern können. Hamburg: Edition Körber-Stiftung. 22 Heinrich Pudor 1910: Museumsschulen. Museumskunde, 6, 248–253, hier 248 f.

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nur weil irgendein besonderer Ornithologe das als nötig erachtet?“23 In seiner Antwort setzt er aber an den vermeintlichen Interessen der Besucher an: „Die Museen der Zukunft werden von den Interessenvertretern der Museumsbesucher organisiert und nicht mehr von den Spezialisten, die ausstellen wollen, was sie für richtig halten.“24 Was sich bei ihm nach Entprofessionalisierung anhört, war als Professionalisierung der Museumsarbeit gemeint. Die Gegenwartsmuseen der Moderne, so ließe sich seine Position auf den Punkt bringen, sollten nicht nur neue Wissensbestände zur Wirtschaftsordnung und zur Gesundheit und Lebenslage der Bürger an ein Laienpublikum vermitteln, sondern auch dazu dienen, die Besucher in die Lage zu versetzen, sich in der modernen Wissens- und Industriegesellschaft zurechtzufinden. Nach Neurath sollten die Museumsmacher die wissenstransformatorische Rolle von Pädagogen einnehmen, indem sie aus der Masse an aktuellem Fachwissen das auswählen, was sich auf „alle Tatbestände des Lebens“ bezieht, um es dann in „erkennbare[r] Beziehung zu gesellschaftlichen Vorgängen“ zu bringen.25 Bekanntermaßen führte ihn sein Museumskonzept zur Entwicklung einer einheitlichen Darstellungsmethode, der sogenannten Wiener Methode der Bildstatistik. Dabei handelte es sich um eine Art Bilderschrift, in der anhand von „einfachen, klaren, kontrastierenden Symbolen“26 den Betrachtern auf Schaubildern empirische Beobachtungstatsachen vorgeführt wurden, die als visuelle Argumente funktionierten.27 Kaum ein Museumsmann seiner Zeit vertrat einen ähnlich radikalen, universellen Ansatz. Aber auch keine Einrichtung ließ die Forderung nach einer Öffnung des Hauses für neue Publikumsschichten unberührt. Dabei dauert die zu Beginn des 20. Jahrhunderts angestoßene Debatte über den Standort des Museums zwischen Kultur- und Bildungsauftrag bis heute an.28 Als Huizinga das American Museum of Natural History besuchte, befand sich auch diese Institution im Umbruch und hatte den Übergang von einem klassischen Forschungsmuseum zu einem modernen Science Museum zu meistern.29 Es ist deshalb gut vorstellbar, dass das von ihm erwähnte Objektensemble erst in diesem Zusammenhang entstanden ist, trug es doch mit seiner gleichzeitig wissenschaftlichen und populären 23 Otto Neurath 1933: Museums of the Future. Survey Graphic, 22, 9: 458–463 (abgedruckt und übersetzt als „Die Museen der Zukunft“. In: Otto Neurath 1991: Gesammelte bildpädagogische Schriften. Hg. v. Rudolf Haller und Robin Kinross. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 244–257, hier 245). 24 Ebd., Hervorhebung im Original. 25 Ebd.: 247. 26 Ebd. 27 Näheres dazu siehe Sybilla Nikolow 2007: Gestaltete Bilder und visuelle Argumente. Die „Völker der Erde“ in Otto Neuraths Bildstatistik und „Isotype“. In: Frank Stahnisch und Heijko Bauer (Hg.): Bild und Gestalt. Wie formen Medienpraktiken das Wissen in Medizin und Humanwissenschaft? Münster: LITVerlag, 229–243. 28 Gisela Staupe (Hg.) 2012: Das Museum als Lern- und Erfahrungsraum. Grundlagen und Praxisbeispiele. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag. 29 Victoria Cain und Karen Rader 2008: From Natural History to Science. Display and the Transformation of American Museums of Science and Nature. Museum and Society, 6, 152–171.

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Sichtweise auf den Menschen zu einer Erweiterung der im Naturkundemuseum klassischerweise stark ausgeprägten evolutionsgeschichtlichen Perspektive bei.

Forschungsperspektiven und Thesen Derartige Schauobjekte, mit denen wissenschaftliche Sichtbarmachungen des Körpers mit der Wende zum 20. Jahrhundert in die Öffentlichkeit gelangten und die mit alltagsweltlichen Erfahrungen wie religiösen Vorstellungen in Einklang gebracht wurden, versprachen den Laien authentische Einblicke in eine verborgene, der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung entzogenen Körperwelt. Der beispielsweise durch ein Röntgenbild sichtbar gemachte Krankheitsbefund, die Ermüdungskurve eines Muskels oder die biochemische Analyse von Nahrungsmitteln dienten in diesem Zusammenhang nicht mehr nur der Wissensproduktion im Labor oder der Diagnose in der medizinischen Praxis, sondern wurden auch zum Mittel der Darstellung von Expertenwissen für ein größeres Publikum. Als theoretischer Rahmen und methodische Herausforderung für die historischsystematische Analyse der Vermittlungen des neuen Körperwissens bieten sich insbesondere sozial- und kulturwissenschaftliche Objektbegriffe und -verständnisse wie das Konzept der Grenzobjekte (boundary object) von Susan Star und James Griesemer und der Begriff des Wissensobjektes (object of knowledge) von Ludmilla Jordanova an.30 Die Strategien zur Visualisierung des Körpers sind danach in ihrer doppelten Bedeutung im Vermittlungsprozess zu betrachten, als Verbildlichungen und Verdinglichungen von Wissen, aber gleichzeitig auch als die Werkzeuge zur Vermittlung und Kommunikation dieses Wissens. In diesem Sinne sind sie als Wissensobjekte zu analysieren, die, eingebunden in eine objektzentrierte Vermittlung, in Form von object lessons gleichzeitig didaktische Funktionen zu erfüllen hatten.31 In Ausstellungsensembles wie dem oben beschriebenen im New Yorker Naturkundemuseum und in den Gesundheitsausstellungen aus Dresden wurde auf diese Weise das neue Wissen vom Körper autorisiert, öffentlich beglaubigt und als Handlungsimperativ zur Optimierung des Lebens verstanden. Die historische Analyse derartiger Strategien der Sichtbarmachung des Körpers kann zeigen, wie sich die wissenschaftlichen Bilder allmählich bis heute durchsetzen konnten. Dabei lassen sich Fragen wie die nach einer möglichst angemessenen Kommunikation 30 Susan Leigh Star und James A. Griesemer 1989: Institutional Ecology, Translations and Boundary Objects. Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907–1939. Social Studies of Science, 19, 387–442; Ludmilla Jordanova 1989: Objects of Knowledge. A Historical Perspective on Museums. In: Peter Vergo (Hg.): The New Museology. London: Reaction Books, 22–40. 31 Jordanova 1989; Simon Schaffer 2000: Object Lessons. In: Svante Lindqvist (Hg.): Museums of Modern Science. Sagamore Beach: Science History Publications, 61–76. Zur wissenschaftskommunikativen Bedeutung und didaktischen Funktion von Wissenschaftsbildern siehe auch Luc Pauwels (Hg.) 2006: Visual Cultures of Science. Rethinking Representational Practices in Knowledge Building and Science Communication. Hanover: Dartmouth College Press.

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von Wissenschaft und Öffentlichkeit mit dem Augenmerk auf objektbezogene Vermittlungsformen sehr konkret stellen: Wie wird in Objekten und ihren Arrangements abstraktes Wissen mit der Alltagswelt der Laien verbunden? Welche Wissensbestände gelten als öffentlich relevant, werden mobilisiert und welche bleiben vor der Öffentlichkeit verborgen? Was gilt als didaktisch wertvoll, was als unpassend und welchen Veränderungen sind diese Ansichten unterworfen? Welchen Transformationsregeln folgt die Visualisierung und Materialisierung von Wissensbeständen auf ihrem Weg zum visuell, materiell und haptisch erfahrbaren Objekt, das den Ansprüchen der Wissenschaft genauso wie denen der populären Vermittlung entsprechen soll? Als Ausgangspunkt für die Beantwortung von Fragen wie diesen dienen in diesem Band Fallstudien zur Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums, die im Rahmen eines von der VolkswagenStiftung geförderten Forschungsprojekts zwischen der Universität Bielefeld, dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und dem Deutschen Hygiene-Museum entstanden sind. Die 1912 in Dresden gegründete Einrichtung hatte sich mit der Entwicklung derartiger innovativer Körpervisualisierungen professionalisiert und damit in der Museumslandschaft des 20. Jahrhunderts einen Sonderstatus erworben. Anders als im klassischen Museum und im Gegensatz zu seinem heutigen Selbstverständnis stand die Herstellung von Vermittlungsobjekten im Zentrum der Tätigkeit dieses Hauses. Mit seinen Ausstellungen und Lehrmitteln (Präparate, Modelle, Schau- und Lichtbilder, Filme und Broschüren) zog es ein Massenpublikum an. Sie galten gleichermaßen als wissenschaftlich exakt wie für Nichtfachleute besonders gut verständlich. In den verschiedenen Medien und für diverse Abnehmer wurden diese Vermittlungsobjekte auch als warenförmige Lehrmittel vertrieben. Zwei Strategien wurden zum Alleinstellungsmerkmal des Hauses im 20. Jahrhundert und werden deshalb auch in vorliegendem Buch zentral behandelt: die Ausleuchtung des Körpers bis ins kleinste Detail wie beispielsweise in den sogenannten Gläsernen Figuren und die Sichtbarmachung von Körperfunktionen durch die Vorführung diagnostischer Instrumente, die die Besucher teilweise auch an sich selbst austesten konnten. Das historische Ausmaß der Dresdner Innovationen verdeutlicht ein kurzer Blick in die Produktionsgeschichte der ersten Strategie, die den Ruhm des Museums begründete: Die Dresdner Werkstätten wurden bereits mit dem Zweck gegründet, Praktiken der Sichtbarmachung des Körperinneren für Ausstellungszwecke zu perfektionieren, so etwa im durchsichtigen Menschen, dessen Präsentationsweise das Vorbild für den Gläsernen Menschen abgab. Letzterer wurde erstmals 1930 in der II. Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden vorgeführt und zum Schlüsselobjekt in der Dauerausstellung. Obwohl seine Modelle Unikate blieben, erlangten sie eine kaum zu unterschätzende Reichweite. Sie wurden in Wander- und Sonderausstellungen gezeigt, aber auch als Exportartikel bis nach Übersee verkauft. So hatte beispielsweise der Miederwarenfabrikant Samuel Higby Camp aus Jackson (Michigan) eine Gläserne Frau gestiftet, die im August 1936 im New Yorker Museum of Science and Industry zum ersten Mal in den USA zu sehen

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war.32 Nachdem sie viele Jahre in den USA getourt war, gelang es, sie nach der politischen Wende in Deutschland zurück nach Dresden zu holen. Seit der Jahrtausendwende zeugt sie in der neuen Dauerausstellung vom heutigen kritisch-reflektierten Umgang mit der Geschichte des eigenen Hauses (Abb. 5). Jene Gläserne Frau allerdings, die schließlich 1954 im New Yorker American Museum of Natural History enthüllt wurde, stammte, wie ihre gesenkten anstelle der im Original erhobenen Arme verraten, aus der Werkstatt des Deutschen GesundheitsMuseums in Köln, der westdeutschen Gegengründung des Deutschen HygieneMuseums.33 Die Verwendung von Wissensobjekten wie den Gläsernen Figuren oder auch die selbst zu betätigenden diagnostischen Instrumente in einer Maßnahme der Gesundheitsaufklärung zielten dabei auf eine lückenlose Sichtbarmachung von körperlichen Zuständen. Sie waren eingebunden in eine Kultur der individuellen Selbstsorge und von der politischen Hoffnung getragen, ganze Bevölkerungskollektive kon­ trollieren und regulieren zu können. Abb. 5: Gläserne Frau, die 1936 zuerst in den USA gezeigt wurde, heute im Raum 1 der Dauerausstellung des Deutschen Hygiene-Museums (S-DHMD, 20002/1).34

Zweifellos haben beide Strategien dazu beigetragen, dass das Wissen um den eigenen Körper heute nicht mehr von den Techniken seiner Sichtbarmachung und Regulierung zu trennen ist und der wissenschaftliche Blick auf den Körper trotz seines an den Besitz 32 Medicine. Museum Piece. Time, 31. August 1936. 33 Cain/Rader (2008: 163) gehen auf diese und die Zirkulation weiterer Figuren durch die US-amerikanische Museumslandschaft ein, ordnen ihre Herstellung aber fälschlicherweise dem Deutschen Museum zu. 34 Siehe auch das Cover zu diesem Buch.

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von Fachkenntnissen geknüpften Verständnisses der so erzeugten Bilder im Verlauf des 20. Jahrhunderts zum Allgemeingut wurde. Wie Huizingas Beispiel aus dem American Museum of Natural History zeigt, waren die Ausstellungen und Lehrmittel aus Dresden kein isoliertes Phänomen, sondern müssen als Teil einer größeren Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der Popularisierung und Visualisierung von Körperwissen im 20. Jahrhundert betrachtet werden. Die Grundbestandteile des New Yorker Objektensembles, die Huizinga beschrieb, hätten mit nur wenigen Abstrichen durchaus auch aus einer Gesundheitsausstellung aus Deutschland kommen können, an der sich das Deutsche Hygiene-Museum beteiligt hat. Es verwundert deshalb kaum, dass fast alle Studien in diesem Band die Geschichte der Dresdner Vermittlungsobjekte in der einen oder anderen Weise berühren, obwohl nicht alle Autorinnen und Autoren ihre Geschichte dort beginnen oder enden lassen. Mit den vorliegenden Fallgeschichten werden die bisherigen Untersuchungen zur Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums in zwei entscheidende Richtungen erweitert.35 Zum einen betrifft dies teilweise ältere medizinhistorische Arbeiten zur Geschichte der Dresdner Lehrmittelwerkstätten, die, weil es sich meist um unpublizierte Dissertationen handelt, weniger bekannt sind.36 Dazu zählt auch die museologisch-konservatorische Aufarbeitung einzelner Sammlungsbestände jüngeren Datums.37 Beide Vorarbeiten werden hier um analytische Perspektiven und historische Kontextualisierungen ergänzt. Zum anderen ging es darum, institutionsgeschichtlich angelegte Analysen des Museums deutlicher als dies bislang geschehen ist mit den breiteren kulturellen, politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen im 20. Jahrhundert zu verknüpfen, die die Entwicklung der Körperobjekte mitbestimmt haben und in die sie auch eingebunden waren.38 Für diese Horizonterweiterung stellt Martin Roths Verortung des Gläsernen Menschen im Ausstellungswesen einen wichtigen Ausgangspunkt dar.39 Nun 35 Zum Überblick eignet sich immer noch der Fotoband von Martin Vogel (Hg.) 2003: Das Deutsche Hygiene-Museum, 1911–1990. Dresden: Sandstein Verlag. 36 Siehe etwa Hendrik Behling 1997: Das Anatomische Labor am Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Medizinhistorische Dissertation an der Technischen Universität Dresden. 37 Siehe etwa Johanna Lang, Sandra Mühlenberend und Susanne Roeßiger (Hg.) 2010: Körper in Wachs. Moulagen in Forschung und Restaurierung. Dresden: Sandstein Verlag, siehe zu weiteren Sammlungsschwerpunkten den Beitrag von Susanne Roeßiger in diesem Band. 38 Gunter Schaible 1999: Sozial- und Hygiene-Ausstellungen. Objektpräsentation im Industrialisierungsprozeß in Deutschland. Dissertation am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; Stefan Poser 1998: Museum der Gefahren. Zur gesellschaftlichen Bedeutung der Sicherheitstechnik am Beispiel der Hygiene-Ausstellungen und Museen für Arbeitsschutz in Wien, Berlin und Dresden um die Jahrhundertwende. Münster: Waxmann und Thomas Steller 2014: Volksbildungsinstitut und Museumskonzern. Das Deutsche Hygiene-Museum von 1912 bis 1930. Dissertation an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld. 39 Martin Roth 1990: Menschenökonomie oder der Mensch als technisches und künstlerisches Meisterwerk. In: ders. und Rosmarie Beier (Hg.): Der gläserne Mensch – eine Sensation. Zur Kulturgeschichte eines Ausstellungsobjekts. Stuttgart: Hatje Cantz, 39–67.

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kam es darauf an, an konkreten Beispielen Objekt- und Medienanalysen zusammenzubringen und dabei die Besonderheit der Dresdner Wissensobjekte vom Körper zu bestimmen. Bereits Mitte der 1990er-Jahre hat der Volkskundler Gottfried Korff in seinen Überlegungen zur medienspezifischen Besonderheit von Museen deutlich gemacht, dass das Museum nicht als Bebilderung von Ideen oder Konzepten zu verstehen ist, sondern selbst Bild ist.40 Anknüpfend an bildwissenschaftliche Untersuchungen war deshalb danach zu fragen, wie sich in den jeweiligen konkreten Objekten Körper- und Bildwissen gegenseitig bedingten und verstärkten.41 Angesichts dessen, dass die historische Wissenschaftsforschung gezeigt hat, dass im lebenswissenschaftlichen Labor die Fabrikation von Wissen bereits auf Vereinfachung, Anschaulichkeit, Klarheit und kommunikative Anschlussfähigkeit ausgerichtet ist,42 waren Strategien zur Popularisierung von Wissen nicht als ein externer Vorgang zu verstehen, sondern bereits als Teil von Wissensproduktion. Deshalb wurde für die Analyse der Fallbeispiele in diesem Band die Frage nach den jeweiligen wissenschaftlichen Repräsentationen des Körpers immer auch mit der nach ihrer öffentlichen Darstellung verbunden. Die Autorinnen und Autoren waren daher aufgefordert, Visualisierungs- und Popularisierungsprozesse nicht als getrennte oder nachgeordnete Phänomene, sondern in ihrem Zusammenspiel zu analysieren.43 Aus Sicht der Medizin-, Wissenschafts- und Technikgeschichte sind Exponate, die im öffentlichen Raum, wie etwa in Museen und Ausstellungen, vorgeführt werden, als Popularisierungen, Visualisierungen und Verdinglichungen von Wissen zu verstehen. In den Fallstudien des Bandes, die sich mit konkreten Wissens- und Schauräumen befassen, wurde in Anlehnung an neuere Arbeiten in diesem Forschungsfeld untersucht, welches Wissen in diesen Orten mittels Objekten und deren Anordnungen im Raum hergestellt und vermittelt wurde.44 40 Gottfried Korff 1995: Die Eigenart der Museums-Dinge. Zur Materialität und Medialität des Museums. In: Kristen Fast (Hg.): Handbuch der museumspädagogischen Ansätze. Opladen: Leske + Budrich, 17–28, hier 24; vgl. auch Jana Scholze 2004: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin. Bielefeld: transcript. 41 Siehe in diesem Sinne Berit Bethke 2011: Bodies on Display. Die Aufbereitung von Körperwissen in transkulturellen Ausstellungsmedien des Deutschen Hygiene-Museums Dresden (1950–1980). In: Reiner Keller und Michael Meuser (Hg.): Körperwissen. Wiesbaden: VS Verlag, 249–269. 42 Siehe stellvertretend etwa Hans-Jörg Rheinberger 2009: Sichtbar Machen. Visualisierung in den Naturwissenschaften. In: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 127–145. 43 Siehe zur Forderung Sybilla Nikolow und Lars Bluma 2009: Die Zirkulation der Bilder zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. In: Bernd Hüppauf und Peter Weingart (Hg.): Frosch und Frankenstein. Bilder als Medien der Popularisierung von Wissenschaft. Bielefeld: transcript, 45–78. 44 Zu Vorarbeiten in der Geschichte der naturhistorischen Museen siehe etwa Anke te Heesen und Emma Spary (Hg.) 2001: Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftshistorische Bedeutung. Göttingen: Wallstein; Susanne Köstering 2003: Natur zum Anschauen. Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs, 1871–1914. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag; Lynn Nyhard 2004: Science, Art and Authenticity in Natural History Displays. In: Soraya de Chadarevian und Nick Hopwood (Hg.): Models. The Third Dimension of Science. Stanford: Stanford University Press, 307–335.

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Hinzu tritt die spezifische Problematik der Zirkulation von Wissensobjekten zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. In der Vermittlungspraxis werden verschiedene Wissensformen mittels Objekten aus anderen Orten verfügbar gemacht, dekontextualisiert und in neue Zusammenhänge gebracht. Erfolgreiche Schlüsselbilder und -exponate werden dabei zu Wissensträgern und Kommunikationsmitteln zwischen diversen Gruppen, die an ihrer Herstellung beteiligt sind und sich mit ihrer Hilfe beispielsweise über den Sachverhalt der gesundheitlichen Verbesserung des Körpers verständigen.45 Der Gläserne Mensch erscheint danach nicht nur als ein exklusives anatomisches Modell, das den aktuellen Stand eines möglichst konsensfähigen humanbiologischen Wissens repräsentiert, sondern auch als ein handwerkliches Meisterstück aus neuem transparenten Material mit kunsthistorischer Tradition sowie als ein Ausstellungsobjekt, um das eine räumliche Aura geschaffen wurde und das zu seiner Erklärung sogar eine Stimme erhielt und dabei mit bestimmten didaktischen Prinzipien der Wissensvermittlung im Einklang stand.46 In Abb. 6 ist der Eingang zum Sonderraum zu sehen, in dem der Gläserne Mensch in der Wanderausstellung Das Leben im Leipziger Krystallpalast 1936 besucht werden konnte. Seit seiner Präsentation in der Reichsausstellung Das Wunder des Lebens im Jahr zuvor wurde jetzt auch eine Schallplatte abgespielt. Nach zwei Gongschlägen war eine männliche Stimme zu hören, die in einem zweiminütigen Vortrag erklärte, wie man sich das Zusammenspiel von der „Schaltzentrale Gehirn“ über das Herz bis zu den Verdauungsorganen vorstellen sollte. Während der Vorführung leuchteten die entsprechenden Organe auf. Der erste Satz lautete: „Wie in einem Märchen dringt unser Auge in das Innere des durchsichtigen Menschen“ und die Vorführung endete mit den Worten: „Das größte Wunder des Lebens, größer als alle Wunderwerke der Technik, das ist der Mensch.“47 Das Foto vom Eingang zum „sprechenden“ Gläsernen Menschen lässt vermuten, dass „seine“ Rede auch per Lautsprecher nach außen übertragen wurde.

45 Zu den materiellen Objekten der Wissenschaften und ihrer Zirkulation siehe etwa Lorraine Daston (Hg.) 2004: Things That Talk. Object Lessons from Art and Science. New York: Zone Books; de Chadarevian/Hopwood 2004; Anke te Heesen und Petra Lutz (Hg.) 2005: Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag; Anke te Heesen 2007: Über Gegenstände der Wissenschaft und ihre Sichtbarmachung. Zeitschrift für Kulturwissenschaft, 1, 95–102; Ulf Hashagen, Oskar Blumentritt und Helmuth Trischler (Hg.) 2003: Circa 1903. Artefakte in der Gründungszeit des Deutschen Museums. München: Deutsches Museum. 46 Siehe für eine erste kulturwissenschaftliche Deutung dieses Objekts Rosmarie Beier und Martin Roth (Hg.) 1990: Der gläserne Mensch – eine Sensation. Zur Kulturgeschichte eines Ausstellungsobjekts. Stuttgart: Hatje. 47 Vortrag zum Gläsernen Menschen, 1934–1935, Unikat-Schellack-Schallplatte (S-DHMD, 2008/143).

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Abb. 6: Eingang zum Gläsernen Menschen in der Wanderausstellung Das Leben in Leipzig  1936, Fotoalbum (S-DHMD, 2006/311.15).

Die integrierende Sicht auf die Vermittlungsobjekte, die in den Fallstudien des Bandes angestrebt wurde, zielt darauf, ihre Geschichte nicht auf die Sichtbarmachung bestimmter disziplinär geprägter wissenschaftlicher Praktiken oder die Vermittlung einzelner politischer Visionen aus der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus oder der DDR/BRD zu reduzieren, sondern sie methodisch in ihrer Visualität, Materialität und in ihrem kognitiven Gehalt gleichermaßen in den Griff zu bekommen.

Orte, Praktiken und Medien der modernen Selbsterkenntnis Die neueren Forschungsarbeiten zur inzwischen über 100-jährigen Geschichte des Museums, die in diesem Band vorgestellt und im breiteren wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Kontext der Zeit diskutiert werden, konzentrieren sich deshalb auf die Praktiken der Entwicklung, Inszenierung und Zirkulation von Ausstellungen, Schlüsselob-

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jekten und Lehrmitteln. Sie werden durch Fallstudien ergänzt, die den Blick bewusst auf das breitere Spektrum der Humanwissenschaften und verschiedene mediale Schauplätze erweitern, in denen Körperwissen hergestellt, vorgeführt und vermittelt wurde und heute noch wird. Dies betrifft Produktionsorte wie Museen, Ausstellungen, Filme und Plakate, aber auch die Wissensobjekte selbst, in denen der menschliche Körper zur Anschauung gebracht wird, und die in ihrer unterschiedlichen Gestaltung zur öffentlichen Akzeptanz wissenschaftlicher Bilder vom Körper beigetragen haben.

Orte: Die „Museen der Zukunft“ als Gegenwartsmuseen der Moderne Bezug nehmend auf Otto Neuraths Bewertung der Gruppe der Technik-, Hygiene- und Sozialmuseen als „Museen der Zukunft“ wird in diesem ersten Abschnitt dieser gegenwartsbezogene, moderne Begriff des Museums zum Ausgangspunkt genommen, um die Orte der Wissensvermittlung genauer unter die Lupe zu nehmen. Während vorher das Spezialwissen der Experten im Zentrum stand und in den Ausstellungen die Inszenierung von historischen Objekten dominierte, lässt sich in diesen Einrichtungen ein neues Selbstverständnis beobachten, demzufolge auf leicht zugängliche Weise Sachinformationen bereitzustellen wären, die dem aufgeklärten Bürger in der Wahrnehmung seiner Rechte und der Gestaltung seiner Lebenswelt von Nutzen sein sollten. Zu den deutschsprachigen „Museen der Zukunft“ gehört das Deutsche Hygiene-Museum so wie das Deutsche Museum in München. Dieser neue Museumstyp stand für eine Orientierung am dynamischen Fachausstellungswesen der Zeit, die Suche nach neuen Vermittlungsformen und den Bedeutungswandel des klassisch-historischen Ausstellungsobjekts. Beim Aufbau von sogenannten Schau- und Unterrichtssammlungen anstelle der nur für Fachleute zugänglichen Forschungssammlungen wurde auf den Wandel des Naturkundemuseums seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Bezug genommen.48 Im ersten Teil des vorliegenden Bandes wird an Beispielen die Gründung und Professionalisierung des modernen Wissenschaftsmuseums im 20. Jahrhundert problematisiert und dabei vorrangig auf die Herausforderungen an das tradierte Objektverständnis eingegangen. In seinem Beitrag positioniert Helmuth Trischler die modernen Technikmuseen als Gegenwartsmuseen der Wissenschafts- und Industriegesellschaft an der Schnittstelle zwischen Staat, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Er verweist auf den auffälligen Präsentabilismus, der für die Gründung des Deutschen Museums charakteristisch war und diesen Museumstyp vom Naturkunde- und Kunstmuseum bis heute unterscheidet. Aus seiner Sicht müssen das Deutsche Museum wie das Deutsche Hygiene-Museum als Reaktion auf das Bedürfnis der sich in den westlichen Industrienationen etablierenden Wissensgesellschaften verstanden werden, Institutionen

48 Zur Umgestaltung der Ausstellungsräume im naturkundlichen Museum siehe Köstering 2003 sowie zur Entwicklung neuer Objektgruppen Nyhart 2004.

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vorzuhalten, die neues Wissen durch den Verweis auf die materielle Kultur dieser Wissensgesellschaften popularisieren und dabei zugleich neue Ordnungssysteme etablieren. Einem solchen neuen Ordnungssystem widmet sich Claudia Stein in ihrem Beitrag. Sie stellt am Beispiel der Vorbereitung der Historisch-Ethnologischen Abteilung der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 den langwierigen und schwierigen Diskussionsprozess bei der Suche und Definition materieller Objekte dar, die für das moderne Projekt der Hygienisierung der Gesellschaft als historische und kulturelle Zeugnisse dienen konnten. Anhand bisher vernachlässigten Archivmaterials arbeitet sie die Aushandlungsprozesse zwischen Medizinern, Historikern, Kunsthistorikern, Archäologen und Ethnologen heraus, die jeweils unterschiedliche, fachlich geprägte Objektverständnisse mitbrachten. Deutlich wird, wie sich gerade diese große, zwischen dem Genre der Welt- und Fachausstellung changierende Großveranstaltung, deren populärer und wissenschaftlicher Teil personell und materiell den Grundstock für das Deutsche HygieneMuseum lieferte, als Laboratorium für neue Museumskonzeptionen eignete. Thomas Steller befasst sich in seinem Beitrag mit der Etablierungsphase des Deutschen Hygiene-Museums und argumentiert, dass dessen umfangreiche Aktivitäten auf dem Gebiet der Wander- und Sonderausstellungen auf der einen und der Lehrmittelproduktion auf der anderen Seite nicht nur vom eigenen Gründungsprogramm gedeckt, sondern überlebensnotwendig waren. Geschickt nutzte das junge Museum dabei marktwirtschaftliche Methoden und konnte sich auf diese Weise trotz Kriegs- und Krisenjahren im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erfolgreich behaupten. Mit Ausstellungen, Lehrmittelbetrieb, Hygiene-Akademie und Hausverlag wurde das Museum zum „Hygiene-Konzern“ und damit zu einem Gegenwartsmuseum der besonderen Art. Im Detail wird deutlich, wie es schließlich abgesichert durch Aufträge des Weimarer Wohlfahrtsstaats zum Marktführer wurde und Gesundheitsaufklärung zum einträglichen Geschäft machte. Nach diesen die Entstehungszeit der Gegenwartsmuseen der Moderne beleuchtenden Studien behandeln weitere Beiträge dieses ersten Teils aktuelle Beispiele. So analysiert Lioba Thaut die für das heutige Deutsche Hygiene-Museum wegweisende Ausstellung Leibesvisitation. Blicke auf den Körper in fünf Jahrhunderten. Noch vor dem Zusammenbruch der DDR geplant, im Wendejahr dann als deutsch-deutsches Kooperationsprojekt realisiert, wurde mit dieser Veranstaltung der erste Schritt in die Neuausrichtung des Hauses genommen. Sie setzte wiederum an seinen außergewöhnlichen Körpervisualisierungen und Ausstellungspraktiken an, so unter anderem an der Inszenierung des wichtigsten Schlüsselobjekts des Hauses, dem Gläsernen Menschen, und unterzog damit die eigenen Bestände einer radikalen Neukontextualisierung: Aus den vormaligen Exponaten zur Aufklärung über die Biologie des menschlichen Körpers wurden jetzt kulturhistorische Zeugnisse einer vergangenen Art und Weise der Wissenschaftsvermittlung. Damit wurde ein Transformationsprozess eingeleitet, der im Vergleich zu den DDR- wie den alten BRD-Museen bis heute beispiellos ist.

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Nach welchen Prämissen Sichtweisen auf den Körper seit dieser Neuorientierung im Deutschen Hygiene-Museum gesammelt und für ihre weitere Befragung in Forschung und Ausstellung aufbereitet werden, zeichnet Susanne Roeßiger in ihrem Beitrag an Beispielen nach, die von den Fallstudien des Bandes teilweise noch nicht beleuchtet werden und vom Reichtum der Sammlung des Hauses zeugen: Moulagen mit ihren Zwischen- und Nachprodukten, Lichtbilder, Fotoalben, Gläserne Figuren und Plakate. Dazu kommen auch Sondersammlungen wie eine internationale zu Aids-Plakaten, die derzeit in einem Forschungsprojekt ausgewertet werden, und die sogenannten Referenz­ objekte der Jetztzeit wie Heimtests zur Selbstdiagnostik, mit denen sich das Museum heute als Diskussionsraum für die Debatten der Gegenwart anbietet. Ludmilla Jordanova befasst sich mit heutigen Strategien, Ansichten vom Körper in wissensvermittelnden Ausstellungen in Dialog mit Gegenwartskunst zu bringen. Ihre Beispiele stammen aus dem Vereinigten Königreich und den USA. In ihrer Analyse erinnert sie an die visuellen Traditionen, die wissenschaftlichen und künstlerischen Exponaten zugrunde liegen und für die Rezeption im öffentlichen Raum mit bedacht werden müssten. Kritisch hinterfragt sie die Rhetorik des „Erkenne Dich selbst!“, von der in den Zurschaustellungen des Körpers in der Gegenwartskunst in unterschiedlicher Weise Gebrauch gemacht wird, und plädiert für die Berücksichtigung der jeweiligen Absichten und Medien, mit denen die Anatomie des Menschen sichtbar gemacht wird.

Praktiken I: „Erkenne Dich selbst!“ in Modellen des Körpers Die bekanntesten Ausstellungsinnovationen des Deutschen Hygiene-Museums bestanden in verschiedenen Techniken zur Offenlegung des Körperinneren. Die Rhetorik des „Erkenne Dich selbst!“ bediente hier die Erwartung der Laien, eine lückenlose Einsicht in die wesentlichsten Bestandteile des Körpers zu gewinnen. Anhand zweier Objektgruppen werden in diesem Abschnitt Praktiken diskutiert, mit denen der menschliche Körper und seine Organe durchsichtig gemacht wurden: die Ganzkörpermodelle aus Cellon, in denen Blutgefäße und Organe, wie in den Gläsernen Figuren, zum Leuchten gebracht wurden, und die aus verschiedenen Materialien hergestellten, häufig auch zerlegbaren anatomischen Lehrmodelle.49 Trotz des vergleichsweise großen Aufwandes in der Produktion dieser Exponate, die meist Unikate waren, hielt man an ihnen fest, denn sie waren ein Exportschlager und galten als besonders wissenschaftsnah und didak-

49 Zu den Gläsernen Figuren siehe: Beier/Roth 1990. Neben den Spalteholz-Präparaten wäre auch die Fertigung von Moulagen zur Demonstration krankhafter Erscheinungsbilder in den Werkstätten des Deutschen Hygiene-Museums zu nennen. Siehe dazu Sandra Mühlenberend 2010: Dresdner Moulagen. Eine Stilgeschichte. In: Johanna Lang, Sandra Mühlenberend und Susanne Roeßiger (Hg.): Körper in Wachs. Moulagen in Forschung und Restaurierung. Dresden: Sandstein, 27–39 sowie demnächst die Dissertation von Henrik Eßler (Hamburg): Die Abformung der Krankheit. Moulagenbildnerei als Beruf (Arbeitstitel).

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tisch wertvoll.50 In den Beiträgen dieses Abschnitts wird ihre Entwicklung in Relation zu etablierten Repräsentationstechniken in der Anatomie und Embryologie gesetzt, die ihrerseits einen hohen Anspruch an die Objektivität und Authentizität des auf diese Weise hergestellten Wissens reklamierten. Außerdem wird ihre Herkunft aus künstlerischen und handwerklichen Traditionen angesprochen und ihren Verwendungsweisen in der Öffentlichkeit nachgegangen. Im ersten Beitrag richtet Anna Maerker die Aufmerksamkeit auf Kontinuitäten und Wandel in den Debatten um die Visualisierung des Körperinneren von der Aufklärung bis ins 19. Jahrhundert. Ausgangspunkt für ihre Analyse sind verschiedene anatomische Modelle und der ihnen zugeschriebene Nutzwert. Deutlich wird, wie die Produzenten der Modelle mit neuen Materialien und Visualisierungsmethoden auf die im gesamten Zeitraum andauernde Kritik am objektbezogenen medizinischen Wissenserwerb reagierten. Sie verweist damit auf die historische Problematisierung des im 20. Jahrhundert weitgehend als selbstverständlich angenommenen Bildungswerts wissenschaftlicher Visualisierungen des Körpers. Nick Hopwood nutzt in seiner Fallstudie das für den Zeitraum um 1900 noch sehr ungewöhnliche Marmorporträt des Embryologen Wilhelm His, der einen von ihm beforschten Embryo in der Hand hält, um sich mit der Visualisierungsgeschichte des Ungeborenen seit der Aufklärung bis in die Gegenwart zu befassen, die er zwischen wissenschaftlicher Praxis und öffentlicher Aufmerksamkeit ansiedelt. Neben einer sehr detaillierten Analyse des Designs der Büste geht er möglichen Betrachtungs- und Rezeptionsweisen für das entstehende Leben nach und liefert einen Eindruck von der reichhaltigen visuellen Kultur dieser Forschungsgegenstände der sich gerade auch mit His’ Arbeiten etablierenden Embryologie. Dabei kann er zeigen, wie die wissenschaftlichen Ansichten der Embryonen auf das jeweilige fachliche Selbstverständnis ihrer Schöpfer zurückverweisen, wie diese unsere Vorstellungen vom vorgeburtlichen Leben mitgeprägt haben und letztlich auf diese Weise als Doppelporträts zu sehen sind. In seinem Beitrag berichtet Christian Sammer von der Produktion einer Vielzahl von Gläsernen Figuren und ordnet sie in die Verflechtungs- und Abgrenzungsgeschichte zwischen dem Deutschen Hygiene-Museum und dem 1949 von ehemaligen Mitarbeitern 50 Die Überschneidungen, Differenzen und Abgrenzungen zwischen wissenschaftlichen Darstellungen des Körpers in Museen zu denen an noch populäreren Orten wie den anatomischen Wachskabinetten lassen sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert z.B. in der Aufklärung über Geschlechtskrankheiten beobachten. Für erste Überlegungen und Hinweise auf diese noch nicht systematisch erzählte Geschichte siehe Peter M. McIsaac 2011: Die medizinische Venus. Zur performativen Basis von anatomischen Zurschaustellungen vor und um 1900. In: Gaby Pailer und Franziska Schößler (Hg.): Geschlechter – Spiel – Räume. Dramatik, Theater, Performance und Geschlecht. Amsterdam: Rodopi, 313–328 sowie aktuell Johanna Lang, Julia Radke und Cornelia Wagner 2014: Zwischen Aufklärung und Sensation. Eine Chronologie zum Anatomischen Wachskabinett des Deutschen Hygiene-Museums. In: Eva Meyer-Hermann (Hg.): Blicke! Körper! Sensationen! Ein anatomisches Wachskabinett und die Kunst. Göttingen: Wallstein, 85–147 und Lutz Sauerteig 2014: Sex in Wachs. Gesundheitswissen, Volksaufklärung und Sinneserregung. In: ebd.: 167–170.

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aus Dresden gegründeten Deutschen Gesundheits-Museum (ab 1967 dann Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) in Köln ein. Im Osten schuf man neben Menschen auch Gläserne Pferde, Kühe und Zellen. Im Westen hielt man mit dem Gläsernen Giganten sowie mit Hunden, Tänzerinnen und einem Homunkulus dagegen. Die Beispiele demonstrieren neben den Potentialen auch die Grenzen in der Mobilisierung der Figuren im Kalten Krieg. Dabei wird deutlich, dass die Herstellung, Weiterentwicklung, Nutzung und Bewertung dieser Strategien zur Sichtbarmachung des Körperinneren mit den Konjunkturen des Ost-West-Systemwettstreits, der Dynamik des internationalen Lehrmittelmarkts und mit unterschiedlichen Praktiken der Gesundheitsaufklärung und Popularisierung in engem Zusammenhang standen. Sandra Mühlenberend legt in ihrer Analyse dar, wie die Tradition der anatomischen Modelle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Deutschen Hygiene-Museum für Anschauungs- und Lehrzwecke adaptiert wurde und sich dieser Produktionszweig neben den Gläsernen Figuren zum Alleinstellungsmerkmal und Exportartikel entwickelte. Anhand von noch in der Sammlung des Museums vorhandenen Exemplaren sowie Versandkatalogen rät sie zur Unterscheidung zwischen Anschauungsmodellen, die speziell für Ausstellungen gefertigt wurden, und Lehrmodellen, die als Massenware in den Export gingen. Sie führt vor, dass beide Objektgruppen auf unterschiedliche Darstellungstraditionen aus Kunst und Anatomie zurückgehen und wie sie bezüglich ihres Materials und ihrer Form- und Farbgebung für den jeweiligen intendierten Nutzen perfektioniert wurden. Die Professionalität der Modelle aus Dresden sieht sie in ihrer standardisierten Fertigung, enzyklopädischen Vielfalt und ihrem betont sachlichen Stil begründet.

Praktiken II: „Erkenne Dich selbst!“ anhand von Prüfapparaten Neben der Ausleuchtung des Körperinneren wurden im Deutschen Hygiene-Museum von Anfang an auch Demonstrations- und Testapparate eingesetzt, um anatomisches und physiologisches Wissen über die Funktionsweise und Leistungsfähigkeit des Körpers zu veranschaulichen und für den Besucher erfahrbar zu machen. Die zunächst über einzelne Ausstellungsabteilungen verstreuten Installationen wurden Ende der 1930erJahre zu einer Prüfstrecke zusammengefügt und in verschiedenen Varianten auf Wanderschaft geschickt. Dabei haben die im Kontext der totalitären, selektionistischen nationalsozialistischen Gesundheitsführung angewandten Verfahren zur Eignungs- und Leistungsmessung ihren Ursprung in verschiedenen Forschungsfeldern und Anwendungsgebieten (von der Psychodiagnostik, Anthropologie, den Arbeitswissenschaften und der Sportmedizin bis zu den sogenannten Anlageuntersuchungen in den Betrieben) und sind als biopolitische Versuche zur Rationalisierung des Körpers zu verstehen.51 In 51 Siehe im Einzelnen: Anson Rabinbach 1991: The Human Motor. Energy, Fatigue and the Critique of Modernity. Berkeley: University of California Press [übersetzt als Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und

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den Beiträgen in diesem Abschnitt des Buches werden die Transformationen der Techniken zur Vermessung, Optimierung und Kontrolle des Menschen in ihren Verbindungen zu gesellschaftlichen Rationalisierungsprozessen und politischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts diskutiert und damit ein historisch informierter Blick auf den aktuellen Boom von Praktiken des Selbstvermessens ermöglicht. Deutlich wird, dass die moderne Aufforderung „Erkenne Dich selbst!“, mit der zum Eignungstest eingeladen wurde, auf die Aneignung des wissenschaftlichen Blicks auf die Leistungsfähigkeit des Körpers hinauslief. Im ersten Beitrag zeigt Noyan Dinckal am Beispiel von apparativen Eignungs- und Leistungsmessungen, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aus den Arbeitswissenschaften in den Bereich des Sports transferiert wurden, Verbindungslinien zwischen der Weimarer Sportforschung und der Weimarer Rationalisierungskultur. Hier verband sich das Motto „Erkenne Dich selbst!“ mit der Aufforderung „Trainiere Deinen Körper!“. Die bekannte Phrase vom „rechten Mann am rechten Platz“ diente dazu, jedem eine geeignete Sportart zuzuweisen, wobei ihn das Training zu höherer Leistungsfähigkeit im Berufsleben befähigen sollte. Wie sich beispielsweise an den Sportlaboratorien, die es in verschiedenen Ausstellungen gab, nachvollziehen lässt, wurde nun nützliches und produktives Sporttreiben an die individuelle Erkenntnis der eigenen physischen und psychischen Leistungsgrenzen gekoppelt und deren positive wie negative Feststellung den wissenschaftlichen Experten übertragen. Kennzeichnend für diese Entwicklung war die Propagierung eines abstrakten Leistungsbegriffs, der von gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Komponenten losgelöst und gerade deshalb für eine objektive, messbare und damit auch unparteiische Beurteilung durch wissenschaftliche Experten und ihre Apparate geradezu prädestiniert schien. In meiner Fallstudie wird die Halle der Selbsterkenntnis von 1938 vorgestellt, die als werbeträchtiger Bestandteil der nationalsozialistischen Reichsausstellung Gesundes Leben – Frohes Schaffen entstand und in dem sich die Besucher erstmals in der Öffentlichkeit einer zwölf Stationen umfassenden Gesundheitsprüfung unterziehen konnten. Das Zustandekommen dieser Untersuchungssituation leitet sich aus der objektbezogenen Vermittlungspraxis des Deutschen Hygiene-Museums und Praktiken der wehr- und arbeitsmedizinischen Eignungs- und Gesundheitsprüfung im Kontext des nationalsozialistischen Arbeits- und Leistungsideals her. Deutlich wird, dass das hier im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen „aller schaffenden Volksgenossen“ abgegebene Versprechen auf Selbsterkenntnis nichts prinzipiell Neues war, sich Massenscreenings dieser Art jedoch erst unter nationalsozialistischer Herrschaft durchsetzten und an die regelmäßige Kontrolle der untersuchten Subjekte durch die medizinischen Experten gebunden blieb. die Ursprünge der Moderne. Wien: Turia + Kant 2001]; Philipp Sarasin und Jakob Tanner (Hg.) 1998: Physiologie und moderne Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Philipp Felsch 2007: Laborlandschaften. Physiologische Alpenreisen im 19. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein und Katja Patzel-Mattern 2010: Ökonomische Effizienz und gesellschaftlicher Ausgleich. Die industrielle Psychotechnik in der Weimarer Republik. Stuttgart: Steiner.

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Lars Bluma widmet sich in seinem Beitrag einem Berufsfeld, in dem der arbeitende Körper schon seit dem 19. Jahrhundert zum zentralen Ort medizinischer Objektivierung und Intervention geworden ist: dem Bergbau. Am Beispiel der Knappschaft als sozialem Sicherungssystem für die Bergleute demonstriert er die enge Verschränkung von Versicherungsrationalität und medizinischen Strategien zur Sichtbarmachung des Körpers, deren Spezifika er anhand dreier relativ homogener Darstellungsverfahren (Krankenstatistiken, medizinische Inskriptionen und Röntgenaufnahmen) im Detail herausarbeitet. Er kommt zu dem Ergebnis, dass bei diesen Strategien zur Sichtbarmachung des in der Hochindustrialisierung als permanent gesundheitsgefährdet angesehenen Körpers des Bergmanns Fürsorge- und Kontrollpraktiken zusammenwirkten und dieses Regulierungsregime eine erstaunliche Kontinuität vom Kaiserreich bis in die 1970er-Jahre aufwies. Max Stadler nähert sich der Frage nach der Sichtbarmachung von Körperfunktionen schließlich vonseiten der Physiologie und konzentriert sich in seinem Beitrag auf das Projekt der sogenannten Lichttechniker um 1930, das Sehvermögen unter den Bedingungen der künstlichen Beleuchtung am Arbeitsplatz zu optimieren. Im Fokus stand dabei die Erforschung und Manipulation des komplexen Zusammenspiels von Sehapparat und Sehbedingungen aus arbeitswissenschaftlicher und wahrnehmungstheoretischer Perspektive. Das aufklärerische Motto „Erkenne Dich selbst!“ zielte hier auf die Sichtbarmachung der Arbeitsleistung der Augen, zu der die Besucher in sogenannten Demonstrationsräumen der Glühlampenindustrie, aber auch in Ausstellungen der Lichttechniker eingeladen wurden. Sie sollten die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet des künstlichen Lichts bestaunen, waren als Lichtbenutzer gefragt und wurden aufgefordert, ihre Sehleistung unter verschiedenen Beleuchtungsstärken prüfen zu lassen. Die Lichttechnik wurde hier als Schnittstelle zwischen schaffendem Menschen und seiner technischen Arbeitsumgebung konzipiert.

Medien: Wissensvermittlung im „Zeitalter des Auges“ Kennzeichnend für die Wissensvermittlung in den Museen neuen Typs war die Aufbietung des gesamten verfügbaren Medienensembles. Dabei diente der Einsatz der neuen Bildmedien dazu, das Publikum dort abzuholen, wo man es im „Jahrhundert des Auges“, wie es Neurath nannte, bereits angekommen glaubte.52 In ihren breiten Bildungsangeboten setzte man nicht nur auf dreidimensionale visuelle Höhepunkte in Ausstellungen, sondern auch auf die Nutzung von Fotografien und Schaubildern als Exponate sowie auf die Produktion von Lichtbildreihen, Filmen, Plakaten und sogenannten populären Führern zur öffentlichen Zirkulation wissenschaftlicher Bilder vom Körper. Neben der 52 Otto Neurath 1991 [1933]: Soziale Aufklärung nach der Wiener Methode. In: ders.: Gesammelte bildpädagogische Schriften, 231–239, hier 234 [zuerst erschienen in: Mitteilungen der Gemeinde Wien, Nr. 100, 25–33].

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Frage nach der Genese einzelner Medieninnovationen wird in den Beiträgen dieses Abschnitts nach der medienspezifischen Verknüpfung von Popularisierungs- und Visualisierungsstrategien gefragt.53 Zur Diskussion stehen die Grenzen des Zeigbaren im Hinblick auf den menschlichen Körper, die Politik der Sichtbarmachung seiner Zustände und die Prozesse der Emotionalisierung, Moralisierung und Ökonomisierung des visualisierten Wissens. Gegenstand des Beitrags von Anja Laukötter sind die Kontinuitäten und Brüche in der Wissensvermittlung im Sexualaufklärungsfilm. An verschiedenen Beispielen (unter anderem des Deutschen Hygiene-Museums und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) diskutiert sie die sich wandelnden Visualisierungsstrategien vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und medizinischer Diskurse und konzentriert sich dabei vorrangig auf verschiedene Techniken der Emotionalisierung wissenschaftlicher Blicke auf den Körper. Sie zeigt, wie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Emotionen wie Ekel und Scham im Vordergrund standen und wie diese nach und nach durch Konzepte des „präventiven Selbst“ abgelöst wurden, die auf einem empathischen Verständnis von Verhaltensweisen basierten und das Thema auch mit den Mitteln des Humors bearbeiteten. Sie kommt zum Ergebnis, dass die Filme nicht nur als Hilfsmittel zur Analyse und Regulierung des Körpers gedacht waren, sondern auch als eine Form der Erziehung zur Selbstsorge verstanden wurden, mit der der Zuschauer im Sinne eines Lernprozesses dazu gebracht werden sollte, gesundheitsgefährdende Handlungen zukünftig selbst zu erkennen und zu meiden. In seinem Beitrag konzentriert sich Michael Tymkiw auf verschiedene Elemente des Mediums der Ausstellung und richtet seine Aufmerksamkeit auf Modelle und Apparate, die eine spielerische Aneignung von Körperwissen nahelegten. Seine Beispiele stammen aus den Werkstätten des Deutschen Hygiene-Museums, wurden zuerst in der Reichsausstellung Das Wunder des Lebens 1935 und dann bis 1944 in verschiedenen Wanderausstellungen, auch außerhalb des nationalsozialistischen Deutschlands, gezeigt. Mit der Emigration des Dresdner Kurators Bruno Gebhard gelangten sie in die USA, so in die Hall of Man der New Yorker Weltausstellung 1939/40. Deutlich wird, dass im Hinblick auf den Erzählbogen der jeweiligen Ausstellung, durch den die Objekte mit anderen visuellen Repräsentationen des Körpers verknüpft wurden, sehr unterschiedliche Wahrnehmungen des Gezeigten ermöglicht wurden. 53 Für das 20. Jahrhundert ist dieser enge Zusammenhang in der Geschichte der Gesundheitsaufklärung, die sich bisher eher an einzelnen Krankheiten als an übergreifenden Fragen zu den Körperbildern orientiert hat, noch weitgehend unbearbeitet, vgl. Jutta Schmidt 1995: So bleibt man gesund! Gesundheitserziehung in visuellen Medien von 1900 bis 1950. Essen: Verlag Die Blaue Eule; Ilana Löwy und John Krige (Hg.) 2001: Images of Disease. Science, Public Policy and Health in Post-war Europe. Luxemburg: European Communities; Susanne Roeßiger und Heidrun Merk (Hg.) 1998: Hauptsache Gesund! Gesundheitsaufklärung zwischen Disziplinierung und Emanzipation. Marburg: Jonas Verlag. Demgegenüber siehe bereits Sander Gilman 1988: Disease and Representation. Images of Illness from Madness to Aids. Ithaca: Cornell University Press und ders. 1995: Picturing Health and Illness. Images of Identity und Difference. Baltimore: John Hopkins University Press.

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Anna-Gesa Leuthardt widmet sich in ihrem Beitrag den populären Führern und Publikationen, die im Zusammenhang mit Ausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums zur Gesundheit der Frau entstanden sind. An zwei repräsentativen Beispielen verdeutlicht sie die Eigenständigkeit und Variabilität dieser Medienform, die zwischen dem Ausstellungsereignis und weitaus umfangreicheren populären Sachbüchern zum Thema changierte. Erst im Medienvergleich wird die komplementäre Funktion der Begleitschriften deutlich, die es zuließen, Wissensbestände ausführlicher zu kontextualisieren und zu plausibilisieren, als dies in der eher auf griffige Verhaltensregeln und einprägsame visuelle Reize ausgerichteten Form der Ausstellung realisiert werden konnte. Im abschließenden Beitrag reflektieren Claudia Stein und Roger Cooter über die zunehmende Kapitalisierung des Selbst und zeigen, inwiefern Spuren dieser Entwicklung in der Gesundheitsaufklärung in zwei Werbeplakaten zu finden sind, die beide Kontroversen um dieses Medium als Kommunikationsmittel im öffentlichen Raum ausgelöst haben: Mit dem ersten versuchte ein chemisches Labor um 1900 für seine bakteriologischen Dienstleistungen zu werben, in einer Zeit, in der das bakteriologische Krankheitsmodell noch umstritten und der Schauwert von Waren durch Ökonomen noch wenig geschätzt wurde. Ihr zweites Beispiel ist das inzwischen ikonisch gewordene Bild Dying on Aids oder Final Moment im Leben des Aids-Aktivisten David Kirby, das 1992 von Oliviero Toscani für eine Benettonkampagne geschaffen wurde und dessen visuelle Aussage am Heilungsversprechen der Medizin kratzte und das seinerzeit aufgrund der werbemäßigen Ausschlachtung der dargestellten menschlichen Tragödie als geschmacklos empfunden wurde. Die Autoren kommen in ihrer Analyse der visuellen Gesundheitsaufklärung zu dem Ergebnis, dass Toscanis Plakat einen Wendepunkt markierte, der am Ende des 20. Jahrhunderts zu einer Verschmelzung des biologischen mit dem ökonomischen Selbst geführt hat.

„Was weiß der Mensch von sich selbst!“ Körperbilder – Selbstbilder Die Ineinssetzung von biologischem Körper und Subjekt hat eine ökonomische Dimension angenommen, deren Bedeutung im Zeitalter von Big Data an der Wende zum 21. Jahrhundert nochmals gestiegen ist.54 Die im Band versammelten Fallstudien zeigen, wie eng die sich wandelnden Selbstbilder mit der jeweiligen Wissensgeschichte des Körpers verbunden sind. Es wären noch viele interessante Beispiele zu nennen, die eine Berücksichtigung in künftigen systematischen Untersuchungen und eine Befragung nach Kontinuitäten und Brüchen lohnen würden. 54 Dies zeigt sich aktuell in der Ankündigung von Versicherungen, ihren Kunden Rabatte zu gewähren, wenn sie mittels einer App privates Gesundheitsmonitoring betreiben und ihre Daten dem Unternehmen zur Verfügung stellen (Niklas Maak: Die Veröffentlichung unserer Körper. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. November 2014).

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„Was weiß der Mensch von sich selbst!“, empörte sich etwa Friedrich Nietzsche in seiner nachgelassenen Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“. Für ihn handelte es sich bei dem menschlichen, von der Aufklärung angestachelten Trieb zur Wahrheit um ein von anthropomorphen Metaphern nur so strotzendes und deshalb illusionistisches Unterfangen. Die Vorstellung, der Mensch möge „nur sich einmal vollständig, hingelegt wie einen erleuchteten Glaskasten, zu percipieren“, hielt er für eine Irreführung, wenn nicht gar eine Übersteigerung menschlicher Erkenntnismöglichkeiten.55 Aus seiner Sicht läge das Problem dort, wo der Mensch sich zum Maß aller Dinge erhoben habe und dann allzu leicht versucht sei, sie als das Wesen der Dinge selbst zu nehmen.56 Sein Einwand erinnert uns daran, dass der Mensch kein authentisches Darstellungsmittel für sich selbst sein kann, weil es unmöglich ist, die eigene biologische Existenz unmittelbar von außen zu beobachten. In den frühen 1870er-Jahren, als sein Text entstand, konnte Nietzsche sich mit dem Bild des erleuchteten Glaskastens auf den Seziertisch der aufgeklärten Anatomen, die Anwendung der grafischen Methode in der Physiologie, die chemische Analyse des Stoffwechsels, aber noch nicht auf die Praxis und Praktik des Durchleuchtens des Körpers im Röntgenverfahren beziehen. Im 20. Jahrhundert, als der Gläserne Mensch in die Welt kam, feierte diese Illusion der Transparenz trotz erkenntniskritischer Einwände ihre erfolgreiche Weiterentwicklung und Funktionalisierung. Das Modell musste in der Öffentlichkeit nun dafür herhalten, eine Ehrfurcht vor dem Wunderwerk der Natur zu entwickeln. Wie Augustinus’ Worte, die beispielsweise anlässlich der Vorführung des Gläsernen Menschen in der Reichsausstellung Das Wunder des Lebens 1935 gewählt und für die New Yorker Weltausstellung 1939/40 auch so übernommen wurden, belegen, orientierte sich diese Rahmung an religiösen Vorbildern, die nicht im Widerspruch zu den biopolitischen Projekten des 20. Jahrhunderts standen. Im Hintergrund des Modells war der Satz zu lesen: „Es bewundern die Menschen das rauschende Meer, die fließenden Gewässer, den Anblick des Himmels und vergessen über allem Bewundern der Dinge das Wunder, das sie selber sind.“57 (vgl. Abb. 7). Die Fallstudien dieses Bandes verdeutlichen darüber hinaus, dass bei aller visuellen Rhetorik der historischen Protagonisten nicht die Subjekte selbst, sondern eine äußerst voraussetzungsvolle Repräsentation ihrer Körper zur öffentlichen Anschauung gelangte. 55 Friedrich Nietzsche 1980: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Bd. 1. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, 875–890, hier 877. 56 Ebd.: 883. 57 Bruno Gebhard 1935: Rundgang. In: Gemeinnützige Ausstellungs-, Messe- und FremdenverkehrsGmbH (Hg.): Das Wunder des Lebens. Amtlicher Führer. Berlin: Ala, 142; vgl. auch Abb. 6 im Beitrag von Michael Tymkiw in diesem Band und seine Diskussion dieser und der New Yorker Ausstellung. Zur Metaphorik siehe Alexander Gall 2011: Wunder der Technik. Wunder der Natur. Zur Vermittlungsleistung eines medialen Topos. In: Alexander C. T. Geppert und Till Kössler (Hg.): Wunder. Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert. Berlin: Suhrkamp, 270–301 und für den Zusammenhang zum Sprechtext meine Ausführungen weiter oben.

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Abb. 7: Der Kurator Bruno Gebhard (gestikulierend) erläutert die neue Präsentation des Gläsernen Menschen in der Reichsausstellung Das Wunder des Lebens im Anschluss an die Eröffnungsrede des Reichsinnenministers Wilhelm Frick (mit Armbinde) am 23. März 1935 den Ehrengästen (National Archives and Records Administration, College Park, Maryland).

In den Sichtbarmachungen des Körpers, die im Einzelnen in ihren Praktiken der Herstellung, Vorführung und Zirkulation diskutiert wurden, gingen sehr viel lebenswissenschaftliches Fachwissen wie auch materielle, künstlerische und didaktische Überlegungen ein. „Das Wissen von sich selbst macht“, so brachte es Philipp Sarasin in seiner Analyse des modernen Hygienediskurses auf den Punkt, „einen weiten Bogen durch die Medien, die ihre eigene Geschichte haben“.58 Die Erkenntnis, dass unser heutiges Wissen über den Körper nicht mehr von seinen wissenschaftlich-technischen Repräsentationen zu trennen ist, sollte uns dazu verleiten, uns aus dieser Perspektive näher mit der Geschichte der visuellen Medien des 20. Jahrhunderts zu befassen und dabei insbesondere mit ihren Implikationen, Nebenwirkungen und Gestaltungsmöglichkeiten. Stoff für eine solche Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Verfasstheit von körperbezogenen Selbstbildern bietet beispielsweise der 2009 erschienene Roman Cor58 Philipp Sarasin 2004: Wissen vom Körper – Wissen über sich? Zeichen und Medien in der hygienischen Konstruktion des Körpers im 19. Jahrhundert. In: Gabriele Genge (Hg.): 1926–2004. Gesolei. Kunst, Sport und Körper. Bd. 2: Methoden und Perspektiven. Weimar: VDG, 53–66, hier 57 f.

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pus Delicti von Juli Zeh. Sensibilisiert durch aktuelle Warnungen vor einer Verschmelzung von biologischem und ökonomischem Selbst spielt die Autorin mögliche Zukünfte in Form einer Dystopie durch. Wissenschaftsgestützte Sichtbarmachungsstrategien des Körpers treten dabei durchgängig an die Stelle von Selbstwahrnehmungen der Subjekte. Zentraler Bösewicht ihrer Geschichte ist der Journalist Heinrich Kramer, der das Sachbuch Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation verfasst hat und dessen Titel das Programm einer Art Gesundheitsdiktatur darstellt, in der die Handlung spielt. Das Vorwort im Machwerk von Kramer, dessen Name einem berüchtigten Inquisitor des Mittelalters entliehen ist59 beginnt mit der bekannten WHO-Definition von 1948: „Gesundheit ist ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens – nicht bloß die Abwesenheit von Krankheit.“ Weiter heißt es: Gesundheit will täglich erhalten und gesteigert sein, über Jahre und Jahrzehnte hinweg, bis in höchste Alter. Gesundheit ist nicht Durchschnitt, sondern gesteigerte Norm und individuelle Höchstleistung. Sie ist sichtbar gewordener Wille, ein Ausdruck von Willensstärke in Dauerhaftigkeit. Gesundheit führt über die Vollendung des Einzelnen zur Vollkommenheit des gesellschaftlichen Zusammenseins.60

Seine Ausführungen enden in dem für den Roman wichtigen Schlüsselsatz, der die staatlich sanktionierte Präventionslogik der Gesundheitsdiktatur in ihrer Tragweite für die Subjekte zusammenfasst: „Der Mensch, der nicht nach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern er ist es schon.“61 Wer sich der ständigen Gesundheitskontrolle verweigert, wie etwa die Biologin Mia Holl, die ihren Schlaf- und Ernährungsbericht im laufenden Monat nicht eingereicht, die tägliche Blutdruckmessung sowie Urintests versäumt hat und deren plötzlicher Einbruch im sportlichen Leistungsprofil aufgefallen war, dem wird gesundheitsschädigendes Verhalten unterstellt und eine Zwangsuntersuchung angeordnet. Zum Konflikt kommt es, weil die positive Gegenspielerin von Kramer in einem Kriminalfall die Alternativlosigkeit der rationalen Methoden anzweifelt. In diesem Zusammenhang rechtfertigt er sein System folgendermaßen: Im Gegensatz zu allen Systemen der Vergangenheit gehorchen wir weder dem Markt noch einer Religion. Wir brauchen keine verstiegenen Ideologien. Wir brauchen nicht mal den bigotten Glauben an eine Volksherrschaft, um unser System zu legitimieren. Wir gehorchen allein der Vernunft, indem wir uns auf eine Tatsache berufen, die sich unmittelbar aus der Existenz von biologischem Leben ergibt.62 59 Heinrich Kramer (Institoris) [1487] 2007: Hexenhammer. Neu aus dem Lateinischen übertragen von Wolfgang Behringer. hg. und eingeleitet von Günter Jerouschek. München: Deutscher Taschenbuchverlag. 60 Juli Zeh [2009] 2010: Corpus Delicti. Ein Prozess. 6. Aufl., München: btb Verlag, Vorwort. 61 Ebd. 62 Ebd.: 36.

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Die Autorin lässt Kramers machtpolitischen Rückzug auf die Biologie des Menschen, der sich einzig auf die Unfehlbarkeit von wissenschaftlichen Erkenntnismethoden berufen kann, nicht gelten, sondern bietet mit der reflektierten Naturwissenschaftlerin dem aufgeklärten Leser eine Identifikationsfigur, die sich trotz Blessuren erfolgreich gegen das System auflehnt. Wie Juli Zeh auch in ihren journalistischen Beiträgen mehrfach betont hat, plädiert sie auch hier dafür, sich als verantwortungsvolles Individuum nicht bedenkenlos einer sich auf die rationale Vernunft berufenden Macht zu unterwerfen. Stattdessen versteht sie ihre Aufgabe darin, in der Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass hinter diesen Verfahren neben variablen wissenschaftlichen Annahmen auch politische und ökonomische Interessen stehen können und damit potentiell die Gefahr besteht, den Gewinn an Körperwissen mit einer Einschränkung von individuellen Freiheitsrechten bezahlen zu müssen. Es wäre zu pauschal und kaum sachgerecht, den Vertretern der aktuellen Bewegung des Quantifying Self politische Naivität zu unterstellen, wenn sie ihr verantwortliches Selbstmanagement an die freiwillige Vermessung ihrer Körperleistung knüpfen. Nach dem, was bisher darüber bekannt ist, speisen sich die Motive für diese Praxis aus sehr unterschiedlichen Quellen.63 Techniken wie Daten lassen sich, wenn Anwender sie gebrauchen, immer auf eigenständige Weise nutzen und manipulieren. In den Freiheitsgraden von Geräten und Messwerten, die die jeweilige Aneignung erst offen zutage treten lassen, liegt möglicherweise ein nicht gering zu schätzender Reiz dieser handlichen Apparate für manchen Nutzer. Auch solche von den Produzenten vermutlich nicht beabsichtigten Umdeutungen von Messverfahren und ihren Ergebnissen widersprechen nicht, sondern bestätigen den Eindruck der heute weitgehend geteilten Begeisterung für die Selbstwahrnehmung in Zahlenform. Aus historischer Sicht lassen sich auf den ersten Blick dafür verschiedene, verstreute und von der Forschung noch zu wenig wahrgenommene Entwicklungslinien aufzeigen. So denke man an den Einzug messender Verfahren aus der medizinischen Praxis in den häuslichen Alltag vom Fieberthermometer im 19. Jahrhundert bis zur Blutdruck- und Blutzuckermessung für Risikopatienten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.64 Eine andere, aber auch hier einzubeziehende Geschichte ist die der Reihenuntersuchung, die auf Verfahren zur Feststellung der Militär- und Berufstauglichkeit zurückgeht und durch die die Entwicklung standardisierter und mobiler Untersuchungsgeräte in der TBC- und Krebsfürsorge seit Mitte des 20. Jahrhunderts enorm an 63 Für einen Einstieg in die noch sehr junge Forschung zu diesem zeitgenössischen Phänomen siehe Deborah Lupton: Understanding the Human Machine. IEEE Technology and Society Magazine, Winter 2013, 25–30. 64 Während die Geschichte der Temperaturmessmethode von Volker Hess (u.a. Der wohltemperierte Mensch. Wissenschaft und Alltag des Fiebermessens (1850–1900). Frankfurt a.M./New York: Campus 2000) aufgearbeitet worden ist, besteht zum privaten Gesundheitsmanagement von chronisch Kranken wie Gesunden mittels derartiger Instrumente im 20. Jahrhundert noch keine vergleichbar gute Forschungslage.

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Fahrt aufnahm. Eine weitere bisher kaum gewürdigte Entwicklung wäre zudem die Einführung der Personenwaage im öffentlichen Raum, die, seitdem es handliche Geräte für den Haushalt gibt, auch wieder von den Bahnhöfen, Toiletten und Plätzen verschwand. Und schließlich handelt es sich bei den Massenuntersuchungen mit Röntgen- und Ultra­ schallgeräten um Verfahren, die ursprünglich zur Feindiagnose von bestimmten Krankheitsbildern entwickelt wurden, aber heutzutage standardmäßig auch zur Vorsorge von Gesunden eingesetzt werden.65 Damit ist die Verbreitungsgeschichte dieser Aufnahmeund Analysetechniken nur ausschnitthaft angesprochen. Alle diese technischen Innovationen und die steigende Nachfrage nach ihnen haben sicherlich mit dazu beigetragen, dass immer öfter, wenn es um das Wohl des Menschen heute geht, wissenschaftsgestützte Sichtbarmachungsstrategien des Körpers ins Bild geraten. Auch wenn die heutigen digitalen Methoden der Datenerfassung, -auswertung und -kommunikation früheren Entwicklungen nochmals eine neue Dimension verliehen haben, ist der Vergleich mit dem sprechenden Pappkameraden, dem Huizinga sich in New York 1926 gegenübergestellt sah, frappierend. Heutige Selbstvermesser beschreiben die Praxis der Optimierung ihrer Körperleistung wie selbstverständlich in Begriffen der Selbstbestimmung und Selbstermächtigung. Der aufklärerische Imperativ „Erkenne Dich selbst!“ bleibt damit unrettbar an wissenschaftliche Sichtbarmachungsstrategien des Körpers gebunden. Was sich geändert hat, sind nicht nur die Techniken selbst, sondern damit verbunden auch die gesellschaftlichen Anforderungskataloge und die konkreten Angebote zur Selbstgestaltung.66 Geht man vom kulturellen und sozialen Wandel in den Selbstbildern aus, scheint es ebenso notwendig, auch die jeweiligen instrumentellen Voraussetzungen mit in den Blick zu nehmen, mit denen sie verknüpft sind. So wie wir unser Selbstbild an die Möglichkeiten und Grenzen zur wissenschaftlich-technischen Darstellung unseres Körpers angepasst haben, so sind wir gut beraten, auch selbst mitzubestimmen, in welche Richtung sie weiterentwickelt werden sollten. Letztlich ist es vielleicht sogar kein historischer Zufall, dass im modernen Zeitalter der Körperleistungsmaschine sich in der öffentlichen Zurschaustellung des Menschen immer wieder solche profanen Alltagsgegenstände wie Lebensmittel ins Bild geschoben haben. Wie die Analyse des Beispiels aus dem American Natural History Museum in New York von 1926 gezeigt hat, bieten sie Möglichkeiten zu weiterreichenden Reflexionen über den Sinn des Lebens, das körperliche Wohlbefinden auf Erden und verbinden 65 Für einen Überblick über die kulturhistorischen Implikationen dieser und weiterer Darstellungstechniken siehe José van Dijk 2005: The Transparent Body. A Cultural Analysis of Medical Imaging. Seattle/ London: University of Washington Press. 66 Zu gegenwärtigen Praktiken siehe neben geschlechtersoziologischen Studien wie Paula-Irene Villa 2008: Habe den Mut, Dich Deines Körpers zu bedienen! Thesen zur Körperarbeit in der Gegenwart zwischen Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung. In: dies. (Hg.): schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst. Bielefeld: transcript auch neuere sozialhistorische Ansätze wie Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde und Dagmar Freist (Hg.) 2013: Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld: transcript.

„Wissenschaftliche Stillleben“ des Körpers im 20. Jahrhundert

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das biologische mit dem ökonomischen Selbst, weil sie aufzeigen, dass der Mensch in der modernen Gesellschaft nicht mehr für sich alleine leben kann, sondern Teil eines globalen Wirtschaftskreislaufs geworden ist, und sein stofflich verbriefter Geldwert genau beziffert werden kann. Interessanterweise gab der Filmemacher Harun Farocki seiner essayistischen Dokumentation über die Arbeit von Werbefotografen, die im Auftrag der Industrie solche allgegenwärtigen Produkte wie Bier und Käse für die Aufnahme resakralisieren, gleichfalls den Titel „Stilleben“. Damit vergleicht er in Anlehnung an Film-Stills deren ausgeklügeltes Produktarrangement ebenso mit der Tradition der Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts und reflektiert auf diese Weise vergleichbar zu Huizinga den ästhetischen Stil kapitalistischer Wareninszenierungen, die auf die Betrachter als potentielle Kunden zielen.67 Der 18-Dollar-Pappkamerad war Huizinga gerade deshalb auf seiner US-amerikanischen Reise aufgefallen, weil er begierig Beispiele sammelte, mit denen er den utopischen Realismus in der Neuen im Vergleich zur Alten Welt erfassen konnte.68 Als Mia Holl von den Diktatoren in einer hoffentlich nicht eintretenden Zukunft zum Gesundheitstest gezwungen wurde, hatte man sie, wie Zeh wahrscheinlich auch nicht von ungefähr schreibt, „wie eine Bohnendose im Supermarkt abgescannt“. Ludwig Feuerbach formulierte sein bekanntes anthropologisches Diktum, dass „der Mensch ist, was er ißt“, in seiner Besprechung der Ernährungsbibel von Jakob Moleschott, in der dieser 1850 unter dem Titel Lehre der Nahrungsmittel die Resultate der modernen Stoffwechselchemie „für das Volk“, wie der Untertitel heißt, ausgebreitet hatte. Feuerbach war fasziniert von der Idee, Körper und Geist vor allem aus dem Stoffwechsel heraus zu verstehen. Diese naturwissenschaftliche Sichtweise stand für einen Materialisten seiner Couleur aber keinesfalls im Widerspruch zur zutiefst religiösen Bedeutung der Nahrungsaufnahme des Menschen im Bild des christlichen Abendmahls. Auch dieses dem eigentlichen Untersuchungszeitraum des Bandes vorgelagerte Beispiel dokumentiert, wie eng Körperund Selbstbilder in den „wissenschaftlichen Stillleben“ aufeinander bezogen sind, aber wie unterschiedlich sie auch ausgestaltet werden konnten.

67 Ich danke Katja Kynast (Berlin) für die Erinnerung an dieses bemerkenswerte Werk, das auf der Dokumenta X in Kassel Premiere hatte. 68 Zum intellektuellen und methodischen Zusammenhang zwischen Huizingas Reisebeobachtungen und seinem Werk siehe Macho 2011.

Helmuth Trischler

Zwischen Geschichte und Zukunft. Ein neuer Museumstyp im Europa des frühen 20. Jahrhunderts

Das Verständnis dessen, was ein Museum ausmacht, verändert sich im historischen und gesellschaftlichen Wandel. Kaum mehr als die etymologische Verwandtschaft verbindet den Bestattungsort des Poeten Museio im antiken Griechenland mit dem alexandrinischen und römischen Museum, das Schule und Gymnasium war, oder dem frühneuzeitlichen Museum als fürstlicher Kunst- und Wunderkammer und schließlich dem modernen Museum. Nach international gültigem Verständnis dienen Museen heute als öffentliche Räume, in denen materielle Zeugnisse von Menschen und ihrer Umwelt gesammelt, bewahrt, erforscht, kommuniziert und vor allem ausgestellt werden. Das moderne Museum entstand während der europäischen Industrialisierung, Wissenschaft und Technik standen im Zentrum der Sammlungs- und Ausstellungstätigkeit. Erst im frühen 20. Jahrhundert schärfte das Technikmuseum spürbar sein Profil als naturwissenschaftlich-technische Bildungsstätte. Damals wurde es zu einer wichtigen Schnittstelle zwischen Staat, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Im Technikmuseum wurden neue Wissensordnungen verhandelt und festgeschrieben.1 Das Wachstum und die Ausdifferenzierung des Technikmuseums, das sich an der langen Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert besonders dynamisch entwickelte, zeichnet dieser Beitrag in drei Schritten nach. Im ersten Abschnitt stelle ich die Herausbildung des Technikmuseums im Kontext der Industrialisierung dar und verknüpfe sie mit der Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Dabei gehe ich auch auf den auffälligen Präsentabilismus ein, der diesen Museumstyp bis heute vom Naturkundemuseum ebenso wie vom Kunstmuseum unterscheidet. Dort sind die Funktionen des Sammelns und, dadurch vermittelt, des objektbezogenen Forschens weit stärker verankert als im Technikmuseum, das sich zuvorderst über seine Ausstellungen definiert. Der zweite Abschnitt 1 Bereits die Frühneuzeit kannte mit den Kunst- und Wunderkammern Wissensorte, wo epistemische Ordnungen kodifiziert wurden. In den fürstlichen Sammlungen hatte die frühneuzeitliche Wissensgesellschaft ein Zentrum (vgl. dazu etwa Harriet Roth 2011: Vom Ursprung des Museums. Die Kunstund Wunderkammern. Interdisziplinarität in Samuel Quicchebergs Inscriptiones vel tituli theatri Amplissimi von 1565. Museumskunde, 76, 20–25, sowie Paula Findlen 1994: Possessing Nature. Museums, Collecting and Scientific Culture in Early Modern Italy. Berkeley: University of California Press).

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skizziert den kaum weniger auffälligen, intensiv geführten Wissensaustausch der Museen über nationale Grenzen hinweg. Die Museumsleiter führten und nutzten ihn, um ihr eigenes Handeln zu begründen und zu rechtfertigen, nicht zuletzt, um staatliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ressourcen zu mobilisieren. Der dritte Abschnitt entfaltet das Spannungsfeld von historischer Orientierung und Zukunftsgerichtetheit, das für das Technikmuseum des frühen 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der europäischen Tradition des Historismus von eminenter Bedeutung war.

Das Technikmuseum als neuer Museumstyp in der europäischen Wissensgesellschaft Die Entstehung und Ausdifferenzierung des Wissenschafts- und Technikmuseums bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts lässt zwei unterschiedliche Lesarten zu. Die erste Lesart setzt perspektivisch um 1800 an und betont den evolutionären Charakter der Entwicklung, das heißt, die allmähliche Durchsetzung dieses neuen Typs von Museum während rund eines Jahrhunderts, obwohl diese Entwicklung eigentlich revolutionären Ursprungs war. Die zweite Lesart setzt dagegen rund einhundert Jahre später an und rekonstruiert den Zusammenhang zwischen der Herausbildung des Technikmuseums und der Entstehung der modernen Wissensgesellschaft im frühen 20. Jahrhundert. Der Anfang der Verbindung zwischen der Industrialisierung und der Herausbildung des Technikmuseums ist datierbar. Im Sommer des Jahres 1794, am Ende des grande terreur, beschloss der Nationalkonvent in Paris auf Initiative des Abbé Henri Grégoire die Gründung des Conservatoire National des Arts et Métiers. Dieser revolutionäre Gründungsakt holte für die Bereiche Wissenschaft, Technik und Handwerk nach, was der Louvre kurz zuvor für die Kunst vorgemacht hatte: die Nationalisierung der königlichen Sammlungen im Rahmen der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft. Das Conservatoire stellte in mehrfacher Hinsicht die Weichen für die institutionelle Innovation des Technikmuseums. Es verklammerte die Aufgabenfelder des Sammelns und Bewahrens des materiellen Erbes, der Aufklärung und der Unterweisung der Bevölkerung unter anderem dadurch, dass es die gesammelten Originalapparate und -modelle durch sogenannte Demonstratoren im Rahmen eines Polytechnikums vorführen ließ. Hier gründet die unmittelbare Lehrfunktion des Technikmuseums als quasi schulischer Ort der Vermittlung nützlichen Wissens, die sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Institutionen wiederfindet. Auf Betreiben des Conservatoire übernahm das Technikmuseum zudem die Aufgaben eines öffentlichen Forums, auf dem neueste technische und handwerkliche Entwicklungen und Errungenschaften präsentiert wurden. Dabei ging es nicht so sehr um den Nachweis der Einzigartigkeit der Maschinen und Erfindungen als historische Sachzeugnisse als um ihren Vorbildcharakter: Die Sammlungen sollten zum Nachbau und sogar zur Verbesserung der ausgestellten Objekte anregen. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts griffen die Mustersammlungen

Ein neuer Museumstyp im Europa des frühen 20. Jahrhunderts

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der Gewerbevereine diese Tradition auf, ein Prozess, an dessen Ende die Institutionalisierung von Kunstgewerbemuseen oder, wie am Fallbeispiel Wiens noch zu zeigen sein wird, der Grundstock für die spätere Sammlung eines staatlichen Technikmuseums stand.2 Wie eng die Herausbildung des Technikmuseums mit der Industrialisierung verkoppelt war, lässt sich an drei weiteren Prozessen nachvollziehen: Erstens an der Rolle der Welt- und Industrieausstellungen als Impulsgeber und Ideenspender für die neue wissenschaftlich-technische Museumslandschaft. Diese wird besonders plastisch am Beispiel des South Kensington Museums, das unmittelbar aus der Weltausstellung im Londoner Glaspalast von 1851 hervorging. Als „Science Museum“ erlangte es zu Beginn des 20. Jahrhunderts institutionelle Eigenständigkeit, wobei auch die neue selbstständige Einrichtung, wie das Conservatoire, lange Zeit ein hybrides Profil aus Sammel- und Lehrstätte behielt. Die großen Expositionen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts repräsentierten das Wissen der Welt in einer systematischen Ordnung der Dinge, die weit über die Ausstellungsdauer hinaus Bestand hatte. Hier trafen sich auch die wissenschaftlich-technischen Experten, um den Stand des Wissens zu besprechen und sich dadurch die nötige Orien­ tierung im internationalen Wettbewerb zu verschaffen.3 Nicht wenige dieser Ausstellungen zogen sogar die Gründung eines dauerhaften Museums nach sich. Das 1908/09 gegründete Technische Museum Prag ist hierfür, neben dem South Kensington Museum, ein instruktives Beispiel, verdankt es sich doch insbesondere auch der Landes-Jubiläumsausstellung von 1891. Deren architektonische Relikte prägen mit der PetřínStandseilbahn auf den Petřínberg, dem nach dem Vorbild des Pariser Eiffelturms gebauten Aussichtsturm Petřín und dem Industriepalast Průmyslový palác bis heute das Gesicht der tschechischen Hauptstadt. Blieben damals die Bemühungen des Ausschusses „Museen der Erfinder“, der bestellt wurde, um Gebäude für permanente Ausstellungen zu finden, noch ohne Erfolg, so mündete die große Industrieschau der Prager Handels- und Gewerbekammer von 1908 schließlich in der Gründung des Museums.4

2 Bruno Jacomy 1995: Du Cabinet au Conservatoire. Journal of the History of Collections, 7, 227–233. Zum Folgenden ausführlicher Helmuth Trischler 2006: Das Technikmuseum im langen 19. Jahrhundert. Genese, Sammlungskultur und Problemlagen der Wissenskommunikation. In: Bernhard Graf und Hanno Möbius (Hg.) 2006: Zur Geschichte der Museen im 19. Jahrhundert (1789–1918). Berlin: G+H Verlag, 81–92 und ders.: Die Kodifizierung von Wissensordnungen. Das Wissenschafts- und Technikmuseum im langen 19. Jahrhundert. In: Larissa Förster (Hg.) 2014: Transforming Knowledge Orders. Museums, Collections and Exhibitions. München: Fink, 137–161. 3 Alexander C. T. Geppert 2011: Fleeting Cities. Imperial Expositions in Fin-de-Siècle Europe. Basingstoke: Palgrave Macmillan; Thomas Großbölting 2008: „Im Reich der Arbeit“. Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914. München: Oldenbourg; Martin Kohlrausch und Helmuth Trischler 2014: Building Europe on Expertise. Innovators, Organizers, Networkers. London: Palgrave Macmillan. 4 Jan Hozák 1997: Das Technische Nationalmuseum. Blick in die Geschichte. In: ders. (Hg.): Technisches Nationalmuseum in Prag. Geschichte – Gegenwart – Sammlungen. Prag: PROTISK Ceské Budejovice, 15–22, hier 16.

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Der enge Zusammenhang zwischen Museumsentwicklung und Industrialisierung zeigt sich zweitens in der institutionellen Gliederung des Typs Technikmuseum. In Deutschland entstanden allein in der damaligen Reichshauptstadt Berlin innerhalb weniger Jahrzehnte zahlreiche technische Sammlungen und Museen. Das Reichspostmuseum (gegründet 1872), das Verkehrs- und Baumuseum (1906) und das Museum für Meereskunde (1906/07) lassen sich dabei auch als Ressorteinrichtungen interpretieren.5 In ihrer Aufteilung spiegelt sich sowohl die Verdichtung der Verkehrs- und Kommunikationsnetze im Zuge der Industrialisierung als auch der Aufstieg wissenschaftsintensiver Industriezweige wie Elektrotechnik und Chemie. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Leistungs- und Interventionsstaat in Form eines rasch wachsenden Apparats aus politisch-administrativen Steuerungs- und Regulierungsinstanzen, die jeweils eigene Museen vorhielten. Die zentralen Verwaltungen des Reichs schufen sich damit verfügbare Bühnen für die Repräsentation der wissenschaftlichen, technischen und industriellen Potenz des jungen Nationalstaats. Auf der regionalen und lokalen Ebene unternahm auch das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum vielfältige Anstrengungen, um seine Bedeutung in Technik- und Industriemuseen zu manifestieren.6 Der deutsche Leistungs- und Interventionsstaat fand im Sozialstaat, der sich im Anschluss an die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung allmählich bildete, ein funktionales Äquivalent. Gesetzliche Sozialmaßnahmen sollten die Arbeiterschaft in die bürgerliche Gesellschaft integrieren und die von der Industrialisierung aufgeworfenen Probleme bewältigen. Einen wichtigen Teil dieses Reparaturunternehmens bildeten die zahlreichen „Museen der Gefahren“, die an der Wende zum 20. Jahrhundert als Sozialmuseen, Hygie­ nemuseen und Arbeitsschutzmuseen gegründet wurden.7 Wie kein anderes Museum verweist das Deutsche Hygiene-Museum Dresden auf die zunächst aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft kommende, dann aber rasch politisch überformte Aufgabe dieser Institutionen, praktische Aufklärung über öffentliche Gesundheit und Gefahrenschutz in einer industrialisierten Gesellschaft zu betreiben.8 Die zweite Art, den Zusammenhang zwischen Museumsentwicklung und Industrialisierung zu rekonstruieren, beginnt wie gesagt nicht bei der Französischen Revolution, 5 Vgl. Hanno Möbius 1983: Vierhundert Jahre technische Sammlungen in Berlin. Von der Raritätenkammer der Kurfürsten zum Museum für Verkehr und Technik. Berlin: Museum für Verkehr und Technik. 6 Vgl. etwa Manfred Rasch 2002: Bürgerliches Selbstbewußtsein und bürgerliche Selbstdarstellung. Zur Musealisierung von Industrie- und Technikgeschichte in Duisburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Susanne Sommer und Peter Dunas (Hg.) 2002: 1902–2002. Kultur- und Stadthistorisches Museum Duisburg. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen. Duisburg: Mercator-Verlag, 145–179. 7 Stefan Poser 1998: Museum der Gefahren. Die gesellschaftliche Bedeutung der Sicherheitstechnik. Das Beispiel der Hygiene-Ausstellungen und Museen für Arbeitsschutz in Wien, Berlin und Dresden um die Jahrhundertwende. Münster: Waxmann. 8 Vgl. Martin Roth 1990: Menschenökonomie oder der Mensch als technisches und künstlerisches Meisterwerk. In: ders. und Rosmarie Beier (Hg.): Der gläserne Mensch – eine Sensation. Zur Kulturgeschichte eines Ausstellungsobjekts. Stuttgart: Hatje Cantz, 39–67, sowie Thomas Stellers Beitrag in diesem Band.

Ein neuer Museumstyp im Europa des frühen 20. Jahrhunderts

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sondern verknüpft vielmehr die Genese des Technikmuseums mit der Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Als Übergangsphase wurde in Bezug auf die fortgeschrittenen Industriegesellschaften Europas, darunter aber insbesondere auf Deutschland, die Periode zwischen etwa 1880 und 1914 überzeugend bestimmt. In dieser Phase bildete sich in vielen europäischen Staaten der jeweilige institutionelle Rahmen des staatlichen Wissenschafts- und Innovationssystems, außerdem kam es zur weitreichenden Verwissenschaftlichung und Technisierung der Gesellschaft. Museen leisteten nicht nur für die technische Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche einen wichtigen Beitrag, sondern beförderten auch die öffentliche Vermittlung des Wissens und seiner Nutz- und Anwendbarkeit. Die Wende zum 20. Jahrhundert kann für Deutschland und Österreich ebenso wie für Frankreich und Großbritannien als (Jahrzehnte anhaltende) Hochphase der Popularisierung wissenschaftlichen und technischen Wissens gelten.9 Nicht von ungefähr entwarf Oskar von Miller das 1903 gegründete Deutsche Museum in München programmatisch als „Stätte der Volksbelehrung“,10 und Henry Lyons tat es ihm gleich, als er um 1908 das Science Museum in London nach dessen Herauslösung aus dem South Kensington Museum von Grund auf reformierte. Einen engen Zusammenhang mit der Industrialisierung offenbaren schließlich auch die großen, den Nationalstaat repräsentierenden Wissenschafts- und Technikmuseen, die in der hier untersuchten Zeitspanne gegründet wurden. Das Deutsche Museum in München wie auch das am 6. Mai 1918 eröffnete Technische Museum in Wien und das 1923 in Stockholm gegründete Tekniska Museet waren Ausdruck des neuen kulturellen Emanzipationsstrebens der Technikwissenschaften.11 Hier schufen sich die Ingenieure ihre modernen Kathedralen, und hier verband sich auch die säkularisierte Heilsgewissheit der Naturwissenschaften mit dem Fortschrittsversprechen der Technik.

9 Vgl. bes. Daniel J. J. Raichvarg 1991: Savants et ignorants. Une histoire de la vulgarisation des sciences, Paris: Editions du Seuil; Andreas Daum 1998: Wissenschaftspopularisierung im 19 Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914. München: Oldenbourg; Angela Schwarz 1999: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914). Stuttgart: Steiner; Mitchell G. Ash und Christian Stifter (Hg.) 2002: Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart. Wien: Wiener Universitätsverlag, sowie Sybilla Nikolow und Arne Schirrmacher (Hg) 2007: Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York: Campus. 10 Oskar von Miller 1929: Technische Museen als Stätten der Volksbelehrung [= Abhandlungen und Berichte des Deutschen Museums, 1, Heft 5]. München: Oldenbourg. 11 Svante Lindqvist 1993: An Olympic Stadium of Technology. Deutsches Museum and Sweden’s Tekniska Museet. History and Technology, 10, 37–54; Helmut Lackner, Katharina Jesswein und Gabriele Zuna-Kratky (Hg.) 2009: 100 Jahre Technisches Museum Wien. Wien: Prestel. Der Gründungswelle bei staatlichen Technikmuseen an der Wende vom 20. Jahrhundert lassen sich ferner folgende Museen zuordnen: Polytechnisches Museum Moskau (1872), Museum für Wissenschaft und Technik in Tokio (1877), Technisches Museum Warschau (1929), Museum Boerhaave in Leiden (1931/1947), Museum of Science and Industry in Chicago (1933) sowie weitere Initiativen in Kairo, Amsterdam, Kopenhagen, San Francisco und Rio de Janeiro.

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Die These von der um 1900 aufkommenden modernen Wissensgesellschaft lässt die Gründungswelle bei den Technikmuseen um die gleiche Zeit in einem neuen Licht erscheinen. Die Technikmuseen reagierten auf das Bedürfnis der sich formierenden Wissensgesellschaften, Wissen dinglich darzustellen und zu popularisieren. Im frühen 20. Jahrhundert erlangten die Technikmuseen in Paris, London, München und Wien Leitbildfunktion. Nach ihrem Vorbild wurden europaweit staatliche Technikmuseen errichtet: in Oslo und Stockholm, in Prag und Budapest, in Belgrad, Zagreb und Moskau. Insbesondere in den jungen, nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Staaten wurde die Gründung von Technikmuseen zu einem maßgeblichen Faktor nationaler Identitätsbildung. Wie Helmut Lackner herausgearbeitet hat, entsprach dieser europaweite Gründungsprozess dem West-Ost-Verlauf der innereuropäischen Modernisierung.12 Auf Frankreich und England folgten zunächst Deutschland und die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie, nach dem Ersten Weltkrieg schließlich Osteuropa. In der Zwischenkriegszeit wurde das Technikmuseum sogar zu einem weltweiten Exportschlager Europas: Die unmittelbar nach dem Münchener Vorbild gegründeten Technikmuseen in Chicago und Philadelphia sind nur besonders augenfällige Beispiele für diese globale Zirkulation des europäischen Modells musealer Ordnung und Vermittlung von wissenschaftlich-technischem Wissen.13 Gemeinsam ist dem europäischen Typ des Technikmuseums, erneut in Anlehnung an Lackner, eine Reihe von Merkmalen:14 • das Emanzipationsstreben der Ingenieure als Triebkraft, • die Nation als Bezugsraum, • die Orientierung am Leitbild eines wissenschafts- und technikimmanenten linearen Fortschritts, • die Wahrnehmung einer öffentlich-gesellschaftlichen Bildungsfunktion, • die systematische, tendenziell enzyklopädische Ordnung der Sammlungen nach Fachdisziplinen und Technikfeldern mit hoher Persistenz, • die Ergänzung der Ausstellungen durch eine Bibliothek und/oder ein Archiv als unterstützende Bildungsinfrastruktur, • die Betonung der Bildungsaufgabe durch pädagogische Begleitprogramme wie Führungen und Vorträge sowie durch begleitende populärwissenschaftliche Publikationen.

12 Helmut Lackner 2011: Das technische Museum. Oder wie der Fortschritt ins Museum kam. Ferrum. Nachrichten aus der Eisenbibliothek, 83, 7–19. 13 Bernhard S. Finn 2003: Der Einfluss des Deutschen Museums auf die internationale Landschaft der Wissenschafts- und Technikmuseen. In: Wilhelm Füßl und Helmuth Trischler (Hg.): Geschichte des Deutschen Museums. Akteure, Artefakte, Ausstellungen. München: Prestel, 397–405; Tom Scheinfeldt 2010: The International Context and the Context of Internationalization. In: Peter J. T. Morris (Hg.): Science for the Nation. Perspectives on the History of the Science Museum. London: Palgrave Macmillan, 294–311. 14 Lackner 2011: 7.

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Charakteristisch für das Technikmuseum ist außerdem seine ausgeprägte Zeigepraxis. Im Spannungsfeld zwischen „Deponieren und Exponieren“, wie der Kulturwissenschaftler Gottfried Korff die beiden Hauptparameter des forschenden Sammelns und der öffentlichen Vermittlung von Wissen benannt hat, lag den Technikmuseen primär an der Präsentation ihrer Sammlungen – durchaus im Unterschied zu Kunst- und Naturkundemuseen, für die Wissensproduktion und -systematisierung von hoher Bedeutung waren und immer noch sind.15 Die Genese der Sammlungen erfolgte nach dem Kriterium der Ausstellungswürdigkeit. Die Münchener Museumsleitung etwa sammelte hauptsächlich mit dem Ziel, die aufgrund von „Wunschlisten“ führender Experten aus Naturwissenschaft und Technik eingeworbenen Objekte zur Ausstellung zu bringen. In der unmittelbaren Aufbauphase um 1905 hielt man noch ca. 7.000 Objekte für ausreichend, um die in 45 Fachgebiete gegliederten Ausstellungen mit den im vollen Namen des Museums verheißenen „Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik“ zu bestücken.16 Die Eigendynamik der Sammlungstätigkeit sollte sich allerdings bald über diese ursprüngliche Zielsetzung hinwegsetzen und ein Depot zur Aufnahme der eingeworbenen Objekte erforderlich machen.

Europa als museologischer Diskursraum Die strukturelle Ähnlichkeit unter den europäischen Technikmuseen resultierte vor allem auch aus einem dichten, europaweiten museologischen Diskurs. Die kleine Expertengruppe der Museumsleiter tauschte sich über Staatsgrenzen hinweg intensiv aus. So holte sich der Gründer des Deutschen Museums, Oskar von Miller, wesentliche Anregungen aus Frankreich und England, bevor er in München seine eigene innovative Verknüpfung von historischen Originalen und interaktiven Demonstrationen und Experimenten realisierte. Auch nach der Museumsgründung brachte er von seinen Treffen mit weltweit verstreuten Museumskollegen zahllose Ideen mit, die er für die Weiterentwicklung seines Hauses nutzte.17 Auch umgekehrt wirkte das Münchener Museum weltweit als Vorbild für viele Neugründungen, wie zum Beispiel für das schon erwähnte Technische Museum Wien und 15 Gottfried Korff [2000] 2002: Speicher und/oder Generator. Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im Museum. In: ders., Martina Eberspächer, Gudrun M. König, Bernhard Tschofen und Bodo M. Baumunk (Hg.): Museumsdinge. Deponieren – Exponieren. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 167– 178. 16 Der offizielle Gründungsname lautete: „Deutsches Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik“. Wilhelm Füßl 2003: Gründung und Aufbau, 1903–1925. In: ders. und Helmuth Trischler (Hg.): Geschichte des Deutschen Museums. Akteure, Artefakte, Ausstellungen. München: Prestel, 59–101, hier 83; ausführlich zur Objektkultur um die Jahrhundertwende Ulf Hashagen, Oskar Blumtritt und Helmuth Trischler (Hg.) 2003: Circa 1903. Artefakte in der Gründungszeit des Deutschen Museums. München: Oldenbourg. 17 Wilhelm Füßl 2005: Oskar von Miller: 1855–1934 – Eine Biographie. München: Beck.

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das Londoner Science Museum. Diese Orientierung internationaler Museen aneinander verstärkte die personellen Querverbindungen in den Entscheidungsgremien. Die Museumsdirektoren konnten sich auf den periodischen Jahresversammlungen aus erster Hand über die neuesten Entwicklungen an ihren ausländischen „Schwestermuseen“ informieren. Manchmal „kippte“ das Vorbild und verlangte ein Umdenken, so zum Beispiel als der Wiener Museumsgründer Wilhelm Exner seine an München gerichtete Warnung vor einer enzyklopädischen Museumspraxis aussprach, da diese nur den „Gelehrsamkeitsdrang“ befriedige und zur Anhäufung zu vieler technischer Artefakte führe.18 Auch unter den Sammlungskulturen und den daraus erwachsenen Wissensordnungen der europäischen Technikmuseen fällt ein hohes Maß an Übereinstimmung auf. Die Parallelen sind insofern nicht verwunderlich, als sich die Museen gegenseitig beobachteten und die Direktoren jeweils aufeinander Bezug nahmen, um Entscheidungen zu rechtfertigen. Die Intensität dieses Gesprächs zwischen den Museen verdeutlicht eine Episode aus dem Jahr 1931, als Henry Lyons, der Direktor des Londoner Science Museums, zum wiederholten Mal das Münchener Schwestermuseum besichtigte. Lyons erachtete die in München gewählte räumliche Anordnung der Sammlungen als vorbildhaft für die von ihm beabsichtigte Neukonzeption des Science Museums als dreidimensionale Enzyklopädie der Naturwissenschaft und Technik.19

Zwischen Vergangenheits- und Zukunftsorientierung Zu den gemeinsamen Strukturmerkmalen der europäischen Technikmuseen gehört schließlich die konstitutive Spannung zwischen historischer und Zukunftsperspektive. Sie lag bereits in dem Umstand beschlossen, dass die Technikmuseen jeweils über diversifizierte, historisch gewachsene Bestände verfügten. In Paris und London ist dies offensichtlich, es galt aber auch für das Prager und das Münchener Museum – dessen Erstbestand bei der Gründung war die Instrumentensammlung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Besonders instruktiv ist hier der Fall des Wiener Technikmuseums, das neben Resten der Habsburgischen Kunst- und Wunderkammer ein Konglomerat aus industriegeschichtlich bedeutenden Sammlungen übernahm, darunter das k. k. National-Fabriksprodukten-Kabinett, das k. k. Technologische Gewerbe-Museum, das k. k. Gewerbe-hygienische Museum, das Postmuseum und das Eisenbahnmuseum.20 Die Verknüpfung von Geschichte, Gegenwart und Zukunft war dem neuen Typ des Technikmuseums tief eingeschrieben und wurde sowohl in München als auch in Wien im ersten Abschnitt der Satzung festgelegt. In Wien etwa war es die Hauptaufgabe des 18 Lackner/Jesswein/Zuna-Kratky 2009: 111. 19 Robert Bud 2010: Collecting for the Science Museum. Constructing the Collections, the Culture and the Institution. In: Morris: Science for the Nation, 250–272. 20 Lackner/Jesswein/Zuna-Kratky 2009: 32–99.

Ein neuer Museumstyp im Europa des frühen 20. Jahrhunderts

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Museums, „einerseits die Hauptepochen in der Entwicklung von Industrie und Gewerbe im 19. Jahrhundert“ darzustellen und andererseits „die neuesten und bewährten Errungenschaften“ vorzuführen.21 In München schrieb Prinz Ludwig von Bayern dem Deutschen Museum bei der Eröffnungsveranstaltung 1906 ins Stammbuch, es solle „nicht nur retrospektiv […], sondern der Gegenwart und der Zukunft gedenkend“ wirken.22 Ähnlich setzte sich das Prager Technische Museum das doppelte Ziel, „die historische Entwicklung, wie auch den gegenwärtigen Zustand der technischen und Naturwissenschaften“ zu dokumentieren; und es sah seine vornehmste Aufgabe darin, „ein Bild über die modernen Errungenschaften und neuen Erfindungen im Umfeld der technischen Wissenschaften“ zu vermitteln.23 Die Kombination von Geschichte, Gegenwart und Zukunft im öffentlichen Repräsentationsraum des Museums erscheint uns heute selbstverständlich. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sie radikal neu, wie Robert Bud jüngst herausgearbeitet hat; in ihr kam die angespannte Bemühung zum Ausdruck, „to define what constituted the past, present and future“.24 Der Rückbezug auf die Geschichte unterstreicht die Strategie der technischen Eliten, ihren fragilen gesellschaftlichen Status durch die Aneignung des im bürgerlichen Europa des frühen 20. Jahrhunderts vorherrschenden Historismus zu erhöhen. In technischen Entwicklungsreihen, einem innovativen Konzept, das sich in fast allen Technikmuseen rasch durchsetzte, wurden dabei Geschichte und Zukunft, der historische Referenzraum und das Ideal des linearen Fortschritts der Technikwissenschaften miteinander verschmolzen. Der Entwurf einer Vitrine zur Entwicklung der Schreibmaschinentechnik im Deutschen Museum zeigt (Abb. 1), dass die Präsentation technischer Geräte dabei nur scheinbar wertfrei geriet. Die Besucher sollten von rechts an die Vitrine treten, um die technische Entwicklungsreihe beginnend bei der ersten Remington aus dem Jahr 1877 bis zum neuesten Modell von 1903 nachvollziehen zu können. Das Museum bezog mit der Unterscheidung „erstklassiger“ und „zweitklassiger“ Maschinen im noch offenen Innovationswettlauf in der Schreibmaschinentechnik deutlich Stellung. Das neue Konzept der historischen Entwicklungsreihe im Museum übertrug den damals einflussreichen Evolutionismus in Biologie und Ethnologie auf die Welt der technisch-wissenschaftlichen Museen.25

21 Ebd.: 111. 22 Zit. nach Albert Stange 1906: Das Deutsche Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik in München. Historische Skizze. München: Oldenbourg, 12. 23 Hozák 1997: 17. 24 Robert Bud 2013: Embodied Odysseys. Relics of Stories about Journeys through Past, Present, and Future. Studies in the History and Philosophy of Science, 44, 639–642, hier 640. 25 Vgl. auch den Beitrag von Claudia Stein in diesem Band zur Definition des hygienischen Objekts aus historisch-ethnologischer Sicht in der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden.

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Abb. 1: Entwurf des Deutschen Museums für eine Vitrine zur Entwicklung der Schreibmaschinentechnik vom Mai 1906 (Deutsches Museum Archiv, BN CD 51888).

Der dezidierte Rückgriff auf historische Vorläufer führte zudem zum Gebrauch von Bezeichnungen wie „technisches Meisterwerk“ oder „technisches Kulturdenkmal“, die in Anlehnung an die Kunstgeschichte geprägt wurden. Anders als die Objekte, die modellhaft oder illustrativ technisches Basiswissen vermitteln und den Erfindungsgeist der Betrachter anregen sollten, erinnerten die sogenannten technischen Meisterwerke und technischen Kulturdenkmäler an die schöpferischen Leistungen vergangener Erfinder- und Wissenschaftlergenerationen. Als unersetzliche Reliquien der Technikgeschichte verkörperten sie die einzigartige Kreativität der Forscher und Ingenieure. Technische Meisterwerke wurden den Besuchern in eigens dafür hergerichteten Ehrensälen vor Augen geführt. Technische Kulturdenkmäler mussten dagegen als Zeugnisse technikgeschichtlicher Leistungen an ihrem Entstehungsort geschützt werden. Nicht von ungefähr nahm die Bewegung zur Erhaltung und Sicherung technischer Kulturdenkmale im Deutschland der Zwischenkriegszeit ihren Ausgang von den Technikmuseen. Historisches Wissen erwies sich dabei als Schlüsselressource, um die dinglichen Manifestationen technischer Kultur für die Zukunft zu bewahren.26 26 Ulrich Linse 1986: Die Entdeckung der technischen Denkmäler. Über die Anfänge der „Industriearchäologie“ in Deutschland. Technikgeschichte, 53, 201–222; Uwe Beckmann 1996: Technische Kul-

Ein neuer Museumstyp im Europa des frühen 20. Jahrhunderts

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Abb. 2: Blick in die Ausstellung Telegraphie und Telefonie des Deutschen Museums um 1912 (Deutsches Museum Archiv, BN CD 51878).

Hier zeigt sich einmal mehr, dass das frühe 20. Jahrhundert für die Museen generell eine Modernisierungs- und Reformphase war, in der allenthalben mit neuen Ausstellungsinstrumenten experimentiert wurde.27 In dieser Phase entstanden neben Sammlungen historischer Originale auch speziell für die einzelnen Museen hergestellte Objektgruppen, die deren doppelter Zwecksetzung entsprachen, Fachwissen über die aktuellen Entwicklungen in Naturwissenschaft und Technik zu vermitteln und es in historische Kontexte einzuordnen. In den Ausstellungen standen Originale neben Modellen und Nachbildungen, Rekonstruktionen neben aufwendig gestalteten Dioramen und Texte neben Bildern und Grafiken. Das Beispiel der Ausstellungen im Deutschen Museum (Abb. 2) zeigt, dass der historische Kontext dabei häufig über Gemälde (in der Abbildung das Dampfschiff Faraday der Brüder Siemens bei der Verlegung eines transatlantischen Kabels im turdenkmale als Objekte technischer Kultur bei deutschen Ingenieuren und Heimatschützern. In: Burkhard Dietz, Michael Fessner und Helmut Maier (Hg.): Technische Intelligenz und „Kulturfaktor Technik“. Kulturvorstellungen von Technikern und Ingenieuren zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik Deutschland. Münster: Waxmann, 177–188. 27 Alexis Joachimides 2001: Die Museumsreformbewegung in Deutschland und die Entstehung des modernen Museums 1880–1940. Dresden: Verlag der Kunst. Für das Folgende verdanke ich Stefan Siemer wichtige Hinweise.

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Jahr 1873/74) oder Porträts vermittelt wurde. Die neue, vielfältig gegliederte Objektkultur überspannte den Gegensatz von dinglicher Authentizität und Rekonstruktion, historischer Perspektive und Zukunftsorientierung. Aus dieser doppelten Spannung ergaben sich auch institutionelle Innovationen jenseits des sammlungsbezogenen Technikmuseums. Als gutes Beispiel für eine solche Innovation kann das 1937 eröffnete Palais de la Découverte gelten. Wieder stand eine Weltausstellung Pate, als das Palais aus der Exposition Internationale des arts et des techniques dans la vie moderne hervorging. Für die beiden Initiatoren, in erster Instanz den Atomphysiker Jules Perrin sowie seinen Physikerkollegen Paul Langevin, war das Palais ein Museum der Zukunft in der Gestalt eines Gegenwartsmuseums der Moderne. In bewusster Abgrenzung gegenüber dem traditionsreichen, sammlungsbasierten Conservatoire National des Arts et Métiers, das durch die Bezeichnung „Louvre“ als ein Museum der Vergangenheit verhöhnt wurde, sollten im „modernen Wissenschaftsmuseum“ die aktuellen Naturwissenschaften im Mittelpunkt stehen. In Anlehnung an den französischen Reformpädagogen Célestin Freinet wurden Mitmachexperimente entwickelt, die die Besucher mit neuesten audiovisuellen Techniken zum eigenständigen Forschen und Entdecken einluden. Noch vor der offiziellen Eröffnung lancierten die Museumsgründer eine Pressekampagne, die das Palais im Vergleich zu den anachronistischen Technikmuseen des Auslands als modernes, zukunftsorientiertes Wissenschaftsmuseum anpries.28 Auch im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden finden sich um die gleiche Zeit zahlreiche Elemente, die einen historischen, sammlungsbezogenen Ansatz mit einer durch die Naturwissenschaften vorgegebenen Zukunftsperspektive verbinden. In ihren Ausstellungen vereinten die Museen in London, München und Wien bereits seit ihrer Gründung im frühen 20. Jahrhundert historische Objekte mit partizipatorischen Knopfdruckversuchen, die sie rückblickend als hybride Institutionen ausweisen. Die Museumsgeschichte geht weder auf in der Dichotomie von klassischem Technikmuseum und modernem Science Center noch in einer linear konstruierten Abfolge verschiedener Museumstypen, die mit dem heute vermeintlich zum Aussterben verurteilten Saurier des Technikmuseums im frühen 20. Jahrhundert beginnt.29

28 Jaqueline Eidelman 1985: The Cathedral of French Science. The Early Years of the Palais de la Découverte. In: Terry Shinn und Richard Whitley (Hg.): Expository Science. Forms and Functions of Popularization. Dordrecht: Kluwer, 195–207; dies. und Odile Welfelé 1990: Les archives du Palais de la Découverte. Paris: CNRS. 29 Exemplarisch James M. Bradburne 1998: Dinosaurs and White Elephants. The Science Center in the Twenty-first Century. Public Understanding of Science, 7, 237–253.

Claudia Stein

Die „Geschichte der Hygiene“ in der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden

Eine der großen Publikumsattraktionen auf der ersten großen Hygiene-Ausstellung in Dresden war die Historische Abteilung mit ihrer ethnologischen Unterabteilung. Ähnlich wie die Populäre Abteilung Der Mensch erfreute sie sich der besonderen Gunst der Besucher. Tatsächlich gab es hier eine Menge zu sehen: Binnen knapp zwei Jahren hatte ein Expertenteam aus Medizinern, Historikern, Archäologen, Ethnologen, Kunsthistorikern, Architekten, Modellbauern, Kunstmalern und Fotografen – bei der Eröffnung der Ausstellung zählte man 181 Mitarbeiter – über 20.000 Objekte aus deutschen und internationalen Sammlungen entliehen, erworben oder als Modelle in den eigenen Dresdener Werkstätten gefertigt.1 Auf einer ca. 2.400 m2 großen Ausstellungsfläche waren die Objekte dann in über 70 Sälen, Hallen und Korridoren als großer Rundgang durch die „Geschichte der Hygiene“ arrangiert worden (Abb. 1). Der Rundgang durch die Historische Abteilung führte den Besucher durch vier Hygienezeitalter: Ur- und Frühgeschichte, klassische Antike, Mittelalter und Neuzeit (bis 1850). Geordnet nach einzelnen Kulturvölkern2 oder Kulturkreisen3, unterteilte sich jede Epoche weiter in thematische Gruppen und Untergruppen. 1 Eine Liste der Angestellten zum Zeitpunkt der Ausstellungseröffnung findet sich in Historische Abteilung mit Ethnographischer Unterabteilung. Internationale Hygiene-Ausstellung 1911. 2., verb. und illustr. Aufl. Dresden: Internationale Hygiene-Ausstellung 1911, XVII. Bei diesem Artikel handelt es sich um eine verkürzte Fassung von Claudia Stein 2013: Organising the History of Hygiene at the Internationale Hygiene. NTM. Zeitschrift für die Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin. Neue Serie, 21, 355-387. Der Name der Unterabteilung der Historischen Abteilung variiert teilweise sogar in den gleichen Quellen zwischen ethnologisch und ethnographisch. Beide Begriffe wurden zu dieser Zeit noch nicht streng unterschieden. 2 Nach der anthropologischen und ethnologischen Kulturtheorie des 19. Jahrhunderts besaßen nur die sogenannten Kulturvölker (dazu wurden die Griechen, Römer, Japaner und Chinesen gezählt) Schrift und somit eine nachvollziehbare kulturelle Entwicklung. „Naturvölker“ ohne schriftliche Überlieferung besäßen folglich auch keine Geschichte oder Kultur. Zur jüngeren Geschichte dieser Unterscheidung vgl. u.a. Andrew Zimmermann 2001: Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany. Chicago/London: University of Chicago Press. 3 Der Ethnologe Leo Frobenius (1873–1938) führte den Begriff des Kulturkreises ein. Die Kulturkreistheorie beeinflusste zu Anfang des 20. Jahrhunderts besonders jüngere Ethnologen. Sie basierte auf der Vorstellung eines gemeinsamen Ursprungs aller Kulturen und hinterfragte die tradierte Leitdifferenz zwischen Natur- und Kulturvölkern. Martin Rössler 2007: Die deutschsprachige Ethnologie bis

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In Sälen, Gängen und Hallen hingen vom Boden bis zur Decke Bilder, Zeichnungen, Fotografien und Objekte (Abb. 2–5).4 Zerbrechliche Objekte, etwa prähistorisches Kochgeschirr, griechische und römische Toilettenartikel oder seltene Schriftdokumente wurden geschützt in Vitrinen gezeigt. Frei im Raum standen dagegen originale antike Skulpturen, ägyptische Mumien sowie Modelle mittelalterlicher Krankenhäuser, Schiffe oder römischer Heizungsanlagen. Jedes einzelne Objekt war mit einer Registernummer, dem Namen des Entleihers sowie praktischen Angaben zur Verkäuflichkeit versehen. So erwarb zum Beispiel der Basler Sammler O. Hauser nach Abb. 1: Grundriss der Historischen Abteilung Beendigung der Ausstellung die vollstänmit ethnologischer Unterabteilung im Steindige Prähistorische Abteilung.5 palast (Offizieller Katalog der Internationalen Die Historische Abteilung endete mit Hygiene-Ausstellung Dresden Mai bis Oktober 1911. Berlin: Rudolf Mosse, 39). dem Raum des islamischen Kulturkreises, durch den der Besucher die ethnologische Unterabteilung betrat. Im Vergleich zur Historischen Abteilung war sie mit nur 22 Räumen wesentlich kleiner. Obwohl für sie kein eigener Katalog existierte, wissen wir, dass sie in drei Kulturkreise – Südostasien, Ostasien und Mesoamerika – unterteilt war, die wiederum nach Hygienethemen und -gebieten in Gruppen und Untergruppen geordnet waren.6 Wenn man bedenkt, dass jedes der ausgestellten Objekte zunächst in deutschen oder internationalen Sammlungen lokalisiert und entliehen (oder gekauft), anschließend nach Dresden transportiert oder aber dort als Modell rekonstruiert werden musste, so stellt die Historisch-Ethnologische Abteilung eine logistische Meisterleistung dar. Wie wurde dieses riesige Unternehmen möglich? Wer waren die Verantwortlichen? Wo lagen die Hauptprobleme bei der Konzeption, Planung und Durchführung eines derart ambitioca. 1960. Ein historischer Abriss. Cologne Working Papers in Cultural and Social Anthropology, 1, 1–29; Zimmermann 2001: 201–216. 4 Der Sonderkatalog der Historischen Abteilung verzeichnet insgesamt 20.394 Objekte. Die Anzahl der ethnologischen Objekte ist leider unbekannt, vgl. Historische Abteilung mit Ethnographischer Unterabteilung 1911. 5 Ebd.: 5 f. Alle Bilder in der Galerie berühmter Ärzte und Naturwissenschaftler waren ebenfalls käuflich (ebd.: 525 f.). 6 Einen Eindruck dieser Abteilung vermitteln die entsprechenden Abschnitte im offiziellen Katalog und Führer der Gesamtausstellung: Offizieller Katalog 1911, 41–77 und Offizieller Führer durch die Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden 1911 und durch Dresden und Umgebung. Berlin: Rudolf Mosse, 25–36.

Die „Geschichte der Hygiene“ in Dresden

Abb. 2: Mumien im ägyptischen Raum (Historische Abteilung mit ethnologischer Unterabteilung 1911, unpag., reproduziert mit freundlicher Genehmigung der Wellcome Library London).

Abb. 3: Gang durch die Antike (ebd., unpag., reproduziert mit freundlicher Genehmigung der Wellcome Library London).

Abb. 4: Die Räume der „Krankheitsbekämpfung“ in der Neuzeit (ebd., unpag., reproduziert mit freundlicher Genehmigung der Wellcome Library London).

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Abb. 5: Blick in den Raum der Nordamerikanischen Indianer der ethnologischen Unterabteilung (Fotodokumentation der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden, Bild 55, Sammlung Deutsches HygieneMuseum, 2001/195.55).

nierten Ausstellungsprojektes? Wer sich schon einmal mit historischen Ausstellungen beschäftigt hat, weiß, dass es aufgrund fehlender Archivalien nahezu unmöglich ist, die Organisation einer solchen Veranstaltung zu rekonstruieren. Daher ist das Material, das sich diesbezüglich für die Historisch-Ethnologische Abteilung der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 im Universitätsarchiv Leipzig erhalten hat, umso wertvoller. Es handelt sich um die Korrespondenz des Vorsitzenden der Abteilung, des Medizinhistorikers Karl Sudhoff (1853–1938), mit seinen Mitarbeitern sowie dem Hauptorganisator der Gesamtausstellung, dem Dresdener Odolfabrikanten Karl August Lingner (1861–1916), die sich im Nachlass Sudhoffs im Universitätsarchiv Leipzig befindet. Diese Briefe zeigen die täglichen, oftmals banalen Auseinandersetzungen rund um die Realisierung eines Projekts dieser Größe. Die Quellen belegen, wie das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Charaktere, Erkenntnisinteressen und Organisationskulturen die spezifische Präsentation dieser Abteilung geprägt haben.

Das Organisationsteam Karl Sudhoff war Ende Mai 1909 zum Vorsitzenden der Historisch-Ethnologischen Abteilung ernannt worden und vertrat somit deren Belange auf allen offiziellen Versammlungen und Besprechungen.7 Für Lingner, der großen Wert darauf legte, sein 7 Direktion an Sudhoff am 26. Mai 1909. Ich danke Ulf-Norberg Funke für eine digitale Kopie dieses Briefes. Seinen Angaben zufolge stammt dieser aus dem Karl-Sudhoff-Institut in Leipzig. Das Institut hat den Nachlass Sudhoffs an das Universitätsarchiv Leipzig abgegeben. Dort ist der Brief allerdings nicht auffindbar.

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Ausstellungsprojekt in der Öffentlichkeit „wissenschaftlich“ erscheinen zu lassen, war Sudhoff die ideale Besetzung. Seit 1905 Professor der Medizingeschichte an der Leipziger Universität, leitete er ein eigenes Institut, das sich bald zum internationalen Zentrum der Medizingeschichte entwickeln sollte.8 In akademischen Kreisen hatte er sich mit seinen kenntnisreichen philologischen Arbeiten über Medizin der Antike und des Mittelalters bereits einen Namen gemacht. Darüber hinaus versuchte er seiner jungen Disziplin zu mehr Akzeptanz und Ansehen zu verhelfen und ergriff daher jede Gelegenheit, seine Sache in der Öffentlichkeit durch populäre Vorträge oder Zeitungsartikel zu vertreten. Hilfreich war in dieser Hinsicht auch, dass er im Gegensatz zum Großteil seiner akademischen Kollegen in der Geschichtswissenschaft, die sich in erster Linie als Philologen sahen, sehr an der Vermittlung historischer Inhalte durch visuelle und materielle Objekte interessiert war. Die Zusammenarbeit mit Spezialisten benachbarter Disziplinen wie der Archäologie oder der Kunstgeschichte betrachtete Sudhoff daher nicht nur als anregend, sondern als notwendig.9 Zum Zeitpunkt der Übernahme der Abteilungsleitung hatte er schon einige praktische Erfahrung in der Organisation von Ausstellungen zu Themen der Medizingeschichte gesammelt.10 Mit der täglichen Organisation und Planung der Abteilung war Sudhoff jedoch weniger befasst. Bei den Verhandlungen zur Übernahme des Abteilungsvorsitzes hatte er sich ausbedungen, die Leitung von Leipzig aus führen zu dürfen.11 Er reiste nur zu wichtigen Besprechungen persönlich nach Dresden. Lingner war auf diese Bedingung eingegangen, denn für die örtliche Organisation hatte er schon einen anderen Mann an der Hand: den Münchener Augenarzt Otto Neustätter (1871–1943). Lingner hatte Neustätter 1905 in München kennen- und schätzen gelernt, als seine Sonderausstellung Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung dort gastierte.12 Angesteckt von Neustätters sozial­ 8 Fast alle führenden Medizinhistoriker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind durch Sudhoffs Leipziger „Schule“ gegangen, vgl. Claudia Stein 2013: Divining and Knowing. Karl Sudhoff ’s Historical Method. Bulletin of the History of Medicine, 87, 198–224, hier 199. 9 Stein 2013: Divining, 207 f. 10 1898 organisierte er eine erfolgreiche Ausstellung anlässlich der 70. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte im Düsseldorfer Kunst- und Gewerbemuseum. Ein Jahr später kuratierte er in der Kunstakademie Düsseldorf eine Ausstellung über Johann Wolfgang von Goethes Aufenthalt im Rheinland. 1906 war er für eine kleine historisch-ethnologische Ausstellung anlässlich der Eröffnung des Kaiserin Friedrich-Hauses in Berlin verantwortlich, einer Fortbildungsstätte für die deutsche akademische Ärzteschaft. Mehr Informationen über diese Ausstellungen in: Stein 2013: Organising, 355–387. 11 Das Direktorium stimmte diesen Forderungen in einem Schreiben vom 10. Juni 1909 zu. Ich danke wiederum Ulf-Norbert Funke für eine digitale Kopie dieses Briefes, der im Universitätsarchiv Leipzig leider nicht lokalisiert werden konnte. 12 Beide waren aktive Mitglieder im Deutschen Verein für Volkshygiene. Vgl. zum Verein allgemein Cornelia Regin 1995: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889– 1914). Stuttgart: Franz Steiner, 305–317; vgl. auch zu Lingners Sonderausstellung und seinem Ansatz der visuellen Gesundheitsaufklärung Christine Brecht 1999: Das Publikum belehren – Wissenschaft zelebrieren. Bakterien in der Ausstellung „Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung“ von 1900. In: Christoph Gradmann und Thomas Schlich (Hg.): Strategien der Kausalität. Konzepte der Krankheitsverursachung. Pfaffenweiler: Centaurus Verlag, 53–76; Sybilla Nikolow und Christine Brecht 2000:

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reformerischen Ideen zur allgemeinen Verbreitung der Hygiene, seinen Sprachkenntnissen und internationalen Kontakten, bot Lingner ihm an, bei der Planung und Organisation der Historisch-Ethnologischen Abteilung seines großen internationalen Ausstellungprojekts mitzuwirken.13 Neustätter willigte ein und übersiedelte Anfang 1909 mit seiner Familie nach Dresden-Hellerau. Sein Gehalt bezog er direkt aus Lingners Privatvermögen. Zunächst sammelten Sudhoff und Neustätter ethnologische und historische Objekte gleichermaßen. Insbesondere Neustätter, der neben der Sammeltätigkeit noch viele zeitraubende Treffen mit Lingner und anderen Abteilungsleitern zu absolvieren hatte, musste sich aber Ende des Jahres 1909 eingestehen, dass die Aufgabe einfach zu groß geworden war. Seine Objektakquise ging schleppend voran, was ständige Auseinandersetzungen mit Lingner zur Folge hatte.14 Im Gegensatz zu Sudhoff, der aufgrund seiner früheren Ausstellungen auf bereits bestehende Kontakte zu privaten Sammlern und Museumsleitern zurückgreifen konnte, war der Arzt Neustätter ein Neuling in diesem Geschäft. Er verbrachte Wochen in den Dresdener Bibliotheken, um die Namen und Adressen potentieller deutscher und internationaler Leihgeber aus öffentlichen Adressbüchern zu entnehmen.15 Zudem hatte er damit zu kämpfen, dass die Leiter der regionalen ethnologischen Museen und Sammlungen dem Projekt zunehmend kritisch gegenüber standen.16 Letzteres verhieß ein schwerwiegendes finanzielles und logistisches Problem, hatten Sudhoff und er doch ursprünglich gehofft, den Großteil des benötigten ethnologischen Materials für ihre Abteilung in Dresden selbst oder im nahegelegenen Leipzig entleihen zu können. Die Leiter der örtlichen ethnologischen Sammlungen weigerten sich, ihre Objekte zwei ethnologischen Laien anzuvertrauen. Sie befürchteten auch eine zusätzliche finanzielle und arbeitsmäßige Belastung für ihre eigenen Institutionen.17 Außerdem wollte man sich keine zusätzliche Konkurrenz in die Stadt holen. Angesicht der knappen Ressourcen für ethnologische Institutionen, die, wie das Fach selbst, zu diesem Zeitpunkt immer noch um wissenschaftliche Anerkennung und ihren

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Displaying the Invisible. „Volkskrankheiten“ on Exhibition in Imperial Germany. Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, 31, 4: 511–530. Vgl. zu Neustätters späterer Tätigkeit am Deutschen Hygiene-Museum den Beitrag von Thomas Steller in diesem Band. Lingner berichtete über den Beginn seiner Bekanntschaft mit Neustätter in einem Schreiben an die Direktion. Vgl. Geheimes Schreiben Lingners an die Direktion vom 18. November 1909 (Universitätsarchiv Leipzig [im Folgenden UAL], Medizinische Fakultät [im Folgenden Med. Fak.], D 05/04b, fol. 140). Näheres zu den Problemen in: Stein 2013: Organising, 370, 371 f. Undat. Brief von Neustätter an Sudhoff [ca. Oktober 1909] (UAL, Med. Fak., D 05/03, fol. 84). Brief von Neustätter an Sudhoff vom 24. März 1910 (UAL, Med. Fak., D 05/04a, fol. 92). Vgl. beispielsweise die Auseinandersetzungen mit Kurt Weule, dem Direktor des Leipziger Völkerkundemuseums, und Arnold Jacobi, dem Leiter des Königlich Zoologischen und AnthropologischEthnographischen Museums in Dresden: Stein 2013: Organising, 365.

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Platz in der Öffentlichkeit kämpfen mussten, ist die Ablehnung der Sammlungsleiter im Rückblick nachvollziehbar.18 Um die Zusammenarbeit mit ethnologischen Institutionen zu erleichtern, bemühten sich Sudhoff und Neustätter daher um die Anstellung eines ausgebildeten Ethnologen. Die Suche gestaltete sich jedoch äußerst schwierig. Der nach langem Suchen angestellte Doktorand der Medizin Richard Goldschmidt, der erste ethnologische Erfahrungen im Leipziger Völkerkundemuseum gesammelt hatte, erwies sich fachlich und im Umgang als problematisch und wurde nach nur kurzer Zeit von Lingner persönlich entlassen.19 Erst im Frühsommer 1910, ein knappes Jahr vor der geplanten Eröffnung der HistorischEthnologischen Ausstellung, gelang es, den Berliner Ethnologen Ferdinand von Reitzenstein (1876–1929) zu engagieren.20 Von Reitzenstein kam aus dem Berliner Völkerkundemuseum und war bereits mit eigenen Forschungen über die Geschichte der Sexualität (insbesondere der Frau) hervorgetreten. Ähnlich wie Sudhoff und Neustätter lag ihm an der populären Vermittlung dieser Themen. Seine Schriften über die Geschichte der Ehe waren Bestseller. Er war ein Verfechter der Frauenrechte, aktives Mitglied mehrerer Frauenverbände und pflegte enge Kontakte zu Sexologen wie Magnus Hirschfeld (1868–1935) und Iwan Bloch (1872–1922). Man darf annehmen, dass von Reitzenstein, ähnlich wie Neustätter, seine Mitarbeit an der Ausstellung nicht nur als Chance ansah, einem breiten Publikum historisches und ethnologisches Wissen über Hygiene zu vermitteln, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Reform der deutschen Gesellschaft zu leisten.21

Was ist ein „hygienisches“ Ausstellungsobjekt? Neben den personellen und logistischen Schwierigkeiten sahen sich Neustätter und Sudhoff von Anfang an mit einem fundamentalen konzeptionellen Problem konfrontiert. Es stellte sich schnell heraus, dass den meisten potentiellen Leihgebern nicht klar war, was ein historisches Objekt der Hygiene eigentlich ausmachte. Wie sollten sie es in ihren 18 Vgl. zu den ethnologischen Museen und ihrer Stellung in der Gesellschaft und Wissenschaft des Deutschen Kaiserreichs Glenn H. Penny 2002: Objects of Culture. Ethnology and Ethnographic Museums in Imperial Germany. Chapel Hill: University of North Carolina Press. 19 Zu Details der Affäre Goldschmidt vgl. Stein 2013: Organising, 366 f. 20 Zu Reitzenstein vgl. Andreas Pretzel 1996: Ferdinand Freiherr von Reitzenstein – Lebensgeschichte, Werk und Wirkung eines Kulturanthropologen, der sich der Sozialwissenschaft verschrieb. Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 22/23, 13–50; ders. 1996: Ferdinand von Reitzenstein (1876–1929): Bibliographie und Rezensionen. Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 22/23, 51–66. 21 Auf Sudhoff scheint das nicht zuzutreffen. Vgl. zu Sudhoffs politischen Ansichten Thomas Rütten 2004: Karl Sudhoff and „the Fall“ of German Medical History. In: Frank Huisman und John Harley Warner (Hg.): Locating Medical History. The Stories and their Meaning. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 95–114.

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nach völlig anderen Prinzipien und Wissenskategorien geordneten archäologischen, kultur- oder kunsthistorischen Sammlungen identifizieren? Und was hatten ihre Objekte überhaupt mit einer Hygiene-Ausstellung gemeinsam, die ihrer Ansicht nach dem Bereich der Medizin und Naturwissenschaften zuzurechnen war und nicht demjenigen der Geisteswissenschaften? Immer wieder war Neustätter in seinen persönlichen Gesprächen mit Museumsdirektoren, Kuratoren und privaten Sammlern mit diesen Fragen konfrontiert worden.22 Er drängte daher darauf, dem vorläufigen Programm, an dem er und Sudhoff seit Sommer 1909 arbeiteten, „Erläuternde Vorbemerkungen“ vorauszuschicken, in denen er dieses konzeptionelle Problem direkt ansprechen wollte, um späteren Missverständnissen vorzubeugen. Dies erschien umso dringlicher, als sich auch im eigenen Haus zunehmend Unmut in Bezug auf die neue Abteilung breitmachte. Insbesondere Lingner kam die Arbeit hier zu langsam voran. Er fand, Neustätter arbeite ohne Plan und habe kaum Erfolge zu verbuchen, weshalb er zunehmend befürchtete, dass womöglich noch die ganze Abteilung in einem kolossalen Misserfolg enden würde.23 Lingners Zweifel und seine zunehmend kritische Haltung gegenüber Neustätter blieben aufgrund der wöchentlichen Abteilungssitzungen kein Geheimnis, und schon bald versuchten andere Abteilungsleiter den Dissens der beiden für sich zu nutzen. Es wurde sogar vorgeschlagen, die ganze Historisch-Ethnologische Abteilung einfach aufzulösen und die bisher gesammelten Objekte über die anderen Abteilungen zu verteilen. Eine Initiative, so schrieb Neustätter nach einem Abteilungstreffen aufgebracht an Sudhoff, die er nur in letzter Sekunde habe verhindern können.24 Das vorläufige Programm und die „Erläuternden Vorbemerkungen“, die Neustätter Ende 1909 endlich versenden konnte, hatten also nicht nur zum Ziel, interessierte Leihgeber anzusprechen und deren Bedenken zu zerstreuen. Sie sollten auch Lingners Pessimismus besänftigen und die immer häufigeren Übergriffe anderer Abteilungen abwehren. Die „Erläuternden Vorbemerkungen“ begannen mit der Darstellung des konzeptionellen Problems. Sudhoff und Neustätter gaben zu, dass es sich bei dem Thema der Ausstellung um etwas ganz Neues handle, was natürlich Verständnisprobleme mit sich brächte, „insbesondere dadurch, dass der Gesichtspunkt der Hygiene den meisten derjenigen noch fremd ist, die sich mit dem Studium oder dem Sammeln von kulturgeschichtlichem Material befassen“.25 Um dieses Unverständnis auszuräumen, sei zunächst „Hygiene im geschichtlichen Sinne“ zu definieren. Darunter falle im engeren Sinne alles, was man unter moderner Hygiene und Medizinalpolizei verstehe, also der persönliche und öffentliche Schutz vor Krankheit. Im weiteren Sinne verstehe man unter Hygiene 22 Ein Beispiel dafür ist Neustätters Austausch mit dem Bonner Professor für Kunstgeschichte Paul Clemen, vgl. Brief von Neustätter an Sudhoff vom 1. November 1909 (UAL, Med. Fak., D 05/03, fol. 91). 23 Näheres hierzu in: Stein 2013: Organising, 370–372. 24 Brief von Neustätter an Sudhoff vom 9. September 1909 (UAL, Med. Fak., D 05/03, fol. 85). 25 Zum Folgenden vgl. Internationale Hygiene-Ausstellung (Hg.) o. J. [1909]: Historische Abteilung. Programm. Dresden: Dr. Güntzsche Stiftung, 19.

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aber auch alle vorbeugenden Maßnahmen, die auf die Verhinderung von Krankheiten zielten, etwa die Isolierung von Kranken, die Unschädlichmachung ihrer Auswurfstoffe, die Desinfektion von Kleidung und Wohnräumen, sowie ganz allgemein die Reinlichkeit und Kräftigung des menschlichen Körpers. Doch, fragten Sudhoff und Neustätter weiter, was unterscheidet nun diese so verstandene Hygiene von unseren „täglichen Gepflogenheiten“?26 Am Beispiel der Ernährung erläuterten sie die Unterscheidung, gaben aber zu, dass sie sehr schwierig bleibe. Insbesondere, wenn man Objekte außereuropäischer „zivilisierter“ und „unzivilisierter“ Nationen und Völker mit einbeziehe und ferner „nicht nur das, was sicher hygienisch wirkt […], sondern auch das, was möglicherweise einmal hygienisch von Einfluß sein kann“,27 sei eine klare Differenzierung fast unmöglich. Diese Verwirrung sei jedoch ganz einfach aufzulösen, versprachen die „Vorbemerkungen“. Man müsse nur alle Objekte am modernen Standard der Hygiene messen und sich immer die Frage stellen: „Wie haben sie auf die Gesundheit gewirkt, wie würde ihre Wiedereinführung die gesundheitlichen Verhältnisse heute beeinflussen, in welchem Verhältnis stehen die heutigen Zustände zu ihnen?“28 Mit dieser Fragestellung im Kopf könnten sogar Objekte als „hygienische“ identifiziert werden, denen ihre Zeitgenossen noch gar keinen hygienischen Wert zumaßen. So habe ein Beschneidungsmesser ursprünglich einem völlig anderen Zweck gedient und sei erst durch historische Erkenntnisse „hygienisch“ geworden. Aber gerade diejenigen Objekte, die im „krassen Widerspruch“ zu modernen hygienischen Zuständen stünden, würden dem Besucher die historische Entwicklung der Hygiene besonders deutlich vor Augen führen. Was Neustätter und Sudhoff hier vorschlugen, war im Grunde eine Neuschreibung der Geschichte vom Standpunkt der Hygiene aus. Alle Erscheinungen und Objekte der Kultur, wie zum Beispiel Kleidung, Behausung, Straßen oder Schulen, hätten nicht nur ästhetische, technische, ökonomische, intellektuelle oder nationale Dimensionen, sondern auch immer eine hygienische Komponente. Viele Objekte, etwa der Ofen, seien sowohl einer Geschichte der Hygiene (Schutz der Atmungsorgane und Augen vor Rauch) als auch einer allgemeinen Kulturgeschichte der Technik zuzuordnen. Wenn hygienische und kulturhistorische Objekte ausdrücklich erwünscht seien, so dürfe doch keine Vermengung mit medizinischen Objekten stattfinden: „[E]s muss betont werden, dass Hygiene nicht identisch ist mit Medizin. Wir dürfen keine rein medizinischen Dinge ausstellen!“29 Damit erinnerten sie potentielle Verleiher daran, dass der Hauptveranstalter der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911, Lingner, zwar großen Wert darauf legte, dass alle Abteilungen „wissenschaftlichen“ Standards genügten, aber gleichzeitig Distanz zum medizinischen Establishment gewahrt bleiben sollte.30 26 Ebd. 27 Ebd.: 20. 28 Ebd. 29 Ebd.: 21. 30 Vgl. hierzu auch mit Belegen Stein 2013: Organising, 363.

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Nachdem erklärt worden war, welche Bedingungen erfüllt sein mussten, damit ein Objekt „hygienisch“ genannt werden könne, wandten sich Neustätter und Sudhoff denjenigen Objekten zu, die den größten Ausstellungswert besäßen: „Bei einer Ausstellung handelt es sich nun darum, diese Erscheinungen in einer anschaulichen Form vorzuführen. Ihr fehlt ja die Möglichkeit der Schilderung, wie sie dem gesprochenen oder geschriebenen Wort verliehen ist. Oberstes Ziel müsse es daher sein, „das Interesse der Besucher durch augenfällige Eindrücke zu wecken“.31 Manche Themen könnten relativ einfach durch ein Objekt veranschaulicht werden: Eine Sandale deute zum Beispiel direkt auf das Thema Kleidung. Schwieriger zu bearbeiten seien konzeptuelle Themen wie Klima, Luft, Arbeit oder üble Gerüche, bei denen man kaum etwas präsentieren könne, „was direkt zum Auge spricht“.32 In einem solchen Fall müsse man Objekte heranziehen, „die einen Rückschluss auf die Wirkung der Faktoren geben“. Beim Thema Klima zum Beispiel könne folgendermaßen vorgegangen werden: Wenn wir z. B. die Wohnanlagen der Römer in Italien und in Deutschland vorführen, dann können wir aus dem Unterschied der Konstruktion oder der Heizvorrichtungen ersehen, daß man hier Klimaverschiedenheiten schwer empfand und sie zu beseitigen sich bestrebte.33

Natürlich löste das vorläufige Programm von 1909 mit seinen „Erläuternden Vorbemerkungen“ nicht mit einem Schlag alle Schwierigkeiten der Ausstellungsorganisation.34 Die Objektbeschaffung blieb weiterhin ein Problem. Einige Verleiher entpuppten sich bei ihren Verhandlungen mit Neustätter und Sudhoff als überaus kapriziös. Auch blieb Lingner weiterhin skeptisch, was den Erfolg der Abteilung anging. Dies führte zwangsläufig zu schwerwiegenden Differenzen mit Neustätter, die diesen fast seine Stellung kosteten. Unterdessen versuchten die anderen Abteilungen weiterhin, ihre eigene Ausstellung auf Kosten der Historisch-Ethnologischen Abteilung aufzuwerten. Erst nach von Reitzensteins Anstellung kehrte etwas Ruhe ein. Er war kompetent und verlässlich, wenn auch sein Vorschlag, die beiden Abteilungen inhaltlich und konzeptionell scharf voneinander zu trennen, zunächst auf Widerstand stieß. Letztlich sollte sich seine Idee jedoch als Segen erweisen, denn ihre Durchführung vereinfachte die Organisation erheblich. Sudhoff und Neustätter konnten sich fortan auf die Historische Abteilung konzentrieren und die Planung der ethnologischen Unterabteilung von Reitzenstein überlassen. Ihre Anstrengungen sollten sich schließlich auszahlen: Millionen von Besuchern, die sich im Sommer durch die Räume der Historischen Abteilung und ihrer ethnologischen Unterabteilung drängten, waren begeistert. Das Publikum, so erinnerte sich Karl Sudhoff 31 32 33 34

Internationale Hygiene-Ausstellung 1909: 22. Ebd.: 21. Ebd.: 21 f. Vgl. zum Folgenden auch mit Belegen Stein 2013: Organising, 376.

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später, stürmte seine Ausstellung „eifrig, ja gierig, fast hungernd“.35 Kritiker priesen ihre Konzeption und die Fülle des gezeigten Materials. Was die Historisch-Ethnologische Abteilung geleistet habe, lobte beispielsweise der Sozialhygieniker Alfons Fischer (1873– 1936), „dürfte wohl bisher unerreicht sein“.36

Geschichte inszenieren Eine Schwierigkeit bei der Rekonstruktion historischer Ausstellungen besteht in fehlendem beziehungsweise verschwundenem Material. Historiker sind deshalb oft darauf angewiesen, von Begleitkatalogen oder zeitgenössischen Presseberichten auf die Ausstellungskonzeption und -organisation zurückzuschließen. So ist es auch im Fall der Historisch-Ethnologischen Abteilung der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911. In bisherigen Untersuchungen wurde sie überwiegend als erfolgreiches Projekt ihres Vorsitzenden Karl Sudhoff interpretiert, der Lingners Hygiene-Begriff fraglos übernommen und lediglich durch historisches und ethnologisches Material veranschaulicht habe.37 Die Auswertung der Korrespondenz Sudhoffs mit seinen Dresdner Mitarbeitern ergibt jedoch ein etwas anderes Bild. Offenbar oblag der Großteil der täglichen Planung und Organisation Otto Neustätter und Friedrich von Reitzenstein. Außerdem konnten bei der Auswahl und Beschaffung der einzelnen Objekte mannigfaltige Schwierigkeiten auftreten. Die Objekte mussten faktisch erst einmal als „historische Objekte der Hygiene“ konzipiert und in den Bezugsrahmen einer „Geschichte der Hygiene“ eingefügt werden, die um die Wende zum 20. Jahrhundert noch nicht geschrieben war.38 Die Historische Abteilung und ihre ethnologische Unterabteilung stellten in der Gesamtausstellung einen ersten Versuch dar, eine solche umfassende allgemeine Geschichte der Hygiene zu

35 Zitiert von Walter A. Büchi 2006: Karl August Lingner. Das große Leben des Odolkönigs. Eine Rekonstruktion. Dresden: Sächsische Zeitung, 208; allerdings ohne Quellenangabe. 36 Alfons Fischer 1912: Die sozialhistorische Bedeutung der Internationalen Hygieneausstellung in Dresden. Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung, 1, 568–588, hier 571. 37 Vgl. zum Beispiel Johanna Schrön 2003: „Ein grosses, lebendiges Lehrbuch der Hygiene“. Die Internationale Hygiene-Ausstellung von 1911. In: Carsten Kretschmann (Hg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Berlin: Akademie Verlag, 309–322. Olaf Hartung hat als einziger Historiker wenigstens auf die zentrale Rolle Neustätters hingewiesen (Olaf Hartung 2010: Kleine deutsche Museumsgeschichte. Von der Aufklärung bis zum frühen 20. Jahrhundert. Wien/Köln/ Weimar: Böhlau, 103–107). 38 Den Mitarbeitern der Abteilung war es vertraglich verboten worden, während der Vorbereitung der Ausstellung Schriften über ihre Arbeit oder über die historische Entwicklung der Hygiene zu veröffentlichen. Erst nach dem Ende der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 wurde dieses Publikationsverbot aufgehoben. Vgl. die Auseinandersetzungen zwischen Neustätter und Lingner über die Veröffentlichung eines Artikels von Neustätter in der Darmstädter Tageszeitung im Oktober 1909. Neustätters angeblicher „Vertragsbruch“ führte fast zu seiner Entlassung. Brief von Neustätter an Sudhoff vom 5. November 1909 (UAL, Med. Fak, D 05/03, fol. 45).

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Claudia Stein

entwerfen.39 Ihr Erfolg ist daher nicht nur an Besucherzahlen zu messen, sondern liegt bereits darin, dass es den Organisatoren gelang, ihre beträchtlichen Meinungsverschiedenheiten zu überwinden und ihrer „Geschichte der Hygiene“ eine kohärente Struktur zu geben und diese mit Inhalt zu füllen.40 Damit der „Erfolg“ der Abteilung historisch noch besser verstanden und gewürdigt werden kann, möchte ich mit einigen Überlegungen schließen, die hier aus Platzgründen nicht weiter entwickelt werden konnten. Sie beziehen sich auf die Präsentation der Objekte in der fertigen Ausstellung. Betrachtet man das überlieferte Fotomaterial (Abb. 2–5), erscheinen die Räume insbesondere der Historischen Abteilung geradezu chaotisch. Das Arrangement der Objekte wirkt dilettantisch, zufällig und planlos. Wie sollten Besucher sinnvolle Bezüge zwischen einer unter der Decke angebrachten Fotografie einer ägyptischen Ausgrabungsstätte und der Entwicklung der Hygiene im alten Ägypten herstellen (Abb. 2)? Beschreibende Texte neben oder unter den Objekten gab es jedenfalls nicht. Auch der Katalog bot keine wirkliche Orientierung. Zwar finden sich kurze Einführungen zu den einzelnen Epochen und Kulturkreisen, aber über die Objekte selbst und ihre besondere Funktion in der globalen „Geschichte der Hygiene“, erfuhr der interessierte Leser damals so wenig wie heute. Nun stellt sich die Frage, warum zeitgenössische Besucher wie zum Beispiel der oben kurz erwähnte Sozialhygieniker Alfons Fischer die Ausstellung und ihre Objektpräsentation als bedeutungsvoll, sogar von großem erzieherischen Wert empfanden und in höchsten Tönen lobten? Rezensionen der Historisch-Ethnologischen Abteilung wie diejenige Fischers bringen uns in der Beantwortung dieser Frage nicht wirklich weiter, denn sie gehen kaum über beschreibende Elemente hinaus. Fruchtbarer bezieht man die Vorgänge um die Abteilung auf die zeitgenössische Debatte über die Reform historischer und ethnologischer Museen und Ausstellungen, eine Auseinandersetzung, die etwa seit einem Jahrzehnt Interesse von Historikern erfährt.41 Wie ist die Dresdener Ausstellung im Rahmen dieser Debatte zu bewerten? Finden sich die unterschiedlichen Ausstellungspraktiken historischer und ethnologischer Museen und Ausstellungen in 39 Sudhoff hatte 1909 zur Vorbereitung auf die Ausstellung einige Vorlesungen zur Geschichte der Hygiene an der Universität Leipzig gehalten. Karl Sudhoff 1929: Aus meiner Arbeit. Eine Rückschau. Archiv für Geschichte der Medizin, 21, 333–387, hier 363. 40 Vgl. zur Weiterentwicklung und zum Bedeutungsverlust der Historischen Abteilung nach der Gründung des Nationalen Hygiene-Museums im Jahr 1912 in Dresden den Beitrag von Thomas Steller in diesem Band. 41 Vgl. dazu Penny 2002: 162–241 und Anja Laukötter 2007: Von der „Kultur“ zur „Rasse“ vom Objekt zum Körper. Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bielefeld: transcript, 140–148. Historische Museen wurden bisher nicht systematisch untersucht. Interessante Hinweise für die Diskussion über Objektpräsentation in Heimatmuseen finden sich bei Gesa Bücher 2011: Schauräume der Stadtgeschichte. Heimatmuseen in Franken von ihren Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Berlin/München: Deutscher Kunstverlag 2011; vgl. auch Martin Roth 1990: Heimatmuseum. Geschichte einer deutschen Institution. Berlin: Gebrüder Mann Verlag. Zur besonderen Objektpräsentation in Naturkundemuseen vgl. Susanne Köstering 2003: Natur zum Anschauen. Naturkundemuseen im deutschen Kaiserreich 1871–1914. Köln/Weimar/Wien: Böhlau.

Die „Geschichte der Hygiene“ in Dresden

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der Präsentation der Dresdener Abteilung wieder? Ja, könnte es sogar sein, dass die Besucher, geprägt von früheren Ausstellungserlebnissen, die „Unordnung“ der Historischen Abteilung geradezu erwarteten? Darüber hinaus wäre es sicherlich lohnend, die Motivationen und Überzeugungen der Ausstellungsmacher selbst näher unter die Lupe zu nehmen. Bei Neustätter wird dies dadurch erschwert, dass er zum Zeitpunkt der Ausstellung kaum etwas zu Objekten und Ausstellungsthemen veröffentlicht hat. Sudhoff und von Reitzenstein äußerten sich zwar zu diesen Themen, aber kaum in direktem Bezug zu ihrer Arbeit an der HistorischEthnologischen Abteilung. So schätzte Sudhoff gerade die Überfülle von historischen Objekten und das Durcheinander ihrer Präsentation.42 Je mehr Material gesammelt und ausgestellt werde, so seine Überzeugung, umso exakter könne eine historische Periode vor dem geistigen Auge des Besuchers zum Leben erweckt werden. Die mit Neustätter formulierten „Vorbemerkungen“ geben, so denke ich, erste Anhaltspunkte dazu, wie Sudhoffs Auffassungen über die Bedeutung historischer Objekte in eine ganz bestimmte Präsentationspraxis mündeten. Die Historisch-Ethnologische Abteilung bietet dem Historiker die einmalige Gelegenheit, nicht nur ihre Planung und Organisation zu verfolgen, sondern die auftretenden Probleme mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Organisationskulturen der Ausstellungsmacher in Relation zu bringen. Der von den Zeitzeugen empfundene große Erfolg der Historisch-Ethnologischen Abteilung auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden erscheint dadurch im neuen Licht.

42 Zu Hintergründen seiner Sammelwut vgl. Stein 2013: Divining: 205–209.

Thomas Steller

„Kein Museum alten Stiles“. Das Deutsche Hygiene-Museum als Geschäftsmodell zwischen Ausstellungswesen, Volksbildungsinstitut und Lehrmittelbetrieb, 1912–19301

Das Deutsche Hygiene-Museum soll kein Museum alten Stiles sein, wie sein aus traditionellen Gründen beibehaltener Name bedeuten könnte, sondern ein einzigartiges Volksbildungsinstitut.2

Diesen Anspruch erhob Georg Seiring, Verwaltungsdirektor des Deutschen HygieneMuseums, als das Museumsgebäude 1930 nach einer fast zwanzigjährigen, bewegten Vorgeschichte endlich eröffnet wurde. Was meinte er mit der Forderung, die Einrichtung in Dresden solle „kein Museum alten Stiles“ sein? War es überhaupt ein Museum, als es 1912 gegründet wurde, und was verbarg sich 1930 hinter dem anspruchsvollen Titel „Volksbildungsinstitut“? Der Gründer der Einrichtung, der Odolfabrikant Karl August Lingner, formulierte es in seiner Denkschrift von 1912 so: Ein Museum in des Wortes gegenwärtiger Bedeutung ist es […] nicht, was hier in Dresden errichtet werden soll. Das geplante Institut wird sich mehr zu einer Art Akademie herausbilden, in der jedermann, ohne an bestimmte Zeiten und begrenzte Themata gebunden zu sein, sich durch Anschauung und eigenartigen Selbstunterricht nach freiem Belieben Kenntnisse über die Gesundheitspflege in all ihren Teilen erwerben kann […].3

Trotzdem nannte er seine neue Einrichtung ein Museum, und auch sein Nachfolger und Geschäftsführer Seiring blieb bei dieser prestigeträchtigen Bezeichnung, obwohl sie der Museumsleitung in den 1920er-Jahren bereits zunehmend hinderlich erschien. Man vermutete, sie könne irrige Vorstellungen von einer verstaubten Institution ohne kon1 Ich danke den Mitgliedern der Arbeitsgruppe „Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums“ an der Universität Bielefeld für ihre Hinweise zu einer früheren Version dieses Aufsatzes. 2 Georg Seiring 1930: Das Deutsche Hygiene-Museum. Das Zentralinstitut für Volksgesundheitspflege. Jahrbuch für das Deutsche Volk, 146–154, hier 146. 3 Karl August Lingner [1912] 1986: Denkschrift zur Errichtung eines National-Hygiene-Museums in Dresden. Dresden: Reprint Deutsches Hygiene-Museum in der DDR, 8.

Das Deutsche Hygiene-Museum als Geschäftsmodell

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kreten Nutzen wecken. Deshalb wurde der traditionelle Name 1922 um den klangvollen Zusatz „Zentralinstitut für Volksgesundheitspflege“ ergänzt. Der Museumsverein als Träger des Aufklärungsinstituts gründete in der Folge verschiedene Einrichtungen, durch die dessen Arbeitsgebiet schrittweise ausgedehnt wurde: 1923 die Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf mit eigenem Verlag, 1926 die Hygiene-Akademie, das Fachorgan Hygienischer Wegweiser im gleichen Jahr und 1931 den Internationalen Gesundheitsdienst. Den Zeitgenossen schienen diese Bezeichnungen das breite Aufgabenfeld der Dresdner Institution besser zu beschreiben als das traditionelle „Museum“. 1930, auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner Produktivität, als endlich die Dauerausstellung im Museumsneubau eröffnet wurde, war das Deutsche Hygiene-Museum eine vielseitige populärwissenschaftliche Volksbildungs- und Fortbildungsinstitution für Gesundheitsaufklärung mit Ausstellungsunternehmen und angeschlossenen Lehrmittelbetrieben mit Verlag. Seiring bezeichnete es dementsprechend sogar als „Hygiene-Konzern“4. Tatsächlich wies dieser hybride Unternehmenskomplex von Anfang an nur wenige der klassischen Merkmale eines Museums auf. Es verfügte lange Jahre nicht über ein eigenes Haus, und die Sammlung bestand fast ausschließlich aus selbst hergestellten, immer wieder inhaltlich und gestalterisch überarbeiteten Exponaten, von denen nur wenige Originale waren. Sein Hauptziel war es, gegenwarts- und zukunftsorientierte Dienstleistungen für die meist öffentlich geförderte Gesundheitsaufklärung anzubieten. Nimmt man also Lingners und Seirings Namenswahl ernst, wird schnell deutlich, dass eine rein museologische Interpretation dieses „Hygiene-Konzerns“ zu kurz greifen würde. Aus der Perspektive der Wissenschaftsgeschichte wäre zu fragen: Welche Wissensbestände verarbeitete diese Einrichtung in ihren Produkten? Unzweifelhaft spielte das Museum in der institutionalisierten Wissenschaftsvermittlung im wohlfahrtsstaatlichen System der Weimarer Republik eine bedeutende, wenn nicht führende Rolle. Martin Roth beschreibt zum Beispiel Sozial- und Hygienemuseen wie die Einrichtung in Dresden als „Lernorte“ zur „Leistungsmaximierung durch Reduzierung von Arbeitsunfällen und Krankheiten und Minimierung der daraus resultierenden Kosten“.5 Stefan Poser und Helmuth Trischler sehen die Entwicklungen dieser Museen eng mit der Herausbildung der modernen Industrie- und Wissensgesellschaft verbunden. Im Rahmen des Sozial- und Wohlfahrtsstaats entstanden sie zur Kompensation der Herausforderungen der Moderne.6 Dabei könnte auch über das Deutsche Hygiene-Museum als bio­ 4 Georg Seiring: Protokoll der Sitzung des Vorstands des Deutschen Hygiene-Museums vom 29. Januar 1931 (Sächsisches Staatsarchiv-Hauptstaatsarchiv Dresden [im Folgenden SStA-HStAD], 13686, Nr. 48, 1 f.). 5 Martin Roth 1990: Menschenökonomie oder der Mensch als technisches und künstlerisches Meisterwerk. In: ders. und Rosmarie Beier (Hg.): Der gläserne Mensch – eine Sensation. Zur Kulturgeschichte eines Ausstellungsobjekts. Stuttgart: Hatje Cantz, 39–67, hier 48 und 44. 6 Stefan Poser 2000: Sozialmuseen, Technik und Gesellschaft. Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Arbeits- und Sicherheitstechnik am Beispiel von Gegenwartsmuseen um 1900. Technikgeschichte, 67, 205–224; ders. 1998: Museum der Gefahren. Die gesellschaftliche Bedeutung der Sicherheitstechnik. Das Beispiel der Hygiene-Ausstellungen und Museen für Arbeitsschutz in Wien, Berlin und Dresden um die

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politische Institution nachgedacht werden. Bereits begonnen wurden Untersuchungen über die charakteristischen Vermittlungsformen und Medien des Museums, so über seine innovativen Objekte wie die Spalteholz-Präparate, Wachsmoulagen, anatomischen Lehrmodelle, die sogenannten Gläsernen Figuren, Lichtbilder, populären Führer und Filme.7 Bei all diesen Fragestellungen kann eine Analyse der institutionellen Strukturen des Deutschen Hygiene-Museums nützlich sein, denn organisatorische und materielle Bedingungen und Strategien hatten maßgeblichen Einfluss darauf, wie sich die Einrichtung entwickelte und Gesundheitsaufklärung betrieb. In der Ausstellungs- und Museumsgeschichte wurden wirtschaftliche Fragen bisher allerdings kaum berücksichtigt.8 Für das Deutsche Hygiene-Museum ist es wünschenswert, diese Forschungslücke zu schließen, denn während andere Bildungseinrichtungen sich nicht durchsetzen konnten, überstand das Museum in Dresden gleich mehrere wirtschaftliche und politische Umbrüche, veranstaltete in den 1920er-Jahren europaweit viele gut besuchte und lukrative Ausstellungen und verkaufte seine Lehrmittel tausendfach gewinnbringend. Dabei spielten, wie ich unten ausführen werde, ökonomische Organisationsstrukturen und die Anwendung von Strategien profitorientierter Unternehmen eine entscheidende Rolle, um die gemeinnützigen Zwecke des Museumsvereins zu verwirklichen. In meiner Analyse konzentriere ich mich auf die Tätigkeit des Vereins in den ersten beiden Jahrzehnten seines Bestehens ab 1912. Es soll beispielhaft gezeigt werden, welche Rolle wirtschaftliche Bedingungen sowie in ihrem Rahmen entwickelte betriebswirtschaftliche Strategien und Geschäfts-

Jahrhundertwende. Münster u.a.: Waxmann; Helmuth Trischler 2007/2008: Historisches Wissen als Orientierungswissen. Blätter für Technikgeschichte, 69/70, 73–90; ders. 2006: Das Technikmuseum im langen 19. Jahrhundert. Genese, Sammlungskultur und Problemlagen der Wissenskommunikation. In: Bernhard Graf und Hanno Möbius (Hg.): Zur Geschichte der Museen im 19. Jahrhundert 1789–1918. Berlin: G+H Verlag, 81–92 sowie sein Beitrag in diesem Band. 7 Zu den Spalteholz-Präparaten siehe Sybilla Nikolow 2011: Schwein. In: Abteilung III des MaxPlanck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte Berlin (Hg.): Eine Naturgeschichte für das 21. Jahrhundert. Hommage zu Ehren von Hans-Jörg Rheinberger. Berlin: Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, 124–126; zu den Lichtbildern siehe Berit Bethke 2013: Sichtbare Spuren – Spuren der Sichtbarkeit. Betrachtungen zur hygienischen Volksbelehrung in der Weimarer Republik anhand von Lichtbildreihen des Deutschen Hygiene-Museums. München: GRIN Verlag; zu den Schaubildern dies. 2010: Bodies on Display. Die Aufbereitung von Körperwissen in den transkulturellen Ausstellungsmedien des Deutschen Hygiene-Museums. In: Rainer Keller, Michael Meuser (Hg.): Körperwissen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften; zu den Wachsmoulagen siehe Johanna Lang, Sandra Mühlenberend und Susanne Roeßiger (Hg.) 2010: Körper in Wachs. Moulagen in Forschung und Restaurierung. Dresden: Sandstein. Vgl. außerdem verschiedene Beiträge in diesem Band, die sich mit einzelnen innovativen Objektgruppen des Museums befassen: Christian Sammer zu den sogenannten Gläsernen Figuren, Sandra Mühlenberend zu den anatomischen Lehrmodellen, Anna-Gesa Leuthardt zu den populären Führern und Anja Laukötter zu den Filmen. Vgl. außerdem die Ausstellungsanalysen von Claudia Stein, Lioba Thaut, Sybilla Nikolow und Michael Tymkiw in diesem Band. 8 Die Geschichtsschreibung zu Museen und Ausstellungen konzentriert sich zumeist auf die Analyse von Ausstellungsinhalten, Darstellungsformen und Sammlungsgenese. Alexander C. T. Geppert 2002: Welttheater. Die Geschichte des europäischen Ausstellungswesens im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht. Neue Politische Literatur, 1, 10–61.

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felder bei der Wahl der Themen und Medien spielten, mit denen sich das Museum als einer der Hauptakteure der Weimarer Gesundheitsaufklärung profilierte.9

Das Deutsche Hygiene-Museum in Zahlen Einen Eindruck von der wirtschaftlichen Entwicklung des Museums geben einige Unternehmenskennzahlen aus den ersten zwei Jahrzehnten. Bis 1930 konnte es circa 19,5 Millionen Besucher in seinen Ausstellungen begrüßen.10 Ein wirklicher Publikumsmagnet war das Thema Geschlechtskrankheiten. So besuchten unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in nur zwei Jahren über eine Million Menschen die über 100 Wanderausstellungen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Dazu konnten die Besucher auch populäre Führer und andere Begleitschriften aus dem museumseigenen Verlag für Volkswohlfahrt erwerben.11 Ein Ausstellungsführer zu den Geschlechtskrankheiten in einfachster Ausführung, auf billigem, braunem Papier gedruckt, kostete 1925 zwei Pfennige.12 Bis 1929 wurden davon fast 400.000 Stück abgesetzt. Sehr viel teurer waren die berühmten Spalteholz-Präparate und Wachsmoulagen. Um eine Preisvorstellung für letzteres Lehrmittel zu geben: Eine kolorierte Abformung mit dem Titel „Furunkulöse Abszesse am Rücken“ verkaufte das museumseigene Pathoplastische Institut 1912 zu 35 Mark.13 Leichter reproduzierbare Lehrtafeln hingegen kosteten Mitte der 1920er-Jahre nur circa sechs Reichsmark das Stück. Beim Kauf ganzer Sammlungen wurden großzügige Rabatte gewährt. So war 1926 ein komplettes kleines „Museum“, bestehend aus über 300 Bildtafeln, Hochbildern14, Präparaten, Lichtbildern, Moulagen und Modellen, schon für 6.000 Reichsmark zu erwerben.15 Die Lehrmittel wurden ab 1923 aus einer Hand von der museumseigenen Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf angeboten. Im 9 Das ist auch der Gegenstand meiner Dissertation: Volksbildungsinstitut und Museumskonzern. Das Deutsche Hygiene-Museum von 1912 bis 1930. Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie an der Universität Bielefeld 2014. 10 Deutsches Hygiene-Museum Dresden e. V. 1931: Tätigkeitsbericht des Deutschen Hygiene-Museums im Jahre 1930. Dresden (SStA-HStAD, 13686, Nr. 5 und 7). 11 Zum Vergleich mit den „Führern“ zu diesem Ausstellungsthema siehe den Beitrag von Anna-Gesa Leuthardt in diesem Band. 12 Protokoll der Gesellschaftsversammlung des Verlags für Volkswohlfahrt GmbH vom 17. April 1925 (SStA-HStAD, 13687, Nr. 2, Bl. 24). 13 Pathoplastisches Institut 1912: Lehrmittelkatalog des Pathoplastischen Instituts. Dresden, o.S. 14 Die sogenannten Hochbilder oder Relieftafeln wurden von der Hochbild-Gesellschaft München nach einem patentierten Verfahren produziert, das von dem Kartografen Karl Wenschow (1884–1947) für die Herstellung plastischer Relieflandkarten entwickelt worden war. Dieses besondere Formgebungsverfahren erlaubte es, dreidimensionale Objekte in widerstandsfähigem und dennoch leichtem und billigem Kunststoff zu reproduzieren. Obgleich sie Details weniger genau abbilden konnten, ersetzten Hochbilder aufgrund der genannten Vorzüge ab Mitte der 1920er-Jahre zum Teil die teuren und empfindlichen Wachsmoulagen (vgl. Steller 2014: Kap. 5.3.2). 15 Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf 1926: Katalog der Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf. Dresden.

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Geschäftsjahr 1926/27 wurden so viele Lehrmittel verkauft, dass das Unternehmen mehr als 600.000 Reichsmark umsetzte und fast 50.000 Reichsmark Gewinn erzielte. Zum Vergleich: Das Museum selbst hatte im gleichen Jahr einen Haushalt von 315.000 Reichsmark (Abb. 1). Die Aktiengesellschaft erzielte bis 1930 konstant hohe Umsatzrenditen. Zum Beispiel erwirtschaftete sie im Geschäftsjahr 1927/28 8,91 Reichsmark Gewinn pro 100 umgesetzte Reichsmark.16 Bereits zu diesem Zeitpunkt wurden Lehrmittel ins Ausland verkauft. 1923 erhielt das Museum beispielsweise 525 Pfund Sterling für drei Lehrmittelsammlungen, die im Auftrag des Völkerbunds nach Warschau, Charkow und Moskau geliefert wurden.17 Die auf diese Weise erwirtschafteten Devisen trugen nicht unwesentlich dazu bei, die aberwitzigen Ausgaben des Abschlusshaushalts der Hyperinflation von über 14 Billiarden Mark zu decken. Der erste Haushalt des Museums im Jahr 1912 fiel mit knapp 300.000 Mark wesentlich bescheidener aus. Der niedrigste zur Zeit des Ersten Weltkriegs betrug 125.000 Mark und der bisher höchste von 1930/31 fast 800.000 Reichsmark.18 Die Stadt Dresden, der sächsische Staat und das Reich steuerten damals zusammen bereits 175.000 Reichsmark pro Jahr bei. Weitere große Teile seines Haushalts finanzierte das Museum aus Mitgliedsbeiträgen, aus Zuschüssen der aus dem Nachlass Lingners entstandenen Lingner-Stiftung zur Förderung der Volksgesundheit, Gewinnen der Lehrmittelbetriebe und Einkünften aus den Wanderausstellungen. Schon diese wenigen ausgewählten Zahlen lassen den beeindruckenden ökonomischen Umfang des „Hygiene-Konzerns“ erahnen. Das keineswegs kleine Unternehmen beschäftigte zeitweise knapp 100 Personen. Für Dresden stellte das Deutsche HygieneMuseum in mehrfacher Hinsicht einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar. Auch in den Tätigkeitsberichten für die Vereinsmitglieder und die Öffentlichkeit waren Erfolgsmeldungen wie die Angabe hoher Besucherzahlen bei einzelnen Ausstellungen ein zentraler Bestandteil der Selbstdarstellung und -rechtfertigung. Sie dienten dazu, dem Museumsverein die Unterstützung der öffentlichen Hand zu sichern. Dessen Organisationsstruktur war ähnlich wie Lingners Unternehmen hierarchisch auf Lingner als Vorsitzenden ausgerichtet. Die wissenschaftlich inhaltliche Arbeit erledigten die Direktoren der beiden Museumsabteilungen. Sie unterstanden allerdings dem Vorstand und insbesondere dem Vorsitzenden und Mäzen Lingner. Das administrative und operative Geschäft des Museumsvereins und seiner Lehrmittelproduktion leitete 16 Protokolle der Generalversammlungen der Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf (SStAHStAD, 13688, Nr. 2) sowie Protokoll der Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses des Deutschen Hygiene-Museums vom 7. Juni 1927 (ebd.: 13686, Nr. 51). 17 Vgl. Thomas Steller: The Public Body. Collections and Exhibitions of the German Hygiene-Museum in Central Europe in the 1920s. Vortragsmanuskript zur Konferenz Public Hygiene in Central and Eastern Europe, 1800–1940 in Gießen im Januar 2012, Publikation in Vorbereitung. 18 Verein für das National-Hygiene-Museum Dresden (Hg.) 1919: Das National-Hygiene-Museum Dresden in den Jahren 1912–1918. Dresden; Rechnungsabschluss für das Kalenderjahr 1923 (SStA-HStAD, 13686, Nr. 10, unpag.), Bericht über das Geschäftsjahr und das Rechnungswerk 1930/31 (ebd.).

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bis 1947 der Kaufmann Seiring als Verwaltungsdirektor und Geschäftsführer der angeschlossenen Betriebe in Personalunion.19 So hatte er maßgeblichen Einfluss auf die Unternehmensstrategien, die wesentlich für das Überleben des Museums unter den schwierigen Bedingungen der 1920er-Jahre waren. Einige dieser Strategien, die in den zwei Hauptgeschäftsfeldern des Museums, den Wanderausstellungen und der Lehrmittelproduktion, angewandt wurden, werde ich nun näher diskutieren. Es wird sich zeigen, dass sich moderne ökonomische Strategien, wie Produktdiversifikation, eigene Schwerpunktbildung und Expansion durch profitable Subunternehmen langfristig für den wirtschaftlichen Erfolg des „Hygiene-Konzerns“ auszahlten.

Markterschließung: Wanderausstellungen als Wirtschaftsfaktor Wie kam das Deutsche Hygiene-Museum überhaupt darauf, Wanderausstellungen zu veranstalten? Das Startkapital des 1912 im Anschluss an die Internationale Hygiene-Ausstellung 1911 gegründeten Museumsvereins bestand aus den Exponaten und Überschüssen dieser Großveranstaltung und seinem guten Ruf. Damals besaß das Museum aber weder einen eigenen Museumsbau noch regelmäßige Einkünfte. Lingner, der sich um weitere Einnahmequellen bemühte, verfolgte zwei Wege: die öffentliche Präsentation seiner Sammlung in Ausstellungen und die Verhandlungen mit der Stadt Dresden und dem Staat Sachsen um die Gewährung von Zuschüssen. Die Stadt wollte das Museum nicht zuletzt als Touristenattraktion in Dresden etablieren, zeigte sich aber wenig begeistert von Lingners Absicht, die während der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 stark nachgefragte Sammlung „Der Mensch“ als Wanderausstellung in den deutschen Großstädten zu zeigen. Das Museum konnte nach der ersten Station in Darmstadt bereits 26.000 Mark Gewinn für sich verbuchen. Lingner nutzte diesen Erfolg als Druckmittel gegenüber der Stadt. Er bot an, die Sammlung nicht mehr außerhalb Dresdens zu zeigen und sie dem Museumsverein zu übereignen, wenn die Stadt für den Unterhalt des Museums aufkäme. Darauf ging der Stadtrat schließlich ein: Er gewährte dem Museum ab 1913 jährlich 125.000 Mark und erhielt im Gegenzug umfangreiche Mitspracherechte im Museumsverein. Lingner konnte mit diesem Ergebnis sehr zufrieden sein, sicherte es seinem Institut doch langfristig die finanzielle und symbolische Unterstützung der kommunalen Behörden. Gleichwohl kam es aufgrund des Ersten Weltkriegs und der anschließenden Inflation noch lange nicht zur gewünschten dauerhaften Behausung für seine Sammlung, sondern das Museum konnte zunächst nur mit Wanderausstellungen auf sich aufmerksam machen. Entsprechend reagierte das Museum unmittelbar nach dem Ende des Krieges auf die steigende Nachfrage nach Aufklärung über Geschlechtskrankheiten und produzierte in 19 Seiring war die unumgängliche Schnittstelle zwischen den Organisationseinheiten und Partnern im Netzwerk des Museums und bereitete alle Entscheidungen der Leitungsgremien vor.

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Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Lehrmittel und Ausstellungen zu diesem Thema. Seitens der Museumsleitung verbanden sich auch wieder erhebliche finanzielle Hoffnungen mit diesem Veranstaltungstyp. Beispielsweise erwartete der Vorstand für das Jahr 1920 Einnahmen in Höhe von 200.000 bis 250.000 Mark. Diese erhebliche Summe hätte, wäre die Inflation nicht dazwischen gekommen, etwa zwei Dritteln des ordentlichen Jahreshaushalts entsprochen.20 Die Ausstellungen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten konnten die hohen finanziellen Erwartungen des Vorstands allerdings kaum erfüllen, denn deren Gewinne wurden durch Verluste anderer Wanderausstellungen und durch die Inflation zunehmend geschmälert.21 Als die Nachfrage während der Hyperinflation abnahm und die Ausstellungen keine Überschüsse mehr einbrachten, wurden sie im Inland vorübergehend eingestellt. Nach der Inflation legte das Museum wieder viele finanziell äußerst erfolgreiche Ausstellungen nach ähnlichen Mustern auf. Themen waren nun unter anderem Geschlechtskrankheiten, Ernährung, Gesundheitspflege und Rassenhygiene. Dabei fungierten die Wanderausstellungen auch als Werbeplattformen für das Museum mit seinen Produkten. Darüber hinaus sah die Museumsleitung durch die hohen Besucherzahlen die Nützlichkeit der Einrichtung für die Volksgesundheit unter Beweis gestellt.22 Insbesondere während der Inflationszeit führte sie die Wanderausstellungen und Lehrmittelbetriebe gegenüber dem Reich und anderen potentiellen Unterstützern als Argument an, das Museum zu fördern. Sonst müsse es, so Seiring, seine „Kulturarbeit“ und „Kulturpropaganda“23 für das Deutsche Reich einstellen. Nach langen Verhandlungen gelang es so schließlich, vom Reichsinnenministerium als „reichswichtig“ anerkannt und ab 1922 wie bereits von der Stadt und vom sächsischen Staat bezuschusst zu werden. Während der Hyperinflation sollten die Ausstellungen und der Verkauf von Lehrmitteln dann außerdem dazu dienen, die steigenden Fehlbeträge im Museumshaushalt auszugleichen. Zu diesem Zweck schickte der Vorstand die Sammlung „Der Mensch“ ab 1922 auf Tour ins Ausland. Dort sollte sie Devisen erwirtschaften und helfen, das Museum vor dem finanziellen Kollaps zu bewahren.24 20 Der ordentliche Jahreshaushalt des Museums für 1919 betrug 328.491,30 Reichsmark, die Ausgaben im außerordentlichen Haushalt zusätzlich 244.310,59 Reichsmark (Verein für das National-HygieneMuseum Dresden 1919, o.S.). Die außerordentlichen Haushalte gab es im Zeitraum zwischen 1917 und der Inflation sowie während des Neubaus ab 1927. 21 Die Finanzen der Wanderausstellungen genau nachzuvollziehen, ist heute nicht mehr möglich, da deren Rechnungswerk ab 1920 getrennt vom Haus erfolgte (vgl. Protokolle der Sitzungen des Geschäftsführenden Ausschusses des Deutschen Hygiene-Museums vom 14. November 1919 und 16. Januar 1920 (SStA-HStAD, 13686, Nr. 50, 4 und 6). 22 Vgl. Protokoll des Vorstandsrates des Deutschen Hygiene-Museums vom 22. April 1921 (Bundesarchiv [im Folgenden BArch], R 86/0888, 1–3). 23 Vgl. Brief des Deutschen Hygiene-Museums an Reichsinnenminister Adolf Köster vom 12. Juni 1922 (BArch, R 1501/109371, Bl. 228), Brief von Georg Seiring an Carl Hamel vom 8. Dezember 1925 (ebd.: R 1501/109376, Bl. 143). 24 Vgl. Niederschrift der Vorstandssitzung des Vereins für das National-Hygiene-Museum in Dresden vom 23. März 1919 (SStA-HStAD, 13686, Nr. 46, 6), Protokolle der Sitzungen des geschäftsführen-

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Der Wanderausstellungsbetrieb war für die institutionelle und wirtschaftliche Stabilisierung des Deutschen Hygiene-Museums in den ersten zehn Jahren seines Bestehens also von entscheidender Bedeutung. Wie weiter unten gezeigt wird, bildete er zusammen mit den Lehrmittelbetrieben das entscheidende Alleinstellungsmerkmal des Museums und wurde von Seiring in den 1920er-Jahren nach den Logiken eines Unternehmens geführt. Die Übernahme der Volksborngesellschaft und die Stilllegung der HistorischEthnologischen Abteilung dienten der Expansion und Schwerpunktbildung des Museums. Damit spezialisierte sich das Gesamtunternehmen und wurde dadurch in eine vorteilhafte Marktposition gebracht.

Expansion und Schwerpunktbildung. Die Volksborngesellschaft und die Schließung der Historisch-Ethnologischen Abteilung Im Oktober 1912 hatte sich in Dresden die Volksborngesellschaft für medizinisch-hygie­ nische Aufklärung als eine weitere regionale Initiative für Gesundheitsaufklärung unter der Führung des Bakteriologen Dr. med. Arthur Luerssen gegründet. In ihr kamen Mediziner aus der Umgebung zusammen, die wie Lingner eine hygienische Volksbelehrung befürworteten, Lingners Engagement jedoch als laienhaft empfanden und ihm häufig kritisch gegenüberstanden.25 Die Ziele und Methoden der Gesellschaft glichen weitestgehend denen des Museums. Auch die Volksborngesellschaft organisierte Wanderausstellungen, Kurse und Vorträge, gab Publikationen heraus und plante, Lehrmittel selbst herzustellen und zu verkaufen. Während des Ersten Weltkriegs veranstaltete sie beispielsweise mehrere Ausstellungen zum Thema der Kinder- und Säuglingsfürsorge.26 Kurz nach der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 gab es somit in Dresden zwei konkurrierende Vereine, die sich der Gesundheitsaufklärung widmeten. Die Volksborngesellschaft verlor 1916 durch den Tod des Gründers Luerssen ihren wichtigsten Mitarbeiter und wurde dadurch erheblich geschwächt. Ihre wirtschaftliche Situation verschlechterte sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs, während das Museum über den Ausschusses des Deutschen Hygiene-Museums vom 1. September 1921 und 19. November 1921 (ebd.: Nr. 51, 1–3 und 2–4). 25 Was genau kritisiert wurde, konnte ich aus den zur Verfügung stehenden Quellen nicht rekonstruieren. Jedenfalls scheint sich die Kritik zentral an der Person Lingners entzündet zu haben, denn eine Rücksprache unmittelbar nach Lingners Tod von Direktor Woithe mit Sanitätsrat Baron bezüglich des getrübten Verhältnisses zwischen dem National-Hygiene-Museum und der Dresdner Ärzteschaft ergab, dass die Differenzen u.a. persönlicher Natur gewesen und mit dem Tod Lingners hinfällig geworden seien. Vermutlich war es die Einmischung des Laien in eine Aufgabe, die von den Ärzten als ihre ureigenste begriffen wurde. Vgl. Schreiben von Friedrich Woithe an Bernhard Blüher vom 19. Juni 1916 (Stadtarchiv Dresden [im Folgenden SA-D], 2.1 A.XXIV, Nr. 142, Bd. 2, Bl. 156). 26 Die Ausstellungen hießen Mutter und Kind und Mutter und Säugling, vgl. Volksborngesellschaft für medizinisch hygienische Aufklärung (Hg.) 1915: Führer durch die Wanderausstellung Mutter und Säugling. Dresden: Selbstverlag der Volksborngesellschaft.

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umfangreiche Geldmittel aus der Lingner-Stiftung verfügte. Der Vorstand des damals noch National-Hygiene-Museums nutzte die finanzielle und personelle Schwäche seines Konkurrenten, um zu expandieren. Im Frühjahr 1919 trat das Museum in Übernahmeverhandlungen mit der Gesellschaft ein. Die beiden Direktoren Friedrich Woithe und Georg Seiring gaben im März 1919 gegenüber dem Museumsvorstand folgende Erklärung ab: Das Museum hat […] sehr großes Interesse daran, a) ein am Orte seines Sitzes befindliches Konkurrenzunternehmen zu beseitigen; b) die Unterstützung der bisher noch nicht mit dem Museum befreundeten Ärzteschaft durch die Übernahme der Bestände der Volksborngesellschaft, an der die Ärzte beteiligt sind, zu erlangen.27

Das Museum ging aus den Verhandlungen als Gewinner hervor: Die Volksborngesellschaft wurde aufgelöst, und das Museum übernahm für 30.000 Mark dessen Materialien und den wichtigsten Mitarbeiter der Gesellschaft, den Arzt Martin Vogel.28 Dabei war für das Museum nicht nur die Verringerung der Konkurrenten im Geschäftsfeld von Bedeutung, sondern auch, dass sie mit der Volksborngesellschaft das Wohlwollen der lokalen Ärzteschaft gewinnen konnte, wozu der Weg nach Lingners Tod 1916 offensichtlich frei wurde.29 Mit dieser Übernahme verschaffte sich das Museum wichtige Expertise und Ressourcen sowie die Unterstützung der Ärzteschaft. Außerdem wurde die Biologisch-Neuzeitliche Abteilung durch Vogels Übernahme gegenüber der auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 noch gleichwertigen Historischen Abteilung gestärkt.30 Diese Schwerpunktbildung war ebenfalls hauptsächlich wirtschaftlichen Überlegungen geschuldet. Die Biologisch-Neuzeitliche Abteilung hatte durch die Veranstaltung von Wanderausstellungen floriert, während die Historisch-Ethnologische Abteilung im Alltagsgeschäft nach dem Ersten Weltkrieg wenig gefragt war. Das Interesse potentieller, finanzkräftiger Kooperationspartner des Deutschen Hygiene-Museums, wie Behörden oder Wohlfahrtsorganisationen, lag nicht in diesem Bereich. Ihr Interesse konzentrierte sich auf Aufklärung über aktuelle Gesundheitsprobleme. Zwar wurde in den Ausstellungen jeweils auf die Geschichte einzelner Krankheiten hingewiesen, aber die Diskussion zeitgenössischer Probleme etwa im Bereich der Säuglingspflege, Geschlechts27 Bericht von Friedrich Woithe und Georg Seiring zu den Verhandlungen mit der Volksborngesellschaft (SA-D, 2.3.7, Nr. 27, Bl. 159). 28 Vgl. Protokoll der Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses des National-Hygiene-Museums am 14. November 1919 (SStA-HStAD, 13686, Nr. 50, 5). Der Internist und Pädiater Vogel übernahm nach Woithes Tod anfangs kommissarisch und ab Mitte 1926 bis 1932 dann die wissenschaftliche Leitung des Museums. 29 Vgl. Bericht von Friedrich Woithe und Georg Seiring zu den Verhandlungen mit der Volksborngesellschaft (SA-D, 2.3.7, Nr. 27, Bl. 153–160). 30 Siehe zur Genese der Historisch-Ethnologischen Abteilung auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 den Beitrag von Claudia Stein in diesem Band.

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krankheiten und Tuberkulose versprachen einen größeren Besucherandrang und nahmen immer mehr Raum ein. Die Erhaltung der Historisch-Ethnologischen Sammlung verursachte hohe Kosten, und das Museum konnte hier nicht wie im Fall der BiologischNeuzeitlichen Abteilung durch den Verkauf von Objektduplikaten Einnahmen erwirtschaften. Während der Inflationskrise beschloss der Vorstand, künftig ganz auf die Fortführung der Biologisch-Neuzeitlichen Abteilung und den Ausbau der Lehrmittelbetriebe zu setzen. Die Historisch-Ethnologische Abteilung wurde 1921 stillgelegt und das Personal entlassen. 1929 wurden dann auch große Teile der Exponate an die naturkundlichen Sammlungen Dresdens verkauft. Die Historisch-Ethnologische Abteilung fiel damit fast gänzlich der Betriebsoptimierung durch interne Einsparungen und der Ausrichtung des Museums an der größten Nachfrage zum Opfer. In der Dauerausstellung von 1930 belegten historische und ethnologische Themen schließlich weniger als 20 Prozent der Gesamtausstellungsfläche. Der Direktor der Historisch-Ethnologischen Abteilung, Otto Neustätter, wechselte 1920 als Generalsekretär zum neu gegründeten Reichsausschuß für hygienische Volksbelehrung und betrieb von dort aus Lobbyarbeit für das Deutsche Hygiene-Museum. Für die Dresdner Einrichtung war der Reichsausschuß ein wichtiger Knotenpunkt im reichsweiten Kooperationsnetzwerk aus Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit. Außerdem war er ein wichtiger Außenposten für die Vermarktung und den Vertrieb seiner Produkte.

Neue Mittel zur Gesundheitsaufklärung: Die Lehrmittelbetriebe In den 1920er-Jahren wurde die Lehrmittelproduktion des Deutschen Hygiene-Museums stark erweitert. Kurz zusammengefasst wurden damit betriebswirtschaftliche Strategien der Ausweitung des Produktprogramms, der Marktdurchdringung und der Monopolbildung in diesem Marktsegment im Bereich der Gesundheitsaufklärung verfolgt. Zu Anfang des Jahrzehnts bestanden seine Lehrmittelbetriebe aus den Werkstätten, in denen Lehrtafeln, Präparate, Modelle und andere Exponate hergestellt wurden, aus der in den Lehrmittelwerkstätten aufgegangenen Firma Natura docet und schließlich dem Pathoplastischen Institut für die Moulagenherstellung. Zu den museumseigenen Unternehmen gehörte außerdem der Verlag für Volkswohlfahrt, in dem die meisten Publikationen des Hauses veröffentlicht wurden.31 Für einen herkömmlichen Museumsbetrieb wären weder derartig umfangreiche Kapazitäten für die Lehrmittelproduktion noch ein eigener Verlag notwendig gewesen. Das Deutsche Hygiene-Museum verschaffte sich durch seine vielseitige Produktent31 Das Pathoplastische Institut war im Vorfeld der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 eingerichtet worden. Den Verlag hatte Lingner 1905 in Berlin gegründet. Die Natura docet hatte das NationalHygiene-Museum 1917 und den Verlag 1918 mit Geldern der Lingner-Stiftung erworben.

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wicklung eine Basis, die es ihm ermöglichte, multimediale Gesundheitsaufklärung auch außerhalb von Dresden und Sachsen und unabhängig von Wanderausstellungen zu betreiben. Seine Auftraggeber waren Ärzte, Schulen, Fortbildungseinrichtungen, Krankenkassen, Versicherungen und andere Organisationen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge im In- und Ausland. Die Produkte wurden auf Messen und museumseigenen Ausstellungen beworben und verkauft. Ab 1921 lief die Vermarktung über das HygieneAuge als Markenzeichen. Der Ausbau der Lehrmittelbetriebe bedeutete, dass unter der Ägide des kaufmännisch geschulten Verwaltungsdirektors Seiring zunehmend profitorientiert gewirtschaftet wurde; Werbung, Absatzsteigerung und Konkurrenzverdrängung bestimmten jetzt die Museumspolitik mit. Doch gerade diese kommerzielle Seite des Museums verhinderte 1922/23 einen Zuschuss durch die Rockefeller Foundation.32 Wegen der Verschlechterung der Haushaltssituation und der unzureichenden Subventionierung durch die öffentliche Hand sah sich der Vorstand bald nach zusätzlichen Finanzierungsmöglichkeiten um. Die Lehrmittelbetriebe wurden zu immer wichtigeren wirtschaftlichen Stützen des Museums und zusammen mit den Ausstellungen auch zunehmend zum Aushängeschild des Hauses. Ende 1921 erwartete der Vorstand sogar „[d]ie Hauptdeckung der Unterhaltskosten […] von den geschäftlich werbenden Betrieben“33. Das gelang allerdings nur teilweise. Die Unterstützung erfolgte direkt mittels der dem Museum zufließenden Gewinne, aber auch durch die Inanspruchnahme der Betriebe zur Produktion der erfolgreichen Wanderausstellungen. Weiterhin sicherten die Lehrmittelbetriebe durch ihren Umsatz die Arbeitsplätze vieler Angestellter, die sowohl für das Museum als auch für die Lehrmittelbetriebe tätig waren. Darüber hinaus wurden sie – wie auch die Wanderausstellungen – als Argumente vorgebracht, um die Reichsbehörden zur Förderung des Museums zu bewegen. Aber auch in den Lehrmittelbetrieben machte sich die prekäre Wirtschaftslage durch die Inflation bald zunehmend negativ bemerkbar. Um ihnen eine bessere Arbeitsgrundlage zu verschaffen, wurden sie 1923 schließlich zur Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf zusammengefasst. Materielle Ressourcen, Personal und Expertise konnten nun von allen Werkstätten gemeinsam genutzt werden. Die Aktiengesellschaft profitierte von der Förderung des Museums durch verschiedene Behörden, der Vereinsstruktur und dem Netzwerk des Museums. Dies verschaffte ihr als Wirtschaftsbetrieb einen erheblichen Wettbewerbsvorteil und machte sie zugleich als Kooperationspartner für andere Unternehmen attraktiv. Die Aktiengesellschaft erhielt die exklusive Lizenz, Duplikate von Ausstellungsobjekten und Lehrmittel auf deren Basis herzustellen. Die mit dem Museum verbundenen Mediziner lieferten die wissenschaftliche Expertise, und die Aktiengesellschaft sorgte für die Vervielfältigung und Vermarktung der Lehrmittel. Neue 32 Näheres dazu in Steller 2014: Kapitel 4.4.5. 33 Protokoll der Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses des Deutschen Hygiene-Museums vom 1. September 1921 (SStA-HStAD, 13686, Nr. 51, 3).

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Darstellungsmethoden, die für den Museumsbetrieb getestet wurden, konnten so direkt kommerziell weiterverwertet werden. Die Sammlungen und Ausstellungen wurden ebenso wie diejenigen des Museums immer wieder überarbeitet, dem neuesten Wissensstand angepasst und thematisch erweitert. Beide Einrichtungen, das Museum mit seinem Ausstellungsgeschäft und die Aktiengesellschaft mit ihrer Lehrmittelproduktion waren aufeinander angewiesen und in vielfacher Weise durch wechselseitige Beziehungen miteinander verknüpft. Spätestens mit der Hyperinflation 1923 war ein erheblicher Rückgang in der Inlandsnachfrage zu verzeichnen. Der Aktiengesellschaft blieb nur noch das Auslandsgeschäft. Mit der wertlosen Papiermark wurde es geradezu überlebenswichtig für das Museum, dass im Ausland wertstabile Devisen erwirtschaftet werden konnten. Ein Beispiel dafür ist der oben bereits erwähnte Verkauf von Lehrmittelsammlungen an den Völkerbund im gleichen Jahr. Die erzielten Devisen wurden nach und nach gegen Mark eingetauscht, um die ständig steigenden Ausgaben im Inland begleichen zu können. Nach der Inflation ergriff Seiring verschiedene Maßnahmen, um die Marktdominanz der Aktiengesellschaft und des Museums zu festigen und auszubauen. Konkurrenzunternehmen wurden, wie an der Volksborngesellschaft gesehen, entweder aufgekauft oder es wurde versucht, mit ihnen zu kooperieren. So übernahm das Museum 1925 den Münchner Verlag Gesundheitswacht.34 Schon 1924 war auf Initiative des Ministerialdirigenten im Reichsministerium des Inneren und späteren Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes Carl Hamel eine Arbeitsgemeinschaft mit der Deutschen Hochbild-Gesellschaft in München zustande gekommen. Die Aktiengesellschaft mit Verlag war neben dem eigentlichen Museum mit seinem Ausstellungsbetrieb ein weiteres zentrales Element in Seirings „Hygiene-Konzern“ geworden. Dieser Museumskonzern bestand 1926 aus: Museum mit Ausstellungsbetrieb, Lingner-Stiftung, Aktiengesellschaft mit Verlag und der sogenannten Hygiene-Akademie35. Für den Erfolg dieser hybriden Institution waren der Austausch von Geld, Personal, Material und Expertise zwischen allen Geschäftsbereichen unabdingbar. Tatsächlich liefen die Geschäfte der Aktiengesellschaft von 1924 bis 1931 sehr gut. Sie hatte im Museumskonzern mit Abstand die höchsten Umsatzzahlen und beschäftigte den größten Anteil von Mitarbeitern (Abb. 1). Die Aktiengesellschaft profitierte direkt vom Aufschwung der Ausstellungstätigkeit des Deutschen Hygiene-Museums nach der Inflation, außerdem von den guten Beziehungen des Museums zu den Reichsbehörden 34 Die Gesundheitswacht, so Vogel, hatte insbesondere „künstlerisch wertvolle Kunstblätter [gemeint sind Plakate, T. S.] zur Bekämpfung des Alkoholismus, der Geschlechtskrankheiten, der Säuglingssterblichkeit […] herausgebracht“ (Martin Vogel 1925: Hygienische Volksbildung. Berlin: Julius Springer, 47). 35 Die Hygiene-Akademie sprach mit ihren Kursen und Vorträgen Berufsgruppen an, die sich professionell mit Gesundheitsfürsorge befassten. Sie ermöglichte dem Museum die Ausweitung seiner Aufklärung auf neue Zielgruppen. Da sie jedoch für die wirtschaftliche Entwicklung des Museums kaum ins Gewicht fiel, wird sie hier nicht weiter diskutiert. Näheres dazu in Steller 2014: Kapitel 5.1.2.

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Abb. 1: Gesamtausgaben des Deutschen Hygiene-Museums im Vergleich zum Umsatz der Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf von 1924 bis 1933 (Geschäftsberichte und Rechnungswerke sowie Haushaltpläne 1924 bis 1933 [SStA-HStAD, 13686, Nr. 10 und 12] sowie Protokolle der Generalversammlungen und der Sitzungen des Aufsichtsrates der Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf, Georg Seirings Bericht für den Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf vom 19. September 1933 [ebd., 13688, Nr. 5]).

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und den Wohlfahrtsverbänden. Ihre Produkte wurden stark nachgefragt und befanden sich auf einem durch staatliche und kommunale Mittel finanzierten, ungesättigten, expandierenden Markt fast allein. Ihre Gewinne führte die Aktiengesellschaft an das Museum ab. Von 1924 bis zur Weltwirtschaftskrise erhielt das Museum so durchschnittlich 30.000 Reichsmark pro Jahr an Dividenden und Provisionen. Die ihm auf diese Weise zugeführten Mittel waren bei durchschnittlichen Jahreshaushalten in Höhe von 400.000 Reichsmark also nicht zu vernachlässigen. Sie entschieden aber auch nicht über das Bestehen oder Nichtbestehen des Hauses. Um die Bedeutung der wechselseitigen Beziehungen zwischen der Aktiengesellschaft und dem Deutschen Hygiene-Museum zu erfassen, muss neben den finanziellen, ideellen und personellen Ressourcenbeziehungen unterstrichen werden, dass die Lehrmittelwerkstätten und die Ausstellungen Alleinstellungsmerkmale des Deutschen Hygiene-Museums waren und diese für das Reichsministerium des Inneren, das Reichsgesundheitsamt und die Wohlfahrtsorganisationen die entscheidenden Gründe darstellten, das Museum zu fördern. Ihnen lag wesentlich mehr an guten Wanderausstellungen und einer Lehrmittelproduktion in großem Stil als an einer umfangreichen Dauerausstellung in Dresden. Entsprechend wurde das Deutsche Hygiene-Museum von den Reichsbehörden für die Veranstaltung von Wanderausstellungen und als Entwickler der Vorlagen für die Lehrmittel der Aktiengesellschaft bezuschusst. Die wiederum sollte mit Lehrmitteln zu moderaten Preisen eine wachsende öffentliche Nachfrage nach Mitteln der Gesundheitsaufklärung in Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge bedienen. Diese Partnerschaft zwischen der öffentlichen Hand und einem nach marktwirtschaftlichen Prinzipien operierenden Unternehmen konnte, so die damalige Auffassung, für eine effiziente und dabei preiswerte Wahrnehmung wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben der Gesundheitsaufklärung sorgen. Die Vereinsmitglieder, allen voran die Stadt Dresden, das Land Sachsen und das Reich, gaben dabei freilich nur einen Teil des Prozesses aus der Hand. Sie behielten sich die Steuerung und Kontrolle der Einrichtungen durch die Entsendung von Vertretern in die Leitungsgremien des Museumsvereins und der Aktiengesellschaft vor.36 Außerdem wurden die Lehrmittel durch das Reichsgesundheitsamt geprüft und zertifiziert. Danach wurden sie durch staatliche Vermarktungs- und Vertriebskanäle, etwa den Reichsausschuß für hygienische Volksbelehrung und die Landesversicherungsanstalten, weiterempfohlen und verteilt. Mit den Lehrmitteln erreichte das Museum neue Zielgruppen für seine Aufklärung und erschloss sich einen neuen Markt mit neuen Abnehmern. Indem man Produkt- und Marktentwicklung vorantrieb, verschaffte sich das Museum direkt und indirekt mehr Einnahmen. Damit wurde die Abhängigkeit von der öffentlichen Hand allerdings nicht 36 Dem Museumsvorstand gehörten beispielsweise der Präsident des Reichsgesundheitsamtes Carl Hamel, Ministerialdirigent Otto Dammann für das Reichsministerium des Inneren, Oberbürgermeister Bernhard Blüher für die Stadt Dresden und Ernst Just für das Sächsische Finanzministerium an.

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geringer, vielmehr kamen neue Geschäftsbeziehungen hinzu. Eine Risikostreuung fand damit nicht statt und war auch nicht möglich. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise und der einhergehenden Krise des Weimarer Wohlfahrtstaats wurde diese Abhängigkeit von öffentlichen Einrichtungen, Kommunen und Wohlfahrtsorganisationen als Abnehmer für die Aktiengesellschaft wie für das Museum zum Problem. Flächendeckende massive Sparmaßnahmen in den Haushalten ließen bei allen öffentlichen Institutionen des Reichs und bei den Wohlfahrtsorganisationen die verfügbaren Mittel schlagartig schrumpfen. Damit brach auch der Absatz der Aktiengesellschaft ein, die jetzt durch das Museum finanziell unterstützt werden musste. Erst mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten und deren Neuausrichtung der öffentlichen Gesundheitsfürsorge flossen neue Mittel, die fortan in die Produktion von Ausstellungen und Lehrmitteln zur Unterstützung der nationalsozialistischen Bevölkerungsund Rassenpolitik investiert wurden.

Volksbildungsinstitut und Museumskonzern Die Ausstellungen und Lehrmittelbetriebe erwirtschafteten im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erhebliche finanzielle Ressourcen für das Deutsche Hygiene-Museum. Noch wichtiger als diese unmittelbaren Profite war für das Museum, dass es sich mit der Aktiengesellschaft und dem Ausstellungsbetrieb gegenüber der öffentlichen Hand als kompetenter, leistungsfähiger und effizienter Dienstleister im Bereich Gesundheitsaufklärung profilieren konnte. Erst die Lehrmittelproduktion und die erfolgreichen Wanderausstellungen veranlassten das Reich und die Wohlfahrtsorganisationen, das Museum langfristig finanziell, symbolisch und organisatorisch zu unterstützen. Diese engen Ressourcenbeziehungen gaben den Ausschlag für die reichsweite Anerkennung des Deutschen Hygiene-Museums 1922 als „Zentralinstitut für Volksgesundheitspflege“. Indem das Museum Gesundheit zum zentralen Thema erhob und Wissensvermittlung im Sinne einer „Hochschule für jedermann“37 zur Bewältigung der Herausforderungen der Moderne betrieb, gehörte es zu einer Gruppe von Museen neuen Typs zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese Sozial- und Gegenwartsmuseen, zu denen gleichzeitig das Deutsche Museum in München und das kurzlebige Reichsmuseum für Gesellschafts- und Wirtschaftskunde in Düsseldorf gehörten, sollten mit ihrer durchdachten Didaktik „Lernorte für instrumentelles Wissen“38 für den modernen Menschen sein. Das Deutsche Hygiene-Museum fungierte mit seinen Ausstellungen, Lehrmitteln, Kursen und Publi37 Marta Fraenkel 1930: Hygiene-Ausstellung, eine Hochschule für jedermann! – Versuch einer geschichtlich-soziologischen Ableitung. In: Heinrich Zerkaulen (Hg.): Das Deutsche Hygiene-Museum: Festschrift zur Eröffnung des Museums und der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1930. Dresden: Jess, 15–23. 38 Roth 1990: 44.

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kationen als bedeutendste Vermittlungsinstanz zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit auf dem Gebiet der Gesundheitsaufklärung in der Weimarer Republik und war somit an der allgemeingesellschaftlichen Institutionalisierung des Hygienediskurses39 beteiligt. Das Museum und die Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrmittelbedarf mit Verlag sowie die Hygiene-Akademie bildeten ein einzigartiges hybrides, symbiotisches Organisationsgefüge. Als Träger war der Verein für das Deutsche Hygiene-Museum formell dem Gemeinnutz verpflichtet, wurde von der öffentlichen Hand subventioniert, diente auch staatlichen Zielen, verfolgte diese aber mit privatwirtschaftlichen Methoden. In dieser frühen Form der öffentlich-privaten Partnerschaft wurde der „Hygiene-Konzern“ zum Dienstleister wohlfahrtsstaatlicher Gesundheitspolitik. Gesundheitsaufklärung wurde durch ihn zum einträglichen Geschäft gemacht. Mit den erwirtschafteten Profiten wurde wieder neue Gesundheitsaufklärung ermöglicht. Innovativ in der Frage des Hygienediskurses war das Deutsche Hygiene-Museum insofern, als es der Popularisierung und Institutionalisierung eben dieses Diskurses durch seine Lehrmittel und Ausstellungen ein wissenschaftliches Gepräge gab. Zu diesem Zweck brachte es eine spezifische organisatorische Form und Ressourcenökonomie hervor. Der wirtschaftliche Erfolg des institutionellen Komplexes aus Lehrmittel- und Ausstellungsbetrieb, und damit das Überleben des Museumsvereins, stand in direktem Zusammenhang mit dem Ausbau des Weimarer Wohlfahrtsstaats und der zunehmenden Sorge der Öffentlichkeit um die Gesunderhaltung seiner Bürger. Die Ausweitung beider Geschäftsbereiche ist als Reaktion, Ergebnis und Triebkraft wohlfahrtsstaatlicher Gesundheitspolitik unter marktwirtschaftlichen Vorzeichen zu verstehen. Betriebswirtschaftliche Strategien, die heute im Unternehmensmanagement mit Begriffen wie Produktentwicklung und Angebotsdiversifikation, Marktdurchdringung und -monopolisierung, Expansion und Spezialisierung, Profitmaximierung, Vernetzung, Effizienzsteigerung und Marketing bezeichnet werden, waren den Hauptakteuren wie Lingner40 und Seiring keineswegs fremd. Tatsächlich weist das Deutsche Hygiene-Museum zumindest nach der hier vorgestellten Lesart nur wenige Gemeinsamkeiten mit einem „Museum alten Stiles“ auf. Im Jargon der Gegenwart bleibend, könnte man sein Geschäftsmodell in den 1920er-Jahren als Full-Service-Agentur für Gesundheitsaufklärung bezeichnen.

39 Zum Hygienediskurs siehe Philipp Sarasin 2001: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765– 1914. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 40 Vgl. zu Lingner als Unternehmer Helmut Obst 2005: Karl August Lingner. Ein Volkswohltäter? Kulturhistorische Studie anhand der Lingner-Bombastus-Prozesse 1906–1911. Göttingen: V & R Unipress, sowie Henriette Väth-Hinz 1985: Odol. Reklame-Kunst um 1900. Gießen: Anabas-Verlag.

Lioba Thaut

Leibesvisitation. Blicke auf den Körper in fünf Jahrhunderten. Strategien der Sichtbarmachung in einer Sonderausstellung 1990/91 am Deutschen Hygiene-Museum

Das 1912 gegründete Museum in Dresden sollte eine „Stätte der Belehrung sein für die ganze Bevölkerung, in der jedermann sich durch Anschauung Kenntnisse erwerben kann, die ihn zu einer vernünftigen und gesundheitsfördernden Lebensführung befähigen“.1 Heute hat sich das Deutsche Hygiene-Museum in aller Deutlichkeit von diesem volkserziehenden-volkshygienischen Ansatz distanziert; es versteht sich als ein „offenes Diskussionsforum für alle, die an den kulturellen, sozialen und wissenschaftlichen Umwälzungen unserer Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts interessiert sind“.2 Zuletzt bot das 100-jährige Jubiläum der Internationalen Hygiene-Ausstellung 2011 in Dresden Anlass zur kritischen Rückschau auf die eigene Geschichte des Hauses: Bis zum Ende der DDR diente es als zentrale Einrichtung der staatlichen Gesundheitsaufklärung.3 Die Beschäftigung mit der eigenen Tradition als Aussteller und als Produzent von wissenschaftlich gestützten, normativen Körperbildern begann bereits unmittelbar nach der Wiedervereinigung mit der Sonderausstellung Leibesvisitation. Blicke auf den Körper in fünf Jahrhunderten. Das Besondere an dieser Veranstaltung von 1990/91 bestand nicht nur in der Kooperation des Deutschen Hygiene-Museums mit dem 1987 in Westberlin gegründeten Deutschen Historischen Museum. Neu war in Dresden auch ein dezidiert kulturhistorischer Blick auf die hauseigenen Strategien der Sichtbarmachung des Körpers und damit auf die eigenen Exponate und Exportartikel, etwa auf die sogenannten Gläsernen Figuren. Damit verabschiedete sich das Museum, wenn der Anstoß auch von außen kam, erstmals von seinem alten Auftrag, nämlich der Vermittlung von geltendem Wissen für gesunde Lebensführung. Stattdessen wurde es zum Ort einer zeit- und kulturkritischen Reflexion über Körper- und Gesellschaftsbilder. 1 Karl August Lingner [1912] 1987: Denkschrift zur Errichtung eines National-Hygiene-Museums in Dresden. Reprint, Dresden: Hausverlag Deutsches Hygiene-Museum. 2 http://www.dhmd.de/index.php?id=3, letzter Zugriff am 8. Oktober 2013. 3 Vgl. Klaus Vogel 2011: Von der Totalität des Wissens zur Universalität des Menschen. Dresdner Hefte, 29, 109: 86–96, hier 86 sowie bereits Klaus Vogel 1999: Das Deutsche Hygiene-Museum als Diskussionsort eines modernen Menschenbildes. Dresdner Hefte, 17, 57: 83–92.

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Anknüpfend an die großen kulturhistorischen Themenausstellungen der 1980er-Jahre zeichnete sich Leibesvisitation auch durch eine besondere Gestaltung aus. Dem Gedanken der Visitation folgend, bewegten sich die Besucher durch einen nachgebauten Körper. Einzelne Körperteile waren an besonderen Stationen begehbar gemacht worden. Durch historische Exponate wurde die reiche Geschichte der wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Visualisierung des Körpers erfahrbar. In meinem Beitrag will ich folgenden Fragen nachgehen: Worin gründet die besondere Bedeutung der Ausstellung für die weitere Entwicklung des Museums nach der Friedlichen Revolution in der DDR? Und mit welchen Mitteln wurden die Strategien der Sichtbarmachung des menschlichen Körpers aus fünf Jahrhunderten in der Ausstellung kritisch reflektiert? Für die Beantwortung ist es zunächst notwendig, Leibesvisitation in die neue kulturhistorische Ausstellungslandschaft der 1980er-Jahre einzubetten. Des Weiteren werde ich auf die organisatorische Vorgeschichte der Ausstellung eingehen, denn sie war sehr eng mit den politischen Umbrüchen nach 1989 verbunden, ohne die die Veranstaltung in Dresden so nicht hätte stattfinden können. Im Hauptteil biete ich einen Rundgang durch die Ausstellung und werde zeigen, dass sie für die inhaltliche Neuausrichtung des Museums nach dem Ende der DDR einen Wendepunkt bildete. Denn hier wurde erstmals kein Körperbild vorgegeben, sondern das bisher tradierte wurde selbst zum Thema. Zentral war die kritische Reflexion des bisherigen Arbeitsauftrags.4

Kulturhistorische Ausstellungen der 1980er-Jahre Für den Wandel des Ausstellungswesens seit den 1970er-Jahren machte der Kulturwissenschaftler Gottfried Korff im Rückblick zwei eng miteinander verwandte Faktoren verantwortlich: den Museumsboom und die Bildungsexpansion.5 Die Eröffnung neuer Häuser führte zum Einzug alltäglicher Dingwelten in die Sammlungen der Museen, die auf neue Weisen inszeniert werden mussten. Die Hinwendung der Museen zu neuen Bildungsschichten zog nicht zuletzt eine Aufwertung der Museumspädagogik nach sich.6 4 Dieser Beitrag entstand im Rahmen meines Dissertationsprojekts „DDR-Museum nach 1989/90. Die Transformation des Deutschen Hygiene-Museums Dresden und des Museums für Naturkunde Berlin in Vergleich“, das 2012 an der Bielefeld Graduate School for History and Sociology begonnen wurde und seit dem Wintersemester 2013/14 an der Universität Leipzig durchgeführt wird. Ich danke Silke Eberspächer für die Fotos und die Abdruckgenehmigung sowie Sybilla Nikolow, Christian Sammer, Anna-Gesa Leuthardt und den anderen Mitgliedern der Bielefelder Arbeitsgruppe für die kritische Diskussion. 5 Gottfried Korff [1996] 2002: Zielpunkt: Neue Prächtigkeit? Notizen zur Geschichte kulturhistorischer Ausstellungen in der „alten“ Bundesrepublik. In: Martina Eberspächer, Gudrun M. König, Bernhard Tschofen und Bodo M. Baumunk (Hg.): Museumsdinge. Deponieren – Exponieren. Köln/Weimar/ Wien: Böhlau, 24–48, hier 29. 6 Wegweisend waren hierfür u.a. Ellen Spickernagel und Brigitte Walbe (Hg.) 1976: Das Museum. Lernort contra Musentempel. Gießen: Anabas.

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Auch für die Sonderausstellung Leibesvisitation wurden Objekte aus der Lehrmittelproduktion des bisherigen Deutschen Hygiene-Museums mit neuartigen gestalterischen Ideen der Öffentlichkeit präsentiert. Die erste Veranstaltung, die die kulturhistorische Ausstellungspraxis in der Bundesrepublik nachhaltig veränderte, war die 1981 im Westberliner Martin-Gropius-Bau gezeigte Schau Preußen. Der Versuch einer Bilanz.7 In dieser Großausstellung waren viele Besonderheiten bereits vertreten, die später charakteristisch für die neue Richtung wurden: die Themenorientierung, die Inszenierung und die engere Zusammenarbeit von wissenschaftlichen Kuratoren mit Bühnenbildnern, Raumkünstlern und Architekten. Die jeweils gewählte thematische Ausrichtung wurde durch originale Exponate gestützt. Mit überlegten inszenatorischen Mitteln schufen die Ausstellungsmacher räumliche Erlebniswelten und versetzten die Objekte in wirkungsvolle Bildräume. Dabei lösten sie diese aus ihren früheren Bedeutungskontexten und präsentierten sie in neuen, teilweise für die Besucher überraschenden Zusammenhängen, etwa indem Exponate verfremdet oder ironisch gebrochen wurden.8 Die Macher der Leibesvisitation übernahmen viele Anregungen aus der PreußenAusstellung und passten sie ihrem ganz anderen Thema an.9 So hatten auch dort schon die Objekte im Vordergrund gestanden und wurden bühnenbildnerisch „in Szene“ gesetzt. Bestimmend wurden dabei kultur- und sozialgeschichtliche Perspektiven, die die Lebenswelten und Denkweisen von Menschen im historischen Wandel erschlossen.10 Die konsequente Historisierung von wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Bildern des menschlichen Körpers in Leibesvisitation ist im Rahmen dieser neuen Orientierung zu sehen.

7 Ulrich Eckhardt (Hg.) 1982: Preußen. Versuch einer Bilanz: Bilder und Texte einer Ausstellung, Berlin: Berliner Festspiele, siehe auch Joachim Baur 2012: Ausstellen. Trends und Tendenzen im kulturhistorischen Feld. In: Bernhard Graf (Hg.): Museen zwischen Qualität und Relevanz. Denkschrift zur Lage der Museen. Berlin: G+H Verlag, 131–144, hier 134. 8 Korff [1996] 2002: 35 sowie Baur 2012: 134 f. 9 Korff [1996] 2002: 36. 10 Vgl. hierzu die Ausstellungen zur Erfahrung von Sterben und Tod (Die letzte Reise. Sterben, Tod und Trauersitten in Oberbayern, 1984 im Stadtmuseum München), zur Geschichte der Reinlichkeit (Sauber und Rein, 1988 in Basel und im Freilichtmuseum Grefrath) oder zur „zweiten Haut“, der Unterkleidung (Zur Geschichte der Unterwäsche, 1700–1960, im gleichen Jahr im Historischen Museum Frankfurt). Siehe Rosmarie Beier und Regine Falkenberg 1989: Die Mentalität im Blick. Überlegungen zur Sammlungskonzeption des Deutschen Historischen Museums. Zeitschrift für Volkskunde, 85, 19–32, hier 30.

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Vorgeschichte und Entstehung der Sonderausstellung in der politischen Umbruchzeit 1989/90 Leibesvisitation kam als deutsch-deutsches Gemeinschaftsprojekt zweier Museen zustande, die auf eine sehr unterschiedliche Vorgeschichte zurückblickten. Das Deutsche HygieneMuseum Dresden auf der einen Seite mit seiner weit zurückreichenden gesundheitsaufklärerischen Tradition hatte seit September 1946 (mit Rückwirkung für ein Jahr) als Institut für „hygienisch-medizinische“ Propaganda und „Zentralstelle für Volksgesundheitspflege und gesundheitliche Volksbelehrung“ die Aufgabe übernommen, „auf breiteste Schichten […] einzuwirken“; durch „Aufklärung über alle Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege“ sollte es „die Voraussetzung für eine einheitliche Gesundheitspolitik schaffen“.11 Erstmals in der großen Festveranstaltung zum 75-jährigen Jubiläum im April 1987 präsentierte es sich als traditionsbewusstes Haus mit eigener Geschichte.12 Mit dem Fall der Mauer kam es dann zunächst zu personellen Veränderungen: Der bisherige Generaldirektor Jochen Neumann bat im November 1989 um seine Abberufung.13 Nach einer kurzen Übergangszeit, während Ernst Hagemoser, den der Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger Mitte der 1980er-Jahre ans Dresdner Museum versetzt hatte, Neumanns Stelle vertrat, wählten die Mitarbeiter im Februar 1990 Volkhard Netz zum neuen Leiter des Hauses.14 Netz war 1984 als Exportbeauftragter ans Museum gekommen und 1988/89 als Direktor des neuen Bereichs „Ausstellungen und Veranstaltungen“ unter anderem für den Export einer Gläsernen Zelle an die Naturwissenschaftlichen Sammlungen in Westberlin zuständig.15 Als er sie zwölf Tage nach dem Mauerfall gemeinsam mit seinen Kollegen übergab, nutzte er die Gelegenheit, um die Mitarbeiter des Westberliner Deutschen Historischen Museums in ihrem Bürogebäude in Charlottenburg zu besuchen. Den Kontakt vermittelten die Kollegen von den Natur11 Deutsche Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen – Anordnung des Präsidenten Konitzer, 24. September 1946; Deutsches Hygiene-Museum, Ausarbeitung einer Satzung 1948 (Bundesarchiv [im Folgenden BArch], Bl. 106–108, hier 106). 12 Deutsches Hygiene-Museum in der DDR (Hg.) 1987: 75 Jahre Deutsches Hygiene-Museum in der DDR. Ein historischer Abriß. Dresden: Deutsches Hygiene-Museum in der DDR, siehe auch Lingner [1912] 1987 mit dem Geleitwort des Generaldirektors Neumann und einem kurzen historischen Abriss. 13 Interview mit Jochen Neumann, 11. November 2013 in Chemnitz. 14 Volkhard Netz 2003: Wir waren zu (gut-)gläubig. Eine persönliche Erinnerung an die Abwicklung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden – Zeitraum 1989–1999, maschinenschriftliches Manuskript. Ich danke Volkhard Netz für eine Kopie dieses Dokuments. 15 Aktennotiz durch Volkhard Netz vom 21. Mai 1988 über die Beratung mit Vertretern des Naturkundemuseums Westberlin am 19. und am 21. Mai 1988 (Sächsisches Staatsarchiv-Hauptstaatsarchiv Dresden [im Folgenden SStA-HStAD], 13658, Au Nr. 289); Aktennotiz durch Volkhard Netz vom 15. November 1989 über die Beratung mit dem Förderkreis der Naturwissenschaftlichen Sammlungen Westberlin am 13. November 1989 (ebd.); Aktennotiz durch Volkhard Netz vom 23. November 1989 über die feierliche Übergabe der Gläsernen Zelle an das Naturkundemuseum Westberlin am 21. November 1989 (ebd.: Au Nr. 262).

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wissenschaftlichen Sammlungen, da diese von den Gläsernen Figuren aus der Dresdner Produktion wussten, die dem Deutschen Historischen Museum geschenkt worden waren.16 Das Deutsche Historische Museum in Westberlin wurde als Ergänzung des schon vorhandenen Bonner Hauses der Geschichte und als Gegengründung zum Museum für deutsche Geschichte der DDR, das im ehemaligen Zeughaus seinen Sitz hatte, nach heftigen politischen Debatten 1987 geschaffen. Anlässlich der 750-Jahr-Feier der Stadt unterzeichneten Bundeskanzler Helmut Kohl und der regierende Bürgermeister Westberlins Eberhard Diepgen die Gründungsurkunde. Zum ersten Generaldirektor wurde der Leiter des Münchener Stadtmuseums Christoph Stölzl berufen. In der von einer Sachverständigenkommission erarbeiten Konzeption war die Gliederung des Museums in Epochen-, Vertiefungs- und Themenräumen vorgesehen. Ein solcher Raum sollte sich auch mit Gesundheit, Krankheit und Tod im Wandel befassen und einen Gläsernen Menschen ausstellen.17 Weil es noch kein Gebäude besaß, konnte das neue Museum nur durch Sonderausstellungen auf sich aufmerksam machen, für die Räume gesucht werden mussten. In der Einrichtung waren vornehmlich jüngere Wissenschaftler tätig, die als Mitglieder des sogenannten Wissenschaftlichen Aufbaustabes für die Planung der Dauerausstellung und für das Sammeln von Objekten zuständig waren. Zum Team gehörten Martin Roth und Rosmarie Beier. Roth kam nach seiner Promotion am Tübinger Ludwig-UhlandInstitut für Empirische Kulturwissenschaft und einem Forschungsaufenthalt in Paris nach Berlin. Beier hatte nach ihrer Promotion an der Technischen Universität Berlin als wissenschaftliche Mitarbeiterin schon für die Jubiläumsausstellung Berlin, Berlin zur 750-Jahr-Feier gearbeitet, in der bereits eine Figur des Gläsernen Menschen aus den 1930ern, eine Leihgabe des Mayo Medical Museums in Rochester/USA, gezeigt wurde.18 Beide waren aus wissenschaftlichen wie restauratorischen Gründen am Deutschen Hygiene-Museum Dresden interessiert. Anfang des Jahres 1989 nahmen sie brieflich Kontakt mit dem Dresdner Generaldirektor Neumann auf und baten um historische Unterlagen zu den Gläsernen Menschen.19 Das Westberliner Museum hatte 1988 aus den USA zwei Gläserne Menschen erhalten. Sie waren in den 1930er-Jahren in Dresden gefertigt und exportiert worden. Eine 16 Brief von Volkhard Netz an Fritz Doerr vom 27. April 1989 (Hausarchiv Deutsches Historisches Museum [im Folgenden HA-DHM], Projektakten Leibesvisitation vorl. 1, Der gläserne Mensch, Berlin); Brief von Fritz Doerr und Dieter Jung an Christoph Stölzl vom 16. Mai 1989 (ebd.) sowie Brief von Rosmarie Beier an Fritz Doerr vom 29. August 1989 (ebd.). 17 Vgl. Beier/Falkenberg 1989: 19 und 22 f. 18 Gottfried Korff [1987]: Berlin, Berlin. Die Ausstellung der Berliner Festspiele GmbH im MartinGropius-Bau, 15. August bis 22. November 1987. In: Eberspächer/König/Tschofen/Baumunk 2002: 217–228, hier 221. 19 Brief von Rosmarie Beier an Jochen Neumann vom 1. März 1989 (HA-DHM, Projektakten Leibesvisitation vorl. 1, Der gläserne Mensch) sowie Brief von Jochen Neumann an Rosmarie Beier vom 21. März 1989 (ebd.).

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der beiden Figuren wurde 1934 an das Buffalo Museum of Science geschickt.20 Die zweite Figur wurde wahrscheinlich etwa zeitgleich an das New York Museum of Science verkauft und tourte dann einige Jahre mit Shows durch die USA, bis sie im Science Center St. Louis landete.21 Beide Gläsernen Menschen galten als restaurierungsbedürftig und kehrten nach Deutschland zurück.22 Nachdem sich die Mitarbeiter der beiden Häuser im November 1989 kennengelernt hatten, kam es zu weiteren gegenseitigen Besuchen. Bei einem solchen Treffen entstand Anfang 1990 die Idee zu einer gemeinsamen kulturhistorischen deutsch-deutschen Ausstellung rund um den Gläsernen Menschen als Objekt. Als sie ein Dreivierteljahr später eröffnet wurde, war Deutschlands Wiedervereinigung schon vollzogen. Ein wichtiger Zwischenschritt für die Kritik der besonders in Dresden tradierten Strategien der Sichtbarmachung des Körpers wurde bei einem wissenschaftlichen Kolloquium im Februar 1990 am Deutschen Historischen Museum in Westberlin genommen. Die Ergebnisse der Tagung gaben Beier und Roth in einem Aufsatzband heraus.23 Die einzelnen Beiträge zentrierten die Idee des Gläsernen Menschen mit ihrer Vorgeschichte aus kunsthistorischer und kulturwissenschaftlicher Sicht und stellten Querbezüge zur Geschichte der Rationalisierung, Normierung und Visualisierung des Menschen bis in die Gegenwart her. Im Untertitel Zur Kulturgeschichte eines Ausstellungsobjekts wurde die neue Einordnung dieses prominentesten Exponats und Lehrmittels aus Dresden bereits deutlich gemacht. Die Herausgeber wollten nach eigenen Angaben mit dem Band „das geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Bedeutungsfeld der Figuren“ ausloten.24 Gemeinsam mit ihrer Kollegin Regine Falkenberg legten Beier und Roth einen Monat nach dem Kolloquium ein Ausstellungsexposé vor, in dem sie den inhaltlichen Rahmen absteckten.25 Wie die Zusammenarbeit beider Einrichtungen gestaltet werden sollte, regelte eine Kooperationsvereinbarung, die zwei Monate später im Mai 1990 von den Direktoren der beiden Museen unterzeichnet wurde. Im Rahmen der Förderung der Zusammenarbeit deutscher Museen wurde dort die Durchführung einer gemeinsamen Ausstellung vereinbart, die es ermöglichen sollte, historische Objekte aus dem Bestand 20 Vgl. Bernhard Schulz und Thomas Bruns 2012: Wir schreiben Geschichten. 25 Jahre Deutsches Historisches Museum 1987–2012. Berlin: Stiftung Deutsches Historisches Museum: 18 f. 21 Vgl. Klaus Vogel 1999: The Transparent Man. Some Comments on the History of a Symbol. In: Robert Bud, Bernhard S. Finn und Helmuth Trischler (Hg.): Manifesting Medicine. Bodies and Machines. Amsterdam: Harwood Academic Publishers, 31–61, hier 48 f. sowie Interview mit Rosmarie Beier-de Haan am 21. März 2013 in Berlin. Diese Figur stellte das Berliner Museum dem Deutschen Hygiene-Museum als Dauerleihgabe zur Verfügung. Sie ist heute in der Dauerausstellung zu sehen und ist auf dem Cover dieses Bandes abgebildet. 22 Rosmarie Beier und Martin Roth (Hg.) 1990: Der gläserne Mensch – eine Sensation. Zur Kulturgeschichte eines Ausstellungsobjekts. Stuttgart: Hatje, 9, sowie Interview mit Rosmarie Beier-de Haan am 21. März 2013 in Berlin. 23 Beier/Roth 1990: Der Gläserne Mensch. 24 Ebd.: 10. 25 Rosmarie Beier, Regine Falkenberg und Martin Roth: Exposé zur Ausstellung „Der Blick in den Körper“ (Arbeitstitel) vom 9. März 1990 (SStA-HStAD, 13658, Au Nr. 156).

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beider Einrichtungen und anderer Museen zu zeigen.26 Im Vertrag wurde festgelegt, dass die Westberliner für die inhaltliche Konzeption und Gestaltung der Sonderausstellung die Federführung erhielten. Beier und Roth holten einen Bühnenbildner der Münchner Kammerspiele ins Boot, der bereits einige Ausstellungen für das Münchner Stadtmuseum (damals noch unter Stölzls Leitung) ausgeführt hatte. Das Museum in Dresden stellte im Gegenzug die Räume sowie Objekte aus der eigenen Lehrmittelsammlung zur Verfügung und produzierte die Ausstellungsarchitektur in seinen Werkstätten. So konnten trotz aufwendiger Inszenierung die Produktionskosten verhältnismäßig gering gehalten werden. Der Entwurf lag in den Händen der Westberliner, die Ausführung bei den Dresdnern. Im Vertrag musste sich das Deutsche Hygiene-Museum darüber hinaus verpflichten, den ersten Saal der Ausstellung – den Teil der bisherigen Dauerausstellung, in dem seit den 1960er-Jahren durchgängig Propaganda für das sozialistische Gesundheitswesen der DDR betrieben wurde – neu zu gestalten und an die Kooperationsausstellung anzupassen. Dass dieser Punkt mit aufgenommen wurde, belegt, dass aus Sicht der Westberliner die Distanzierung zur sozialistischen Traditionsbildung im eigenen Haus als unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen der gemeinsamen Ausstellung angesehen wurde. Nach einer sechswöchigen Schließzeit des gesamten Hauses wurde am 19. Oktober 1990 mit der Eröffnung der Sonderausstellung „die Wiedergeburt des Deutschen Hygiene-Museums nach der Wende“ gefeiert.27 In seiner Eröffnungsrede betonte der damalige Generaldirektor Netz, dass mit der Sonderausstellung völlig neue Wege beschritten würden, d. h. er siedelte die Weiterführung des ursprünglichen Museumskonzepts auf einer höheren Ebene als bisher an.28 Gleichzeitig wurde die Dauerausstellung Der Mensch durch den neuen Bereich zum Thema „Stress“ aktualisiert.

Die Sonderausstellung Leibesvisitation Mit einer Vielzahl von Objekten skizzierte die Ausstellung beispielhaft und assoziativ, wie sich der Blick auf den Körper und damit auf den Menschen in der Neuzeit gewandelt hatte. Unter den Objekten kam dem Gläsernen Menschen dabei eine Schlüsselrolle

26 Kooperationsvereinbarung zwischen dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden und dem Deutschen Historischen Museum Berlin (West) vom 27. Mai 1990 (HA-DHM, 1.47/Generaldirektion, Zusammenarbeit mit anderen vergleichbaren Einrichtungen, DDR-Kontakte). 27 Ansprache von Volkhard Netz anlässlich der Eröffnung der Sonderausstellung Leibesvisitation – Blicke auf den Körper in fünf Jahrhunderten am 19. Oktober 1990 (SStA-HStAD, 13658, Au Nr. 156). 28 Zur Zeit der Eröffnung der Ausstellung war die Trägerschaft für das Museum noch nicht wieder geklärt. Netz wollte in Zusammenarbeit mit der Kölner Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung eine Bundesanstalt für Gesundheitsaufklärung etablieren, die von einer Stiftung oder einem Verein getragen werden sollte. Die Auslagerung der Lehrmittelproduktion in einer GmbH stand zu diesem Zeitpunkt aber schon fest.

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zu.29 Seine Neuinterpretation war für die weitere Entwicklung des Hauses in Dresden von entscheidender Bedeutung. Das blieb auch für die bisherigen Lehrmittel des Deutschen Hygiene-Museums nicht folgenlos. Die ursprünglich für die Gesundheitsaufklärung hergestellten und hauptsächlich als Lehrmaterial verstandenen Exponate wie Präparate, Modelle, Apparate, Installationen, Schautafeln und Lichtbilder wurden nicht länger isoliert, sondern im Kontext mit anderen, wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Visualisierungen des menschlichen Körpers ausgestellt. Wie es den neuen kulturhistorischen Themenausstellungen entsprach, wurde auch hier wesentlich von den Originalobjekten her gedacht, das heißt, diese wurden nicht illustrativ eingesetzt, und ihre Präsentation diente auch keiner gesundheitlichen Unterweisung, wie es am Deutschen Hygiene-Museum zur Zeit der DDR gängige Praxis gewesen war. Stattdessen wurden variable Perspektiven auf den Körper vorgeführt, die unterschiedlichen historischen Traditionen zugeordnet waren. Im Exposé betonten die Macher die bloße Hilfsfunktion der vorhandenen Texte. Nicht sie sollten den Raum und die einzelnen Themen dominieren, vielmehr sollten die Objekte selbst das zentrale Argument bilden.30 Die Ausstellung war zudem nicht chronologisch aufgebaut. Sie bestand aus drei Sälen: Der erste war als Einführung in die Institutionsgeschichte des Museums und seiner Lehrmittelproduktion gedacht. Die anderen beiden Säle enthielten zusammen elf korrespondierende Themeninseln. Abb. 1: Eingangsbereich in das Deutsche HygieneMuseum mit Ballwerfer während der Sonderausstellung Leibes­visitation 1990/91 (Foto: Silke Eberspächer).

29 Aktennotiz vom 8. März 1990 durch Volkhard Netz über eine Beratung zum gemeinsamen Ausstellungsvorhaben „Gläserne Figuren“ und tangierende Aktivitäten am 23. Februar 1990 (SStA-HStAD, 13658, Au Nr. 263). 30 Vgl. Exposé von Beier/Falkenberg/Roth.

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Die erste Gegenüberstellung eines historischen Objekts und eines Visualisierungsverfahrens begegnete den Besuchern schon vor dem Betreten der Ausstellungsräume. Die Skulptur des antiken Ballwerfers, die aus der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 stammte und seit 1930 vor dem Museumsgebäude stand, wurde mit ihrer Geschichte in die Idee der Sonderausstellung eingebunden (Vgl. Abb. 1). Zwischen der Figur und dem Hauseingang wurde die Pose des Sportlers auf einem Transparent mit dem vergrößerten Röntgenbild einer Person in der gleichen Haltung kontrastiert. Die Besucher mussten daran vorbeigehen, um ins Gebäude zu gelangen, und durchschritten eine piepsende Lichtschranke, die ihnen mitteilte, dass sie gezählt wurden. Mit dieser Eingangssequenz aus entblößter Figur, durchleuchtetem Körper und normierter Registrierung, so der Gestalter, wolle man die Besucher auf das Thema der Ausstellung einstimmen.31 Der von mehreren verkleinerten blauen Kopien der Skulptur eines Diskuswerfers32 gesäumte Weg führte anschließend durch die Silhouette eines Menschen, die innen mit mehreren runden Spiegeln ausgestattet war und es den Besuchern ermöglichte, sich selbst gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten (Vgl. Abb. 2). Durch Lichtschranke und Spiegel wurden sie somit selbst zu Objekten von Sichtbarmachungsstrategien. Abb. 2: Installation zur „Selbstbetrachtung“ am Eingang der Ausstellung (Foto: Silke Eberspächer).

Anschließend gingen die Besucher durch einen Raum der ehemaligen Dauerausstellung, der für Leibesvisitation umgestaltet worden war. In einem Rundbau, der dem Populären Pavillon Der Mensch der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 nachempfunden war, 31 Interview mit dem Ausstellungsgestalter am 15. April 2013 in München. 32 Die Kopien waren bei der Dresdner Kunstakademie für die Ausstellung in Auftrag gegeben worden, vgl. ebd.

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wurde an den Initiator und Organisator dieser viel beachteten Veranstaltung und späteren Museumsgründer Karl August Lingner erinnert. In den Säulen waren historische Dokumente zu sehen, so die hier eingangs zitierte Denkschrift zur Gründung des Museums, und auch das Mundwasser Odol, mit dem Lingner seinerzeit ein Vermögen verdient hatte. Danach ging man durch zwei Tore, hinter denen an den Seiten die Plakate von 1911 und die der II. Internationalen Hygiene-Ausstellung 1930/31 in Dresden sowie TextBild-Tafeln zur Geschichte des Museums und Lehrtafeln vom menschlichen Körper zu sehen waren (Abb. 3). Abb. 3: Präsentation der Lehrmittelproduktion im ersten Saal der Ausstellung (Foto: Silke Eberspächer).

In der Mitte des Raums positionierte der Ausstellungsgestalter ein ovales Podest. In seiner Form und verstärkt durch einen an der Decke hängenden Augapfel mit Pupille wurde das Augenmotiv aus dem Logo des Museums aufgegriffen.33 Die Objekte, verschiedene anatomische Modelle aus der Geschichte der Dresdner Lehrmittelproduktion,34 waren nicht durch Glas geschützt, doch baute ein transparenter Tüllvorhang eine gewisse Distanz des Betrachters zum Inhalt der Vitrine auf. Diese Inszenierung sollte verhindern, dass die Objekte angefasst wurden.35 Sie drückte den Lehrmitteln aber auch den „Schleier der Geschichte“ auf, und die bisherigen wissenschaftlichen Hilfsmittel wurden als museale Artefakte neu sichtbar.

33 Vgl. ebd. 34 Diese Objekte waren auch schon vorher in der Dauerausstellung der DDR zu sehen. Sie sollten dort die Vielfalt der Dresdner Lehrmittelproduktion demonstrieren und wurden für ihren Verkauf präsentiert. Dieser Raum wurde zwar vom Ausstellungsgestalter neu inszeniert, ist aber nicht im Objektkatalog erwähnt. 35 Interview mit dem Ausstellungsgestalter am 15. April 2013 in München.

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Überblick Nach diesem einführenden Saal wurden die Besucher durch die elf Themeninseln und damit durch die eigentliche Sonderausstellung geführt. Auf dem Weg zur ersten Themeninsel „Der geöffnete Leib“ passierten die Besucher eine Inszenierung, die Der Spiegel damals als „makabre Peep-Show“ bezeichnete.36 Zu sehen war die Figur eines Mannes, der durch ein Guckloch das Modell einer Frau betrachtete, deren eine Körperhälfte den Blick auf ihre Organe freigab, während die andere mit Reizwäsche nur leicht bedeckt war. Der wissenschaftliche Blick ins Körperinnere wurde demnach mit dem männlich voyeuristischen Blick auf das Objekt des Begehrens analogisiert. In „Der geöffnete Leib“ wurde für die Präsentation der Objekte der Nachbau eines menschlichen Brustkorbs genutzt, auf den ich in einem späteren Abschnitt zurückkomme. Auch den nächsten Bereich „Der Gläserne Mensch“, der sich deutlich an die Erstpräsentation von 1930 anlehnte, werde ich noch ausführlicher betrachten. Die anschließende Themeninsel „Zwerge und Riesen“ fokussierte als anormal bezeichnete menschliche Körper und dokumentierte ihre Ausgrenzung im 18. Jahrhundert.37 Die folgende Themeninsel mit dem Titel „Der beschädigte Mensch“ zeigte in einer großen lang gezogenen Blechvitrine von der Form eines Arms beschädigte und deformierte Körper sowie technische Geräte (etwa Prothesen) zu ihrer Mobilisierung. In einer „Stahlfaust“ am Ende des Saals wurde schließlich „Der militärische Körper“ abgehandelt. Gezeigt wurden Methoden des militärischen Drills und der Entindividualisierung und Normierung des Körpers als Teil einer großen Maschinerie. Vorbei an den Abgüssen einer Autopsie, mit denen die schrittweise Sichtbarmachung der inneren Organe eines Menschen gezeigt wurde, ging es in den dritten Saal. Dessen erstes Thema war „Der gläserne Volkskörper“. Wie in der vorangehenden Themeninsel wurde erneut die Praxis der Unterordnung des Individuums unter Zwecke eines Kollektivs aufgenommen. An Beispielen aus dem Nationalsozialismus wurde demonstriert, wie der Einzelne durch politische Kontrolle gläsern gemacht wurde. In „Licht, Luft, Sonne – Freikörperkultur“ wurden Praktiken der Leibesübung und -ertüchtigung durch Bewegung, Gymnastik, Sport und Atemschulung präsentiert. Die in der Mitte des dritten Raums platzierte Themeninsel „Der Stoff, aus dem die Menschen sind“ zeigte den zweiten Gläsernen Menschen, jetzt jedoch im Kontext seiner Herstellung und somit in einem völlig anderen Bedeutungszusammenhang. Noch drei weitere Themeninseln schlossen sich an. „Der vermessene Körper“ folgte darstellerisch einem strengen Raster: Die Objekte waren in quadratischen Vitrinen angeordnet, was die Strategien der wissenschaftlichen Vermessung des Menschen und seiner Klassifizierung veranschaulichen 36 N. N.: Blicke unter die Haut. In der Schau „Leibesvisitation“ zeigt das Dresdner Hygiene-Museum den Menschen und sein Verhältnis zum Körper. Der Spiegel, 29. Oktober 1990, Nr. 44, 317. 37 Detaillierte Informationen über die einzelnen Themeninseln finden sich im Objektkatalog der Ausstellung: Martin Roth und Rosmarie Beier (Hg.): Leibesvisitation. Blicke auf den Körper in fünf Jahrhunderten. Die Objekte. Berlin: DHM GmbH Berlin [= Bausteine, Teil 4].

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sollte. Entsprechend schlicht im Stil der Bauhaus-Architektur war die Themeninsel „Kunst-Körper“ gestaltet. Die dort gezeigten künstlerischen Menschenbilder reduzierten ihren Gegenstand mithilfe geometrischer Formen auf reine Bewegung und Funktionalität. Am Ende der Ausstellung folgte schließlich „Der durchleuchtete Mensch“, in dem das Eingangsmotiv des durchleuchteten Ballwerfers wieder aufgenommen wurde. Außerdem wurde hier das Modell eines „Ersatzteilmenschen“ präsentiert, der mit allen bereits herstellbaren künstlichen Organen und Körperfunktionen auf das Thema der Organtransplantation hinwies. In einer weiteren Inszenierung dieser Abteilung wurde auch auf aktuelle Ereignisse des Jahres 1990 Bezug genommen. So enthielten Aktenordner aus der Stasi-Zentrale in Dresden kleine Kunststoffnachbildungen des Gläsernen Menschen. Der durchleuchtete Mensch aus der Röntgendiagnostik setzte sich im gläsernen Bürger des Überwachungsstaats fort.

Die erste Themeninsel „Der geöffnete Leib“ als begehbarer Brustkorb Schob man die Körperhülle beziehungsweise die Haut mit einem Vorhang symbolisch zur Seite, so wurde der Blick auf die Erforschung des Inneren des Menschen gelenkt (Abb. 4a und 4b). Eine Holzkonstruktion in der Form und Farbe von Rippen eines Brustkorbs überspannte diesen Raum als begehbarer Tunnel. Die Seitenwände und die Decke, aber auch die Vitrinen waren mit rosafarbenem Stoff ausgelegt. Auf dem Boden befand sich ein beim Gehen nachgebender Spannteppich im gleichen Farbton. Die Vitrinen auf einer Seite des Tunnels enthielten aus dem 19. Jahrhundert stammende anatomische Lehrtafeln zum Bewegungsapparat und zu einzelnen Organen. In den Rippenbögen selbst war ein absichtsvolles Sammelsurium von mit der Anatomie verknüpften Artefakten wie Plakate von anatomischen Kabinetten, Gipsfiguren von Muskelmännern, zerlegbare anatomische Modelle, aber auch Aufklappbilder und Lehrtafeln ausgestellt. Direktes Licht strahlte die Objekte an, die Besucher hörten Herzschläge.38 Mittlerweile ist die Raumgestaltung in Form eines begehbaren Körpers oder Organs in Wissenschaftsmuseen und Science Centers sehr verbreitet. In der zur Jahrtausendwende eröffneten Pharmazieabteilung des Deutschen Museums beispielsweise befindet sich eine begehbare Zelle, deren Aufbau im Detail studiert werden kann.39 Im Science Center Bremen gab es zur Eröffnung und in den Jahren danach eine überdimensionierte Gebärmutter, mit der es möglich sein sollte, das Leben eines Embryos im Mutterleib

38 Kurzzusammenfassung der Ausstellung Leibesvisitation – Blicke auf den Körper in fünf Jahrhunderten vom 25. Oktober 1990, Manuskript (SStA-HStAD, 13658, Au Nr. 156). 39 Näheres bei Andrea Wegener 2001: Das Unsichtbare sichtbar machen. Die neue Ausstellung „Pharmazie“ im Deutschen Museum. In: Marc-Denis Weitze (Hg.): Public Understanding of Science im deutschsprachigen Raum. Die Rolle der Museen. München: Deutsches Museum, 150–158; zu sehen ist das Objekt unter: http://www.deutsches-museum.de/ausstellungen/naturwissenschaft/pharmazie/ die-zelle/, letzter Zugriff am 17. Juli 2014.

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Abb. 4a und 4b: Themeninsel „Der geöffnete Leib“ mit anatomischen Zeichnungen und Modellen unter den Rippenbögen (Fotos: Silke Eberspächer).

nachzuempfinden.40 Heute können solche Ausstellungsaufbauten von Firmen gemietet werden.41 Entscheidend bei der Ausstellung Leibesvisitation war aber, dass dieses Gestaltungselement nicht als detailgetreue Nachbildung eines Körperteils gedacht war, sondern als Bühne einer doppelten Sichtbarmachungsstrategie verstanden und umgesetzt wurde: Nur vordergründig ging es hier darum, die Aufmerksamkeit auf den Brustkorb mit seiner Schutzfunktion für die dahinterliegenden Organe zu lenken. Im Unterschied zu 40 http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/science-center-bremen-museum-mit-begehbarergebaermutter-a-92053.html, letzter Zugriff am 17. Juli 2014. Inzwischen gehört die begehbare Gebärmutter nicht mehr zu den Ausstellungselementen. 41 Etwa von der Firma Organmodelle Deutschland, siehe http://www.organmodelle.de, letzter Zugriff am 17. Juli 2014.

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klassischen Wissenschaftsausstellungen war die Vermittlung von anatomischem Wissen über diesen Körperteil nebensächlich geworden. Beabsichtigt wurde vielmehr eine kulturgeschichtliche Problematisierung von Einsichten und Erkenntnissen über den menschlichen Körper. Statt Detailwissen auszubreiten, wurden weit auseinander liegende Objekte wie das Plakat für die Schausammlung „Der Mensch“ um 1922, anatomische Lehrtafeln von Paolo Mascagni von 1823 oder das fünffach vergrößerte Unterrichtsmodell des menschlichen Schädels aus dem Institut für Anatomie der Charité Berlin um 1900 nebeneinander inszeniert und so ein allgemeiner Eindruck von der Historizität von Körperbildern erzeugt.42

Die zweite Themeninsel „Der Gläserne Mensch“ im Kopf der Ausstellung Vom „geöffneten Leib“ gelangten die Besucher direkt in den Kopf des begehbaren Körpers. Dort stand auf einem Podest aus dunklem Holz in einer Halbkugel, die von innen mit rotem, gestepptem Stoff ausgelegt war, ein Exemplar des Gläsernen Menschen (Abb. 5). Er nahm den Platz des Gehirns im Kopf ein und wurde von außen angestrahlt. Auf der linken Seite der Halbkugel ruhte auf einer Holzkonstruktion ein überdimensionaler Augapfel. Unterstützt durch eine farbige Markierung auf dem Boden blickte dieses aus der Lehrmittelproduktion des Deutschen Hygiene-Museums stammende Modell auf die nächste Themeninsel „Zwerge und Riesen“. Repräsentierte die Gläserne Figur ein imaginäres Menschenideal, so wurde hier anschaulich gemacht, dass „Zwerge und Riesen“, Anormalität und Abweichung, erst im Auge des Betrachters entstehen. Abb. 5: Präsentation des Gläsernen Menschen im „Kopf “ der Ausstellung (Foto: Silke Eberspächer).

42 Vgl. Beier/Roth 1990: Leibesvisitation, 5–11.

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Die Präsentationsweise des Gläsernen Menschen ist ein Ausstellungszitat. Sie ist der Raumgestaltung der Dauerausstellung des Museums seit 1930 nachempfunden. Dort wurde die Figur unter einem Halbbogen in einem ebenfalls abgedunkelten Raum von außen angestrahlt gezeigt.43 Die an der Stelle des Gehirns herausgehobene, singuläre Position des Modells, des aufwendigsten und prominentesten Lehrmittels in der Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums, belegt, dass die gesamte Argumentation der Ausstellung auf dieses Exponat zugeschnitten war. Es kam hier vor allem als musea­ lisiertes Objekt zur Geltung, mit dem Zeugnis von vergangenen Sichtbarmachungsstrategien des Körpers gegeben wurde. Hierauf verweist, dass der Gläserne Mensch in eine Entwicklungsreihe mit anatomischen Zeichnungen und Präparaten gestellt wurde. Für die Westberliner Ausstellungsmacher nahm er im Rahmen der Neubetrachtung der Lehrmittel des Deutschen Hygiene-Museums als kulturhistorische Objekte eine Stellvertreterfunktion ein.

Die achte Themeninsel, „Der Stoff, aus dem die Menschen sind“. Einblicke in die Werkstätten des Deutschen Hygiene-Museums Während die Inszenierung eines Körperteils in der Mehrzahl der Themeninseln zur Hinterfragung der Lehrmittelproduktion des Deutschen Hygiene-Museums diente, rückte die achte die Werkstatt als solche ins Zentrum (Abb. 6). Ausgehend von der zweiten Gläsernen Figur in der Ausstellung, einer Gläsernen Frau, die seit 1988 zur Sammlung des Deutschen Historischen Museums gehörte, ging es jetzt um die Herstellung und das Material des Modells. Die Stoffe, aus denen die Menschen gemacht sind, sind in diesem Fall: „1) ein[…] Schädel aus Kunststoff, 2) ein[…] Skelett aus einer Aluminiumlegierung, 3) 13,4 km Kupferdraht, Durchmesser 0,2 mm für Nerven, Venen, Arterien, 4) 3,8 kg Blei für Gefäße und Organe, 5) 24 kg Plastikmaterial für Haut und Organe (mit Verschnitt) […], 6) 60 Glühlampen 24 Volt/2 Watt.“44 Das Modell wurde auf drei Seiten von Regalen umringt. Auf den Brettern waren verschiedene Objekte zu sehen: Neben Einzelteilen, die für die Produktion der Gläsernen Figuren benötigt wurden, wie die transparente Hülle, das Skelett oder auch Gipsmodelle von Ganzkörpern, gehörten dazu Moulagen (Wachsabformungen von Krankheitserscheinungen) sowie Fotografien vom Fertigungsprozess in den einzelnen Werkstätten. Einige Lehrmaterialien wurden in Kisten präsentiert, als warteten sie auf ihren Versand. Anders als beim Gläsernen Mann im begehbaren Kopf der zweiten Themeninsel führten die Ausstellungsmacher das Modell hier nicht als Idee vor, sondern zeigten die Einzelschritte bis zur fertigen Figur. Sie ordneten sie damit in den Produktionszusammenhang der Lehrmittel ein. Der sichtbare Herstellungsprozess rief ins Gedächtnis, dass sich variable Perspektiven auf den menschlichen Körper in Artefakten wie den hier gezeigten materialisieren. 43 Siehe zur Weiterentwicklung dieses Modells in der DDR Christian Sammer im gleichen Band. 44 Beier/Roth 1990: Leibesvisitation, 24.

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Abb. 6: Präsentation der Gläsernen Frau in der „Werkstatt“ (Foto: Silke Eberspächer).

Strategien der Sichtbarmachung des Körpers durch musealisierte Objekte Die Ausstellung Leibesvisitation ermöglichte dem Deutschen Hygiene-Museum die Weiterexistenz nach dem politischen Umbruch. Sie diente als Ausgangspunkt für eine neue Deutung der Objekte des Hauses und kann deshalb als eine der wichtigsten Zäsuren in der Arbeitsweise des Museums bezeichnet werden. Die Art und Weise, in der die Veranstaltung historische Körperbilder und ihre normative Wirkung reflektierte, sollte für die künftige inhaltliche Neuausrichtung der Institution im wiedervereinten Deutschland bestimmend sein. Bedingt durch die Friedliche Revolution entstand am Deutschen Hygiene-Museum ein Möglichkeitsraum, von dem Ost und West produktiven Gebrauch für die Neuausrichtung des Hauses machten. Dafür war entscheidend, dass die Kooperation zwischen Dresden und Westberlin bereits eine Vorgeschichte hatte; die Mitarbeiter des Museums in Dresden aktivierten diese Kontakte unmittelbar nach dem Fall der Mauer. Beide Museen hatten sich auf eine Arbeitsteilung geeinigt, die jeder Seite Raum für ihre jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten ließ: Das Deutsche Hygiene-Museum verstand sich noch vornehmlich als anerkannter Produzent von Lehrmitteln. Von der Zusammenarbeit mit der Westberliner Einrichtung erhoffte man sich in der Zeit des Umbruchs eine Überwindung alter Strukturen und Ideologien. Durch ein völlig neuartiges Angebot sollte das Interesse der westlichen Öffentlichkeit am eigenen Haus erhalten und dessen damals unsichere Zukunft verbürgt werden.45 Martin Roth, der sich schon Anfang der 1980erJahre in seiner Dissertation mit der Dresdner Einrichtung und den Gläsernen Figuren beschäftigt hatte und sich später als Mitarbeiter des Deutschen Historischen Museums 45 Ansprache von Volkhard Netz anlässlich der Eröffnung der Sonderausstellung Leibesvisitation – Blicke auf den Körper in fünf Jahrhunderten am 19. Oktober 1990 (SStA-HStAD, 13658, Au Nr. 156).

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dafür einsetzte, dass zwei dieser Figuren aus den USA nach Deutschland rückgeführt wurden,46 sah Dresden mit seinen Kollegen als idealen Ort für eine Themenausstellung an, die neben wissenschaftlicher auch aktuelle gesellschaftliche Relevanz beanspruchen konnte. Eben dies bestätigte sowohl die Thematisierung des DDR-Überwachungsstaats als auch die Problematisierung der Ersatzteilmedizin.47 Für Roth war der durch die politischen Ereignisse von 1989 zustande gekommene Kontakt mit dem Deutschen HygieneMuseum ein Glücksfall, verhieß er doch die Gelegenheit für eine Ausstellung mit den Figuren am Ort ihrer Herstellung. So verwundert es nicht, dass er sich als Bewerber auf die Stelle des Museumsdirektors für das Deutsche Hygiene-Museum beim ab Januar 1991 zuständigen Sozialministerium in Sachsen durchsetzen und seine Arbeit dort ab März 1991 aufnehmen konnte. Die Möglichkeit, Besucher durch wirksame Neuinszenierungen von mit wissenschaftlichen Mitteln erzeugten Körperbildern anzuregen, diese nicht als natürlich-gegeben zu erfahren und hinzunehmen, wurde mit der Ausstellung Leibesvisitation erfolgreich unter Beweis gestellt. Das Mittel dazu war eine konsequent durchgestaltete Kontextualisierung und Historisierung von Innenansichten des menschlichen Körpers. Die Objekte der hauseigenen Lehrmittelproduktion konnten dabei nicht unberücksichtigt bleiben. Dass die Werkstätten 1991 schließlich als selbstständige GmbH aus dem Museum ausgegliedert wurden, erscheint bei dieser neuen Ausrichtung des Museums konsequent. Käufer war die Firma Binhold. Zeitgleich mit dem Kooperationsprojekt begann der Aufbau einer Sammlung, zu deren Grundstock heute die in den eigenen Werkstätten hergestellten Objekte gehören. Diese wurden als kulturhistorische Objekte umgedeutet und musealisiert. In den Ausstellungen der folgenden Jahre bezeugten sie historische Strategien der Sichtbarmachung des Körpers.48

46 Interview mit Martin Roth am 22. April 2010 in Dresden. 47 Beier/Roth 1990: Leibesvisitation, 33 und 35. 48 Siehe zur Sammlungskonzeption den Beitrag von Susanne Roeßiger in diesem Band sowie Lioba Thaut 2012: Klassifikation, Kontingenz und Wissensproduktion. Die Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden 1990 bis 2010. Masterarbeit, Fakultät III – Sprach- und Kulturwissenschaften, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg [= Studien zur Materiellen Kultur, Universität Oldenburg, Preprints Bd. 3].

Susanne Roeßiger

Ein Speicherort für Körpergeschichte. Die Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums

Der Beitrag widmet sich einer vergleichsweise jungen und kleinen Sammlung eines Museums, das sich als öffentliches Forum für aktuelle Fragen zu Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft versteht und dessen Hauptschauplätze der Ausstellungs- und der Veranstaltungsbereich sind. Dem Abenteuer Mensch in seiner ganzen Komplexität wird im Deutschen Hygiene-Museum nicht nur in der gleichnamigen populären Dauerausstellung, sondern auch in den thematisch breit gefächerten und experimentierfreudigen Sonderausstellungen und in zahlreichen prominent besetzten Vorträgen, Tagungen, Diskussionen und Lesungen große Aufmerksamkeit gewidmet. Dem retrospektiven Sammeln und Bewahren wurde in dieser im frühen 20. Jahrhundert als Museum neuen Typs1 gegründeten Dresdner Institution kaum, und wenn, dann nur für kurze Episoden, Platz eingeräumt.2 Im Zusammenhang mit der Neuausrichtung des Museums in den frühen 1990er-Jahren konnte erstmalig in der Geschichte des Museums eine Sammlung sowohl konzeptionell als auch strukturell wohlüberlegt angelegt werden.3

Sammlungskonzept und Bestandserschließung Diese Sammlung basiert auf dem Gedanken, dass Museumsobjekte Bedeutungsträger sind. Der Museumstheoretiker Krzysztof Pomian hat für sie den schönen Begriff der Semiophoren gewählt. Sie schließen neben dem Sichtbaren auch Unsichtbares mit ein. Gottfried Korff spricht von der „Eigenart der Museumsdinge“ und meint damit die Aura und Authentizität der von ihm so benannten „dinghaften Zeitzeugen“.4 Zunächst sind 1 Zu den Museen neuen Typs zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. die Einleitung sowie den Beitrag von Helmuth Trischler in diesem Band. 2 Zur frühen Sammlungsgeschichte des Museums, konkret zur kurzlebigen Historischen Abteilung vgl. die Ausführungen von Thomas Steller in diesem Band. 3 Vgl. dazu Lioba Thaut 2012: Klassifikation, Kontingenz und Wissensproduktion. Die Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden 1990–2010. Masterarbeit, Fakultät III – Sprach- und Kulturwissenschaften, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg [= Studien zur Materiellen Kultur, Universität Oldenburg, Preprints, Bd. 3]. 4 Vgl. dazu Gottfried Korff 2002 [1992]: Zur Eigenart der Museumsdinge. In: Martina Eberspächer, Gudrun M. König, Bernhard Tschofen und Bodo M. Baumunk (Hg.): Museumsdinge. Deponieren –

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diese aus ihrem ursprünglichen Funktionszusammenhang gerissenen Museumsdinge bewegungslos, stumm und ohne erkennbaren Nutzen. Die Herausforderung lautet: Objekt einer Sammlung zu sein und damit konkret und direkt für Betrachtungen und Befragungen zur Verfügung zu stehen. Als materielle Zeugen vergangener Zeiten werden Museumsdinge in immer wieder neue Zusammenhänge gestellt und verschiedene Bedeutungsschichten freigelegt. Die Fragen können um die Motivation der Entstehung und Konzeption oder auch der Variation, der Zirkulation und Präsentation kreisen. Alle Beteiligten – das Museumsding einerseits und der wissbegierige Betrachter andererseits – profitieren davon. Das Ding macht „Karriere“,5 und der Betrachter gewinnt neue Erkenntnisse über sich und die Welt. „Was alle Dinge eint […] ist, dass sie etwas über uns und unsere Rationalitäten und Emotionen, über unsere Vorstellungen und Ängste aussagen“, so formuliert es Anke te Heesen.6 Auf den ersten Blick mag der Sammlungsbestand des Deutschen HygieneMuseums wie eine eigenwillige Ansammlung erscheinen. Typische Vertreter im Bestand wie etwa die Moulage „Variola Vera“ (Abb. 1), der Heimtest „BOY OR GIRL“ zur frühzeitigen Geschlechtsbestimmung (Abb. 2) und das AIDS-Aufklärungsplakat „Kan ik jou verleiden tot veilige seks?“ (deutsch etwa: „Mach ich dir Lust auf sicheren Sex?“) aus den Niederlanden (Abb. 3) erinnern zunächst eher an Abb. 1: Moulage „Variola Vera“, um 1911 die berühmte Urszene des Surrealismus, (Sammlung Deutsches Hygiene-Museum [im die Begegnung einer Nähmaschine und Folgenden S-DHMD], 2006/48, Foto: David eines Regenschirms auf dem Seziertisch. Brandt).

Exponieren. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 140–145, hier 143; Krzysztof Pomian 1988: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin: Wagenbach. 5 Marina Griesser-Stermscheg 2013: Tabu Depot. Das Museumsdepot in Geschichte und Gegenwart. Köln/ Weimar/Wien: Böhlau. 6 Anke te Heesen 2012: Theorien des Museums. Hamburg: Junius, 176.

Die Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums Abb. 2: Testset „BOY OR GIRL. Gender Prediction Test“, 2010/2011 (S-DHMD, 2012/142).

Abb. 3: Plakat „Kan ik jou verleiden tot veilige seks?“, zwischen 1994 und 1996 (S-DHMD, 2003/837, Foto: David Brandt).

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Tatsächlich aber basiert diese Sammlung auf einem Ordnungssystem. Sammeln heißt, einer bestimmten Konstruktion der Welt zu folgen. Thomas Macho sagt, es braucht eine Idee von der Welt, einen Denkraum.7 Das „Museum vom Menschen“ folgt der Idee, dass auch der Umgang mit dem Körper eine geschichtsmächtige Kraft ist, ein Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Gesellschaft und somit ebenfalls sammlungswürdig. In die Sammlung werden Dinge aufgenommen, die zeitgebundene Vorstellungen vom Körper speichern. Dabei konzentriert sich das Museum in dem kaum fassbaren Bereich „Körpergeschichte“ thematisch auf öffentlich propagiertes Körperwissen und Körperpraktiken im Alltag. Das Interesse gilt zum einen den Produkten und Medien von Kampagnen im Bereich der Gesundheitsaufklärung und zum anderen den Alltagsdingen im Bereich der Körperpflege. Beiden Themen widmet sich das Museum mit Blick auf Deutschland ab 1900. Obwohl das retrospektive Sammeln im Mittelpunkt steht, wird auch dem Sammeln in der Gegenwart gebührende Aufmerksamkeit geschenkt.8 Sondersammlungen, die als umfangreiche Konvolute in Form von Schenkungen, Ankäufen und Dauerleihgaben in die Sammlung aufgenommen wurden, ergänzen den Kernbestand. Diese Konvolute ermöglichen thematische Vertiefungen und erweitern punktuell die festgelegten geografischen und zeitlichen Begrenzungen im Sammlungskonzept.9 Dinge, die dem Museum angeboten beziehungsweise aktiv vom Museum selbst als mögliche künftige Sammlungsobjekte recherchiert werden und darüber hinaus die am Konzept orientierten Aufnahmekriterien erfüllen, durchlaufen die Metamorphose hin zum Museumsding. Sie verlassen ihre ursprüngliche Nutzungsebene, auf der sie als Kampagnenprodukte Körperwissen populär vermittelt haben oder als Körperpflegemittel dienten. Mit der Erstbeschreibung, dem Anlegen eines Datensatzes aufgrund ablesbarer und verfügbarer Objektinformationen, wird die Basis für die weitere Erschließung gelegt. Rund 50.000 Artefakte konnten anhand dieses Verfahrens seit Beginn der 1990er-Jahre 7 Thomas Macho 2000: Sammeln in chronologischer Perspektive. In: Horst Bredekamp, Jochen Brüning und Cornelia Weber (Hg.): Theater der Natur und Kunst. Wunderkammern des Wissens. Essayband. Berlin: Henschel, 63–74. 8 Dies erfolgte etwa mit dem Pilotprojekt „Referenzobjekte der Jetztzeit“, das von 2009 bis 2011 im Deutschen Hygiene-Museum durchgeführt wurde (Sandra Mühlenberend und Susanne Roeßiger 2014: Referenzobjekte der Jetztzeit, 2000–2010. Ein Projekt des Deutschen Hygiene-Museums zum Sammeln in der Gegenwart. In: Sophie Elpers und Anna Palm (Hg.): Die Musealisierung der Gegenwart. Von Grenzen und Chancen des Sammelns in kulturhistorischen Museen. Bielefeld: transcript, 107–122). 9 Zu diesen Sondersammlungen zählt z.B. eine Sammlung internationaler Plakate zu AIDS. Vgl. dazu Susanne Roeßiger 2013. Safer Sex und Solidarität. Die Sammlung internationaler Aidsplakate im Deutschen Hygiene-Museum. Zeithistorische Forschungen, 10, Heft 3: Zeitgeschichte der Vorsorge, 502–514 (http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Roessiger-3-2013, letzter Zugriff am 12. Januar 2014).

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für die Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums erworben werden und zählen nun zu den bewahrungswürdigen Belegstücken. Sie haben damit die Musealisierungsebene erreicht. Umfassen die Objektdatensätze in jedem Fall zunächst die museologischen Grunddaten, so werden darüber hinaus im Rahmen unterschiedlichster wissenschaftlicher Projekte, wie etwa wissenschaftlicher Bestandserschließungen, interner und externer Forschungsarbeiten sowie Ausstellungsprojekten, ausgewählte Bestandsgruppen vertiefend erschlossen. Neue Fragestellungen in der Forschung eröffnen den Museumsdingen neue Bedeutungsebenen. Die daraus resultierenden Forschungsergebnisse liegen zum einen in Form von Abschlussberichten, wissenschaftlichen Arbeiten sowie Publikationen vor10 und werden nach Möglichkeit auf der Grundlage von redaktionellen Bearbeitungen in die betreffenden Objektdatensätze übernommen. Der inventarisierte Bestand mit seinen tatsächlich sehr unterschiedlichen Erfassungstiefen steht online unter www.dhmd.de für Recherchen zur Verfügung.

„Körperwissen“ Dieser Sammlungsbereich ist den Strategien und Produkten der Gesundheitsaufklärung und dessen institutionellem Umfeld gewidmet und eng mit der Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums verbunden. Denn diese 1912 als modernstes Wissenschaftsmuseum zum Thema Mensch gegründete Institution prägte und gestaltete die großen Aufklärungskampagnen des 20. Jahrhunderts bis 1990 entscheidend mit. Marktorientiert und politiknah etablierte sich das Museum als erfolgreicher Vermittlungsort von gesellschaftlich relevantem Wissen zum menschlichen Körper unter wechselnden gesundheitspolitischen Vorgaben.11 Charakteristikum dieses auch als „musée laboratoire“ zu bezeichnenden Hauses war es, dass es seine Objekte selbst schuf. Die museumseigenen Werkstätten entwarfen und produzierten nicht nur sämtliche Ausstellungsexponate, sondern darüber hinaus Lehrmittel zur Gesundheitsaufklärung, die für den Verkauf bestimmt waren. Dazu gehörten Modelle zur menschlichen Anatomie, Wachsmoulagen, Präparate, Lehrtafeln, Lichtbildreihen, Filme, Plakate, Broschüren und Merkblätter.12 Rückblickend dokumentieren sie das Zusammenspiel oder auch die Auseinandersetzung mit den jeweiligen zeittypischen Körper- und Menschenbildern. 10 Vgl. dazu etwa Band 1–4 der Reihe Sammlungsschwerpunkte im Dresdner Sandstein Verlag aus den Jahren 2001, 2006, 2010 und 2011. 11 Vgl. die Beiträge von Claudia Stein, Thomas Steller, Lioba Thaut, Christian Sammer, Sandra Mühlenberend, Sybilla Nikolow, Anja Laukötter, Michael Tymkiw und Anna-Gesa Leuthardt in diesem Band. 12 Vgl. Anm. 11.

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Abb. 4: Anatomisches Modell „Gläserner Mann“, 1935 (S-DHMD, 2011/38).

Trotz Kriegsverlust und fehlender Wertschätzung des historischen Erbes in der DDRZeit ist die Überlieferungssituation sowohl quantitativ als auch qualitativ für Deutschland einzigartig. Zwar nicht lückenlos, aber aufschlussreich ist die facettenreiche Produk­ tionsgeschichte des Museums mit schätzungsweise 20.000 heute zum Sammlungsbestand gehörenden Objekten überliefert. Der Bestand deckt sowohl den gesamten Produktionszeitraum als auch die Produktpalette repräsentativ ab. Dabei handelt es sich nicht immer oder ausschließlich um die jeweils angestrebten Endprodukte. Überliefert sind auch die für die Herstellung notwendigen Entwürfe, Zwischenprodukte und Formen. Das anatomische Modell „Gläserner Mann“ (Abb. 4), das vermutlich 1935 in den Museumswerkstätten hergestellt wurde, ist eine solche dingliche Quelle für die Mate­ rialisierung von Körperwissen mit vielen Schichten und Dimensionen. 2009 konnte das Museum die Figur von finnischen Zirkusartisten erwerben. Sie ist extrem schadhaft und restaurierungsbedürftig. Jedoch verweist gerade dieser Zustand zusammen mit dem

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ebenso überlieferten Transportgestell auf eine intensive und bewegte Nutzungsgeschichte dieses Objekts, das bis in die 1990er-Jahre durch Europa tourte und in unterschiedlich­ sten Zusammenhängen und Ausstellungsformaten präsentiert wurde. Dazu zählte die Ausstellung Mutter und Kind, die das Deutsche Hygiene-Museum in Zusammenarbeit mit dem schwedischen Roten Kreuz 1936 in Stockholm erstellte ebenso wie die ein Jahr später eröffnete Pariser Weltausstellung. Nach Wanderausstellungen im Deutschen Reich und Nachkriegspräsentationen in den westlichen Besatzungszonen wurde die mittlerweile als veraltet geltende Figur in den 1950er-Jahren aus dem Ausstellungsbetrieb des Deutschen Hygiene-Museums genommen.13 Für die Präsentation auf Jahrmärkten in Westdeutschland und im europäischen Ausland stellte sie allerdings noch bis in die 1990erJahre eine Attraktion dar. Schließlich dokumentiert die Tatsache, dass die Figur vor einigen Jahren in einem finnischen Lagerschuppen aufgefunden wurde, den rasanten Bedeutungsverlust der ursprünglichen Nutzung der Figur. Diese und weitere Erkenntnisse wurden in einer wissenschaftshistorischen Befragung, die in enger Verbindung mit einer kunsttechnologischen Recherche und einer Zustandsanalyse erfolgte, zusammengetragen. Entstanden sind im Sommersemester 2013 drei Seminararbeiten im Studiengang „Kunsttechnologie, Konservierung und Restaurierung von Kunst- und Kulturgut“ der Hochschule für Bildende Künste in Dresden.14 Das Potential von Untersuchungen am Original konnten diese studentischen Arbeiten eindrücklich unter Beweis stellen, denn die an der Figur durchgeführten Analysen von Konstruktionsdetails ermöglichten wichtige Rückschlüsse für die Objektbiografie. So konnte beispielsweise die unregelmäßige Anordnung der Rippen als ein Alleinstellungsmerkmal des Gläsernen Mannes aus Finnland beschrieben und bei der Identifizierung dieser Figur auf einer historischen Fotoaufnahme mit überlieferten Jahres- und Ortsangaben genutzt werden. Gleichfalls im Sammlungsbereich „Körperwissen“ verortet sind Wachsmoulagen, die auf Originalabformungen von einem kranken Körperteil basieren.15 Sie gehörten Anfang des 20. Jahrhunderts mit zu den wichtigsten Lehrmitteln in der Dermatologie und Venerologie. Auch im Deutschen Hygiene-Museum kamen sie seit dessen Gründung als Anschauungsobjekte in Ausstellungen und Kampagnen der Gesundheitsaufklärung zum Einsatz. Bis in die 1980er-Jahre wurden solche Moulagen in den Werkstätten des Museums auch für den weltweiten Verkauf produziert. Heute befinden sich noch ca. 2.000 13 Siehe zur Zirkulation von Gläsernen Figuren nach 1945 auch den Beitrag von Christian Sammer in diesem Band. 14 Es handelte sich um folgende Seminararbeiten: Florian Albrecht: Der Gläserne Mann aus dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Untersuchung und Dokumentation des Erhaltungszustandes; Jakob Fuchs: Zur Herstellungstechnik eines „Gläsernen Mannes“ von 1936 aus dem Deutschen Hygiene-Museum; Ulrike Schauerte: Die „Gläsernen Figuren“ des Deutschen Hygiene-Museums Dresden. Recherchen zur Frühzeit ihrer Produktion bis 1946. 15 Johanna Lang, Sandra Mühlenberend, Susanne Roeßiger (Hg.) 2010: Körper in Wachs. Moulagen in Forschung und Restaurierung [= Sammlungsschwerpunkte, 3]. Dresden: Sandstein Verlag.

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Moulagen in der Dresdner Sammlung, die im Vergleich mit anderen europäischen Moulagensammlungen ein Alleinstellungsmerkmal besitzt. Darunter sind neben Originalmoulagen auch Kopien, Malmuster, Wachsrohlinge, Ausschussware und die zur Herstellung notwendigen Gipsnegative und -positive sowie weitere interessante Zeitzeugnisse aus der Produktionszeit zu finden. Keine Objektgruppe liegt vollständig vor. Aber in der Gesamtheit ist der Bestand für unterschiedliche Fragestellungen repräsentativ, etwa zur Fokussierung auf bestimmte Krankheiten in bestimmten Zeiträumen. Die Moulage „Variola Vera“ (Abb. 1) ist mit dem Etikett des Pathoplastischen Instituts versehen. Die auf dem schwarzen Grundbrett erkennbare Signatur von Fritz Kolbow (1878–1946) ist der Verweis auf ein Originalstück, das direkt nach dem Abdruck am Patienten entstanden ist. Kolbow gehörte um 1900 in die erste Riege der bedeutenden Mouleure und erhielt 1904 den Grand Prix für medizinische Lehrmittel auf der Weltausstellung in St. Louis. Er betrieb zunächst eine private Moulagenwerkstatt in Berlin und belieferte unter anderem ab 1896 das Institut von Rudolf Virchow. Ab 1903 arbeitete er in Dresden und war zwischen 1910 und 1920 insbesondere für das Deutsche HygieneMuseum tätig.16 Diese Gesichtsabformung eines an Pocken erkrankten Kindes korrespondiert mit weiteren Objekten des Bestandes. So ist sie im „Preisverzeichnis für Moulagen“ (Abb. 5), einem Bestellkatalog von 1912, unter der Katalognummer 675 aufgeführt.17 Er gibt Auskunft über das Krankheitsbild und seine zeitgenössische Klassifizierung sowie über den Verkaufspreis. Das Preisverzeichnis steht stellvertretend für die Überlieferung historischer Hilfsmaterialien wie etwa Ausstellungsführer, Produktbeschreibungen, Verkaufskataloge und Jahresberichte, die sowohl in der Sammlung als auch in der Bibliothek des Deutschen Hygiene-Museums zu finden sind.18 Neben dem Katalog ist das Gipsnegativ zu dieser Moulage in der Sammlung inventarisiert. Es belegt die Anfertigung von Kopien, deren Herstellung nur anhand einer Negativform möglich war. An den Abnutzungsspuren in dieser Form können – zumindest vorsichtige – Rückschlüsse über die Häufigkeit des Gebrauchs gezogen werden. Ob die Moulage „Variola vera“ tatsächlich ein Favorit der Serienproduktion war, ist nicht belegt. Jedoch verweist die Existenz eines weiteren mit der Moulage in Korrespondenz stehenden Objekts darauf. Es handelt sich um ein Jahrzehnte später angefertigtes Gipspositiv zur gleichen Moulage (Abb. 6). Gipspositive sollten bei Verlust der Gussform als Vorlage für eine Neuanfertigung der Form dienen. So kann man folgern, dass der Produktionsaufwand nicht unerheblich war.

16 Vgl. ebd. ausführlich zum Stand der Forschung über die Moulagensammlung des Deutschen Hygiene-Museums. 17 Pathoplastisches Institut Dresden (Hg.) 1912: Preisverzeichnis für Moulagen. Dresden, o.S. 18 Vgl. auch den Beitrag von Anna-Gesa Leuthardt zu den Ausstellungsführern und von Sandra Mühlenberend zu den Verkaufskatalogen des Deutschen Hygiene-Museums in diesem Band.

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Abb. 5: Titelbild des Angebotskatalogs des Pathoplastischen Instituts Dresden von 1912 (S-DHMD, 2003/189).

Abb. 6: Gipspositiv „Variola vera im Gesicht eines Kindes“, zwischen 1945 und 1968 (S-DHMD, 1994/105, Foto: David Brandt).

In zahlreichen Fällen sind Gipspositive die einzigen, und dank ihrer exakten plastischen Details auch gut verwertbaren Zeugnisse einer in der Vergangenheit produzierten Moulage. So verhält es sich etwa bei einem Gipspositiv, das Pockennarben auf dem Gesicht eines Erwachsenen zeigt und die Aufmerksamkeit auf die Folgen einer Pockenerkrankung lenkt. Weitere „dinghafte Zeugnisse“ im Bestand belegen, dass das Museum sich in einem bestimmten Zeitraum intensiv und breit gefächert mit der Pockenerkrankung auseinandergesetzt hat. Dazu zählt eine Moulage aus dem Zeitraum 1907 bis 1923, für die ein Stück Bauchhaut vom Kalb mit Pockenpusteln zur Gewinnung des Pockenimpfstoffs abgeformt wurde (Abb. 7).

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Abb. 7: Moulage im Schaukasten „Impfpusteln an der Bauchhaut des Kalbes, angelegt zwecks Gewinnung des Schutzpockenstoffes“, zwischen 1907 und 1923 (S-DHMD, 1991/768).

Abb. 8: Glasplattendiapositiv aus der Lichtbildreihe 13: Krankheitserreger, Krankheitsübertragung und Verhütung, Bild 16, um 1923 (S-DHMD, 2002/1268).

Abb. 9: Teilansicht der Gruppe „Übertragbare Krankheiten, Pockengefahr und Impfschutz“ in der Großen Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen in Düsseldorf 1926, Fotodokumentation (S-DHMD, 2001/245.20).

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Ein Lichtbild zur Demonstration der Verbreitung der Pockenerkrankung (Abb. 8) aus der Vortragsserie Krankheitserreger, Krankheitsübertragung und Verhütung, die etwa 1923 im Deutschen Hygiene-Museum produziert wurde, verweist unter anderem auf den Einsatz unterschiedlicher Medien in der Aufklärungskampagne über die Pockenkrankheit. Eine Fotografie, datiert aus dem Jahr 1926 (Abb. 9), komplettiert die Aufzählung aus dem Bestand zur Pockenthematik. Die Schwarz-Weiß-Aufnahme gewährt Einblick in einen Ausstellungsraum der Großen Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen, die 1926 unter maßgeblicher Beteiligung des Deutschen Hygiene-Museums in Düsseldorf stattfand. „Pockengefahr und Impfschutz“ lautet der Titel der auf dem historischen Dokument erkennbaren Ausstellungswand, die anhand einer Vielzahl von gezeichneten Alltagssituationen Ansteckungsmöglichkeiten und anderes mehr thematisierte. Das Foto gehört zu einem Konvolut der Ausstellungsgruppe „Übertragbare Krankheiten“ aus insgesamt 23 Einzelaufnahmen; daraus ersieht man, welche Aufmerksamkeit der Pockenerkrankung im Rahmen der Aufklärungsbemühungen im Vergleich mit Krankheiten wie Milzbrand, Diphtherie, Kinderlähmung oder Typhus eingeräumt wurde. Angefangen bei der bildlichen Überlieferung einzelner Objekte und Ausstellungstafeln bis hin zu Raumsituationen bietet die mehrere Tausend Einzeldokumente umfassende Fotosammlung des Museums Auswertungspotentiale für zeithistorische Forschungen. Gesellschaftlich relevantes biologisches und medizinisches Körperwissen ist in den historischen Aufnahmen, die die Objekt-, Bild- und Textebene des populären Mediums Ausstellung abbilden, gespeichert.19

„Körperpraktiken“ Im Sammlungsbereich „Körperpraktiken“ geht es um die Geschichte der Körperpflege im Alltag. Der Fokus liegt auf den Gegenständen oder, vielleicht treffender, den „Körperinstrumenten“, von denen der Einzelne Gebrauch macht. Innerhalb dieses Rahmens werden Objekte gesammelt, die kaleidoskopartig auf individuelle Bemühungen in Bezug auf eine Optimierung des menschlichen Körpers im 20. und 21. Jahrhundert verweisen. Zu den Objekten in diesem Bestand zählen unter anderem 30 Heimtests, die das Museum 2008 und 2009 in Apotheken oder über den Online-Versand im thematischen Schwerpunkt „Selbstdiagnose“ erworben hat. Diesen Neuerwerbungen gingen Alltagsbeobachtungen voraus, die zu den Arbeitsaufgaben der Sammlung mit dem dafür not19 Die Arbeitsgruppe zur Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums an der Universität Bielefeld hat davon regen Gebrauch gemacht und den Dokumentations- und Zeugniswert des Mediums Fotografie genutzt. Insbesondere Anna-Gesa Leuthardts Beitrag in diesem Band zeigt, wie die Fotografien für Ausstellungsanalysen vergleichend herangezogen werden können.

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wendigen Gespür für „Trendsetter“ zählen. Zum Bestand gehören Tests für verschiedene Krebserkrankungen, Herzinfarkttests und ein HIV-Test. Auch ein Multi-Tester für Erkrankungen der Niere, Leber, Galle und Diabetes ist vorhanden, der Heimtest „Ovulation“ ebenso wie der zur „Menopause“ und ein DNA-Vaterschaftstest. Diese Tests sind für 10 bis 37 Euro zu erwerben. Zu den jüngsten Neuerwerbungen der Sammlung aus dem Jahr 2009 zählt der „BOY OR GIRL. Gender Prediction Test“ (Abb. 2). Mit ihm können Wünsche nach einer frühzeitigen Geschlechtserkennung während der Schwangerschaft bedient werden, denn nach der Werbung der Firma bestimmt der Test anhand einer Urinprobe der Mutter schon acht bis zehn Wochen nach der Empfängnis das Geschlecht des Fötus. Dabei liegt die Zuverlässigkeit des Tests laut Beipackzettel bei 70–80 Prozent. Das Set war 2009 in Deutschland nicht erhältlich, sondern wurde von einer US-Firma bezogen. Dieser Heimtest spiegelt eine gesellschaftliche Entwicklung hin zu einem gesteigerten Bedürfnis nach Kontrolle am Lebensbeginn, das sich in aktuellen Debatten über Reproduktionsmedizin, Präimplantationsdiagnostik und Stammzellforschung niederschlägt.20

Sondersammlungen Auch der Zufall spielt bei der Entwicklung der Bestände eine Rolle. Immer wieder werden dem Deutschen Hygiene-Museum interessante Objekte angeboten, darunter auch ganze Sammlungen. Solche Offerten müssen einer eingehenden Erwerbsprüfung unterzogen werden. In einem derartigen Verfahren entschied sich das Museum 2007 für eine internationale Sammlung von AIDS-Plakaten, die seitdem kontinuierlich um Plakatbeispiele aus aktuellen weltweiten Kampagnen erweitert wird und gegenwärtig mit rund 10.000 Plakaten aus 147 Ländern die umfangreichste Sammlung zu diesem Thema darstellt. Das Sammlungsinteresse gründet hier auf der Forschungstatsache, dass Plakate maßgebliche Ideen, Positionen und Sehnsüchte ihrer Entstehungszeit ausdrücken und bewerben.21 Das ist beim politischen Plakat oder beim Werbeposter für Markenprodukte nicht anders als beim Gesundheitsplakat. Das Letztgenannte berührt körperbezogene Themen und verweist in der Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit auf gesellschaftliche Leit- und Vorbilder sowie zeitgenössisch erwünschte Verhaltensmuster. Dies trifft gerade für AIDS-Plakate zu, denn AIDS zwingt zur Auseinandersetzung mit brisanten, oft tabuisierten Themen wie safer sex, Homosexualität und Drogen. AIDS brachte in den vergangenen drei Jahrzehnten tiefe kulturelle, soziale und politische Einschnitte mit sich und beeinflusste vor allem das Alltagsverhalten. Die Kampagnen klären über Infek20 Vgl. Anm. 8. 21 Vgl. dazu etwa Roger Cooter und Claudia Stein 2007: Coming into Focus. Posters, Power, and Visual Culture in the History of Medicine. Medizinhistorisches Journal, 42, 180–292.

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tionswege und Schutzmaßnahmen auf. Sie werben für ein Verhalten, das vor Ansteckung schützen sowie die Diskriminierung von Betroffenen verhindern soll. Das zur Verfügung stehende Wissen über AIDS wird – transnational ebenso wie in länderspezifischen Perspektiven – vermittelt, verhandelt und inszeniert.22 „Mach ich dir Lust auf sicheren Sex?“, fragt ein nackter junger Mann, der zentral und großformatig auf einem niederländischen Plakat aus dem Jahr 1995 platziert ist (Abb. 3). In lässiger Haltung sitzend, schaut er lächelnd in die Kamera. Sein Körper ist übersät mit dunklen Pusteln und Wunden. In der Dresdner Sammlung gibt es kaum vergleichbare Plakatmotive. Eine derart schonungslose Konfrontation mit der Krankheit ist im Bildrepertoire der Plakatsammlung selten zu finden. Wie verhält es sich also tatsächlich mit der Visualisierung so existentieller Themen wie Krankheit, Furcht und Tod? Welche Körperbilder sind in der Kommunikation über HIV und AIDS akzeptiert? Wie hat sich die Bildsprache in den vergangenen rund drei Jahrzehnten verändert? Am Deutschen Hygiene-Museum Dresden startete zu diesen Fragen im April 2013 das Forschungsprojekt „AIDS als globales Medienereignis. Plakate und ihre Bildsprache im internationalen Vergleich“. Ziel des anderthalb Jahre dauernden Projekts ist es, durch Befragung und Analyse von ausgewählten Plakaten die epistemischen Potentiale dieser in Dresden aufbewahrten Zeitdokumente exemplarisch zu verdeutlichen. Darüber hinaus sollen mit diesem Projekt auch die Aufmerksamkeit auf diesen Plakatbestand gelenkt und neue Forschungsansätze angeregt werden. Denn gezielte Sammlungsarbeit mit konkreten Fragen an den Bestand verweist auch darauf, dass es sich lohnt, die in den Museen lagernden dinglichen Überlieferungen für Quellenstudien, empirische Untersuchungen und Ausstellungsvorhaben zu nutzen.

22 Vgl. Roeßiger 2013.

Ludmilla Jordanova

„Erkenne Dich selbst!“ Reflexionen über medizinische Präsentationen in öffentlichen Ausstellungen

Zurzeit gibt es ein enormes Interesse an medizinischen Museen und allgemein an Ausstellungsformen, die im weitesten Sinne mit ‚Medizin‘ zusammenhängen. Das wachsende Interesse an Museen, auch denen, die sich mit Wissenschaft, Medizin und Technik befassen, ist zweifellos Teil einer umfassenderen Entwicklung, besser gesagt von zwei Entwicklungen. Die erste betrifft die Art und Weise, in der medizinische Dinge in den letzten Jahrzehnten einem breites Publikum präsentiert wurden, die zweite das akademische Interesse an Museen jeglicher Art. Ein englischer Museumsdirektor sagte mir kürzlich, er finde das auffallende Wachstum der Museumswissenschaft in den letzten Jahrzehnten – jedenfalls im Vereinigten Königreich – beunruhigend, die meisten Absolventen von Masterstudiengängen hätten, wenn überhaupt, nur wenig Erfahrung in der Museumsarbeit und daher allenfalls gute theoretische Kenntnisse, aber keine praktischen Fähigkeiten. Es widerstrebe ihm, solche Leute einzustellen. Dennoch steigt in einem bereits gesättigten Ausbildungs- und Beschäftigungsmarkt die Zahl solcher Studiengänge schnell weiter an. Anders gesagt: Museen sind in Mode gekommen, nicht nur für Besucher, sondern auch als Untersuchungsobjekte. Im Vereinigten Königreich wird diese Entwicklung zumindest teilweise durch Fördermittel und die Vorstellung angetrieben, dass stärkeres öffentliches Engagement und offenere Herangehensweisen schon an sich wertvoll seien, sowie durch die Regierungspolitik, die besonderen Wert auf zunehmende kulturelle Partizipation legt. Die Besucherzahlen steigen in den meisten Museen, unter anderem weil die Geldgeber und die Museen selber bestimmte Ziele erreichen wollen und immer kompliziertere Tänze aufführen, um die Leute dazu zu animieren, ins Museum zu gehen und im Museumsshop und im Café Geld auszugeben. Diese Beschreibung trifft so nur auf bestimmte Länder und Museumsarten zu, aber die intellektuelle Aufmerksamkeit, die Museen heute erhalten, ist ein ebenso beispielloses wie weitverbreitetes Phänomen. Es mag nicht besonders sinnvoll sein, von ‚den Museen‘ zu sprechen, da diese grobe Kategorie sehr unterschiedlich geartete Institutionen in einen Topf wirft. Aber es ist sicherlich hilfreich, verschiedene Arten von Museen und Präsentationsweisen zu vergleichen, um ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede möglichst deutlich herauszuarbeiten.

Reflexionen über medizinische Präsentationen in öffentlichen Ausstellungen

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Bevor ich diesen Gedanken weiterverfolge, möchte ich die hier verwendeten Begriffe klären und die Position deutlich machen, von der aus ich schreibe. Eingangs habe ich ‚Medizin‘ in Anführungszeichen gesetzt, und ich möchte erläutern, warum. Es ist nicht leicht, diesen Begriff zu definieren. Auf den ersten Blick hängt er mit Berufen, Institutionen und Verfahren zusammen, die sich mit der Behandlung von Kranken beschäftigen. Das wäre jedoch eine zu enge Definition. Ebenso müssen menschliche Körper, Anatomie, Gesundheit, Wohlbefinden, Schmerz und Leiden berücksichtigt werden. Diese Themen berühren jeden von uns, und sie sind in der heutigen Welt hochgradig kommerzialisiert. Auch wenn sie kein neues Phänomen ist, hat sich das Tempo dieser Kommerzialisierung seit dem Zweiten Weltkrieg zweifellos merklich beschleunigt. Viele Formen der Konsumkultur sind mit Medizin in dem von mir vorgeschlagenen weiteren Sinn verbunden: Schönheitschirurgie, Fitness-, Diät- und Nahrungsmittelindustrie, Amateursport und all die Waren, denen man immer meint, nachjagen zu müssen, Anti-AgingProdukte und so weiter. Außerdem haben Bücher, Ausstellungen und Museen mit den im Shop erhältlichen Artikeln zu medizinischen Ausstellungen Anteil an dieser Entwicklungstendenz. Künstler und Schausteller haben dabei eine wichtige Rolle gespielt, und die Neugier und Sorge um menschliche Körper, unseren eigenen und den anderer, haben erheblich dazu beigetragen. Diese Entwicklungen haben ebenso politische, ökonomische und gesellschaftliche wie ästhetische Dimensionen.

Medizin und Zurschaustellung Mein eigenes Interesse an solchen Dingen geht bis in die späten 1970er-Jahre zurück, als ich mich das erste Mal mit Gender und Medizin beschäftigte.1 Man kann über ein solches Thema nicht schreiben, ohne die Art und Weise, in der Männlichkeit und Weiblichkeit in medizinischen Kontexten präsentiert wurden, zu berücksichtigen, zum Beispiel in anatomischen Wachsmodellen und in der Werbung für Medikamente. Anatomische Modelle gehören seit einigen Jahrhunderten zu medizinischen Museen.2 Viele solcher Museen waren ursprünglich nur für praktische Ärzte gedacht und haben sich erst in den vergangenen Jahrzehnten einem breiteren Publikum geöffnet, das Modelle, konservierte Präparate, medizinische Utensilien und sogar Filme von Operationen unbedingt mit eigenen Augen sehen wollte. Besondere Beachtung verdienen dabei Ausstellungen, in denen zeitgenössische Kunstwerke, die körperliche Vorgänge erkunden, und ‚medizinische‘ Objekte vermischt werden. Anhand von Museen können Historiker also größere Entwicklungstendenzen studieren und analysieren. Und sie können sich auch an der 1 Ludmilla Jordanova 1980: Natural Facts. A Historical Perspective on Science and Sexuality. In: Carolin P. MacCormack und Marilyn Strathern (Hg.): Nature, Culture and Gender. Cambridge: Cambridge University Press, 42–69; dies. 1989: Sexual Visions. Images of Gender in Science and Medicine between the Eighteenth and Twentieth Centuries. Hemel Hempstead: Harvester Wheatsheaf. 2 Vgl. den Beitrag von Anna Märker in diesem Band.

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Arbeit des Museums beteiligen, zum Beispiel als Gastkurator oder Kuratoriumsmitglied. Solche Funktionen verschaffen gute Einblicke, die das akademische Verständnis in wesentlichen Punkten ergänzen können.3 Eben weil die Medizin so viele Aspekte unseres Lebens berührt und dadurch schwer einzugrenzen ist, ist es sinnvoll, mit ihr verbundene kulturelle Phänomene umfassend und unvoreingenommen zu betrachten. Insbesondere vergleichende Methoden sind in dieser Hinsicht fruchtbar. Zum Beispiel kann man die Formen der Präsentation untersuchen, vor allem die Wirkung moderner Hängungen – auf einfachen weißen oder zumindest einfarbigen Wänden, mit weitem Abstand zwischen den präsentierten Gegenständen, relativ kurzen Beschriftungen und so weiter – in Sammlungen, die wenig oder nichts mit der Kunstwelt zu tun haben, in der solche Konventionen ursprünglich entwickelt wurden. Diese Wirkung war wohl enorm, und sie hat die ästhetischen Erwartungen des Publikums auch auf Gebieten verändert, die mit Kunst im herkömmlichen Sinn kaum oder gar nicht verwandt sind. Gleichzeitig hat, während bestimmte Arten der didaktischen Darbietung vermieden werden, die Ausrichtung von Museen an Bildungsaufgaben zugenommen. So wird etwa eine bestimmte Ausstellung im Werbematerial auf dieselbe Ebene wie der Unterricht in Schulen gestellt, und die Größe und der Einfluss der museumspädagogischen Abteilungen in Museen sind dramatisch gewachsen. Die genannten Punkte deuten darauf hin, dass Museen außerordentlich empfänglich, man könnte auch sagen anfällig für Veränderungen in Politik, Wirtschaft, Bildung, verschiedenen Bereichen der Freizeitwirtschaft und so weiter sind. Insofern sich Historiker notwendigerweise mit ihrer eigenen Zeit beschäftigen, sind gegenwärtige Entwicklungstendenzen für sie nicht nur als Bürger, sondern auch als Forscher wichtig. Solche Trends sind auch nützlich, um über die Variablen nachzudenken, die bei der historischen Arbeit sinnvollerweise berücksichtigt werden. Insbesondere können sie dazu beitragen, sich auf die Belange der Besucher einzustellen, die bekanntlich schwer zu untersuchen und für die gesamte Museumsgeschichte von zentraler Bedeutung sind.4 Man könnte fragen, in welcher Weise Museen ihr Publikum konstruieren. Was ist, mit Ernst Gombrichs Worten, der „Anteil des Betrachters“?5 Die Frage zielt auf Besucher als aktive Teilneh-

3 Meine Sicht auf Museen ist durch mein Engagement als Trustee (seit 2011 der Science Museum Group und damit verbunden auch Mitglied im Advisory Board des National Railway Museums in York) geprägt. Im Vereinigten Königreich sind Trustees für ihre Tätigkeit rechtlich verantwortlich, und viele haben einen speziellen Verantwortungsbereich. Ich habe den Vorsitz im Collections and Research Committee inne und bin dort im Allgemeinen für die Forschung zuständig. Auf diese Weise profitiere ich vom Kontakt unter anderem mit Kuratoren und Konservatoren. 4 Ludmilla Jordanova 2012: The Look of the Past. Visual and Material Evidence in Historical Practice. Cambridge: Cambridge University Press, insbes. Kapitel 4 und 5; Peter Vergo (Hg.)1989: The New Museology. London: Reaktion Books. 5 Ernst Gombrich 1960: Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation. London: Phaidon Press.

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mer an Ausstellungen, deren Urheber mit Vermutungen darüber arbeiten müssen, welche Vorerfahrungen, Vorlieben und visuellen Fähigkeiten das Publikum mitbringt.

„Erkenne Dich selbst!“ und Anatomie Die Wendung „Erkenne Dich selbst!“, die in Bezug auf mit Medizin verbundene Ausstellungen gelegentlich verwendet wird, impliziert ein aufgeschlossenes Publikum. Sie greift ein altes humanistisches Thema auf: Das Gebot, Selbsterkenntnis zu erlangen, wurde im Laufe der Jahrhunderte viele Male zitiert und mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen verbunden. 2006 gab es in Edinburgh eine größere Ausstellung mit dem Titel Anatomy Acts. How We Come to Know Ourselves.6 Ich habe an anderer Stelle darüber geschrieben, was diese Ausstellung, die in mehreren Hinsichten der früheren Ausstellung Spectacular Bodies in der Londoner Hayward Gallery glich, über die Beziehungen zwischen Medizin und bildenden und darstellenden Künsten in der Nachkriegszeit aussagt.7 Die Popularität solcher Ausstellungen gibt im Zusammenhang des Selbsterkenntnisgebots Anlass zu weiteren Überlegungen. Ich möchte zunächst einige der auffallendsten Eigenschaften der Ausstellungen in London und Edinburgh ansprechen und kurz der Vorstellung nachgehen, Menschen könnten durch ausgestellte Körperphänomene Selbsterkenntnis erlangen. Beide Ausstellungen fanden an Veranstaltungsorten für Kunst statt und waren Teil des auffälligen Trends, zwischen bildenden und darstellenden Künsten und Medizin im Allgemeinen und Anatomie im Besonderen explizite Verbindungen herzustellen. Sofern sie erzieherisch wirken sollten, scheint ihnen eine irgendwie ästhetische Auffassung zugrunde gelegen zu haben. Zu dieser Vermutung trägt die Art und Weise bei, auf die in beiden Fällen zeitgenössische Kunstwerke mit verschiedenen historischen Objekten vermischt wurden. Manchmal waren diese zeitgenössischen Kunstwerke ziemlich schockierend. Das Wort ‚schockierend‘ hat keine besondere analytische Schärfe, aber es ist nichtsdestotrotz angebracht. Was geschieht in der zeitgenössischen Kunst, wenn sie körperliche Phänomene in besonders explizite Darstellungen übersetzt, die absichtlich gegen die geltenden Regeln des Anstands verstoßen? Häufig werden die Körper der Künstler selbst eingesetzt, um Grenzen provokativ zu überschreiten; die sogenannten Young British Artists sind ein gutes Beispiel dafür.8 Marc Quinn, ein in Fragen des menschlichen Körpers maßgeblicher 6 Andrew Patrizio und Dawn Kemp (Hg.) 2006: Anatomy Acts. How We Come to Know Ourselves. Edinburgh: Birlinn. 7 Martin Kemp und Marina Wallace 2000: Spectacular Bodies. The Art and Science of the Human Body from Leonardo to Now. Berkeley/London: University of California Press; Ludmilla Jordanova 2014: Medicine and the Visual Arts. In: Victoria Bates, Alan Bleakley und Sam Goodman (Hg.): Medicine, Health and the Arts. Approaches to the Medical Humanities. London New York: Routledge, 41–63. 8 Jeremy Cooper 2012: Growing Up. The Young British Artists at 50. München/London/New York: Prestel.

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und reflektierter Künstler, hat eine Reihe von Versionen seiner selbst geschaffen, darunter ein Abbild seines Kopfs aus gefrorenem Eigenblut mit dem Titel Self. Die National Portrait Gallery in London besitzt einen solchen Kopf, der 2006 hergestellt wurde und auf ihrer Website betrachtet werden kann.9 Hier ist nicht nur die Rede von ‚Medizin‘, ‚Gesundheit‘ oder gar ‚Hygiene‘, sondern von etwas anderem, das mit Beziehungen zwischen dem Körper, der Persönlichkeit und einem latenten Bewusstsein der Sterblichkeit zu tun hat. Solche Themen sind mit ‚Anatomie‘ verknüpft worden, das heißt der Beschäftigung mit der Zusammensetzung des Körpers, seiner Struktur, seinem Inneren und seinem Aufbau. Diese Dinge können sinnvoll von der Physiologie und Genetik abgegrenzt werden und den Schwerpunkt jüngerer, offenkundig didaktischer Ausstellungen bilden. Who am I? im Londoner Science Museum ist dafür ein Beispiel. Anatomie im engeren Sinn ist historisch mit dem Gebot, sich selbst zu erkennen, verbunden worden. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt ist dabei die Tradition der Memento mori, die ausgiebigen Gebrauch von Skeletten und Totenschädeln gemacht haben. Objekte, die den Tod reflektieren, üben auf Künstler immer noch eine Faszination aus, insbesondere im Hinblick auf das Selbstporträt, wie Marcia Pointon in ihrem letzten Buch Portrayal and the Search for Identity zeigt.10 In jüngster Zeit haben wegweisende Künstler nach neuen Möglichkeiten des Sprechens über Leben und Tod gesucht. Helen Chadwick zum Beispiel hat diese Themen wiederholt in ihren zwei- und dreidimensionalen Arbeiten untersucht, während Mary Kellys Post-partum Document aus den Jahren 1973 bis 1979 sich mit der Geburt ihres Kindes beschäftigt.11 Memento mori, die, wie mir scheint, auf ganz charakteristische Weise funktionieren, haben ihre Bedeutung sicherlich nicht verloren. Sie sind dazu gedacht, ein Nachdenken über den Tod auszulösen, und zwar auf drei Ebenen. Erstens: Wir müssen alle einmal sterben. Daher werden zweitens namentlich du und ich sterben. Um dem Rechnung zu tragen, sollten wir uns also drittens ändern. Das Moralisierende daran ist offenkundig, wenn auch recht unspezifisch, und den damit verbundenen Arten von ‚Erkenntnis‘ fehlt jede sachliche und zu vielen Zeiten auch jede Glaubenskomponente. Hier bezieht sich ‚Erkenntnis‘ auf Einsicht, Wahrnehmung oder Realisierung. Das Gebot, sich selbst zu erkennen, zielt in diesem Zusammenhang eher auf Wissen, das heißt auf die Anerkennung der Vergänglichkeit des Lebens, als auf irgendwelche anatomischen Kenntnisse im Sinn von Information und Verstehen. So wurden Anatomie und Körperteile zu konventionellen Motiven, die genau dies ausdrücken. Anders gesagt: Anatomie lädt zu einer bestimmten meditativen Haltung ein. Der englische Künstler Joseph Wright von Derby, ein scharfsichtiger Schöpfer und Beobachter von Szenen, in 9 NPG 6863, http://www.npg.org.uk/collections/search/portrait/mw138260/Marc-Quinn-Self?Link ID=mp59288&search=sas&sText=Marc+Quinn&OConly=true&role=sit&rNo=2, letzter Zugriff am 14. Mai 2014. 10 Marcia Pointon 2013: Portrayal and the Search for Identity. London: Reaktion. 11 Mark Sladen und Barbican Art Gallery London (Hg.) 2004: Helen Chadwick. Ostfildern: Hantje Cantz; Mary Kelly 1983: Post-partum Document. London: Routledge & Kegan Paul.

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denen es um das Wesen der Erkenntnis geht, bezieht sich in seinem Gemälde A Philosopher by Lamplight, auf dem ein in die Betrachtung von Knochen versunkener Eremit und im Hintergrund zwei Wanderer zu sehen sind, genau auf diese Form: Knochen = Anatomie, Knochen = Tod; die Versenkung erlaubt es, sich auf diese Gleichungen einzulassen und von ihnen ausgehend unsere Sterblichkeit zu verstehen.12 Wenn wir uns wieder den Ausstellungen in London und Edinburgh zuwenden, sehen wir, dass diese meditative Tradition zusammen mit anderen Formen anatomischer Zurschaustellung, Büchern und Modellen zum Beispiel, gezeigt und durch bestimmte Darbietungsformen wie historische Kunstwerke und gelegentlich die Hinzufügung provokativer zeitgenössischer Kunst ästhetisiert wurde. Wie ich bereits angedeutet habe, gibt es in der zeitgenössischen Kunst eine Tendenz, Körperlichkeit in etwas zu verwandeln, das als Spektakel, Wissen, Reflexion, Ekel, Kritik, Ehrfurcht oder eine Kombination daraus bezeichnet werden könnte. Um dieser Überlegung weiter nachzugehen, möchte ich zu dem Gedanken, dass das Publikum durch anatomische Deutlichkeit schockiert wird, und zur Frage der Selbsterkenntnis zurückkehren. Ein in diesem Zusammenhang naheliegender Gedanke ist der des ‚Voyeurismus‘.

Sehen und Kommentieren Um medizinische Museen zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass es ihnen anscheinend lange Zeit gestattet war, zu zeigen, was sonst verborgen, beschränkt zugänglich oder geheim war. Viele Formen der Präsentation haben diese Verknüpfung ausgenutzt, einschließlich der populären Wachsmodelle besonders von Frauen und ihrem Inneren.13 Wichtig sind in dieser Hinsicht die Verschiebungen in der Beziehung zwischen dem Publikum und den Präsentationsformen. ‚Voyeurismus‘ impliziert, dass der Betrachter sich irgendwie unrechtmäßig verhält oder auf eine verquere Weise legitimiert, wie in mancher Avantgardekunst. Das ‚Wissen‘, das dadurch erlangt wird, ist schwerlich päda­ gogisch wertvoll oder moralisch, es kann aber insofern ‚politisch‘ sein, als es die Aufmerksamkeit auf Machtverhältnisse lenkt. Im Fall vieler jüngerer Arbeiten von Künstlerinnen etwa verlangt es vom Betrachter, seine Annahmen über das Wesen von Weiblichkeit zu überdenken, zum Beispiel durch Präsentationen, die sich auf Menstruation und Geburt beziehen. Zugleich wird Voyeurismus tendenziell als pejorativer Begriff behandelt, der die Motive der Zuschauer und derer, die Ausstellungen inszenieren, zweifelhaft erscheinen lässt. Wo es Anhaltspunkte dafür gibt, kann es äußerst hilfreich sein, darüber nachzudenken, warum und wie Voyeurismus wirkt, da er in der zeitgenössischen Kunst, die mit dem Körper zu tun hat, so präsent ist. Um diesen Gedanken 12 Vgl. Elizabeth E. Barker und Alex Kidson 2007: Joseph Wright of Derby in Liverpool. New Haven/ London: Yale University Press, 156 f. 13 Vgl. Anna Märker in diesem Band.

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weiterzuführen, könnte man zum Beispiel die Beziehungen zwischen Medizin und Pornografie betrachten. Wenn man sich mit visueller Kultur und Körperdarstellung beschäftigt, ist Pornografie ein wichtiger Bereich, der in jüngster Zeit zunehmende wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.14 Andere Konzepte, die man anführen könnte, um die jüngsten Entwicklungen zu verstehen, die ich hier skizziere, sind zum Beispiel die des Kommentierens und Zeugnisablegens. Der Einfachheit halber spreche ich jetzt von Künstlern und meine damit diejenigen, die Dinge herstellen, damit sie gesehen werden. In Museen sind viele Arten von Künstlern beteiligt (bis hierher habe ich auf die Rolle zeitgenössischer Künstler im üblicheren engeren Sinn aufmerksam gemacht). Man darf nicht vergessen, dass die so bezeichneten Menschen nie alleine dastehen, aber sie bleiben eine spezielle Art von Akteuren, Leute, die kommentieren und Zeugnis ablegen, sosehr sie das auch in Zusammenarbeit mit anderen tun. Wenn sie also in medizinische Ausstellungen einbezogen werden, bringen sie charakteristische Formen eines visuellen Verständnisses mit, und damit eröffnen sie Zugänge und legen Zeugnis ab, häufig in Bezug auf das Wesen von Leiden und Schmerz, Sexualität, Körpererfahrungen und so weiter. Das Werk des schottischen Künstlers John Bellany, der nach seiner Lebertransplantation im Jahr 1988 zahlreiche Gemälde, Zeichnungen und Drucke schuf, ist ein Beispiel.15 Es ist diese Fähigkeit der Künstler, die sie für Kuratoren interessant macht – und ebenso für alle anderen, die das, was das Publikum zu sehen bekommt, entwerfen, gestalten und finanzieren. Ich denke, sobald wir uns einmal mit den Sprachen des Kommentierens und Zeugnisablegens beschäftigt haben, werden die Zusammenhänge zwischen dem Anschauen von medizinischen Phänomenen und der Idee des Lernens, der Aneignung von Wissen plausibler und leuchtet die jüngste Tendenz, Künstler in medizinische und wissenschaftliche Ausstellungen einzubeziehen, auf besondere Weise ein. Sie treten als Vermittler auf, sie stellen medizinische Phänomene so dar, dass sie die Betrachter gefangen nehmen, also ihre Blicke auf sich ziehen, um Selbsterkenntnis zu bewirken.

Fotografie und Surrealismus Ich möchte an dieser Stelle auf zwei Dinge zu sprechen kommen, die in Bezug auf Ausstellungen, die mit ‚Medizin‘ zu tun haben, auf das Wissen, das das Publikum durch sie erwerben kann, und auf die Zusammenhänge, in denen diese Prozesse stattfanden und immer noch stattfinden, interessant sind. Das erste betrifft die Bedeutung des Mediums der Fotografie, die seit ihrem Aufkommen eine besonders komplizierte Beziehung zur medizinischen Praxis hatte. Was mich in diesem Zusammenhang interessiert, ist die 14 David Freedberg 1989: The Power of Image. Studies in the History and Theory of Response. Chicago/ London: University of Chicago Press. 15 Keith Hartley 2012: John Bellany. Edinburgh: National Galleries of Scotland.

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Art und Weise, in der hochwertig ausgestattete Bücher über medizinische Museen und Sammlungen Fotografien verwenden, um an genau denselben Präsentationsformen teilzuhaben wie diese Museen und Sammlungen.16 Ein gutes Beispiel ist das jüngst von Samuel Alberti und Elizabeth Hallam herausgegebene Buch Medical Museums. Past, Present, Future.17 Der Band ist optisch gewollt verführerisch. Er arbeitet, um Gefallen zu erwecken, mit ähnlichen Methoden wie eine moderne Hängung und mit einer Reihe anderer Gestaltungsmerkmale wie Großaufnahmen und der Veränderung von Bildgröße und -maßstab. Sein Mittel ist die Fotografie. In früheren Epochen konnte die Druckkultur, die von den historischen und technischen Voraussetzungen der jeweiligen Zeit einschließlich visueller Stile und Konventionen durchdrungen war, Ähnliches leisten. Medical Museums ist kein isoliertes Beispiel: Sowohl die Wellcome Collection in London als auch die National Library of Medicine in den Vereinigten Staaten haben kürzlich großartige Bücher herausgebracht. Bereits 1992 ist Finders, Keepers. Eight Collectors erschienen, eine Zusammenarbeit zwischen der Fotografin Rosamond Wolff Purcell und dem Wissenschaftler und Wissenschaftshistoriker Stephen Jay Gould.18 Fotografie kann in Bezug auf Wissenschaft und Medizin auf viele verschiedene Arten verwendet werden. Ich führe diese Beispiele an, weil sie sich speziell auf medizinische Sammlungen und Ausstellungen beziehen, also auf die Museumswelt. Und ich möchte damit fragen, wie die Beschäftigung mit diesem Medium, das die Welt so nachhaltig geprägt hat, die Strategien der Sichtbarmachung des Körpers im gleichen Zeitraum erhellen kann. Das Wirklichkeitsversprechen der Fotografie hatte einen enormen Einfluss, auch wenn wir wissen, dass die Dinge in der Praxis erheblich komplexer sind. Der zweite Punkt betrifft die Kunstbewegung des Surrealismus im frühen 20. Jahrhundert und ihren enormen und anhaltenden Einfluss.19 Die Beziehungen zwischen Medizin und Surrealismus sind natürlich komplex. Einige der Schlüsselannahmen des Surrealismus haben sich weit verbreitet, und sie sind eng mit der Art und Weise verknüpft, wie Körper dargestellt werden. Bis zu einem gewissen Grad ist das eine Folge des starken Interesses an Psychoanalyse, das viele Surrealisten bekundeten. Im vorliegenden Kontext interessieren mich jedoch eher die Präsentationsformen als die theoretischen Fundamente des Surrealismus. So sind ungewöhnliche, grenzüberschreitende, dissonante Nebeneinanderstellungen, eine ständige Beschäftigung mit Sexualität, Träumen und Fantasie ebenso wie einzelne Glieder und Gliederstücke zusammen mit seltsamen Maßstabs- und Größenverzerrun16 Michael Sappol (Hg.) 2012: Hidden Treasure. The National Library of Medicine. Bethesda, MD: National Library of Medicine und New York: Blast Books; Julie Anderson, Emm Barnes und Emma Shackleton (Hg.) 2011: The Art of Medicine. Over 2000 Years of Medicine in Our Lives. Lewes: Ilex. 17 Samuel Alberti und Elizabeth Hallam (Hg.) 2013: Medical Museums. Past, Present and Future. London: Royal College of Surgeons of England. 18 Rosamund Wolff und Stephen Jay Gould 1992: Finders, Keepers. Eight Collections. London: Hutchinson Radius. 19 Jennifer Mundy (Hg.) 2001: Surrealism. Desire Unbound. London: Tate Publishing.

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gen charakteristisch für die surrealistische Kunst. Das Gebot der Selbsterkenntnis erscheint in diesem Zusammenhang nicht unpassend, weil diese Kunst das Nachdenken über menschliche Erfahrungsstufen und ihre somatischen Dimensionen bezweckt. Wie David Lomas gezeigt hat, sind surrealistische Selbstporträts eine Möglichkeit, sich dieses Themas anzunehmen.20 Der Dreh- und Angelpunkt sind hier also die allgemeinen Bildwelten, in denen Museen existieren. Ihre Möglichkeitsbedingungen haben ebenso mit Ästhetik zu tun – ein komplexer Begriff, den ich als eine Art Kürzel verwende – wie mit den offensichtlicheren sozialen, ökonomischen und politischen Umständen. Museen vertrauen auf visuelle Vermittlung. Die Hauptakteure in den Museen unterwerfen ihre Ideen zwangsläufig Behauptungen und Annahmen darüber, was wie für wen sichtbar gemacht werden soll. Dabei wird es heute als nahezu unerlässlich angesehen, den Besuchern ein optisches Vergnügen zu bereiten. Vielleicht sollte man treffender sagen: Das Wissen, das aus Museumserlebnissen resultieren kann, leitet sich zumindest teilweise von der Auswahl der Formen optischer Präsentation ab. Das ist in einer wesentlichen Hinsicht in wissenschaftlichen und medizinischen Museen wichtiger als in Kunstgalerien, wo die ausgestellte Kunst die Werte der Institution zum Ausdruck bringen kann. Hängungen, Tafeln und Beschriftungen sind zwar maßgebliche Ergänzungen, aber die Ideologie der Kunst wird so wirksam durch andere kulturelle Formen – Künstlerbiografien, Zeitungsartikel, Dokumentarfilme, Romane und so weiter – untermauert, dass Besucher von Kunstmuseen dort bereits mit differenzierten Vorannahmen und Erwartungen in Bezug auf das Wesen der Kunst hingehen. Das trifft nicht nur auf die Gutbetuchten oder Hochgebildeten zu. So werden Vorstellungen von künstlerischer Genialität zum Beispiel von Londoner Gratiszeitungen, dem Fernsehen und dem Radio eifrig verbreitet, und die Leute werden dadurch auf ästhetische Erfahrungen eingestimmt, auch wenn sie es nicht so nennen würden. Das ist bei der ‚Wissenschaft‘ und der ‚Medizin‘ schlicht nicht der Fall. Umso aufwendiger und wichtiger sind hier die Verfahren, durch die diese in wesentlichen Teilen abstrakten Fachgebiete optisch ansprechend gemacht werden, zumal ja schon Fragen nach der Berechtigung ihrer Erkenntnisansprüche auf ihnen lasten. Ich möchte nicht andeuten, dass auf der ‚Kunst‘ keine Fragen lasten würden, nur dass hier anders und eher nach der menschlichen Erfahrung und Kreativität gefragt wird als nach ‚Wissen‘.

Historische Praxis Diese Argumente beinhalten Implikationen für die historische Praxis. Erstens, wir brauchen präzisere Beschreibungen davon, wie Museen gegenwärtig arbeiten und in der 20 Vgl. David Lomas 2000: The Haunted Self. Surrealism, Psychoanalysis, Subjectivity. New Haven/London: Yale University Press, insbes. Kapitel 5.

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Vergangenheit gearbeitet haben, was zum Beispiel gestalterische Fragen einschließt. Eine Untersuchung des Museum of Modern Art in New York von 1997 ist in dieser Hinsicht beispielhaft.21 Zweitens, die begrifflichen Kategorien, mit denen Museen operieren, müssen mit mehr Aufmerksamkeit behandelt werden: Das betrifft ‚Wissenschaft‘, ‚Medizin‘, ‚Gesundheit‘, ‚Hygiene‘, ‚Geschichte‘ und so fort. Drittens, es wird nützlich sein, über die Museen hinauszublicken und nach den kontextuellen Bedingungen ihrer Existenz zu fragen. Die besondere Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden gebietet eine solche Herangehensweise aus politischen Gründen, und es wäre wünschenswert, sich allen Museen auf diese Weise zu nähern. Es gibt ja mittlerweile bereits viele Institutionengeschichten, wobei auffällt, dass sie sich selten mit ästhetischen Fragen beschäftigen. Auf der anderen Seite gibt es eine umfassende kritische Literatur über Museen, die den Akzent auf die Machtverhältnisse legen – auf Klasse, Rasse, Gender und so weiter. Ich schlage vor, andere mögliche Kontexte zu betrachten: die visuellen Welten, in denen Museen existieren und in denen bestimmte Präsentationsweisen sinnvoll sind und das Publikum ansprechen. Dabei muss der Akzent zum einen auf Sehgewohnheiten und visuelle Fähigkeiten und zum anderen auf die dynamischen Beziehungen zwischen Publikum und Darbietung gelegt werden. Ein wunderbares Modell für diese Art von Arbeit ist die von Michael Baxandall in den 1970ern geschriebene Einführung Painting and Experience in Fifteenth Century Italy.22 Das viel gerühmte Buch enthält eine Reihe methodologischer Einsichten, die auf andere Situationen übertragen werden können, obwohl Baxandall selbst sich dagegen sträubte. Besonders gut bekannt ist sein Gedanke des „Blicks der Zeit“ („period eye“), der nicht allgemein behauptet, dass jede Zeit und jeder Ort ihren eigenen Blick haben, sondern den er verwendet, um etwas über das Italien des 15. Jahrhunderts und die Kunst, die dort zu dieser Zeit produziert wurde, zu sagen. Trotzdem können die Schritte, die er im Verlauf des kurzen Buchs vollzieht, so beschrieben werden, dass sie andersartige Arbeiten zumindest anregen. Erstens richtet er seine Aufmerksamkeit auf die besondere Weise, in der Kunstwerke und entsprechend, würde ich meinen, bestimmte Museumspräsentationen entstehen. Indem er den Schwerpunkt auf die genauen Vertragsbedingungen zwischen Künstlern und Auftraggebern und auf ihren Wandel legt, verfährt er nicht reduktionistisch, sondern versucht eher im Gegenteil die sozialen Beziehungen zwischen denen, die bezahlen, denen, die machen, und denen, die zuschauen, zu verstehen. Zweitens ist die Art und Weise, in der er nach Bereichen sozialer Praxis sucht, in denen bestimmte visuelle Fähigkeiten erfordert und verfeinert werden, fruchtbar. Er entschied sich für das Tanzen, Predigen und Abwägen. Drittens skizziert er in seinem Schlusskom21 Mary Anne Staniszewski 1998: The Power of Display. A History of Exhibition Installations at the Museum of Modern Art. Cambridge, Mass./London: MIT Press. 22 Michael Baxandall [1972] 1988: Painting and Experience in Fifteenth Century Italy. 2. Aufl. Oxford: Oxford University Press [übersetzt als Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Syndikat Verlag 1980, sowie als Taschenbuch 2013 im Berliner Wagenbach Verlag].

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mentar wirksame Interpretationsverfahren für visuelle Artefakte. Sie erfordern ein Verständnis der historischen Besonderheit aller visuellen Gewohnheiten, Fertigkeiten und Praktiken rund ums Sehen. Meine Bemerkungen über Fotografie, Surrealismus und zeitgenössische Kunst, die medizinische Objekte und die Darstellung von Körperphänomenen kommentieren, betrachtet man vielleicht am besten in diesem Licht, als grobe Skizze einiger der Fähigkeiten, Gewohnheiten und Voraussetzungen, die wir in Bezug auf ‚medizinische‘ Präsentationen berücksichtigen können; ich setze ‚medizinisch‘ in Anführungszeichen, um die instabilen Grenzen dieses Wissens anzuzeigen. Genau diese Unbeständigkeit trifft in vielerlei Hinsicht den Kern der Fragen über Wissen, Selbsterkenntnis und Präsentation. In manchen Kontexten wird das Wort ‚medizinisch‘ ein Wissen anzeigen, das ‚Wissenschaft‘ ist oder ihr zumindest ähnelt, in anderen kann es auf die organisierte Macht über den Körper hinweisen, gegen die sich die Dargestellten wehren müssen, zum Beispiel weibliche Patienten. Im Fall des Memento mori haben die Verweise auf anatomisches Wissen einen deutlich kontemplativen und moralisierenden Charakter. Eine weitere Implikation der Methode, die ich hier skizziere, ist, dass sie offensichtlich didaktische Museen nicht von solchen unterscheidet, die explizit für den ästhetischen Genuss gegründet wurden. Literatur über Museen konzentriert sich meist auf bestimmte Museumsarten, und wenige der Forscher, die sich vor allem für Kunstmuseen interessieren, haben auch über Wissenschaft, Anthropologie, Geschichte, Leben in der Region und so weiter geschrieben und umgekehrt. Dennoch kann es sehr wohl gemeinsame Muster im Sinn bestimmter visueller Rhetoriken geben, und diese Muster können in verschiedenen Zeiten und Situationen stärker oder schwächer ausgeprägt sein. Eine der jüngsten Trends, auf die ich aufmerksam gemacht habe, ist die Ästhetisierung in wissenschaftlichen und medizinischen Museen. Die erwähnten Sonderausstellungen in Edinburgh und London vermischen absichtlich verschiedene Kategorien von Objekten mit der ausdrücklichen Absicht – so schließe ich daraus –, die Besucher zu irritieren und zum Denken anzuregen oder zumindest dazu, auf irgendeine Weise zu reagieren.

Den Körper sichtbar machen Strategien der Sichtbarmachung des Körpers zu untersuchen ist anregend und ergiebig. Indem man dieser Idee vor dem Hintergrund des Selbsterkenntnisgebots nachgeht, kann der Status von Wissenschaft und Medizin hinterfragt werden, denn sie haben schließlich in beiden Hinsichten keinen Sonderstatus. Auch Formen von Kunst, wie sie einem veränderlichen Publikum präsentiert werden, beziehen sich auf diese Themen: Im Verlauf der menschlichen Geschichte waren die bildenden und darstellenden Künste und vor allem religiöse Darstellungen die am weitesten verbreitete und beständigste Möglichkeit, den Körper zu erforschen und auszustellen. Die gegenwärtigen künstlerischmedizinischen Intimitäten sind ein spezifisches historisches Phänomen, das eine engagierte

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und kritische Reaktion erfordert. Dennoch gibt es eine Politik ihrer Verschmelzung zum öffentlichen Vergnügen. Eines meiner Argumente war, dass wir anhand der ästhetischen Vorannahmen und Verfahren, die bestimmte Beispiele ‚medizinischer‘ Präsentation prägen, über diese Phänomene nachdenken können. Ich habe außerdem angedeutet, dass diese Präsentationsweisen von den Kuratoren und anderen Museumsleuten nicht unbedingt durchdacht wurden oder ihnen vollkommen bewusst sind, aber dass die visuellen Gewohnheiten und Vorlieben sich mit der Zeit ändern. Wie zum Beispiel kommt es, dass die Wellcome Galleries hinter dem Londoner Science Museum ihren Zweck nicht mehr erfüllen, während die Dioramen eine Etage tiefer, die einst als ziemlich langweilig galten, weiterhin Anklang finden?23 Man muss natürlich untersuchen, was mit „einen Zweck erfüllen“ gemeint ist, denn Zwecke verändern sich zweifellos. Aber das Beispiel ist aufschlussreich, wenn man bedenkt, dass Dioramen zur Zeit der Eröffnung der Galleries als ein bisschen altmodisch angesehen wurden und sich dennoch bis heute überraschend gut halten. Man kann nun über die visuellen Qualitäten von Ausstellungen, ihre Voraussetzungen, Hauptmerkmale und die Art, wie sie ihr Publikum konstruieren, nachdenken. Dazu ist es nötig, ein breites Spektrum von Ausstellungen zu vergleichen, die verschiedenen Beteiligten zu berücksichtigen und ihre wesentlichen Gedanken einzubeziehen. Da die Museumswelt heute sowohl ökonomisch als auch gesellschaftlich einen wichtigen Teil des Lebens ausmacht, ist eine solche Herangehensweise umso wichtiger, wenn man keinen Teil dieses ungewöhnlichen Phänomens als selbstverständlich annehmen möchte. Medizin – ein Begriff, der stets unsere Aufmerksamkeit und Deutung erfordert – spielt heute eine wichtige Rolle in öffentlichen Ausstellungen. Zu erklären, wie es dazu erst vor vergleichsweise kurzer Zeit gekommen ist, stellt für Historiker eine gewaltige Herausforderung dar. Offensichtlich müssen wir akribisch ihren verschiedenen Manifestationen nachgehen, um Institutionen, Finanzierungsvereinbarungen und Publikum sorgfältig zu analysieren. Meiner Ansicht nach sollten solche Analysen eng mit einem erweiterten Baxandall’schen Verständnis von visuellen Fähigkeiten, Gewohnheiten und Praktiken verbunden sein.24 Ich bin davon überzeugt, dass Kunstgeschichte als Disziplin, die seit je an der eigenen kritischen Wahrnehmungspraxis gefeilt hat, für ein besseres Verständnis von medizinischen Museen und ihrer Geschichte sehr viel zu bieten hat, sowohl materiell als auch methodisch. Es lohnt sich hier an den wesentlichen Erkenntnisbeitrag zu erinnern, den praktische Ärzte geleistet haben – ein Herzstück der Kunstgeschichte vor allem im 19. Jahrhundert. Die vergleichsweise späte Entstehung der visuellen Anthropologie ist eine ähnliche Entwicklung, und das anthropologische Interesse am geschulten Sehen kann in unserem Zusammenhang ebenfalls nützlich sein. 23 The Wellcome Museum of the History of Medicine. A Part of the London Science Museum. London: The Science Museum 1981. 24 Christine Grasseni (Hg.) 2007: Skilled Visions. Between Apprenticeship and Standards. Oxford: Berghahn.

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Es ist wichtig, dass Forscher weiterhin kritisch über die großen Fragen nachdenken, die im Umkreis ‚medizinisch‘ ausgerichteter Publikumsausstellungen gestellt werden, denn diese waren nie von größerer Bedeutung als heute, wo wir alle als Zuschauer und Konsumenten der Präsentation und Repräsentation von Körperphänomenen fortwährend durch das, was wir sehen können, konstruiert und rekonstruiert werden. Übersetzung aus dem Englischen durch Sylvia Zirden.

Anna Maerker

„Wunderbare Vorrichtungen“ oder „nutzloses Spielzeug“? Debatten über den öffentlichen Nutzen der Visualisierung des Körperinneren vom 17. bis zum 19. Jahrhundert

Darstellungen des menschlichen Körpers nehmen heute sowohl im Schulunterricht als auch im medizinischen Studium eine zentrale Stellung ein. Dabei bieten zerlegbare, dreidimensionale anatomische Modelle aus Kunststoff oft die erste Ansicht des Körperinneren. Moderne Betrachter äußern selten Zweifel am Nutzen solcher Modelle und der dadurch gewonnenen Erkenntnisse über die innere Verfassung des Körpers. Historisch betrachtet sind solche Annahmen jedoch nicht selbstverständlich. Bereits seit der Frühen Neuzeit haben Künstler und Anatomen Abbilder des menschlichen Körpers entwickelt. Diese Repräsentationen weisen eine beträchtliche Vielfalt auf. Sie umfassen zweidimensionale, einfarbige Abbildungen in Lehrbüchern ebenso wie kolorierte Lichtbilder, fein geformte Wachsmodelle oder Nasspräparate echter Körperteile, die in Konservierungsflüssigkeit aufbewahrt wurden. Die Körperdarstellungen unterscheiden sich in wesentlichen Aspekten, unter anderem in den verwendeten Materialien, in unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten, den institutionellen Kontexten ihrer Herstellung und nicht zuletzt ihrer ästhetischen Qualität. Insbesondere bei anatomischen Modellen zeigt sich eine beträchtliche Artenvielfalt: Künstliche Körper wurden seit der Frühen Neuzeit aus Wachs, Holz, Elfenbein, Glas und Papier gefertigt. Sie wurden farbig bemalt oder einfarbig belassen, vergrößert oder verkleinert. Meine historische Übersicht anatomischer Modelle wird daher eine Reihe von Kernfragen behandeln, in denen die Spezifität dieser Objekte deutlich wird. Ich konzentriere mich hierbei auf drei Fragen: Welche Sichtbarmachungsstrategien wurden verwendet und warum? Welcher Nutzen wurde den Objekten zugeschrieben? Wie beeinflussten sich Strategien der Sichtbarmachung und intendierter oder tatsächlicher Nutzen gegenseitig?

Probleme der Nutzenzuschreibung Es ist ein zentraler Topos der Diskussion über anatomische Repräsentationen, dass Innenansichten des Körpers beziehungsweise die exakte Kenntnis der inneren Beschaffenheit des Menschen nützlich seien. Der Nutzen anatomischer Darstellungen und

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anatomischen Wissens ist jedoch durchaus nicht selbstverständlich. Dies wird bereits in der Geschichte der anatomischen Sektion deutlich. Im Lauf der Jahrhunderte tritt hier eine Reihe höchst unterschiedlicher Beweggründe für die öffentliche und private Schausektion zutage: Sie kann zum Beispiel Teil der Strafe für einen Schwerverbrecher sein, oder sie kann dazu dienen, die göttliche Schöpfung zu feiern oder dazu, den privilegierten Zugriff der Ärzte und Chirurgen auf den menschlichen Körper und seine Geheimnisse zu demonstrieren.25 Abb. 1: Europäische Elfenbeinfigur aus dem 17. Jahrhundert (Wellcome Library London).

Aufgrund der vielfältigen Gründe, die den Blick ins Körperinnere legitimieren sollten, erscheinen eindeutige Nutzenzuschreibungen in Bezug auf historische anatomische Modelle oft problematisch. Das Beispiel anatomischer Miniaturen in der medizinhistorischen Wellcome Collection (London) kann dies verdeutlichen. Die meist ca. 20 Zentimeter langen Elfenbeinminiaturen stellen liegende Frauen dar, deren Torso geöffnet werden kann, um die inneren Organe und oft auch einen Fötus bloß zu legen (Abb. 1). Den Katalogeinträgen zu den Figuren ist zu entnehmen, dass es sich um didaktische Darstellungen gehandelt habe. So heißt es etwa, ein solches anatomisches Modell habe zur „Ermutigung“ schwangerer Frauen gedient: „Ivory anatomical model of a pregnant female with removable parts possibly used by obstetric specialists or midwives to provide reassurance for pregnant women.“26 Der Eintrag legt also nahe, die anatomische Repräsentation habe es der Frau erlaubt, mit dem behandelnden Arzt oder der Hebamme über intime Teile ihres Körpers zu kommunizieren. Diese Nutzenvermutung scheint auf 25 Zu den Funktionen der Sektion in der Frühen Neuzeit vgl. z.B. Giovanna Ferrari 1987: Public Anatomy Lessons and the Carnival. The Anatomy Theatre of Bologna. Past and Present, 117, 50–106; Jonathan Sawday 1995: The Body Emblazoned. Dissection and the Human Body in Renaissance Culture. London/New York: Routledge. 26 Wellcome Library, Bilddatenbank Wellcome Images, Abb. L0035643, Museums-Nr. A127699 [http:// wellcomeimages.org, letzter Zugriff am 16. Dezember 2013].

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ähnliche Spekulationen über den praktischen Zweck anatomischer Elfenbeinminiaturen aus China zu rekurrieren. Deren Nutzen erkennt der Katalog nämlich ebenfalls in einer diskreten Verständigung zwischen der weiblichen Patientin und ihrem Arzt über den Ort ihres Leidens: „Chinese ivory diagnostic doll used by female patients to indicate where their symptoms were.“ (Abb. 2).27 Abb. 2: Chinesische Elfenbeinfigur aus dem späten 18. Jahrhundert (Wellcome Library London).

Historische Untersuchungen über den Umgang zwischen Ärzten und Patientinnen in der Frühen Neuzeit deuten jedoch darauf hin, dass die Patientinnen auf solche Mittel nicht angewiesen waren. Im Gegensatz zu der den Katalogeinträgen zugrunde liegenden Annahme, Frauen seien aus Anstandsgründen zurückhaltend in der Schilderung ihrer körperlichen Beschwerden gewesen, zeigen Studien über frühneuzeitliche Patientinnen, dass diese ihre Körpererfahrungen durchaus selbstbewusst artikulierten.28 Die Miniaturen sind außerdem sehr klein und die Organe nur grob umrissen. Daher kann geschlossen werden, dass sie nicht rein als medizinische Demonstrationsmittel gedacht waren; eine vorrangig dekorative Funktion wäre ebenfalls denkbar. Begleitendes Material legt nahe, dass die Miniaturen im Besitz von Ärzten waren, die vor ihren Studenten und der Öffentlichkeit ihre professionelle Autorität im Umgang mit dem weiblichen Körper zu unterstreichen suchten.29 27 Wellcome Library, Bilddatenbank Wellcome Images, Abb. L0035550, Museums-Nr. A164587 [http://wellcomeimages.org, letzter Zugriff am 16. Dezember 2013]. Heutige Sammler und Historiker vermuten dagegen, dass chinesische Figuren dieser Art vor allem erotischen Zwecken dienten (z.B. Christie’s Auktionshaus, Katalogeintrag für „A Chinese ivory carving of a doctor’s lady“, Sale 3001, Amsterdam 3.–4. April 2012, lot 366: “Figures like the present one are now believed to have had a more erotic intention, and their nakedness and specific position to be based on Sino-Spanish ivory figures of the infant Jesus that would have been seen by Chinese craftsmen during the Ming dynasty.” [http://www.christies.com/lotfinder/sculptures-statues-figures/a-chinese-ivory-carvingof-a-doctors-5541178-details.aspx, letzter Zugriff am 16. Dezember 2013]. 28 Barbara Duden 1987: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart: Klett-Cotta. 29 Cali Buckley 2013: The Elusive Past of Ivory Anatomical Models [http://dittrickmuseumblog. com/2013/08/27/the-elusive-past-of-ivory-anatomical-models/, letzter Zugriff am 16. Dezem-

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Abb. 3: Europäische Holzfigur aus dem 17. Jahrhundert (Wellcome Library London).

Selbst im Fall größerer Modelle aus der Frühen Neuzeit ist der beabsichtigte oder tatsächliche Nutzen nicht eindeutig bestimmbar. Ein Objekt aus Holz mag dies illustrieren: Ebenfalls in der Wellcome Collection befindet sich ein weibliches Modell aus Holz von ca. 40 cm Länge, das wie die oben behandelten Elfenbeinfiguren eine separate Bauchplatte und Organe aufweist (Abb. 3). Auch hier lässt der Katalogeintrag vermuten, bei dem Modell handle es sich selbstverständlich um ein Demonstrations- und Unterweisungsmittel für Laien: „[I]t is likely that the model was used to teach lay people about basic human anatomy. It may possibly have been used by midwives to provide reassurance for pregnant women and to teach young married couples about anatomy and pregnancy.“30 Ob und wie diese Unterweisungspraxis dokumentiert wurde, ist jedoch nicht bekannt. Auch hier lässt sich das Modell wieder alternativ, zum Beispiel als Statussymbol interpretieren. So hat Patrick Wallis in seinen Untersuchungen über Apotheken der Frühen Neuzeit belegt, dass dort regelmäßig Kuriositäten ausgestellt wurden. Der Apotheker demonstrierte damit gleichzeitig seine Expertise und seine Verfügung über Spezialartikel.31 Angesichts dieser interpretativen Ambivalenzen und der Unsicherheit um den tatsächlichen oder beabsichtigen Nutzen anatomischer Darstellungen ist es angebracht, die oben genannten Vermutungen zunächst im Hinblick auf die dahinter verborgenen Annahmen moderner Interpreten zu hinterfragen. Diese Deutungen legen nahe, dass Historiker und Kuratoren zweierlei Annahmen zugrunde legen: erstens die Annahme, dass Körperdarstellungen der Vermittlung von Faktenwissen dienten, und zweitens die Annahme, dass insbesondere medizinischen Laien das Körperinnere demonstriert werber 2013]. 30 Wellcome Library, Bilddatenbank Wellcome Images, Abb. L0057359, Museums-Nr. Science Museum A79253. Das männliche Pendant trägt die Inventarnummer Science Museum A79252 [http://wellcomeimages.org, letzter Zugriff am 16. Dezember 2013]. 31 Patrick Wallis 2008: Consumption, Retailing, and Medicine in Early-modern London. Economic History Review 61, 1, 26–53.

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den sollte, um das Verständnis des Patienten zu befördern und den Behandlungsvorgang zu erleichtern. An den Anblick zerlegbarer Plastikmodelle gewöhnt, hinterfragen moderne Betrachter den Nutzen solcher Darstellungen selten. Wenn es aber bei der dreidimensionalen Darstellung des Körperinneren nicht um die Vermittlung von Faktenwissen geht, welchen Nutzen haben Modelle dann? Diese Frage werde ich anhand von Beispielen aus dem 18. und 19. Jahrhundert beantworten. Der Schwerpunkt meiner Untersuchung liegt dabei auf dem Zusammenhang zwischen Visualisierungsstrategien und beabsichtigtem Nutzen anatomischer Modelle und auf der Einbindung anatomischer Modelle in gesellschaftliche Reformprojekte. Dabei berücksichtige ich Kritiker, die den Nutzen solcher Darstellungen infrage stellten.

Verschiedene Bedeutungen anatomischer Modelle im 18. und 19. Jahrhundert Die Wahl geeigneter Materialien und Visualisierungsstrategien war eng mit dem beabsichtigten Nutzen anatomischer Modelle verbunden. Im Gegensatz zu den visuell ansprechenden Elfenbeinminiaturen waren die geburtshilflichen Modelle des 18. Jahrhunderts vor allem darauf angelegt, einen möglichst authentischen, lebensnahen haptischen Eindruck zu vermitteln (Abb. 4). Diese Modelle, auch „Maschinen“ oder „Phantome“ genannt, wurden aus robusten Materialien wie Holz, Leder und Textilien produziert. Angehende Hebammen und männliche Geburtshelfer sollten mit ihrer Hilfe sensibles Wissen über den Körper der Gebärenden erwerben. Durch die Maschinen Abb. 4: Italienisches geburtshilfliches „Phantom“ aus dem 18. Jahrhundert (Wellcome Library sollten sie Gelegenheit bekommen, den London). Gebrauch wichtiger Handgriffe zu erlernen und einzuüben, wie das Drehen des Kindes im Mutterleib.32 Der Nutzen solcher Modelle bestand in einer praktischen Unterweisung und nicht in der Vermittlung anatomischen Lehrwissens. Geburtshilfliche Phantome wurden von Zeitgenossen als nützliche Objekte gepriesen und von prominenten Heb32 Zur Geschichte geburtshilflicher Phantome vgl. z.B. Nina Rattner Gelbart 1998: The King’s Midwife. A History and Mystery of Madame du Coudray. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, sowie Ghislaine Lawrence 2001: An Obstetric Phantom, Lancet, 358, 9296: 1916.

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ammen verwendet. Die Hebamme des französischen Königshofes Madame du Coudray (um 1712–1794) etwa entwickelte Modelle nach eigenem Muster. Für die landesweite Verbreitung solcher Prototypen im Rahmen eines Projekts zur Verbesserung der geburtshilflichen Versorgung in Frankreich erhielt sie die Unterstützung König Ludwigs XV.33 Doch nicht alle Beobachter schlossen sich diesem positiven Urteil an: Die geburtshilflichen Maschinen wurden im 18. Jahrhundert zum Teil scharf kritisiert, da sie in Verdacht gerieten, den Lehrlingen einen Mangel an Einfühlungsvermögen im Umgang mit lebenden Patientinnen zu vermitteln. Kritiker der Modelle betonten, dass Geburtshelfer nur durch Üben am lebenden Körper das nötige Feingefühl erlangen könnten.34 Geburtshilfliche Modelle wurden im 18. Jahrhundert jedoch nicht nur verwendet, um praktische Handgriffe zu üben, sondern auch, um das Machtverhältnis von weiblichen Hebammen und den neuen männlichen Geburtshelfern zu bestimmen. So zeigt Lucia Dacome, dass der Bologneser Chirurg und Geburtshelfer Gian Antonio Galli (1708–1782) ein teilweise aus Glas konstruiertes Modell des schwangeren Unterleibs anfertigte, um das geheime Wissen der Hebammen als aufklärerisches Gedankengut sichtbar zu machen, letztendlich aber der Macht männlicher Gelehrter zu unterwerfen.35 Abb. 5: Wachsmodelle aus dem Museo La Specola, Florenz, spätes 18. Jahrhundert (Foto Joanna Ebenstein, Morbid Anatomy).

Galli war nicht der Einzige, der im 18. Jahrhundert anatomische Modelle in Projekte einbezog, die von aufklärerischen Gedanken bestimmt waren. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gründete der toskanische Großherzog Peter Leopold (1747–1792) mithilfe seines Hofgelehrten Felice Fontana (1730–1805) ein öffentliches Museum für Physik und 33 Gelbart 1998: 60–65. 34 Vgl. Anna Maerker 2011: Model Experts. Wax Anatomies and Enlightenment in Florence and Vienna, 1775–1815. Manchester: Manchester University Press, Kapitel 5. 35 Lucia Dacome: Blindfolding the Midwives, Kapitelentwurf. Ich danke Lucia Dacome dafür, dass ich Einsicht in ihr Manuskript nehmen durfte.

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Naturgeschichte. Das neue Museum sollte ausdrücklich der gesamten Öffentlichkeit zugänglich sein und der Erziehung der toskanischen Untertanen zu mündigen Bürgern dienen. Peter Leopold betrachtete seinen Staat als „Labor“, in dem er die Gesetze der menschlichen Natur erforschte, um auf dieser Basis ein perfektes Staatswesen zu schaffen. Die Sammlung, die im Museum für den Bürger die Naturgesetze anschaulich machte, sollte nach Leopolds Plan die gesamte Schöpfung von den Mineralien und Pflanzen bis hin zu physikalischen Instrumenten und Maschinen erfassen. Selbst der Mensch war ausdrücklich Teil dieses gesetzhaften Ganzen, weshalb denn auch eine umfangreiche Sammlung anatomischer Modelle des gesunden menschlichen Körpers einen wichtigen Bestandteil der Ausstellung bildete (Abb. 5). In der Werkstatt des Museums stellten Bildhauer und Anatomen gemeinsam lebensgroße Modelle aus farbigem Wachs her, die von schematischen Abbildungen begleitet wurden. Die Kombination von plastischen und bildhaften Elementen sollte dem Besucher unmittelbaren Einblick in den Körper und seine Gesetzmäßigkeit gewähren. Oder wie Fontana als Direktor des neuen Museums es ausdrückte: „Man sieht und versteht alles auf einen Blick.“36 Dieser intendierte Nutzen der Florentiner Wachsmodelle als Instrumente der Volksaufklärung wurde allerdings von den Besuchern nur selten wahrgenommen. Sie rezipierten die anatomischen Modelle im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert oft auf andere Weise. Für die einen waren die wächsernen Körper Anlass zur moralischen Kontemplation, anderen schenkten sie eine religiöse Erfahrung, offenbarten ihnen die Allmacht des Schöpfers. So stellte die französische Malerin Elisabeth Vigée-Lebrun (1755–1842) fest: „In Monsieur Fontanas Kabinett muss man einfach glauben und niederknien.“37 Dass die künstlichen Körper für Besucher oft einen anderen als den vorgesehenen Zweck erfüllten, stellte den Museumsdirektor vor ein Problem. Wie konnte ihr „korrekter“ Gebrauch sichergestellt werden? Fontana und sein Assistent Giovanni Fabbroni (1752– 1822) entwickelten hierauf zwei grundverschiedene Antworten. Für Fontana lag die Lösung in der Entwicklung verbesserter Modelle. Er erklärte den Misserfolg der Wachsmodelle damit, dass sie fragil und daher im Wortsinn nicht „begreifbar“ waren. Echtes Verständnis, so argumentierte der Direktor, sei nicht durch visuelle Aneignung allein zu erreichen, sondern dazu gehöre auch das Auseinandernehmen und Zusammensetzen zerlegbarer Modelle. Fontana begann also mit Holz zu experimentieren. Diese Versuche blieben jedoch erfolglos, da das Holz sich bei Schwankungen der Temperatur und Luftfeuchtigkeit zu stark verformte. Sein Assistent Fabbroni hingegen hielt die Modelle als alleiniges Lernmittel für prinzipiell unzulänglich. Er schlug vor, die anatomischen Repräsentationen sollten stets von den Ausführungen eines anwesenden Experten beglei-

36 „[A] un colpo d’ochio tutto si vede, tutto si conosce“, N. N. 1775: Saggio del Real Gabinetto di Fisica, e di storia naturale di Firenze. Rom: Giovanni Zempel, 29–30, siehe auch Maerker 2011: 29 f. 37 „Dans le cabinet de M. Fontana il faut croire et se prosterner.“ Elisabeth Vigée-Lebrun 1835–1837: Souvenirs de Madame Louise-Élisabeth Vigée-Lebrun. Bd. 2. Paris: H. Fournier, 154.

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Abb. 6: Modell von Dr. Louis-Thomas-Jérôme Auzoux, ca. 1925–1950 (Boerhaave Museum Leiden).

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tet werden. Nur so könne die erfolgreiche Vermittlung des durch die Modelle dargestellten Wissens gewährleistet werden.38 So wie der gewollte Nutzen der anatomischen Wachsfiguren am Florentiner Museum nicht gesichert war, so stand ihre Vorführung auch in anderen institutionellen Kontexten für ein Spektrum von Deutungen offen. Kopien der Florentiner Modelle, die in den 1790er-Jahren an die neue medizinisch-chirurgische Militärakademie Josephinum nach Wien geliefert wurden, betrachtete man dort ebenfalls nicht als Mittel der anatomischen Aufklärung. In Wien kritisierten insbesondere Ärzte und Mediziner die Wachsmodelle als „Spielzeug“ und frivolen Luxus und damit als Objekte, die nur der Unterhaltung, aber nicht dem medizinischen Wissenserwerb dienen konnten.39 Auch im 19. Jahrhundert gab es Versuche, den Nutzen anatomischer Modelle durch die Wahl eines geeigneten Materials sicherzustellen. Ähnlich wie Fontana stellte der französische Arzt Louis-ThomasJérôme Auzoux (1797–1880) robuste, zerlegbare Modelle her. Doch im Gegensatz zu Fontanas Versuchen mit Holz war Auzoux’ Unternehmen erfolgreich (Abb. 6).40 Um 1820 produzierte er anatomische Modelle aus einer Art Pappma-

38 Maerker 2011: Kapitel 4. 39 Maerker 2011: Kapitel 5 sowie dies. 2012: Florentine Anatomical Models and the Challenge of Medical Authority in Late-eighteenth-century Vienna. Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, 43, 3: 730–740. 40 Zum kommerziellen Erfolg von Auzoux vgl. z.B. Audrey B. Davis 1977: Louis Thomas Jerome Auzoux and the Papier Maché Anatomical Model. In: C. Piacenti (Hg.): La ceroplastica nella scienza e nell’arte. Atti del I congresso internazionale, Firenze 3–7 giugno 1975. Florence: Olschki, 257–279; Margaret Olszewski 2009: Designer Nature. The Papier-mâché Botanical Teaching Models of Dr Auzoux in Nineteenth-Century France, Great Britain and America. Ph.D Dissertation, University of Cambridge; Dominique Pain 1991: L’Anatomie clastique. Une affaire normande au XIXème siècle. MD Dissertation, Universität Caen.

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schee, das er aus einer formbaren Paste auf Papierbasis gewann. Seine Wahl des Materials ermöglichte ihm eine Reihe entscheidender Neuerungen. Zum einen eignete sich der Stoff zur gestalterischen Verarbeitung. Das gestattete Auzoux die Serienproduktion in einer Fabrik, die er in seinem kleinen Heimatort in der Normandie gegründet hatte. Zum anderen war die getrocknete Paste zugleich robust und elastisch, sodass die fertigen Modelle immer wieder auseinandergenommen werden konnten, ohne Schaden zu nehmen. Auzoux’ ursprüngliches Ziel war es, Medizinstudenten den Umgang mit Leichen zu ersparen, außerdem sollten sie anatomische Fakten leichter und selbstständiger lernen können. Dies sollte auch autodidaktisch möglich werden – ohne Lehrer und bis zur Examensreife. Auzoux versah deshalb alle Details mit beschrifteten Etiketten. Die Experten des Fachs standen diesen Ansprüchen jedoch kritisch gegenüber: Die französische Akademie für Medizin und diejenige für Naturwissenschaften lobten zwar Auzoux für seine Leistungen, betonten aber gleichzeitig, dass für den angehenden Mediziner das Studium an der echten Leiche unverzichtbar sei. Aus ihrer Sicht nutzten Auzoux’ Modelle Medizinstudenten allenfalls zu Anfang ihrer Studien.41 Diese Kritik am Nutzen seiner Pappmodelle für angehende Mediziner veranlasste Auzoux, den Kreis seiner potentiellen Kunden auszuweiten. Insbesondere suchte er Anschluss an neue Initiativen zur Beförderung der öffentlichen Gesundheit. Mit Aktivisten wie dem Pionier der Hygienebewegung Louis Villermé (1782–1863) wurde das Motto anatomischer Forschung, „Erkenne Dich selbst!“, zunehmend zu einer an Laien gerichteten Aufforderung, sich derartiges Wissen über den eigenen Körper anzueignen. Die Nutzenannahme war hier, dass dieses Wissen direkt zum Erhalt der individuellen Gesundheit und damit langfristig auch zur Verbesserung der allgemeinen Gesundheit beitragen würde.42 In diese Reformprojekte integrierte Auzoux seine Modelle und führte seine Fabrik als Modellbetrieb im Wortsinn: Die Arbeiterinnen und Arbeiter erhielten neben Gelegenheit zu gymnastischen Übungen und Krankheitsvorsorge auch Zugang zu Unterricht in Anatomie und Physiologie. Einige bekamen auf diese Weise die Chance zum sozialen Aufstieg, so zum Beispiel der junge Pierre Bouché, der als Kind in Auzoux’ Fabrik zu arbeiten begann. Er zeigte bald Talent für ein akademisches Studium und wurde mit 18 Jahren als Dozent für Anatomie nach Ägypten bestellt, wo er fortan an einer neuen medizinischen Hochschule französischen Stils unter Dr. Antoine Clot (1793–1868) lehrte. Hier diente der anatomische Unterricht zur Aneignung europäischer Wissenstraditionen.

41 Vgl. z.B. Académie Royale de Médecine 1825: Rapport de la Commission chargée d’examiner la pièce d’anatomie artificielle destinée à représenter toutes les parties du corps humain, exécutée pour le Gouvernement par M. Auzoux, Docteur en Médecine (Séance générale du 5 juillet 1825). In: LouisThomas-Jérôme Auzoux 1825: Notice sur les préparations artificielles de M. Auzoux. Paris: Feugueray, 31. 42 Ann LaBerge 1992: Mission and Method. The Early Nineteenth-Century French Public Health Movement. Cambridge: Cambridge University Press.

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Clot berichtete stolz, wie nützlich sein Unterricht sich in der Bekämpfung des traditionellen Aberglaubens erwies.43 Der Nutzen anatomischer Modelle im 19. Jahrhundert lag allerdings nicht nur in der Aufklärung normannischer und ägyptischer Bauern. Insbesondere in den Vereinigten Staaten nutzten politische Aktivisten Auzoux’ Modelle für ihre eigenen Zwecke. Beispielhaft seien hier Frederick Hollick und Paulina Wright Davis genannt. Der gebürtige Engländer Hollick reiste in den 1840er-Jahren nach Nordamerika, um öffentliche Vorlesungen über Körper und Gesundheit zu halten. In seinen Ausführungen demonstrierte er die Stadien der Embryonalentwicklung anhand von Auzoux’ Modellen. Hollick zielte mit seinen Vorlesungen explizit darauf ab, Laien vom Wissensmonopol medizinischer Experten zu befreien. Es überrascht daher nicht, dass er von der Ärzteschaft angegriffen wurde. So musste er sich in Philadelphia gegen eine Klage wegen obszönen Betragens in der Öffentlichkeit vor Gericht verteidigen.44 Auch für die Aktivistin Davis waren Auzoux’ anatomische Modelle Teil ihrer politischen Mission.45 Wie Hollick las sie öffentlich für ein Laienpublikum – in diesem Fall für Frauen. Davis sah medizinisches Grundwissen für Frauen als unerlässlich an, denn diese trugen in der Familie meist die Verantwortung für die medizinische Grundversorgung. Darüber hinaus argumentierte die Aktivistin, dass Frauen ein Recht darauf hätten, „alles zu wissen, was für unser Leben und unser Glück wichtig ist“.46 Zu diesem Grundwissen gehörten für Davis auch die geheimnisvollen Vorgänge der Zeugung, Schwangerschaft und Geburt, die Auzoux’ Modelle anschaulich illustrieren konnten.

Nutzen als Problem und zentrale analytische Kategorie Die Geschichte anatomischer Modelle seit der Frühen Neuzeit zeigt, dass der heute kaum noch hinterfragte Nutzen dieser Repräsentationen des Körpers nicht selbstverständlich ist. Insbesondere stellen die hier angeführten Fallstudien die moderne Annahme infrage, Modelle seien hauptsächlich für die Vermittlung von Faktenwissen nützlich. Die künstlichen Körper wurden, von den dekorativen Elfenbeinminiaturen des 17. Jahrhunderts über die lebensgroßen Wachsmodelle der Aufklärung bis hin zu den robusten Pappmascheeattrappen des 19. Jahrhunderts, für sehr verschiedene Zwecke verwendet: als Statussymbole, als Anlass zu moralischen oder religiösen Gedanken, als Objekte, an 43 Anna Maerker 2013: Anatomizing the Trade. Designing and Marketing Anatomical Models as Medical Technologies, c. 1700–1900. Technology & Culture, 54, 3: 531–562. 44 April Haynes 2003: The trials of Frederick Hollick. Obscenity, Sex Education and Medical Democracy in the Antebellum United States. Journal of the history of sexuality, 12, 4: 543–574. 45 Zu Pailina Wright Davis vgl. z.B. Nancy Isenberg 1998: Sex and Citizenship in Antebellum America. Chapel Hill/London: University of North Carolina Press sowie Elizabeth Reis 2012 (Hg.): American Sexual Histories. 2. Aufl. Chichester: Wiley-Blackwell. 46 Paulina Wright Davis 1846: Letter from Mrs. Wright, The Water-Cure Journal, Bd. 2, Nr. 1, 1. Juni, 29.

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denen Betrachter ihre Urteilskraft schärften oder als didaktische Mittel der Volksaufklärung. Dass anatomische Modelle ebenso wie andere Visualisierungen von medizinischem Wissen als Mittel der Stabilisierung (oder Destabilisierung) bestimmter Machtverhältnisse aufgefasst und untersucht werden können, wurde hier beispielhaft skizziert, etwa am Gefälle zwischen Anatomen und Hebammen (Galli) beziehungsweise zwischen Experten und Laien (Fabbroni) sowie an den emanzipatorischen Aktionen von Hollick und Davis. Daneben wurden auch kurz immer mögliche spirituelle (Vigée-Lebrun), dekorative oder erotische Nutzenzuweisungen bei anatomisch-medizinischen Objekten berührt. In der Geschichte anatomischer Repräsentationen des Menschen erweist sich der Nutzen als eine stets umstrittene Kategorie.

Nick Hopwood

Der Embryologe und sein Homunkulus. Deutungen einer Marmorbüste von 19001

Porträts von Ärzten oder Entdeckern konstruieren deren Identität durch bestimmte Berufs- und Forschungskennzeichen: Bücher für den gelehrten Mediziner, ein Mikroskop für den Forscher im Versuchslabor, Pflanzen für den Botaniker, Moleküle für den Chemiker und Gleichungen für den Mathematiker.2 Während derartige Attribute den Ruhmesanspruch der Porträtierten direkt signalisieren, müssen die Betrachter der weniger geläufigen Bilddetails zuerst herausfinden, was dies überhaupt für Dinge und warum sie relevant sind. Wissenschaftlerporträts, die solche esoterischen Objekte in ihre Darstellung einschließen, vermögen deshalb auf Forscher wie auf ihre Forschungsobjekte identitätsbildend zu wirken.3 Diese Zusammenhänge können anhand der Geschichten solcher Kunstwerke genauer untersucht werden. Im Folgenden interessieren mich besonders Embryologen und Embryonen und in ihrem Zusammenhang speziell eine Marmorbüste des Schweizer Anatomen Wilhelm His, die der Leipziger Bildhauer Carl Seffner 1900 geschaffen hat (Abb. 1a). Sie befindet sich heute im Anatomischen Institut in Basel, His’ Geburtsstadt. Der gesenkte Blick der Figur und der Faltenwurf des Mantels lenken den Blick des Betrachters auf den Gegenstand in His’ rechter Hand (Abb. 1b), den vermutlich einzigen Embryo, der je in Marmor gehauen wurde. Der Trägerstoff wirkt an sich schon verwirrend. His’ lebensgroße Figur hält nun nicht das Originalpräparat eines vierwöchigen Embryos in der Hand, das kaum 1 Das vorliegende Kapitel ist eine leicht gekürzte Übersetzung meines Aufsatzes „A Marble Embryo. Meanings of a Portrait from 1900“, der im Frühjahr 2012 im History Workshop Journal, 73, 5–36 erschien. Ich verweise hier auf die dortige Danksagung und möchte mich nur ein weiteres Mal für die großzügige Hilfe des Seffner-Experten Stefan Voerkel bedanken. Ich danke Sybilla Nikolow für die Einladung sowie für ihre Hilfe bei der Übersetzung und dem Wellcome Trust [088708] für die Förderung. 2 Ludmilla Jordanova 2000: Defining Features. Scientific and Medical Portraits, 1660–2000. London: Reaktion, hier 40, 79–83, 163, sowie u.a. Patricia Fara 2002: Newton. The Making of Genius. London: Macmillan, Kapitel 2. 3 Vgl. zu Identitäten und Objekten Lorraine Daston und H. Otto Sibum (Hg.) 2003: Scientific Personae and Their Histories [= Science in Context, 16]. Cambridge: Cambridge University Press; Lorraine Daston (Hg.) 1999: Biographies of Scientific Objects. Chicago/London: University of Chicago Press; vgl. auch Soraya de Chadarevians Modellstudie von 2003: Portrait of a Discovery. Watson, Crick and the Double Helix. Isis, 94, 90–105.

Deutungen einer Marmorbüste von 1900

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Abb. 1. Marmorbüste von Wilhelm His, signiert „Seffner, 1900“ (ca. 70 x 66 x 48 cm). a: Photographie, undatiert (17 x 23 cm, Universitätsbibliothek Basel). b: Nahaufnahme des Embryomodells von oben, ca. 1992 (Anatomisches Museum Basel).

vier Millimeter Länge messen würde, sondern dessen stark vergrößertes Modell. Durch diese erste in einer Porträtbüste enthaltene Embryo-Darstellung bietet das Werk einen besonderen Zugang zum Gründer der modernen Humanembryologie. Dass die Büste in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen gezeigt wurde – im Familienkreis, auf Kunstausstellungen, in der anatomischen und embryologischen Wissenschaft –, regt außerdem zum Nachdenken darüber an, wie die verschiedenen Betrachter wohl auf das potentiell unbekannte Gebilde reagiert haben. Im menschlichen Embryo treffen mehrere historische Linien zusammen: die Geschichten der Schwangerschaft, der Fruchtbarkeit und der Abtreibung mit den Geschichten der Anatomie, der Anthropologie und der Evolution. Realistische Darstellungen von Embryonen tauchten in Europa erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf. Zusammen mit der neuen Wissenschaft der Embryologie gingen sie aus Untersuchungen über Zeugungsvorgänge, der Naturgeschichte der Monster und anatomischen Darstellungen des schwangeren Uterus aus der Sicht männlicher Geburtshelfer hervor. Ältere Bilder des Ungeborenen reichen von der religiösen Kunst, wo Jesus oft im Bauch Marias dargestellt wurde, bis zu praktischen Handbüchern für Hebammen, die verschiedene vorgeburtliche

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Lagen des Kindes abbildeten. Doch erst um 1800, als die traditionelle Auffassung der Schwangerschaft als unsicherer und prekärer Zustand, über den nur die betroffenen Frauen Geheimwissen besaßen, ihre Geltung verlor, entstanden Zeichnungen der stufenweisen Entwicklung des menschlichen Embryos. Die Anatomen des 19. Jahrhunderts verbesserten diese frühen Serien und lehrten die Studenten der Arzneikunst die vielfältigen Veränderungen, die den Säuglingskörper entstehen ließen. Aber erst die kontroverse Debatte um den Darwinismus, insbesondere um die Theorie, dass der Mensch im Mutterleib seine Stammesgeschichte gleichsam von ganz unten aufsteigend rekapituliere, verhalf Embryonen und Embryologen ab den 1860er-Jahren zu nie dagewesener Popularität. Seit den 1880er-Jahren richteten His und später auch amerikanische Anatomen, die bei ihm studiert hatten, die Humanembryologie als eigenes, nach und nach expandierendes Forschungsgebiet ein. In den 1960er-Jahren hielt die menschliche Fortpflanzung Einzug in die Schulen, und die Zeitschrift Life titelte mit der Abbildung eines Fötus. Ab den 1970er-Jahren gehörten Ultraschalluntersuchungen in der Geburtshilfe zum medizinischen Standard. Abtreibungsgegner instrumentalisierten solche Bilder und Kinderwünsche wurden durch die Einpflanzung von in vitro befruchteten Eizellen in die Gebärmutter erfüllt. Heute dominieren Embryonen in der Darstellung von Frühschwangerschaften. Als Symbole biomedizinischer Hoffnungen und Ängste können sie es sogar mit den Genen aufnehmen.4 Die historische Entstehung einer embryologischen Sicht auf das Leben hing zwar von der Produktion und Verbreitung von Embryonenbildern ab, verständlich und somit relativierbar wird diese Entwicklung jedoch nur, wenn wir auch ältere Deutungen und Zuschreibungen berücksichtigen. Wie Abtreibungshistoriker gezeigt haben, wurde dasjenige, was in religiös-ethischen Diskursen als ungeborenes Kind repräsentiert wurde, von Vertretern der Rechtsmedizin als embryologische Tatsache und selbst noch von abtreibenden Frauen im 20. Jahrhundert als zu leerender Abfall bezeichnet. Anthropologen und Soziologen haben eine zunehmende begriffliche Konkurrenz beziehungsweise Überlappung zwischen den Bezeichnungen „Embryo“, „Fötus“, „Abort“ und „Baby“ im politischen, medialen und medizinischen Sprachgebrauch nachgewiesen.5 Um freilich 4 Einen Überblick geben Tatjana Buklijas und Nick Hopwood 2008: Making Visible Embryos [http:// www.hps.cam.ac.uk/visibleembryos/, letzter Zugriff am 14. August 2014]; Nick Hopwood 2009: Embryology. In: Peter J. Bowler und John V. Pickstone (Hg.): The Cambridge History of Science, Bd. 6: The Modern Biological and Earth Sciences. Cambridge: Cambridge University Press, 285–315; Barbara Duden, Jürgen Schlumbohm und Patrice Veit (Hg.) 2002: Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.–20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 5 Vgl. z.B. Cornelie Usborne 2007: Cultures of Abortion in Weimar Germany. New York/Oxford: Berghahn, 127–162, hier 156; Rosalind Pollack Petchesky 1987: Foetal Images. The Power of Visual Culture in the Politics of Reproduction. In: Michelle Stanworth (Hg.): Reproductive Technologies. Gender, Motherhood and Medicine. Cambridge: Polity, 57–80; Sarah Franklin 1997: Embodied Progress. A Cultural Account of Assisted Conception. London/New York: Routledge, 181 f.; Michael Mulkay 1997: The Embryo Research Debate. Science and the Politics of Reproduction. Cambridge: Cambridge University Press, 135–139.

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zu verstehen, wie sich diese embryologische Anschauungsweise formiert und durchgesetzt hat, müssen über die gruppenspezifischen Bedeutungen dieser Ausdrücke hinaus auch die jeweils zugrunde liegenden Machtverhältnisse genauer rekonstruiert werden. Den Embryologen fiel im Lauf dieser Entwicklung eine Sonderstellung zu: Sie hantierten direkt mit menschlichen Embryonen und produzierten und veröffentlichten zugleich deren zuverlässigste Darstellungen.6 Welche persönlichen Beziehungen mit ihren Forschungsobjekten pflegten sie, und wie stellte sich dieses Verhältnis vor verschiedenen Publika dar? Wie und in welchem Ausmaß assoziierten ihre Fachkollegen, ihre Familien sowie die breite Öffentlichkeit Embryologen mit Embryonen und umgekehrt? In diesem Beitrag untersuche ich den Statuswandel von Embryonen und Embryologen, indem ich die Konzeption und Rezeption des durch Seffner angefertigten Porträts von His rekonstruiere.7 Obwohl hierfür kaum direkte Belege existieren,8 behaupte ich, dass das Werk privat in Auftrag gegeben wurde und einem regen Austausch zwischen Anatomie und Bildhauerei entsprang. In Anbetracht der Ansichten und gesellschaftlichen Verdienste des Abgebildeten kann der Vergleich mit anderen Werken die Bedeutung der nachdenklichen Pose wie auch der Wahl des Accessoires erhellen. Die Rekonstruktion einer komplexen Abfolge mikroskopischer Manöver soll Hinweise darauf liefern, wie His aus einem von einer Hebamme geborgenen Blutklumpen einen Modellembryo fertigte. Sodann wende ich mich der Rezeption der Büste zu und erkunde Schauorte, um dort mögliche Betrachter zu identifizieren und wahrscheinliche Deutungen zu umreißen: in His’ persönlicher Ahnengalerie, auf den großen Kunstausstellungen um 1900 sowie unter Ärzten und Medizinern seit jener Zeit. Ich beschließe meine Ausführungen mit Überlegungen zu möglichen heutigen Deutungen der Büste, vor allem als Vorläufer der Internetporträts von Embryologen, die in Kinderwunschkliniken tätig sind. Das Werk fasziniert, so meine These, weil uns das Accessoire heute stärker anspricht als die Mehrheit der Ausstellungsbesucher vor über einem Jahrhundert, obwohl der materielle Träger und der Stil der Büste veraltet sind. Das verleiht ihr die bemerkenswerte Fähigkeit, 6 Vgl. über private und öffentliche Wissenschaft Bernd Hüppauf und Peter Weingart (Hg.) 2008: Science Images and Popular Images of the Sciences. New York/London: Routledge (siehe auch Bernd Hüppauf und Peter Weingart (Hg.) 2009: Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft. Bielefeld: transcript) sowie Deborah R. Coen 2008: Vienna in the Age of Uncertainty. Science, Liberalism and Private Life. Chicago/London: University of Chicago Press und Paul White 2009: Darwin’s Emotions. The Scientific Self and the Sentiment of Objectivity. Isis, 100, 811–826. 7 Die Untersuchung des außergewöhnlichen Werks wird zudem zur Neubewertung von Porträtbüsten und dreidimensionalen Modellen beitragen, vgl. Penelope Curtis, Peter Funnell und Nicola Kalinsky 2000: Return to Life. A New Look at the Portrait Bust. Leeds: Henry Moore Institute sowie Soraya de Chadarevian und Nick Hopwood (Hg.) 2004: Models. The Third Dimension of Science. Stanford: Stanford University Press. Neil McIntyres Reihe Medical Statues hebt Subjektbiografien hervor, doch siehe z.B. den Eintrag zu Claude Bernard (1813–1878). Journal of Medical Biography, 9 (2001), 15. 8 Große Teile des Nachlasses von His im Leipziger Karl-Sudhoff-Institut gingen während des Zweiten Weltkriegs verloren, aber das Basler Staatsarchiv und die Universitätsbibliothek sind im Besitz einschlägiger Materialien. Ein Seffner-Nachlass ist mir nicht bekannt.

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sich zugleich auf unsere zeitgenössischen Anliegen zu beziehen und Fragen nach der Kultur aufzuwerfen, in der die moderne Embryologie Gestalt annahm.

Anatomische Exaktheit in drei Dimensionen Um 1900 porträtierte Seffner die Professoren schon zu Dutzenden. Oft lernte er sie erst kennen, wenn sie ihm Modell saßen, andere bekam er nie direkt zu Gesicht. Doch wie ich noch zeigen will, war das Porträt von His kein Routineauftrag. Das Modell und der Künstler teilten vielmehr eine Leidenschaft für eine exakte plastische Anatomie. Wilhelm His (1831–1904), Professor für Anatomie und Physiologie in Basel, betrieb ab Mitte der 1860er-Jahre in erster Linie embryologische Forschungen. Diese um 1800 aus älteren Untersuchungen über Zeugung hervorgegangene Wissenschaft erlebte an deutschen Universitäten, wo die Professoren Mikroskope benutzten, um die Höherentwicklung von Körpern aus einfachen Formen zu analysieren, eine Blüte. His erfand neue Techniken zur Visualisierung des inneren Körperbaus: In einer Arbeit über Hühnerembryonen stellte er ein verbessertes Mikrotom vor, ein Schneidegerät, mit dem er dünne Schnitte auf Objektträgern herstellen konnte, und ferner ein Verfahren, mit dem er aus den Schnitten Modelle rekonstruieren konnte, um „seinen Anschauungen […] Körper zu geben“.9 Theoretisch schloss His an eine Gruppe von Physiologen an, die sich radikal an der Physik orientierten. Diese hatten die Embryologie als zu schwierig für die Anwendung physikalischer Methoden aufgegeben, doch His versuchte die Entwicklung des Huhns dennoch mechanisch zu erklären. Das brachte ihm zwar 1872 einen Lehrstuhl für Anatomie an der aufstrebenden medizinischen Fakultät der Universität Leipzig ein, es beschwor aber auch einen Konflikt mit der aufkommenden Richtung in der Embryologie herauf. Er trat als vernichtender Kritiker des Zoologen Ernst Haeckel (1834–1919) auf, der an der nahe gelegenen Universität Jena lehrte und der wichtigste Vertreter und Systematiker des Darwinismus weltweit war.10 Haeckel vertrat seit den späten 1860er-Jahren in seiner Lehre die Auffassung, dass die Entwicklung eines individuellen Organismus die Entwicklung der Art gedrängt und unvollständig wiederhole, oder, wie es in seinem biogenetischen Grundgesetz bündig heißt: Die Ontogenese rekapituliert die Phylogenese. Da Fossilien rar waren, behalf man sich bei der Konstruktion evolutionärer Stammbäume gern mit Embryonen. Um die Mitte der 1870er-Jahre gingen die meisten Biologen von einer organischen Entwicklung der Arten aus, und bewunderten „den deutschen Darwin“ für seine Vorreiterrolle. Doch Haeckel war selbst unter Evolutionisten gleichzeitig äußerst umstritten und dies nicht 9 Wilhelm His 1870: Beschreibung eines Mikrotoms. Archiv für mikroskopische Anatomie, 6, 229–232, hier 231. 10 Nick Hopwood 1999: „Giving Body“ to Embryos. Modeling, Mechanism and the Microtome in Late Nineteenth-Century Anatomy. Isis, 90, 462–496, sowie die darin zitierten Biografien.

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nur aufgrund dieser oder jener bestimmten Theorie. Hinzu kamen sein Hang zur Spekulation, sein Dogmatismus, sein antiklerikaler Szientismus und seine Angriffe auf andersdenkende Kollegen in gemeinverständlichen Werken. In Unsere Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung, einem Buch von 1875, stimmte His der Evolutionslehre zwar zu, bemerkte jedoch, dass die Embryogenese nicht aus ihr abgeleitet werden könne. Eine exakte Erklärung müsse sich vielmehr nach der Physiologie der Gegenwart als nach der phylogenetischen Vergangenheit richten. His, dessen öffentliches Image von der akribischen Sorgfalt seiner Modelle bestimmt war, warf Haeckel überdies vor, Embry­ onenbilder gefälscht zu haben. Zwar zog Haeckel His’ Denkweise ins Lächerliche und wies dessen Vorwürfe zurück, aber Haeckels Gegner benutzen sie bis heute.11 In den 1880er-Jahren baute His die Humanembryologie in ein eigenständigeres Fachgebiet um. Menschliche Embryonen, wie er sie bis zum Ende des zweiten Schwangerschaftsmonats nannte, bevor sie sich in eindeutiger menschliche Föten verwandelten, waren von höchstem Interesse. Doch da die meisten Präparate durch Ärzte von Frauen erworben wurden, die abgetrieben oder eine Fehlgeburt erlitten hatten, war das Material so begrenzt, dass sich die Embryologen meist mit Hühnern und anderen Haustieren beholfen hatten, um die vielen Lücken in der Entwicklungsreihe zu füllen. Da der genaue Verwandtschaftsgrad zwischen menschlichen Embryonen und Embryonen anderer Wirbeltiere durch den Darwinismus strittig geworden war, wurde es unerlässlich, Menschen direkt zu erforschen. His ging damit voran, indem er eine bisher beispiellose Anzahl seltener Präparate aus den ersten beiden Schwangerschaftsmonaten zusammentrug. (Exemplare aus den ersten beiden Wochen wurden allerdings erst Mitte des 20. Jahrhunderts bekannt.) Er analysierte die Präparate mit seiner Schnitt- und Modelliertechnik. Die Ergebnisse seines Umbaus fasste er in einer Normentafel und in verschiedenen Wachsmodellserien zusammen, die His als integralen Bestandteil seiner Veröffentlichung bezeichnete. Im Atelier von Friedrich Ziegler wurden die Serien kommerziell vervielfältigt und standen von nun an überall dort zur Verfügung, wo die Embryologie des Menschen gelehrt wurde.12 Am Anfang der 1890er-Jahre war His zu einem der hervorragendsten Anatomen in Europa aufgestiegen. Er war Rektor der Universitäten Basel und Leipzig gewesen, ferner Vorsitzender der Deutschen Anatomischen Gesellschaft und der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Doch der breiten Öffentlichkeit wurde er vornehmlich durch die Gegnerschaft zu Haeckel und dessen Spott bekannt. Soweit ich weiß, war 11 Nick Hopwood 2006: Pictures of Evolution and Charges of Fraud. Ernst Haeckel’s Embryological Illustrations. Isis, 97, 260–301, hier 284 f., 293–295; ders. 2015: Haeckel’s Embryos. Images, Evolution, and Fraud. Chicago/London: University of Chicago Press. 12 Nick Hopwood 2000: Producing Development. The Anatomy of Human Embryos and the Norms of Wilhelm His. Bulletin of the History of Medicine, 74, 29–79; ders. 2002: Embryos in Wax. Models from the Ziegler Studio. Cambridge: Whipple Museum of the History of Science und Bern: Institute of the History of Medicine; ders.: Plastic Publishing in Embryology. In: de Chadarevian/Hopwood 2004, 170–206.

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noch kein Porträt von ihm gedruckt worden, und es scheint, als habe man ihn überhaupt nur an seinem 70. Geburtstag 1901 und 1904 anlässlich seines Todes gefeiert. Ganz anders beim fast gleichaltrigen Haeckel: Von ihm waren Biografien und Bildnisse schon seit den 1870er-Jahren im Umlauf. Sein Bestseller, das antiklerikale Sachbuch Die Welträtsel von 1899, hatte ihn zu einem der berühmtesten – und berüchtigtsten – Wissenschaftler der Welt gemacht.13 Carl Ludwig Seffner (1861–1932), dreißig Jahre jünger als sein Modell, hatte zunächst an der Leipziger Kunstakademie studiert und später in Berlin bei Emil Hundrieser, der dem neobarocken Naturalismus der Berliner Bildhauerschule um Reinhold Begas anhing. Nach einem Italienaufenthalt ließ sich Seffner in Leipzig nieder, wo er im Nachsommer der Marmorbüste Bekanntheit als Porträtist erlangte. Bis 1901 hatte er fast sechzig Büsten, überwiegend von Vertretern des örtlichen Bildungsbürgertums, angefertigt. In den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts übernahm er auch wichtige Aufträge für Goethe- und Bachdenkmäler. Nach 1914 schuf Seffner nur noch wenige Skulpturen. Zwar wurde sein letztes Werk, eine Adolf Hitler-Plakette von 1932, im nationalsozialistischen Deutschland häufig reproduziert, aber seine künstlerische Entwicklung war bereits um die Jahrhundertwende abgeschlossen.14 Beeindruckend war die technische Meisterschaft, mit der Seffner den Charakter eines Modells durch lebendige Details einfing.15 In Leipzig wurde er in einem Atemzug mit dem heute wesentlich bekannteren symbolistischen Maler und Bildhauer Max Klinger genannt und mit dem viel gewichtigeren Franz von Lenbach in München verglichen. Realistischer urteilte der Kunstkritiker Ferdinand Avenarius, Seffner sei „kein Nummereinsmann, aber ein sehr tüchtiger Porträtist, der in Sachsen vielleicht ein wenig überschätzt wird“.16 Seffner schuf verlässliche, offizielle Kunst für die boomende, in Stilfragen aber 13 Vgl. den frühen Lebenslauf mit einem Porträt, Otto Zacharias: Ernst Heinrich Häckel. Illustrirte Zeitung, Nr. 1.630, 26. September 1874, 235–238 und die aktuellste Biographie von Robert J. Richards 2008: The Tragic Sense of Life. Ernst Haeckel and the Struggle over Evolutionary Thought. Chicago/London: University of Chicago Press. 14 Stefan Voerkel 1979: Carl Ludwig Seffner – ein Vertreter der offiziellen Bildhauerkunst um 1900 in Leipzig. Kunstwissenschaftliche Diplomarbeit, Karl-Marx-Universität Leipzig; ders. 1989: Sächsischer Barock-Kantor und fabulierender Rokoko-Student. Zur Entstehungsgeschichte der Denkmäler für Bach und Goethe von Carl Ludwig Seffner. In: Ernst Ullmann (Hg.): „… die ganze Welt im Kleinen …“. Kunst und Kunstgeschichte in Leipzig. Leipzig: Seemann, 233–247; ders. 1990: Goethe im Denkmal. Das Leipziger Standbild des jungen Goethe von Carl Ludwig Seffner. Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig; Ursula Merkel 1995: Das plastische Porträt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Bildhauerei in Frankreich und Deutschland. Berlin: AkademieVerlag, hier 92 f. 15 Paul Kühn: Carl Seffner. Leipziger Kunst. Eine illustrierte Halbmonatsschrift, 1, 15. Mai 1899, 393–398; ders.: Carl Seffner. Zum fünfzigsten Geburtstage des Künstlers (19. Juni 1911). Illustrirte Zeitung, Nr. 3.547, 22. Juni 1911, 1.321–1.323. 16 Zwei Leipziger Künstlerwerkstätten. Illustrirte Zeitung, Nr. 3.019, 9. Mai 1901, 720–723; Karl Seffner’s König-Albert-Büste im Städtischen Museum zu Leipzig. Illustrirte Zeitung, Nr. 2.860, 21. April 1898, 498 (Lenbach); Friedrich Avenarius 1899: Deutsche Kunstausstellung zu Dresden. II, Kunstwart, 12, 341 f.

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eher konservative Handels- und Industriestadt, in der sich wenig vom Glanz der sächsischen Hauptstadt Dresden widerspiegelte, geschweige denn von München. Seffner, Sohn eines Schusters, den seine bescheidene Herkunft und mangelnde akademische Bildung selbst dann noch bedrückte, als man ihm bereits einen Professorentitel verliehen hatte, strebte handwerkliche Perfektion an. Nicht nur befreite er die Form von allem neobarocken Schwulst, vielmehr machte er sich einen auf anatomische Wirklichkeitstreue gegründeten extremen Naturalismus zu eigen. In der Zusammenarbeit mit His verfestigte er diese Methode. Seffner erhielt zwar von den Kollegen und Studenten der Professoren häufig Aufträge, doch just an His’ 70. Geburtstag, dem besten Anlass für ein öffentliches Geschenk, überreichten sie dem Gelehrten eine Radierung des Münchener Secessionskünstlers Hans Olde.17 Die Idee zur Büste entstand vermutlich aus einem Gemeinschaftsprojekt, das darauf abzielte, das Gesicht des Komponisten Johann Sebastian Bach zu rekonstruieren. Anatomen und Anthropologen – His war Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie – nährten den zeitgenössischen Geniekult mit authentifizierten Überresten von Männern wie Sophokles, Mozart oder Kant, deren Ruhm die Sorgfalt, die man ihren Leichnamen hatte zukommen lassen, noch um ein Vielfaches überstieg. Bach verbrachte seine produktivsten Jahre in Leipzig, wurde aber vor Mitte des 19. Jahrhunderts nicht sonderlich gefeiert. Als der Kult um ihn begann, wurde es zunehmend peinlich, dass die Stadt nicht einmal sein Grab vorweisen konnte. Insofern traf es sich gut, dass 1894 ein Skelettkandidat an einem vielversprechenden Ort entdeckt wurde. His engagierte Seffner, den er möglicherweise aus dem Anatomieunterricht für Künstler kannte, damit dieser ihm bei der Knochenbestimmung assistierte.18 His beschränkte sich freilich nicht wie andere darauf, die durchschnittliche Gewebedichte in verschiedenen Gesichtsregionen der Leiche zu bestimmen. Er zog Seffner hinzu, damit dieser nach einem Gipsabdruck des Schädels Gesichtszüge modellierte. Als Vorreiter der für die Gerichtsmedizin und die Anthropologie mittlerweile kennzeichnenden Rekonstruktionstechniken wies His seinen Helfer Seffner an, sowohl die Messungen als auch Gemälde und Stiche von Bach zu verwenden.19 Der Stadtrat folgte His’ Behauptung, es handele sich bei dem Schädel vermutlich um denjenigen von Bach, da Seffner Bach – anders als etwa Händel – nach den besten Porträts sowie die anatomischen Werte respektierend modellieren konnte. His und Seffner arbeiteten gut zusammen: 17 Vgl. Abb. 2d. Siehe dazu auch: Carl Binding und andere an die Teilnehmer der Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag, „Ende Juni 1901“, eingebunden im Exemplar von Wilhelm His jr. 1931: Wilhelm His der Anatom. Ein Lebensbild. Berlin/Wien: Urban & Schwarzenberg (Balfour Library, Cambridge). Die Büste war zudem zu früh ausgestellt. 18 Stefan Voerkel 2000: Die Bach-Denkmäler in Leipzig. Beucha: Sax-Verlag; Michael Hagner 2004: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung. Göttingen: Wallstein, 207–209. 19 Jörg Seidel und Michael Burgkhardt 1987: Das Zusammenwirken von Anatomie und Bildhauerkunst bei der Entstehung des Leipziger Bach-Denkmals. Der Präparator, 33, 167–170; Caroline Wilkinson 2004: Forensic Facial Reconstruction. Cambridge: Cambridge University Press, 39–68 und 124–137.

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„Die Wiederherstellung des Kopfes“, erklärte His, „war […] nur dadurch möglich, dass ein scharf beobachtender Künstler das Gemeinsame und Wesentliche der verschiedenen Vorlagen zusammenfasste und in schöpferischer Weise zu einem geschlossenen Ganzen verband.“20 Er setzte sich für Seffner und dessen Opus magnum ein, das spätere Neue Bachdenkmal vor der Thomaskirche in Leipzig.21 Der Bildhauer erwiderte das Kompliment, in dem er fortan wissenschaftlich vorging: Sogar König Albert von Sachsen wurde mit einem Zirkel vermessen, um ein „anatomisch getreues Bild der Wirklichkeit“ zu erzielen, vielleicht aber auch, um den alten Herrn wach zu halten.22 Aufgrund dieser gegenseitigen Bewunderung hat His oder ein anderes Familienmitglied die Büste wahrscheinlich 1897 oder kurz davor für den Familienwohnsitz in Auftrag gegeben.23 Die meisten Porträts von Seffner waren ursprünglich für bürgerliche Wohnhäuser vorgesehen, auch wenn viele davon letztlich in Universitäten landeten. Diese Büste sollte His’ berufliche Identität und seinen Beitrag zur Wissenschaft just in der Weise repräsentieren, wie er sie seiner Familie und dann auch seinen Kollegen und Freunden überliefern wollte. Doch es geht hier auch um die Zusammenarbeit mit Seffner. Beide verband ein tiefes Interesse für das Modellieren, und beide strebten durch exakte und dreidimensionale anatomische Rekonstruktion nach Authentizität.

Betrachtung eines Embryomodells Dieses gemeinsame Engagement sowie His’ Vorzüge als Modell und Mäzen erklären die Bedeutung seiner gedankenvollen Pose und die bis dahin noch nie dagewesene Verwendung eines Embryomodells als Accessoire in einem Gelehrtenporträt. Der Vergleich mit anderen Werken kann beide Entscheidungen besser verdeutlichen. Die größte 20 Wilhelm His 1895: Anatomische Forschungen über Johann Sebastian Bachs Gebeine und Antlitz, nebst Bemerkungen über dessen Bilder. Abhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, math.-phys. Klasse, 22, 379–420, hier 419 f.; ders. 1895: Johann Sebastian Bach. Forschungen über dessen Grabstätte, Gebeine und Antlitz. Bericht an den Rath der Stadt Leipzig. Leipzig: Vogel. 21 Wilhelm His: Carl Seffner und das Grabdenkmal für Johann Sebastian Bach. Leipziger Tageblatt und Anzeiger, Nr. 368, 22. Juli 1899, 2. Beilage. 22 Karl Seffner’s König-Albert-Büste im Städtischen Museum zu Leipzig. Illustrirte Zeitung, Nr. 2.860, 21. April 1898, 498 (Zitat); Wilhelm Ostwald 1927: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie, Teil 2: Leipzig, 1887–1905. Berlin: Klasing, 268 f. 23 His hätte den Auftrag bezahlen können, denn die Versicherung veranschlagte den Marmor mit 6.000 Reichsmark (Archiv der Hochschule für Bildende Künste Dresden, 01/616) und sein Vermögen einschließlich des Leipziger Hauses plus 200.000 Mark, die er bereits seinen Kindern hatte zukommen lassen, belief sich zum Zeitpunkt seines Todes auf gut eine Million Mark: „Unmaßgebliche Gedanken über Anordnungen nach meinem Tode. April 1904“ (Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt, PA 633d, Archiv der Familie Ochs genannt His [im Folgenden Ochs/His Archiv], I 2-4). Eine Photographie, vermutlich der Gipsbüste, soll „um 1897“ aufgenommen worden sein: Wilhelm His jr. an George L. Streeter am 17. August 1932 (Alan Mason Chesney Medical Archives, The Johns Hopkins Medical Institutions, Carnegie Institution of Washington Department of Embryology Papers, record group 1, series 2, box 23, folder 3 [im Folgenden Nachlass Carnegie]).

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Abb. 2. Porträts von His und seinen Kollegen. a: Carl Leuckart von Carl Seffner, 1895 (Marmor, 63 x 52 x 34 cm, Kunstbesitz der Universität Leipzig, Foto von Karin Kranach). b: Carl Ludwig von Seffner, 1897 (Marmor, 52 x 55 x 30 cm, Museum der Bildenden Künste Leipzig). c: Der Wiener Anatom Carl Langer von Alfonso Canciani, 1903 (Kupferlegierung, 75 x 43 x 43 cm, Universität Wien, Foto von Tatjana Buklijas). d: Radierung von Wilhelm His durch Hans Olde (Tafel 46 x 32 cm, Kunstbesitz der Universität Leipzig, Foto von Marion Wenzel).

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Ähnlichkeit weisen Seffners Porträts von His’ Leipziger Kollegen auf, insbesondere die Büsten des Zoologen Carl Leuckart (Abb. 2a) und des Physiologen Carl Ludwig (Abb. 2b) sowie des vergleichenden Anatomen Carl Gegenbaur aus Heidelberg, der His’ Rivale und Haeckels Verbündeter war. Als Darstellungen des Erfolgs zeigen sie ausschließlich ältere Persönlichkeiten: Schwere Mäntel verleihen den in die Jahre gekommenen Intellektuellen eine gewisse Körperfülle, im Mittelpunkt stehen jedoch „durch geistige Arbeit und Lebenserfahrung durchgearbeitete Charakterköpfe von sehr reichen Formen, deutlicher und fester Schädelbildung und lebensvollem Detail in Muskel- und Hautbildung“.24 Ähnlich zelebriert auch die His-Büste eine Führungspersönlichkeit des Bildungsbürgertums. Zwar wurden alle Porträtierten in Betrachtungen versunken dargestellt, doch während die anderen dabei ins Leere blicken oder den Betrachter direkt ansehen, hält His die Lider gesenkt und wirkt dadurch selbst ohne die Brille, die er normalerweise trug, distanzierter. Im Unterschied zu den anderen ist His in einen besonderen Gegenstand vertieft. Um diesen in dem Porträt unterzubringen, schuf Seffner eine Halbfigur statt der üblichen Kopf-Schulter-Partie. Anders als Reinhold Begas nahm er nicht generell Requisiten in seine Büsten auf, da sie vom Kopf ablenken konnten. His hält jedoch nicht nur etwas in der Rechten. Das ganze Werk zentriert die Betrachtung dieses Gegenstands. Ein nachdenklicher Ausdruck gehört in Denkerporträts zum Standard. Anatomen wurden lange mit symbolisch bedeutsamen Körperteilen dargestellt: mit Armen, Gehirnen und vor allem Schädeln als dem naheliegenden Memento mori (Abb. 2c).25 Bei Seffner war diese Pose jedoch ungewöhnlich und hatte in Bezug auf His eine besondere Bewandtnis: „Genaue Beobachtung und eine gewisse Zurückhaltung in der Deutung charakterisierten seine wissenschaftliche Arbeit“, schrieb ein Leipziger Kollege, „bei der für vage Hypothesen kein Platz war“.26 His ist in etwas versunken – er gebraucht das dargestellte Objekt nicht, um einen theoretischen Anspruch anzumelden. Er gibt nicht damit an, sondern umfasst es schützend. Und obwohl Augen und Mantel die Aufmerksamkeit auf seine rechte Hand lenken, ist das Objekt darin kein Attribut, sondern es wurde für ihn arrangiert. Wir können es nur gut sehen, wenn wir nähertreten und ebenfalls herunterschauen: ein spezifisch bildhauerischer Effekt. Wir sollen uns mit dem Mann durch die Betrachtung seiner Arbeit identifizieren, allerdings nimmt er selbst unsere Aufmerksamkeit zuerst in Beschlag. 24 Kühn 1899: 395. 25 Richard N. Wegner 1939: Das Anatomenbildnis. Seine Entwicklung im Zusammenhang mit der anatomischen Abbildung. Basel: Schwabe; Gerhard Wolf-Heidegger und Anna Maria Cetto 1967: Die anatomische Sektion in bildlicher Darstellung. Basel: Karger; William Schupbach 1982: The Paradox of Rembrandt’s „Anatomy of Dr. Tulp“. Medical History, Beilage 2. His’ Basler Vorgänger wurden mit Totenschädeln gemalt; vgl. Wilhelm R. Staehelin (Hg.) 1920: Basler Porträts aller Jahrhunderte, Bd. 2. Basel: Frobenius, Tafel 24 sowie Andreas Staehelin (Hg.) 1960: Professoren der Universität Basel aus fünf Jahrhunderten. Bildnisse und Würdigungen. Basel: Reinhardt, 122 f. 26 Werner Spalteholz: Wilhelm His †. Münchener Medizinische Wochenschrift, 51, 31. Mai 1904, 972 f.

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Dies schließt notwendig einen Kontrast zu Haeckel ein, von dem ebenfalls einige offizielle Skulpturen angefertigt wurden, der jedoch häufig als Showman oder Prophet karikiert wurde. Die Gegenposition zu Haeckel blieb ein Teil von His’ Identität: Basler Naturforscher rühmten ihn an seinem 70. Geburtstag, er habe sich „auch Anfeindungen offen […] ausgesetzt und sie männlich erwidert“.27 Er selbst hätte sich jedoch kaum in erster Linie über seinen Gegenspieler definiert. Wahrscheinlicher ist, dass er seine Nachfolger mahnte, sie sollten bei der Überprüfung von entwicklungsphysiologischen Hypothesen nicht die Rekonstruktion und Betrachtung der Form aus den Augen verlieren.28 Was hat es nun mit diesem Objekt auf sich, das His betrachtet? Die Palette identitätsstiftender Accessoires hatte sich im 19. Jahrhundert erweitert. Zu den Anatomen mit ihren Körperteilen und den Botanikern mit ihren Pflanzen gesellten sich neuerdings Biologen, die mit Organismen abgebildet wurden, wie auch Mathematiker mit Gleichungen und Kurven und Chemiker mit Molekülen. Der britische Anatom Richard Owen wurde mit dem von ihm untersuchten Perlboot gemalt und mit dem Moa-Skelett fotografiert, das er aus einem einzigen Knochen rekonstruiert hatte (und mit dem Knochen selbst). Tradierte Kennzeichen der Gelehrsamkeit machten Platz für neue: So zeigt His’ offizielles Porträt zu seinem 70. Geburtstag ihn mit einem Mikroskop vor einer vollen Bücherwand (Abb. 2d).29 Büsten wiesen zwar seltener als Gemälde, Reliefs oder Statuen Requisiten auf, doch Alfred Gilberts Bronzebüste von Owen im Royal College of Surgeons of England von 1896 zeigt diesen, wie er „ein unbestimmtes Präparat“ durch eine Lupe betrachtet.30

27 „Herrn Prof. Dr. Wilhelm His zu seinem siebenzigsten Geburtstage; ein Glückwunsch von der Naturforschenden Gesellschaft in Basel“ (Ochs/His Archiv, I 2–19); Rud[olf] Burckhardt 1901: Zum siebenzigsten Geburtstage von Wilhelm His. Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte, 31, Nr. 13, 1–7 (Paginierung des Sonderdrucks). 28 Wilhelm His 1894: Ueber mechanische Grundvorgänge thierischer Formenbildung. Archiv für Anatomie und Physiologie (Anatomische Abtheilung), 1–80, hier 52. 29 Jeder Subskribent erhielt eine Radierung. Der untere Rand dieses Remarquedrucks aus dem Besitz des Anatoms Werner Spalteholz, einem der Mitorganisatoren des Geschenks, weist Schädel und Büste von Bach auf. Hinter und direkt unterhalb der rechten Schulter von His befinden sich möglicherweise zwei Embryomodelle. Ein anderes Geburtstagsporträt zeigt ihn in einem Buch lesend: Geheimrath His. Leipzig durch die Blume. Illustriertes Unterhaltungsblatt für die gebildete Welt, 3, Nr. 26, 21. Juli 1901, 337 f. 30 William LeFanu 1960: A Catalogue of the Portraits and Other Paintings, Drawings and Sculpture in the Royal College of Surgeons of England. Edinburgh: Livingstone, 59 f.

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Abb. 3. Porträts des Geburtshelfers William Hunter. a: John Collyers Punzenstich von 1783 nach Mason Chamberlins Gemälde (10 x 8 cm, Wellcome Library London). b: Sir Joshua Reynolds’ posthumes Ölgemälde (127 x 102 cm, © The Hunterian, University of Glasgow 2014).

Mit Embryonen assoziierte Gegenstände hatten gelegentlich schon vor Seffners Zeit ihren Weg in Porträts gefunden. Ende des 18. Jahrhunderts waren nebst den Hebammen die Fachleute, die am meisten mit der schwangeren Gebärmutter zu tun hatten, männliche Geburtshelfer – Chirurgen, die sich der Geburtshilfe in gehobenen Kreisen zuwandten. Viele Porträts vermieden alles, was ihrem Streben nach Seriosität hätte schaden können. So bedeckt William Hunter auf dem häufig abgebildeten Gemälde von Mason Chamberlin die Genitalien einer Muskelfigur (Abb. 3a). Doch mit Bezug auf Hunters Anatomy of the Human Gravid Uterus stellt Joshua Reynolds’ Porträt von um 1787 sowohl das Modell eines nasciturus (lat. „der noch geboren werdende“) in der Gebärmutter als auch eine Flasche dar, die einen schwer zu identifizierenden „geöffneten Uterus, mit Membranen und dem inneliegenden Fötus“ zeigt (Abb. 3b).31 Auf einem einige Jahre 31 Evanghélia Stead 2004: Le monstre, le singe et le fœtus. Tératogonie et décadence dans l’Europe fin-desiècle. Genf: Droz, 419; Ludmilla Jordanova 1997: Medical Men, 1780–1820. In: Joanna Woodall (Hg.): Portraiture. Facing the Subject. Manchester: Manchester University Press, 101–115, übergeht dieses Porträt. Zu Chamberlin vgl. Martin Kemp (Hg.) 1975: Dr William Hunter at the Royal Academy of Arts. Glasgow: Glasgow University Publications, 15 f.

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früher entstandenen Kupferstich ruht die Hand des Göttinger Geburtshelfers Johann Georg Roederer auf einem Gefäß, das einen möglicherweise missgestalteten, aber wiederum sehr reifen Fötus beinhaltet.32 In den vergleichbarsten älteren Porträts, die ich finden konnte, sind die Abgebildeten also als Experten der Gebärmutter samt deren Inhalt zu sehen. Was sie jedoch nicht zeigen, sind die (viel jüngeren und weniger eindeutig menschlichen) Embryonen, auf die sich die moderne Embryologie konzentrieren sollte – wie auch, da die Anatomen sie erst ab etwa 1800 detailgetreu darstellten. Auch noch im überwiegenden Teil des 19. Jahrhunderts, als die Embryologie schon florierte, wurden Embryonen nicht als Accessoires in Gelehrtenporträts genutzt. Der berühmteste Embryologe, Karl Ernst von Baer (1792–1876), wurde auf keinem der vielen Bildwerke, die von ihm gefertigt wurden, jemals mit einem Embryo oder mit der von ihm entdeckten menschlichen Eizelle abgebildet.33 Das mag eine Frage der Schicklichkeit gewesen sein, obwohl es eigentlich ziemlich ungefährlich war, menschliche Embryonen losgelöst vom restlichen schwangeren Körper zu zeigen. Das Problem bestand eher darin, dass vor dem Darwinismus nur sehr wenige Personen sie als solche erkannt hätten. Am wichtigsten aber war, dass von Baer den Beruf eines Embryologen zu keiner Zeit ausübte oder ausüben wollte. Diese Bezeichnung kam erst Mitte des Jahrhunderts im allgemeinen Sprachgebrauch auf, aber um 1900 war diese Wissenschaft noch keine eigenständige universitäre Disziplin, sondern wurde in erster Linie von Anatomen und Zoologen ausgeübt. Im Gegensatz zu von Baer setzte sich His für die institutionelle Anerkennung des neuen Fachs ein.34 Auch wenn das Modell eines „Muskelmanns“ bereits 1575 das Porträt eines Anatomen geziert hatte, tendierten die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts dazu, Modelle als reine Lehrmittel, wenn nicht gar als Jahrmarktsattraktionen gering zu achten.35 His dagegen förderte die Herstellung und Verwendung von Modellen und war damit so erfolgreich, dass Humanembryologen ihre Forschungsergebnisse faktisch gleichermaßen in Druckwie in Wachsform publizierten. Er und Seffner hatten kurz zuvor schon zusammen an dem Modell von Bach gearbeitet. Daher gefiel His die Vorstellung, er werde – mit einem aus Sicht der bildenden Künste relativ wertlosen Wachsmodell vereint – in Marmor gehauen, dem repräsentativsten aller Materialien.36 Das Modell des menschlichen Embryos würdigte sein Meisterwerk. Nahm die nachdenkliche Pose der Figur Bezug auf His’ 32 Renate Burgess 1973: Portraits of Doctors and Scientists in the Wellcome Institute of the History of Medicine. London: Wellcome Institute of the History of Medicine, 309. 33 Heinrich von Knorre und Helmke Schierhorn 1975: Karl Ernst von Baer (1792–1876). Eine ikonographische Studie. Acta Historica Leopoldina, 9, 227–268. 34 Nick Hopwood 2005: Visual Standards and Disciplinary Change. Normal Plates, Tables and Stages in Embryology. History of Science, 43, 239–303. Für die Bezeichnung „Embryologen“, siehe z.B. Carl Vogt 1854: Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände. 2. Aufl., Gießen: Ricker, 636. 35 Wolf-Heidegger/Cetto 1967: 297, 513; Nick Hopwood 2007: Artist versus Anatomist, Models against Dissection. Paul Zeiller of Munich and the Revolution of 1848. Medical History, 51, 279–308. 36 Hopwood 2004 sowie Alison Yarrington 1996: Under the Spell of Madame Tussaud. Aspects of „High“ and „Low“ in 19th-Century Polychromed Sculpture. In: Andreas Blühm und Penelope Cur-

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Forschungsstil, so erklärt sein Eintreten für Wachsmodelle und für die humanembryologische Forschung im Ganzen, wieso er ein Modell in der Hand hält, bei dem es sich obendrein um die erste bekannte Darstellung eines Embryos in einem Porträt handelt.

Die Entstehung eines Marmorembryos Das Embryonenmodell bedarf derselben historischen Aufmerksamkeit wie der Em­bryo­ loge. Das Wachsstück war nämlich eines der am aufwendigsten konstruierten working objects in allen Wissenschaften, die sich mit organischen Formen befassten.37 Insofern war seine Ausführung in Marmor nur der letzte Akt in einem langen materiellen und epistemologischen Transformationsprozess, durch den ein unbestimmter Stoff in einen Satz anschaulicher Bilder verwandelt wurde. His modellierte Embryonen in den ersten beiden Monaten ihrer Entwicklung. Die Präparate wurden durch Ärzte von Frauen gesammelt, die eine Fehlgeburt oder eine Abtreibung hatten. In seltenen Fällen stammten sie auch von einer Leiche. Damit die Gynäkologen ihm ihre Schätze opferten, gestand His ihnen eine Art Vaterschaft zu, indem er die Embryonen mit den Anfangsbuchstaben ihrer Familiennamen benannte und nicht etwa nach den Frauen, in deren Körpern sie entstanden waren. Die Identität der Leipziger Hebammen, die ihm 22 von den circa 79 Normalpräparaten zur Verfügung stellten, verriet er uns auch nicht, vielmehr gab er diesen Embryonen statt lateinischer griechische Buchstaben. Da Genauigkeit für Seffner ebenso wie für His von größter Bedeutung war, hält der Porträtierte denn auch ein ganz bestimmtes Modell in der Rechten. Obwohl der Identitätsnachweis Widersprüche aufwirft, wie gleich noch ausgeführt wird, legt die Ähnlichkeit nahe, dass es Embryo α zeigen soll, das früheste Präparat, das His von einer Hebamme erhalten hatte. Mit der Sammlungstätigkeit ging eine Neuinterpretation einher. Ärzte beklagten die embryologische Unkenntnis der Laien, denn weder die offizielle Rede von ungeborenen Kindern und „Leibesfrüchten“ noch die Redeweisen ungebildeter schwangerer oder abtreibender Frauen entsprachen der wissenschaftlichen Sichtweise auf diesen Zustand. Was die unter acht Wochen alten Embryonen betraf, hatten die Frauen möglicherweise nur das Gefühl, ihre Periode sei überfällig gewesen. Der Blutklumpen, den His öffnete, um Embryo α freizulegen, wurde möglicherweise von einer Hebamme geborgen, die einer Patientin geholfen hatte, ihre Periode wieder in Gang zu bringen. Wir wissen nicht, wie die schwangere Frau die Blutung interpretiert hat. Doch His, oder möglicherweise

tis (Hg.): The Colour of Sculpture, 1840–1910. Amsterdam: Van Gogh Museum und Zwolle: Waanders, 83–92. 37 Zum Begriff der working objects vgl. Lorraine Daston und Peter Galison 1992: The Image of Objectivity. Representations, 40, 81–128 sowie im Zusammenhang der Embryologie Hopwood 2000.

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auch der Arzt, der His beliefert hatte, waren vermutlich die ersten, die das Etwas als Embryo identifizierten.38

Abb. 4: Rekonstruktion eines Marmorembryos α. a: Fotografie auf Glas von Th. Honikel (Anatomisches Museum Basel). b: Von Wilhelm His gezeichnete Schnitte in seiner Anatomie menschlicher Embryonen, Teil 3, Leipzig: Vogel 1885, Tafel VIII (Ausschnitt einer Lithografie von E. A. Funke, Abdruck mit Genehmigung der Syndics of Cambridge University Library). c: Wachsmodell von Friedrich Ziegler (ca. 10 cm hoch, Anatomisches Museum Basel). d: Marmorembryo von Carl Seffner (Anatomisches Museum Basel), vgl. Abb.1.

38 Hopwood 2000: 38–40; siehe für die Ansichten von abtreibenden Frauen Usborne 2007: 127–162.

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Das Objekt traf 1879 an einem dunklen Novembernachmittag im Leipziger Institut ein, wenige Minuten vor Beginn einer Vorlesung, sodass His kaum Zeit blieb, es in frischem Zustand zu untersuchen. Unter einem schwach vergrößernden Mikroskop oder einer Lupe öffnete er die Eihäute, warf einen ersten Blick in das Innere und fixierte den Embryo umgehend. Mit den Membranen entfernte er auch den deutlichsten Beleg für eine Verbindung mit der einst schwangeren Frau. Als er schließlich Zeit dafür fand, fotografierte (Abb. 4a) und zeichnete er den Embryo im Ganzen, stellte eine Länge von vier Millimetern fest und schätzte das Alter auf 23 Tage – zu jung, um das Geschlecht feststellen zu können. Diese „neue Kostbarkeit“ bereite ihm, wie er seinem Schwager, dem Arzt Friedrich Miescher-His, mitteilte, „große Freude“, denn der „sehr wohl conservirte Homunculus“ fülle „eine klaffende Lücke“ in seiner Reihe. Im Jahr 1885 wählte His ihn für seine Normentafel aus. Er gebrauchte also Material, dem eine Fehlgeburt, Abtreibung oder Erkrankung zugrunde lag und fügte es seiner Narration der Embryonalentwicklung hinzu.39 His, der darauf bestand, selbst noch die seltensten Objekte für Untersuchungszwecke zu zerschneiden, ließ es sich dennoch nicht nehmen, sie in körperlich greifbarer, dreidimensionaler Form zu rekonstruieren. Dementsprechend zerlegte er den Embryo (Abb. 4b) und zeichnete die vergrößerten Grundrisse jedes einzelnen Schnitts auf Wachsplatten, schnitt diese aus, stapelte sie übereinander und glättete dann die Ränder, um ein Modell zu erstellen. Der Modelleur Friedrich Ziegler reproduzierte und verkaufte eine kunstvoll kolorierte Version dieses Originals als Teil einer erfolgreichen Serie menschlicher Embryonen aus dem ersten Monat (Abb. 4c). Durch Sezieren, Schneiden und Modellieren entstanden so – in jeder Hinsicht – Modellembryonen. Aus einer winzigen Ungewissheit wurde ein festes Objekt, dass der Anatom ergreifen und begreifen konnte (Abb. 4d).40 Als er ein Jahrzehnt später für Seffner Modell saß, wählte His Embryo α vermutlich, weil er in Zieglers berühmter Serie vorkam. Dieses Exemplar stellte das – durch andere weitverbreitete Darstellungen allgemein bekannt gewordene – Stadium dar, in dem der Embryo am stärksten zusammengerollt ist.41 Für die Büste wählte His auch sein einziges kommerziell reproduziertes Modell, das nicht mit einem anderen, konkurrierenden Namen verknüpft war. Aber vielleicht wollte er sich einfach an die Freude erinnern, die

39 Wilhelm His an Friedrich Miescher-His am 30. Dezember 1879 (Universitätsbibliothek Basel: Nachlass Friedrich Miescher-His [im Folgenden Nachlass Miescher]); Wilhelm His 1880: Anatomie menschlicher Embryonen, Teil 1: Embryonen des ersten Monats. Leipzig: Vogel, 100 f.; Hopwood 2000: 39; ders. 2002: 69 f. 40 Hopwood 2000: 40–44; ders. 2002: 48 f., 70 f., 104–107, 121 und 123. 41 Der Embryo galt immer noch als normal: Franz Keibel 1906: Ueber den Entwickelungsgrad der Organe in den verschiedenen Stadien der embryonalen Entwickelung der Wirbeltiere. In: Oscar Hertwig (Hg.): Handbuch der vergleichenden und experimentellen Entwicklungslehre der Wirbeltiere, Bd. 3, Teil 3. Jena: Fischer, 131–148, hier 140 f.

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er an dieser Arbeit gehabt hatte. In der Hand hielt er ein Wachsmodell oder eine Gipskopie. Nun gibt es eine Schwierigkeit: Die Gipsbüste, die Seffner hergestellt hatte, bevor er die Marmorbüste mit „1900“ datierte, ist nicht erhalten geblieben. Aber ein Foto, möglicherweise die „grosse Aufnahme, die der ausgezeichnete Photograph [Nicola, N. H.] Perscheid etwa 1897 gemacht hat“, legt nahe, dass sich das Gipsmodell von dem Marmormodell unterschied und vielleicht sogar nur schematisch war (Abb. 5b).42 Das ist zwar interessant, hat jedoch keine Bedeutung für meinen Kerngedanken: Indem der aufwendig gearbeitete Gegenstand und der Wissenschaftler aus dem gleichen Material angefertigt und in der gleichen neutralen Farbe gehalten wurden, werden sie einander ebenbürtig dargestellt.

In der Ahnengalerie Wie wurden Embryologe und Embryo wahrgenommen? Da fast gar keine Reaktionen überliefert sind, will ich mich möglichen Sichtweisen durch eine Rekonstruktion der Rezeptionsbedingungen annähern. Dabei verweise ich auf Quellen, auf die die Betrachter sich bezogen haben könnten. Seffners „intim[e]“ Arbeiten, hieß es, „gehören in das Wohnhaus“.43 Fotos, vermutlich kurz nach His’ Tod am 1. Mai 1904 aufgenommen, belegen, dass dieses Werk bei ihm im Arbeitszimmer stand. Hier in seinem Allerheilig­ sten pflegte er seine familiären und beruflichen Identitäten durch das Zeichnen am Mikroskop, das Schreiben von Briefen und das Sammeln von Porträts, unter denen besagte Skulptur zu sehen war. Ihre Betrachter waren in den wenigen Jahren vor und den Jahrzehnten nach seinem Tod vor allem die musikalisch-künstlerische Familie – seine Frau Elisabeth His-Vischer, sechs erwachsene Kinder, deren Familien – und die Dienstboten. Das Kunstwerk war für sie bestimmt, um seinen Platz einzunehmen, wenn er selbst nicht mehr war.

42 Wilhelm His jr. an George L. Streeter am 17. August 1932 (Nachlass Carnegie). Man beachte die Unterschiede zur Marmorbüste, beispielsweise die Falten unten am linken Ärmel von His und die Feilkratzen auf der Jacke links von ihm sowie die Form des Embryos. Die Sockel waren unterschiedlich und erscheinen nicht als etwas Besonderes (Abb. 5 und 6). Mir ist keine Kopie bekannt, und die Büste wurde auf den Ausstellungen nicht zum Verkauf angeboten. 43 Kühn 1899: 397.

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Abb. 5. Porträts von His. a: Als Rektor der Universität Leipzig, 1882/1883 (Eduard His 1943: Chronik der Familie Ochs genannt His, Basel: Schwabe, 13 x 7 cm). b: Foto offenbar der Gipsbüste, vermutlich von Nicola Perscheid etwa 1897 (20 x 15 cm, Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 633d I 2-11). c: Foto der Büste in Seffners Atelier (Universitätsbibliothek Basel). d: Frontispiz seiner Biografie (Wilhelm His jr. 1931: Wilhelm His, der Anatom. Berlin/ Wien: Urban & Schwarzenberg, 7 x 7 cm).

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Abb. 6: Foto offenbar der Marmorbüste, vermutlich von Mai 1904 (12 x 16 cm, Staatsarchiv BaselStadt, PA 633d I 2-11).

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Abb. 7: Foto von His’ Schreibtisch und Sideboard, vermutlich von Mai 1904 (12 x 16 cm, Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 633d I 2-11).

Die Skulptur wurde inmitten von Familienporträts ausgestellt, die von den umgebenden Gemälden aus dem frühen 18. Jahrhundert (Abb. 6) bis zu neueren Gemälden und Fotografien naher Verwandter in der Nähe des Schreibtischs reichten, wo sich auch weitere Büsten befanden (Abb. 7). His wurde in eine alte Basler Seidenbandfabrikantenfamilie geboren, also in jenes Gewerbe, auf das sich der legendäre Reichtum der Stadt und des Kantons gegründet hatte. Sein Großvater Peter Ochs hatte im Jahr 1798 die Helvetische Republik proklamiert. In der nachfolgenden Restaurationszeit geriet Ochs zwar in die Kritik, doch His’ Vater änderte den Familiennamen und gewann die Stellung eines wohlhabenden Patriziers zurück. In diesem Milieu verhieß eine ansehnliche Porträtsammlung Einfluss und Ansehen. 1943 wurden viele der Bilder für die dreihundertjährige Chronik der Familie Ochs genannt His reproduziert.44

44 Eduard His[-Eberle] 1943: Chronik der Familie Ochs genannt His. Basel: Schwabe, siehe auch Philipp Sarasin 1990: Stadt der Bürger. Struktureller Wandel und bürgerliche Lebenswelt. Basel 1870–1900. Basel:

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Porträts und Porträtmalerei spielten eine ungewöhnlich große Rolle für die Familie His, die nicht nur für andere Modell saß, sondern auch sich selbst porträtierte. Wilhelms Mutter starb, als er zehn Jahre alt war. Sein älterer Bruder, Eduard His-Heusler, erinnerte sich daran, wie tröstlich es die Hinterbliebenen fanden, dass die älteren Kinder ihre Mutter noch wenige Monate zuvor hatten überzeugen können, für ein gutes Ölgemälde Modell zu sitzen. Als seine Schwester Antonie Miescher heiratete und nach Bern zog, kopierte Eduard das Gemälde. Doch er tat dies nicht mit seinen üblichen Aquarellfarben, sondern mit den Utensilien, die er von seinem Onkel – einem Miniaturmaler – geerbt hatte: auf Elfenbein. Eduard porträtierte weiter, sammelte und schrieb über Kunst.45 Als Junge fertigte Wilhelm Daguerreotypien von Verwandten und Freunden des Hauses an, und „unter deren Bildern sind in der Folge einige für die Angehörigen der betreffenden als einzige Porträts Verstorbener wertvoll geworden“.46 Die Pose der Büste ist zwar bescheidener als auf den anderen sie umgebenden Werken ausgefallen, doch sie ist hinsichtlich des Materials und der Größe pompöser. Sie bildet die wissenschaftliche Anerkennung ab, die His inzwischen errungen hatte, indem er die finanzielle Sicherheit des Familienunternehmens aufgab47 und zu Jacob Burckhardts Verwunderung sogar Basel verließ.48 Die Familienchronik zeigt ihn als Rektor der Leipziger Universität (Abb. 5a). Ende der 1920er-Jahre bekleideten dann auch zwei seiner Söhne Rektorenämter in Berlin beziehungsweise in Münster. In seiner förmlichen Pracht repräsentiert das Trio ein Akademikergeschlecht fernab der Heimat. Doch auch wenn His inzwischen haargenau wie ein Leipziger Professor aussah, arrangiert der Rahmen die Büste auch als ein Basler Familienporträt. Über seinem Schreibtisch hängt eine Stadtansicht, in deren Mitte links sich das „Blaue Haus“ befindet, das prächtige spätbarocke Patrizierhaus am Rheinsprung, in dem His zur Welt kam (Abb. 7). Dem Anschein nach blickt Elisabeth von einem Relief, das Seffner 1901, im Jahr ihres 65. Geburtstags, angefertigt hatte, herunter. Auf der Anrichte stehen Fotos ihrer Kinder, und darüber hängen Rundporträts der Eltern von His und dazwischen vermutlich Eduards Peter Ochs sowie ein Foto von einem Sohn samt Schwiegertochter und Enkel. His handelte für seine Kinder das Bürgerrecht der Stadt Basel aus und kehrte jeden Sommer dorthin zurück. So sei er „zeitlebens ein treuer Sohn seiner Vaterstadt geblieben“, wie sein Urgroßneffe erklärte, vermögend aber „bescheiden“ und „in seiner Lebensweise äußerst einfach“, selbst nachdem er „im Reiche der Wissenschaft eine fürstliche Führer-

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Helbing und Lichtenhahn sowie Lionel Gossman 2000: Basel in the Age of Burckhardt. A Study in Unseasonable Ideas. Chicago/London: University of Chicago Press, 47 f. Eduard His-Heusler: Meine Lebenserinnerungen, 36, 105 f. (Ochs/His Archiv, F 3 16); Eduard His[Eberle] 1938: Der Miniaturmaler Friedrich Ochs gen. His, 1782–1844. Basler Jahrbuch, 40–60; Daniel Burckhardt-Werthemann 1907: Eduard His-Heusler. Ebd., 112–159. Wilhelm His 1903: Lebenserinnerungen. Leipzig: als Manuskript gedruckt, 16. His jr. 1931: 75. Jacob Burckhardt an Rudolf Oeri am 20. Mai 1872. In: Jacob Burckhardt 1963: Briefe, Bd. 5. Basel: Schwabe, 163–165.

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stellung“ eingenommen hatte.49 Getreu „einer Zuflucht für intellektuelle Praktiken, die den herrschenden Orthodoxien des deutschen Gelehrtentums zuwiderliefen“, wehrte sich His gegen Haeckels künstliches, populistisches und die Religion unnötig beleidigendes System.50 His war zwar in eine größere und freizügigere Stadt gezogen, doch seine Werte, die insbesondere in seiner Gegnerschaft zu Haeckel zum Ausdruck kamen, entsprachen genau der „gutbaslerische[n] Sachlichkeit und Nüchternheit“, die als Wesensart des Basler Gelehrten gefeiert wurden.51 Was bedeutete es für ein Embryomodell, Teil der Familienerinnerung zu werden? Wurde es damit zu einem Verwandten? In seinen Veröffentlichungen bewertete His seine interessantesten „Präparate“ zwar als „Schätze“ oder „Kostbarkeiten“, doch er beschrieb sie korrekt als „Embryonen“. In Briefen an Miescher hingegen verwendete er humorund liebevoll den altmodischen Begriff „Homunculi“. Ebenso tauchen sie als „Menschlein“ und „ein ganz respectables kleines Corps“ auf, unter denen ihn am meisten „das allerjüngste Volk“ interessierte.52 Die Tatsache, dass His Embryonen nach seinen Überbringern benannte, legt nahe, dass Vaterschaft bei der Benennung der Embryonen impliziert wurde, aber das minderte seinen eigenen allumfassenden Anspruch nicht. In seiner direktesten Anspielung auf eine Verwandtschaft beschrieb er Embryo M (M für Miescher) als „den kleinen (seither in die Familie [einge]heiratheten) Embryo […], den du mir vor Jahren in die Sammlung gestiftet hattest“.53 Doch auch wenn seine Kinder mit ihm um die Aufmerksamkeit ihres Vaters konkurrieren mussten, denn er nahm das Mikroskop und seine Präparate mit in die Ferien,54 betrachtete er den Embryo wohl nicht als Familienzuwachs. Dieser galt eher als eine Ergänzung zum Stamm, den der Anthropologe konstruierte. In diesem Zusammenhang sollte den formalen Parallelen mit den Fami­ lienporträts von Frauen, die Kinder auf ihrem Schoß halten,55 nicht zu viel Bedeutung

49 Eduard His 1941: Basler Gelehrte des 19. Jahrhunderts. Basel: Schwabe, 218, 226. 50 Gossman 2000: 8 (Zitat), siehe auch Hopwood 2006: 284 f. 51 His 1941: 222. 52 His 1880: 4 („Schätze“, „Kostbarkeiten“), 116 („Das werthvolle Präparat“); Wilhelm His an Friedrich Miescher am 3. November 1878 („Menschlein“), am 5. April 1879 („das allerjüngste Volk“, „ein ganz respectables kleines Corps“), am 30. Dezember 1879 (Embryo α als „Homunculus“), am 21. März 1880 („meine Homunculusarbeit“), am 1. Mai 1881 („einer Gesellschaft von Wachshomunculi“), am 20. Juni 1881 („von j[ungen] Menschlein“, „Homunculus“) (Nachlass Miescher). „Homunculus“, übersetzt als „Menschlein“, geht zurück auf Samuel Thomas Soemmerrings Icones embryonum humanorum von 1799: Schriften zur Embryologie und Teratologie. Hg. von Ulrike Enke. Basel: Schwabe 2000, 174 f. und darüber hinaus auf Paracelsus. 53 Wilhelm His an Friedrich Miescher am 3. November 1878 (Nachlass Miescher). 54 His jr. 1931: 31, 52. Zur Vaterschaft siehe Yvonne Schütze 1988: Mutterliebe – Vaterliebe. Elternrollen in der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts. In: Ute Frevert (Hg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Zwölf Beiträge. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 118–133. 55 Für ein Foto von Elisabeth His-Vischer mit ihrem Sohn Hans siehe His[-Eberle] 1943; siehe zu Familienporträts Angelika Lorenz 1985: Das deutsche Familienbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft sowie Kate Retford 2006: The Art of Domestic Life. Family Portraiture in Eighteenth-Century England. New Haven/London: Yale University Press.

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beimessen werden, wie auch denen von Vätern und Söhnen. Die Homunkuli waren geistiger Nachwuchs, aber keine Verwandten. Dessen ungeachtet war das Embryomodell hier zuhause. His „liebte es“, abends am Mikroskop zu arbeiten, während Elisabeth oder eine seiner Töchter vorlasen. Seine Laborwissenschaft beruhte auf Zeichnungen, die er daheim angefertigt hatte.56 Möglicherweise machte er genau in diesem Zimmer die Zeichnungen, anhand derer in seinem Institut später das Modell angefertigt wurde. Insofern war die Familie mit der embryologischen Arbeit vertraut und dies galt insbesondere für seinen Sohn Wilhelm His-Astor. Dessen eigene Karriere in der Medizin begann, als ihm sein Vater geholfen hatte, die Anatomie von menschlichen Embryonen zu modellieren, und dies führte zur Entdeckung des nach ihm benannten His-Bündels, ein Teil des Erregungsleitungssystems des Herzens.57 Und vielleicht war es auch dieser Schreibtisch (Abb. 7), von dem aus His 1874 Antonie von einem Porträt berichtete, das ihr Bruder gezeichnet hatte: Vor einigen Tagen wurde ich durch Eduard mit einem schönen Bilde von Großpapa Ochs erfreut. […] Das Bildchen hängt nun über meinem Schreibtische u. ist mir ein liebes Andenken – Ich habe diese Tage mich auch mit Porträtzeichnen abgegeben und zwar mit Porträts bei denen es auf äußere Ähnlichkeit ankommt. Es handelt sich aber nicht um verdienstvolle Männer oder Frauen sondern um Geschöpfe, die erst auf den ersten Stufen dahin sind. Die Gallerie soll den Briefen einverleibt werden, […] die ich mit Beginn der Ferien anzufangen gedenke.58

Diese „Gallerie“ bestand aus menschlichen und Tierembryonen, die er in der in Briefform geschriebenen Polemik gegen Haeckel einsetzte. Bei His’ Zeichnungen und Modellen handelte es sich um Porträts, weil er, wie Seffner, dabei versuchte, die individuellen Wesensmerkmale herauszustellen. Er diskutierte die „specifische Physiognomie“ von Embryonen und bestand darauf, dass die Embryologen eines Tages in der Lage sein würden, sie sogar individuell zu unterscheiden.59 Für den Familienkreis war die Büste somit ein Doppelporträt: das eines verdienstvollen Mannes mit (einer Kopie von) seinem eigenen Porträt eines Geschöpfs, das sich auf den ersten Stufen befand.

56 His jr. 1931: 52. 57 Theodore H. Bast und Weston D. Gardner 1949: Wilhelm His jr. and the Bundle of His. Journal of the History of Medicine and Allied Sciences, 4, 170–187. 58 Wilhelm His an Antonie Miescher-His am 26. Juli 1874 (Ochs/His Archiv, E 3-4). 59 Wilhelm His 1874: Unsere Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung. Briefe an einen befreundeten Naturforscher. Leipzig: Vogel, 192–206, hier vor allem 201 f. Siehe auch Hopwood 2000: 35 f. und ders. 2006: 294.

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Als Kunst ausgestellt Auch wenn Seffners Werk in erster Linie für das Heim der Familie His bestimmt gewesen sein mag, wurden sowohl die Gipsbüste 1899 als auch die Marmorbüste 1901 auf einschlägigen Ausstellungen gezeigt, die den nationalen Ruf sowohl Seffners als auch des Dresdener Kunstmarkts gefestigt haben.60 Wie mag das Modell auf Besucher gewirkt haben, denen die persönliche Bekanntschaft fehlte? Belege dafür sind zwar spärlicher als beispielsweise für die Rezeption von Haeckels Embryonenbildern. Doch es ist möglich, nachzuvollziehen, wie die Betrachter Professor und Modell anhand der damals vorliegenden Biografien und embryologischen Darstellungen gedeutet haben könnten. Die Embryoskulptur stand dabei in aufschlussreichem Gegensatz zu bekannteren Bildern und das Fehlen direkter Zeugnisse ist ebenfalls signifikant. Im April 1899 präsentierte der Leipziger Kunstverein die Gipsbüste „unseres bekannten Anatomen“ sowie andere Werke von Seffner und Max Klinger.61 Im folgenden Monat reisten die Skulpturen zur Deutschen Kunstausstellung nach Dresden. Klinger und Adolf Hildebrand dominierten zwar den Bereich der Bildhauerei, doch Seffner zeigte drei alleinstehende Werke und in einem schmalen, ihm gewidmeten Nebenraum noch zehn weitere Büsten und Reliefs. His war hier, zusammen mit weiteren Professoren, Teil einer mit Gobelins drapierten Vitrine des Porträtisten von Männern der Wissenschaft.62 Ein Leipziger Kritiker stellte fest, dass Seffners Werk die Entwicklung von der idealisierenden Imitation der Klassik hin zu direkten Charakterstudien, von Typen zu Individuen, spiegelte. Im Gegensatz zu Hildebrands Abstraktionen für Feierlichkeiten in großen Sälen sei er ein echtes Kind seiner Zeit. „Seffners Büsten sind intim, modern, […] so recht ein Ausdruck von dem Empfinden und Walten unserer Zeit, unserer sensitiven, nervösen Empfänglichkeit, unserer Neigung, die feinsten Regungen der Seele zu erhaschen.“ Dem Kritiker fehlte ein weibliches Porträt, doch er würdigte auch die männlichen Köpfe und hob später Seffners Büsten von Ludwig, His und König Albert als „Meisterschöpfungen ebenso subtiler wie lebensvoller und einheitlicher Formencharakteristik“ hervor.63 Die Marmorbüste wurde auf der Internationalen Kunstausstellung in Dresden von April bis Oktober 1901 gezeigt. Der Raum, in dem fast vierzig Porträts hingen, wobei alte Meister in einem innovativen Rahmen mit zeitgenössischen Künstlern kombiniert waren, bildete die Umgebung für jeweils vier Skulpturen von Klinger und Seffner. 60 Uta Neidhardt 1993: Gotthardt Kuehl in Dresden, 1895–1915. In: Gerhard Gerkens und Horst Zimmermann (Hg.): Gotthardt Kuehl, 1850–1915. Leipzig: Seemann, 56–77, hier 58–61 und Beth Irwin Lewis 2003: Art for All? The Collision of Modern Art and the Public in Late-Nineteenth-Century Germany. Princeton/Oxford: Princeton University Press, 118. 61 Leipziger Zeitung, Nr. 75, 1. April 1899, 1.373 (Zitat) sowie Kunstchronik, 10 (1899), 333 f. 62 Offizieller Katalog der Deutschen Kunst-Ausstellung Dresden 1899. 2. Aufl., Dresden-Blasewitz: Arnold 1899, 87; sowie zu den Gobelins Willy Doenges: Deutsche Kunstausstellung Dresden 1899. Leipziger Zeitung, Nr. 101, 3. Mai 1899, 1.864 f. 63 Kühn 1899: 395, 397 und ders. 1911: 1.323. Seffner fertigte auch Darstellungen von ein paar Frauen an.

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Letzterer steuerte Königin Carola von Sachsen, Bach, den pensionierten Oberbürgermeister von Leipzig und His bei.64 Aus der Entfernung mag das Objekt in His’ Hand wie ein Mantelknopf oder eine Schnalle gewirkt haben (Abb. 1a), doch die Pose lädt den Betrachter beziehungsweise die Betrachterin dazu ein, näherzukommen und sich daran zu erfreuen, das Rätsel seiner Identität zu lösen. Welche Hinweise bot das Szenario an? Die Büste wird vermutlich nur mit einer Nummer gekennzeichnet gewesen sein und der Katalog verrät lediglich Titel und Namen, „Geh. Rat Professor Dr. His“. Dennoch hatten viele Dresdener schon von dieser „hervorragende[n] Leipziger Persönlichkeit“ gehört,65 deren 70. Geburtstag während der Ausstellung von 1901 gefeiert wurde.66 Da Seffner sich weiterhin um den Denkmalsauftrag bemühte, war die Bach-Büste sicherlich der Grund für His’ Anwesenheit und lenkte die Aufmerksamkeit auf seine wohlbekannte Rolle dabei.67 Doch His war auch ein renommierter Embryologe und das mag den Besuchern geholfen haben, das Modell einzuordnen. Jahrzehntelang in medizinischen Illustrationen und Wachsmodellen vorhanden, wurden menschliche Embryonen zunehmend bekannter, obwohl sie immer noch vom Schulunterricht ausgeschlossen waren. Staatliche anatomische Sammlungen zeigten die akademischen Kero­plastiken von Ziegler, von denen auch manche der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Doch mehr Leute sahen Modelle von Embryonen in den „Geheimkabinetten“ privater Museen, zwischen nackten und sezierten Leichen, Geburtshilfeoperationen und syphilitischen Genitalien.68 Etwas respektabler bildeten auflagenstarke Zeitschriften und Enzyklopädien dagegen Embryonen von Wirbeltieren ab, wie beispielsweise auf einer von insgesamt nur 80 Chromolithografien, die in der 4. Auflage von Meyers Grosses Konversationslexikon vorgestellt wurde (Abb. 8a). Das bedeutet, dass – auch wenn Mediziner sich weiterhin über die Unkenntnis der Laien ereiferten69 – viele Besucher das Modell als Embryo erkannt haben könnten. Nur wenige werden realisiert haben, dass es sich um eine starke Vergrößerung handelte. Doch die meisten werden davon ausgegangen sein, dass hier ein menschlicher Embryo gezeigt 64 Offizieller Katalog der Internationalen Kunstausstellung Dresden 1901. 3. Aufl., Dresden-Blasewitz: Arnold 1901; Neidhardt 1993: 59. 65 Leipziger Zeitung, Nr. 79, 7. April 1899, 1.454. 66 K–n: Professor Wilhelm His. Geboren am 9. Juli 1831. Leipziger Tageblatt und Anzeiger, Nr. 344, 9. Juli 1901, 4.943 sowie Wilhelm His. Illustrirte Zeitung, Nr. 3.028, 11. Juli 1901, 62 und Geheimrath His. Leipzig durch die Blume. Illustriertes Unterhaltungsblatt für die gebildete Welt, 3, Nr. 26, 21. Juli 1901, 337 f. 67 Johann Sebastian Bachs Grabstätte und Gebeine. Bemerkungen zu ihrer Wiederauffindung. Illustrirte Zeitung, Nr. 2.711, 15. Juni 1895, 713 f. 68 Z.B. Stephan Oettermann 1992: Alles-Schau. Wachsfigurenkabinette und Panoptiken. In: Lisa Kosok und Mathile Jamin (Hg.): Viel Vergnügen. Öffentliche Lustbarkeiten im Ruhrgebiet der Jahrhundertwende. Essen: Pomp, 36–56, 294–302. 69 Eduard Seidler 1993: Das 19. Jahrhundert. Zur Vorgeschichte des Paragraphen 218. In: Robert Jütte (Hg.): Geschichte der Abtreibung. Von der Antike bis zur Gegenwart. München: Beck, 120–139 und 215–217.

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Abb. 8. Gegensätzliche Darstellungen von Embryonen und Föten um 1900. a: Entwickelung des Menschen (30 x 24 cm, Meyers Grosses Konversationslexikon, 4. Aufl., Bd. 5, Leipzig: Bibliographisches Institut 1890, zwischen den Seiten 730 und 731). b: Aubrey Beardsley: Incipit vita nova, ca. 1893, Tinte und Chinesischweiß auf braunem Papier (20 x 20 cm, Brian Reade 1967: Beardsley. London: Studio Vista, Tafel 273).

wurde. Was mag ihnen wohl als Nächstes durch den Kopf gegangen sein? Embryo und Fötus waren widersprüchlich konnotiert. Die populäre Embryologie konzentrierte sich auf das individuelle Entstehen in der Schwangerschaft, doch nach Haeckels einflussreichem biogenetischen Grundgesetz stellten Embryonen zugleich Stadien in der Geschichte des Lebens auf der Erde dar. In der vorherrschend optimistischen Lesart galten sie als Beweis für die Vergangenheit und bargen gleichfalls das Versprechen der Zukunft. In der Kunstwelt war die neue Präsenz von normalen und monströsen Föten düsterer konnotiert. Symbolistische Grafiker in Frankreich und der englische Illustrator Aubrey Beardsley bemächtigten sich dieses flexiblen Signifikanten, der auch in Deutschland Ver­ breitung fand. Beardsleys Incipit vita nova, zum Beispiel, stößt die Ikonografie von Madonna und Kind um, indem Christus durch einen abgetrieben Fötus ersetzt wird, und Dante Gabriel Rossettis Beata Beatrix (Abb. 8b) karikiert wurde.70 Diese „deka70 Die letzte Abbildung auf His’ Tafel könnte für die Form von Beardsleys Embryo beziehungsweise Fötus als Quelle gedient haben: Malcolm Easton 1972: Aubrey und the Dying Lady. London: Secker and Warburg, 179–181.

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dente“ Kunst verwendete Abtreibungen, um rückläufige Geburtenraten und den Verfall der Sitten zu kommentieren, sich dem Feminismus entgegenzustellen oder schöpferisches als auch reproduktives Scheitern zu thematisieren.71 Die Symbolisten spielten mit fantastischen Assoziationen zwischen Embryonen, Föten, Abtreibungen und Monstern sowie den damit verbundenen Typen, so von schwangeren Frauen zu Prostituierten und von Ärzten zu Engelmachern. In Kunstgalerien konnten Embryonen zu weiteren Kontroversen führen, und zwar nicht nur aufgrund ihrer Assoziation mit der Sexualität, sondern auch wegen ihrer „anatomischen Buchstäblichkeit“, die eher für „medizinische Fachbücher“ als geeignet angesehen wurde.72 Doch die Beschäftigung mit Seffners Modell hielt sich aufgrund ihres extremen Naturalismus und ihrer Darbietung als professorales Porträt eines unumstrittenen Kunsthandwerkers in Grenzen. Dies mag auch die mangelnden Reaktionen erklären: Die wenigen mir bekannten Kritiken, welche die Büste erwähnen sowie eine, in der sie auch abgebildet wurde, gehen auf das Modell gar nicht ein.73 Waren die Kritiker verlegen oder wollten sie einen Skandal vermeiden? Erkannten Kunstkritiker mit humanistischer Bildung immer noch keine Embryonen oder bestritten sie, dass ein medizinisches Accessoire von allgemeinem Interesse sein könne? Die Laienbetrachter hätten His dennoch einordnen und das Modell als ein embryologisches Objekt erkennen können. Ebenso könnten sie der Einladung gefolgt sein, über die Beziehungen zwischen Person und Gegenstand nachzudenken. Sie hätten den Embryo ebenso wie andere mehr oder weniger abseitige Forschungsgegenstände anderer Disziplingründer des Deutschen Kaiserreichs verstehen können: etwa Haeckels Affen, die Skelette des Anthropologen Rudolf Virchow und die Bakterien des Gesundheitsbeamten Robert Koch.74 In diesem Kontext stellte Seffners Büste zum ersten Mal einen 71 Susan J. Navarette 1998: The Shape of Fear. Horror and the Fin de Siècle Culture of Decadence. Lexington: University Press of Kentucky, 60–109; Stead 2004; Elizabeth K. Menon 2004: Anatomy of a Motif. The Fetus in Late 19th-Century Graphic Art. Nineteenth-Century Art Worldwide, 3, Nr. 1. Siehe auch Cornelia Gerner 1993: Die „Madonna“ in Edvard Munchs Werk. Frauenbilder und Frauenbild im ausgehenden 19. Jahrhundert. Morsbach: Reinhardt, 81–89, 183–186 und Emily Braun 2007: Ornament as Evolution. Gustav Klimt and Berta Zuckerkandl. In: Renée Price (Hg.): Gustav Klimt. The Ronald S. Lauder and Serge Sabarsky Collections. New York: Neue Galerie, 144–169. 72 Observer, 4. Januar 1914, 6 mit Hinweis auf die Zeichnung eines Embryos in einer Jacob-EpsteinAusstellung; siehe auch Anne Middleton Wagner 2005: Mother Stone. The Vitality of Modern British Sculpture. New Haven/London: Yale University Press, 51–63, 265–267. 73 Für das Foto siehe Kühn 1899: 397; für Erwähnungen der Büste siehe Leipziger Zeitung, Nr. 75, 1. April 1899, 1.373; ebd.: Nr. 79, 7. April 1899, 1.454; und Ernst Kiesling: Leipziger Kunstverein. Max Klinger und Carl Seffner. Leipziger Tageblatt und Anzeiger, Nr. 178, 9. April 1899, 2.806. In einem Ordner (01/611) des Archivs der Hochschule für Bildende Künste Dresden sind Dutzende von Kritiken der Dresdener Ausstellung von 1899 gesammelt, in zahlreichen davon wird Seffner besprochen und die Leipziger Neuesten Nachrichten loben seine His-Büste. Für die Ausstellung von 1901 fehlt zwar eine solche Quelle, doch im Artikel „Internationale Kunstausstellung Dresden 1901“ des Leipziger Tageblatts und Anzeigers (Nr. 204) vom 23. April 1901 (2.980) wird die Büste erwähnt. 74 Z.B. Christoph Gradmann 2000: Invisible Enemies. Bacteriology and the Language of Politics in Imperial Germany. Science in Context, 13, 9–30.

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Embryologen als solchen dar. Diejenigen, die ihn als einen der Protagonisten der Embryo­ nenkontroverse kannten, hätten wohl die feinen Unterschiede zu den Darstellungen von Haeckel bemerkt. Genauso wäre es vermutlich den vielen anderen Betrachtern ergangen, die von den Fälschungsvorwürfen gehört hatten, die in der Debatte über die Welträtsel erneut aufgeflammt waren.75 Auch wenn pathologische Museen Föten und Neugeborene ausstellten,76 waren wohl nur wenige Besucher in der Lage, festzustellen, ob solch ein Embryo in diesem frühen Stadium normal oder missgestaltet war. Doch His stand eindeutig für Normalität. Sein Porträt erscheint als achtbarer Gegensatz zu den dekadenten Stereotypen, denen die Kulturhistoriker bisher mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben. His war gerade kein verrufener Engelmacher, der einen die abgebrochene Schwangerschaft symbolisierenden Fötus in seinen Händen hielt, sondern er konzentrierte seinen wohlwollenden Blick auf ein fruchtbares Zusammentreffen mit seinem Forschungsobjekt. Dieser Embryo ist ein Memento des Lebens, das nicht in grelle Chromoplastik verwandelt wurde, sondern wie ein Fossil in Stein erhalten ist. Die Pose des Sammlers und Kenners suggeriert eine besitzergreifende, väterliche Liebe.77 His erscheint hier als ein Fachmann für den menschlichen Anfang, der darüber nachdenkt, was wir von Embryonen lernen können und der ihr Potential abwägt.

In den wissenschaftlichen Disziplinen Die Büste war weder von seinen Kollegen in Auftrag gegeben worden, noch bildete sie Teil einer Kampagne zur Anerkennung der menschlichen Embryologie oder wurde in den Nachrufen auf His abgebildet, als er 1904 starb. Auf seinen Lehrstuhl für Anatomie folgte ihm ein Student von Haeckel, Carl Rabl, der His feindselig gegenüberstand und wohl kaum die Anwesenheit eines Porträts von ihm begrüßt hätte. So kam es, dass die Büste erst relativ spät Einzug in die Anatomie und Embryologie hielt. Als His’ Witwe 1922 zurück nach Basel zog, war Rabl bereits gestorben. Sie spendete dem Leipziger Anatomischen Institut ein Gemälde von His,78 behielt jedoch den Marmor. Nach ihrem Tod stand dieser im Haus ihrer ältesten Tochter Marie.79 Allgemeine Bekanntheit innerhalb der Anatomie und Embryologie erlangte „die ausgezeichnete Büste“ erst mit der

75 Z.B. Eberhard Dennert 1901: Die Wahrheit über Ernst Haeckel und seine „Welträtsel“. Nach dem Urteil seiner Fachgenossen. 2. Aufl., Halle: Müller; zur Debatte siehe Hopwood 2015: 225–227. 76 Das bekannteste öffnete 1900 in Berlin; siehe Angela Matyssek 2002: Rudolf Virchow. Das Pathologische Museum. Geschichte einer wissenschaftlichen Sammlung um 1900. Darmstadt: Steinkopff. 77 Die Geschichte von Pygmalion und Galatea ist ebenfalls eine mögliche Quelle. 78 Albert Winthers Porträt von 1898 (?); der Berliner Bildhauer Gustav Weidanz fertigte 1957 eine Bronzebüste für das Institut (persönliche Mitteilungen von Cornelia Junge an den Autor). 79 Wilhelm His jr. an George L. Streeter am 9. Juli 1933 (Nachlass Carnegie).

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Reproduktion einer Zeichnung auf dem Frontispiz der 1931 erschienen Biografie von Sohn Wilhelm (Abb. 5d).80 Im Jahr 1914 rief der amerikanische Anatom Franklin P. Mall in Baltimore ein Zentrum für menschliche Embryonenforschung – die Abteilung für Embryologie der Carnegie Institution of Washington – ins Leben und würdigte seinen Lehrer His als modernen Begründer der Humanembryologie.81 Im Frühjahr 1932 erhielt sein Nachfolger, George L. Streeter, ein weiterer Schüler von His, vom Sohn die Biografie. Streeter hatte ihn schon lange gedrängt, die embryologische Sammlung und wissenschaftlichen Erinnerungsstücke seines Vaters für einen Sonderausstellungsraum zu spenden. Damit würde Wissenschaftlern die Möglichkeit geboten, His’ Veröffentlichungen mit seinen Präparaten zu vergleichen. Der Abteilung würden die Weihen als embryologische Zentralanstalt verliehen, für die er sich eingesetzt hatte: Verschiedene Porträts sollten an den Wänden hängen sowie ein gutes Foto der Marmorbüste, in der er Br3 in seiner Hand hält. Die Reproduktion in Ihrer biographischen Skizze ist ausgezeichnet, doch müsste sie größer sein.82

Bis ich Streeters Brief las (bei dem es sich um die einzige Identifizierung des Embryos handelt, die ich in den historischen Aufzeichnungen gefunden habe), hatte ich, ausgehend von seiner Ähnlichkeit und seinem Bekanntheitsgrad, Embryo α für das wahrscheinlichste Modell gehalten. Es mag vermessen erscheinen, den damals führenden Humanembryologen in Zweifel zu ziehen. Doch Br3, der dritte Embryo, den His vom Gynäkologen Johannes Brennecke erhalten hatte, wäre eine schwer verständliche Wahl im Vergleich mit einem der von ihm am sorgfältigsten modellierten früheren Präparate gewesen.83 Zur Klärung dieser Angelegenheit bat ich Ronan O’Rahilly, der Streeters Carnegie-Stadien der menschlichen Embryonalentwicklung fertiggestellt hatte, auf Grundlage von Kopien 80 His jr. 1931: 56. Obwohl die Zeichnung angeblich nach der Marmorbüste angefertigt sein soll, scheint als Vorlage aber doch das Foto (der Gipsbüste?) in Abb. 5b gedient zu haben. 81 Florence Rena Sabin 1934: Franklin Paine Mall. The Story of a Mind. Baltimore: Johns Hopkins Press; Ronan O’Rahilly 1988: One Hundred Years of Human Embryology. In: Harold Kalter (Hg.): Issues and Reviews in Teratology, Bd. 4. New York: Academic Press, 81–128; Lynn M. Morgan 2009: Icons of Life. A Cultural History of Human Embryos. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. 82 George L. Streeter an Wilhelm His jr. am 6. Mai 1932 (Kopie im Nachlass Carnegie); Pnina G. AbirAm und Clark A. Elliot (Hg.) 1999: Commemorative Practices in Science. Historical Perspectives on the Politics of Collective Memory [= Osiris, 14]. Chicago/London: University of Chicago Press. 83 Wilhelm His 1886: Zur Geschichte des menschlichen Rückenmarkes und der Nervenwurzeln. Abhandlungen der mathematisch-physischen Classe der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, 13, 475–514 stellt Br3 auf Seite 479 vor. Br3 wurde ebenfalls modelliert, doch erst relativ spät und sehr groß, von einem Modelleur, den His zwar förderte, doch mit dem er wenig zusammenarbeitete: Paul Osterloh von der Kunst-Anstalt für wissenschaftliche Plastik in Leipzig-Connewitz: Modell des menschlichen Embryos am Ende der vierten Woche (Embryo His Br3); siehe zum Kontext auch Hopwood 2002: 77, 189.

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veröffentlichter Zeichnungen und eines Fotos des Marmormodells (Abb. 1b) um sein Urteil über Br3 und α. O’Rahilly erklärte, auch im Namen seiner Kollegin Fabiola Müller: „Wir vertreten die Auffassung […], dass α mit der Büste dargestellt wird und zum Carnegie-Stadium 13 gehört. Br3 ist weiter entwickelt und gehört vermutlich zu Stadium 14.“84 Da Rabls Nachfolger nicht bereit war, Streeter die Sammlung zu überlassen, gestaltete dieser Ende 1932 in einer Wandnische in der Nähe des Bibliothekseingangs einen „Schrein“ aus den Erinnerungsstücken, die ihm His’ Sohn schicken konnte. Das versprochene Foto der Büste kam aber nie an, was sich als „ein Drama“ für His erwies, der ein weiteres in Basel machen lassen musste, denn es ist schwierig, in einer einzigen Einstellung sowohl den Mann als auch das Detail des Modells zu erfassen. His jr. schickte schließlich im Juli 1933 zwei Abzüge und Streeter beabsichtigte, einen seinem Schrein hinzuzufügen.85 Veränderungen in den Disziplinen und der nicht unproblematische Ruf von His, verbunden mit der Unzugänglichkeit der Büste, trugen dazu dazu bei, ihre Verwendungsmöglichkeiten zu begrenzen. Ab den 1940er-Jahren waren physiologische Experimente an lebenden Tierembryonen, zunehmend mit Schwerpunkt auf Zellen, Genen und Molekülen, international dominierend, während die Humanembryologie in der Tradition von His selbst im Carnegie Department an Boden verlor. Die Entwicklungsphysiologen und Entwicklungsbiologen, die dieses Gebiet in den 1960er-Jahren übernahmen, huldigten ihm zwar unter Vorbehalt als Pionier eines mechanischen Ansatzes. Doch sie taten seine menschliche Embryologie und sein Anliegen der Visualisierung der Entwicklung als ‚lediglich deskriptiv’ ab. Wachsmodelle waren ebenso aus der Mode gekommen wie Marmorbüsten.86 Insofern fehlte es Seffners Modell an Anziehungskraft. Porträtfotos waren leichter erhältlich und nachzudrucken. Anders betrachtete man His im Anatomischen Institut in Basel, wo sein Werk als das eines Lokalhelden in vollem Umfang gewürdigt wurde. Dem Institut durch die Familie nach dem Krieg gespendet, stand die Büste zunächst auf einem Flur in der ersten Etage, bis man sie in den 1970er-Jahren im Foyer aufstellte.87 Doch selbst hier bevorzugten die Anatomen andere Porträts für ihre Biografien von His. Nur der Leiter des angeglieder-

84 Ronan O’Rahilly an den Autor am 18. April 2005. Streeters Kommentar bleibt rätselhaft. Möglicherweise hat das Frontispiz zu Verwirrung beigetragen (Abb. 5b, 5d), doch es ist unwahrscheinlich, dass ihm dies für die Identifikation ausgereicht hätte, möglicherweise hat er sich falsch an den Marmor aus seiner Leipziger Zeit 1902 erinnert. 85 George L. Streeter an Wilhelm His jr. am 4. November 1932 („Schrein“), am 20. Juni 1933 (Kopien), Wilhelm His jr. an George L. Streeter am 17. August 1932, am 9. („Drama“) und 22. Juli 1933 (Nachlass Carnegie). Zum Schrein siehe weiter George L. Streeter 1933: The Status of Metamerism in the Central Nervous System of Chick Embryos. Journal of Comparative Neurology, 57, 455–475, hier 455. 86 Laurence Picken 1956: The Fate of Wilhelm His. Nature, 178, 1162–1165 sowie Hopwood 1999, 2002, 2009. 87 Wilhelm His der Ältere 1965: Lebenserinnerungen und ausgewählte Schriften. Hg. von Eugen Ludwig. Bern: Huber, 11 sowie Dieter Sasse an den Autor am 1. Oktober 2004.

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ten Anatomischen Museums wählte 1992 Seffners Werk für das Titelbild einer Broschüre aus.88

Unter Embryonen und Embryologen heute In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand nicht nur die Büste von His wenig Verwendung, auch ansonsten ist mir kein anderes Porträt bekannt, das einen Embryologen mit Embryo darstellt.89 Selbst im Carnegie Department scheint nur der Modelleur mit seinen Rekonstruktionen fotografiert worden zu sein.90 Einige wenige Embryologen, die prominent genug waren, wurden gelegentlich in Artikeln porträtiert, die auch ihre Forschungsgegenstände abbildeten.91 Doch während die Molekularbiologen in den 1950erJahren begannen, mit Protein- und DNA-Modellen zu posieren, saßen die Entwicklungsbiologen immer noch vor Mikroskopen oder standen mit ausgewachsenen Organismen Modell.92 Dies änderte sich in den 1960er- und 1970er-Jahren, als verschiedene Innovationen dazu beitrugen, die Prominenz von menschlichen Embryonen zu steigern und die Fortpflanzung zu revolutionieren.93 Ihre Darstellungen sowie die von Föten fanden in den viel breiter und stärker visuell wirkenden Massenmedien eine größere Beachtung. Im Jahr 1965 nahm eine äußerst erfolgreiche Fotoreportage der Zeitschrift Life für sich in Anspruch, „das erste Porträt, das jemals von einem lebenden Embryo im Mutterleib gemacht wurde“ zu zeigen. Etwa 88 Gerhard Wolf-Heidegger: Wilhelm His, sen. In: Staehelin 1960, 172 f.; Hugo Kurz 1992: Wilhelm His (Basel und Leipzig). Seine Beiträge zur Weltgeltung der Anatomie im 19. Jahrhundert. Basel: Anatomisches Museum. 89 Der Cambridger Embryologe J. D. Boyd wurde in den 1950er- oder 1960er-Jahren vor dem Hintergrund fötaler und embryologischer Präparate im anatomischen Museum fotografiert; es befindet sich ein Foto in der Porträtgalerie der Professoren in der Anatomy School. 90 O’Rahilly 1988: 95; Spencer L. Davidson: The Man Who Really Slowed Up (Zeitungssausschnitt, ca. 1956, Carnegie Institution of Washington Archives, Embryology 3/3). Auf einem Gruppenbild von 1935 im Seminarraum kann man im Hintergrund Modelle erkennen: Buklijas/Hopwood 2008, „Standards: Introduction“. 91 Daniel Jacobi und Bernard Schiele 1989: Scientific Imagery and Popularized Imagery. Differences and Similarities in the Photographic Portraits of Scientists. Social Studies of Science, 19, 731–753. 92 De Chadarevian 2003 sowie dies.: Models and the Making of Molecular Biology. In: dies./Hopwood 2004, 339–368. Ich habe Porträts führender Entwicklungsbiologen gesichtet und mich umgehört, Filme, Fernsehsendungen und Medaillen jedoch nicht überprüft. Nur ein paar der Country-IssueTitelseiten des International Journal of Developmental Biology kombinieren zwischen 1989 und 2009 Porträts mit Bildern von Embryonen; siehe special issues, International Journal of Developmental Biology [http://www.ijdb.ehu.es/web/issues/special-countries/, letzter Zugriff am 17. September 2014]. Eine Embryologin wurde vor einer Bücherwand fotografiert: Jordanova 2000: 53, ein Embryologe am Stereomikroskop: John P. Trinkaus 2003: Embryologist. My Eight Decades in Developmental Biology. Alexandria VA: J & S, Titelseite. 93 Für einen Überblick: Sara Dubow 2011: Ourselves Unborn. A History of the Fetus in Modern America. New York/Oxford: Oxford University Press, sowie Buklijas/Hopwood 2008 und Morgan 2009.

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zur gleichen Zeit hielt das Thema Einzug in den Schulunterricht.94 Bedeutsam war, dass Reproduktionswissenschaftler zwar bereits viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, nun aber in Berichten über unmittelbar bevorstehende schöne neue Welten mit Eizellen und Embryonen dargestellt wurden. Als 1978 in Zusammenarbeit zwischen Embryologie und gynäkologischer Chirurgie im englischen Oldham die erste Geburt eines durch In-vitro-Fertilisation (IVF) gezeugten Menschen gelang, zeigten die Zeitungen Bilder des Embryologen und des Gynäkologen mit dem Retortenbaby Louise Brown. Bisher hatte man im medizinischen Umfeld weitgehend Hebammen oder Krankenschwestern mit Neugeborenen gesehen – doch generell keine männlichen Geburtshelfer. Jetzt rückten die „Babymacher“ in den Mittelpunkt.95 Die Routinisierung medizinisch unterstützter Fortpflanzung in den 1980er-Jahren schuf den Beruf des klinischen Embryologen. Das hierbei vorherrschende Bild ist die Vertrauen einflößende Aufnahme eines Mannes oder einer Frau, die an beziehungsweise neben einem Binokularmikroskop in einer Kinderwunschklinik sitzt. Der Anschluss des Mikroskops an einen Bildschirm erleichterte es, den Menschen und den so vergrößerten Embryo zusammen in einer Aufnahme zu präsentieren, wie auch Wendy McMurdo 2002 mit ihrem Gruppenbild des Teams zeigte, welches das Schaf Dolly klonte. „Wie sieht ein Embryologe in Wirklichkeit aus?“, heißt es auf einer US-Website. Die Antwort lautet: „Embryologen sehen aus wie normale Leute in Pyjamas mit albernen Hauben und Mundschutz.“96 Die Nachdenklichkeit eines älteren Herrn wurde durch die entspannte Seriosität eines demografisch heterogenen Teams ersetzt, das unfruchtbare Menschen dazu einlädt, einen Umweg über die Embryologie zu machen, um sich fortzupflanzen. Semantische Überlappungen zwischen Embryonen und Babys sind nun endemisch geworden.97 Zwei andere wesentliche Bezugsrahmen haben aber Sichtbarkeit und Sichtweise der Embryologen verändert. Erstens trugen mit der Verlagerung der Schwangerschaft ins 94 Drama of Life Before Birth. Life, 58, Nr. 17, 30. April 1965, 54–72A, hier 54; Solveig Jülich 2011: Fetal Photography in the Age of Cool Media. In: Anders Ekström, Solveig Jülich, Frans Lundgren und Per Wisselgren (Hg.): History of Participatory Media. Politics and Publics, 1750–2000. New York/London: Routledge, 125–141; zum Schulunterricht: Buklijas/Hopwood 2008: „Standards: Public Embryology“; Jane Maienschein und Karen Wellner 2013: Competing Views of Embryos for the Twenty-First Century. Textbooks and Society. Science & Education, 22, 241–253. Der New Yorker Gynäkologe Landrum B. Shettles ließ sich vor einer Wand voller Photos mutmaßlich befruchteter Eizellen ablichten: „Timeline: The History of In Vitro Fertilization“, „Test Tube Babies“, „American Experience“, WGBH [www.pbs.org/wgbh/americanexperience/features/timeline/babies/, letzter Zugriff am 14. August 2014]. 95 Robin Morantz Henig 2004: Pandora’s Baby. How the First Test Tube Babies Sparked the Reproductive Revolution. Boston/New York: Houghton Mifflin. 96 „Tour of the In Vitro Fertilization Laboratory at the Advanced Fertility Center of Chicago“ [http:// www.advancedfertility.com/ivflab.htm, letzter Zugriff am 14. August 2014] sowie „Embryologists at Work in Our IVF Laboratory“ [http://www.advancedfertility.com/embryologist.htm, letzter Zugriff am 14. August 2014]. Das McMurdo-Porträt hängt in der Scottish National Portrait Gallery. 97 Franklin 1997 und Mulkay 1997.

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Krankenhaus Mitte des 20. Jahrhunderts Monitore und chirurgische Eingriffe dazu bei, den „fötalen Patienten“ zu konstruieren. Seit den 1980er-Jahren sind Ultraschalluntersuchungen Routine. Es war ungewöhnlich, dass His seine Zeichnungen seinerzeit als Porträts bezeichnete, doch nun machten sonografische Aufnahmen samt Fotos von IVF-Embryonen im Frühstadium zusammen mit Hochglanzbildern in Zeitschriften fötale und embryonische Porträtkunst zu etwas Alltäglichem.98 Zweitens setzten seit den 1970erJahren Abtreibungsgegner Bilder von Föten gegen die Liberalisierung der noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Gesetze ein.99 Doch obwohl Abtreibungsgegner Modelle benutzt haben, lässt sich Seffners Büste von His nicht so ohne Weiteres für ihre Sache kooptieren. In einem Stadium, das noch zu früh ist, um vom Laien als menschlich erkannt zu werden, stellt das Modell ein spezifisches Präparat dar und kein pauschales Symbol. Es verkörpert einen Aspekt der embryologischen Tradition, der heute problematisch erscheint: Der schwangere Körper der Frau wird ausgeklammert, der Embryo hingegen stark vergrößert. Doch der verstörende Effekt – hält der Mann da wirklich einen Embryo in der Hand? – thematisiert eher die Arbeit, mit der die menschliche Embryologie ihre Objekte in einem – buchstäblich – greifbaren Maßstab herstellte, als dass er diese mystifiziert. Seit den 1990er-Jahren sind Bilder, die wechselnd für Embryo, Fötus, Abortus und/ oder Baby stehen, der breiten Öffentlichkeit vertraut und zugleich höchst umstritten.100 Durchscheinende, lebendige Bildschirmorganismen sind Lichtjahre entfernt von dem schweren Marmormodell eines toten Präparats. Und dennoch: Die neuen Bilder könnten möglicherweise die Büste wieder zu neuem Leben erwecken. Künstlerisch-wissenschaftliche (Sci/art) Ausstellungsstücke mögen Darstellungen von Embryonen enthalten,101 doch kein Kritiker würde einen solchen in der Hand eines Wissenschaftlers übersehen.

98 Z.B. Lisa M. Mitchell 2001: Baby’s First Picture. Ultrasound and the Politics of Fetal Subjects. Toronto: University of Toronto Press; Janelle S. Taylor 2008: The Public Life of the Fetal Sonogram. Technology, Consumption and the Politics of Reproduction. New Brunswick: Rutgers University Press; Malcolm Nicolson and John E. E. Fleming 2013: Imaging and Imagining the Fetus. The Development of Obstetric Ultrasound. Baltimore: Johns Hopkins University Press; Sarah Franklin und Celia Roberts 2006: Born and Made. An Ethnography of Preimplantation Genetic Diagnosis. Princeton: Princeton University Press, 153–157; Linda L. Layne 2003: Motherhood Lost. A Feminist Account of Pregnancy Loss in America. London/New York: Routledge, 81–143. 99 Petchesky 1987; Cynthia Gorney 1998: Articles of Faith. A Frontline History of the Abortion Wars. New York: Simon & Schuster, 100–106. 100 Siehe auch Monica J. Casper 1994: At the Margins of Humanity. Fetal Positions in Science and Medicine. Science, Technology & Human Values, 19, 307–323 und Luc Boltanski 2002: The Fetus and the Image War. In: Bruno Latour und Peter Weibel (Hg.): Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art. Karlsruhe: ZKM und Cambridge Mass./London: MIT Press, 78–81. 101 Sarah Franklin 1999: Dead Embryos. Feminism in Suspension. In: Lynn M. Morgan und Meredith W. Michaels (Hg.): Fetal Subjects, Feminist Positions. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 61–82; Suzanne Anker und Dorothy Nelkin 2004: The Molecular Gaze. Art in the Genetic Age. Cold Spring Harbor: Cold Spring Harbor Laboratory Press, 113–151; Ingeborg Reichle 2005: Kunst aus dem Labor. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Technoscience. Wien: Springer, 196 f.

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Nick Hopwood

Seffners Büste hat neue Rahmungen erhalten. Hat sie auch die Macht erlangt, jüngere Bilder von Embryonen und Embryologen deutlicher hervortreten zu lassen?

Ein Doppelporträt zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit Die Rekonstruktion der Gestaltung und Rezeption von Seffners Werk verknüpft wichtige öffentliche und private Wissenschaftswelten um 1900. Als bildhauerisches Porträt mit einer von His’ eigenen Skulpturen verkörpert die Büste das Gemeinschaftsprojekt einer exakten, dreidimensionalen Anatomie. Zu einer Zeit, in der Embryonen üblicherweise in ausladend spekulativen Schilderungen der Geschichte des Lebens auf der Erde dargestellt wurden, strahlt die Pose die stille Kontemplation eines einzelnen Exemplars aus. His nahm den Blutklumpen einer Frau, die eine Fehlgeburt erlitten hatte, und verwandelte dieses unbestimmte Material durch Schneiden, Zeichnen und Modellieren in eine Statue, die die Neudefinition von Schwangerschaft im embryologischen Sinne symbolisiert. Seffner wiederum verlieh Mensch und Embryo denselben Status in Stein. Die den Betrachtern zugänglichen Darstellungen in einer Ahnengalerie, in Kunstausstellungen oder einem anatomischen Institut legen Interpretationen dieses ersten Porträts eines Embryologen (des Basler Gelehrten und Leipziger Professors, respektablen Forschers des Lebensanfangs und Begründers der modernen Humanembryologie) nahe, die sich vom Typus des Evolutionisten, Abtreibungsarztes und Experimentators unterscheiden. Das Marmormodell ergibt Sinn als „Kostbarkeit“, „sehr wohl conservirte[r] Homunculus“, „Embryo α“, als „Geschöpf “, das seine „ersten Schritte“ geht, als Vorfahr – doch nicht als symbolistischer Fötus. Diese Kontraste bereichern unsere Sicht auf die Beziehung der Embryologen zu ihren Forschungsgegenständen, in einer Zeit, die für die Verbreitung der embryologischen Sicht auf das Leben entscheidend war. Doch die Öffentlichkeit reagierte zurückhaltend auf das Modell. Durch seinen privaten Hintergrund und die zunächst nur häusliche Zurschaustellung blieb das Porträt ohne Außenwirkung. Es ließ sich schwer in Publikationen abbilden und fand auch innerhalb der Embryologie nur bedingt Anklang. Die Büste markierte nicht den Beginn einer Tradition des Porträtierens von Embryologen mit Embryonen. Stattdessen begann eine andere, als zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren die frühmenschliche Entwicklung öffentliche und klinische Bedeutung erlangte. Damit hat Seffners Büste – wenngleich in Stil und Material weiter denn je von uns entfernt – einen Kontext erhalten, der sie heute überraschender, berührender und beunruhigender erscheinen lässt als zum Zeitpunkt ihrer Anfertigung. Übersetzung aus dem Englischen von Birgit Kolboske und Annette Wunschel.

Christian Sammer

Durchsichtige Ganzkörpermodelle im Krieg der Systeme. Die Gläsernen Figuren aus Dresden und Köln, 1949–19891

Die Geschichte der Gläsernen Figuren reicht in Dresden mindestens bis Ende der 1920er-Jahre zurück, als Franz Tschackert (1887–1958) den Prototyp des „Gläsernen Menschen“ modelliert, gegossen, geschnitten, geklebt und bemalt hatte.2 Die erste Figur, die im Rahmen der Eröffnung der Dauerausstellung des Deutschen Hygiene-Museums 1930 gezeigt wurde, stellte einen Männerkörper dar, der von feinen, rot, blau und gelb gefärbten Drähten durchzogen war und dessen durchsichtige Kunststoffhaut den Blick auf nachgeformte Organe und Knochen freigab. Das Attribut „gläsern“ erhielten die Figuren schon kurz nachdem sie in Dresden und anderen Städten gezeigt wurden. Der Grund war die Transparenz ihrer äußeren Hülle. Während der deutschen Teilung wurden solche Gläsernen Figuren nicht nur in Dresden, sondern auch in Köln hergestellt. In Ost und West entstanden nach 1945 mehr als 180 Exemplare in diversen Ausgestaltungen. Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden produzierte, präsentierte, verkaufte und verschenkte bis 1989 insgesamt etwa 140 Modelle (60 Männer, 70 Frauen sowie mehr als 10 Tiere), das Deutsche Gesundheits-Museum in Köln (ab 1967 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) bis 1985 mindestens 35 Frauen und 7 Männer. In diesem Zeitraum wurden die Figuren ständig modifiziert, vervielfältigt und voneinander abgegrenzt (Abb. 1 und 2). Spätestens Ende der 1960er-Jahre war der Gläserne Mensch zu einem Marken- und Eigennamen geworden.

1 Mein Dank geht an Sybilla Nikolow, Berit Bethke, Anna-Gesa Leuthard, Thomas Steller, Lioba Thaut, Willibald Steinmetz und Uta Schwarz für Rat und Unterstützung. Besonders gedankt sei dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden für die finanzielle Unterstützung meines Dissertationsprojektes zur Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen in der Gesundheitsaufklärung und den Mitarbeiterinnen der Abteilung Sammlung. 2 Vgl. Martin Roth 1990: Menschenökonomie oder der Mensch als technisches und künstlerisches Meisterwerk. In: Rosmarie Beier und ders. (Hg.): Der Gläserne Mensch – Eine Sensation. Zur Kulturgeschichte eines Ausstellungsobjekts. Stuttgart: Gerd Hatje, 39–67, hier 39–41, der sich in der Schilderung der Produktion durch Tschackert auf die Erinnerungen von Isolde Seyfarth stützt (Isolde Seyfarth 1974: Wie der erste Gläserne Mensch entstand. Hausarchiv Deutsches Historisches Museum, Projektakten Leibesvisitation, vorl. 1: Der gläserne Mensch, 1974–1988, unpag.).

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Abb. 1: Rückansicht der Gläsernen Frau des Deutschen Gesundheits-Museums aus der Mitte der 1950er-Jahre (Dittrick Medical History Center, Bruno Gebhard Photography Collection, GF-34).

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In meiner Geschichte der Gläsernen Figuren im Deutschland der Nachkriegszeit stütze ich mich auf Akten aus den Archiven beider Einrichtungen und der jeweils organisatorisch übergeordneten Gesundheitsverwaltungen. Zusätzlich nutze ich die Bestände der beiden deutschen Außenministerien, Abbildungen und den Schriftwechsel aus den ersten Nachkriegsjahren zwischen dem damaligen Präsidenten des Deutschen Hygiene-Museums, Georg Seiring (1883– 1972), und Rudolf Neubert (1898–1992).3 Von wissenshistorischem Interesse sind die Verwendung, die Potentiale und die Grenzen der Gläsernen Modelle im deutsch-deutschen Verflechtungsraum. In welchen Formaten zirkulierte welches (Körper-)Wissen auf welche Weise?4 Es geht mir weder um die Verfahren der Figurenherstellung im Einzelnen noch um eine umfassende Rekonstruktion der Biopolitik der deutsch-deutschen Gesundheitsaufklärung an diesem Beispiel.5 Stattdessen orientiere ich mich an neueren Untersuchungen zur Rolle und Funktion von Wissensobjekten in Kreisläufen der Produktion, Popularisierung und Rezeption von Körperwissen. Dabei

3 Rudolf Neubert bekleidete in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis Ende 1945 einen Posten als Dezernats-Direktor am Dresdner Hauptgesundheitsamt, hatte aber von 1924 bis 1933 bereits am Deutschen Hygiene-Museum als wissenschaftlicher Mitarbeiter gearbeitet und kehrte dorthin von 1946 bis 1947 als wissenschaftlicher Direktor zurück. Vgl. hierzu: Rudolf Neubert 1974: Mein Arztleben. Erinnerungen. Rudolstadt: Greifenverlag; sowie Personennachlass Rudolf Neubert (Sächsisches Staatsarchiv-Hauptstaatsarchiv Dresden [im Folgenden SStA-HStAD], 12741, Nr. 140). 4 Zu dieser Perspektive vgl. Philipp Sarasin 2011: Was ist Wissensgeschichte? Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 36, 159–172. 5 Zur biopolitischen Fragestellung vgl. Denise Gastaldo 1997: Is Health Education Good for You? Re-thinking Health Education Through the Concept of Bio-power. In: Alan Petersen und Robin Bunton (Hg.): Foucault, Health and Medicine. New York: Routledge, 113–133; Martin Lengwiler und Jeannette Madarász (Hg.): 2010. Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik. Bielefeld: transcript.

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Abb. 2: Gläserne Frau in Raum 14 der sogenannten Hausausstellung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden von 1961 (Sammlung Deutsches Hygiene-Museum).

mache ich mir einen Objektbegriff zunutze, in dem Materialität und symbolische Aufladung von Dingen nicht getrennt, sondern als ursächlich miteinander verschränkt betrachtet werden.6

Die Vielfalt der Gläsernen Figuren in ihrer Glanzzeit, 1945–1967 Von den Gläsernen Menschen, die bis 1945 produziert worden waren, befanden sich nach Kriegsende noch drei im Besitz des Deutschen Hygiene-Museums. Eine Figur stand im Kulturinstitut in Barcelona, eine zweite war in Schleswig-Holstein eingelagert worden, die dritte, noch unfertige, hatte den Krieg in den Kellerräumen des Museums überdauert.7 Um die Entscheidungsträger in den deutschen Gesundheitsverwaltungen von der Nützlichkeit und Notwendigkeit des Deutschen Hygiene-Museums nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zu überzeugen, verwies Seiring auf dieses dritte, fast fertiggestellte Objekt. Die Figur wurde noch 1945 in Dresden und im Jahr 6 Vgl. überblicksartig Anke te Heesen 2007: Über Gegenstände der Wissenschaft und ihre Sichtbarmachung. Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 1, 95–102; Lorraine Daston 2004: Speechless. In: dies. (Hg.): Things That Talk. Object Lessons from Art and Science. New York: Zone Books, 9–24. 7 Vgl. Brief von Georg Seiring an Rudolf Neubert: Zur Geschichte der hygienischen Volksbelehrung, o. D. [September 1945] (SStA-HStAD, 12741, Nr. 140, unpag.).

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darauf in Berlin vorgeführt und machte offensichtlich Eindruck in der Sowjetischen Militäradministration. Denn das Museum erhielt entsprechende Mittel, um die Produktion der Gläsernen Figuren weiterführen zu können.8 Zur selben Zeit war auch die zweite Figur, der Gläserne Mann aus Schleswig-Holstein, der aus der nationalsozialistischen Wanderausstellung Gesund oder krank stammte, in den westlichen Besatzungszonen unterwegs. Johannes Erler, der Leiter dieser Wanderausstellung, stellte 1946 aus deren Überresten und Materialien aus der Universitätsklinik Kiel und dem lokalen Schulmuseum eine neue Ausstellung mit dem Titel Kampf den Geschlechtskrankheiten zusammen. Der zweite Gläserne Mann wurde in diesem Rahmen bis 1949 in Schleswig-Holstein, Bayern und dem Rheinland gezeigt. Seine danach notwendig gewordene Restaurierung erfolgte nicht mehr in der Dresdner Heimatwerkstatt, sondern im Deutschen Gesundheits-Museum in Köln, das Georg Seiring 1949 dort gegründet hatte.9 Seiring war von der Dresdner Entnazifizierungskommission im August 1947 seines Präsidentenamts am Deutschen Hygiene-Museum enthoben worden10 und anschließend nach Köln übergesiedelt, wo er den Auftrag übernahm, das zerstörte Museum für Volkshygiene wieder aufzubauen.11 Nach und nach folgten ihm ehemalige Mitarbeiter aus Dresden,12 darunter nicht nur Erler, sondern auch Franz Tschackert, der 1949 gemeinsam mit seinem Sohn Fritz begann, neue Gläserne Figuren zu modellieren.13 8 Vgl. Franz Görres 1967: Der Wiederaufbau des Deutschen Hygiene-Museums, Befehl Nr. 16 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland vom 14. Januar 1947. In: Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Die Bedeutung der Befehle der SMAD für den Aufbau des sozialistischen Gesundheitswesens der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumentation aus Anlaß des 50. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Berlin: o. V., 88–90. 9 Vgl. Brief von Johannes Erler an das Deutsche Hygiene-Museum im Dezember 1945; Brief an die Leitung des Deutschen Hygiene-Museums vom 9. Januar 1950 (beide SStA HStAD, 13658, Nr. 59/37, unpag.). Die Figur blieb danach in Erlers Besitz, bis er sie – nach zehnjährigem Konflikt – mit stillschweigender Billigung der neuen Leitung des Deutschen Hygiene-Museums verkaufte, um seine früheren Ausgaben begleichen zu können. Vgl. Brief von Johannes Erler an Otto Kunkel vom 15. November 1958 und vom 17. Januar 1959, Schreiben des Ministeriums für Gesundheitswesen, Abteilung Recht an Walter Axel Friedeberger vom 16. März 1959; Aktennotiz von Otto Kunkel vom 3. August 1959 (ebd.). 10 Vgl. Deutsche Zentralverwaltung/Feuerboether Aktenvermerk Deutsches Hygiene-Museum vom 2. Januar 1948 (Bundesarchiv [im Folgenden BArch], DQ 1/1094. Ministerium für Gesundheitswesen, unpag.). 11 Vgl. Bericht von Dr. Winter an die Hauptverwaltung Gesundheitswesen der Deutschen Wirtschaftskommission über das Hygiene-Museum in Köln/Düsseldorf vom 29. September 1949 (ebd.); Georg Seiring 1961: Erinnerungen. Unveröffentlichtes Manuskript, 46 (Bibliothek des Deutschen HygieneMuseums). 12 Zu den ehemaligen Dresdner Fachleuten in Köln vgl.: Christian Sammer 2013: „Das Ziel ist das gesunde Leben!“ Die Verflechtungen zwischen dem Deutschen Gesundheits-Museum in Köln (DGM) und dem Deutschen Hygiene-Museum in Dresden (DHM) in den 1950er Jahren. In: Detlev Brunner, Udo Grashoff und Andreas Kötzing (Hg.): Asymmetrisch verflochten? Neue Forschungen zur gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte. Berlin: Christoph Links Verlag, 131–145. 13 Franz Tschackert ging 1956 in den Ruhestand, sein Sohn verließ das Deutsche Gesundheits-Museum nur wenig später, vgl. die Niederschrift über die Sitzung des Gesamtvorstandes des Deutschen

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Tschackert senior war 1946 wegen „mehr als nomineller Mitgliedschaft in der NSDAP“14 aus dem Deutschen Hygiene-Museum entlassen worden und hatte anschließend in Heidelberg mit Peter Ehrke, dem ehemaligen technischen Direktor in Dresden, eine eigene Ausstellung ebenfalls zum Thema der Geschlechtskrankheiten zusammengestellt.15 Tschackert setzte sich mit seiner Gestaltung der Figuren gegen Dresden ab. Vor allem stellte er Frauenkörper mit weiblichen Brustdrüsen her.16 Das Lymphgefäßsystem wurde durch grünen Draht auf einer der beiden Längsseiten des Körpermodells dargestellt. Die Arme wurden gesenkt und mit den Innenseiten zum Beschauer gedreht.17

Blockbindung und -abgrenzung Die erste im Westen hergestellte Figur brachte dem Museum in Köln 1950 55.000 DM ein. Sie wurde vom Cleveland Museum of Health erworben, das der ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter des Deutschen Hygiene-Museums Bruno Gebhard (1899–1985) leitete.18 Als Experte für public health hatte Gebhard nach Kriegsende mehrfach die westalliierten Besatzungszonen beziehungsweise ab 1949 die Bundesrepublik bereist und im Juni 1950 auch Seiring und sein neues Museum in Köln besucht.19 Zwei Monate später erschienen Presseberichte über Gebhards Ankauf der Gläsernen Frau aus Köln. Auch das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel brachte eine ganzseitige Meldung mit einem einspaltigen Text und mehreren Fotografien und lobte die Figur ironisch als Ausdruck „deutscher Wertarbeit“, an der sogar die Amerikaner Interesse bekundeten.20 Gesundheits-Museums vom 29. November 1955 in Köln (BArch, B 310/341. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und SStA-HStAD, 13658, Nr. 47/33, unpag.). 14 Brief von Betriebsrat Uhlmann an Franz Tschackert vom 15. Januar 1946 (SStA-HStAD, 13658, Nr. 47/33, unpag.). 15 Schreiben von Hermann Röschmann an Georg Seiring vom 4. August 1947 (ebd.: Nr. 59/37, unpag.) und Schreiben von Johannes Erler an das Deutsche Hygiene-Museum vom 23. August 1948 (ebd.: Nr. 47/33, unpag.). 16 In Gläsernen Torsi schwangerer Frauenkörper wurden in Dresden Anfang der 1950er-Jahre ebenfalls Brustdrüsen nachgebildet. Im Gegensatz zur Figur aus Köln sollte damit aber die anatomische Veränderung des weiblichen Körpers während der Schwangerschaft sichtbar gemacht werden. Vgl. Wolfgang Schröter: Der Gläserne Torso eine Schwangeren. Eine neue Attraktion in der provisorischen Hausausstellung, Fotografie von 1953. In: Stiftung Deutsches Hygiene-Museum (Hg.) 2013. Tätigkeitsbericht 2012. Ausstellungen, Bildungsprogramm, Wissenschaftliche und kulturelle Veranstaltungen. Großschirma: Wagner, 138. 17 Vgl. die Ausstellungsgruppe „Körperbau und Organfunktion“, o. D. [um 1958] (BArch, B310/303, unpag.). 18 Bruno Gebhard: Facts about the Transparent Talking Woman, 25. September 1950 (Dittrick Medical History Center, Bruno Gebhard Papers, 7, 4–31, unpag.). 19 Bruno Gebhard: Personal Notes on my European Trip 1950 (ebd.: 7.14, B 17, Bl. 8–12). 20 Als weiteres Qualitätskriterium wurde hervorgehoben, dass sie auch nicht sächsisch spreche, sondern „deutsch“ und sogar „tadelloses Englisch“. Die Dresdner hätten dagegen ihre Gläserne Figur nur zu den „Moskauer Russen“ gebracht. Das größte Wunder. Der Spiegel, 44, 10. August 1950. Vgl. zum entlarvend-entmystifizierenden Sprachgebrauch im Spiegel Broder Carstensen 1971: Spiegel-Wörter, Spiegel-Worte. Zur Sprache eines deutschen Nachrichtenmagazins. München: Hueber.

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Dass man in der jungen Bundesrepublik überhaupt Notiz vom Deutschen HygieneMuseum nahm, war den Verantwortlichen des Gesundheits-Museums ein Dorn im Auge. Sie sahen in den Dresdner Lehrmitteln und Ausstellungen eine unmittelbare Konkurrenz. Um den Wettbewerber zu schwächen, wurde die Einrichtung im Osten der kommunistischen Propaganda bezichtigt. Dieser dürfe in der Bundesrepublik kein Forum geboten werden, schrieb Erler aus Köln an westdeutsche Messeämter und -gesellschaften, Vereine und Verbände. Als Beweis sollte ein Artikel dienen, den der Dresdner Verwaltungs- und Absatzleiter des Deutschen Hygiene-Museums, Otto Kunkel (1918– 1982), in der Dresdner Zeitung von 1955 veröffentlicht hatte und der Erlers Briefen beigefügt wurde.21 In diesem Artikel hatte Kunkel von der ersten Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums in der BRD berichtet, einer Beteiligung an der Internationalen Schau für Ernährung und Wohnkultur, die während des Oktoberfests in München stattfand. Das Museum hatte dort zahlreiche Ausstellungsgruppen und Exponate präsentiert, darunter auch eine Gläserne Frau. Seitens der Kölner Einrichtung, seiner Träger und des Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen hatte man im Vorfeld versucht, das Auftreten der Dresdner in München „aus politischen Gründen“ zu verhindern.22 Doch die Leitung des Deutschen Hygiene-Museums hatte in München wie auch in Berlin gut verhandelt: Die Ministerien für Gesundheitswesen und Außenhandel der DDR übernahmen die Ausstellungskosten (Standgebühren, Werbe- und Transportkosten) und der Münchner Veranstalter entschied sich für die Dresdner.23 Neben dem Titel des Zeitungsartikels, „Eine weitgereiste Dame“, war die Gläserne Frau aus Dresden abgebildet. Zu lesen war, dass die Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums ein wichtiger Schritt gewesen sei: „Das Bestehen unserer souveränen Republik läßt sich durch keine Propaganda […] in der Bevölkerung mehr leugnen. […] Der erste Start im Westen unserer Heimat war ein guter Erfolg, der sich nicht nur auf das nicht mehr aufzuhaltende gesamtdeutsche Gespräch, sondern auch auf unsere Verkäufe an Lehrmitteln auswirken wird.“24 Wie der Spiegel in seinem Artikel oder Erler in seinen Briefen an die potentiellen Kunden des Deutschen Hygiene-Museums in der BRD, so politisierte auch Otto Kunkel in der Dresdner Zeitung eine Gläserne Frau als Zentrum der ideologischen Abgrenzung von der Gegenseite. Beiderseits wurde diese Politisierung der Schlüsselobjekte der jeweiligen Museen, aber auch als Propaganda der jeweiligen Gegenseite verunglimpft. Dies traf beispielsweise auch Erler im Nachhinein. Ihm wurde vorgeworfen, mit dem Gläsernen Mann aus Dresden zwischen 1946 und 1949 in den westlichen Besatzungszonen 21 Vgl. etwa das Schreiben von Johannes Erler an die Bundesbahndirektion vom 25. Juni 1956 (BArch, B 142/2017, Bundesministerium für Gesundheit, Bl. 65). 22 Schreiben des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen an das Bundesministerium des Innern vom 1. März 1955 (ebd.: Bl. 144). 23 Schreiben von Otto Kunkel an die Regierung der DDR vom 23. Juli 1955 (SStA-HStAD, 13658, Nr. 55/54, unpag.). 24 Otto Kunkel: Eine weitgereiste Dame. Dresdner Zeitung, im November 1955 (BArch, B 142/2017, Bl. 67).

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für das Museum aus dem Osten geworben zu haben.25 Was zum Ende der 1940er-Jahre noch möglich war und in West und Ost gewollt wurde, nämlich die Präsentation eines Gläsernen Menschen aus Dresden in den westlichen Besatzungszonen, wurde im Rückblick der 1950er-Jahre kritikwürdig. Die Figuren, die zu Markenzeichen der beiden Museen geworden waren, galten in ihren Häusern sowie bei ihren Trägern beziehungsweise vorgesetzten Dienststellen nunmehr als brauchbare Symbole im deutsch-deutschen Wettstreit um das überlegene gesellschaftspolitische System und der damit untrennbar verbundenen Abqualifikation des jeweils anderen: im Westen als Symbol deutscher Wertarbeit, im Osten als materieller Ausdruck der eigenen deutsch-deutschen Vereinigungsbemühungen. Gläserne Figuren aus Dresden und Köln wurden in den Museumspräsentationen fast immer an zentralen Orten platziert, als jeweilige Schlüsselobjekte inszeniert und in der Öffentlichkeitsarbeit beworben.26 Für beide Seiten war diese Form der Sichtbarmachung des Körpers unverzichtbar geworden, sodass es, wenn beide Museen sich an einer Ausstellung beteiligten, vorkommen konnte, dass ihre jeweiligen Installationen Nachbarn wurden.27 Kleinere Verbesserungen oder gar „gläserne“ Neuentwicklungen der anderen Seite wurden bei solchen Begegnungen genau registriert und anschließend adaptiert oder bewusst verworfen. Dass das Gesundheits-Museum schon 1952 in Frankfurt am Main eine Gläserne Frau auf einem drehbaren Sockel zeigte, interessierte sogar das Ministerium für Staatssicherheit. Dort wurde vermutet, dass die entsprechenden Konstruktionspläne aus dem Deutschen Hygiene-Museum nach Köln gelangt seien. Nach anderthalbjährigen Ermittlungen in diesem Vorgang verhaftete die Staatssicherheit Ende 1954 drei leitende Mitarbeiter aus den Dresdner Museumswerkstätten, denen Feindtätigkeit vorgeworfen wurde.28 Die politische, wirtschaftliche und aufmerksamkeitsökonomische Konkurrenz um die „gläsernen“ Vorzeigeprodukte entfachte eine außerordentliche Dynamik. Auch aus diesem Grund wurde die „gläserne“ Produktpalette immer breiter.

25 Niederschrift einer Besprechung zwischen Wilhelm Hagen, Georg Seiring und Wilhelm Ackermann vom 28. Januar 1954 (BArch, B 310/341, unpag.). 26 Vgl. z.B. Walter Friedeberger 1955: Der gläserne Mensch. Urania Universum, 1, 37–41; Ildar Idris 1961: Ein Besuch im Deutschen Gesundheits-Museum zu Köln. Nur für die Gesundheit zahlt man nicht. Emsige Entwicklungsarbeit – ehrwürdige Tradition – aber zu wenig Mäzenatentum. Selecta. Medizin aktuell. Das Magazin für ärztliche Fortbildung, 3,3/4: 19–21. 27 Z.B. auf der Hauswirtschaftlichen Fachausstellung Richtig Wirtschaften vom 10. bis 18. Mai 1958 in Bochum: Bericht von Otto Kunkel vom 5. Juni 1958 (SStA-HStAD, 13658, Rb/1 Bd. 2a, unpag.); Arbeitsbericht 1958/59 (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland [im Folgenden LA NRW], NW 366, Nr. 16. Finanzministerium Nordrhein-Westfalen, Bl. 73). 28 Vgl. Überprüfungs- und Gruppenvorgang „Sonne“ (Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium für Staatssicherheit Bezirksverwaltung Dresden, Archivierter Operativer Vorgang bzw. Feindobjektvorgang ☺[BV Dresden AOP), 127/55].

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Diversifizierung des Angebots

Abb. 3: Rückansicht des Gläsernen Giganten in der Großen Gesundheits-Ausstellung 1951 in Köln (Historisches Archiv der Stadt Köln).

Abb. 4: Werbebroschüre für den Gläsernen Homunkulus 1951 (LA NRW, NW 945, Nr. 142).

1951 hatte das Deutsche Gesundheits-Museum in Köln für seine sogenannte Große Gesundheits-Ausstellung mit dem Motto „Ein Ja dem Leben“ einen sogenannten Gläsernen Giganten von knapp drei Metern Größe hergestellt (Abb. 3), den es 1957 auf der Deutschen Industrieausstellung in Kairo nochmals präsentierte.29 Der Gigant war auf die Darstellung des Skeletts und des Blutkreislaufs reduziert. Obwohl das Modell weniger vom anatomischen Innenleben des Menschen zeigte als frühere Gläserne Figuren, zog es durch seine schiere Größe die Besucher in den Bann. Im selben Jahr wurde außerdem ein Gläserner Homunkulus (Abb. 4) geschaffen. Er war nur 45 cm groß und bot auf der linken Seite seines Körpers freien Einblick auf Organe 29 Vgl. die vollständige Akte zur Gesundheitsausstellung im BArch, B 142/402 und LA NRW, NW 945, Nr. 142. Akademie für Staatsmedizin Nordrhein-Westfalen, unpag.; Arbeitsprogramm von 1957/58 des Deutschen Gesundheits-Museums (LA NRW: NW 366, Nr. 12, Bl. 69–79, hier Bl. 76–78).

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und Skelett, die durch drei Knöpfe auf dem Sockel zum Leuchten gebracht werden konnten. Die rechte Seite des Körpers zeigte direkt unter der durchsichtigen Kunststoffhaut das Muskelsystem, das in den bisherigen Menschenmodellen immer unsichtbar geblieben war. Im Vergleich zu den ca. 50.000 Mark, die ein Gläserner Mensch aus Ost und aus West jeweils kostete, war der Homunkulus für 300 DM erschwinglich.30 Im Gesundheits-Museum selbst war man der Meinung, sich mit diesem Artikel einen neuen Marktanteil unter den „Endverbrauchern“ erschlossen zu haben. Die Träger des Museums bemängelten hingegen den Modelltyp als finanzielle Fehlinvestition und begründeten dies gerade mit der angesprochenen Zielgruppe.31 Ihr Hauptaugenmerk galt weiterhin den Figuren als Exponate für potentielle Ausstellungen. Diese funktionierten in solchen Zeigeräumen als Schaustück oder Darstellungsgut von Körperwissen. Deshalb wurde der Gläserne Gigant für das kritisiert, was er zum Ausdruck brachte,32 und der kleine Homunkulus, weil er angeblich nicht an den Schauwert der klassischen Gläsernen Figuren heranreichte. Doch zumindest eignete sich das Kleinmodell noch als Werbemittel, denn Abb. 5: Gläserner Hund und Gläserne Tänzerin (rechter Bildhintergrund) in der Werkstatt des Deutschen Gesundheits-Museums, o. D. [um 1953] (Ullsteinbild).

30 Dieser Wert ist zu verstehen als variabler Listenpreis, auf den fallweise Rabatte in unterschiedlichen Höhen gewährt wurden. 31 Infobroschüre Gläserner Homunkulus (LA NRW, NW 945, Nr. 142, unpag.); vgl. zur kritischen Beurteilung des Homunkulus auch das Schreiben von Wilhelm Hagen an Georg Seiring, Oberbürgermeister der Stadt Köln Ernst Schwering und Ministerialdirektor Josef Hünerbein, Abteilung Öffentliches Gesundheitswesen im Sozial-, bzw. Innenministerium Nordrhein-Westfalen vom 19. Februar 1954 (BArch, B 310/341, unpag.). 32 Sowohl in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als auch in der Süddeutschen Zeitung wurde der Gigant ablehnend als ambivalentes Schlüsselobjekt der Apotheose des Normmenschen bewertet (Vilma Sturm: Der geheimnislose Gott. Ein Bericht von der Kölner Gesundheitsausstellung. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Juni 1951, 4; Kr. : Panopticum humanum oder der Gläserne Mensch. Süddeutsche Zeitung, 30. Juni/1. Juli 1951, 5).

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beispielsweise führte der 1957 erfolgte Verkauf eines Homunkulus an das brasilianische Gesundheitsministerium zur Bestellung eines „richtigen Gläsernen Menschen“.33 Auch die Produktion von zwei weiteren Figurentypen in der Mitte der 1950er-Jahre folgte offensichtlich der Strategie, neue Attraktionsobjekte zu schaffen. Beide demonstrieren die Abkehr vom Exponat im ursprünglichen Schauzusammenhang einer Gesundheitsausstellung. Bei der Entwicklung und Fertigung der sogenannten Gläsernen Tänzerin wurde auf die Darstellung von Nerven, Arterien, Venen und Organen verzichtet. Stattdessen wurde eine weibliche Figur in Tanzpose zur Schau gestellt. Und schließlich fertigte man in Köln in vergleichbarer anatomischer Reduktion noch mindestens zwei Figuren eines Gläsernen Hundes (Abb. 5). Die Produktion des zweiten Gläsernen Hundes in Köln kann als Reaktion auf die Produktion Gläserner Tiere in Dresden verstanden werden. Die Kölner hofften mit dem Hund das Gläserne Pferd aus Dresden auszustechen, das – wie der Kölner „Hund“ – ebenfalls auf dem landwirtschaftlichen Hauptfest 1957 in Stuttgart-Bad Cannstatt präsentiert wurde.34 Das Vorhaben, mit einem Gläsernen Schwein noch ein weiteres Tiermodell im Deutschen Gesundheits-Museum zu entwickeln, wie es der Deutsche Städtetag im Januar 1961 vorschlug, scheiterte im Frühjahr desselben Jahres. Zum einen konnte die Gesundheitsabteilung des Bundesministeriums des Innern keine zusätzlichen finanziellen Mittel beschaffen. Zum anderen sprach man sich seitens des Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen entschieden gegen ein solches Modell aus, weil man den möglichen Eindruck vermeiden wollte, „sowjetzonale Werbemethoden“ nachzuahmen.35 Der Systemkonflikt vereitelte hier die Fertigung neuer Figurentypen genauso wie die am Gesundheits-Museum gewählte Strategie, die Gläsernen Figuren als Schauobjekte statt als Lehrmittel oder Darstellungsgut weiterzuentwickeln. Am Deutschen HygieneMuseum war zwar die Entwicklung von Nutztiermodellen schon 1950 vom Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen der DDR angeregt worden.36 Als veterinärmedizinisches Lehrmittel sollten sie die landwirtschaftliche Produktivkraft des Sozialismus fördern. Doch die Neuentwicklung gestaltete sich schwierig. Erst 1956 konnte ein Gläsernes Pferd (Abb. 6) präsentiert werden.

33 Vgl. den Schriftverkehr zur Lieferung eines Gläsernen Homunkulus an Brasilien, Juni 1957 bis September 1958 (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes [im Folgenden PA AA], B 94/131. Wissenschaftliche Ausstellungen im Ausland, unpag.). 34 Arbeitsprogramm des Deutschen Gesundheits-Museums 1957/58 (LA NRW, NW 366, Nr. 12, Bl. 66–79, hier Bl. 72). 35 Vgl. Deutscher Städtetag an den Bundesminister des Innern, 18. Januar 1961; Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen an den Bundesminister des Innern, 28. März 1961; Bundesminister des Innern an den Deutschen Städtetag, 7. April 1961 (BArch B 142/2018, unpag.). 36 Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen an das Deutsche Hygiene-Museum vom 2. Juni 1950 (SStA-HStAD, 13658, Nr. 50/15, unpag.).

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Abb. 6: Das Gläserne Pferd aus dem Deutschen Hygiene-Museum um 1956 (Dittrick Medical History Center, Bruno Gebhard Photography Collection, GF-33).

Abb. 7: Die Gläserne Kuh aus dem Deutschen Hygiene-Museum, wie sie zwischen 1956 und 1959 gefertigt wurde (Dittrick Medical History Center, Bruno Gebhard Photography Collection, GF-33).

Trotz der Verzögerung zog man am Museum in Dresden aus der Ausstellungsbeteiligung an der Industriemesse in Neu-Delhi 1955/56 den Schluss, einen weiteren Tiermodelltyp herzustellen. Egon Damme (1906–1977), der damalige Leiter der Produktionsabteilung, nahm mit Bezug auf die nächste Ausstellungsbeteiligung in Indien im Jahr 1959 an, ein Gläserner Mann werde „nicht mehr ziehen“37 und eine Gläserne Frau sich aus religiösen Gründen nicht verkaufen lassen. Aber Gläserne Tiere wären etwas ganz Neues. Gerade eine Gläserne Kuh (Abb. 7) sei für Indien besonders geeignet. In Dammes Überlegungen stand der Attraktionseffekt der Figuren als Schaustück an erster und ihr Verkaufswert erst an zweiter Stelle. Doch beides war bedroht, falls die Exponate nicht den Erwartun37 Schreiben von Egon Damme an Walter Axel Friedeberger vom 1. Januar 1956 (SStA-HStAD, 13658, Rb/2 Bd. 1, unpag.).

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gen des Gastlands entsprachen oder keinen Aufmerksamkeits-, sprich Neuigkeitswert mehr beanspruchen konnten. Im Unterschied zur Tänzerin und zum Hund aus Köln wurden im Gläsernen Pferd und der Kuh allerdings mehr anatomische Details visualisiert. In Dresden hielt man sich somit stärker an die gemeinsame Tradition der Sichtbarmachung des Körperinneren als in Köln.

Außenpolitische Mobilisierung Wie das Beispiel der Ausstellungsbeteiligungen des Deutsche Hygiene-Museums in Indien zeigt, konkurrierten die beiden Museen auch um Präsentationsmöglichkeiten und Märkte im Ausland. Nachdem die Aufmerksamkeit der jeweiligen Blockpartner füreinander als einigermaßen sichergestellt galt, ging es hier vor allem um die Gewinnung der neuen, blockfreien Nationalstaaten. Georg Seiring wandte sich beispielsweise 1956 um Hilfe an das Auswärtige Amt, um sein Museum auf internationaler Bühne darstellen zu können und gleichzeitig die Dresdner zu verdrängen. In seinen Bemühungen verwies er immer wieder auf den Gläsernen Menschen als erfolgreiches Ausstellungs- und Exportgut der DDR.38 Es lässt sich bezweifeln, ob er damit erfolgreich war. Denn in den Akten finden sich zumeist Hinweise auf logistische und finanzielle Unterstützung beim Transport von Gläsernen Figuren, aber nichts zu einer etwaigen Instrumentalisierung der Modelle seitens außenpolitischer Instanzen der bundesrepublikanischen Regierung.39 Erst für eine Tournee von 28 Ausstellungslastwagen durch Afrika kam die Initiative vom Auswärtigen Amt, einen Gläsernen Menschen zu präsentieren. Diese Idee scheiterte jedoch schlichtweg an den notwendigen Bedingungen, um ein solches Exponat sicher zu befördern.40 Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden wurde im Gegensatz zum bundesrepublikanischen Konkurrenten enger in die offizielle Außenpolitik eingebunden. Im DDRMinisterium für Auswärtige Angelegenheiten wurde 1960 eine Kommission für die Planung, Koordinierung und Kontrolle von Ausstellungen im gesamten Ausland gegründet.41 Diese sollten nur noch unter Leitung des Ministeriums organisiert werden und die DDR repräsentieren. Die Exponate wurden zwar von den einzelnen Einrichtungen, Gesellschaften oder Betrieben produziert und bereitgestellt. Fachlich wurden sie aber zuerst von den jeweiligen Ministerien abgesegnet, von der Deutschen Werbe- und Anzei38 Schreiben von Georg Seiring ans Auswärtige Amt, Kulturabteilung vom 11. Juni 1956 (PA AA, B 94/131). 39 Vgl. etwa Schreiben des Generalkonsuls von Rangun (Myanmar) ans Auswärtige Amt vom 23. Februar 1960 (ebd.: B 92/140. Kirchliche Beziehungen zum Ausland, unpag.). 40 Vgl. die Planungen und den Schriftwechsel zum „Afrikawagen“ des Deutschen Gesundheits-Museums 1961–1963 (BArch, B 310/126, unpag.). 41 Gründung einer Ständigen Kommission für Auslandsausstellungen als Realisierung eines Beschlusses des Sekretariats des ZK vom 20. Juni 1960 (PA AA, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, LS-A 393, unpag.).

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gengesellschaft unter Aufsicht der Abteilung Agitation des Zentralkomitees der SED gestaltet und in Form von DDR-Kollektivausstellungen arrangiert.42 Unter diesem engmaschigen Kontrollsystem kam das Deutsche Hygiene-Museum der ihm zugewiesenen außenpolitischen Rolle größtenteils nach. In Großbritannien beispielsweise verfügte es schon länger über gute Kontakte. Bis 1965 hatte es an das Wachsfigurenkabinett Madame Tussauds in Blackpool bereits insgesamt drei Gläserne Figuren verkauft (zuvor hatte auch das Deutsche Gesundheits-Museum eigene Ausstellungsobjekte dorthin exportiert).43 Über die seit 1959 bestehende Städtepartnerschaft zwischen Dresden und Coventry ergab sich 1970 die Möglichkeit, die Vorzeigeausstellung Der Mensch in seiner Welt im Westen zu zeigen. In seiner Eröffnungsrede beschwerte sich der damalige Stellvertretende Direktor Otto Kunkel über den augenscheinlichen Skandal, dass der DDR im Unterschied zur BRD immer noch nicht die Mitgliedschaft in der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zugestanden worden war. Er sah in den auf der Sonderausstellung thematisierten „Informationen und Anregungen für eine gesunde Lebensweise“ den Beitrag des Deutschen Hygiene-Museums „für ein Leben in Glück und Frieden in der ganzen Welt“.44 In seiner Einschätzung zeigte er sich auf dieser ideologisch-politischen Ebene zufrieden: Man habe erreicht, dass die Besucher erkannt hätten, welche großen Anstrengungen der sozialistische Staat auf dem Gebiet des Gesundheitswesens unternehme. Was die Ausstellungspräsentation selbst betraf, fiel sein Urteil selbstkritisch aus: Die Texte und Kommentare der Gläsernen Frau seien viel zu schwierig für Schüler der Unterstufe gewesen und hätten damit ihre Hauptbesuchergruppe verfehlt.45

Der Zwiespalt der Gläsernen Figuren, 1967–1989 Im Zuge der außen- und handelspolitischen Zentralisierung übernahmen die Außenhandelsfirmen der DDR die Federführung beim Verkauf von in Dresden produzierten Schaustücken und Lehrmitteln in konvertibler Währung.46 Doch die Gläsernen Figuren blieben häufig außen vor, beispielsweise wenn die Dresdner Einrichtung diese Unterordnung umging und sich wie in der BRD einen exklusiven Alleinvertreter für die 42 Ordnung über die Arbeit mit nichtkommerziellen Auslandsausstellungen, 1963 (PA AA, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, A/15803, Bl. 14–19). 43 Otto Kunkels Bericht von der 1. Lehrmittelausstellung der DDR in London 1964 vom 30. Januar 1964 (SStA-HStAD, 13658, Rb/1 Bd. 2a, unpag.). 44 Deutsches Hygiene-Museum: Tondokumente, 1970, min. 00:00–17:59, hier min. 13:58–14:12 (ebd.: TD Nr. 8). Die Ausstellung wurde von 1968 bis 1982 in mehreren Staaten gezeigt und dem jeweiligen Ausstellungsland angepasst. Vgl. die Reiseberichte zu den Ausstellungen des Deutschen HygieneMuseums von 1976 bis 1987 (ebd.: Rb/1 Bd. 4b). 45 Otto Kunkels Reisebericht zur Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums Der Mensch in seiner Welt in England, 1970, o. D. [Ende 1970] (ebd.: Bd. 3, unpag.). 46 Vgl. etwa die Ausstellung Lehrmittel aus der DDR in Prag vom 3. bis 14. Mai 1966 (ebd.).

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eigenen Produkte leisten konnte.47 Daran änderte sich auch nichts, nachdem die Produktionsstätten 1967 zum nationalen „Institut für anatomisch-biologische Unterrichtsmittel und Anschauungsmaterialien“ und damit zum Leitbetrieb für diese Art von Modellproduktion auf dem Territorium der DDR erhoben wurden. Im selben Jahr entstand in Dresden noch ein weiteres Institut: das Institut für Gesundheitserziehung. Es sollte für den „wissenschaftlichen Vorlauf “ der gesundheitserzieherischen Objekt- und Medienentwicklung sorgen.48 In der BRD wurde zeitgleich das Gesundheits-Museum zur Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung umstrukturiert. Der Wandel zu einer bundesunmittelbaren Behörde führte in Köln zur Bevorzugung der Gesundheitserziehung gegenüber der Gesundheitsaufklärung und damit zu einer Beschränkung auf Objektentwicklungs- und Auftragsarbeiten.49 Die Produktionswerkstätten wurden 1974 ausgelagert und im Jahr darauf an die Coburger Lehrmittelanstalt verkauft.50 Dazu kam, dass im Westen der kontinuierliche Wandel der Medienlandschaft gegen die Weiterverwendung von Gläsernen Figuren als Ausstellungsexponate sprach.51 Zusammen mit dem Medium der Ausstellung selbst verloren die Gläsernen Figuren ihre anfangs zentrale Rolle als Aushängeschild der Kölner Institution, obwohl Herstellung, Nutzung und Vertrieb der Modelle noch mindestens bis 1985 fortgesetzt wurden.52 Auch in der DDR gab es kritische Stimmen, die eine stärker verhaltenspräventiv orientierte Gesundheitserziehung verlangten und die Wirksamkeit von Gläsernen Figuren hierfür anzweifelten.53 In Köln führte diese Diskussion in den 1960er-Jahren zur modulhaften Gestaltung 47 Über den Alleinvertreter in der BRD konnte das Deutsche Hygiene-Museum zum einen auch dann mit den eigenen Produkten auf Messen und Ausstellungen im Westen präsent sein, wenn ihm eine Teilnahme versagt wurde. Zum anderen konnten so die eigenen Produkte innerhalb des Marktes der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verkauft werden. 1967 übernahm Erler mit seiner Lehrmittelfirma Erler-Zimmer diese Aufgabe, vgl. Bericht Kuntzsch von der 9. DIDACTA in Hannover, 25. Juni 1967 (ebd.: Rb/2 Bd. 3, unpag.). 48 Vgl. Jochen Neumann u.a. (Hg.) 1987: 75 Jahre Deutsches Hygiene-Museum. Ein historischer Abriß, Dresden: Deutsches Hygiene-Museum in der DDR, 34–37. 49 Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hg.) 1967: Vom deutschen Gesundheits-Museum zur Bundeszentrale. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. 50 E-Mail von Hans Sommer, Inhaber der Coburger Lehrmittelanstalt. Medien für die Gesundheitserziehung vom 13. Juli 2012 an den Verfasser. 51 Zum Medienwandel der 1950er- und 1960er-Jahre, aus dem das Fernsehen als neues Massenmedium hervorging, vgl. u.a. Axel Schildt und Detlef Siegfried 2009: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart. München: Hanser, 197–203. 52 Das Museum Mensch und Natur im Schloss Nymphenburg in München erwarb 1985 eine Gläserne Frau für weniger als 30.000 DM von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, E-Mail des Museumsleiters vom 22. November 2013 an den Verfasser. 53 Rolf Thränhardt: Grundkonzeption unserer zukünftigen Arbeit, 25. Januar 1960 (SStA-HStAD, 13658, Nr. 60/26, unpag.). Thränhardt war von 1954 bis 1960 Leiter der Abteilung Wissenschaft am Hygiene-Museum. Zur Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vgl. Wolfgang Fritsche: Gedanken zur Umwandlung des DGM. Zentralinstitut für Gesundheitserziehung e. V. in eine Bundeszentrale für Gesundheitserziehung, 15. Mai 1965 (BArch, B 310/114, hier 17.)

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von Kleinausstellungen, in Dresden ging man rund ein Jahrzehnt später dazu über, die meisten Wanderausstellungen nur noch in Werkskantinen oder den „Traditionskabinetten“ von Betrieben zu präsentieren. Anfang der 1980er-Jahre wurde schließlich dieses Format ganz eingestellt.54 Gläserne Figuren tourten somit immer seltener durch die Lande. Denn für die in beiden Ländern fortgeführten, kleineren Ausstellungen waren sie zumeist zu sperrig. Damit verloren die Körpermodelle eine wichtige Bühne. Für Beteiligungen an Auslandsausstellungen sowie an der kleinen Dauerausstellung in Köln und der bedeutend größeren und ab dem Ende der 1970er-Jahre regelmäßig umgestalteten in Dresden blieben die Figuren aber noch unverzichtbar.55 Es wurden sogar neue Schauplätze für ihre Demonstration gesucht, die mit den neuen Massenmedien kompatibel waren. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung beispielsweise stellte 1976 dem Zweiten Deutschen Fernsehen einen Gläsernen Menschen als Dauerleihgabe zur Verfügung, der in der Sendung „Gesundheitsmagazin – Praxis“ zum Einsatz kam.56 Im Unterschied zur Kölner Einrichtung, die nicht mehr über eigene Werkstätten verfügte, hielt sich in Dresden ihre Bedeutung als Schauobjekt bis zum Ende der DDR. Einer Auflistung vom September 1989 lässt sich entnehmen, dass in den 1970er-Jahren so viele Gläserne Figuren in Dresden produziert und ins Ausland verkauft werden konnten wie nie zuvor oder danach. Nur eine Gläserne Figur wurde verschenkt: Bezeichnenderweise ging sie 1974 aus Anlass der endlich gewährten Mitgliedschaft der WHO nach Genf.57 Der Export in alle Welt brachte Beschädigungen der Modelle mit sich, die behoben werden mussten. Gebrauchs- und Alterungsspuren sollten unsichtbar gemacht werden. Da der verwendete Kunststoff sich mit den Jahren verfärbte und schrumpfte, mussten die transparente Oberfläche sowie die eingefärbten Organreplikationen nach einer gewissen Zeit ersetzt werden. Ersatzteile wurden produziert, ins Ausland geschickt oder mit auf Dienstreisen genommen. Auch wurde versucht, den ursprünglichen Kunststoff Cellon durch einheimische Materialien zu ersetzen. Das schlug fehl, sodass man auf Rohstoffimporte aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet angewiesen blieb. Weiterentwicklungen gab es nicht nur in Bezug auf das Material der Objekte, sondern auch auf der Ebene ihrer Gestaltung und Präsentation: Bei der Neugestaltung wurde darauf geachtet, die Figuren nach zeitgemäßen (Durchschnitts-)Körpermaßen zu modellieren.58 Die Wartungsklappen wurden kleiner und weniger sichtbar, die eingesetzte 54 Ab 1982 gab es keine Wanderausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums mehr, vgl. Ulrike Budig 1994: Formen der Ausstellung am Beispiel des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden. Diplomarbeit, Leipzig: Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur, 43–50. 55 Wichtige Hinweise für die Besucher der Bundeszentrale, o. D. [um 1971] (BArch, B 310/239, unpag.). 56 Vgl. Projekte 1976 (ebd.: B 310/194, unpag.). 57 Eigene Berechnung nach: Gläserne Figuren. Land-Empfänger, Stand vom 13. September 1989 (SStA-HStAD, 13658, Nr. K 50/IfU 22, unpag.). 58 Beim Kauf der ersten Gläsernen Frau hob Bruno Gebhard hervor, dass die Maße dem Durchschnitt US-amerikanischer Frauen annähernd entsprächen. Vgl. Bruno Gebhard: Facts about the Transparent Talking Woman (Dittrick Medical History Center, BGP, 7, 4–31, unpag.). Das Gesundheits-Mu-

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Elektrik (Federkontakte) haltbarer und die Klebestellen des Kunststoffes reduziert. Um den Besuchern zu ermöglichen, das Aufleuchten der Organe per Knopfdruck selbst zu steuern, wurde die Form des Sockels verändert und robuster gebaut.59 Darüber hinaus wurden die Vorträge, die synchron zur Beleuchtung der Organe vom Band abgespielt wurden, zielgruppenspezifisch in verschiedenen Versionen und Sprachen abgefasst. Ein Vergleich der Sprechtexte von 1972/73 in Ost und West dokumentiert unterschiedliche Popularisierungsstile und Körperkonzepte. Die Schilderung beginnt jeweils mit dem Gehirn und endet bei den primären Geschlechtsorganen. Doch bei den Gläsernen Frauen aus Dresden erweist sich die Wortwahl weniger von Metaphern aus der Alltagswelt geprägt als bei ihren Schwestern aus Köln. Im Westen dominieren technizistische Vergleiche. So werden physiologische Vorgänge mit Kennziffern aus der Fahrzeugwelt beschrieben. Beispielsweise „tankt“ das Blut neuen Sauerstoff in der Lunge mit ihren „90 Quadratmeter[n] Atmungsfläche auf kleinstem Raum“. Weiter heißt es: „Mit 70 automatisch ausgelösten Doppelschlägen pumpt das Herz pro Minute 5 Liter Blut. Allein wenn der Körper nur ruht, schon pro Tag so viel, wie ein Tanklastzug faßt: 7.200 Liter.“60 In Dresden pumpt hingegen „die linke Herzhälfte […] das aus den Lungen kommende sauerstoffreiche Blut in den Körper, während die rechte das kohlendioxidhaltige, aus dem Körper stammende Blut zum Gasaustausch in die Lungen befördert.“61 Verweist die Wahl der sprachlichen Mittel auf je eigene Popularisierungsstile und angestrebte Zielgruppen, so belegen die Erklärungen des Gehirns auch Unterschiede der zugrunde gelegten Körperbilder. An der Dresdner Gläsernen Frau wird das menschliche Gehirn als der höchstentwickelte Teil des Zentralnervensystems und der menschlichen Entwicklung im Allgemeinen beschrieben. Das endokrine System wird dabei nur im Zusammenhang mit der Funktion der Schilddrüse kurz gestreift. Im Sprechtext der Gläsernen Frau aus Köln erscheint das Gehirn als komplexe Rechenzentrale mit unterschiedlichen Rückkopplungswegen und Steuerungssystemen. Während in Dresden der Körper als eine zentralgesteuerte Reiz-Reflex-Maschine entworfen wurde, bringt die Beschreibung der Kölner Figuren einen Begriff des Körpers als Verschränkung informationsverarbeitender und selbststeuernder Systeme zum Ausdruck. Selbst wenn man nicht so weit gehen möchte, die jeweiligen Körperbilder mit den unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Systemen zu parallelisieren, lässt sich die Langzeitwirkung der Rezepseum gestaltete 1957 seine Gläserne Frau schlanker und verwendete eine neue Kunststoffmischung für Organe und transparente Haut, vgl. hierzu das Arbeitsprogramm des Deutschen GesundheitsMuseums 1957/58 (LA NRW, NW 366, Nr. 12, Bl. 66–79, hier 70–73). 59 Bedienelemente für die Steuerung der Gläsernen Menschen hatte das Deutsche Hygiene-Museum schon früher eingeführt und vereinzelt für „gläserne“ Ausstellungsexponate gebraucht (vgl. Abb. 2), vgl. Kreutel: Teilnahme an der Internationalen Messe vom 18. bis 28. Mai 1962 in Budapest, o. D. (SStA-HStAD, 13658, Rb/2 Bd. 2, unpag.). 60 Die Gläserne Frau. Sprechtext Nr. II. 1972 (BArch, B 310/239, unpag.). 61 Deutsches Hygiene-Museum in der Deutschen Demokratischen Republik und H. Becker, o. J. [1973]: Gläserne Figuren, Dresden: o. V., unpag. (Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, 2010/584).

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tion der Pawlow’schen Lehre von der „höheren Nerventätigkeit“ in der DDR nicht von der Hand weisen.62

Die Potentiale und Grenzen der Gläsernen Figuren als Strategien der Sichtbarmachung des Körperinneren Der Erfolg der Gläsernen Figuren ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Modelle in unterschiedlichen Kontexten Bedeutung tragen konnten. Im Systemwettstreit zwischen Ost und West wurden die Figuren aus Gründen der Abgrenzung gegenüber der Konkurrenz kontinuierlich erneuert, vermehrt und ausdifferenziert – im Fall des Gläsernen Schweines 1961 aber auch verhindert. Sie erwiesen sich dabei als robust und flexibel genug, um mitunter konkurrierende Akteure aus Gesundheitsaufklärung, Kulturund Außenpolitik, dem Messe- und Ausstellungswesen sowie der Wissenschaft für sich einzunehmen und zu mobilisieren. Alle sahen offensichtlich in den Figuren ihre jeweiligen Absichten materialisiert.63 In ihrem Bedeutungskern waren die Gläsernen Figuren transparente Schaustücke und Darstellungsgüter im Ausstellungsraum, mit denen bestimmte anatomische Erkenntnisse veranschaulicht, andere verdunkelt wurden. Jede Visualisierung von Wissen macht sicht- und unsichtbar zugleich.64 Die Sprechtexte und Erklärungen folgten freilich ab den 1970er-Jahren je eigenen Körpervorstellungen. In einem besonderen Maß ermöglichten die Figuren, eine vermeintlich wahrheitsnahe und in einem Ganzkörpermodell zusammengefügte Tradition der Visualisierung des Körperinneren zu reifizieren. Dabei erwiesen sie sich als transformierbar und den jeweiligen Kundenwünschen weitgehend anpassbar. Wenn ihre Repräsentationsleistung aufgrund der Materialalterung nachließ, konnten sie repariert, materiell verbessert oder neugestaltet werden. Veränderliche Sprechtexte und ihre variable Präsentationsform verhalfen ihnen zu jeweils spezifischen Erscheinungsbildern und somit dazu, unterschiedliche ästhetische Strömungen und Haltungen der Zeit aufzugreifen und zu symbolisieren. Als solche Sinnbilder entstanden in Dresden Modelle landwirtschaftlicher Nutztiere, in Köln dagegen das liebste Haustier 62 Zum Pawlowismus in der DDR vgl. Anna-Sabine Ernst 1997: „Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus“. Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945–1961. Münster/New York: Waxmann, 308–332; zu seiner Popularisierung durch das Deutschen Hygiene-Museum vgl. Rolf Thränhardt 1959: Geheimnisse des Lebens. Eine Einführung in die Tätigkeit des Zentralnervensystems. Berlin: VEB Verlag Volk und Gesundheit. 63 Sie waren in diesem Sinne Grenzobjekte, weil sie verschiedene Interessen in sich vereinen konnten, vgl. zum Konzept: Susan Leigh Star und James R. Griesemer 1989: Institutional Ecology, „Translations“ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907–1939. Social Studies of Science, 19, 387–420. 64 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: Sichtbar Machen. Visualisierung in den Naturwissenschaften. In: Klaus Sachs-Hombach 2009 (Hg.): Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 127–145.

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der Deutschen. Zudem kam es dort, in der Figur einer Tänzerin oder auch durch die Nachbildung weiblicher Brustdrüsen, zur stärkeren Betonung spezifisch weiblicher Körperformen. Die Gläsernen Figuren aus Dresden blieben daneben auch Lehrmittel und Studienobjekt. So gehört beispielsweise eine trächtige Kuh aus Dresden noch heute zum Sammlungsbestand der Freien Universität. Sie sollte Westberliner Studierenden der Veterinärmedizin ab 1967 zum Verständnis der Anatomie einer Kuh verhelfen.65 Die Modelle wurden als aufmerksamkeitssteigernde Schlüsselobjekte inszeniert, die politisch unterschiedlich gerahmt werden konnten. Im Ausland verkörperten sie traditionelle deutsche Handwerkskunst und im Ost-West-Konflikt dienten sie dazu, die Überlegenheit der jeweiligen Gesellschaftsordnung der beiden deutschen Staaten zu demonstrieren. Auf dem Weltmarkt waren sie schließlich Handelsgüter, die den übergeordneten Verwaltungsbeamten und den Verantwortlichen der beiden Museen wichtige Einnahmen versprachen. Ab dem Ende der 1960er-Jahre büßten die Gläsernen Figuren in Ost und West diese Bedeutungen auf unterschiedliche Weise ein. Nach Einschätzung der Entscheidungsträger in Köln und Dresden nahm ihr Wert als Schaustück und Darstellungsgut kontinuierlich ab, in der BRD früher und umfassender als in der DDR. Denn dort blieb man ungeachtet des auf beiden Seiten stattfindenden Medienwandels und trotz des Schwerpunkts auf der Gesundheitserziehung enger an den ursprünglichen Schauzusammenhang in Gesundheitsausstellungen gebunden. Dies hatte auch damit zu tun, dass sich die finanzielle Abhängigkeit beider Einrichtungen von den Figuren diametral verkehrte. Musste das Kölner Haus nur bis 1967 seine Mittel zu einem Großteil aus dem Verkauf der Gläsernen Figuren erwirtschaften, so wurde die Dresdner Einrichtung gleichzeitig noch stärker verpflichtet, Deviseneinnahmen zu generieren.66 Noch Mitte der 1980erJahre wurde in Dresden eine Gläserne Zelle produziert, obwohl Aufwand und Kosten wegen der notwendigen Rohstoffimporte hoch blieben. Die Geschichte der Gläsernen Figuren aus Köln und Dresden zeigt auch Grenzen der Mobilisierbarkeit dieser Körpermodelle und Exponate auf. Ihre Herstellung blieb aufwendig und kompliziert, genauso wie ihr Transport und ihre Inszenierung. Für Neuentwicklungen mussten Wissen, Techniken und Materialien beschafft und neu kombiniert werden.67 Von „Auslandstourneen“ kamen die Figuren mitunter beschädigt oder verschlissen zurück; und nicht immer fanden sie Anklang bei den Besuchern. Ihr Wert 65 Gläserne Figuren, Stand vom 13. September 1989 (SStA-HStAD, 13658, Nr. K 50/IfU 22, unpag.). Das Modell der Kuh ist in der Datenbank der Universitätssammlungen in Deutschland einsehbar: http://www.universitaetssammlungen.de/modell/1058, letzter Zugriff am 13. Februar 2014. 66 Vgl. Beschluss des Ministerium für Gesundheitswesen der DDR vom 6. September 1965 (BArch, DQ 1/6612, unpag.). 67 Zum Modell des Ressourcenensembles an Beispielen aus der Wissenschaftspopularisierung im 20. Jahrhundert vgl. Sybilla Nikolow und Arne Schirrmacher (Hg.) 2007: Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M./ New York: Campus.

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verfiel jedoch schon, wenn sie unverändert und in zu kurzen Abständen am selben Ort präsentiert wurden. Auch die begleitenden Sprechtexte liefen stets Gefahr, das Publikum zu verfehlen, so wie 1970 aus Coventry berichtet. Die gegenseitige Konkurrenz senkte Verkaufswert und Verkaufschancen der Gläsernen Figuren. Ihre Geschichte kam damit aber noch nicht an ihr Ende. Geht man heute durch die Dauerausstellung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden, trifft man schon im ersten Raum auf zwei Exponate, die als Schlüsselobjekte dieser historischen Einführung ins Abenteuer Mensch fungieren: eine Gläserne Frau jüngeren Datums und eine aus der Vorkriegsproduktion. In beiden stehen sich nun ihr historischer und aktueller Verwendungszusammenhang im Ausstellungsraum gegenüber. Auf der einen Seite ist das in Anlehnung an anatomische Lehrmodelle geschaffene Schaustück des Körperinneren und -ganzen platziert, das im Visible Human Project seine Weiterentwicklung gefunden hat. Auf der anderen Seite ist das sichtlich gealterte, von Gebrauchsspuren gezeichnete historische Dokument aufgebaut. Dieses soll uns daran erinnern, dass sich neben dem Körperwissen als solchem auch die Art und Weise gewandelt hat, wie dieses Expertenwissen in der Öffentlichkeit ausgebreitet und vermittelt wird.68

68 Vgl. zur Umdeutung der Figuren nach den politischen Umbrüchen 1989/1990 den Beitrag von Lioba Thaut und die Einleitung sowie zum heutigen Sammlungskonzept des Deutschen Hygiene-Museum Susanne Roeßiger in diesem Band. Eine Abbildung des historischen Objektes befindet sich auf dem Cover des Buches.

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„Dingliche Sendboten in alle Welt“. Die anatomischen Lehrmodelle des Deutschen Hygiene-Museums

In der Denkschrift zur Eröffnung des Museumsgebäudes, die anlässlich der Wiederholung der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1931 erschien, werden die in den Werkstätten des Deutschen Hygiene-Museums hergestellten verschiedenen Lehrmaterialien als „dingliche Sendboten“, die „in alle Welt“ ausstrahlen, bezeichnet.1 Ein Lehrmitteltyp im Besonderen repräsentierte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das weltweite Ansehen des Deutschen Hygiene-Museums: das anatomische Modell. Seine Entwicklung wird hier anhand der zwischen 1912 und 1988 veröffentlichten Versandkataloge sowie einer internen Sortimentsanalyse von 1981 rekonstruiert.2 Das Renommee des Museums im 20. Jahrhundert wurde bisher mit seinen Sonderund Wanderausstellungen zur Gesundheitsaufklärung und vor allem mit den sogenannten Gläsernen Figuren assoziiert, die das Museum 1930 erstmals präsentierte.3 Wie sich das Museum auch durch andere, gleichfalls in den eigenen Werkstätten hergestellten Lehrmittel eine über die Grenzen Sachsens hinaus wiedererkennbare Identität aufgebaut hat, wurde in den letzten Jahren an den Wachsmoulagen, Aufklärungsfilmen und Licht-

1 Egon Erich Albrecht (zusammengefasst und bearbeitet) 1931: Das Deutsche Hygiene-Museum und sein Internationaler Gesundheitsdienst. Eine Denkschrift. Dresden, 35. 2 Ich stütze mich dabei auf folgende Herausgaben, die in der Bibliothek des Deutschen HygieneMuseums Dresden zu finden sind: Pathoplastisches Institut Dresden-N. (Hg.) 1912: Preisverzeichnis für Moulagen. Dresden; Deutsches Hygiene-Museum, Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf und Deutsche Hochbildgesellschaft (Hg.) 1926: Der hygienische Lehrbedarf. Dresden: Deutsches Hygiene-Museum; Deutsches Hygiene-Museum (Hg.) 1955: Exportkatalog des Zentralinstituts für medizinische Aufklärung. Dresden: Deutsches Hygiene-Museum; Deutsches Hygiene-Museum der DDR (Hg.) 1988: Katalog Deutsches Hygiene-Museum der DDR. Dresden. Die übrigen Kataloge befinden sich im Handapparat der Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums [im Folgenden S-DHMD]: Deutsches Hygiene-Museum (Hg.) o. J. [1938/39]: Katalog Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf. Dresden; Deutsches Hygiene-Museum 1950: Allgemeine Übersicht Nr. 51 über Lehrund Unterrichtsmaterial. Dresden, sowie die Sortimentsanalyse von Ursula Keßler aus dem Jahr 1981, ihre Qualifikationsarbeit und sämtliche verwendete Dokumente wie Protokolle und Stellungnahmen. Zur leichteren Unterscheidung werden die Kataloge im Folgenden abweichend mit Titel und Jahr abgekürzt. 3 Vgl. zur Bedeutung der Sonder- und Wanderausstellungen den Beitrag von Thomas Steller sowie zur Herstellung und zum Verkauf der Gläsernen Figuren nach dem Zweiten Weltkrieg den Beitrag von Christian Sammer in diesem Band.

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bildreihen eindrücklich gezeigt.4 Auch für die Spalteholz-Präparate und Plakate wurden erste Grundlagen für weiterführende Forschung gelegt.5 Diese didaktischen Hilfsmittel waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgebliche „Sendboten“ des Museums. In der zweiten Jahrhunderthälfte dominierten hingegen die anatomischen Modelle, die erst in den 1930er-Jahren zum Repertoire der Lehrmittel des Deutschen HygieneMuseums hinzukamen und ab den 1950er-Jahren zum international bekannten Label avancierten. Diese Objektgruppe stand bisher kaum im wissenschaftlichen Fokus, während die Gläsernen Figuren, die den anatomischen Modellen in mancher Hinsicht zuzurechnen sind, als Forschungsgegenstand schon mehrfach Beachtung fanden.6 In Bezug auf seine Herstellung und Verwendung ist das Anschauungsmodell vom Lehrmittelmodell zu unterscheiden.7 Beide sind der plastischen Anatomie zuzuordnen, doch nicht nur ist ihr Erscheinungsbild sehr verschieden, ihre Differenz spiegelt sich auch in unterschiedlichen Methoden und Adressaten. Die Anschauungsmittel waren eher künstlerischen Intentionen verpflichtet. Sie dienten als Ausstellungsmodelle vorwiegend der effektvollen und lebendigen Vermittlung anatomischer Gegebenheiten. Um im Ausstellungsraum wahrgenommen zu werden und optisch bestehen zu können, wurden die Modelle auffällig schematisiert und für die jeweilige Vorführung angepasst. Häufig waren es Einzelanfertigungen, die mit den Ausstellungen auch auf Wanderschaft gingen. Die vornehmlich für den Verkauf hergestellten anatomischen Lehrmittel wurden dagegen in der medizinischen Anatomielehre eingesetzt. Deshalb folgten sie eher den natürlichen Maßstäben und der Erscheinung des Naturobjekts, wenngleich auch hier in Abhängigkeit vom Curriculum unterschiedlich gewichtet wurde. Diese anatomischen Lehrmittel entsprachen insoweit Serienstandards, als nicht nur anatomische Fakten 4 Vgl. Johanna Lang, Sandra Mühlenberend und Susanne Roeßiger (Hg.) 2010: Körper in Wachs. Moulagen in Forschung und Restaurierung [= Sammlungsschwerpunkte, 3]. Dresden: Sandstein-Verlag; Susanne Roeßiger und Uta Schwarz (Hg.) 2011: Kamera! Licht! Aktion! Filme über Körper und Gesundheit 1915 bis 1990 [= Sammlungsschwerpunkte, 4]. Dresden: Sandstein-Verlag, sowie Anja Laukötters Beitrag in diesem Band; Berit Bethke 2013: Sichtbare Spuren – Spuren der Sichtbarkeit. Betrachtungen zur hygienischen Volksbelehrung in der Weimarer Republik anhand von Lichtbildreihen des Deutschen Hygiene Museums. München: GRIN Verlag. 5 Vgl. Michaela Scheffler 2001: Die Plakate zur Gesundheitsaufklärung von 1945 bis 1990 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Diplomarbeit an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig; Hendrik Behling 1997: Das Anatomische Labor am Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Ein Beitrag zur Geschichte der Anatomie in Dresden. Dissertation an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität Dresden. 6 Vgl. Rosmarie Beier und Martin Roth (Hg.) 1990: Der Gläserne Mensch – Eine Sensation. Zur Kulturgeschichte eines Ausstellungsobjektes. Stuttgart: Hatje; sowie die im Sommersemester 2013 von Jakob Fuchs, Florian Albrecht und Ulrike Schauerte im Fachbereich Restaurierung der Hochschule für Bildende Künste Dresden vorgelegten Seminararbeiten zu einem Gläsernen Mann aus der Vorkriegsproduktion. 7 Vgl. ausführlich zur Terminologie von anatomischen Modellen: Sandra Mühlenberend 2007: Surrogate der Natur. Die historische Anatomiesammlung der Kunstakademie Dresden. München: Fink Verlag, 51–56.

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wiedererkennbar dargestellt wurden, sondern die jeweilige Form des Modells auch für unterschiedlichste Lehrzwecke möglichst gleich tauglich sein sollte. So wurde zum Beispiel der „Gläserne Mann“ eher als reines Schauobjekt verstanden. Die äußere Form dieses Modells entsprach einer bildhauerischen Vorstellung, und der innere Körperbau mit dem Sitz der Organe wurde auf einfache Weise durch farbig aufleuchtende Lämpchen demonstriert. Im Vergleich mit anderen anatomischen Lehrmitteln des Museums scheint dieses Exponat weniger für Lehrzwecke tauglich gewesen zu sein, da die stark schematisierte Darstellung des Innenlebens der Figur kaum exakte Beziehungen der Organe zueinander wiedergibt. Das Lehrmodell „Anatomische Ganzfigur“ (Abb. 1), das ebenfalls in den 1930er-Jahren in den Werkstätten des Deutschen Hygiene-Museums angefertigt wurde, inforAbb. 1: Weibliche Figur in Lebensgröße, Modell miert hingegen detailgetreuer über den A 61. (Katalog Aktiengesellschaft für hygienischen Muskel- und Skelettaufbau des Menschen Lehrbedarf o. J. [1938/39], unpag. [S-DHMD]). sowie über Sitz und Funktion einzelner Organe. In diesem Sinne waren die anatomischen Lehrmittel, die in den Gesundheitsausstellungen des Museums zu sehen waren, in besonderer Weise auch Anschauungsmittel, jedoch war nicht jedes Anschauungsmittel aus den Werkstätten bis zum Ende der DDR unbedingt auch als Lehrobjekt gedacht gewesen. So wie sich diese zwei Modellarten nach ihrer Funktion unterscheiden lassen, differenzierten sich die Modellwerkstätten des Deutschen Hygiene-Museums im Verlaufe des 20. Jahrhunderts aus. Zeugnisse der Fertigung sind in der Sammlung des Museums anhand von ca. 400 in Material und Ausführung sehr unterschiedlichen Objekten sichtbar. Zusätzlich geben die vom Museum zu verschiedenen Anlässen herausgegebenen Versandkataloge im Detail Auskunft über das anatomische Modellprogramm. Dies trifft insbesondere auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu, in der die Museumswerkstätten sich materialtechnisch wie inhaltlich kontinuierlich weiterentwickelt haben. Dabei ging der Impuls für die Konzentration auf anatomische Lehrmodelle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Ankauf einer Lehrmittelfirma aus: 1938 erwarb das

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Museum alle Modelle und dazugehörigen Formen von der Firma Benninghoven, einem ehemaligen Konkurrenten auf dem umkämpften Lehrmittelmarkt.

Ausgangslage nach der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 und der Gründung der Lehrmittelwerkstätten des Deutschen Hygiene-Museums Lingners Strategie, die Ausstellungsexponate der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 zu erhalten und daraus ein Museum zu schaffen, kann an verschiedenen Lehrmittelgruppen nachvollzogen werden.8 Durch den Ankauf einzelner Firmen konnte er die Moulagen und Spalteholz-Präparate weit genug entwickeln lassen, um sie als die ersten Standardexponate der 1912 zunächst als Nationales Hygiene-Museum gegründeten Institution zu präsentieren.9 Im Unterschied zu den späteren anatomischen Lehrmitteln stellten die Moulagen wie die Spalteholz-Präparate noch vornehmlich pathologische Erscheinungen in den Vordergrund. Wie der vom Deutschen Hygiene-Museum, der Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf des Museums und der Deutschen Hochbildgesellschaft anlässlich der Großen Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen 1926 herausgegebene Katalog dokumentiert, gehören zwar bereits Gipsabdrücke und Demonstrationsmodelle zur Produktpalette, sie spielen aber noch eine untergeordnete Rolle. Stattdessen wurden unter der Rubrik der anatomischen Lehrmittel neben Moulagen, Spalteholz-Präparaten und Lichtbildern Wandtafeln angeboten, auf denen die Anatomie des Menschen „farbig, zum Teil lebensgroß“ dargestellt wurden.10 Letztlich waren es rein didaktische Illustrationen, die Wissen aus medizinischen Atlanten für ein Laienpublikum aufbereiteten. Im Katalog wurde zusätzlich vermerkt, es seien „Vollplastiken von anatomischen Modellen […] in Vorbereitung“. Unter der Bestellnummer 251 sollte man künftig verschiedene Vollplastiken erwerben können: Muskelmann (Borghesischer Fechter), Längsschnitt durch den Kopf in der Mittelachse; Gehirn zerlegbar; Schläfenbein mit Hörorgan; Auge, Herz, Niere. In verschiedenen Abteilungen, etwa derjenigen zur „Persönlichen Gesundheitspflege“11 oder zur „Säuglingspflege“12, finden erste Anatomiemodelle Erwähnung. Darunter wurden Zahnmodelle, aber auch eine Gebärmutter sowie die Darstellung der „Leibesfrucht vom 1. Monat bis zum 9. Monat“ aufgeführt. 8 So am ersten Verkaufskatalog: Preisverzeichnis für Moulagen 1912, vgl. dazu auch den Beitrag von Susanne Roeßiger in diesem Band, dort Abb. 5. 9 Vgl. zum Aufbau der Werkstätten in der Gründungsphase des Museums durch den Aufkauf verschiedener Lehrmittelfirmen und zur damit einhergehenden Produktdiversifizierung den Beitrag von Thomas Steller in diesem Band sowie Thomas Steller 2014: Volksbildungsinstitut und Museumskonzern. Das Deutsche Hygiene-Museum 1912–1930. Dissertation an der Fakultät für Geschichtswissenschaften, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld. 10 Der hygienische Lehrbedarf 1926: 3. 11 Ebd.: I/7–9. 12 Ebd.: I/17–19.

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Noch wurden diese Objekte der Gruppe der Moulagen zugerechnet, wenngleich am Erscheinungsbild bereits ersichtlich war, dass es sich hier nicht um Abformungen, sondern um geformte, idealisierte Modelle handeln musste. Der weitaus vielfältigere anatomische Lehrmittelbestand des Deutschen HygieneMuseums in der Mitte des 20. Jahrhunderts lässt vermuten, dass eine Unterabteilung für plastische Lehrmittel schon im Zuge des Erstausbaus der Werkstätten gegründet wurde. Was die Kataloge betrifft, datiert diese Entwicklung in den Jahrzehnten zwischen der Gründung der museumseigenen Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf 1923 und dem Wiederaufbau des Hauses in der unmittelbaren Nachkriegszeit.13 Dazwischen liegen die Eröffnung des Museumsgebäudes mit den neuen Werkstätten (1930) sowie der Aufkauf der Firma Benninghoven Ende der 1930er-Jahre.

Die Einverleibung der Lehrmittelfirma Benninghoven 1937 Georg Seiring, Nachlassverwalter Lingners sowie Präsident und geschäftsführender Direktor des Deutschen Hygiene-Museums, knüpfte in der gemeinsamen Sitzung des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf und des Museumsvorstands vom 16. Juni 1937 an den Ankauf der Lehrmittelfirma Prof. Dr. Benninghoven in Neuss bei Coburg folgende Hoffnung: [B]ei Aufbau dieser Abteilung [wären, S. M.] die Schwankungen, die jetzt in den Werkstätten der A.-G. auftreten, zu überbrücken, da gerade in diesen anatomischen Modellen die Möglichkeit besteht, auf Lager zu arbeiten.14

Mit dem Ankauf der Modelle könnten, so Seiring weiter, die Auslandsvertretungen neu ausgebaut werden. Ihre Programme könnten homogenisiert und darüber hinaus der Export gesteigert werden. Benninghovens Modelle genössen Weltruf und würden in Verbindung mit dem Deutschen Hygiene-Museum „sicher auf dem Weltmarkt bevorzugt gekauft werden“.15 Seiring betonte, dass der Preis von 37.000 RM „unter Berücksichtigung der 5fachen Selbstherstellungskosten auf RM 180.000 […] ein sehr niedriger Betrag“ sei und dass es „bei Selbstschöpfung der Firmen“ „mindestens 4–5 Jahre dauern [würde], ehe dieses geschlossene Fabrikationsprogramm der A.-G. aufgebaut werden könnte“.16 13 Der hygienische Lehrbedarf 1926 sowie Allgemeine Übersicht Nr. 51 über Lehr- und Unterrichtsmaterial 1950. 14 Sitzungsprotokoll vom 16. Juni 1937, anwesend waren: „Geheimer Rat Dr. Just (Vorsitzender); Generaldirektor Bausch sowie Berenbock, Böttcher (Aufsichtsrat); Dr. Rüdiger und Dr. Seiring (Vorstand AG) und Ministerialrat Dr. Wegner und Prof. Dr. Pakheiser sowie Wittmann (Vorstand DHM)“ (SDHMD). 15 Ebd. Abgesehen von den Modellen ist wegen mangelnder Firmendokumente leider kaum etwas über das Unternehmen Benninghoven bekannt. 16 Ebd.

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Noch im Verlauf derselben Sitzung ermächtigten die Beteiligten den Vorstand, die Firma anzukaufen. Binnen Jahresfrist wurde sie den Museumswerkstätten einverleibt. Dass der von Seiring erhoffte Verkaufserfolg auf sich warten ließ, lag an kriegsbedingten Einschnitten in die Lehrmittelproduktion. Wie im Kaufvertrag vom 2. Juli 1937 festgelegt, kam das Museum durch den Ankauf in den Besitz aller in der Firma noch befindlichen Modelle nebst Modellbeschreibungen, aller Kundenlisten sowie aller auf die Herstellung der Modelle bezugnehmenden Unterlagen, einschließlich der Fabrikationsrezepte. Außerdem wurden die Fabrikationsrechte auf den Käufer übertragen. Dazu zählten die schon fertiggestellten Unterlagen für einen bereits geplanten Katalog und die „auf die Modelle bezüglichen neuen Klischees, Retuschen und Negative“.17 Aufgrund dieser Übernahme konnte das Museum bereits 1938/39 einen neuen Verkaufskatalog herausbringen.18 An ihm kann nachvollzogen werden, welche Objekte in den Kauf eingeschlossen waren. In einem Informationsblatt teilte die Aktiengesellschaft ihren Kunden unverzüglich mit: Wir erlauben uns, darauf aufmerksam zu machen, daß wir die Firma Prof. Dr. Benninghoven/ Werkstätten für anatomische Modelle übernommen haben. Die bisher von dieser Firma vertriebenen zerlegbaren anatomischen Modelle werden nunmehr in unseren eigenen Werkstätten hergestellt. Sollten Sie Interesse an anatomischen Modellen haben, bitten wir um Ihre Anfrage, damit wir Ihnen ein Sonderangebot abgeben können.19

Der Katalog dokumentiert die anspruchsvolle und plastische Aufbereitung der Anatomie des Menschen, die geeignet war, eine Konkurrenz zwischen den Museumswerkstätten und anderen anatomischen Lehrmittelfirmen wie beispielsweise Somso in Sonneberg zu begründen. In den 1920er-Jahren feierte die Firma Somso mit ihrer breiten Produktpalette aus verschiedensten Modellen, etwa mensch- und tieranatomischen Skeletten und Schädeln, botanischen Modellen und Rassetierstatuetten, wirtschaftliche Erfolge.20 Sie wurden wie die Benninghoven’schen Objekte aus Pappmaschee gefertigt und beruhten damit auf einem Verfahren, das im Museum bisher nur in Einzelfällen genutzt worden war. Die Verkaufskataloge der Dresdner Lehrmittelwerkstätten standardisierten Benninghovens alphabetische Ordnung des Körpers während der nächsten Jahrzehnte. Das gedruckte „Hygiene-Auge“ schützte sein System und trug es nach außen. Die Gliederung mit Angabe der Anzahl der Einzelmodelle (hier in Klammern angegeben) sah folgendermaßen aus: 17 Kaufvertrag vom 2. Juli 1937 zwischen der Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf und der Firma Professor Dr. Benninghoven, unpag. (S-DHMD). 18 Katalog Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf o. J. [1938/39] (S-DHMD). 19 Informationsblatt der Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf, undat., unpag. (S-DHMD). 20 Vgl. zur Geschichte der Firma Somso Thomas Schnalke 1991: Lernen am Modell. Die Geschichte eines Lehrmittelproduzenten im geteilten Land. Ärztliches Reise- und Kulturjournal, 15, Nr. 13, 95–97.

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• Körper- und Torso-Modelle (47) • Skelett – Knochen – Muskeln – Körperteile (134) • Atmungsorgane (33) • Kreislauforgane (13) • Verdauungsorgane (47) • Ausscheidungsorgane (7) • Geschlechtsorgane und Keimesentwicklung (21) • Nervensystem (30) • Sinnesorgane (41) • Haut und Haar (4) Die verschiedenen Bereiche wurden noch weiter unterteilt, so beispielsweise die Gruppe B, wo der Knochenbau mit dem Muskelaufbau vom ganzen Skelett ausgehend bis in kleinere Details ausgebreitet wurde. Neben den Buchstaben wurde eine fortlaufende Nummerierung eingeführt, die im Katalog von 1938/39 an einigen Stellen unterbrochen ist, was auf fehlende Objekte hindeutet. Von den 377 aufgeführten Positionen wurde etwa die Hälfte auch fotografisch wiedergegeben. Darunter können Hauptmodelle definiert werden, von denen aus variiert wurde: Ein Beispiel hierfür ist das Modell A 1 (Abb. 2). Freistehend auf einer Fußplatte, zeigt die Figur an der rechten Körperseite die ober-

Abb. 2: Männliche Muskelfigur in Lebensgröße, Modell A 1 (ebd., unpag. [S-DHMD]).

Abb. 3: Kugeltragender Jüngling, Modell A 7 (ebd., unpag. [S-DHMD]).

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flächliche Muskulatur, während links tiefer gelegene Schichten des Körpers zu sehen sind. Das sehr aufwendig hergestellte Modell war in 45 Teile zerlegbar. Das Prinzip der bildlichen Zerlegung eines anatomischen Modells in gestaltgebende und funktionale Einzelteile findet sich bei fast jedem Hauptmodell. Meist können die Organe herausgenommen und ihrerseits zerlegt werden. Dies trifft besonders auf die Torsi zu, die ebenso wie die Ganzfiguren einer „lebendigen“ Vorstellung folgen: Als „gehäutete“ Aktfiguren blicken sie den Betrachter an, und manche der Figuren sind im Schambereich durch ein modelliertes Tuch bedeckt, wie es auch bei antiken Statuen zu finden ist. Oft sind die Arme gebeugt oder wird bei den Ganzkörperfiguren der Kontrapost gezeigt, um gestaltliche Veränderungen der Muskulatur in Bewegung wiederzugeben. Das mit A 7 bezeichnete Modell, ebenfalls eine lebensgroße Muskelfigur, wurde als kugeltragender Jüngling dargestellt (Abb. 3). Durch Herausnahme der Organe kann es bis zur Rückenmuskulatur betrachtet werden. Diese Art der Figurenpräsentation war damals weder neu noch ungewöhnlich. Sie steht für einen klassischen anatomischen Modelltyp, der in Illustrationen aus dem 16. Jahrhundert beispielsweise in Vesalius einen Vorgänger hatte und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als lebensgroßes Ecorché Einzug in die Kunstakademien hielt. Das Besondere der anatomischen Lehrmodelle aus den Dresdner Werkstätten dieser Zeit besteht darin, dass sie wie ein Baukasten funktionierten und von Anfang an vornehmlich für die Serienproduktion konzipiert waren. Wo einst im medizinischen Bereich mehrere Modelle vergleichend nebeneinander präsentiert wurden, die, wie an den Modellen im Museum La Specola21 in Florenz zu sehen, bis in feinste Details nachgebildete Gefäße zeigten, sollten hier vor allem die genaue Lage der Organe sowie Formzusammenhänge und damit das Wesentliche der menschlichen Anatomie erfahrbar werden. Vertiefende Betrachtungen wurden hingegen anhand von Modellen einzelner Organe ermöglicht, die in den Bereichen B bis K ausgebreitet wurden, beispielsweise das Modell des Auges J 452 (Abb. 4). Dass diese Modelle in Serie produziert wurden und die Adressaten von medizinischen Einrichtungen bis zu allgemeinbildenden Schulen reichten, war zwar kein Novum seit der Etablierung seriell gefertigter Anatomiemodelle im 19. Jahrhundert.22 Doch in seiner Ausführlichkeit und im Umfang markierte es den Höhepunkt anatomischer Körperdarstellungen, der alle seit der Renaissance entwickelten Modelltypen in sich vereinte: Vergrößerungen und Verkleinerungen, Teilungen, Öffnungen und Schnitte des Körpers; letztere in unterschiedlichsten Variationen, um auch jede Organstruktur zu erfassen. Das Deutsche Hygiene-Museum erhielt durch den Kauf der Firma Benninghoven eine kom-

21 Vgl. Benedetto Lanza, Maria Luisa Puccetti, Marta Poggesi und Antonio Martelli 1997: Le Cere Anatomiche della Specola. Firenze: Arnaud; Anna Maerker 2011: Model Experts. Wax Anatomies and Enlightenment in Florence and Vienna, 1775–1815. Manchester: Manchester University Press, siehe auch ihren Beitrag in diesem Band. 22 Vgl. Mühlenberend 2007: 154–159.

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Abb. 4: Auge mit sämtlichen Muskeln, Gefäßen und Nerven in der vollständig geschlossenen Augenhöhle, Modell J 452 (ebd., unpag. [S-DHMD]).

plette anatomische Körperenzyklopädie in Pappmaschee, deren Vielfalt und Menge damals weltweit kaum zu übertreffen war.

Etablierung und Modifizierung der anatomischen Modelle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Von den im Katalog von 1938/39 aufgeführten 377 Positionen konnten nach Kriegsende nur noch 63 Modelle angeboten werden. Im Vorwort der ersten Übersicht über das Lehr- und Unterrichtsmaterial in der Nachkriegszeit wurde unter den Werkstätten am Deutschen Hygiene-Museum eine „Pama-Abteilung“ erwähnt und das praktizierte Verfahren der Modellbildnerei folgendermaßen beschrieben: Aus Papiermaché, einer Masse aus Zellstoff, Papier, Leim und Schlämmkreide [entstehen] farbige Modelle. Zerlegbare Torsi, die Lage, Größe und Form der menschlichen Organe klar veranschaulichen, große Modelle der Sinnesorgane. Die Entwicklung des Embryos im Mutterleib bis zur Geburt, sind nur einige wenige Beispiele. Die Masse wird als Teig ausgerollt, in Formen gedrückt, nach dem Trocknen retuschiert und schließlich bemalt.23

Unter den in der Übersicht aufgeführten Modellreihen finden sich die ersten eigenen, über Benninghoven hinausgehenden Entwicklungen des Museums. Sie wurden mit 23 Allgemeine Übersicht Nr. 51 über Lehr- und Unterrichtsmaterial 1950: 6 (S-DHMD).

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Abb. 5: Geburtsvorgang in den Stadien 4 bis 6, Modelle L 601 (Export­katalog des Zentralinstituts für medizinische Aufklärung 1955: 105).

zusätzlichen Buchstaben eingeführt. So stand beispielsweise der Buchstabe L für Objekte zur Säuglings- und Geburtskunde. Darunter befanden sich: „Die Entwicklung des menschlichen Keimes von der Befruchtung der Eizelle bis zum Embryo“ sowie „[s]echs Stadien des Geburtsvorganges in natürlicher Größe, auf Holzplatten befestigt“ in „naturgetreue[r] Färbung“. Wie dieser Vorgang durch drei Modelle dargestellt wurde, lässt sich heute nur noch anhand des fünf Jahre später veröffentlichten Exportkatalogs nachvollziehen (Abb. 5). Nach einer Zusammenstellung, die von der Mitarbeiterin Ursula Keßler Mitte der 1980er-Jahre angefertigt wurde, zeugen insgesamt 893 Modelle mit einem Produktions-

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wert von 75.000 Mark von der schnellen Wiederaufnahme der Produktion um 1950.24 1952 kam es nach dieser Quelle bereits zu einer Gesamtstückzahl von 2810 und einem Produktionswert von 177.000 Mark. Die Werkstätten wurden in der Folge ausgebaut und das Personal aufgestockt.25 Bis in die 1980er-Jahre waren nun die Bildhauer aus der Gipswerkstatt für verschiedene Neuschöpfungen zuständig. Zwar waren die Pappmaschee-Modelle wegen ihrer Detailtreue sehr gefragt, aber sie waren auch leicht zerbrechlich, nicht abwaschbar und schwer. Anfang der 1950erJahre wurde in den Werkstätten mit verschiedenen Kunststoffen experimentiert, um die bisherige Methode zu ersetzen. Schon 1954 entstanden die ersten Modelle in PVC, einem in Verbindung mit Weichmachern und Stabilisatoren entwickelten Material.26 Damit wurden die Modelle leichter, fast unzerbrechlich und abwaschbar. Zudem war das Material besser zu verarbeiten, mechanischen Beanspruchungen gegenüber widerstandsfähiger und deshalb für den Export geeigneter. Mit den jetzt gebrauchten Metallarten konnten die Modelle schärfer gegliedert werden, und die verwendeten Farben, die mit der Modelloberfläche eine Verbindung eingingen, waren nicht entfernbar und stärker in ihrer Leuchtkraft. Alle diese neuen Eigenschaften, zu denen auch die Tropenfestigkeit gehörte, bildeten letztlich die materielle Grundlage für die Ausbreitung der weltweiten Handelsbeziehungen des Deutschen Hygiene-Museums in der DDR. Nachdem das Museum sich den Gebrauchsmusterschutz für das neue Verfahren gesichert hatte, wurden 1955 auf der Leipziger Herbstmesse die ersten Modelle präsentiert. Dem Exportkatalog desselben Jahres ist zu entnehmen, dass zuerst Skelettteile, menschliche Schädel und auch ganze Skelette in dem neuen Kunststoff angeboten wurden. Pappmaschee fand aber noch weiter Verwendung. Der Vergleich der Verkaufspublikationen von 1950 und 1955 verdeutlicht, dass man die Präsentation der Lehrmittel in den dazwischen liegenden Jahren neu und anspruchsvoller konzipiert hatte. Der Exportkatalog von 1955 erschien nicht mehr als kleine Vertreterbroschüre, sondern als gebundenes A4-Druck-Erzeugnis in fünf Sprachen (Deutsch, Französisch, Russisch, Englisch, Spanisch), teilweise ausgestattet mit farbigen Abbildungen und ausführlichen Beschreibungen der einzelnen Modelle (Abb. 5). Aus den unterschiedlichen Nummernfolgen lässt sich schließen, welche der Modelle, die noch auf Benninghoven zurückgingen, hinzu kamen oder herausgenommen wurden. Immer mehr löste der Werkstoff PVC nun den Werkstoff Pappmaschee ab. Ende der 1950er-Jahre überstieg die produzierte Stückzahl die Kapazitäten der alten Produktionsräume. Durch den Um- und Ausbau des sogenannten Querbaus des Museums wurden 24 Handschriftliche Aufzeichnungen von Ursula Keßler im Rahmen einer internen Rekonstruktion der Lehrmittelproduktion, um 1985 (S-DHMD). Ursula Keßler war von Anfang der 1950er-Jahre bis 1990 Mitarbeiterin des Deutschen Hygiene-Museums. 25 Ebd. 26 Ursula Keßler 1971: Erarbeitung von Grobtechnologien zur Herstellung von biologisch-anatomischen Unterrichtsmitteln aus Kunststoffen im Deutschen Hygiene-Museum. Abschlussarbeit an der Ingenieursschule für Chemie in Berlin (S-DHMD).

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neue Arbeitsräume für die Modellherstellung geschaffen. Schließlich kam es zur räumlichen Trennung des alten und neuen Produktionsverfahrens.27 Der Verkauf der Modelle und die Nachfrage stiegen in den darauffolgenden Jahren stetig weiter an. 1970 konnte durch den Einsatz einer Rotationsgießanlage die Produktion um 300 Prozent gesteigert werden. Insgesamt fertigte diese Maschine 65 Prozent des Sortiments. Neben dem Material PVC wurden jetzt auch Modelle in Polyester gefertigt.28 Schon 1981 hatte Ursula Keßler eine umfassende Bestandsanalyse durchgeführt. In diesem Zusammenhang hatte sie auch für jedes Modell eine Kosten-Nutzen-Rechnung erstellt, die zur Optimierung der Produktion beitragen sollte.29 Neben den Modellen, die sie nach wissenschaftlichem Aussagewert beurteilte, untersuchte sie auch die Produktivität und Effektivität der Herstellungsverfahren. In der Folge wurden verschiedene Modelle aus der Produktion genommen oder verändert. In einem Mitteilungsprotokoll vom Dezember 1982 ist festgehalten, dass in den nachfolgenden Exportkatalogen einige Modelle nicht mehr bildlich erscheinen sollten, sondern nur als Text, „mit dem Ziel, diesen Modellen nur geringes Augenmerk zu geben“.30 In ihrer Analyse riet Keßler, den optischen Eindruck der Modelle zu verbessern. Sie mahnte vorsichtig die zum Teil mangelhafte Verarbeitung an.31 Im Bereich der Produktivität verwies sie auf die Modifizierung der Produktion im Jahr 1975; damals war die Fertigung von Kleinserien eingestellt und ein Standardsortiment festgelegt worden.32 Diese 16 Modelle, die kaum noch auf Benninghoven zurückgingen, bildeten gewissermaßen das Substrat der vormals angestrebten Enzyklopädie des menschlichen Körpers.33 Über mehrere Jahre wurde in den Werkstätten des Deutschen Hygiene-Museums daran gearbeitet, eine Grundausstattung zur Vermittlung anatomischer Kenntnisse zu entwickeln. Ziel war es, ein Komplettpaket für Schulen und medizinische Bildungseinrichtungen zu entwickeln. Zu Benninghovens Zeit hatten anatomische Modelle den Körper noch teil- und zerlegbar gemacht, beziehungsweise ein anatomischer Bereich war noch durch verschiedene Sichtschnittachsen oder mittels Vergrößerungen und Reihenbildungen visualisiert worden. Jetzt hingegen wurde die früher vertiefend sichtbar gemachte menschliche Anatomie mithilfe neuer Technologien und Materialien sukzessiv zu einfach ablesbaren Körpermodellen aus „Plaste“ komprimiert. Diese Veränderung 27 Handschriftliche Aufzeichnungen von Ursula Keßler im Rahmen einer internen Rekonstruktion der Lehrmittelproduktion, um 1985 (S-DHMD). 28 Ebd. 29 Sortimentsanalyse von Ursula Keßler aus dem Jahr 1981, handschriftliches Dokument (S-DHMD). 30 Anonyme Mitteilung vom 20. Dezember 1982 über die Ergebnisse einer Besprechung betr. Sortimentsanalyse (S-DHMD). 31 Sortimentsanalyse von Ursula Keßler aus dem Jahr 1981, 8 (S-DHMD). 32 Ebd.: 10. 33 Es handelte sich um die Modelle A 30/31 Torso, B 81 Skelett, B 82 Schädel, B 126 Kopfhälfte, C 243 Kehlkopf – Lunge – Herz (seit Benninghoven), G 351 männliches Becken, G 366 weibliches Becken, H 405 Gehirn, E 287 Unterkiefer (seit Benninghoven), D 253 Herz, E 296 Mahlzahn, F 333 Niere, J 462 Auge, J 513 Ohr, K 526 Haut und L 600 Keimesentwicklung (ebd.: 17).

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Abb. 6: Männlicher Harn­ apparat, Modell F 325 (Katalog Deutsches Hygiene-Museum der DDR 1988: 32).

ist beispielsweise an einem Modell aus dem letzten Versandkatalog des Museums des Jahres 1988 nachvollziehbar, das den männlichen Harnapparat darstellen soll (Abb. 6).34 Es war 1967 in Produktion gegangen und wurde 1984 dergestalt nachbearbeitet, dass beispielsweise die in situ gezeigten Abdominalgefäße und Harnleiter markant hervorgehoben waren. Auf den natürlichen Größenunterschied der einzelnen Gefäße und deren Größenverhältnis gegenüber Nieren und Blase, die vorher zudem zerlegbar gewesen waren, wurde dagegen verzichtet. Nicht die Abbildung von Details und einer ausgewogenen Organverteilung in Anlehnung an die natürlichen Merkmale stand bei der Nachbearbeitung im Mittelpunkt, sondern die normierte Vorstellung eines ausgewählten Sachverhalts und ästhetisch die Absage an eine mögliche Formen- und Farbvielfalt.

34 Katalog Deutsches Hygiene-Museum der Deutschen Demokratischen Republik 1988.

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Auf den ersten Blick haben diese – obgleich reduzierten – Modelle mit ihren Vorläufern noch viel gemeinsam, doch zeigt sich in Struktur, Anmutung der Oberflächen und in den Übergängen der einzelnen anatomischen Abschnitte eine Dominanz des Materials, die am Ende der Entwicklung der anatomischen Lehrmodelle im Deutschen Hygiene-Museum die Ästhetik zu bestimmen begann. Aus vormals künstlerisch gedachten Modellen, deren skulpturale Gliederung und stoffliche Nachahmung des Körpers (durch Wachs oder Pappmaschee) erfahrbar waren, hat sich aufgrund der seit Mitte der 1950er-Jahre gebrauchten Kunststoffe und damit verbundenen maschinellen Fertigung jene Künstlichkeit in der anatomischen Modellbildnerei etabliert, die der reinen Sachlichkeit und Standardisierung verpflichtet war. Die Trennung zwischen Imitation und Abstraktion wurde hiermit in der anatomischen Lehrmittelproduktion vollzogen. Jene sachlichen Modelle, die weltweit noch heute in fast allen schulbiologischen Ausbildungsstätten und medizinhistorischen Museen zu finden sind, besiegelten endgültig die Berühmtheit, die das Haus im Verlauf des 20. Jahrhunderts erworben hatte. Neben den Ausstellungen der Gesundheitsaufklärung waren die Produktion und der Verkauf der anatomischen Modelle für die Devisenbeschaffung in der DDR und deren davon angetriebene materielle und didaktische Weiterentwicklung von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Hatte das Museum in den 1920er-Jahren internationale Anerkennung und Wertschätzung35 genossen – wegen seiner fundierten, in der Art ihrer Präsentation neu- und einzigartigen Ausstellungen, unter denen besonders die großen und kleinen Wanderausstellungen hervorstachen –, so konzentrierte sich die Wertschätzung in der DDR auf den vermeintlich unideologischen Gegenstand des anatomischen Modells. Die Unverfänglichkeit der menschlichen Anatomie erlaubte es dem Deutschen Hygiene-Museum, seine Produkte auch in den westlichen Ländern zu veräußern und mit ausländischen Lehrmittelfirmen in Konkurrenz zu treten.36

35 Vgl. Sybilla Nikolow und Thomas Steller 2011: Das lange Echo der internationalen Hygieneausstellung in der Dresdner Gesundheitsaufklärung. Dresdner Hefte, 108, Heft 4, 16–27. 36 Vgl. noch einmal zur Konkurrenz mit dem Unternehmen Somso Schnalke 1991; ein ähnlich gelagertes Beispiel für den Systemwettstreit um Modelle gibt der Beitrag von Christian Sammer in diesem Band.

Noyan Dinçkal

„Lebensproben“. Eignungs- und Leistungsmessung im Sport, 1900–1930

1928 gab der Pädagoge, Psychologe und Publizist Ludwig Lewin das dreibändige Werk Der erfolgreiche Mensch heraus. Der erste Band mit dem Titel Voraussetzungen des persönlichen Erfolges enthielt neben Artikeln über Selbstbeherrschung, erotischen Erfolg, Menschenkenntnis und vergleichbare Themen auch einen Aufsatz des damals bekannten deutschen Eiskunstläufers Artur Vieregg. Dessen Titel war ein Befehl: „Trainiere Deinen Körper!“1 Aufschlussreich sind drei Aspekte: Erstens, der Faktor Leistung zieht sich wie ein roter Faden durch den Artikel. In der Hauptsache geht es darin um die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Zweitens wird der Sport hier hinsichtlich seiner Funktionen betrachtet und der Begriff der Leistung sodann auf alle möglichen Bereiche des Alltags angewandt: Sport fördere Gewandtheit, Mut, Geistesgegenwart, Reaktionsschnelligkeit, er vermindere das Verlangen nach Reizmitteln und beruhige die Nerven. Kurzum: Sport, weit davon entfernt, nur ein banales Freizeitvergnügen zu sein, sei eine umfassende „Lebensform“, die nicht nur Aufschluss darüber gebe, inwieweit der Einzelne den Anforderungen des modernen Lebens gewachsen ist, sondern zugleich die hierfür als erforderlich erachteten Eigenschaften trainiere. Obwohl der Aufsatz der populären Ratgeberliteratur zuzurechnen ist, fällt zudem ins Auge, wie sehr Vieregg um wissenschaftliche Glaubwürdigkeit bemüht war. So untermauerte er seine Gedanken, indem er wissenschaftliche Kategorien und Kapazitäten zitierte, namentlich aus der Psychologie und Physiologie.2 Die genannten Linien – Sport als Leistungsmesser sowie Training psychophysischer Befähigungen und deren wissenschaftliche Positivierung und Rationalisierung – liefen in Viereggs Aufsatz in einem Schaubild des Psychologen Robert Werner Schulte zusammen, der während der 1920er-Jahre in diversen Behörden und Unternehmen für Sport, Rationalisierung und Arbeitshygiene tätig war. Die Abbildung sollte die Bedeutung des Sports vor allem für Berufstätige veranschaulichen (Abb. 1). Während die Einzelbilder 1 Artur Vieregg 1928: Trainiere Deinen Körper! In: Ludwig Lewin (Hg.): Der erfolgreiche Mensch. Bd. 1: Voraussetzungen des persönlichen Erfolges. Berlin und Zürich: Allgemeine Deutsche Verlagsgesellschaft und Eigenbrödler Verlag, 145–162. Teile dieses Beitrags wurden bereits in ausführlicherer Form veröffentlicht: Noyan Dinçkal 2013: Sportlandschaften. Sport, Raum und (Massen)Kultur in Deutschland 1880–1930 [= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 211]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 2 Vieregg 1928: 146–150, 159.

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Noyan Dinçkal

Abb. 1: Schaubild des Psychologen Robert Werner Schulte zu Sporteffekten und -formen sowie zu Auswahlkriterien für bestimmte Sportarten (Vieregg 1928: 154).

am Rand die Vielfalt der sportlichen Betätigungen demonstrieren, konzentrieren sich die Verästelungen im Zentrum auf einzelne Effekte des Sporttreibens. Entsprechend rein von Nützlichkeitserwägungen abhängig erscheinen hier die Auswahlkriterien für bestimmte Sportarten. Wenn der Sport aber Nützlichkeit entfalten solle, dann dürfe er, so Vieregg, nicht willkürlich oder gar bis zum Exzess, sondern müsse stets „vernünftig“, „hygienisch“ und „pädagogisch“ betrieben werden. Aus diesem Grund ergänzte Vieregg den Imperativ „Trainiere Deinen Körper!“ um einen zweiten: „Erkenne Dich selbst!“.3 Tendenziell wurde so nützliches und produktives Sporttreiben an die individuelle Erkenntnis eigener physischer und psychischer Leistungsgrenzen gekoppelt, zugleich aber deren positive oder negative Feststellung wissenschaftlichen Experten übertragen. Viereggs Imperative zeigen den Sport als Gegenstand verschiedener um die Phänomene Leistung und Produktivität kreisender Diskurse, die die Wahrnehmung des Sports selbst veränderten.4 Dies hatte auch damit zu tun, dass dem Sport schon früh die Ori3 Ebd.: 159. 4 Vgl. hierzu auch Noyan Dinçkal 2013: „Sport ist die körperliche und seelische Selbsthygiene des arbeitenden Volkes“. Über Arbeit, Leibesübungen und Rationalisierungskultur in der Weimarer Republik. Body Politics. Zeitschrift für Körpergeschichte, 1, 71–97 (http://bodypolitics.de, letzter Zugriff am 11. Dezember 2013).

Eignungs- und Leistungsmessung im Sport, 1900–1930

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entierung an der Erzielung individuell zurechenbarer und messbarer Leistung inhärent gewesen ist. Christiane Eisenberg spricht hier von „rational organisierter Konkurrenz“.5 In diesem Rahmen nahmen naturwissenschaftliche Modelle der modernen Gesundheitsfürsorge bis zur psychotechnischen Selbstverbesserung eine elementare Rolle ein. Sie alle referierten auf das produktivistische Konzept des Leistungskörpers des Sportlers, der gerade zur Zeit der Weimarer Republik zum Ideal aufstieg.

Der ausgestellte Sport: „Wer, wann, warum, wie, wo soll der Mensch Sport treiben?“ Die in Viereggs Artikel durchscheinende Kontroverse über die Ambiguität des Sports als Bestandteil einer verbessert-gesunden oder aber schädlich-exzessiven Lebensführung ist freilich keine spezifische Erscheinung der Weimarer Zeit. Sie spielte bereits während der Sportausstellung im Rahmen der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden eine wichtige Rolle, wurde Sport hier doch erstmals aus einer wissenschaftlichen Perspektive inszeniert. Im deutlichen Gegensatz zu den ersten Sportausstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die sich durch bunt zusammengewürfelte Sportartikel, Luxuswagen, pneumatische Reifen und Angelausrüstungen auszeichneten, beabsichtigten die Organisatoren jetzt vor allem, den Sport endlich unter die anerkannten Mittel der „Volkserziehung“ einzureihen und somit maßvoll betriebenen, wissenschaftlich abgesicherten Sport von einer vielfach kritisierten Rekordsucht und den damit einhergehenden Erschöpfungszuständen abzugrenzen.6 Die Exponate der Sportausstellung – etwa Modelle zur Demonstration des Einflusses von Sport auf die Organe oder Apparate zur Messung der Arbeitsleistung des Herzens, des Stoffwechsels und der Atmung7 – spiegelt diese Motive. Doch fällt auf, dass die Organisatoren zur Charakterisierung der Sportausstellung vorzugsweise den Ausdruck „eigenartig“ benutzten. Diese „Eigenartigkeit“ – heute würde man stattdessen wohl „das Besondere“ dieses speziellen Ausstellungsbereichs unterstreichen – wurde zum einen inhaltlich begründet, denn während in den übrigen Sektionen der Schutz des Körpers vor schädlichen Einflüssen im Vordergrund stand, war hier die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit zentral. Auf der anderen Seite bezog sich die postulierte Eigen5 Christiane Eisenberg 1997: Sportgeschichte als Kulturgeschichte. Geschichte und Gesellschaft, 23, 295– 311, hier 295 f. 6 Ausführlicher in Noyan Dinçkal 2009: Das gesunde Maß an Schädigung. Die Inszenierung von Sport als Wissenschaft während der Dresdener Hygiene-Ausstellung 1911. Historische Anthropologie, 17, 17– 37. Zu den Sportausstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts vgl. Hubert Dwertmann 2004: Die erste deutsche Sportausstellung 1893. Über Verhältnis und Entwicklung von Sport-Technik-Medien. SportZeiten, 4, 41–64. 7 Nathan Zuntz, Carl Brahm und Artur Mallwitz (Hg.) 1911: Sonderkatalog der Abteilung Sportausstellung der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1911. Dresden: Verlag der Internationalen Hygieneausstellung Dresden, 8.

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artigkeit auf die Präsentation selbst, denn das Herzstück der Sportausstellung war keine gewöhnliche Ausstellungshalle, sondern ein Stadion, das nicht nur zum Anschauen, sondern auch zur Austragung realer Wettkämpfe gebaut worden war. Das Stadion setze, wie die Ausstellungsmacher nicht müde wurden zu betonen, anstelle einer „toten Ausstellung eine lebendige Vorführung“.8 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass an das Stadion ein Laboratorium angeschlossen war. Es befand sich nicht zufällig unmittelbar an der Zielgeraden am Ende der 100-Meter-Laufbahn. Dieses symbolische Arrangement ermöglichte die Untersuchung der Sportler auf dem Höhepunkt ihrer körperlichen Belastung und machte zugleich das andere, aktive Element des wissenschaftlichen Sports augenfällig.9 Das Stadionlabor unterstrich also nicht nur die Verbindung zwischen exakter Wissenschaft und Sport, sondern dort kam zugleich die ganze Bandbreite relevanter Versuchsmethoden erstmals zur Anwendung. Es umfasste ein chemisch-mikroskopisches und ein anthropometrisches Labor, einen Raum für Blutdruck- und Pulsmessungen, ein Röntgenlabor sowie eine Atmungskammer.10 Die Dresdner Veranstaltung von 1911 stand in vielerlei Hinsicht am Beginn einer neuen Ausstellungspraxis. In ihr dominierte die allgemeine Vermittlung des gesellschaftlichen Nutzens des Sports über die Inszenierung wissenschaftlicher Leitdisziplinen, wozu auch der sichtbare Einsatz von Apparaten und Messungen vermeintlich exakter Körperdaten beitrug. Stets jedoch wurde dabei auch dasjenige „Wissen vermittelt, das nötig war, um das eigene Selbst planvoll zu verwalten“, wie Frank Becker für die Große Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen 1926 hervorgehoben hat.11 Für eine planmäßige Selbstverwaltung und -verbesserung galt die Kenntnis der eigenen psychischen und physischen Anlagen als unerlässlich. Erst in diesem Bezugsrahmen gewann ein neuartiges „Theater“ der eigenen Leistungsfähigkeit, eine neuartige Form, Selbst- und Fremdbeobachtungen im „Test“ zu amalgamieren, zunehmend an Bedeutung.12 Standen zunächst noch vor allem Sportler als Vermessungsobjekte im Zentrum, so ging es in den 1920er-Jahren zumindest potentiell auch um die Ausstellungsbesucher selbst, die sich derartigen Untersuchungen freiwillig unterziehen konnten. Die als Beiträge zur Selbsterkenntnis beworbenen und an Ausstellungsbesuchern durchgeführten Demons8 Ebd.: 44. 9 Dietrich R. Quanz 1992: Stadionlaboratorium. Messstation einer aufkommenden Wissenschaft vom Sport im Kaiserreich. In: Hans-Joachim Appell und Gert-Peter Brüggemann (Hg.): Erfassen und Messen sportlicher Leistung. Sankt Augustin: Academia, 5–21, hier 9. 10 Zuntz/Brahm/Mallwitz 1911: 30–46. 11 Frank Becker 2012: Rationalisierung – Körperkultur – Neuer Mensch. Arbeitsphysiologie und Sport in der Weimarer Republik. In: Theo Plesser und Hans-Ulrich Thamer (Hg.): Arbeit, Leistung und Ernährung. Vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie in Berlin zum Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie und Leibniz Institut für Arbeitsforschung in Dortmund. Stuttgart: Franz Steiner, 149–170, hier 160. 12 Eva Horn 2002: Test und Theater. Zur Anthropologie der Eignung im 20. Jahrhundert. In: dies. und Ulrich Bröckling (Hg.): Anthropologie der Arbeit. Tübingen: Gunter Narr, 109–125.

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trationen der Apparate dienten dazu, psychotechnische und anthropometrische Messdaten vor den Augen der Öffentlichkeit zu generieren.13 Ein Beispiel ist die Deutsche Turn- und Sport-Ausstellung in Karlsruhe 1927, auf der sportärztliche Untersuchungen als Teil der öffentlichen Veranstaltung angesetzt wurden. Näher hieß es im Ausstellungsprogramm: „Auf jedem Sportplatz ein Sportarzt und eine sportärztliche Beratungsstelle. […] Als Werbung für diesen Gedanken wird auf der Ausstellung in Karlsruhe eine sportärztliche Beratungsstelle gezeigt werden, in der sich jeder Besucher kostenlos von den sich liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellten [sic] Ärzten in sportlicher Beziehung untersuchen und beraten lassen kann.“14 Indem es Exponate für verschiedene Veranstaltungen bereitstellte, spielte das Deutsche HygieneMuseum für Sportausstellungen zur Zeit der Weimarer Republik eine nicht unerhebliche Rolle. 1930 wurden zum Beispiel die Spalteholz-Präparate für die Darmstädter Ausstellung Die geistige Idee im Sport. Kunst – Geschichte – Wissenschaft von den hauseigenen Werkstätten des Museums geliefert,15 und auf der Magdeburger Sportausstellung 1929 nahm die aus Dresden kommende Wanderausstellung Der Mensch und der Sport großen Raum ein. Sie kombinierte unter anderem Schautafeln, Demonstrationsapparate, Fotografien, Statistiken und Präparate und war in sechs Abteilungen gegliedert: „Geschichte der Leibesübungen“, „anatomisch-physiologische Grundlagen“, „Technik“, „Übungsbedürfnis“, gesellschaftliche und gesundheitliche „Notwendigkeit des Sports“ und zum Abschluss: „[W]er, wann, warum, wie, wo soll der Mensch Sport treiben?“. Diese letzte Sektion beleuchtete körperliche und geistige Voraussetzungen, die zwingend seien, um durch die Ausübung einer bestimmten Sportart maximalen gesundheitlichen Nutzen zu erzielen.16

Ermittlung von Eignung und Leistung Insgesamt offenbart die zunehmend selbstverständliche Präsenz von Medizinern und Physiologen samt ihren Apparaten auf Sportausstellungen eine fortschreitende Ausbreitung von wissenschaftlichem Wissen ins Alltagsleben, die bereits um 1900 Fahrt aufge13 Vgl. zur Messung der körperlichen Fitness in Gesundheitsausstellungen auch den Beitrag von Sybilla Nikolow über die Halle der Selbsterkenntnis von 1938 in diesem Band. 14 Erich Mindt 1927. Sonderausstellung des Museums für Leibesübungen und des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen Berlin. In: Badischer Landesausschuss für Leibesübungen und Jugendpflege (Hg.): Deutsche Turn- und Sport-Ausstellung 1927. Turnen, Sport, Spiel, Wandern, Reisen in der Städtischen Ausstellungshalle zu Karlsruhe vom 25. Juni bis 10. Juli 1927. Offizieller Ausstellungskatalog. Karlsruhe: Faass, 94, Hervorhebung im Original. 15 Hessisches Landesmuseum Darmstadt (Hg.) 1930: Die geistige Idee im Sport. Kunst – Geschichte – Wissenschaft. Ausstellung des Museums für Leibesübungen Berlin vom 1.–15. August 1930 im Hess. Landesmuseum Darmstadt. Darmstadt: Roetherdruck. 16 Ausstellungsamt der Stadt Magdeburg (Hg.) 1929: Die Magdeburger Sportausstellung 1929. Katalog, Führer und Programm für die Rahmenveranstaltungen. Magdeburg: Hänel, 91–94.

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nommen hatte. Auch im Sport lässt sich eine Verwissenschaftlichung sozialer und kultureller Phänomene erkennen. Die Magdeburger Sportausstellung 1929 etwa belegt eine spezifizierte Form der Regulierung des Körpers durch wissenschaftliche Normen und Techniken.17 Ein weiteres Beispiel bieten die Untersuchungen an Schülern, durch die der Arzt Wilhelm Reich im Frühjahr 1925 praktische Erfahrungen in der Verwendung anthropometrischer und psychotechnischer Verfahren sammelte. Dabei ging es um eine Bestimmung des Verhältnisses von körperlichen und psychischen Eigenschaften zur Leistung im Schnelllauf. Seine Messungen führte Reich für die Sportuntersuchungsstelle des Erfurter Stadtgesundheitsamtes durch. Auf einem städtischen Sportplatz bestimmte er zunächst Größe, Gewicht und Beinlänge der Schüler. Doch hielt er anthropometrisch ermittelte Körperproportionen für nicht zureichend, um zuverlässige Aussagen über die Leistungsfähigkeit einzelner Schüler zu treffen. Deshalb setzte Reich zusätzliche psychotechnische Testmethoden ein.18 Bei der „Zahlenquadratprobe“ saßen die Schüler beispielsweise vor einer etwa 40 x 40 cm große Tafel, auf der Zahlen durcheinander abgebildet waren. Mit einem Zeigestock sollten sie nun – laut zählend – möglichst schnell die Zahlen in der richtigen Reihenfolge anzeigen. Hinter dieser Versuchsanordnung verbarg sich eine vermutete Korrelation zwischen einer schnellen Bewegungsleistung im Sport und einer erhöhten Konzentrationsfähigkeit im Erfassen von Zahlen.19 Aufgrund der durch Körpermessungen und psychotechnische Tests ermittelten Durchschnittswerte folgerte Reich, dass diejenigen Schüler, die die Zahlenquadratprobe zügig gemeistert hatten und groß gewachsen waren, auch schnelle Läufer wären, und dass die besten Läufer ein im Vergleich geringes Körpergewicht aufweisen würden. Im Ganzen, meinte Reich, lieferten anthropometrische ebenso wie psychotechnische Durchschnittszahlen brauchbare Daten für die Beurteilung der Individuen. Deshalb sollten – so seine Folgerung – in Erfurt fortan große Wettkampfmannschaften auf städtischen Sportplätzen in der oben skizzierten Weise getestet werden. Darüber hinaus regte er entsprechende Untersuchungen in Volks- und Berufsschulen an.20 Beispielhaft war etwa das folgende Untersuchungsszenario: Eine flexible Apparateauswahl, darunter überwiegend transportierbare und verschieden kombinierbare Messund Aufzeichnungsgeräte, diente zur gesonderten Analyse physiologischer und psychischer Eigenschaften des Sport treibenden Untersuchungsobjekts. Da solche Geräte in 17 Als Überblick siehe Lutz Raphael 2012: Embedding the Human and Social Sciences in Western Societies, 1880–1980. Reflections on Trends and Methods of Current Research. In: Kerstin Brückweh, Dirk Schumann, Richard Wetzell und Benjamin Ziemann (Hg.): Engineering Society. The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880–1980. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 41–56. 18 Wilhelm Reich 1925: Einiges über Anthropometrie und psychotechnische Prüfungsarten in der Sportberatung. Die Leibesübungen, 1, 572 f. 19 Robert W. Schulte 1925: Sportarzt und Sportpsychologie. Die Leibesübungen, 1, 489–492, hier 491. 20 Reich 1925: 573.

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der Regel unter Laborbedingungen entwickelt worden waren, mussten sie häufig für den Gebrauch auf dem Sportplatz einfacher, handlicher und robuster um- oder nachgebaut werden.21 Auch wird hier ersichtlich, dass die Kernbegriffe ‚Eignung‘, ‚Befähigung‘ oder ‚Leistung‘ der Welt der Arbeitswissenschaften entlehnt waren. Darauf deuten neben den Verfahren und Apparaten auch die Beweggründe und Argumente, mit denen eine solche Praxis gerechtfertigt wurde, bezweckte man doch nicht nur eine Erhebung vergleichbarer Daten für die körperliche Entwicklung, sondern beabsichtigte auch, den einzelnen Schülern aufgrund der gesammelten Daten die jeweils geeignete Sportart zuzuweisen.22 Die normative Anpassung erfolgte also nicht durch moralische Belehrung, ökonomischen Zwang oder schlechte Noten, sondern durch die vermeintlich exakte Prognose der Leistungsfähigkeit und Eignung. Insofern zeigen sich in diesen Untersuchungen sowie den damit verknüpften Motiven und Praktiken deutlich die Denkmuster und Kategorien einer tayloristisch inspirierten Rationalisierungskultur, wobei in diesem Fall die bekannte Phrase vom „rechten Mann am rechten Platz“ auf den Sportplatz angewandt wurde.23 Die Verbindung zwischen der Weimarer Sportforschung und der Weimarer Rationalisierungskultur manifestierte sich besonders ausgeprägt in der Person des schon erwähnten Robert Werner Schulte. Schulte war Dozent für experimentelle und praktische Psychologie an der Humboldt-Hochschule und Leiter des psychotechnischen Laboratoriums der Deutschen Hochschule für Leibesübungen sowie der Psychotechnischen Hauptprüfstelle für Sport und Berufskunde.24 Als Erfinder unzähliger Apparaturen ist er geradezu ein Musterbeispiel der apparativen Sportpsychologie der 1920erJahre. In seinen psychotechnischen Untersuchungen gebrauchte er zahlreiche zumeist selbst entwickelte Geräte. Diese Apparate waren nicht nur dazu gedacht, um Untersuchungen an Versuchspersonen vorzunehmen, sondern umgekehrt hatten die Probanden ihrerseits die Funktion, die diagnostische Brauchbarkeit der neuartigen Geräte und Testverfahren zu prüfen.25 Dass für die Tests im Sport allerdings keine allzu ausgefeilte Technik erforderlich war, zeigt das Verfahren zur Messung der „Standhaftigkeit“, bei der mittels eines „Mutprüfers“ festgestellt wurde, wie häufig und wie lange und mit welchen Veränderungen seiner Mimik der Proband es fertig brachte, einen elektrisch geladenen

21 Ausführlicher Noyan Dinçkal 2012: „In die seelische Struktur des Sportmannes eindringen“. Sport als psychotechnische Versuchsanordnung in der Weimarer Republik. In: Franz Bockrath (Hg.): Anthropotechniken im Sport. Lebenssteigerung durch Leistungsoptimierung? Bielefeld: transcript, 153–174. 22 Reich 1925: 573. 23 Vgl. auch Frank Becker 2006: Revolution des Körpers. Der Sport in Gesellschaftsentwürfen der klassischen Moderne. In: Alexander Gerstner, Barbara Könczöl und Janina Nentwig (Hg.): Der neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 87–104. 24 Jürgen Court 2002: Sportanthropometrie und Sportpsychologie in der Weimarer Republik. Sportwissenschaft, 1, 401–414. 25 Vgl. Carl Diem 1924: Die Deutsche Hochschule für Leibesübungen. Berlin: Weidmann, 35.

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Abb. 2: Ein Sportstudent am „Mutprüfer“ (Schulte 1925: 221).

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Handgriff zu umfassen (Abb. 2).26 Hiervon abgesehen handelte es sich in der Mehrzahl um befestigte und mit Registrierwerken ausgestattete Sportgeräte, an denen die Versuchspersonen vorgegebene Aufgaben zu erfüllen hatten. Die gemessenen Funktionen waren jeweils für eine bestimmte oder für mehrere Sportarten zentral, so wie Rennen, Treten oder Schlagen (Abb. 3). Aufzeichnungsvorrichtungen erfassten und visualisierten die psychophysischen Bewegungsdaten.27 Die Legitimität dieser Prüfverfahren hing wesentlich von ihrer praktischen Anwendbarkeit ab. Besonders Schulte strebte eine enge Kooperation mit den Behörden an. In seinen Veröffentlichungen

Abb. 3: „Boxkraftprüfer“ zur Eignungsfeststellung für den Boxsport (Edmund Neuendorff (Hg.) 1927: Die deutschen Leibesübungen. Großes Handbuch für Turnen, Spiel und Sport. Berlin: Wilhelm Andermann, 120).

26 Schulte 1925: 492. 27 Ders. 1922: Neukonstruktionen von Apparaten zur praktischen Psychologie. Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. Leipzig: Barth; ders. 1925: Eignungs- und Leistungsprüfung im Sport. Die psychologische Methodik der Wissenschaft von den Leibesübungen. Berlin: Guido Hackebeil; Fritz Giese 1925: Handbuch der psychotechnischen Eignungsprüfungen. Halle/Saale: Carl Marhold.

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unterstrich er wiederholt die zentrale Bedeutung wissenschaftlicher Tests für städtische Sportberatungsstellen ebenso wie für Schulärzte und Sportlehrer. Diese hätten unter anderem die Aufgabe, angehenden Sportlern eine „nutzlose Kraft- und Lustvergeudung“ zu ersparen. Voraussetzung für ihren Erfolg seien allerdings „objektive“, also auf wissenschaftlichen Untersuchungen basierende Ratschläge, damit nicht wahllos Leibesübungen „verordnet“ würden. Das Maß und die Art der körperlichen Betätigung müsse je „nach der körperlichen und geistigen Beschaffenheit des betreffenden Menschen“ abgestuft werden, „um ein Höchstmaß von Leistungsverbesserung und Lebensfreude zu erzielen“.28

Widerspenstige Vermessungsobjekte Bemerkenswerterweise entsprachen die Messdaten häufig nicht den Erwartungen der Wissenschaftler. Dies lässt sich kaum auf einfache, eindeutige Weise erklären. In den Quellen wird recht häufig beklagt, dass man nicht auf die erhoffte Menge an zu vermessenden Körpern zurückgreifen konnte. Dies offenbart ein ernst zu nehmendes Problem der historischen Analyse. Unsere primären Quellen stammen vielfach von den Wissenschaftlern selbst. Sie geben uns Auskunft über deren Erkenntnisinteressen, theoretische Vorannahmen und Folgerungen, nach deren Maßgabe die Untersuchungsobjekte in Zahlenreihen zusammengefasst wurden. Doch von Problemen der Praxis, die die Ergebnisse weniger eindeutig erscheinen lassen könnten, oder gar vom Eigensinn der Sportler, ist nur selten die Rede. Es gibt jedoch einzelne Indizien, die darauf hinweisen, dass die Vermessung des Sportlerkörpers nicht immer konfliktfrei verlief. Bereits die Einrichtung des Stadionlaboratoriums während der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 fußte auch auf der Vorstellung, erzieherisch auf Sportler einwirken zu können, sodass sie sich bereitwillig für die Untersuchungen zur Verfügung stellen würden.29 Deutliche Hinweise auf eine gewisse Widerspenstigkeit gegen die Vermessungspraktiken lassen sich etwa für die Untersuchungen während der Ersten Internationalen Arbeiterolympiade in Frankfurt am Main 1925 finden. Die riesige Veranstaltung mit etwa 50.000 teilnehmenden Sportlern zog die gesteigerte Aufmerksamkeit vieler Wissenschaftler auf sich, da – wie es der Arzt Karl Fürst ausdrückte – „Massenveranstaltungen in einer Stadt und auf einem Sportplatz […] eine vorzügliche Gelegenheit zu wissenschaftlichen Untersuchungen an großem Menschenmaterial“ böten.30 Die Veranstaltung veranlasste die Frankfurter Sportärztliche Vereinigung zu umfangreichen Studien. Die im Stadionlabor durchgeführten Untersuchungen umfassten Herzmessungen, Kraftmessungen, Blutgrup28 Robert W. Schulte 1923: Neigung, Eignung und Leistung im Sport. Die Körpererziehung, 1, Teil I: 135–138, Teil II: 170–172, hier 137. 29 Zuntz/Brahm/Mallwitz 1911, 30 f. 30 Karl Fürst 1926: Wissenschaftliche Untersuchungen bei Sportveranstaltungen. Im Anschluss an die ärztlichen Untersuchungen während der 1. Internationalen Arbeiter-Olympiade in Frankfurt am Main. Münchener Medizinische Wochenschrift, 73, 947 f., hier 947, Hervorhebung im Original.

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penuntersuchungen, dermatologische Beobachtungen sowie vor allem Körpermessungen, die in Kooperation mit der Anthropologischen Gesellschaft durchgeführt wurden. Die Wissenschaftler gingen sportwissenschaftlichen Fragen nach, verbanden diese aber auch – wegen der internationalen Zusammensetzung der Teilnehmer – mit rassenanthropologischen Fragen. So erfasste die Frankfurter Anthropologische Gesellschaft während der Arbeiterolympiade die Messdaten und Körpermerkmale von Sportlern in speziellen Beobachtungsblättern (Abb. 4). Darüber hinaus wurden die vermessenen Sportler, aufgeschlüsselt in „Anthropologische Typen“, „Ähnliche Typen aus verschiedenen Gegenden“ und „Konstitutionstypen“, auch fotografisch erfasst.31 Im anthropologischen Bildteil sind „Rassetypen“, die etwa als „dinarisch“ oder „nordisch“ bezeichnet wurden, sowie Angaben zu Stirnhöhe oder Nasenbreite zu finden, während die von den abgebildeten Personen betriebenen Abb. 4: Beobachtungsblatt Nr. 2 der Frankfurter Sportarten unberücksichtigt blieben.32 So Anthropologischen Gesellschaft anlässlich der ist in einer entsprechenden BildbeschreiErsten Internationalen Arbeiterolympiade 1925 bung (Abb. 5) zu lesen: „Nr. m. 327. Leip(Schwarz 1927: 57). zig, Sachsen. Vorwiegend nordisch, mit leichter mongolischer Komponente. Haar fast Weißblond; Kinn fliehend; Nasenrücken eingeknickt.“33 Den Ergebnissen der sportbiologischen Untersuchungen bei der Ersten Internationalen Arbeiterolympiade 1925 kann man freilich entnehmen, dass viele der teilnehmenden Sportler gereizt auf diese Untersuchungen reagierten und ihren Körper schlicht nicht zur Verfügung stellten. Die Gründe für diese Widerspenstigkeit gegenüber der Vermessungspraxis konnten variieren, sei es, dass die Sportler befürchteten, aus ihrem Wettkampfrhythmus gerissen zu werden, dass sie lieber massiert werden wollten, dass sie den Wert der 31 Ernst Schwarz 1927: Körpermessungen. In: Erkelenz Gersbach (Hg.): Die Ergebnisse der sportbiologischen Untersuchungen bei der ersten Internationalen Arbeiterolympiade in Frankfurt am Main im Juli 1925, Frankfurt a.M.: Zentralkommission für Sport und Körperpflege, 57. 32 Gersbach 1927: 73–97. 33 Ebd., 1927: 84.

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Abb. 5: Fotografie aus der anthropologischen Bilddokumentation der Ersten Internationalen Arbeiter­ olympiade in Frankfurt am Main 1925 (Gersbach 1927: 84).

Wissenschaften nicht anerkannten oder dass sie es, wie im Fall einiger Sportlerinnen, ablehnten, sich von männlichen Ärzten und Studenten untersuchen zu lassen.34

Gleichheitsversprechen, Leistungsbegriff und Verbesserung des Selbst Die hier vorgestellten Praktiken sportlicher Leistungsmessung und Eignungsfeststellung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts waren Teil einer anwendungsorientierten Leistungswissenschaft und Sozialtechnologie, die eine planmäßige Selbstführung und -verbesserung nach Effizienzkriterien bezweckte. Sie nahm isolierte physische und psychische Eigenschaften in den Blick und konstruierte auf dieser Grundlage Typen, um sie sodann in Gruppen zu bündeln. Doch diese Praxis stand nicht zwangsläufig im Gegensatz zu dem Anspruch, den individuellen Dispositionen der Sportler gerecht zu werden. Die Wissenschaftler wollten mit ihren Apparaten exaktes Wissen über individuelle Differenzen generieren. Sie zielten aber nicht zwangsläufig auf eine strikte Grenzziehung zwischen Normalität und Abweichung, sondern suchten nach Abwandlungen 34 Ebd.: 10. Vgl. auch Fürst 1926: 947 f.

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und Spielarten innerhalb der Normalität, deren Objektivierung eine individuelle Beurteilung und Förderung erst erlauben würde. Vor diesem Hintergrund wird die weitgehend positive Aufnahme etwa der Psychotechnik durch politisch links stehende Schulreformer, die das Schulwesen strikt nach Leistung und Begabung und unabhängig von der Herkunft reformieren wollten, und Gewerkschaften, die sich neue, gerechtere Kriterien in der Einstellungspolitik davon erhofften, verständlicher.35 Der Sport schien Hoffnungen dieser Art vorwegzunehmen, denn ihm selbst wohnte ein utopisches Versprechen inne, dessen Besonderheit in einem egalitären Strukturprinzip bestand, das mit den Begriffen „Chancengleichheit“ und „Leistungsgerechtigkeit“ beschrieben werden kann. Der Erfolg auf dem Sportplatz basierte – zumindest ideell – nicht auf Herkunft und Privilegien, sondern auf individueller Eignung und Leistung, die ad hoc und öffentlich zu erbringen war.36 Und wenn der Psychologe Fritz Giese behauptete: „Rekord und Akkord sind verwandt, denn sie stellen eine exakte Quittung für die Leistung dar“,37 dann verweist dies vor allem auf den im Sport propagierten abstrakten Leistungsbegriff, der von gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Komponenten losgelöst und gerade deshalb für eine objektive, messbare und damit auch unparteiische Beurteilung durch wissenschaftliche Experten und ihre Apparate prädestiniert schien.

35 Anson Rabinbach 1991: The Human Motor. Energy, Fatigue and the Critique of Modernity. Berkeley: University of California Press [übersetzt als Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne. Wien: Turia + Kant 2001], 331–334. 36 Frank Becker 1993: Amerikanismus in Weimar. Sportsymbole und politische Kultur 1918–1933. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag, 172. 37 Fritz Giese 1928: Psychotechnik in der Körpererziehung. Dresden: Wilhelm Limbert, 67.

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„Erkenne und prüfe Dich selbst!“ in einer Ausstellung 1938 in Berlin. Körperleistungsmessungen als objektbezogene Vermittlungspraxis und biopolitische Kontrollmaßnahme1

Dass der Wille zum Wissen über sich selbst zur Vermessung der eigenen Leistungsfähigkeit führt, ist ein relativ junges Phänomen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommen die Kenngrößen dafür aus der Physiologie, deren Aufstieg zur Leitwissenschaft eng mit der Industrialisierung der modernen Gesellschaft verbunden war.2 Einer der wichtigsten Orte, an denen das an messende Verfahren geknüpfte neue Selbstverständnis in der Öffentlichkeit debattiert wurde, waren die seit der Wende zum 20. Jahrhundert insbesondere von Dresden ausgehenden Gesundheitsausstellungen. Sie hatten sich zur Aufgabe gemacht, neuestes biomedizinisches Wissen auch Laien zugänglich zu machen. Die Praktiken der Körperleistungsmessung, die in den Arbeitswissenschaften entwickelt worden waren und im Eignungswesen der Weimarer Republik bereits praktische Orientierung boten, dienten in den Ausstellungen einer eng an Objekten realisierten Vermittlungspraxis. So wurden den Besuchern mithilfe von Demonstrationsapparaten die Arbeitsleistung von Herz, Lunge, Muskeln und Sinnesorganen vorgeführt. Sie konnten sich bei dieser Gelegenheit vor Ort auch selbst testen, was als objektive Form der Selbstbefragung angepriesen wurde. An der sogenannten Halle der Selbsterkenntnis aus der Werkstatt des Deutschen Hygiene-Museums werde ich im Folgenden zeigen, wie diese Verfahren Ende der 1930er-Jahre im Rahmen der sogenannten nationalsozialistischen Gesundheitsführung den Besuchern nicht mehr allein zur Orientierung dienten sollten, sondern auch als Mittel einer biopolitischen Gesamtaufnahme der Bevölkerung genutzt und mit Kontrollfunktionen ver1 Ich danke Doris Kaufmann (Bremen), Sylvia Paletschek (Freiburg i. Br.), Hans-Jörg Rheinberger (Berlin), Volker Roelcke (Gießen), Hans-Walter Schmuhl (Bielefeld) und Eberhard Wolff (Zürich) für die kritische Lektüre einer früheren Version dieses Beitrags. 2 Anson Rabinbach 1990: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity. Berkeley/Los Angeles: University of California Press [übersetzt als Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne. Wien: Turia + Kant 2001], Philipp Sarasin und Jakob Tanner (Hg.) 1998: Physiologie und moderne Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp und Philipp Felsch 2007: Laborlandschaft. Physiologische Alpenreisen im 19. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein.

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bunden wurden. Bei der Kontinuität der Vermessungsapparate und der damit verbundenen Praktiken in den Gesundheitsausstellungen über die politischen Brüche und Lager hinweg, die vom Kaiserreich, über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus noch bis in den Kalten Krieg hineinreichten, drängt es sich auf, nach der Rolle derartiger medizintechnischer Sichtbarmachungsstrategien für die Aneignung des humanwissenschaftlichen Blicks auf den Körper zu fragen. Es gab schon im Pavillon Der Mensch der sogenannten Populären Abteilung der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden Apparate, an denen die Besucher, während sie sich über die Funktionsweisen des Herzkreislauf- und Nervensystems informierten, auch die Arbeitsleistung des Herzens und den Tastsinn an sich selbst prüfen konnten. Derartige Stationen gehörten neben den transparenten Körpermodellen und -präparaten zum festen Bestandteil der Mensch-Ausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums.3 Sie waren auch beim Publikum sehr beliebt und wurden deshalb immer häufiger eingesetzt, wofür die Dresdner Wanderausstellungen Der Mensch und Der Mensch in gesunden und kranken Tagen sowie die Sonderausstellung in der Großen Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen 1926 in Düsseldorf weitere Beispiele darstellen.4 In der Berliner Ausstellung Das Wunder des Lebens 1935 konnte man sich dann neben der Bestimmung des eigenen Atemvermögens mit einem Spirometer, das beispielsweise am Arbeitsplatz des Bergmanns von Bedeutung war,5 auch auf Farbenblindheit prüfen lassen, wie es bei der Eignungsfeststellung in verschiedenen Berufen Praxis war. Die Stationen waren dort in der Abteilung Die Lehre des Lebens aufgebaut und wurden vom Museum gemeinsam mit der Demonstrationsabteilung des Berliner Physiologischen Instituts entwickelt.6 Während die Apparate in diesem Fall aber noch ausschließlich als Vorführungsinstrumente zum Einsatz kamen, bei deren Betätigung Körperfunktionen 3 Mit Mensch-Ausstellungen meine ich die einführenden, wissenschaftlichen Ausstellungseinheiten des Deutschen Hygiene-Museums, in denen Bau und Funktion der Organe des gesunden Körpers demonstriert wurden. Die Vorführungen folgten dabei der Systematik medizinischer Lehrbücher. Begonnen wurde meist mit dem Knochenbau und dem Muskelsystem, dann gelangte man über die Atmung, das Blut und die Verdauungsorgane bis zu den Nerven und Sinnesorganen, vgl. etwa Offizieller Katalog der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden Mai bis Oktober 1911. Berlin: Druck und Verlag von Rudolf Mosse, 378–386; Deutsches Hygiene-Museum (Hg.) 1930: Führer durch das Deutsche Hygiene-Museum Dresden (Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden [im Folgenden StA-HStAD], Bestand DHM 13686, Nr. 58–1). 4 Deutsches Hygiene-Museum (Hg.) 1922: Der Mensch. Ausstellung. Dresden; Deutsches Hygiene-Museum. Zentral-Institut für Volks- und Gesundheitspflege Dresden (Hg.) 1927: Der Mensch in gesunden und kranken Tagen. Sondergruppe „Der Durchsichtige Mensch“. Dresden; Martin Vogel 1927: Die Beteiligung des Deutschen Hygienemuseums an der Gesolei. In: Arthur Schlossmann (Hg.): GE-SO-LEI. Große Ausstellung in Düsseldorf 1926 für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen. Düsseldorf: Verlag von L. Schwann, 449–474, insbes. 453–460. Siehe zu den Leistungsmessungen in den Sportausstellungen auch den Beitrag von Noyan Dinçkal in diesem Band. 5 Zur Gesundheitsüberwachung des bergmännischen Körpers vgl. den Beitrag von Lars Bluma in diesem Band. 6 Erich Schütz 1935: Physiologisches Institut der Universität Berlin. In: Gemeinnützige Berliner Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrs-G.m.b.H. (Hg.) 1935: Das Wunder des Lebens. Amtlicher Füh-

Körperleistungsmessungen als objektbezogene Vermittlungspraxis und biopolitische Kontrollmaßnahme

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allenfalls im Selbstexperiment nachvollzogen werden konnten, erfuhr diese Ausstellungspraxis mit der Halle der Selbsterkenntnis in der Reichsausstellung Gesundes Leben – Frohes Schaffen 1938 am gleichen Ort eine entscheidende Weiterentwicklung, die erklärungsbedürftig ist.7 So wechselte der Reporter in der Morgenausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers vom 24. September 1938, als er auf dieses Ausstellungsensemble zu sprechen kam, vom bis dahin sachlich gehaltenen Vorabbericht über Gesundes Leben – Frohes Schaffen in den Ton einer Werbeanzeige, die sich an ein sensationshungriges Publikum wendet: Achtung! Achtung! Wollen Sie wissen, ob Sie sich auspusten können, ob Sie ein Kraftmensch sind, ob ihr Kalorienbedarf geregelt ist, was Sie für einen Blutdruck haben, wie Ihr Seh- und Reaktionsvermögen ist, kurzum wollen Sie einen ausführlichen und schriftlichen Gesundheitssteckbrief haben? Dann hinein in die Hallen 10 und 11! Dort wird praktische Ge sundhe its p r ü f u n g getrieben. Jeder Besucher bekommt ein Karteiblatt, beginnt mit seinem eigenen Fingerabdruck, wandert von einem Prüfungsapparat zum anderen, läßt sich zum Schluß im „Pavillon der klopfenden Pulse“ von einem der zur Verfügung stehenden Aerzte den Puls zählen und weiß zum Schluß ganz genau, ob und wo ihn irgend ein Schuh drückt! Will er sich aber noch einmal selbst ins Herz hineinsehen, so kann er sich für 2 RM eine Röntgenaufnahme seines Brustkorbes anfertigen lassen – ein Wunderapparat stellt in sechzig Minuten 120 Röntgenaufnahmen her!8

Das Bemerkenswerte an den in der Halle der Selbsterkenntnis aufgebauten zwölf Stationen war nicht nur die Menge und Anordnung der für diesen Zweck umgebauten und teilweise an Spielautomaten erinnernden Apparate, sondern dass diese in einer Halle ohne zusätzliche Exponate hintereinander aufgereiht waren und dass die Ergebnisse am Ende der Leistungsüberprüfung auf einem Blatt in der eigenen Hand gehalten werden konnten. Die schon aus früheren Ausstellungen vorhandenen Geräte wurden für diesen Zweck rer durch die Ausstellung. Berlin: Ala Katalog, 91 f.; vgl. zum Spektrum der interaktiven Elemente der Gesamtausstellung den Beitrag von Michael Tymkiw in diesem Band. 7 Für die bisher ausführlichste Diskussion dieser Ausstellung im Spannungsfeld von nationalsozialistischer Utopie und realpolitischer Wirklichkeit siehe Christoph Kivelitz 1999: Die Propagandaausstellung in europäischen Diktaturen. Konfrontation und Vergleich: Nationalsozialismus in Deutschland, Faschismus in Italien und die UdSSR in der Stalinzeit. Bochum: Winkler, 104–109. Weil eine breitere archivalische Überlieferung nicht gegeben ist, kann ich weniger über Zustandekommen und Wirkung als über die Veranstaltung selbst sagen. Dabei stütze ich mich hauptsächlich auf die Aussagen der Veranstalter und die Presseberichterstattung. Für grundlegende Informationen siehe: Gemeinnützige Berliner Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrs GmbH (Hg.) 1938: Amtlicher Katalog für die Ausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“ Berlin, 24. September bis 6. November 1938, Ausstellungsgelände am Funkturm Berlin. Berlin-Charlottenburg. 8 Lebe länger, froher und gesünder! Heute Eröffnung der Ausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“ auf dem Messegelände. Berliner Lokal-Anzeiger, 24. September 1938, Morgenausgabe, 1. Beiblatt, Hervorhebung im Original. Der Bericht beruht auf dem Presserundgang und der -konferenz, die am Vorabend der Eröffnung stattfanden.

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aus ihrem ursprünglichen thematischen Zusammenhang der anatomisch-physiologischen Aufklärung über Bau und Funktion einzelner Organsysteme herausgenommen, durch neue ergänzt, zu einer Prüfstrecke angeordnet und weitgehend in selbstschreibende Apparate umgewandelt. Das Arrangement zielte unverkennbar auf einen möglichst umfassenden und wegen der von den Geräten selbst vorgenommenen Dokumentation auch als besonders objektiv geltenden Gesundheitstest. In diesem betont medizintechnischen Setting erhielten die Messgeräte eine neue Funktion als Sprachrohre des eigenen Ichs, das hier gerade nicht wie in der zeitgenössischen Psychologie als intrapsychische Instanz verstanden wurde. Der im Berliner Lokal-Anzeiger mit dem Begriff des „Gesundheitssteckbriefs“ kriminalisierte, aus der Selbstwahrnehmung vermeintlich entschwundene Körper, erschien hier als Corpus delicti, dessen man nicht anders habhaft werden konnte, als ihn mit äußeren Hilfsmitteln, so über seine Vermessung und Leistungsabfrage, zu kartieren. Diese interaktive Einlage in der Ausstellung bedeutete nicht nur die konsequente Weiterentwicklung einer am Deutschen Hygiene-Museum zur Entfaltung gebrachten objektbezogenen Vermittlungspraxis, mit der sich diese Einrichtung schrittweise in Richtung Volksbildungsinstitut professionalisierte.9 Sie markiert gleichzeitig auch einen radikalen Bruch zur eigenen Vorgeschichte, weil nun 1938 erstmals in Kombination mit der individuellen Aufzeichnung der Messergebnisse aus den ehemaligen Instrumenten zur Selbsterfahrung Prüfapparate zur Bestimmung der eigenen Leistungsfähigkeit geworden waren. Mit dem historischen Wissen von heute wird offensichtlich, dass die selbstschreibenden Geräte in der Halle der Selbsterkenntnis bereits das Potential zu ihrer Nutzung durch ein externes Kontrollsystem in sich trugen. Dass dieser Eindruck bei den Zeitgenossen nicht entstand, hatte nicht nur, aber insbesondere auch mit dem betont wissenschaftlichen Arrangement der beiden Untersuchungshallen zu tun. Ihre Ausführung war in propagandistischer Manier darauf angelegt, den tagesaktuellen gesundheitspolitischen Zusammenhang, ohne den die Gesundheitsprüfung wohl kaum in dieser Weise zustande gekommen wäre, nicht zu hinterfragen, sondern für selbstverständlich zu nehmen. In Beschreibungen, wie der gerade zitierten, wurde vermittelt, man wohne einem rein spielerischen und folgenlosen Selbstexperiment bei. Für die Umfunktionierung der Geräte und ihrer Bedeutung für das bereits seit der Industrialisierung vertretene Selbstverständnis des Menschen als Körperleistungsmaschine, wie es in der Halle der Selbsterkenntnis zur Entfaltung kam, spielte aus meiner Sicht das nationalsozialistische Konzept der Gesundheitsführung, in dem die Reichsausstellung im Herbst 1938 stattfand, eine wesentliche Rolle.10 Als sie Ende September eröffnet wurde, lag die „Aktion Arbeitsscheu Reich“ zur Mobilisierung der letzten Arbeitskraft9 Zur Charakterisierung des Hauses als Museum neuen Typs im Selbstverständnis eines Volksbildungsinstituts siehe den Beitrag von Thomas Steller in diesem Band und meine Einleitung. 10 Siehe zur Aufwertung der Prävention in der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik Robert Proctor 2002 [1999]: Blitzkrieg gegen den Krebs. Gesundheit und Propaganda im Dritten Reich. Stuttgart: Klett Cotta.

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reserven noch nicht lange zurück, bei der im April und Juni in zwei Verhaftungswellen mehr als 100.000 Männer als sogenannte Asoziale in Konzentrationslager verschleppt wurden.11 Frankreich und Großbritannien hatten Hitler im September mit dem Münchner Abkommen einen Freibrief für seinen Einmarsch im Sudetenland erteilt und zwei Tage nachdem die Ausstellung ihre Pforten schloss, fanden die Novemberpogrome gegen die jüdische Bevölkerung statt. Wie Robert Proctor in seiner Studie zur Krebsprävention beispielhaft gezeigt hat, muss die aus heutiger Sicht erstaunlich vorausschauende Haltung der Nationalsozialisten zur Gesundheit der Arbeiterschaft unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden.12 Während die Präventionskonzepte nicht neu waren, konzentrierten sich die Schutzmaßnahmen nun ausschließlich darauf, möglichst viele leistungsfähige und qualifizierte Arbeiter für die Kriegsmobilisierung zur Verfügung zu haben. Als mit dem Vierjahresplan die gesamte Wirtschaft auf militärische Ziele umgestellt wurde, kam die Frage nach Gesundheits- und Arbeitsschutz auch deshalb auf, weil es aufgrund des gesteigerten Arbeitstempos und der längeren Arbeitszeiten zu mehr Unfällen und Krankheitsfällen gekommen war. Des Weiteren ist mit zu bedenken, dass die Idee der Reinhaltung der deutschen Volksgemeinschaft von gesundheitlichen Gefahren eng mit der Idee von „rassisch“ definierten Fremdkörpern verbunden war, denen ein vergleichbarer Schutz versagt blieb. Arbeit stellte, so lässt sich zusammenfassen, zwar de facto schon vor dem Nationalsozialismus eine zentrale Wertkategorie dar, sie wurde aber jetzt auch zum Dienst an der Volksgemeinschaft erklärt und dem Gesundheits- und Wehrdienst zur Seite gestellt.13 Die Mobilisierung der Bevölkerung für den Eroberungskrieg im Osten und die Umgestaltung der Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik nach erbbiologischen Kriterien waren längst auf den Weg gebracht.14 Die umfangreichen Gesundheitsprüfungen in der Halle der Selbsterkenntnis und in der Röntgenhalle wurden als streng wissenschaftliche Untersuchungen inszeniert. Sie fanden aber, wie die früheren Gesundheitsausstellungen auch, nicht im politikfreien Raum statt und waren nun, das zeigt sich bereits an ihrem thematischen und räumlichen Zusammenhang zu den anderen Abteilungen der Ausstellung, auf das im Rahmen der nationalsozialistischen Gesundheitsführung propagierte Arbeits11 Wie Hans-Walter Schmuhl bereits 2003 dargestellt hat (Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002. Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 252–273), ging vom angespannten Arbeitsmarkt gerade 1938/39 ein starker Druck zur gesundheitlichen Totalerfassung der Bevölkerung aus. Siehe zur Beschäftigungspolitik um 1938 bereits Timothy W. Mason 1975: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik. Opladen: Westdeutscher Verlag. 12 Proctor 2002 [1999]: 90–100. 13 Marc Buggelin und Michael Wildt (Hg.) 2014: Arbeit im Nationalsozialismus. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag. 14 Zur Formierung der Volksgemeinschaft, den Umgang mit den sogenannten Gemeinschaftsfremden und zum Weg in den Krieg siehe einführend Michael Wildt 2008: Geschichte des Nationalsozialismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 90–143.

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und Leistungsideal der „rassisch Erwünschten“ zugeschnitten. Bis in einzelne Teststationen hinein lassen sich Parallelen zu den zeitgleichen Praktiken der individuellen Gesundheitsprüfung beim Eintritt in die SS, SA, Hitlerjugend (HJ), Wehrmacht und den Arbeitsdienst sowie zu den ersten Reihenuntersuchungen in ausgewählten Betrieben und Gauen finden. Bevor ich deshalb die Prüfapparate im Einzelnen vorstelle, widme ich mich ihrer Positionierung im Gesamtkonzept der Veranstaltung.

Gesundheit ist Alles! Nationalsozialistische Gesundheitsführung in Gesundes Leben – Frohes Schaffen Der Weg zur Halle der Selbsterkenntnis und zur Röntgenhalle führte die Besucher über die Masurenhalle, in der sich rechts die sogenannte Kernabteilung Gesundheit ist Alles! und links die Jubiläumsausstellung der größten Unterorganisation der Deutschen Arbeitsfront, der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ (KdF), befand. Anschließend ging es (nach links auf der Skizze in Abb. 1) zum Rundgang durch die Organisationen. Im Innenhof, im sogenannten Funkturmgarten, waren die Halle der Selbsterkenntnis und die Röntgenhalle aufgebaut. Die Einladung zur spielerischen Selbstprüfung erfolgte damit erst, nachdem die Besucher erfahren hatten, als wie wichtig die Gesunderhaltung des Einzelnen für den Überlebenskampf der deutschen Volksgemeinschaft angesehen wurde und mit welchen Mitteln die Gesundheitsführung der nationalsozialistischen Elite angetreten war, der Entstehung von Krankheiten und Leistungsabfällen in ihren Reihen präventiv zu begegnen. Genauer betrachtet kamen die Besucher, nachdem sie den Haupteingang zur Reichs­ ausstellung passiert hatten, zuerst in den als Ehrenraum gestalteten Mittelteil der Masurenhalle. Dort wurden sie mit dem üblichen pathetischen Bildprogramm derartiger Großveranstaltungen aus Naturinszenierung und politischer Symbolik auf die Ziele der nationalsozialistischen Gesundheitsführung eingestimmt. Weitergeführt und zugespitzt wurde dieser Einstieg ins Thema im Innenhof der Kernausstellung, in der eine Frühlingswiese, ein Wasserbecken mit Springbrunnen und ein an der Stirnseite der Halle vor einer Sonne emporsteigender Adler zu sehen waren.15 Rechts und links von der Skulptur waren die vier sogenannten Grundgesetze der Schadensverhütung angebracht, die in der Aussage gipfelten: „Schadensverhütung ist verwirklichter Nationalsozialismus Deines täglichen Lebens.“16 Sie stammen von Curt Thomalla, dem Referenten für Volksgesundheit und Volkswohlfahrt in Goebbels Reichsministerium für Volksaufklärung und 15 Siehe vergleichend dazu die Gestaltung der Eingangshalle in Das Wunder des Lebens im Beitrag von Michael Tymkiw in diesem Band sowie zur Inszenierung des Führerkults in den Reichsausstellungen Hans-Ulrich Thamer 1998: Geschichte und Propaganda. Kulturhistorische Ausstellungen in der NSZeit. Geschichte und Gesellschaft, 24, 349–381. 16 Curt Thomalla 1938: Schadensverhütung ist praktischer Nationalsozialismus des Alltagslebens. In: Amtlicher Katalog, 74–76.

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Abb. 1: Ausschnitt aus der Planskizze der Reichsausstellung Gesundes Leben – Frohes Schaffen. Die Halle der Selbsterkenntnis befand sich zwischen Halle 7 und 6 und die Röntgenhalle zwischen Halle 7 und 8 (Amtlicher Katalog 1938: 144).

Propaganda. Die Gesundheitsfürsorge im Nationalsozialismus verstand sich hier nicht mehr als Hilfsangebot für Kranke, sondern konzentrierte sich zunehmend auf die Förderung der als erbgesund definierten Mitglieder der Volksgemeinschaft. Gesundheit im Sinne einer Abwehr von Gefahren wurde zur nationalsozialistischen Pflicht für jeden Volksgenossen erklärt.17

17 Siehe zur Idee und Praxis nationalsozialistischer Gesundheitspolitik von 1933 bis 1939 zusammenfassend Winfried Süß 2003: Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945. München: Oldenbourg, 32–40.

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Die wissenschaftliche Kernausstellung

Abb. 2: Ausschnitt aus der fotografischen Abbildung des Funktionsmodells Giftmensch, in dem hier am Beispiel von Arsen die Verbreitungswege und Wirkung von Industriegiften im menschlichen Körper demonstriert wurden (Sammlung Deutsches Hygiene-Museum, 2011/170).

In der als Kernausstellung bezeichneten wissenschaftlichen Abteilung wurde in 13 Einzelgruppen der Schutz der Gesundheit in Familie und Betrieb als Minimierung möglicher Krankheitsrisiken dargestellt. Jede Gruppe befasste sich mit einem besonderen Thema, so unter anderem: „Erbanlage und Umwelt“, „Lebe verantwortungsbewußt“, „Was ist und was will die Gesundheitsführung“, „Gesundheitsführung der Werktätigen“, „Unfall“ oder „Die Frau als Hüterin des Volksvermögens“.18 Die aufsehenerregendsten Exponate, auf die in der Presse immer wieder hingewiesen wurden, kamen aus den Werkstätten des Deutschen Hygiene-Museums. Mindestens sieben davon lassen sich benennen, auch wenn es nur wenige Überlieferungen gibt, die Rückschlüsse über Konstruktion und damit verbundene Absichten zulassen. Zu sehen waren: ein sogenanntes VerschwindeDiorama, in dem beobachtet werden konnte, wie der Mensch einen aussichtslosen Kampf gegen Erbanlage und schädliche Umwelteinflüsse führt; ein 3,50 m großer, golemartiger Cellon-Gigant mit transparentem Oberkörper, der als Schmerzensmann inszeniert wurde; das Modell einer 50 qm großen Gläsernen Fabrik zur Demonstration von Arbeits­ schutzmaßnahmen;19 eine sogenannte Lärmkammer, in der von einer Schallplatte 20 Lärmarten aus dem Alltag vorgespielt wurden; ein Unfallkarussell, auf dem im 10-Sekunden-Takt auf einer Drehbühne zwölf verschiedene Gefahrenszenen zu erleben waren; das Funktionsmodell des sogenannten Giftmenschen, an dem beispielhaft verfolgt werden konnte, welche organischen Schäden eintreten, wenn Schadstoffe in

18 Wir gehen durch die Ausstellung. In: Amtlicher Katalog 1938, 145–150 und Albert Wischek 1938: Zur Reichsausstellung Berlin 1938. „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“. Messe und Ausstellung. Zentralblatt für das gesamte Meß- und Ausstellungswesen, 20, Nr. 20: 1–4. 19 [Robert] Koenig 1938: Die Gläserne Fabrik. In: Amtlicher Katalog, 141–143 sowie Hermann Hebestreit und Robert Koenig 1938: Die gläserne Fabrik. Ein Beitrag zur Gesundheitsführung in den Betrieben. Dresden: Verlag des Deutschen Hygiene-Museums.

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den Körper eindringen (Abb. 2)20 und schließlich die Gläsernen Torsi einer Frau und eines Mannes, an denen die unterschiedlichen Belastungen bei körperlicher Arbeit vorgeführt wurden. Wie an dieser Objektgruppe deutlich wird, lag der thematische Schwerpunkt auf dem Gebiet der betrieblichen Gesundheitsführung. In allen diesen Installationen wurden die Betrachter mit neuesten Methoden, das heißt mittels Dreidimensionalität, Ton, Lichteffekten und teilweise auch Bewegung für einzelne Gefahrensituationen sensibilisiert. Der Stil der Ausstellung entsprach offenbar der Gesundheitspropaganda, die das NSDAP-Hauptamt für Volksgesundheit nach der Machtübernahme für das Deutsche Hygiene-Museum vorgesehen hatte und die ab 1936 vom neuen wissenschaftlichen Leiter Theodor Pakheiser, seiner Meinung nach, im Museum fortan in klarer Abgrenzung gegen die Gesundheitsaufklärung der Weimarer Republik verfolgt werden sollte.21 Angesprochen wurden vor allem Gefühle der Angst und des Schreckens vor Krankheit und Siechtum, was mit der idealen Welt der als erbgesund erklärten Volksgemeinschaft kontrastiert wurde. Dargestellt wurde, dass ohne die entsprechenden Schutzmaßnahmen Gesundheit und Leistungskraft eines jeden Menschen überall, auf der Straße, zu Hause oder im Betrieb, durch Krankheit und Unfälle bedroht seien. Diese Erkenntnis zu beherzigen, wurde als vernünftige Einsicht in eine biologisch begründete Notwendigkeit vorgeführt. In diesem Sinne läge es in der Hand jedes einzelnen Volksgenossen, wie es hieß, seinen Beitrag zur Gesunderhaltung der Volksgemeinschaft zu leisten. Weil Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Wehrtauglichkeit alles für den nationalsozialistischen Staat bedeutete, worauf im Titel der wissenschaftlichen Abteilung angespielt wurde, galt die Gesundheit des Einzelnen nicht mehr als reine Privatsache. Stattdessen sollte die Ausstellung vermitteln: „Deine Gesundheit gehört Deinem Volke“, wie es Pakheiser, der aufgrund seiner Tätigkeit für das Hauptamt für Volksgesundheit und das Deutsche Hygiene-Museum auch die fachliche Gesamtleitung für die Ausstellung innehatte, im Interview mit dem Völkischen Beobachter am Eröffnungstag auf den Punkt brachte.22 20 Nach der Darstellung von Otto Griebel (Ich war ein Mann der Straße. Lebenserinnerungen eines Dresdner Malers. Hg. aus dem Nachlass von Matthias Griebel und Hans-Peter Lühr. Frankfurt a.M.: Röderberg Verlag. Lizenzausgabe 1986, 394) soll die Idee des Giftmenschen von Dr. med. Artur Brandt stammen, der als Landesgewerbearzt im Sächsischen Ministerium für Wirtschaft und Arbeit tätig war. Das KPD-Mitglied Griebel hatte schon vor 1933 fürs Museum illustrative Aufträge ausgeführt, wurde dann als „entarteter“ Künstler verleumdet, aber von 1936 bis 1938 von Brandt nochmals für das Museum mit kleineren Arbeiten beschäftigt. 21 Th. [Theodor] Pakheiser 1938: Volksgesundheit – das Ziel der Reichsausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“. Messe und Ausstellung. Zentralblatt für das gesamte Meß- und Ausstellungswesen, 20, Nr. 20: 4. Deutlich wurde die Abgrenzung bereits in Pakheisers erster Ausstellung mit dem Deutschen Hygiene-Museum: Ewiges Volk. Reichswanderschau des Deutschen Hygiene-Museums Dresden und des Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP. Dresden 1937. Zur antithetischen Inszenierung in den Reichsausstellungen vgl. Thamer 1998 und Kievelitz 1999. 22 Was die Ausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“ lehrt. Deine Gesundheit gehört Deinem Volke. Völkischer Beobachter, 24. September 1938, Berliner Ausgabe, 6; siehe für eine kurze Biographie von Pakheiser Süß 2003: 472 f.

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Die Ausstellungshallen der Organisationen Mit welchen Maßnahmen Gesundheit und Leistungskraft des Einzelnen erhalten und gesteigert werden kann, wurde den Besuchern am Beispiel der Wehrmacht und der nationalsozialistischen Organisationen vorexerziert. In ihren Ausstellungshallen de­monstrier­ten sie die Führungsrolle, die sie für die Gesundheit ihrer Mitglieder übernommen hatten. Sie leiteten daraus nicht zuletzt auch ihren politischen Führungsanspruch für die gesamte deutsche Volksgemeinschaft ab. Neben Informationen über sportliche Ausbildung, politische Schulung, Freizeitgestaltung und jeweilige Wirkungsfelder wurde in diesen Hallen auf die verschiedenen Anstrengungen hingewiesen, die bereits unternommen worden waren, um die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Mitglieder zu überwachen. Es waren diese Maßnahmen der Gesundheitsförderung und regelmäßigen Körperleistungskontrolle, die den realpolitischen Rahmen für die Untersuchungssituation in der Halle der Selbsterkenntnis und der Röntgenhalle evident machten. Sie fanden sich in den Gesundheitsprüfungen in der SS, SA, dem Gesundheitsdienst der Hitlerjugend (HJ) genauso wie in den Musterungen der Wehrmacht und des Arbeitsdienstes oder in den Vorsorgeuntersuchungen am Arbeitsplatz im Betrieb und den ersten großen Reihenuntersuchungen der arbeits- und wehrfähigen männlichen Bevölkerung für einzelne Jahrgänge und in verschiedenen Gauen. Im Rundgang durch die Hallen wurde deutlich, dass die Gesundheitsfürsorge im Nationalsozialismus an die wiederholte Untersuchung der Probanden geknüpft war. Entscheidend war dabei nicht nur die Prüfung der Leistungsfähigkeit an sich, sondern auch ihre regelmäßige und möglichst lückenlose Dokumentation. Für die Verklammerung der eher theoretischen Argumentation zur Bedeutung von Erbanlagen und Umwelteinflüssen für die Gesundheit des Einzelnen in der wissenschaftlichen Abteilung mit der Präsentation der bereits in die Praxis umgesetzten gesundheitspolitischen Maßnahmen sorgte das Hauptamt für Volksgesundheit. Es hatte die Federführung im Reichsarbeitskreis für Gesundheitsführung der NSDAP, der gemeinsam mit der KdF und dem Berliner Messeamt als Veranstalter der Gesamtausstellung fungierte. Die Reichszentrale für Gesundheitsführung im Reichsinnenminsterium hatte im November 1933 die Nachfolge des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst aus der Weimarer Republik angetreten und sollte die privaten und halbstaatlichen Gesundheitsvereine an die Gesundheitspolitik der NSDAP binden. Das Hauptamt für Volksgesundheit stand den Gau- und Kreisämtern für Volksgesundheit vor und beanspruchte die Führungskompetenz über die gesundheitspolitischen Aktivitäten aller Gliederungen der NSDAP, insbesondere der Deutschen Arbeitsfront (DAF), des Reichsarbeitsdienstes, der Wehrmacht und der HJ, die jeweils eigene Gesundheitsdienste hatten.23 Friedrich 23 Auch im Politikfeld der Gesundheit herrschten im Nationalsozialismus polykratische Zustände, so standen mindestens bis zum Kriegsausbruch und dem Wechsel von Wagner zu Conti als Reichsärzteführer die staatliche Gesundheitsbürokratie zum Gesundheitswesen der NSDAP und ihren Glie-

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Bartels, der die Reichszentrale im ersten halben Jahr geleitet hatte, ging als Vertrauter und Stellvertreter des Reichsärzteführers Gerhard Wagner zum 1934 gegründeten Hauptamt und war auch für dessen Konzeption verantwortlich. Dort befasste er sich in enger Zusammenarbeit mit Robert Ley, dem Reichsorganisationsleiter der NSDAP und Leiter der DAF, mit dem Ausbau des betrieblichen Gesundheitsschutzes.24

Abb. 3: Rundgang durch die Hallen der Organisationen, Ausschnitt aus der Planskizze (Amtlicher Katalog 1938: 144).

Von welchen konkreten, bereits praktizierten Leistungsfeststellungen konnten die Besucher in ihrem Rundgang durch die Hallen 4 bis 8 erfahren (Abb. 3)? Laut Darstellung im Amtlichen Katalog zeigten die DAF und das Hauptamt für Volksgesundheit in Halle 8 derungen sowie auch die einzelnen Organisationen mit ihren Gesundheitsabteilungen untereinander im Konkurrenzverhältnis, vgl. Alfons Labisch und Florian Tennstedt 1991: Gesundheitsamt oder Amt für Volksgesundheit? Zur Entwicklung des öffentlichen Gesundheitsdienstes seit 1933. In: Norbert Frei (Hg.): Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit. München: Oldenbourg, 35–66; Süß 2003, 42–76 und Michael Kater 1983: Die „Gesundheitsführung“ des Deutschen Volkes. Medizinhistorisches Journal, 18, 349–375. 24 Karl-Peter Reeg 1988: Friedrich Georg Christian Bartels (1892–1968). Ein Beitrag zur Entwicklung der Leistungsmedizin im Nationalsozialismus. Husum: Matthiesen Verlag.

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beispielsweise, dass die vom Hauptamt eingesetzten Betriebsärzte die Frage nach der Tauglichkeit im Beruf nicht mehr dem Zufall überließen, sondern in Reihenuntersuchungen Herz und Lunge prüften und die Arbeitsplatzwahl inzwischen von der körperlichen Konstitution des Einzelnen abhängig machen würden.25 Weiterhin wurde in Halle 4 der NS-Volkswohlfahrt und HJ berichtet, dass schon etwa eine Million Jugendliche jährlich nach dem Gesundheitsstammbuch untersucht und durch den Gesundheitsappell der HJ bereits sieben Millionen pro Jahr überprüft worden seien.26 In der Halle 5 der SA und SS wurde den Besuchern anschließend vorgeführt, wie die erbbiologische Besten­ auslese funktioniert und die SA gemeinsam mit dem Hauptamt für Volksgesundheit betriebliche Reihenuntersuchungen zur Früherkennung von Tbc vornimmt.27 In Halle 6 der Wehrmacht und des Reichsarbeitsdienstes waren dann nicht nur die Ergebnisse der Musterungen zu besichtigen, die als Barometer der Volksgesundheit bezeichnet wurden, sondern es konnte auch das im Jahr zuvor eingeführte Gesundheitsbuch im Großfoto in Augenschein genommen werden, das den Dienstpflichtigen vom Eintritt in den Arbeitsdienst bis zum Ausscheiden aus der Wehrmacht begleiten sollte. Darin seien Vorerkrankungen, die Entwicklung des Körpergewichts und besondere ärztliche Untersuchungen notiert worden. Außerdem soll in dieser Abteilung das Röntgenverfahren bildlich dargestellt worden sein.28 In Halle 7, die den Hallen 10 und 11 vorgelagert war, befand sich schließlich ein Restaurant und die Ausstellung zum nationalsozialistischen Schrifttum.

Die Umkehrung der Beobachterperspektive in den Hallen 10 und 11 Im Unterschied zu den von den Organisationen durchgeführten Gesundheitsprüfungen, von denen die Besucher in der Ausstellung erfahren konnten, und anders als bei der Röntgenuntersuchung in Halle 11 stellte die Halle der Selbsterkenntnis keine reale Situation dar. Es handelte sich vielmehr um eine Art Versuchsstation, bei der zwar reale Ergebnisse produziert wurden, die aber für die gemessenen Subjekte nur einen Orientierungswert haben sollten. Die eigentliche Beurteilung der Messwerte und damit des Gesundheits25 K. B. [Kurt Blome] 1938: Die Sorge um den schaffenden Menschen. In: Amtlicher Katalog, 38; siehe für die Auswertung der Abteilungen auch: Wir gehen durch die Ausstellung. In: ebd.: 144–179. 26 Bannführer Rockmann 1938: Gesunde Jugend – Gesundes Volk. In: ebd.: 66. Zur HJ siehe auch Thomas Beddies 2009: „Du hast die Pflicht gesund zu sein“. Der Gesundheitsdienst der Hitler-Jugend 1933–1945. Habilitationsschrift Charité Berlin (http://d-nb.info/1027498345/34, letzter Zugriff am 4. August 2014). 27 Dr. Mrugowsky 1938: Auslese und Gesundheitsführung in der SS. In: Amtlicher Katalog, 56–60 sowie Dr. Karl Heinz Koch 1938: Gesundheitspflege und Leibesertüchtigung in der SA. In: ebd.: 62. In der SS-Abteilung wurden die eigenen Praktiken der Auslese mit der Gegenauslese der politischen Gegner auch visuell kontrastiert (Wischek 1938: 3, siehe dazu auch Kivelitz 1999: 108). 28 Dr. Lierow 1938: Der Reichsarbeitsdienst als Diener der Volksgesundheit. In: Amtlicher Katalog, 54 f.; Dr. Hans Müller 1938: Die Musterungen der Wehrmacht als Barometer der Volksgesundheit. In: ebd.: 46.

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zustandes wurde dem anwesenden medizinischen Personal überlassen oder sollte zu einem späteren Zeitpunkt beim Hausarzt erfolgen. Den Besuchern wurde deshalb empfohlen, die Karteikarte, die sie am Eingang der Halle 10 für 20 Pfennige erwerben konnten, im ausgefüllten Zustand als Souvenir mit nach Hause zu nehmen und als Überweisung zu benutzen.29 Während die Besucher in der wissenschaftlichen Abteilung vor allem für das Gefahrenpotential, das von Krankheiten und Unfällen auf die Leistungsfähigkeit der Arbeiterschaft ausgehen sollte, sensibilisiert worden waren und in den Hallen der Organisationen die Gesundheitsüberwachung durch den nationalsozialistischen Staat als ultimative Lösung des Problems vorgeführt bekamen, wurden sie nun eingeladen, sich von den Apparaten selbst befragen zu lassen. Wie es im Vorabbericht des Berliner Lokalanzeigers anklang, wurde mit den Hallen 10 und 11 ein Wechsel in der Beobachterperspektive vollzogen. Jetzt, im Herz der Ausstellung, war man bei sich selbst angelangt und wurde aufgefordert, den Blick nach innen zu richten. Nach der Besichtigung des selbst verschuldeten Krankheitsleids der einen und der kollektiven Gesundheit der anderen von einer Außenseiterposition heraus war nun die Prüfung des eigenen Zustands an der Reihe. Die Ausstellung zeige dem Besucher nicht, was außerhalb seines Daseinskreises geschehe, sondern sie führe ihn sich selbst vor Augen, so wie er sich noch nie gesehen habe, schrieb das Berliner Tageblatt in seiner Morgenausgabe am Eröffnungstag. Dabei stelle sie ihn nicht nur vor den Spiegel, „sie durchleuchtet ihn auch und lässt ihn sich selbst erkennen und prüfen, ob er bisher so gelebt hat, wie es seine Gesundheit erfordert“.30 Der Blickwechsel in der Ausstellung war eine wohldurchdachte und folgenreiche didaktische Entscheidung. Man könne, so war bereits vier Tage vor der Eröffnung im Völkischen Beobachter zu lesen, das Land der Gesundheit mit Bildern und Statistiken beschreiben und zeigen, was alles für die Gesundheit getan werde. Aber jenseits dieser Darstellung würde, so hoffe man, der Besucher dort am stärksten angesprochen, „wo sich der Mensch seiner eigenen Gesundheit gegenübersieht, wo er sich mit seinem Blutdruck beschäftigt, wo er erfährt, welche Gifte sein Körper verarbeitet, wo er über Ermüdungserscheinungen informiert wird“.31 Die Frage, ob man noch gesund oder schon 29 Siehe u.a.: H. R.: Lärm am Funkturm – aber weniger. Ausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“ mustergültig / Vom Fingerabdruck zum Röntgenbild. Berliner Tageblatt, 8. September 1938, Morgenausgabe, Berliner Stadtblatt, 9 f. Zum Preis der Karte: Vierteljahresbericht der Gesellschaftsfachverwaltung der Berliner Ausstellungen, Eigenbetrieb der Reichshauptstadt (bisher Gemeinnützige Berliner Ausstellungs- und Messe- und Fremdenverkehrs-GmbH), an den Oberbürgermeister (Allg. H I 9a-b) für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1938, Februar 1939 (Landesarchiv Berlin [im Folgenden LA B], A Rep-015-02, Nr. 32092, 9). Ich danke Sebastian Weinert (Berlin) für den Hinweis auf diesen Bericht. 30 Am Funkturm wird der „Giftmensch“ entlarvt. Gesundheitsatteste für jeden Besucher. Berliner Tageblatt, 24. August 1938, Morgenausgabe, 11. 31 Lebe verantwortungsbewusst! Sieben Wochen „Schau der Gesundheit“ in der Messestadt. Völkischer Beobachter, 20. September 1938, Berliner Ausgabe, Beiblatt.

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krank sei, sollte in der Ausstellung nicht mehr der subjektiven Empfindung überlassen bleiben. So wie die Experten in der wissenschaftlichen Abteilung ihr Wissen über Gesundheitsgefahren propagieren konnten, sollten nun ihre diagnostischen Verfahren dazu dienen, diesen Blick auch für die Besucher selbst zu ermöglichen. Statistiken und Bildern des eigenen Körpers, die für jeden auf der Karteikarte buchstäblich greifbar waren, wurde ein größerer didaktischer Wert zugesprochen als abstrakten Erklärungen und fremden Beispielen. Die von den Experten gewonnenen Informationen über den Gesundheitsund Leistungsstand des Einzelnen wurden hier aber auch zur Legitimationsressource, mit der die nationalsozialistische Gesundheitsführung ihre Politik begründete. Es ging ihr um den Schutz der trotz erhöhter Leistungsanforderungen noch gesunden Arbeiterschaft, auf die sie bei der Verwirklichung ihrer Kriegsziele setzte. In diesem Sinne richtete sich die Halle der Selbsterkenntnis vornehmlich auf die Verwirklichung des Ideals vom gesunden und leistungsfähigen Volksgenossen. Der im Artikel des Berliner Lokalanzeigers sogenannte Gesundheitssteckbrief hieß in der Ausstellung deshalb nicht von ungefähr Leistungskarte. Sie war, wie die gerade erst zwei Monate zuvor eingeführte Kennkarte,32 personalisiert und enthielt Informationen, die sie mit Gesundheitspass und Gesundheitsstammbuch kombinierbar machte. Beide waren für bestimmte Bevölkerungsgruppen bereits vorgeschrieben und Bartels versuchte sie seit 1937 für den Arbeitsdienst, die Wehrmacht und die HJ zur Pflicht zu machen.33 Dabei waren die Verfahren der individuellen und persönlichen Dokumentation des Gesundheitszustandes keine reine Erfindung des Nationalsozialismus. Schon 1931, am Ende der Weimarer Republik, wurde beispielsweise die Einführung eines Gesundheitspasses von den Fachleuten in der Öffentlichkeit diskutiert. Obwohl Thomalla, damals noch Vertreter des Reichsausschusses für hygienische Volksbelehrung, und andere Befürworter wie der damalige, später emigrierte Kurator des Deutschen Hygiene-Museums Bruno Gebhard deutlich machten, dass es hierbei (noch) nicht um eine Gesundheitskontrolle der Bürger durch den Staat gehen sollte, hatten ihre Vorschläge zunächst keinen durchschlagenden Erfolg.34 Von dieser Maßnahme erhoffte man sich Rationalisierungseffekte in der Gesundheitsverwaltung und bereits eine erzieherische Wirkung auf den Einzelnen. Von gewerkschaftlicher Seite allerdings, so Gebhard in seiner Zusammenfassung der damaligen Diskussion, wurde die Diskriminierung Kranker auf dem 32 Zur Personenerfassung im Nationalsozialismus siehe bereits Götz Aly und Karl-Heinz Roth 1984: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Berlin: Rotbuch-Verlag [leicht gekürzte Neuauflage: Frankfurt a.M.: Fischer 2000 sowie 2005]. 33 Friedrich Bartels 1936: Das Gesundheitsstammbuch der NSDAP. Weg und Ziel. Zeitschrift des Nationalsozialistischen Deutschen Ärzte-Bundes e. V., 6, 413 f.; ders. 1937: Der Gesundheitspaß. Alle schaffenden Deutschen werden untersucht. Volksgesundheit. Fachliches Schulungsblatt der Deutschen Arbeitsfront, 2, Folge 7: 89 f. Siehe auch Reeg 1988: 76–78. 34 Z.B. Bruno Gebhard 1931: Für und wider den Gesundheitspass. Hygienischer Wegweiser, 6, Heft 6: 161–163. Ich danke Christine Brecht (Berlin) für den Hinweis auf diese frühe Debatte. Zu Gebhards Schaffen in Deutschland und später in den USA siehe den Beitrag von Michael Tymkiw in diesem Band.

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Arbeitsmarkt und ein freiwilliger Verzicht auf ärztliche Fürsorge befürchtet. Die Einführung scheiterte schließlich an den medizinischen Standesvertretern, die, wie Gebhard berichtete, vor noch mehr eingebildeten Kranken auf der einen und der Zunahme von Sorglosigkeit auf der anderen Seite gewarnt hatten. Wie häufig bei derartigen Aufklärungsmaßnahmen, fühlten sich die Ärzte in ihrer Deutungsmacht angegriffen. Als 1937/38 das Hauptamt für Volksgesundheit darauf hinarbeitete, die staatliche Fürsorge immer stärker auf die als leistungsfähig Beurteilten einzugrenzen, war es nicht verwunderlich, dass die ursprünglich aus der Buchhaltung stammenden und in den empirischen Wissenschaften weiterentwickelten Beobachtungsverfahren wieder aufgegriffen und in neue Ziele eingespannt wurden. Das gesundheitspolitische Ideal des erbgesunden, leistungsfähigen Volksgenossen schien in dieser scheinbar politisch unverfänglichen, objektiven, sichtbar gemachten Sprache der Zahlen, Kurven und Bilder auf der Leistungskarte und im Röntgenfoto für die eigene Propaganda besonders geeignet.

„[D]ie eigentliche Sensation der Ausstellung“: Besucherzahlen Das große Publikumsinteresse an der Halle der Selbsterkenntnis dokumentiert die hohe Bereitschaft zu dieser Form der freiwilligen Selbstkontrolle, welche Motive im Einzelnen auch dahinter standen. Bemerkenswerterweise bezeichnete der Direktor des Messeamts Albert Wischek die Röntgenaufnahme scherzhaft, wie er einräumte, als „medizinisches Gestapobild“. Für ihn sei es höchst reizvoll, hier „sich selbst, so ganz ohne Zeugen, einmal gegenübergestellt zu sein“. Diese „Selbsterkenntnis-Einsiedelei“ feierte er als „Triumph der deutschen Ausstellungstechnik“.35 Hier urteilte der Fachmann in eigener Sache. Laut Abschlussbericht des Messeamts sei die Halle der Selbsterkenntnis „die eigentliche Sensation der Ausstellung“ gewesen und hätten sich in den sechs Wochen der Veranstaltungsdauer von den 360.000 Gesamtbesuchern allein 92.632 untersuchen lassen.36 Das entsprach etwas mehr als einem Viertel aller Gäste, durchschnittlich 1.382 pro Tag beziehungsweise auf die neunstündige Öffnungszeit umgerechnet, rund 154 pro Stunde. Wegen der langen Wartezeiten am Eingang der Halle wurde zehn Tage nach der Eröffnung in der Presse bereits geraten, „recht früh“ dorthin zu gehen.37 Das Röntgengerät in Halle 11 wurde von der Firma Golde aus Gera entwickelt und zur Verfügung gestellt.38 Es handelte sich dabei um einen vollautomatischen Apparat, der mit einer Kassette ausgestattet war und direkte Reihenaufnahmen in Aktengröße erlaubte, die auf einer Rolle Röntgenpapier gemacht wurden. Nach der Darstellung des 35 Wischek 1938: 4. 36 Vierteljahresbericht der Gesellschaftsfachverwaltung der Berliner Ausstellungen 1939. 37 Die Schau der Gesundheit. Großer Andrang in der Halle der Selbsterkenntnis. Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, 3. Oktober 1938. 38 Siehe auch für die nachfolgenden Zahlen: Franz Heisig 1939: Röntgen-Reihenphotographie. AgfaRöntgenblätter, 9, Heft 2: 40–48, hier 40.

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Weimarer Fürsorgearztes Franz Heisig wären damit in der Ausstellung insgesamt 12.500 Aufnahmen gemacht worden. Am vorletzten Tag verzeichnete er sogar einen Besucherrekord mit 570 Durchleuchtungen. Auf den Zuspruch zur Halle der Selbsterkenntnis bezogen, hätte dies bedeutet, dass sich an diesem Tag jeder zweite bis dritte und über den ganzen Zeitraum hinweg betrachtet, jeder siebte bis achte Besucher nach der Gesundheitsprüfung auch röntgen ließ. Wie Heisig anmerkte, wäre rein technisch eine noch höhere Durchleuchtungsgeschwindigkeit möglich gewesen. Die Zahl, mit der für die neuen rationalisierten Technologien inklusive des alternativen indirekten Schirmbildverfahrens von Robert Janker in Bonn Werbung gemacht wurde, lautete: 120 Aufnahmen in der Stunde.39 Auch wenn am Rekordtag immerhin etwa die Hälfte davon erreicht worden sein soll, waren solchen Größenordnungen in der Ausstellung schon aus logistischen Gründen Grenzen gesetzt. Anders als bei den Betriebsuntersuchungen hätte man hier, so Heisig, Männer und Frauen nicht zusammen in einer Reihe mit freiem Oberkörper antreten lassen können. Zwar gab es 20 Auskleidekabinen in der Halle, aber die Besucher konnten immer nur einzeln in den Aufnahmeraum hereingelassen werden. Der Frankfurter Röntgenologe Hans Holfelder hatte nach eigenen Aussagen unter anderem auch deshalb schon ein halbes Jahr später eine höhere Durchlaufgeschwindigkeit erreicht, weil er in der mit seinem SS-Röntgenreihenbildnertrupp durchgeführten Gesamtaufnahme der Bevölkerung im Gau Mecklenburg den Frauen Papierhemden angezogen hatte, mit denen sie durchleuchtet wurden, während sich die Männer weiterhin entblößt einreihten.40 Die medizinische Begutachtung der Aufnahmen vor Ort scheint allerdings weniger das Problem gewesen zu sein. So berichtet Heisig, es sei nach seinem Verfahren möglich, 200 Aufnahmen in zehn Minuten nach ersten Auffälligkeiten zu sichten.41 Die Überprüfung der Leistungsfähigkeit der Besucher verbindet sich hier mit der Demonstration der Leistungsfähigkeit der Untersuchungsgeräte sowie der darauf abgestimmten Diagnoseleistung der Röntgenologen. Die Ausstellung wurde in diesem Sinne auch zur Vorführung der Leistungsfähigkeit der Geräte der Firma Golde und der hier zum Einsatz gekommenen Diagnoseverfahren genutzt. 39 Vgl. Fußnote 8 sowie Wortmeldung von Heisig in: Verhandlungen der Deutschen Röntgengesellschaft. Bd. 32, Beiheft (Tagungsheft) zu Bd. 58 der Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen. Bericht über die 29. Tagung (erste Großdeutsche Tagung) der Deutschen Röntgengesellschaft vom 4. bis 8. Juli 1938 in München und über die Zwischentagung als Abteilung 23 der Deutschen Gesellschaft für Naturforscher und Ärzte in Stuttgart am 22. September 1938 in Stuttgart. Hg. im Auftrag der Gesellschaft von Prof. Dr. Grashay in Köln. Leipzig: Georg Thieme, 43 f. und Robert Janker 1938: Leuchtschirmphotographie, Röntgenreihenuntersuchung. Die Photographie des Leuchtschirmbildes. Eine Methode der Röntgenreihenuntersuchung. Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 15, 22 f., 34–55; siehe für eine historische Einordnung Monika Dommann 2003: Durchsicht, Einsicht, Vorsicht. Eine Geschichte der Röntgenstrahlen. Zürich: Chronos, 301–315. 40 Hans Holfelder 1939: Einsatz und Tätigkeit der Röntgenreihenbildertruppe der SS in Mecklenburg. Zeitschrift für Tuberkulose, 84, 5-6: 257–264, hier 261 f. 41 Heisig 1939: 41.

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„Der Mensch am Prüfstand“ in der Halle der Selbsterkenntnis und im Röntgenbild Auf die Halle der Selbsterkenntnis, die, wie es hieß, den Menschen auf den Prüfstand stelle, wurde neben anderen ausgewählten Attraktionen aus dem Deutschen Hygiene-Museum bereits in der Werbeanzeige der Ausstellung prominent hingewiesen (Abb. 4). Das Bildmotiv der Anzeige stammt aus dem Ausstellungsplakat, das von den Brüdern Hans Ferdinand und Hein Neuner gestaltet wurde. Wie im farbigen Plakat noch besser zu erkennen ist, waren „gesundes Leben“ und „frohes Schaffen“ geschlechterspezifisch konnotiert. Im Vordergrund ist eine strahlende Frau im weißen Sporthemd zu sehen. Sie lehnt sich an einen idealtypisch dargestellten Arbeiter, der ein kurzärmeliges Blauhemd und auf der Schulter einen Hammer trägt. Beide stehen Rücken an Rücken und richten den Blick nach oben in den blauen Himmel. Die beiden Grafiker hatten ein gemeinsames Atelier in Berlin und sich bereits mit Auftragsarbeiten für die DAF und KdF empfohlen. Wie Herbert Bayer, der beispielsweise das Plakat sowie eine populäre Broschüre für Das Wunder des Lebens gestaltet hatte, kamen sie vom Bauhaus und waren unter seiner Leitung für die Berliner Dorland Studios tätig.42

Abb. 4: Werbeanzeige der Ausstellung (Berliner Tageblatt, 25. September 1938, Anzeigenteil).

42 Ute Brüning 1993: Bauhäusler zwischen Propaganda und Wirtschaftswerbung. In: Winfried Nerdinger (Hg.): Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus. Zwischen Anbiederung und Verfolgung. München: Prestel, 24–47, hier 26–29, 33 und für eine farbige Abbildung des Plakats: 35.

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Handhabung der Apparate und Präsentation der Stationen Daran, dass mit der Gesundheitsprüfung in der Halle der Selbsterkenntnis und dem nachfolgenden Angebot zur Röntgenuntersuchung die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des eigenen Körpers vorgeführt werden sollte, lässt auch ein Werbeblatt, das vermutlich aus dem Deutschen Hygiene-Museum selbst stammte, keinen Zweifel. „Die klassische Forderung ‚Erkenne Dich selbst‘“, so war dort unmissverständlich zu lesen, „meint doch wahrlich nicht nur eine Art seelische Selbstbespiegelung, sondern die gründliche Kenntnis alles Wichtigen, was die Forschung vom Menschen erfuhr.“43 Gemeint war damit nicht, dass den Besuchern nun eine humanbiologische Lehrstunde geboten wurde, in der ihnen an Demonstrationsapparaten Bau und Funktion ihrer Organe erklärt würden, so wie sie es von früheren Ausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums gewohnt waren. Stattdessen ging es darum, zu erfahren, was anhand aktueller Untersuchungsmethoden alles über die eigene Funktionstüchtigkeit in körperlicher Hinsicht herausgefunden werden kann. Das Selbsterforschungsangebot bestand in einer eigens für die Ausstellung zusammengestellten Reihenuntersuchung, die auf die Produktion möglichst vieler verwertbarer Ergebnisse, den individuellen Leistungszustand betreffend, ausgerichtet war. Das Wissen darüber, wie der Körper aufgebaut ist und wie die Organsysteme im Einzelnen funktionieren, wurde hier in der Blackbox der Untersuchungsapparate konsequent zum Verschwinden gebracht und hinter die Stellwände verbannt. Sichtbar gemacht wurde stattdessen auf der Leistungskarte, inwieweit die ermittelten Werte in das vorgegebene Raster passten. Es verwundert daher nicht, dass den Besuchern geraten wurde, strikt den Handlungsanweisungen in der Ausstellung zu folgen, damit die Kurven unverfälscht in die Diagramme gelangen und die Fachleute mit ihnen auch etwas anfangen konnten.44 Deshalb gab es an den Stellwänden spezielle Hinweise darauf, wie die Prüfapparate richtig gehandhabt werden sollten und wo genau die Leistungskarte mit der Tabelle nach oben in die dafür vorgesehenen Schlitze einzustecken war. Auch am Röntgenapparat erhielt jeder eine Karteikarte ausgehändigt, die mit Personalien und sonstigen Angaben versehen und in der Ausstellung von einer Assistentin in das Aufnahmegerät eingeführt wurde. Die persönlichen Informationen wurden dann auf das Röntgenbild kopiert.45 Die richtige Handhabung der Instrumente durch die Laien galt 43 Das unbekannte Ich. Zur Ausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“, undatierter Sonderdruck, o. S., StA-HStAD, 13658, Bd. 3, unpag.). Ich danke Michael Tymkiw (Chicago) für den Hinweis auf dieses Dokument. 44 Siehe konkret dazu: Wir gehen durch die Ausstellung. In: Amtlicher Führer 1938, 166 f. sowie ebenfalls für eine sehr ausführliche Beschreibung der Handhabung der Geräte: H. A.: Was leistet Ihr Körper? In der Halle der Selbsterkenntnis wird die Frage beantwortet. Völkischer Beobachter, 29. September 1938, Berliner Ausgabe. 45 Heisig 1939, seine Wortmeldung im Röntgenkongress von 1938, 44 (Fußnote 38) und F. Bornhardt 1938: Die Röntgen-Reihenmusterungs-Kassette für „direkte Papieraufnahmen“. Agfa-Röntgenblätter, 9, 49–53, hier 50 f.

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als Voraussetzung für das Gelingen der Untersuchung. Dafür mussten die gemessenen Werte genau dort zu finden sein, wo die Fachleute sie interpretieren und später mit den

Abb. 5a: Die neunte Station zur Feststellung der Muskelkraft (Ausschnitt aus Das unbekannte Ich).

Abb. 5b: Vorrichtung zur Messung des Stemmvermögens an der achten Station (ebd.)

anderen Daten vergleichen konnten. An der neunten Station zur Kraftmessung beispielsweise war die Anleitung für die Leistungskarte über dem Schlitz und die für die Handhabung des Gerätes unten, direkt über dem Bedienelement selbst, deutlich lesbar angebracht worden (Abb. 5a). Wenn man hier vorschriftsgemäß die Karte eingeführt, den Griff mit der rechten Hand umfasst, den Zeigefinger in den dafür vorgesehenen Ring gesteckt und zwanzig Mal kräftig gezogen hatte, wurde die Ermüdungskurve des dafür beanspruchten Muskels auf den entsprechenden Abschnitt der Leistungskarte direkt aufgezeichnet. Der Ergograf, der diese Übersetzungsleistung vollautomatisch, das heißt, ohne zusätzliches Personal zu benötigen, bewerkstelligte, war in der Versuchsanordnung selbst nicht sichtbar. Auch im Werbeblatt finden sich keine fachlichen Erklärungen. Stattdessen liefert der Begleittext Hinweise auf lebensweltliche Situationen zu den jeweiligen Prüfsituationen und eine Orientierung, wie die Messergebnisse ausgewertet werden sollen. Unter der Überschrift „‚Fingerhakeln‘ auf wissenschaftlich“ wurde beispielsweise in der Beschreibung

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der neunten Station an den „altbayrischen Sport“ des gegenseitigen Kräftemessens erinnert. Am Ende des Abschnitts war dann zu lesen, wie die eigene Kurve zu interpretieren sei: „Arbeitsgewohnte Hände bewältigen diese Übung spielend und ohne allzustark abfallende Kraftlinien.“46 Damit wurde deutlich gemacht, dass man hier nicht gegen einen Kontrahenten in einem alpenländischen Wirtshaus oder auf dem Jahrmarkt zur allgemeinen Belustigung anzutreten hatte, sondern sich im Wettstreit mit sich selbst befand. Die geforderte Kraftanstrengung diente einer Leistungsabnahme, die nur einen Zwischenschritt auf dem Weg zum wissenschaftlich zertifizierten Nachweis der Arbeitsbefähigung darstellte. Auch die Messung der Körperkraft mit einem Hebel, eine Station vorher, wurde im Werbeblatt ähnlich arbeitstauglich eingeführt. Hier wurde an die Jahrmarktsattraktion „Hau den Lukas“ erinnert, aber anders als im populären Vorbild wurde hier nicht mit einem Hammer geschlagen, sondern ein Hebel mit beiden Händen wie ein Gewicht nach oben gezogen (Abb. 5b). Im Werbeblatt war zu erfahren, das Gerät in der Ausstellung messe viel genauer als auf dem Rummelplatz. Auch in diesem Beispiel wurde die Bewertung gleich mitgeliefert: So gäbe es Kraftmenschen, die das Dreifache ihres Körpergewichts heben könnten. Wenn man aber das anderthalbfache schaffe, dürfe man zufrieden sein.47 Wie schon am Ergometer sollte man sich in der eigenen Leistungsbewertung am Durchschnittswert des Handarbeiters orientieren. Beide Kraftstationen, das zeigen die Präsentationen im Werbeblatt wie auch ihre Besprechungen im Amtlichen Katalog und den Tageszeitungen, wurden in diesem Sinne als Überprüfung zur Befähigung für schwere körperliche Arbeit inszeniert. Da die angegebenen Orientierungsmarken sich in allen Veröffentlichungen zur Ausstellung wiederfinden, ist anzunehmen, dass sie schon im Vorfeld von den Veranstaltern lanciert worden waren.48 Ob die Normwerte in der Halle der Selbsterkenntnis möglicherweise auf Tabellen irgendwo auch aushingen, ist auf den im Werbeblatt überlieferten Fotos nicht zu erkennen. Vermutlich haben die medizinischen Fachkräfte, die an einigen Stationen die Untersuchungen persönlich vornahmen und auch durch die Ausstellung führten, die Normalitätsgrenzen – gefragt oder ungefragt – den Besuchern vor Ort mitgeteilt. Die Abfolge der Stationen lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: Nach der Personalisierung der Karte durch Eintragung des Namens und der Abnahme des Fingerabdrucks wurde zunächst das Gewicht mit einer automatischen Personenwaage und die Körpergröße mithilfe eines Messtellers auf den vorgegebenen Skalen markiert (Abb. 7). Für die Bestimmung des sogenannten Grundumsatzes in Kalorien waren diese beiden Werte und das 46 Das unbekannte Ich. 47 Ebd. 48 So wurde z.B. zur Berechnung des Grundumsatzes auf einen fiktiven Mann im Alter von 30 Jahren mit 1,70 m Größe und 70 kg Gewicht zurückgegriffen, siehe ebd. sowie H. R.: Lärm am Funkturm – aber weniger. Ausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“ mustergültig / Vom Fingerabdruck zum Röntgenbild. Berliner Tageblatt, 8. September 1938, Morgenausgabe, Berliner Stadtblatt, 9 f. Zur Presselenkung durch Pakheiser und das Hauptamt für Volksgesundheit siehe weiter unten.

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Abb. 6a: Pulsmessung in der fünften Station (ebd.).

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Abb. 6b: Messung des Blutdrucks in der sechsten Station (ebd.).

Alter einzustellen. Das Ergebnis wurde auf der Leistungskarte jeweils für Männer und Frauen gleichzeitig angegeben. Die Puls- und Blutdruckmessungen wurden – wie in der medizinischen Praxis auch – nicht mit selbstschreibenden Geräten, sondern in einem abgetrennten Raum durch das Fachpersonal vorgenommen, das auch die Ergebnisse auf die Leistungskarte eintrug (Abb. 6a und 6b). Das Atemvermögen wurde, wie schon in früheren Ausstellungen, mit dem Spirometer gemessen und der Wert dann, vergleichbar zu den anschließenden Kraftmessungen, in die dafür vorgesehenen Felder gestempelt. Den Abschluss bildete die Überprüfung der Sinnesfunktionen. Zuerst wurde das Reaktionsvermögen getestet. Dabei musste man eine rotierende Scheibe an einer bestimmten Stelle durch einen Knopfdruck zum Halten bringen. Ob dies zu früh oder zu spät erfolgte, war anschließend an der Markierung auf dem Kreis auf der Leistungskarte zu sehen.49 In der Presse wurde dieser Versuch als Bestimmung der sogenannten Schrecksekunde dargestellt und als „eine Angelegenheit“ beschrieben, „die beispielsweise für den Autofahrer von erheblicher Bedeutung“ sei.50 Die Prüfung des Farbsinns und des Sehvermögens wurde mittels Tafeln in der bis heute üblichen Weise vorgenommen. Die Probanden mussten hierfür zunächst eine Zahl auf einer erleuchteten Tafel mit vielen, unregelmäßig erscheinenden bunten Punkten erkennen. Sie wurden in fünf verschiede49 Zum Überblick siehe auch: Wir gehen durch die Ausstellung. In: Amtlicher Führer, 165 f. 50 Lebe verantwortungsbewusst! Sieben Wochen „Schau der Gesundheit“ in der Messestadt. Völkischer Beobachter, 20. September 1938, Berliner Ausgabe, Beiblatt.

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nen Kombinationen auf die Fähigkeit ihrer Augen zur Unterscheidung von Rot-Grün und Blau-Gelb getestet. Im Sehtest wurden ihnen anschließend fünf Karten mit verschiedenen Schriftgrößen vorgelegt. Wer den Text mit der kleinsten Schrift noch lesen konnte, dem wurde die volle Sehkraft bescheinigt, ansonsten erhielt man eine entsprechend abgestufte Bewertung. Diese einfachen Prüfungen der Sinnesleistungen waren bereits Bestandteil der ersten psychodiagnostischen Eignungstests, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt worden waren, im Ersten Weltkrieg dann an Kraftfahrern, Eisenbahnern und Piloten durchgeführt und anschließend auf den zivilen Bereich übertragen wurden.51 Dass sie in der Halle der Selbsterkenntnis 1938 abgefragt wurden, lässt sich aus der thematischen Fokussierung der Ausstellung auf den „schaffenden Volksgenossen“ heraus erklären. Für die meisten Berufe waren sogenannte Anlageuntersuchungen der Lehrlinge seit der Hochzeit der Psychodiagnostik in der Weimarer Republik inzwischen etwas ganz Normales.52

Die Untersuchungssituation im biopolitischen Programm des Nationalsozialismus Die Reihenfolge der Stationen war nichts grundsätzlich Neues für das Deutsche HygieneMuseum, sondern war bereits in ihren Mensch-Ausstellungen praktiziert. Der Logik humanbiologischer Lehrbücher folgend, begann man mit der Anthropometrie, ging dann zur Physiologie über, in der die Funktionsweise einzelner Organe vorgeführt wurde, und endete beim Nervensystem und den Sinnesorganen. Der diagnostische Blick führte dabei von außen in den Körper hinein: von den Knochen und Muskeln über den Blutkreislauf und die Atmung als grundlegende Lebensfunktionen zu den geistigen Fähigkeiten.53 Welche Körperleistungen dann aber an den einzelnen Stationen abgefragt wurden, war allerdings nicht allein dieser anatomisch-physiologischen Tradition verpflichtet, sondern stand im Zusammenhang mit dem biopolitischen Programm des Nationalsozialismus. Neben der Auswahl markierte auch die Dokumentation der Messwerte einen Bruch zur bisherigen objektbezogenen Vermittlungspraxis des Deutschen HygieneMuseums. Im Unterschied zur Reichsausstellung Das Wunder des Lebens von 1935 wurden jetzt beispielsweise eher Körperfunktionen abgefragt, die messbar waren und in Reihenuntersuchungen kontrolliert wurden, so in den Musterungen der Wehrmacht, der Rekrutierung von Mitgliedern in den nationalsozialistischen Organisationen und der Durchleuchtung von Belegschaften einzelner Betriebe. 51 Vgl. die Hinweise bei Ulfried Geuter 1988 [1984]: Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 148 f.; Horst Gundlach 1996: Faktor Mensch im Krieg. Der Eintritt der Psychologie und Psychotechnik in den Krieg. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 19, 131–143; ders. 1996: Psychologie und Psychotechnik bei den Eisenbahnen. In: ders. (Hg.): Untersuchungen zur Geschichte der Psychologie und der Psychotechnik. München/Wien: Profil, 126–142. 52 Katja Patzel-Mattern 2010: Ökonomische Effizienz und gesellschaftlicher Ausgleich. Die industrielle Psychotechnik in der Weimarer Republik. Stuttgart: Steiner. 53 Vgl. Fußnote 3.

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Die Differenz zeigt sich am deutlichsten bei den Sinnesleistungen. In der Abteilung Die Lehre des Lebens 1935 wurden den Besuchern noch Selbstversuche angeboten, mit denen alle fünf Sinne geprüft werden konnten. So gab es unter anderem einen sogenannten runden Riechtisch, aus dessen Schubfächern sechs verschiedene Gerüche wahrgenommen werden konnten.54 In der Halle der Selbsterkenntnis von 1938 wurde nur noch die visuelle Wahrnehmung getestet, der neben den allgemeinen Körperleistungsfunktionen im Rahmen der Kriegsmobilisierung das vordringliche Interesse der nationalsozialistischen Gesundheitsführung galt. Im Vergleich beispielsweise mit den in den vier Gauuntersuchungen abgefragten Leistungen erschienen die in der Ausstellung zusammengestellten Prüfstationen als ausführlichere Version dieser noch größer angelegten Inspektionen. Von 1937 bis 1939 hatte die DAF in Kurhessen, Köln-Aachen, Hamburg und der Bayerischen Ostmark etwa 600.000 Arbeiter auf Arbeitsfähigkeit und Wehrtauglichkeit geprüft. Neben Puls, Blutdruck und Lungenfunktion wurde dabei auch die Sehkraft gemessen. Anschließend waren die Ergebnisse in Anlehnung an die Fehlertabelle der Wehrmacht nach einem Schlüssel in vier Tauglichkeitsstufen (bedingte und mittlere Tauglichkeit sowie erhebliche Beeinträchtigung und Behandlungsbedürftigkeit) untergliedert und entsprechend ins Gesundheitsstammbuch und in den Gesundheitspass eingetragen worden.55 Die Übereinstimmung der Stationen im freiwilligen Selbsttest in der Ausstellung mit den Reihenuntersuchungen im Betrieb, die analog auch in der Wehrmacht, im Reichsarbeitsdienst und bei der HJ starteten, bestand nicht nur in der Auswahl der Körper­ leistungsprüfungen, sondern auch in der Art und Weise der Dokumentation der Ergebnisse. Der personalisierten Leistungskarte war prinzipiell die gleiche Funktion wie dem Gesundheitspass des NSDAP-Hauptamtes für Volksgesundheit zugedacht. Während das Gesundheitsstammbuch mit Sippentafel und Gesundheitsbögen über die Kindheits-, Jugend- und Arbeitsphase im Gesundheitsamt verbleiben sollte, wollte Bartels die Führung eines Gesundheitspasses zur Vorbedingung zum Arztbesuch machen. Bereits Ende der 1920er-Jahre, als er noch Werksarzt bei BMW in Eisenach war, hatte er an den psychotechnischen Eingangsuntersuchungen, die in den Prüflabors der Unternehmen vorgenommen wurden, bemängelt, dass die speziellen Funktionstests (wie Fingergeschicklichkeit, optische Gedächtnisleistungen, Reaktionsgeschwindigkeit oder Konzentration für Überwachungsarbeiten) nur Augenblicksaussagen über bestimmte Fähigkeiten zulassen, sich davon aber keine Prognosen für die Leistungsentwicklung des einzelnen Arbeiters ableiten ließen. In seiner späteren Tätigkeit im Hauptamt für Volksgesundheit sprach er sich dann gegen Reihenuntersuchungen aus, wenn damit der 54 Knyphausen: Wunder und Seltsamkeiten. Wo die Besucher der Ausstellung „Wunder des Lebens“ stehenbleiben. Deutsche Allgemeine Zeitung, 26. März 1935. 55 Bei den Betriebsuntersuchungen im Gau Köln-Aachen. Prüfung auf Herz und Nieren. Deutsche Arbeitskorrespondenz. Amtliche Korrespondenz der Deutschen Arbeitsfront, der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ und der Reichsarbeitskammer, 6 (1938), 4: 2 f. Siehe zusammenfassend Reeg 1988: 76–78, 109– 111.

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Einzelne isoliert, das heißt ohne Berücksichtigung des familiären Umfelds und nicht über einen längeren Zeitraum erfasst würde. Aus seiner Sicht war für die Früherkennung möglicher Leistungsabfälle die Zusammenarbeit mit den Hausärzten unverzichtbar, weil nur sie den langjährigen und familiären Einblick in die individuelle Krankheitsgeschichte besäßen. Im Gesundheitsstammbuch der NSDAP sollten nach Bartels deshalb die Ergebnisse aus den jährlichen Funktionsprüfungen der Haus- und Betriebsärzte für unter anderem Herzkreislauf, Atmung, Nervensystem und Verdauungstrakt mit den Resultaten aus der erbbiologischen Begutachtung zusammengeführt werden.56 Dem nationalsozialistischen Gesundheitspass kam damit die Rolle einer tagesaktuellen Leistungskarte zu, die von den Arbeitern wie ein Laufzettel vom Betriebsarzt zum Hausarzt mitgeführt werden sollte. In dieser biopolitischen Rahmung erscheint die freiwillige Reihenuntersuchung der Besucher in der Ausstellung nicht mehr als Selbstzweck und als Einladung zu einem folgenlosen Selbstexperiment, sondern als Mittel zur Generalmobilmachung der Bevölkerung für die Verwirklichung der militärischen und geopolitischen Ziele des Nationalsozialismus. Dies dokumentiert nicht zuletzt die Anschlussfähigkeit der Dokumentationsform, in der die Messergebnisse notiert und an Dritte weitergegeben werden sollten. Im Bestreben der nationalsozialistischen Gesundheitsführung, sich neben der Durchsetzung ihrer restriktiven Bevölkerungspolitik gegenüber den von ihr sogenannten „Gemeinschaftsfremden“ nun noch stärker auf die Förderung der als arbeitsfähig und erbgesund deklarierten Volksgenossen zu konzentrieren, stellt sich das Versprechen zur erhöhten Selbsterkenntnis nach dem Besuch der Ausstellung als Mittel zum Zweck dar, das Bewusstsein für den nationalsozialistischen Leistungs- und Arbeitswert des eigenen Körpers zu schärfen. Wie die Presseberichterstattung zeigt, sahen sich die Veranstalter durch den großen Zuspruch der Besucher in dem von ihnen angestrebten biopolitischen Totalzugriff auf die Bevölkerung bestätigt.

„[E]rfüllt von den Erkenntnissen seiner selbst“? Zum Informationswert der Leistungskarte Gerade in den sehr frühen Zeitungsartikeln über die Halle der Selbsterkenntnis wurde euphorisch mit dem zu erwartenden Wissenszuwachs der Besucher geworben. So war beispielsweise vier Tage vor Ausstellungseröffnung bereits in der BZ am Mittag zu lesen: Der Besucher wird über seinen Körper, seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten, seine Arbeitskräfte Aufklärung erhalten und wird die Ausstellung verlassen, erfüllt von den Erke nnt n i s s e n s e i n e r s e l b s t , die ihm auf dieser Ausstellung geboten werden.57 56 Bartels 1936, 1937 sowie ders. 1938: Gesundes Leben – Frohes Schaffen. Vortrag in der 4. Kommission des Weltkongresses „Arbeit und Freude“ 1938 in Rom. Deutsches Ärzteblatt, 68, 528–530; siehe dazu auch Reeg 1988: 96 f. 57 Der Giftmensch soll uns wachrütteln. Berlin gibt jährlich 100 Millionen für unsere Gesundheit aus. BZ am Mittag, 20. September 1938, Hervorhebung im Original.

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Weil die Frage danach, welche Erkenntnisse die Besucher für sich selbst mitgenommen haben, aufgrund fehlender verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen nicht zu beantworten ist, beginne ich mit einer detaillierten Betrachtung der Leistungskarte und trage anschließend zusammen, wie das Ergebnis der Leistungsprüfung durch die Veranstalter rezipiert und ihr Informationswert beurteilt wurde.

Abb. 7: Innere Seite der Leistungskarte in ihrer leicht abgewandelten Version aus den 1950er-Jahren.

Betrachtet man die Leistungskarte genauer, kann schon aus Gründen der grundsätzlichen Wissensdifferenz zwischen Laien und Experten bezweifelt werden, dass die Besucher anhand der Eintragungen selbst hätten erkennen können, „ob und wo der Schuh drückt“, wie im eingangs zitierten Artikel des Berliner Lokal-Anzeigers vom 24. September 1938 behauptet wurde. Stattdessen erscheint eher wahrscheinlich, dass die vom medizinischen Personal sowie in der Presse mitgeteilten Durchschnittswerte für die Beurteilung der eigenen Messergebnisse miteinbezogen wurden. Spätestens für die Frauen unter den Besuchern ergab sich ein Problem, weil über sie keine Vergleichswerte in der Öffentlichkeit zirkulierten. Das in Abb. 7 dokumentierte Exemplar stammt nicht aus der nationalsozialistischen, sondern aus der DDR-Zeit. Es fand sich in einem antiquarisch erworbenen Begleitheft

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zur Wanderausstellung Die Frau von 1954.58 In der Nummerierung der Stationen weicht es zwar von seinem Vorbild vom Ende der 1930er-Jahre ab, kann aber trotzdem als anschaulicher Beleg für die Leistungskarte von 1938 betrachtet werden.59 Die Ergebnisse für Größe und Gewicht auf der abgebildeten Karte lassen den Schluss zu, dass hier möglicherweise tatsächlich eine Frau zur Körperleistungsprüfung angetreten war. Die Karte enthält zwar einen Fingerabdruck, wurde aber nicht unterschrieben. Ihre Überlieferung in der Broschüre lässt vermuten, dass sie nicht in einem Gesundheitsamt abgegeben wurde, sondern nach dem Ausstellungsbesuch in Privatbesitz blieb. Der Versuch zum Reaktionsvermögen wird durch zwei verschiedene Einkerbungen dokumentiert, was auf eine Wiederholung hinweisen kann. Verglichen mit den für Männer angegebenen Durchschnittswerten von 1938 liegt der gemessene Puls von 76 Schlägen in der Minute oberhalb der als normal angegebenen Größe von 72, das Atemvermögen von 2600 Kubikzentimeter befindet sich unter dem männlichen Normwert von 3 bis 3,5 Litern und auch die Körperkraft liegt unter dem 1,5fachen des Körpergewichts.60 Wenngleich die Differenzen im Vergleich mit den durchschnittlichen Körperleistungen von Männern mittleren Alters und Größe kaum verwundern können, ist, abgesehen von den eindeutig positiv markierten Ergebnissen des Farb- und Sehtests, der Aussagewert der Untersuchungsergebnisse für die betroffene Frau heute nicht mehr nachvollziehbar. Es kann auch bezweifelt werden, dass dies damals anders gewesen sein soll. Der Hauptgrund dafür ist, dass die in der Leistungskarte enthaltenen Informationen in der üblichen voraussetzungsvollen Fachsprache abgefasst waren, in der Experten Messergebnisse gegenseitig austauschen und vergleichen. Wie bereits an der biopolitischen Rahmung der Ausstellung deutlich wurde, lag der Fokus der Veranstalter stärker auf der Anschlussfähigkeit der Ergebnisse zu den Resultaten aus bereits bestehenden Reihenuntersuchungen. Auch die Halle der Selbsterkenntnis war dem Bestreben nach einer biologischen Gesamterfassung und -bewertung der Bevölkerung untergeordnet worden. Hier wurden die Besucher eingeladen, diesem Großexperiment nicht nur als Zeugen beizuwohnen, sondern ihren eigenen Körper für die Beantwortung der Frage nach der Leistungsfähigkeit der Volksgemeinschaft, die in der nationalsozialistischen Gesundheitsführung zur Schicksalsfrage stilisiert worden war, nun auch ganz konkret zur Verfügung zu stellen. Die Berichte von den Ergebnissen der Röntgenuntersuchung belegen auch, dass über die persönliche Erfahrung einer solchen Aufnahme hinaus der mögliche Erkenntniszu58 Siehe zur Wanderausstellung Die Frau und ihrer Begleitpublikation den Beitrag von Anna-Gesa Leuthardt in diesem Band. 59 In der Objektdatenbank des Deutschen Hygiene-Museums kann eine zeitgenössische Leistungskarte betrachtet werden, die aus der von 1939 bis 1941 getourten Wanderausstellung Gesundheit im Alltag stammte (DHMD-Sammlung, 1995/1086). 60 Vgl. zu den Durchschnittswerten neben den in Fußnote 48 angegebenen Quellen auch die Angaben in: Dr. Herbert Michael 1938: Du! – Das Wunderwerk des Körpers am Prüfstand. In: Amtlicher Katalog, 111–114, hier 112.

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wachs für die Besucher an jene Informationen gebunden blieb, die von den Medizinern vor Ort selbst mitgeteilt wurden. Wer die Karteikarte für die Durchleuchtung erworben hatte und sich untersuchen ließ, hatte auch Anspruch auf eine Schnelldiagnose durch einen Arzt in der Röntgenhalle. Wie Heisig berichtete, hätten nach der ersten groben Sichtung 400 Besucher die Empfehlung erhalten, sich wegen des Verdachts auf aktive Tuberkulose sofort untersuchen zu lassen. Weiteren 700 sei geraten worden, sich innerhalb von zwei bis drei Monaten wieder kontrollieren zu lassen und den übrigen rund 90 % seien keine Befunde bescheinigt worden. Mit etwa 10 % Neuentdeckungen von Tbc-Fällen lagen die Ergebnisse im Mittel der von Heisig mit dem gleichen Apparat auch an anderen Orten durchgeführten Reihendurchleuchtungen.61 Diese Informationen aus der Röntgendiagnostik sind die einzigen quantitativ bezifferten Untersuchungsergebnisse, die von der Gesundheitsprüfung in der Ausstellung überliefert sind. Was sonst noch beispielsweise in der Presse zu lesen war, wurde in qualitativen Trendaussagen ausgedrückt. Darunter finden sich die bereits schon vor der Ausstellung prognostizierten Ergebnisse genauso wie die Schilderungen von nicht mehr nachprüfbaren Beobachtungen vor Ort. Einhellig wurde ein positives Gesamtbild des Gesundheitszustandes der Besucher gezeichnet, das im Einklang mit der optimistischen Grundstimmung der Ausstellung stand. Neben der gebetsmühlenartigen Rhetorik des zu erwartenden Zuwachses an Selbstwissen wurde in den Begleitmaterialien und Berichten unverkennbar auf den bevölkerungspolitischen Mehrwert der Selbstprüfung hingewiesen. Dabei hatte man, wie das für den Gebrauch von Statistiken generell typisch ist, alles, was greifbar war, jeweils für die eigene Botschaft in Anschlag gebracht. Drei Beispiele sollen diese Strategien verdeutlichen: Abgesehen von der Bestätigung von Gemeinplätzen wurde die Beteiligung an den Selbstprüfungen und der Röntgenuntersuchung erstens als Beleg für die breite gesellschaftliche Akzeptanz derartiger wissenschaftsgestützter Kontrollmaßnahmen interpretiert. So war beispielsweise in der Allgemeinen Deutschen Zeitung schon direkt nach dem Eröffnungswochenende zu lesen: In der Halle der Selbsterkenntnis stellten die Berliner von sich selbst fest, daß sie im allgemeinen gesund sind. Die Vermerke auf der Leistungskarte […] waren für die meisten zufriedenstellend. Was das Gewicht betrifft, so sah man am Sonntag viele gewichtige Persönlichkeiten auf der Waage. Auch unter den Frauen wurde kaum eine als zu leicht befunden. Das Reaktionsvermögen ist bei den Berlinern, wie das nicht anders zu erwarten war, außerordentlich gut entwickelt. Auch die Sehkraft ließ bei den meisten nichts zu wünschen übrig. Nach einer Aufnahme ihres Herzens und ihrer Lungen verließen die Männer und Frauen die Halle der Selbsterkenntnis. Es waren wenige unter ihnen, die Bedenken trugen, sich durchleuchten zu lassen. Mit dem Herzen in der Tasche setzten die „Durchleuchtings“ getrost die Hallenwanderung fort.62 61 Heisig 1939: 41. 62 Kor.: „Gesundes Leben“ bei 25 Grad. Deutsche Allgemeine Zeitung, 26. September 1938, Abendausgabe.

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Es ist heute nicht mehr nachvollziehbar, ob dieser Bericht auf einer teilnehmenden Beobachtung und/oder auf Interviews mit Besuchern und Veranstaltern beruhte. Es verwundert aber nicht, dass ein konkreter Informationswert nur der in der Ausstellung erteilten Röntgendiagnose zugesprochen wurde, während die Ergebnisse der anderen Prüfungen nicht mit einem vergleichbaren Erkenntniswert belegt wurden. Zweitens zeigten sich gerade die lokalen Verantwortlichen durch die Ausstellung in ihren eigenen Vorhaben zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik bestätigt. So bezeichnete der Oberbürgermeister und Stadtpräsident von Berlin, Julius Lippert, anhand der Statistiken des Hauptgesundheitsamts in einem Interview mit dem Berliner Tageblatt die Einwohner Berlins als „ausgezeichnetes Menschenmaterial“ und begründete dies mit den städtischen Leistungen in der Wohlfahrtspflege. Die Berliner seien mindestens so widerständig wie die Landbevölkerung, so lautete sein Urteil, womit er sich durchaus im Widerspruch zum Mainstream der eugenischen Forschung befand. Die Statistiken über den Gesundheitszustand der Berliner waren gemeinsam mit den Gesundheitsprüfungen der HJ in Halle 4 zu besichtigen. Im Interview, das er im Zusammenhang mit seiner Rede zur Eröffnung der Gesamtausstellung gab, nahm er in seiner Einschätzung die Ergebnisse der in der Ausstellung angebotenen Selbstprüfung vorweg. Lippert nutzte dabei die Gelegenheit, um an seine Hauptaufgabe zu erinnern, dieses „ausgezeichnete Menschenmaterial“ gesund und leistungsfähig zu halten. Er fühle sich, so argumentierte er weiter, durch die Ausstellung in seinem Vorhaben bestärkt, jedem Berliner eine Gesundheitskarte auszuhändigen, sodass „im Laufe der Zeit ein regelrechtes gesundheitliches Standesamt“ entstünde.63 Im Einklang mit dem Konzept der Ausstellung adressierte Lippert den erbgesunden und arbeitsfähigen Berliner, dem nach der Durchsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ nun die gesamte Aufmerksamkeit der Gesundheitsverwaltung gehören sollte. Lippert reklamierte sogar ein Recht des Einzelnen auf die regelmäßige Überwachung seiner Leistungsfähigkeit und beabsichtigte diesen Anspruch mithilfe des Gesundheitspasses auch durchzusetzen. Die dritte Argumentationsstrategie für die Gesundheitsprüfung in der Ausstellung war mit moralischen Appellen verbunden, die sich aus dem nationalsozialistischen Gebot zur Gesundheitspflicht ergaben. Sie findet sich beispielsweise in der Selbstdarstellung der Verantwortlichen aus dem Deutschen Hygiene-Museum. Der Praxis der Gesundheitsaufklärung verpflichtet, erhoffte man sich einen größeren erzieherischen Nutzen von derartigen wissenschaftsgestützten Selbstprüfungen. Im bereits zitierten Werbeblatt war zu lesen: 63 Albert Brodbeck: BT-Unterredung mit Oberbürgermeister Dr. Lippert. Das Menschenmaterial der Hauptstadt. Berliner Tageblatt, 25. September 1938, 9. Siehe zu Lipperts Karriere in Berlin: Christoph Kreutzmüller und Michael Wildt 2011: „Ein radikaler Bürger“. Julius Lippert – Chefredakteur des „Angriff “ und Staatskommissar zur besonderen Verwendung in Berlin. In: Rüdiger Hachtmann, Thomas Schaarschmidt und Winfried Süß (Hg.): Berlin im Nationalsozialismus. Politik und Gesellschaft 1933–1945. Wallstein: Göttingen, 19–38.

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Diesem Ich nun – nicht dem kleinen, das jeder für sich behält, sondern dem großen, das alle angeht – bietet diese Ausstellung viele und kräftige Brücken zur Selbsterkenntnis. Und zur Selbsthilfe: die prächtige Erfindung der Leistungskarte, welche jeder, nachdem er neun Grundprüfungen durchlaufen hat, mit nach Hause bekommt, ist der Grundstock eines neuen Gesundheitsgewissens und der Beginn einer Wachsamkeit, die jeder sich selbst und seinem ganzen Volke schuldig ist.64

Diese Argumentation unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum davon, wie die Einführung von Gesundheitspässen am Ende der Weimarer Republik begründet wurde. Der zweite Blick offenbart aber, dass die eigene Wachsamkeit in den Dienst der Gemeinschaft gestellt werden sollte, dem selbst der höhere Wert zugesprochen wurde. Die Notwendigkeit der Gesundheitsprüfung wurde hier mit der Bürgerpflicht begründet, hinter der Privatinteressen zurückzustehen hätten. Die Erkenntnisse für das kleine Ich, die sich dabei auch einstellten, wurden in den Dienst der höheren Sache gestellt. Die Propaganda zielte dabei vorrangig auf die noch nicht Kranken, denen ein Gesundheitsgewissen abgesprochen wurde. So konnten die Leser der Berliner Börsen-Zeitung am Eröffnungstag in Berufung auf Pakheisers Auskunft in der vorabendlichen Pressekonferenz bereits über das methodische Konzept der Ausstellung erfahren: Die Gesundheit des Einzelnen ist […] bewußt aus der Sphäre persönlicher „Rechte“ – des sehr zweifelhaften Rechtes, sie durch Gelüste, Fahrlässigkeit und Gedankenlosigkeit verludern zu lassen – herausgenommen und in höhere Pflicht eingeordnet worden. Das warnende, behutsame, klug abwägende oder strenge Wort des Arztes hätte, um den Beschauer in diesen Bereich des Problems einzuführen, gewiß nicht die Einwirkungskraft, die von der bildhaften, eindringlichen Belehrung der mechanischen Modelle ausgeht. Für die Stimme des Arztes ist nur der Hilfe und Trost suchende Kranke empfänglich, der Gesunde wird leichter einer lebendigen, leicht faßbaren Propaganda zugänglich sein, die mit den erwähnten Mitteln aufs beste erzielt wird.65

Den diagnostischen Methoden der medizinischen Experten und insbesondere ihren Dokumentationsmedien Leistungskarte und Röntgenbild wurde ein großes Potential in der wirksameren Beeinflussung der Selbsteinschätzung der Gesunden zugesprochen. Gerade diejenigen, die nicht Mitglied der nationalsozialistischen Eliteorganisationen waren, sollten sich ihrer Verpflichtung gegenüber den Aufgaben der Volksgemeinschaft klar werden. Die mit wissenschaftlichen Instrumenten erzeugten Messergebnisse wurden hier als geeignetes Propagandamittel angesehen. Von ihrem Einsatz wurde erwartet, dass sich ihnen auch diejenigen, die durch Gelüste, Fahrlässigkeit und Gedankenlosigkeit verludert worden seien, wie es hieß, nicht entziehen konnten. Ins gleiche Horn blies das 64 Das unbekannte Ich. 65 „Gesundes Leben – frohes Schaffen“. Im Mittelpunkt: Der gesunde Mensch. Berliner Börsen-Zeitung, 24. September 1938, Morgenausgabe.

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amtliche Organ des Nationalsozialistischen Ärztebundes, als im Rückblick zur Ausstellung, ohne dafür einen Beleg zu liefern, behauptet wurde, die Gesundheitsprüfungen hätten gerade jene Besucher wachgerüttelt, die man vorher besonders selten in den ärztlichen Sprechstunden gesehen hätte.66 Der Sinn der Selbsttests in der Ausstellung bestand zudem darin, keine einmalige Aktion, sondern den Anfang einer Versuchsreihe darzustellen, die ihre Schatten noch auf die nächsten Generationen werfen sollte. Das Beispiel demonstriert eindrücklich, dass die Zugehörigkeit zur als erbgesund definierten Volksgemeinschaft nicht mehr länger nur an physische Voraussetzungen, den Besitz bestimmter Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen gebunden war, sondern auch an das Einverständnis zur regelmäßigen Kontrolle und Überwachung des eigenen Körpers. Letztlich zeugt es davon, wie sich das Hauptamt für Volksgesundheit gemeinsam mit der DAF sowie später auch der SS den biopolitischen Totalzugriff auf die Arbeitsfähigkeit des Einzelnen vorstellte. Die Ausstellung kann insgesamt als Teil des Medienrummels verstanden werden, den die NS-Propagandisten in der finalen Phase ihrer „Arbeitsschlachten“, ein Jahr vor Kriegsausbruch, betrieben.67 Die spielerische Inszenierung der Prüfautomaten war funktional für die ernsthaften Absichten der Veranstalter, wie in der Presse nachzulesen war. So schrieb das Berliner Tageblatt nach ausführlichem Bericht zu den Untersuchungen in Halle 10 am Eröffnungstag resümierend: „Ein grosser Ernst steckt hinter diesen scheinbar spielerischen Einrichtungen“, und der Völkische Beobachter fügte am 29. September 1938 unmissverständlich hinzu: „Wenn auch die ‚Halle der Selbsterkenntnis‘ nicht den Arzt ersetzen soll und will, so handelt es sich doch bei den einzelnen Prüfungen keineswegs um eine Spielerei.“68 Den kaum hörbaren Kritikern unter den Medizinern, die in der Leistungskarte eine „übersteigerte Amerikanisierung einer pseudoärztlichen Tätigkeit“ am Werk sahen, erklärte der Leiter der Medizinalabteilung im Preußischen Ministerium des Inneren, Gottfried Frey, in seinem Standardwerk Hygienische Erziehung im Volksgesundheitsdienst, man sei in der Halle der Selbsterkenntnis bewusst weniger theoretisch und verstandesmäßig an die Öffentlichkeit herangetreten. Die größere Volksnähe in der Ausstellung sah Frey in der Absicht begründet, „Bestand und Zukunft der Nation durch die Tat“ zu sichern. Im Einklang mit der nationalsozialistischen Propaganda erinnerte er daran, dass die Parteiorganisation den Willen zur Staatsführung an jeden einzelnen Volksgenossen

66 Ein Rückblick auf die Berliner Ausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“. Ziel und Weg. Zeitschrift des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes, 8 (1938), 23: 659–661, hier 660. 67 Siehe dazu Detlev Humann 2011: „Arbeitsschlacht“. Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der NS-Zeit 1933–1939. Göttingen: Wallstein. 68 A. B.: Kundendienst am Menschenkörper. Heute Eröffnung der Reichsausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“. Berliner Tageblatt, 24. September 1938, Morgenausgabe, 17 und H. A.: Was leistet ihr Körper? In der Halle der Selbsterkenntnis wird die Frage beantwortet. Völkischer Beobachter, 29. September 1938, Berliner Ausgabe.

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herangetragen habe.69 In diesem Sinne stilisierte er die Bereitschaft zur freiwilligen Gesundheitsprüfung in der Ausstellung zu einem Akt der Selbstermächtigung der Volksgemeinschaft, die ihre Legitimation aus der historischen Sendung der nationalsozialistischen Bewegung bezog. Über die Probleme, die mit dem anvisierten Totalzugriff auf die Bevölkerung fast unweigerlich verbunden waren, wie der Mangel an ausgebildeten und systemkonformen Ärzten für die Röntgendiagnose, die Gefahr der Überdiagnostizierung, das erhöhte Risiko, durch die Bestrahlung das Erbgut zu schädigen oder an Krebs zu erkranken, die zu geringe Verfügbarkeit von kostengünstigen und transportablen Röntgenapparaten, die ungelöste Frage nach einer wirksamen Therapie für die an Tuberkulose Erkrankten sowie Unklarheiten darüber, wer die Kosten für die Untersuchung von Gesunden übernehmen und wie angesichts der Zunahme von Verdachtsfällen der allgemeine Fürsorgenotstand bewältigt werden sollte, waren sich die Verantwortlichen im Hauptamt für Volksgesundheit genauso bewusst wie die Fürsorgeärzte in den Gauen. Gesprochen wurde darüber nur innerhalb der medizinischen Standesorganisationen, Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Selbstprüfungen oder der Machbarkeit des Großprojekts wurden aber nicht zugelassen.70 Die Öffentlichkeit erfuhr von den fachlichen Bedenken an einer Gesamtdurchleuchtung der Bevölkerung genauso wenig wie von möglichen Durchführungs- oder Folgeproblemen.

„Giftmensch oder gesunder Volksgenosse?“ Gelenkte Blicke und geteilte Wahrnehmung Das Bild, das der Öffentlichkeit schon im Vorfeld der Ausstellung über die Selbstprüfungen von der Presse vermittelt wurde, war unterschiedslos sensationsheischend und enthusiastisch. Die nationalsozialistische Presselenkung hatte eine einheitliche Sprachregelung zur Folge, die in diesem Fall teilweise bis in die Wortwahl hinein reichte. Auffällig ist, dass der Blick der Besucher in den Berliner Tageszeitungen schon ab etwa fünf Wochen vor der Eröffnung uniform auf den Besuch der Halle der Selbsterkenntnis als Hauptattraktion gerichtet wurde. Dabei wurde die Wahrnehmung oft im Titel der Artikel bereits auf Gegensätze gelenkt, die sich aus der Zusammenschau einzelner Präsentationen in der gesamten Ausstellung ergaben und hier dazu dienten, die Gesundheitsfrage für den Einzelnen zur Schicksalsfrage werden zu lassen. Der Berliner Lokal69 Gottfried Frey 1940 [1927]: Hygienische Erziehung im Volksgesundheitsdienst. [Handbücherei für den öffentlichen Gesundheitsdienst, 12, Abt. A]. 5., erweiterte Aufl. Berlin: Carl Heymann Verlag, 51 f. Frey vermeidet es leider, die Kritiker an der Halle der Selbsterkenntnis zu benennen. 70 Siehe z.B. Kurt Blome 1938: Die Aufgaben der Röntgenologie im Rahmen der Gesamtarbeit an der Volksgesundheit. Deutsches Ärzteblatt, 68, Nr. 28 (9. Juli 1938), 491–495 [gleichzeitig in: Verhandlungen der Deutschen Röntgengesellschaft, 15–21] und Franz Heisig 1938: Neue Wege zu einem Generalangriff gegen die Tuberkulose. Ziel und Weg. Zeitschrift des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes, 8, 2: 26–38.

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Anzeiger brachte beispielsweise am 24. August 1938 einen Artikel unter dem Titel „Entlarvte Giftmenschen“. Was die Besucher zu erwarten hatten, wurde ihnen folgendermaßen beschrieben: Der Besucher dieser Ausstellung wird Gelegenheit haben, sich selbst zu erkennen. Er kann in Kammern, an Apparaten und Meßinstrumenten, die Leistungsfähigkeit seiner Organe prüfen. Er wird sehen, ob er bisher gesund gelebt hat und er wird zeigen können, was sein Herz, seine Muskeln, seine Lungen, seine Augen und Nerven vermögen. All das tritt klar zutage, und es gibt keine Möglichkeit, sich vor der deutlichen Sprache der Tatsache zu drücken. Man wird durch ein Gesundheitsattest als gesunder Volksgenosse oder als „Giftmensch“ entlarvt.71

In der Morgenausgabe des Berliner Tageblatts hieß der entsprechende Beitrag „Am Funkturm wird der ‚Giftmensch‘ entlarvt“ und lautete in diesem Abschnitt identisch.72 In der Konfrontation der Selbstprüfung des gesunden Volksgenossen in Halle 10 und 11 mit dem Modell des sogenannten Giftmenschen in der wissenschaftlichen Abteilung, an dem zu sehen war, wie die Gesundheit durch mangelnde Arbeitsschutzmaßnahmen in Gefahr geraten konnte, lenkten die Veranstalter die Aufmerksamkeit der Besucher bereits von vornherein auf die prominente Rolle, die den Prüfmethoden in der Ausstellung zugedacht war. Nach diesen beiden Artikeln erschien bis unmittelbar vor der Eröffnung pro Woche durchschnittlich je ein Artikel in den Berliner Zeitungen.73 Wie die Berichterstattung um den Eröffnungstag herum dokumentiert, änderte sich an der Interpretation auch dann nichts mehr, als die Ausstellung selbst in Augenschein genommen werden konnte. In den Besprechungen wurde der Erwartung Ausdruck verliehen, dass die Pflicht zur Gesundheit auch die Freiwilligkeit der Leistungsabnahme mit einschließe und erst danach so etwas wie ein Recht auf ein gesundes, frohes Leben ableitbar wäre (Abb. 8). Während bis zur ersten Ausstellungswoche schon insgesamt 23 Artikel erschienen, kamen bis zur Schließung in der ersten Novemberwoche nur noch sieben Beiträge hinzu, die nichts substantiell Neues mehr brachten. Wie es zu diesen ersten Artikeln über die Halle der Selbsterkenntnis bereits in der zweiten Augusthälfte kam und wer die Idee hatte, sie propagandistisch mit dem Modell des Giftmenschen in Zusammenhang zu bringen, ist leider nicht mehr eindeutig bestimmbar. Alle Indizien verweisen auf Theodor Pakheiser, der in seiner Doppelfunktion für das Hauptamt für Volksgesundheit und das Deutsche Hygiene-Museum möglicherweise 71 Entlarvte „Giftmenschen“. Auf der Ausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“. Berliner LokalAnzeiger, 24. August 1938, Morgenausgabe, 1. Beiblatt. 72 Am Funkturm wird der „Giftmensch“ entlarvt. Gesundheitsatteste für jeden Besucher. Berliner Tageblatt, 24. August 1938, Morgenausgabe, 11 f. 73 Ich habe folgende Tageszeitungen durchgesehen: Berliner Börsen-Zeitung (BBZ), Berliner Lokal-Anzeiger (BLA), Berliner Tageblatt (BT), BZ am Mittag (BZ), Der Angriff (DA), Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) sowie die norddeutsche und die Berliner Ausgabe des Völkischen Beobachters (VB).

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Abb. 8: Auswahl von Zeitungstiteln zur Reichsausstellung Gesundes Leben – Frohes Schaffen 1938.

den Auftrag zur Halle der Selbsterkenntnis und zum Modell des Giftmenschen gegeben und den besten Einblick in die Vorarbeiten gehabt hatte. Er war es auch, der schon Anfang Juli Einzelheiten über die Prüfstationen bekannt gab. Obwohl diese Informationen sofort in der Berliner Ausgabe des Völkischen Beobachters zu lesen waren, stiegen erst sechs Wochen später die anderen Zeitungen mit dem Vergleich zum Giftmenschen darauf ein. Anschließend wurden die Gesundheitsprüfungen sofort zum alles beherrschenden Thema in der Berichterstattung über die Ausstellung. Warum dies erst mit einer so großen Verzögerung geschah, ist heute nicht mehr nachvollziehbar.74 Nach einer Mitteilung des Deutschen Nachrichtenbüros vom 4. Juli 1938 hatte Pakheiser die geplante Ausstellung am selben Tag in der Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt-Rhese vorgestellt, wo er im Rahmen eines Lehrgangs vor Ärzten und Vertretern von Laienverbänden sprach.75 In der Nachricht war zu lesen, dass Pakheiser neben 74 Dies liegt vor allem an der fehlenden Aktenüberlieferung des NSDAP-Hauptamtes für Volksgesundheit (Süß 2003: 28), das auch für die Arbeit des Deutschen Hygiene-Museums in diesem Zeitraum bestimmend war. 75 Zur Tagung des Hauptamts für Volksgesundheit waren dessen Sachbearbeiter für biologische Medizin sowie Vertreter der Laienverbände und einige ärztliche Reichsredner eingeladen. Sie wurde von

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seiner Darstellung des Gesamtkonzepts auch über die geplante, von ihm noch so genannte „Wandelhalle der Selbsterkenntnis“ berichtet hatte. Nach der Meldung soll er bereits im Detail auf die Leistungsabnahmen eingegangen sein und gesagt haben, die Besucher könnten sich dort mithilfe einer Karteikarte auf Gewicht, Kraft, Ermüdung, Blutdruck und Farbentüchtigkeit untersuchen und anschließend die Lunge röntgen lassen. Außerdem kündigte er schon die Gläserne Fabrik aus der Werkstatt des Deutschen HygieneMuseums als Attraktion der Kernausstellung an. Von dem Modell des Giftmenschen war noch keine Rede.76 Während am darauffolgenden Tag im Artikel der norddeutschen Ausgabe des Völkischen Beobachters aus Pakheisers Rede ausschließlich auf die Gläserne Fabrik hingewiesen wurde, brachte die Berliner Ausgabe noch einen zusätzlichen Artikel über „Die Wandelhalle der Selbsterkenntnis“ und lieferte Pakheisers Detailinformationen.77 In seinem Vorabbericht über die Ausstellung, den Pakheiser schon am 25. Juni 1938 im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht hatte, war er dagegen nicht auf einzelne Objekte aus der wissenschaftlichen Abteilung oder die geplante Halle der Selbsterkenntnis eingegangen. Hier hatte er sich darauf beschränkt, das Thema der individuellen Gesundheitsführung vorzustellen und darüber zu informieren, welche Organisationen sich wo in den Hallen präsentieren würden.78 Zur Urheberschaft des Titels der Gesamtausstellung, mit dem die Wahrnehmung der Besucher auf die Gesundheitsfürsorge der Arbeiterschaft gelenkt wurde, lassen sich mehr Indizien zusammenbringen. Schon am 24. August des Vorjahres sprach der stellvertretende Reichsärzteführer und Abteilungsleiter im NSDAP-Hauptamt für Volksgesundheit Friedrich Bartels in einer Pressekonferenz der Reichsregierung zum Thema „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“. Dort berichtete er von seinem Vortrag in der Arbeitstagung des Reichsarbeitskreises für Gesundheitsführung, die unter Leitung des Reichsärztefühdem Wagner-Vertrauten und Leiter der Hochschulkommission der NSDAP, dem Münchner Dermatologieprofessor Franz Wirz, organisiert, zum Überblick siehe N. N. 1938: Volksgesundheit und Lebensführung. Eine Tagung von Ärzten und Vertretern der Laienverbände. Deutsches Ärzteblatt, 68, 29/30: 509–511 und Margarethe Notnagel 1938: Volksgesundheit und Lebensführung. Zur Tagung von Ärzten und Vertretern der Laienverbände in Alt-Rhese, 3.–10. Juli 1938. Deutsches Ärzteblatt, 68, 536–538. Zur Einbindung der Laienverbände siehe Eberhard Wolff 1992: „Politische Soldaten der Gesundheitsführung“? Organisierte Patienten im Nationalsozialismus – das Beispiel außerschulmedizinischer Laienbewegungen. In: Jürgen Peiffer (Hg.): Menschenverachtung und Opportunismus. Zur Medizin im Dritten Reich. Tübingen: Attempto Verlag, 108–130. 76 Eine Abschrift des Artikels im Deutschen Nachrichtenbüro vom 4. Juli 1938 befindet sich in der Zeitungsausschnittsammlung des Reichslandbundes unter den Artikeln über den Reichsärzteführer Gerhard Wagner (Bundesarchiv Berlin, R 8035-III/484, „Wag“, unpag.). 77 Gesundes Leben – Frohes Schaffen. Reichsärzteführer Dr. Wagner und Gauleiter Streicher über Fragen der Gesundheitsführung im September – Große Reichsausstellung in Berlin. Völkischer Beobachter, norddeutsche Ausgabe, 5. Juli 1938, 2 und „Die Wandelhalle der Selbsterkenntnis“ unter gleicher Oberüberschrift wie in der norddeutschen Ausgabe, Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, 5. Juli 1938, 2. 78 Theodor Pakheiser 1938: „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“. Zur Reichschau für Gesundheitsführung in Berlin im Herbst 1938. Deutsches Ärzteblatt, 68, 26: 458 f.

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rers Wagner vom 16. bis 18. Juli 1937 zum Thema „Durchführung von Untersuchungen an allen schaffenden Menschen“ in München stattgefunden hatte. Wie im Deutschen Ärzteblatt am 25. August 1937 zu lesen war, plädierte Bartels angesichts der angelaufenen Reihenuntersuchungen „aller schaffenden Volksgenossen“ in den vier ausgewählten Gauen insbesondere für die Feststellung von Frühschäden, die mit dem sogenannten Arbeitsknick bei Männern um die 40 herum beobachtet worden waren, sowie für eine Einschränkung der Sozialversicherung auf die „wirklich schaffenden Volksgenossen“.79 Bezeichnenderweise gab es 1937 schon zwei Reichsausstellungen, die sich den Leistungen der Arbeiterschaft für den nationalsozialistischen Aufbau widmeten: Schaffendes Volk in Düsseldorf, die auf Initiative des Deutschen Werkbunds zurückging, und Gebt mir vier Jahre Zeit in Berlin zum Vierjahresplan.80 Der Titel Schaffendes Volk wurde über einen Ideenwettbewerb vergeben. Vergleichbares scheint für Gesundes Leben – Frohes Schaffen nicht mehr notwendig gewesen zu sein, nachdem Bartels unter dieser Chiffre schon seit Sommer 1937 für den flächendeckenden Ausbau der betrieblichen Vorsorgeuntersuchungen und der Dokumentation der Ergebnisse in Gesundheitspässen geworben hatte. Spätestens Mitte Juni 1938 stand das Konzept der neuen Reichsausstellung so weit, dass der Berliner Oberbürgermeister seinen Stadtbezirken die Ziele der geplanten Ausstellung mitteilen konnte. Danach sollte man lernen, daß die Wohlfahrt der Gesamtheit in den Vordergrund tritt gegenüber der des Einzelnen, daß ein Anspruch auf Hilfe nur der Leistung für die Gesamtheit erwächst und daß das wahre Volksvermögen die Schaffenskraft aller Volksgenossen ist. So soll einem jedem verständlich gemacht werden, was er zu tun hat, um mitzuhelfen am Aufbau einer gesunden Nation, die froh schafft für ihren und den Frieden der Welt.81

Die Mitteilung enthielt schon eine vorläufige Gliederung. Dort kamen die Selbstprüfungen noch nicht vor, aber bereits die Gläserne Fabrik. Eine Woche später erschien Pakheisers mehr oder weniger gleichlautender Vorabbericht im Deutschen Ärzteblatt und nach zehn weiteren Tagen hielt er seinen Vortrag in Alt-Rhese. Dazu kommt, dass inzwischen die Debatte um die betrieblichen Reihenuntersuchungen von wissenschaftlicher, politischer und industrieller Seite eine neue Dimension erreichte. Am gleichen Tag, an dem Pakheiser in Alt-Rhese die Leistungsprüfungen in der Halle der Selbsterkenntnis im Detail vorstellte, hielt der Beauftragte des Reichs79 Friedrich Bartels 1937: Gesundes, frohes Schaffen. Rede auf der Pressekonferenz der Reichsregierung am 24. August 1937. Deutsches Ärzteblatt, 67, 35: 793–795, hier 793 und 795. 80 Stefanie Schäfers 2001: Vom Werkbund zum Vierjahresplan. Die Ausstellung Schaffendes Volk, Düsseldorf 1937 [= Quellen und Forschungen zur Geschichte des Niederrheins, 4]. Düsseldorf: Droste. Zu den Ausstellungen als Propagandamittel im Rahmen der Arbeitsschlachten, allerdings, ohne auf Gesundes Leben – Frohes Schaffen einzugehen, siehe Humann 2011: 650–652. 81 Schreiben des Oberbürgermeisters an alle Stadtbezirke vom 17. Juni 1938, unpag. (LA B, A Rep 03308, Bestand des Bezirksamts Wedding, Nr. 345 zur Hygienischen Volksaufklärung).

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ärzteführers für das ärztliche Fortbildungswesen, Kurt Blome, im Auftrag der Reichsärzteführung den Eröffnungsvortrag auf der 29. Tagung der Deutschen Röntgengesellschaft in München im Rahmen des Hauptverhandlungsthemas „Röntgenkunde und Volksgesundheit“. Die Reichsärzteführung hatte mit der Deutschen Röntgengesellschaft zwei Jahre zuvor bereits einen gemeinsamen Plan zur intensiven Nutzbarmachung des Röntgenverfahrens im Dienste der Volksgesundheit vereinbart. Blome berichtete am 4. Juli 1938 über den Stand in den bisherigen betrieblichen Durchleuchtungen und sprach dabei auch die Probleme an, die derzeit noch in der Aus- und Weiterbildung der Ärzte sowie in finanzieller Hinsicht bestanden.82 In den folgenden zwei Sektionen der Tagung und den jeweils anschließenden Diskussionen wurden die Vor- und Nachteile des Röntgenverfahrens aus wissenschaftlicher und gesundheitspolitischer Perspektive ausführlich debattiert. So widmete sich die erste Sektion den Ergebnissen aus der Strahlengenetik als Grundlage für die Einführung von Schutzvorkehrungen in den Röntgenbetrieben und die zweite der Anwendung der Röntgenmethode in der betrieblichen Tbc-Vorsorge. Das herausstechende Thema war der Stand in der Geräteentwicklung. In der die Tagung begleitenden Industrieausstellung konnten die neuesten Apparate, darunter auch das Siemens-Reininger-Gerät, in dem das indirekte Schirmbildverfahren für Massendurchleuchtungen genutzt wurde, wie die Röntgen-Reihenmusterungs-Kassette der Firma Golde, die dann in der Reichsausstellung Gesundes Leben – Frohes Schaffen zum Einsatz kam, in Augenschein genommen werden.83 Bartels hatte seinen Vortrag auf dem „Weltkongreß Arbeit und Freude“ 1938 in Rom wiederum unter das Thema „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“ gestellt, worüber Ende Juli im Deutschen Ärzteblatt berichtet wurde. Nach seinen Ausführungen über die Anstrengungen des Hauptamtes für Volksgesundheit, gemeinsam mit der DAF die Gesunderhaltung der „schaffenden Arbeiter“ bis ins hohe Alter zu garantieren, lud er die Anwesenden zur Ausstellungseröffnung nach Berlin ein. Dort würde versucht, so Bartels, „unsere Auffassung darzustellen und weitestem Verständnis näher zu bringen, daß nur der gesunde, leistungsstarke Mensch unbesorgt und froh im Leben und in der Arbeit stehen kann“.84 Der Höhepunkt der Aufmerksamkeitslenkung der Öffentlichkeit auf die Gesundheit des schaffenden Arbeiters wurde mit dem gemeinsamen Auftritt von Reichsärzteführung und Vertretern des Reichsverbandes der deutschen Industrie auf der Sondertagung des Hauptamtes für Volksgesundheit erreicht, die während des Reichsparteitags in Nürnberg am 8. September 1938 stattfand. Während Reichsärzteführer Wagner wie üblich im Haupttreffen zu Wort kam, dieses Mal zum Thema „Rasse und Volksgesundheit“, und 82 Blome 1938. Blome wurde nach dem Krieg wegen der Vergasung tuberkulöser Polen im Nürnberger Ärztekongress angeklagt, siehe zur Person Süß 2003: 460. 83 Verhandlungen der Deutschen Röntgengesellschaft 1938: 21–45. 84 Bartels 1938: 529.

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dabei Rechenschaft über die Durchsetzung der nationalsozialistischen Rassegesetzgebung ablegte, sprachen im festlich geschmückten Nürnberger Opernhaus, wie es hieß, der stellvertretende Leiter der Reichsfachgruppe Industrie Seelinger, der stellvertretende Vorsitzende der Reichswerke Hermann Göring, Staatsrat Meinberg und Bartels. Während Seelinger ausführlich den Stand der Gesundheitsführung in den Betrieben darstellte und Meinberg über die vorbildhafte Betreuung der Arbeiter in den Göring-Werken berichtete, sprach Bartels über „Gesundheit und Wirtschaft“. Neben seinem bereits bekannten Plädoyer für die regelmäßige Gesundheitsüberwachung der Arbeiter warb er für die enge Zusammenarbeit zwischen Haus- und Betriebsarzt und betonte die Pflicht des Einzelnen zur Behandlung nach betriebsärztlicher Empfehlung. Wie auch die anderen Redner beschwor er den engen Zusammenhang zwischen richtiger Gesundheitsführung und guter Wirtschaftsführung.85 Dazu kam, dass Hans Holfelder während des Parteitags an über 10.000 Männern im Zeltlager der SS das mobile Siemens-Reininger-Gerät erstmals im Großeinsatz testen konnte.86 Die Installation der Prüfstationen und der Röntgenhalle in Gesundes Leben – Frohes Schaffen kann als Durchgangspunkt in der noch weitgehend unbekannten Geschichte der Reihenuntersuchung angesehen werden.87 Wie schon näher ausgeführt, gab es zwar bereits einmalige und regelmäßige Gesundheitsprüfungen und wurden die Ergebnisse, wenn auch nicht immer einheitlich, dokumentiert. Neu war in der Ausstellung, dass nun jeder, der es wollte, sich untersuchen lassen konnte und die Resultate auch in die eigene Hand bekam. Zieht man die nachfolgende Entwicklung in Betracht, scheinen die Gesundheitsprüfungen in der Reichs- und den anschließenden Wanderausstellungen ihre Rolle erfolgreich als Versuchsmodell für den Einstieg in die gesundheitliche Gesamterfassung gespielt zu haben. Nach dem erfolgreichen Großeinsatz im Reichsparteitag erhielt Holfelder beispielsweise den Auftrag, mit bis zu sechs parallel arbeitenden Geräten jetzt auch die Gesamtbevölkerung des Gaus Mecklenburg zu untersuchen, was nur der Anfang für weitere Massendurchleuchtungen dieses Maßstabs darstellte.88 Der Trend ging zu 85 Reichsparteitag Großdeutschlands. Deutsches Ärzteblatt. 68 (1938), 38: 631–643, hier Friedrich Bartels 1938: Gesundheit und Wirtschaft, 640–643, sowie die Broschüre Gesundheitsführung in den Betrieben. Zusammengestellt von der Reichsgruppe Industrie. Leipzig: Richard Hölzel GmbH 1938, in der die Reden wie auch Richtlinien und Mustervereinbarungen zur Anstellung von Betriebsärzten zur Gesundheitsprüfung und -überwachung der Arbeiter und Angestellten enthalten sind. 86 Hans Holfelder 1938: Der erste Großeinsatz des Röntgenreihenbildners im SS-Lager zu Nürnberg. Münchner Medizinische Wochenschrift, 85, 1465–1467. Proctor 2002 [1999]: 106 gibt die Informationen aus dieser Quelle nicht korrekt wieder. Ich danke Sascha Lang (Forchheim) für diesen Hinweis. 87 Während die Geschichte der Röntgenreihenuntersuchung im Rahmen der Tuberkuloseprävention ansatzweise bekannt ist, kann das von der umfassenderen Geschichte der Gesundheitstests nicht gesagt werden. Hierfür wären erst einmal die relevanten Entwicklungsstränge zu identifizieren und genauer, als dies hier möglich ist, zu bestimmen, wann und in welchen Zusammenhängen der Übergang vom Fokus auf Risikogruppen zum Screening der Gesamtbevölkerung erfolgte. 88 Siehe zu den Ergebnissen Hans Holfelder und Friedrich Berner 1939: Atlas des Röntgenreihenbildes des Brustraumes auf Grund der Auswertung von über 900 000 Röntgenreihenschirmbildern. Leipzig: Thieme;

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schwerpunktmäßigen Vorsorgeuntersuchungen von Herz und Lunge eines jeden „Volksgenossen“ und zur ausführlichen Dokumentation der individuellen Familiengeschichte sowie der Ergebnisse aus dem Gesundheitstest. Erst in der historischen Rekonstruktion der medialen Berichterstattung wird deutlich, warum die Gegenüberstellung von gesundem Volksgenossen und sogenanntem Giftmenschen in der Ausstellung kaum Anstoß erregt haben mag. Sich der freiwilligen Gesundheitsprüfung zu entziehen, die aus heutiger Sicht einer Selbstmobilisierung für den bevorstehenden Weltkrieg gleichkam, hätte bedeutet, sich dem Vorwurf des Egoismus und der Drückebergerei auszusetzen. Die mediale Zuspitzung auf das Gegenbild zwischen gesund und krank, rein und vergiftet, sowie den „rassisch“ wertvollen Volksgenossen und den „rassisch“ Unerwünschten, die zu „Gemeinschaftsfremden“ erklärt wurden, war also nicht nur der Eigenlogik der Presse geschuldet, möglichst auf Sensationen und Kontrastdarstellungen zu setzen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Wie der Einblick in das insbesondere von Bartels vorangetriebene Konzept der betrieblichen Gesundheitsführung gezeigt hat, nach deren Vorbild die Körperleistungsmessung der Besucher modelliert worden war, speisten sich diese Feindbilder aus dem Fundus der nationalsozialistischen Weltanschauung. Sie wurden hier zu einem wichtigen propagandistischen Mittel, um das vermeintlich zu geringe Gesundheitsgewissen der Arbeiterschaft zu mobilisieren.

Das Deutsche Hygiene-Museum als Werkstatt apolitischer Kontrollinstrumente und Vermittlungen Es fällt auf, dass der Urheber der Prüfstationen, anders als für die Attraktionen in der wissenschaftlichen Kernausstellung, in der Presse nicht erwähnt wurde. Der Grund dafür mag in der angenommenen Universalität der Geräte liegen, die für die Gültigkeit der gemessenen Werte zu sprechen schien. Diese Sichtweise entsprach zudem der Eigenwahrnehmung des Deutschen Hygiene-Museums, das seine aufklärerische Arbeit mit der neuen Satzung vom November 1935 in den Dienst der Unterstützung des bevölkerungspolitischen Programms der NSDAP in Zusammenarbeit mit den Gliederungen der Partei gestellt hatte.89 Der Umbau einiger seiner Demonstrationsobjekte zu Prüfapsiehe zu Holfelder bisher Katja Weiske 2010: Hans Holfelder – Radiologe in Frankfurt, Nationalsozialist, Gründer des SS-Röntgensturmbanns. In: Udo Benzenhöfer (Hg.): Mengele, Hirt, Holfelder, Berner, von Verschuer, Kranz. Frankfurter Universitätsmediziner der NS-Zeit. Münster: Klemm & Ölschläger, 43–60 und demnächst die Dissertation von Sascha Lang an der Universität Bielefeld. 89 Die konkreten Vorgänge der Selbstgleichschaltung und Zusammenarbeit des Museums mit der gesundheitspolitischen Funktionselite im Nationalsozialismus sind noch eine Forschungslücke. Siehe für erste Überlegungen Peter E. Fässler 2006: Eine symbiotische Beziehung? Zur Kooperation zwischen Deutschem Hygiene-Museum und NS-Regime. In: Axel C. Hüntelmann, Johannes Vossen und Herwig Czech (Hg.): Gesundheit und Staat. Studien zur Geschichte der Gesundheitsämter in Deutschland. Husum: Matthiesen Verlag, 63–75.

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paraten mag diesem Selbstverständnis noch besser als die Herstellung von abschreckenden Installationen wie dem Unfallkarussell oder dem Giftmenschen entsprochen haben. Die künstlich geschaffene Untersuchungssituation war für die Verantwortlichen im NSDAP-Hauptamt für Volksgesundheit wie Pakheiser, Bartels, Blome und Wagner das Mittel der Wahl zur Legitimierung der regelmäßigen Überwachung des Leistungswertes des Einzelnen für die expansiven Pläne des nationalsozialistischen Staates. Die Prüfstationen wurden als Möglichkeit zur Wiedererlangung einer als verloren geglaubten Wertschätzung des eigenen Körpers angepriesen und dienten auf diese Weise der Akzeptanzbeschaffung für die Maßnahmen der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik. In der Propaganda für die Ausstellung wurde kein Raum für Zweifel daran gelassen, dass es um eine möglichst objektive Leistungsprüfung ging. Genauso wie in den Reihenuntersuchungen am Arbeitsplatz oder beim Eintritt in die Wehrmacht, den Arbeitsdienst, die HJ oder SA und SS übergab man sich dazu den Fachleuten, die die Geräte hergestellt hatten, teilweise die Untersuchungen auch selbst vornahmen und letztlich die Deutungsmacht über die Ergebnisse behielten.90 Wenn es hieß, die Besucher wüssten nach dem Besuch der Ausstellung mehr über sich, dann war damit die Erwartung verbunden, sich die Sichtweisen der Physiologen, Psychodiagnostiker und Röntgenologen zu eigen zu machen. Die als Orientierung vorgegebenen Kenndaten richteten sich auf den namenlosen erbgesunden, 30 Jahre alten, leistungsfähigen, männlichen Arbeitnehmer von Durchschnittsgröße und -gewicht, der, noch nicht vom Arbeitsknick eingeholt, dem nationalsozialistischen Arbeits- und Leistungsideal am meisten entsprach. Daran, dass die öffentliche Gesundheitsprüfung in der Halle der Selbsterkenntnis als Dienst an der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu verstehen sei, ließ auch der verantwortliche Kurator des Deutschen Hygiene-Museums Herbert Michael keinen Zweifel. Michael war der letzte verbliebene wissenschaftliche Mitarbeiter aus der Zeit vor 1933 und schon unter Bruno Gebhard für die Demonstrationsapparate in Die Lehre des Lebens von 1935 zuständig gewesen.91 In seiner Beschreibung der Prüfstationen für den Amtlichen Katalog bediente er sich zweier sprichwörtlich gewordenen Klassikerzitate, womit er die neu erwachte Wertschätzung des Körpers ins Überzeitliche transferierte und den Prüfapparaten einen unpolitischen Anschein gab.92 Das erste, „Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper“, stammt aus einer römischen Satire und wurde in der nationalsozialistischen Ideologie wortwörtlich genommen und auch in der Gegenrichtung gelesen. Michael legitimierte mit diesen Worten die Ineinssetzung von Körper und Subjekt in der Halle der Selbsterkenntnis und führte weiter aus, dass für ihn „Du und Dein Körper“ keine verschiedenen Dinge seien. Es müsse stattdessen heißen: „[D]ein

90 Vgl. zur Deutungsmacht der Experten auch die Beiträge von Noyan Dinçkal, Max Stadler und Lars Bluma in diesem Band. 91 Über Michael gibt es noch nicht einmal Lebensdaten, geschweige denn biografische Informationen, was sehr bedauerlich ist, da er durchgängig bis zum Kriegsende am Museum wirkte. 92 Michael 1938.

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Körper bist du und du bist dein Körper.“93 In seiner auf den Diderot’schen Materialismus der Aufklärung zurückgehenden Interpretation kam der Geist allenfalls in der Messung der Sehleistung zu seinem Recht. Das zweite Zitat, das er in seine Beschreibung der Messapparate einbaute, „Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“, ging auf Fausts Worte aus der Erdgeistszene zurück und zielte in der nationalsozialistischen Propaganda auf die Erhaltung und Verbesserung der Erbgesundheit ab, die für die Mitglieder der Volksgemeinschaft zur Pflicht erhoben wurde. Der erste Teil, „Was Du ererbt …“, war der Titel des aktuellen Schulungsfilms des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, der sechs Wochen vor Eröffnung der Ausstellung fertig geworden war und mit allen Mitteln der Bevölkerungsstatistik und der antisemitischen Propaganda für die „Reinhaltung des Erbgutes“ warb.94 Michael sprach im Unterschied zu den anderen Autoren des Katalogs bemerkenswerterweise nicht von der „nationalsozialistischen“, sondern von der „modernen“ Gesundheitsführung. Mit dem Goethezitat begründet er, dass „es eine Pflicht sei, seine Gesundheit zu erhalten zu seinem Glück und zum Wohle der Nation“, und befand sich mit diesem moralischen Argument zur Gesundheitspflicht gegenüber der eigenen Nation in Kontinuität zur Gesundheitsaufklärung in der Weimarer Republik, aber auch nicht im Widerspruch zum Grundmotiv der Ausstellung, das Wohl der Nation einzig im Gesundheitsschutz des erbgesunden und leistungsfähigen Volksgenossen zu sehen. Die Halle der Selbsterkenntnis und die Röntgenuntersuchung wurden von den Zeitgenossen nicht isoliert wahrgenommen, sondern als Teil einer Schau der nationalsozialistischen Gesundheitsführung, die als Propagandaausstellung mit wissenschaftlichen, und das hieß mit als unpolitisch verstandenen, Mitteln bespielt wurde. Gesundes Leben – Frohes Schaffen richtete die Aufmerksamkeit der Besucher im Unterschied zu offen antisemitischen Ausstellungen wie Der ewige Jude oder Entartete Kunst auf die nationalsozialistische Utopie einer von Krankheit, Unfällen und Leiden befreiten Volksgemeinschaft. Sie legte das Augenmerk auf die individuelle Pflicht zur Gesunderhaltung, welche durch eine Fürsorgepraxis aus dem Blickfeld geraten schien, die sich auch Kranken, die als unheilbar galten, gewidmet hatte. Gerade jene Männer, die als erbgesund und arbeitsfähig klassifiziert wurden, sollten durch Schutzmaßnahmen vor einem möglichen Leistungsabfall bewahrt werden, denn man brauchte sie zur Verwirklichung der militärischen und geopolitischen Ziele. Gerade sie sollten durch die Ausstellung erreicht werden, denn ihnen wurde zu geringes Gesundheitsbewusstsein unterstellt. Die einfache Botschaft war: Nur wer gesund sei, könne auch schaffen und für die Gemeinschaft etwas leisten und damit seinen Pflichten gegenüber der Volksgemeinschaft nachkommen. Das „gesundes Leben“ im Titel der Ausstellung stand für das erbgesunde Volk und das „frohe 93 Ebd.: 111. 94 „Was Du ererbt …!“ Ein neuer Film des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP. Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, 17. August 1938, siehe dazu Karl Ludwig Rost 1987: Sterilisation und Euthanasie im Film des „Dritten Reiches“. Nationalsozialistische Propaganda in ihrer Beziehung zu rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Staates. Husum: Matthiesen Verlag, 60, 65, 79, zur Beschreibung: 231.

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Schaffen“ zielte in diesem Sinne auf den Arbeits- und Wehrdienst für die Volksgemeinschaft. Arbeiten und Schaffen wurden hier nicht als Möglichkeit zur individuellen Selbstverwirklichung verstanden, sondern als Dienst an einer höheren Sache, der sich die nationalsozialistische Bewegung verschrieben hatte. Die Ausstellung dokumentiert die Verschiebung der Aufmerksamkeit vom kranken zum gesunden Menschen, die auch im Begriffswechsel von der Gesundheitsfürsorge zur Gesundheitsführung zum Ausdruck kommen sollte und für die sich Bartels einsetzte.95 Zentral dafür war das Verständnis der Erbgesundheit als Schlüssel zur Bewertung der Tauglichkeit für die Volksgemeinschaft, mit der die Differenz zu den „Gemeinschaftsfremden“ markiert wurde. Mit den Selbstprüfungen in der Ausstellung wurde vorgeführt, dass eine wissenschaftlich gestützte Leistungsbestimmung im Überwachungsstaat, der den Totalzugriff auf seine Subjekte anstrebt, nur Sinn macht, wenn die Messungen wiederholt und vergleichend erfolgen sowie unabhängig von den Untersuchten dokumentiert werden. Als technische Ensembles überlebten die Prüfapparate den politischen Umbruch 1945 genauso wie die Blockbildung in der Nachkriegszeit. Sie lösten sich dabei aber aus ihrer Verklammerung mit der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik und erwiesen sich flexibel genug für neue politische Kontexte, was den Untersuchungsmethoden eine bleibende öffentliche Aufmerksamkeit garantierte. Während sich die Röntgenzüge auf ihrem Weg von der Kriegs- zur Zivilgesellschaft in der Nachkriegszeit in größerem Maßstab durchsetzten,96 fanden die Prüfapparate weiter ihren Platz in Gesundheitsausstellungen und dienten jetzt in Ost und West der Akzeptanzbeschaffung für verschiedene Gesundheitskonzepte. Die Frau in den 1950er-Jahren war nicht die einzige Wanderausstellung, die hier zu nennen und näher zu betrachten wäre. Ein anderes Beispiel, das fast für sich selbst sprach, trug den Titel: Erkenne Dich selbst 97 Hier wurden die Geräte auf einzelne Ausstellungsgruppen vom Körperbau über das Muskel-, Herzkreislauf- und Atmungssystem zum Sinnesapparat verteilt. Aus der Leistungskarte wurde die Prüfkarte der DDR, mit der dieselben Größen wie schon im Nationalsozialismus erfasst wurden (Abb. 7). In der Einleitung der begleitenden Broschüre wurde nun darauf hingewiesen, man dürfe niemals vergessen, dass selbst die besten Apparate nicht dazu ausreichten, den Menschen, der eben keine Maschine sei, zu verstehen. Damit grenzte sich das Nachkriegs-DDR-Museum vom sogenannten bürgerlich-faschistischen Menschenbild ab. In der Ausstellung sollte, so im Einleitungstext weiter, die Aufklärung und Belehrung über die den Körper betreffenden Vorgänge dem Verständnis der Maßnahmen der Regierung der DDR dienen, 95 Friedrich Bartels 1933: Gesundheitsführung des Volkes – Aufgabe des Staates. Deutsches Ärzteblatt, 63, 119 f. 96 Beispielhaft zur Durchsetzung in der Schweiz siehe Dommann 2003: 318–321. 97 Deutsches Hygiene-Museum (Hg.) 1955: Erkenne Dich selbst. Apparate prüfen Deine Leistung. Eine allgemeinverständliche Broschüre zur gleichnamigen Ausstellung. Berlin (Ost): VEB Verlag Volk und Gesundheit.

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die den Gesundheitsschutz der Bevölkerung ausgebaut und damit eine wichtige Bedingung für den Aufbau des Sozialismus erfüllt habe.98 Im Westen wurden dagegen ausgewählte Prüfstationen durch das Deutsche Gesundheits-Museum, das mit der Dresdner Einrichtung verwandt war, in Zusammenarbeit mit der Kölner Sporthochschule in der Großen Gesundheits-Ausstellung 1951 gezeigt.99 Über die Verwendung einer Leistungs- oder Prüfkarte ist nichts bekannt. Diese lange Tradition der Prüfapparate kann in ihren jeweiligen gesundheitspolitischen Settings in den Ausstellungen als ein besonders exponiertes Lehrstück darüber angesehen werden, wie diese Sichtbarmachungsobjekte zur Vermittlung des jeweiligen biopolitischen Körperkonzepts nutzbar gemacht werden konnten. Dabei liegt die Attraktivität der wissenschaftlichen Diagnoseverfahren durch politisch motivierte Praktiken im Bevölkerungsmanagement moderner Gesellschaften vielleicht gerade in ihrem auf dem ersten Blick so unpolitisch erscheinenden Charakter. An der besprochenen Gesundheitsausstellung konnte demonstriert werden, dass zur öffentlichen Akzeptanz von Körperleistungsmessungen im Sinne der Psychodiagnostik und Arbeitsmedizin das Präventionskonzept der nationalsozialistischen Gesundheitsführung entschieden beigetragen hat. Dass die Untersuchungsmethoden auch dazu verwendet wurden, um Menschen vom Schutz der Gemeinschaft auszuschließen und letztlich zu ermorden, wenn sie „rassisch“ unerwünscht waren oder nicht die von ihnen erwartete Leistung erbringen konnten, ist Teil der komplexen Geschichte der Rolle von Wissenschaft, Medizin und Technik im Nationalsozialismus.100 Auch wenn der aktuelle Hype um die Verfahren zur Selbstvermessung in keinster Weise mit der Situation von 1938 gleichgesetzt werden kann, verdeutlicht schon das Gedankenexperiment, dass es unter anderem auch darauf ankommen würde, zu fragen, mit welchen politischen und individuellen Zielen sich derartige Techniken verbinden.101

98 Ebd.: 4. 99 Über die Stationen zum Selbsttesten siehe Fred-M. Kuhn 2004: Lebenserinnerungen. Höhen und Tiefen eines Arztes. Norderstedt: Books on demand, 227–231; zur deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte zwischen Deutschem Gesundheits- und Deutschem Hygiene-Museum siehe den Beitrag von Christian Sammer in diesem Band. 100 Siehe zur grundsätzlichen Frage Prolog und Schlusskapitel in Proctor 2002 [1999] sowie Mario Biagoli 1992: Science, Modernity and the „Final Solution“. In: Saul Friedländer (Hg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the „Final Solution“. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 185–205. 101 Zur aktuellen Diskussion um die Praktiken zur Selbstvermessung siehe Deborah Lupton: Understanding the Human Machine. IEEE Technology and Society Magazine, Winter 2013, 25–30. Zum modernen Zusammenhang zwischen Körper- und Selbstbildern siehe auch die Ausführungen in meiner Einleitung in diesem Band.

Lars Bluma

Die Objektivierung des bergmännischen Körpers. Praktiken der Sichtbarmachung im Kontext von Versicherungsrationalität und berufsspezifischen Krankheiten

Mit der Entstehung moderner Krankenversicherungen im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde der arbeitende Körper als ein zentraler Ort medizinischer Objektivierung und Intervention entdeckt.1 Dass mit der Einführung von modernen sozialen Sicherungssystemen eine Ökonomisierung des versicherten Risikos einherging, ist eine Binsenweisheit. Aktuelle Diskussionen über die Verteilung von Ressourcen in der Krankenversicherung sprechen hier Bände. Allerdings hat die Geschichtswissenschaft, insbesondere die Medizin-, Naturwissenschafts- und Technikgeschichtsschreibung, den engen Zusammenhang von Versicherungsrationalitäten und wissenschaftlich-technischer Praxis bisher kaum in detaillierten Fallstudien untersucht. Das hat sicherlich auch etwas damit zu tun, dass mit den cultural turns innerhalb der Wissenschaftsforschung ökonomische Fragen erst einmal zurückgedrängt wurden.2 Allerdings wird der Verwissenschaftlichung des „produktiven Arbeiterkörpers“ und den Gefährdungen, denen dieser während der Industria­lisierung ausgesetzt war, in der Geschichtswissenschaft wieder vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt.3 Im Hinblick auf die anhaltenden Rationalisierungs- und Technisierungsprozesse industrieller Produktion werden körper- und medizinhistorische Ansätze aktualisiert, die auch die Logik ökonomischer Praktiken einbeziehen. Auch neuere Studien zur Geschichte der Arbeitsmedizin können hier genannt werden.4 Ähnliches gilt für die Geschichte des Krankenversicherungswesens. Zwar ist die Erkenntnis, dass die Einführung der modernen Krankenversicherung in Deutschland 1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes „Der Körper des Bergmanns in der Industrialisierung. Biopolitik im Ruhrkohlenbergbau 1880–1980“. 2 Vgl. auch den gemeinsamen Beitrag von Roger Cooter und Claudia Stein in diesem Band. 3 Lars Bluma und Karsten Uhl (Hg.) 2012: Kontrollierte Arbeit – Disziplinierte Körper? Zur Sozial und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld: transcript. 4 Anne-Sophie Bruno, Éric Geerkens, Nicolas Hatzfeld und Catherine Omnès (Hg.) 2011: La santé au travail, entre savoirs et pouvoirs (19e–20e siècles). Rennes: Presses Universitaires de Rennes. Siehe auch die Beiträge im von Judith Rainhorn und mir herausgegebenen Heft der Zeitschrift European Review of History 20 (2013), Nr. 2, sowie Judith Rainhorn (Hg.) 2014: Santé et travail à la mine, XIXe-XXIe siècles. Villeneuve-d’Ascq: Presses universitaires du Septentrion.

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1883 tief greifende Veränderungen sowohl für die Medizin als Wissenschaft als auch für die medizinische Praxis mit sich brachte, sicherlich nicht überraschend. Allerdings ist sie deshalb nicht notwendigerweise ein bevorzugtes Objekt aktueller historischer Forschung geworden. Dabei wäre gerade die Technisierung der Medizin seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein lohnendes Untersuchungsobjekt, um dem Einfluss von Wirtschaftsund Versicherungslogiken auf diesen Prozess nachzugehen.5 Monika Dommann hat etwa am Beispiel der Einführung der Röntgentechnologie deutlich gemacht, dass die materielle Kultur der Medizin schon früh auch von ökonomischen Gesichtspunkten geprägt wurde. Ihr Buch enthält deshalb ein Kapitel zur Ökonomie des Röntgenlabors, und die Bedeutung der schweizer Kranken- und Unfallversicherung für die Expansion der Röntgentechnologie wird zumindest erwähnt.6 Martin Lengwiler hat mit seiner Geschichte der schweizerischen Unfallversicherung ebenfalls gezeigt, wie fruchtbar eine Perspektive ist, in der Wissenschaftsgeschichte und die Geschichte der Sozialstaatlichkeit miteinander verbunden werden. Er beschreibt die im Versicherungswesen institutionalisierte Risikopolitik als einen konfliktreichen historischen Aushandlungsprozess.7 Im Folgenden werde ich am Beispiel des Ruhrbergbaus und der Knappschaft als soziales Sicherungssystem für Bergleute während der Hochindustrialisierung die enge Verschränkung von Versicherungsrationalität und medizinischen Strategien der Sichtbarmachung untersuchen. Ihr Zusammenwirken stellt eine spezifische Form medizinischer Objektivierung und Authentifizierung dar. Es geht mir insbesondere um den Nachweis, dass die bergmännischen Arbeitspraktiken und die ökonomischen (Versicherungs-) Strukturen der Kranken- und Unfallversicherung des Bergbaus mit der Institutionalisierung einer neuen gesellschaftlichen Wahrheitsordnung verknüpft waren, in der der Körper des Bergmanns als zentrales Element eines sich formierenden Macht-WissenGefüges fungierte.8 Die Begriffe Fürsorge und Kontrolle umschreiben das Spannungs5 Bisher wurde eher die Verbindung zur Entstehung des modernen Krankenhauses gezogen, vgl. z.B. Volker Hess 1998: Gegenständliche Geschichte? Objekte medizinischer Praxis – die Praktik medizinischer Objekte. In: Norbert Paul und Thomas Schlich (Hg.): Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven. Frankfurt a.M./New York: Campus, 130–151, hier 135 f.; sowie überblicksartig zur Technisierung der Medizin Ortun Riha 2004: Die Technisierung von Körper und Körperfunktionen in der Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts. Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften, 29, 21–42 und bereits Stanley J. Reiser 1981: Medicine and the Reign of Technology. Cambridge: Cambridge University Press. 6 Monika Dommann 2003: Durchsicht, Einsicht, Vorsicht. Eine Geschichte der Röntgenstrahlen 1896–1963. Zürich: Chronos, 121–135. 7 Martin Lengwiler 2006: Risikopolitik im Sozialstaat. Die schweizerische Unfallversicherung 1870–1970. Köln/Weimar/Wien: Böhlau. 8 Die Knappschaften haben als soziales Sicherungssystem der Bergleute eine bis in das Mittelalter reichende Tradition. Im Ruhrkohlenbergbau wurde die erste Pflichtversicherung der Bergleute bereits 1768 gegründet. 1890 fusionierten die Knappschaften an der Ruhr dann zum Allgemeinen Knappschafts-Verein zu Bochum (AKV), der ab 1924 unter dem Dach der neu gegründeten Reichsknappschaft als Ruhrknappschaft firmierte. Ihre Aufgaben umfassten Kranken-, Invaliditäts-, Alters- sowie Unfallversicherung. Letztere wurde 1885 mit der Gründung der Knappschafts-Berufsgenossenschaft ausgesondert, siehe Josef Boyer 1995: Unfallversicherung und Unternehmer im Bergbau. Die Knapp-

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verhältnis innerhalb dieses Gefüges.9 Auf der einen Seite verstand sich die Kranken- und Unfallversicherung der Bergleute als Institution, die umfassende medizinische Hilfe gewährleistete. Dazu gehörte nicht nur der finanzielle Ausgleich im Krankheitsfall, sondern auch ein bereitstehendes Medizinalsystem aus eigenen Ärzten, Erholungsheimen und Krankenhäusern. Auf der anderen Seite erforderte diese Versicherungsrationalität zur effizienten Erfüllung der Fürsorgefunktion und zur Vermeidung von Versicherungsbetrug (Simulation) eine intensive Kontrolle und Regulierung der Körper der Bergleute. Diese Überwachung basierte auch auf Strategien der Körperdarstellung und -sichtbarmachung, die als gleichsam neutrale Mechanismen der Authentifizierung der individuellen Leidensäußerung der Patienten fungierten. An drei relativ vergleichbaren Beispielen, den Krankenstatistiken des Allgemeinen Knappschaftsvereins zu Bochum, den medizinischen Inskriptionen bei der Erforschung des bergmännischen Augenzitterns sowie den fotografischen Wiedergaben der Röntgenaufnahmen, sollen die spezifischen Darstellungsverfahren im Hinblick auf ihre versicherungslogische Autorität untersucht werden.

Ungesicherte Diagnosen I: Silikose und Röntgenbilder Lungenerkrankungen von Bergleuten sind seit dem 15. Jahrhundert dokumentiert. Dabei waren die vielfältigen Erscheinungsformen sowohl bezüglich ihrer Ursachen als auch im Hinblick auf ihren Status als selbstständige Krankheitsformen umstritten. Für die Silikose, die durch Einatmen von kristallinem Quarz hervorgerufen wurde, galt dies ebenso wie für die damit oft einhergehende Siliko-Tuberkulose.10 Nach den äußerlich sichtbaren Symptomen konnte ein Arzt kaum unterscheiden, um welche Lungenkrankheit es sich handelte, welche Ursachen die Beschwerden hatten und ob die Erkrankung mit der Berufsausübung im Zusammenhang stand. Die Symptome der Silikose traten zudem erst Jahre, wenn nicht Jahrzehnte nach der Staubexposition auf. Eine sichere schafts-Berufsgenossenschaft 1885–1945. München: Beck; Martin H. Geyer 1987: Die Reichsknappschaft. Versicherungsreformen und Sozialpolitik im Bergbau 1900–1945. München: Beck; Ulrich Lauf 2010: Der Allgemeine Knappschaftsverein zu Bochum (1890–1923). Mythos und Wirklichkeit. Bochum: Deutsches Bergbau-Museum; Christoph Bartels (Hg.) 2010: Berufliches Risiko und soziale Sicherheit. Bochum: Deutsches Bergbau-Museum; ders. (Hg.) 2012: … höchst verpönte Selbst-Hülfe … Sozialversicherung in Bergbau, Seefahrt und Eisenbahnwesen. Bochum: Deutsches Bergbau-Museum. 9 Lars Bluma 2012: Fürsorge und Kontrolle. Medizinhistorische Perspektiven der Knappschaftsgeschichte im Ruhrgebiet. In: Bartels: … höchst verpönte Selbst-Hülfe, 201–280. 10 Zur Problematik der Staublungenerkrankungen und der Siliko-Tuberkulose siehe Elmar Menzel 1989: Bergbau-Medizin einst und jetzt. Entwicklung des bergmännischen Gesundheitswesens unter Einschluß der Kranken- und Unfallversicherung. Berlin: Erich-Schmidt Verlag, 163–179; Michael Martin 2000: Arbeiterschutz und Arbeitsmedizin im Ruhrbergbau 1865–1914. Dissertation an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, 458–476; Christian Schürmann 2011: Die Regulierung der Silikose im Ruhrkohlenbergbau bis 1952. Staat, Unternehmen und die Gesundheit der Arbeiter. Wiesbaden: Springer-Gabler.

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Diagnose konnte im 19. Jahrhundert erst nach dem Tod eines Bergmanns in der Pathologie erstellt werden. Deshalb galt bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die Silikose nicht als wichtiges Thema für die Kranken- und Unfallversicherung des Bergbaus, und auch die Bergleute selbst sahen Stauberkrankungen als unvermeidliche, hinzunehmende Belastungen an.11 Erst mit der Einführung der Röntgentechnik in die medizinische Praxis eröffnete die Silikose Medizinern ein expandierendes Forschungsfeld. Erste röntgenologische Reihenuntersuchungen der Lunge führte in Deutschland der bayerische Landesgewerbearzt Franz Koelsch zwischen 1909 bis 1919 an 5.500 staubgefährdeten Arbeitern durch.12 Die verbesserte Röntgentechnik nach dem Ersten Weltkrieg gestattete dann auch sichere Diagnosen von Staublungenerkrankungen, und die Staubinhalation wurde allgemein als Verursacher von Lungenkrankheiten anerkannt.13 Im Ruhrgebiet wurden die ersten Röntgenuntersuchungen 1924 durchgeführt. Damit war der Weg frei, um die Silikose als berufsspezifische Krankheit in den Katalog der Berufskrankheiten aufzunehmen. Als dies 1929 geschah, wurde damit die Knappschafts-Berufsgenossenschaft für die Prophylaxe und Kompensation der Silikose zuständig, was zu einem außerordentlichen Forschungsboom in diesem Bereich führte. Die Gründung des Silikose-Instituts durch die Knappschafts-Berufsgenossenschaft im Jahr 1929 dokumentiert dies sehr gut und belegt die hohe Bedeutung der Interessen von Unfall- und Krankenversicherungen für die wissenschaftliche Erforschung einzelner Erkrankungen.14 Die Röntgentechnologie wurde gewissermaßen zur Sichtbarmachungsmaschine pathologischer Veränderungen des Lungengewebes (Abb. 1) und entwickelte sich entsprechend früh zu einer Schlüsseltechnologie der Knappschafts-Berufsgenossenschaft. Mit ihrer Hilfe konnte eine Silikoseerkrankung nicht nur sicher diagnostiziert, sondern auch ihre einzelnen Stadien unterschieden werden. Dies war wichtig für die Frage, ab welchem Schädigungsgrad die Berufsgenossenschaft der Bergleute entschädigungspflichtig war. In die Berufskrankheitenverordnung vom 11. Februar 1929 wurde ausdrücklich nur die „schwere Staublungenerkrankung“ als Berufskrankheit aufgenommen. Diese Einschränkung war dadurch zweckmäßig geworden, dass durch die Röntgentechnik unterschiedliche Schweregrade sichtbar gemacht werden konnten. Die Unterteilung der Silikose in drei Stadien ging somit auf die Röntgenaufnahmetechnik zurück. Allerdings reichte der Röntgenbefund einer Silikose im dritten Stadium keineswegs aus, um entsprechende Kompensationsleistungen zu empfangen. Dazu war immer auch eine Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 Prozent notwendig 11 Wobei es schon vor dem Ersten Weltkrieg zu vereinzelten Schutzmaßnahmen (Staubschutzmasken, Staubfangvorrichtungen) im Steinkohlenbergbau kam (vgl. Schürmann 2011: 32). 12 Ebd.: 46. 13 Ebd.: 47. 14 Norbert Ulitzka (Hg.) 2009: Die Bergbau-Berufsgenossenschaft 1885–2009. Eine Sammlung von Beiträgen zur Geschichte der gesetzlichen Unfallversicherung für den Bergbau in Deutschland. Bochum: BergbauBerufsgenossenschaft, 239–258.

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Abb. 1: Röntgenbefund eines 25 Jahre alten Bergmanns (Gustav Schulte und Karl Husten 1936: Röntgenatlas der Staublungenerkrankungen der Ruhrbergleute. Leipzig: Thieme, 54).

sowie der Nachweis, dass der Erkrankte für einen längeren Zeitpunkt an einem bergmännischen Arbeitsplatz tätig gewesen war, an dem eine erhöhte Kieselstaubbelastung vorlag. Es soll hier nicht auf die weiteren Details der versicherungsrechtlichen Regulierung der Silikose eingegangen werden.15 Festzuhalten ist, dass die Einführung der Röntgentechnik für die medizinische Praxis im Ruhrbergbau einen bedeutenden Einschnitt darstellte. Um entschädigungspflichtige Silikoseerkrankungen zu verhindern, wurden alle Bergleute vor ihrer Anstellung in sogenannten Anlegeuntersuchungen geröntgt. In weiteren regelmäßigen Nachuntersuchungen konnten zudem silikotische Veränderungen der Lunge schnell festgestellt und die betroffenen Bergleute nachfolgend schon in einem frühen Krankheitsstadium von staubbelasteten Arbeitsplätzen entfernt werden. Dieser physiologischen Transparenz der Lunge durch regelmäßige Röntgen-Reihenuntersuchungen entsprach eine Transparenz des bergmännischen Arbeitsplatzes. Alle Arbeitsplätze im Bergbau wurden nun nach ihrer Staubbelastung klassifiziert, und es wurde penibel darüber Buch geführt, ob und wie lange ein Bergmann an staubbelasteten Arbeitsplätzen tätig war, um vor oder bei Entschädigungsverfahren der Knappschafts-Berufsgenossenschaft auf objektive Fakten zur individuellen Staubexposition zurückgreifen zu können. Der Durchleuchtung des bergmännischen Körpers über die gesamte Dauer des Beschäftigungsverhältnisses durch die Röntgentechnik folgte also eine Durchleuchtung

15 Vgl. Schürmann 2011.

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des bergmännischen Arbeitsplatzes im Hinblick auf damit verbundene Gesundheitsbelastungen. Die obligatorische Einrichtung von Röntgenzimmern in den Knappschaftskrankenhäusern an der Ruhr war jedoch keineswegs nur kurativen und prophylaktischen Anforderungen der Berufskrankheitenverordnung geschuldet, sondern erfüllte auch noch eine andere versicherungsspezifische Funktion.16 Sie hing damit zusammen, dass die Knappschaftskrankenhäuser Standorte des sozialmedizinischen Dienstes waren, womit sie gleichzeitig auch für Renten- und Invalidengutachten sowie für die Beobachtung vermeintlicher Simulanten zuständig waren. Den Röntgenabteilungen kam in diesem Aufgabenspektrum eine wichtige Rolle zu, dienten sie doch nicht nur bei Silikoseerkrankungen der Objektivierung der medizinischen Urteile der Knappschaftsärzte und berufsgenossenschaftlichen Ärzte.17 Röntgengeräte waren beides gleichzeitig: Diagnosegeräte und Simulantendetektoren. Die Bekämpfung von Simulanten war überhaupt eine der bedeutsamsten Kostensenkungsstrategien, denn der mit Abstand größte Ausgabenposten der knappschaftlichen Krankenversicherung zur damaligen Zeit war das Krankengeld, also die Lohnersatzleistung im Krankheitsfall, die erst in den 1970erJahren von den Arbeitgebern übernommen wurde.18 Mit der Röntgentechnik glaubten die Mediziner der knappschaftlichen Kranken- und Unfallversicherung ein Instrument in der Hand zu haben, mit dem Simulanten wirksam überführt werden konnten. In dieser Versicherungslogik wurden subjektive Leidensäußerungen der Patienten zunehmend dem Verdacht der Übertreibung und Lüge ausgesetzt, was zu einer dauerhaften Störung des Arzt-Patienten-Verhältnisses führte. Das technische Röntgenbild machte die Staublungenkrankheit sowohl als medizinische wie als versicherungsrechtliche Tatsache sichtbar. Die Aufnahme war dabei Teil der sozialen Praktiken, die sich aus der Rationalität einer Kranken- oder Unfallversicherung allererst ergeben hatten: Deren Logik erforderte die Einführung wissenschaftlicher Diagnoseverfahren, mit denen mehrdeutige Zeichen in eindeutige Fakten übersetzt werden konnten. Ärzte übernahmen aufgrund ihres Expertenwissens eine Filter- oder Selektionsfunktion, denn im Kampf gegen den Versicherungsmissbrauch lag es an ihnen zu entscheiden, wer Versicherungsleistungen erhalten sollte und wer nicht. Zu diesem Zweck wurden ihnen die technisch-innovativen objektiven Verfahren zur Verfügung gestellt. Bildgebungsverfahren wie der Röntgentechnik fiel in diesem Kontext der effek16 Zur Geschichte der Knappschaftskrankenhäuser an der Ruhr siehe Ulrich Lauf 2009: Knappschaftskrankenhäuser und -kureinrichtungen im Ruhrkohlenbergbau bis zum Ende der 1920er Jahre. In: Der Anschnitt. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau, 51, 5–6: 302–313, sowie Lars Bluma 2010: Heterotope Orte. Raumhistorische Dimensionen des knappschaftlichen Krankenhauswesens im Ruhrgebiet. In: Bartels: Berufliches Risiko und soziale Sicherheit, 67–98. 17 Lars Bluma 2012: 240. 18 Zur Simulantenbekämpfung im Bergbau an der Ruhr siehe Lars Bluma, Stefan Schulz und Jochen Streb 2010: Prinzipal-Agenten-Probleme in der knappschaftlichen Krankenversicherung. Die Bekämpfung des „Simulantentums“ durch Anreiz und Kontrolle. Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 97, 310–334.

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tiven Verhinderung der Simulation die Doppelfunktion eines versicherungsrechtlich belastbaren Diagnosegeräts und eines quasipolizeilichen Kontrollinstruments zu.

Ungesicherte Diagnosen II: Das Augenzittern der Bergleute und die Nystagmografie Die zeitgenössischen Bemühungen, das sogenannte Augenzittern (Nystagmus) der Bergleute zu objektivieren, fanden in einem ähnlichen Kontext statt wie die Diagnosen der Silikose, wenngleich sie weniger auf das Problem der Simulation abzielten. Beschrieben wurde der Nystagmus im Bergbau seit den 1860er-Jahren. Die Erkrankung wurde durch die Kombination der schlechten Beleuchtung unter Tage mit dem unnatürlichen, durch die Zwangshaltung des ganzen Körpers in den Strecken bedingten Sehwinkel der Bergleute ausgelöst.19 Die Symptome bestanden in unwillkürlichen Bewegungen des Auges, die sich in vertikalen und horizontalen Rotationsbewegungen manifestierten. Die Diagnose des Nystagmus galt auch deshalb als unproblematisch, weil eine Simulation als ausgeschlossen gelten konnte, so die einhellige Meinung der medizinischen Experten.20 Insbesondere der Steinkohlenbergbau war davon betroffen, da hier im Gegensatz zum Erz-, Kali- und Braunkohlenabbau lange Zeit Sicherheitslampen benutzt werden mussten, die nur geringe Leuchtkraft besaßen.21 Der epistemologische und auch versicherungsrechtliche Status des Augenzitterns blieb jedoch zunächst ungesichert, und zwar sowohl hinsichtlich der Ursachen der Erkrankung als auch ihrer Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Mit dem Aufschwung der sozialen Gesetzgebung am Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Problem von den Augenärzten in ganz Europa aufgegriffen, um zu objektiven wissenschaftlichen Aussagen zu kommen.22 Auch hier war die einsetzende medizinische Forschung eng mit der Logik der Kranken- und Unfallversicherung verknüpft. Durch diese war die Wissenschaft dazu angehalten, den Zusammenhang von Erwerbsarbeit und Krankheit sowie die mögliche ursächliche Bedeutung der sogenannten natürlichen Anlagen des Patienten für die Erkrankung und deren Intensität festzustellen. Dazu erwarteten die Institutionen der sozialen Sicherung objektive Daten von den Medizinern und agierten somit als entscheidende Impulsgeber für die Verwissenschaftlichung der modernen Medizin. 19 Menzel 1989: 123–130. 20 Ilse Wild 1992: Der Nystagmus der Bergleute. Eine Untersuchung der Berufskrankheit vom ersten Auftreten 1860 bis zu ihrem Erlöschen im europäischen Steinkohlebergbau. Dissertation an der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, 50 f. 21 Martin Bartels und Walter Knepper 1930: Das Augenzittern der Bergleute. Seine soziale Bedeutung, Ursache, Häufigkeit und die durch das Zittern bedingten Beschwerden. Berlin: Springer, 43. 22 Zur Produktion wissenschaftlicher Objektivität siehe Lorraine Daston 2001 [1998]: Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität. In: Michael Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a.M.: Fischer, 137–158 [zuerst erschienen in: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft. Einheit-Gegensatz-Komplementarität. Göttingen: Wallstein Verlag, 9–39].

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Im Ruhrbergbau tat sich unter anderem der Bottroper Augenarzt Johannes Ohm hervor, der 1912 seine ersten Ergebnisse auf der Grundlage von insgesamt 504 diagnostizierten Fällen veröffentlichte und in den Folgejahren vor allem objektivierende Verfahren zur Messung und Beschreibung des Nystagmus der Bergleute entwickelte und verfeinerte.23 Mit seinen Methoden untersuchte er Richtung, Ablauf, Zahl und Ausschlag der Schwankungen des Auges.24 Die von ihm beschriebenen vier Untersuchungsschritte umfassten eine „äußere Betrachtung“ (durch ein Hornhautmikroskop oder einen Augenspiegel) sowie die „Betastung des Auges“ durch die geschlossenen Lider. Durch kinematografische Aufnahmen der Augenbewegungen auf Rollfilm und deren nystagmografische „Aufzeichnung“ konnten dann die willkürlichen Augenbewegungen in Kurvendiagramme übersetzt werden (Abb. 2).

Abb. 2: Sattelförmiges Augenzittern der Bergleute (Ohm 1925: 41). Abb. 3: Großer Hebelapparat (ebd.: 6).

Die beiden letztgenannten Verfahren, Kinematografie und Nystagmografie, können als technisches Ensemble betrachtet werden, das die unmittelbare sinnliche Erfahrung des 23 Johannes Ohm 1912: Das Augenzittern der Bergleute. Sein Krankheitsbild und seine Entstehung, dargestellt an mehr als 500 selbst beobachteten Fällen. Leipzig: Engelmann. 24 Ders. 1925: Das Augenzittern als Gehirnstrahlung. Ein Atlas der Augenzitternkurven. Berlin/Wien: Urban & Schwarzenberg, 2.

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Arztes durch ein apparatives Verfahren abgelöst hat. Die filmischen Aufnahmen und das Abgreifen der Augenbewegung mittels Hebelapparaten in der Nystagmografie (Abb. 3) resultierten in Kurvenlandschaften beziehungsweise in Inskriptionen, die sich mathematisch nach den Methoden der harmonischen Analyse weiterverarbeiten ließen.25 Ziel war es hierbei, die in den jeweils individuellen Schwingungskurven enthaltenen mathematischen Muster zu erkennen, die wiederum Rückschlüsse auf den Nystagmus als Krankheit zulassen sollten. Ohms Schriften sind voll von solchen „graphematischen Ketten von Ereignissen“, die die differenzielle Ausrichtung des modernen Wissens durch die Anwendung neuer epistemologischer Methoden der Zeichenproduktion ausmachten.26 Die Authentifizierung einer Krankheit erfolgte auch in diesem Fall nicht mehr durch das geschulte Auge oder Fingerspitzengefühl des Arztes, sondern durch ein zwischengeschaltetes quantifizierendes Notationsmedium. Das Versicherungssystem, das sich ganz der Verwissenschaftlichung und Verdatung des Menschen als medizinisches Objekt verschrieben hatte, wurde somit zu einem kaum zu überschätzenden Akteur dieses modernen Entzifferungsprojekts. Dabei beruhte das Wahrsprechen des Körpers in der Moderne, so ließe sich resümieren, auf der Medialität experimenteller Praktiken und deren Zeichenproduktion. So unbestritten die Diagnose des Augenzitterns war, so unsicher waren sich trotz aller apparativen und diagrammatischen Objektivierungsbemühungen die Mediziner in der Frage des Einflusses der Augenbewegungen auf die Arbeitsfähigkeit der Bergleute. In der Versicherungsrationalität der Knappschafts-Berufsgenossenschaft spielte für die Kategorisierung des Augenzitterns weniger die medizinische Unterscheidung zwischen krank und gesund als vielmehr die ökonomische Differenzierung zwischen arbeitsfähig und arbeitsunfähig eine ausschlaggebende Rolle. Denn Letztere beruhte auf der engen Verbindung zwischen Versicherungsleistung und Erwerbstätigkeit, einem Charakteristikum des deutschen sozialen Sicherungssystems. Die Diagnose des Augenzitterns führte daher keineswegs automatisch zur Feststellung eines Anspruchs des betroffenen Bergmanns auf Krankengeld, „sondern es bleibt von Fall zu Fall objektiv zu prüfen, ob infolge des Augenzitterns die bisher ausgeübte Erwerbstätigkeit nicht mehr oder doch nur mit der Gefahr, den Zustand zu verschlimmern, ausgeübt werden kann“, wie in einem Rundschreiben von 1925 zu lesen war.27 In der Diskussion der medizinischen Experten stand somit die Frage im Mittelpunkt, ob eine eventuell durch das Augenzittern hervorgerufene Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit objektiv messbar sei oder nicht.

25 Dieses Verfahren war jedoch nicht unumstritten, vgl. ders. 1954: Nachlese auf dem Gebiete des Augenzitterns der Bergleute. Ein Beitrag zur Gehirnfunktion. Stuttgart: F. Enke, 7 f. 26 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger 1994: „Alles, was überhaupt zu einer Inskription führen kann“. Experiment, Differenz, Schrift. In: Norbert Haas, Rainer Nägele und ders. (Hg.) 1994: Im Zug der Schrift [= Lichtensteiner Exkurse, 1]. München: Fink, 295–309, hier 300. 27 N. N. 1925: Rundschreiben der Ruhrknappschaft an die Knappschafts-Augenärzte vom 30. Dezember 1925. Die Knappschaft. Nachrichtenblatt für die Knappschaftsangestellten, 1, 25: 495–497, hier 496.

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Als subjektive Beschwerden beim Augenzittern galten Sehverschlechterung, Scheinbewegungen, Schwindel und Kopfschmerzen, die allerdings sehr unterschiedliche Formen und Intensitäten annehmen konnten. Die überwiegende Mehrheit der betroffenen Bergleute hatte indessen gar keine merklichen Probleme, selbst wenn ein sehr heftiges Zittern zu beobachten war.28 Nicht einmal eine Störung der Sehschärfe konnte im Fall des Augenzitterns durch objektivierende Verfahren unabhängig von den Angaben der betroffenen Bergleute authentifiziert werden: „Nur wenn das Sehvermögen als normal angegeben wird, können wir die Angabe als sicher verwerten. Wird aber bei der Sehprüfung eine Herabsetzung angegeben, so kann dies zutreffen oder eine Täuschung sein.“29 Der Simulationsverdacht bei Augenzittern zielte also nicht mehr nur darauf ab, ob eine Krankheit vorgetäuscht wurde, sondern auf die Authentizität der Patientenaussagen bezüglich der Beschwerden, die mit der sicher diagnostizierbaren Krankheit einhergingen. Eine Korrelation zwischen Ohms Kurvenlandschaften und den individuell geäußerten Beschwerden konnte aber nicht festgestellt werden, womit die oben geschilderten objektivierenden Verfahren in der medizinischen Praxis der Krankschreibung schlichtweg irrelevant blieben. Allerdings waren sie nicht folgenlos. Da, anders als Ohm hoffte, die von ihm produzierten „objektiven Zeichen“ keinen Rückschluss auf den Grad der Arbeitsunfähigkeit zuließen und die subjektiven Äußerungen der erkrankten Bergleute keine hohe Glaubwürdigkeit besaßen, blieb dem Nystagmus der Bergleute in Deutschland bis 1961 die Anerkennung als Berufskrankheit verwehrt. Dennoch kamen entsprechende Krankschreibungen durch Knappschaftsärzte weiterhin vor, etwa wenn sie keinem so strengen Gutachterverfahren unterlagen wie die Feststellung von Berufskrankheiten und Invalidität.30 Es ist eine bittere Ironie dieser Geschichte, dass die Anerkennung des Nystagmus als Berufskrankheit erst zu einem Zeitpunkt erfolgte, als es im deutschen Bergbau aufgrund verbesserter Beleuchtungsverhältnisse keinen einzigen Fall von Augenzittern mehr gab. Oder anders ausgedrückt: Eine Krankheit ohne objektivierbare Beeinträchtigungsmerkmale konnte erst nach deren gänzlichem Verschwinden entschädigungspflichtig werden.

Die Medizinalstatistik als Realexperiment der Sichtbarmachung Am Beginn des modernen sozialen Versicherungswesens in Deutschland in den 1880erJahren stellte sich ganz grundsätzlich die Frage, ob sich einzelne Berufstätigkeiten tatsächlich auf die Lebensdauer und die Zeitspanne der Arbeitsfähigkeit auswirken konnten. Bei der Entscheidung dieser Frage gingen die damaligen Bevölkerungsstatistiker 28 Bartels/Knepper 1930: 36. 29 Ebd.: 37. 30 Erich Zeiss 1936: Das Augenzittern der Bergleute. Vergleichende Untertageuntersuchungen im Ruhrgebiet, in Ober- und Niederschlesien. Leipzig: J. A. Barth, 76.

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davon aus, dass Beobachtungen möglichst vieler Einzelfälle der unterschiedenen Berufsklassen notwendig seien, um deren gesundheitliche Lage beurteilen zu können. Die Etappen dieser induktiven Methode beschrieb der Knappschaftsarzt Isaak Schlockow 1881: Es ist eine durch Beschäftigung und Lebensgewohnheiten wohl charakterisierte Gruppe aus der Gesamtbevölkerung herausgehoben und ihre gesundheitliche Lage vom Zeitpunkt des Eintritts in den Beruf bis zum Ausscheiden aus demselben in Folge von Arbeitsunfähigkeit oder Tod unter Beobachtung gestellt. Dadurch, dass zur Ausübung der Berufsarbeit und zur Aufnahme in die Berufsgemeinschaft der Nachweis voller körperlicher Gesundheit und Rüstigkeit erfordert wird, ist gewissermassen ein Experiment im Grossen gegeben, bei welchem die Beobachtung sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und dessen Ergebnisse in gewissen Zahlenverhältnissen ihren Ausdruck finden.31

Die Experimentalisierung der medizinischen Wissenschaften, die sich auch in der Anwendung von neuen apparategestützten Objektivierungs- und Authentifizierungsstrategien niederschlug (etwa Mikroskopierung, Röntgen oder Nystagmografie), wurde schon von den Zeitgenossen mit der regelmäßigen Beobachtung von Kontrollgruppen zusammengeführt. Letztere resultierte schließlich in der Erstellung äußerst differenzierter Medizinalstatistiken. Dieser Konnex zwischen Bevölkerungsstatistik und medizinischer (Experimental)Wissenschaft deutet auf die eminent wichtige Funktion der wissenschaftlichen Rationalität als Legitimationsgrundlage der sozialen Sicherungssysteme des deutschen Kaiserreichs hin.32 Der Verweis auf den experimentellen Charakter der Versicherungsstatistik unter Wirklichkeitsbedingungen verschaffte dieser Methode gleichsam wissenschaftliche Berechtigung. Eine auf die Zukunft gerichtete Risikoplanung als zentrales Ziel sozialer Sicherungssysteme war ohne sozial- und medizinalstatistische Datengrundlage nicht vorstellbar. In diesem Zusammenhang entwickelte sich aus den noch rudimentären statistischen Erhebungen der Knappschaften in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein System der Beobachtung des Bergmanns vom ersten Tag seines Arbeitseintritts bis zu seinem Tod. Die Individualbeobachtung des Einzelnen diente der Massenauswertung ganzer Kollektive. Ein frühes Ziel dieser branchenbasierten statistischen Massenbeobachtung der Erwerbstätigen war nicht nur die institutionalisierte Risikoplanung, sondern in erster Linie der Nachweis, „ob eine etwaige vorzeitige Abnutzung [des menschlichen Organismus, L. B.] den Berufseinflüssen allein zuzuschreiben sei“.33 Für eine solche grundlegende empirische Studie eigneten sich insbesondere Gruppen, bei denen die Berufs31 Isaak Schlockow 1881: Gesundheitspflege und medizinische Statistik im Preussischen Bergbau. Berlin: C. Heymann, 3 f. 32 Lengwiler 2006: 54. 33 Schlockow 1881: 2.

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ausübung an bestimmte körperliche und gesundheitliche Vorbedingungen geknüpft war und die statistische Beobachtung auch nach dem Ausscheiden weitergeführt werden konnte, wie bei Soldaten, Staatsbeamten des Eisenbahnwesens, der Post und der Telegrafie oder eben bei knappschaftsversicherten Bergleuten.34 Die Verwaltungsberichte des Allgemeinen Knappschafts-Vereins zu Bochum enthalten seit den 1890er-Jahren entsprechend umfassende und detaillierte Statistiken zu den Krankheiten der Bergleute. Beispielsweise wurde 1912 das Krankheitsgeschehen des Steinkohlenbergbaus an der Ruhr nach über 154 Krankheitskategorien erfasst, die im Laufe der Zeit immer wieder geändert wurden. Neben der Ausdifferenzierung der Diagnosen ermöglichte die Statistik soziale Kategorisierungen nach dem Lebensalter der Erkrankten, ihrer beruflichen Stellung, nach Lohnklassen, Nationalität, Familienstand und Zechenzugehörigkeit. Ebenso wurden Monat, Dauer und Ausgang der Erkrankung statistisch erfasst, sodass zahlreiche Querbezüge zwischen diesen Kategorien und den Krankheiten, aber auch zu Todes- und Invaliditätsursachen hergestellt werden konnten. Die Erfassung ermöglichte den Vergleich zwischen verschiedenen Berufsbranchen, denen unterschiedliche Risikoprofile zugewiesen werden konnten. Außerdem konnte das System jederzeit zusätzliche Informationen aufnehmen, nach Interessenlage beispielsweise die „mechanische Arbeitsleistung des Bergmanns“, seinen Weg zur Arbeitsstätte, die Beschaffenheit der Luft in den Bergwerken oder die Staubbelastung.35 Wie die Beispiele zeigen, wurden auch allgemeine, nicht arbeitsplatzbezogene Daten, wie Klima- und Wetterverhältnisse im Ruhrgebiet oder die Lohnentwicklung, Streiks und die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse erfasst.36 So ergab sich ein umfassendes Risikoprofil des Bergmanns nach einheitlichen und rationellen Kriterien, die für die statistische Analyse anderer Beschäftigtengruppen als vorbildlich galt.37 Es verwundert nicht, dass die Knappschaft aufgrund der Wichtigkeit, die der statistischen Transparenz der Versicherten seitens der knappschaftlichen Krankenversicherung zugemessen wurde, frühzeitig maschinelle Sortier- und Zählverfahren einsetzte: ab 1910 das Lochkartenverfahren der Deutschen Hollerith-Maschinen Gesellschaft mbH (DEHOMAG) und seit 1930 das Hollerith-System mit Sortiermaschine, Duplizierungslocher, selbstschreibender Tabelliermaschine und Zählbank.38 34 In den Anlegeuntersuchungen wurde die gesundheitliche Tauglichkeit für die bergmännische Tätigkeit festgestellt. Als Invaliden und Pensionäre blieben die Bergleute weiter knappschaftsversichert, sodass eine durchgehende statistische Beobachtung bis zum Tod gewährleistet war. 35 Schlockow 1881: 7 f. 36 Siehe z.B. Allgemeiner Knappschafts-Verein zu Bochum (Hg.) 1913: Verwaltungs-Bericht für das Jahr 1912. Teil 1. Bochum: Allgemeiner Knappschafts-Verein zu Bochum, 141. 37 Bruno Heymann 1925: Morbidität und Mortalität der Bergleute im Ruhrgebiet. Essen: Baedeker, 3. 38 Michael Fessner, Christoph Bartels und Rainer Slotta (Hg.) 2011: Auf breiten Schultern. 750 Jahre Knappschaft. Katalog der Ausstellung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum 1. Juli 2010 bis 20. März 2011. Bochum: Deutsches Bergbau-Museum, 388 f.; N. N. 1930: Die Statistik der Reichsknappschaft nach dem Hollerith-Verfahren. Die Knappschaft. Nachrichtenblatt für die Knappschaftsangestellten, Nr. 9, 140– 143, Nr. 10, 153–155.

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Hier scheint die Vision eines „gläsernen Bergmanns“ auf, die nicht nur den medizinischen Blick in das Körperinnere, sondern auch die lückenlose statistische Erfassung der physiologischen Konstitution des Bergmanns unter Umweltbedingungen im realen Verlauf zum Ziel hatte. In der Folgezeit dehnte sich dieses statistische Programm auf alle Lebensbereiche des Bergarbeiters aus. Hier sei nur beispielhaft auf die Untersuchung des Ausschusses zu den Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft hingewiesen, die den Steinkohlenbergbau im Detail unter die Lupe nahm und unter anderem den Einfluss der Betriebsorganisation und maschineller Einrichtungen, die Qualifikation der Bergarbeiter, deren Wohnverhältnisse, Freizeitbeschäftigungen und psychische Verfassung auf die Arbeitsleistung bestimmte.39 Auch im Nationalsozialismus Abb. 4: Ausgaben des Allgemeinen Knappschafts-Vereins (Allgemeiner KnappschaftsVerein zu Bochum 1913, Teil 1: 213).

39 Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft 1928: Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für Arbeitsleistung (IV. Unterausschuß). Bd. 2: Die Arbeitsverhältnisse im Steinkohlenbergbau in den Jahren 1912 bis 1926 dargestellt auf Grund der dem Arbeitsleistungsausschuß vorliegenden Materialien und der Verhandlungsergebnisse. Berlin: Mittler & Sohn.

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galt die Krankenstatistik der Bergleute als eine wichtige Maßnahme der „Gesundheitsführung“ zur Sicherstellung der kriegsrelevanten Arbeitskraftreserven.40 Aus den Statistiken ließen sich, so die Hoffnung der Knappschaft, präventiv gesundheitliche Gefahren und Interventionsfelder ablesen. Das Versicherungsrisiko wurde so sichtbar und in Verbindung mit ökonomischen Daten (wie Ausgaben für Arzneien, Ärztehonorare und Lohnersatzleistungen) kalkulierbar gemacht (Abb. 4). Diese Entwicklung war ein wichtiger Schritt hin zur Ökonomisierung der sozialen Sicherung im Bergbau. Der statistischen Transparenz des bergmännischen Körpers folgte eine Sichtbarmachung der Krankheitskosten. Hinter einer solchen statistischen Erfassung steht letztlich die Annahme eines permanenten Krisenzustands, der das Feld für prophylaktische Interventionen absteckt. Die Rationalität der Krankenversicherung war gerade und besonders im Bereich der statistischen Gefahrenerfassung wesentlich interventionistisch angelegt, und die Legitimation dieser Praxis ergab sich aus der Statistik selbst.41

Erkenne Dich, indem Du Dich erkennen lässt Die oben beschriebenen, auf Techniken der Sichtbarmachung beruhenden Praktiken erfüllten ihre Rolle als Authentifizierungsstrategien der Versicherungsmedizin. Der Versicherungsrationalität der Knappschaft entsprechend verwandelte sich das ältere „Erkenne Dich selbst!“ zwischen dem Kaiserreich und den 1970er-Jahren in einen selbstreferentiellen Erkenntnisakt, für den wesentlich medizinische Experten zuständig wurden. Deren hohe Autorität basierte dabei auf der Nutzung medizintechnisch generierter Bilder des Menschen, die sich in der modernen Versicherungspraxis voll entfalten konnten.42 Die Objektivierungstrajektorie der modernen Medizin und Statistik entließ den Patienten in wichtigen Teilen aus seiner individuellen Verantwortung im Sinne einer medizinischen Selbstsorge und überantwortete diese den kollektiven Sicherungssystemen und deren Experten. Dadurch entstand eine paradoxe Situation, in der einerseits die 40 Erich Marsch 1942: Gesundheit und Krankheit im Bergbau. Untersuchungen über Krankheitshäufigkeit und Fehlerbelastung der wichtigsten Krankheitsarten in einem Steinkohlenrevier. Stuttgart: Bechtle, 3. 41 Zur Legitimitätsproduktion interventionistischer Medizinalpraktiken durch Statistiken vgl. Sybilla Nikolow 2001: Der statistische Blick auf Krankheit und Gesundheit. „Kurvenlandschaften“ in Gesundheitsausstellungen am Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland. In: Ute Gerhard, Jürgen Link und Ernst Schulte-Holtey (Hg.): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften. Heidelberg: Synchron Verlag der Autoren, 223–241, hier 224 f. 42 Zur Verschränkung von Authentifizierung und Autorität vgl. Achim Saupe: Authentizität, Version: 2.0, Docupedia-Zeitgeschichte (http://docupedia.de/zg/Authentizit.C3.A4t_Version_2.0_ Achim_Saupe?oldid=84810, letzter Zugriff am 22. Oktober 2012). Das Problem der Authentizität ist in der Geschichtswissenschaft und insbesondere in der Wissenschaftsgeschichte noch ein Forschungsdesiderat. Inzwischen hat sich ein Leibniz-Forschungsverbund „Historische Authentizität“ formiert, der sich der Autorisierung durch Authentifizierung in historischer Perspektive widmet: http://www.leibniz-gemeinschaft.de/forschung/leibniz-forschungsverbuende/historische-authentizitaet/, letzter Zugriff am 7. Februar 2014.

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Logik der Versicherung als risikoregulierende Institution auf Massenverdatung angewiesen war, während andererseits jeder Versicherungsfall als Einzelfall zu beurteilen war. Die Authentifizierung einer berufsbedingten Erkrankung oder Arbeitsunfähigkeit und der entsprechende Anspruch auf Kompensationsleistungen setzte am individuellen Körper an, erfolgte aber unter Nutzung von Objektivierungsverfahren, die, wie am Röntgen der Lunge zu sehen war, auf beliebige Kollektive angewandt wurden, um aussagekräftig im Sinne der Versicherungsansprüche zu sein. Im Kern der hier beschriebenen Sichtbarmachungsstrategien nistete immer der Verdacht des Betrugs, der Simulation sowie der Unachtsamkeit und Verantwortungslosigkeit der Versicherten (Letzteres insbesondere bei Berufsunfällen). Zwischen Arzt und Patient wurden Authentifizierungsmechanismen geschaltet, die die subjektiven Äußerungen des Patienten, die in der vormodernen Medizin noch überwiegend als unmittelbarer Ausdruck des Leidens angesehen worden waren, relativierten und mit dem Verdacht der Falschaussage belegten. In den modernen Kranken- und Unfallversicherungen seit dem 19. Jahrhundert wurde, so könnte man sagen, das moralische Subjekt verhandelt. Der Prozess der Objektivierung des Körpers wurde durch einen penetranten moralischen TransparenzDiskurs begleitet, der kein Geheimnis duldete und in der Logik der Krankenversicherungen wohl zunächst gelautet hätte: „Erkenne die Gesundheit Deines Körpers als kollektives, durch die Kranken- und Unfallversicherung vertretenes Interesse an!“ Im Ruhrbergbau wurde dieses Dilemma zwischen individueller und versicherungsrelevanter, allgemeiner Wohlfahrt in der Bekämpfung des Hakenwurms um 1900 besonders deutlich. Der Parasit fand in den europäischen Steinkohlenrevieren ideale Bedingungen für seinen Reproduktionszyklus vor. Ausgeschieden aus dem Dünndarm der unter Tage arbeitenden Bergleute (die obertägig arbeitenden Bergleute waren nicht von der Ankylostomiasis betroffen) konnte der Erreger in den warmen, feuchten und von Kot verunreinigten Strecken überleben und sich verbreiten.43 Diese Berufskrankheit der Bergleute, die epidemische Ausmaße annahm, bedrohte den gesamten Ruhrbergbau und erregte bald die Aufmerksamkeit der Hygieniker. Es bildeten sich zwei wissenschaftliche Lager, die jeweils unterschiedliche Bekämpfungsmaßnahmen favorisierten: Auf der einen Seite stand die Knappschaftskrankenversicherung, die eine umwelthygienische Position vertrat, auf der anderen standen die Infektionshygieniker, die der Schule Robert Kochs angehörten. Die Maßnahmen der Umwelthygieniker bestanden vor allem in einer Verbesserung der hygienischen Bedingungen unter Tage durch Aufstellen von Aborten und Regulierung der direkten Umweltbedingungen durch bessere Bewetterung und Trockenlegung der versumpften Strecken. Dieses umwelthygienische Programm setzte voraus, dass die Bergleute ihre hygienischen Verhaltensweisen änderten – also tatsäch43 Zur Hakenwurmepidemie im Ruhrkohlenbergbau vgl. Heiner Langenfeld 1981: Die Ankylostomiasis im Ruhrgebiet. Ein Beitrag zur Geschichte der medizinischen Parasitologie. Frankfurt a.M./Bern: Peter Lang; Lars Bluma 2009: Der Hakenwurm an der Ruhr. Umwelt, Körper und soziale Netzwerke im Bergbau des Kaiserreichs. Der Anschnitt. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau, 61, 5–6: 314–329.

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lich die Aborte aufsuchten und andere hygienische Vorschriften beachteten, was sich keineswegs als selbstverständlich erweisen sollte. Abb. 5: Ankylostoma duodenale in seinen Entwicklungsstufen (Hugo Goldmann 1900: Die Ankylostomiasis. Eine Berufskrankheit des Berg-, Ziegel- und Tunnelarbeiters. Wien/Leipzig: W. Braumüller, o. S.).

Trotz der Aufklärungskampagnen der Knappschaft und bergpolizeilicher Hygienevorschriften, die empfindliche Sanktionen bei Nichtbeachtung vorsahen, breitete sich der Hakenwurm im Ruhrkohlenbergbau weiter aus. Der vehementeste Gegner des umwelthygienischen Konzepts, der Leiter des 1901 gegründeten Hygiene-Instituts, Hayo Bruns,

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brachte das Problem der knappschaftlichen Interventionen so auf den Punkt: „Ein einziger Schmutzfink, ein einziger stupider oder rücksichtsloser Mensch ist im Stande, durch einige Zeit fortgesetzt unvorschriftsmäßige Entleerungen seines Kotes ein ganzes Steigerrevier zu infizieren.“44 Stattdessen setzte Bruns auf mikroskopische Massenuntersuchungen, die im Kot der Bergleute systematisch nach gefährdeten Zechen fahndeten. Die mikroskopische Reihenuntersuchung (Abb. 5) ersetzte die Individualdiagnose der Knappschaftsärzte, die nur bei äußeren Symptomen eines Hakenwurmbefalls (Symptomen der Anämie) und bei entsprechender Arbeitsunfähigkeit den betroffenen Bergmann aus dem Arbeitsprozess nahmen und einer Wurmkur zuführten. In der Logik der knappschaftlichen Krankenversicherung, die den Krankheitsbegriff eng an die Frage der Arbeitsfähigkeit gekoppelt hatte, war dies eine adäquate Reaktion. Schließlich waren die zahlreichen infizierten Bergleute, die noch keine Symptome zeigten, ausnahmslos arbeitsfähig, und Kompensationsleistungen waren daher abzulehnen. Dem stand nun auf der anderen Seite der Ansatz von Bruns gegenüber, der eine bakteriologische Bekämpfungsstrategie ins Auge fasste. Mit dem Hakenwurm infizierte Bergleute sollten danach ausnahmslos vom Arbeitsplatz entfernt werden und eine Wurmkur absolvieren. Mit der Durchsetzung permanenter medizinisch-hygienischer Pflichtkontrollen durch Reihen- und Anlegeuntersuchungen, die die mikroskopische Kotuntersuchung einschlossen, blieb ein sittlich-hygienisches Verhalten der Bergleute zwar durchaus wünschenswert und wurde auch eingefordert. Es erschien aber nicht mehr unbedingt notwendig, um eine Hakenwurmepidemie zu verhindern. Der bergmännische Körper, einerseits ein epistemisches Objekt der (Versicherungs-)Medizin, andererseits ein von der knappschaftlichen Krankenversicherung und Berufsgenossenschaft verwaltetes medizinalstatistisches Subjekt,45 wurde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in ein Kontroll- und Regulierungsregime eingespannt, das im Zeitalter der Hochindustrialisierung eine erstaunliche Stabilität aufwies. Damit wurde das individualbürgerlich-pädagogische Konzept der Selbsterkenntnis zugunsten eines wissenschaftlichen Reduktionismus modernisiert, der vor allem auf technische Authentifizierung und Entindividualisierung setzte.46

44 Hayo Bruns und August Gärtner 1905: Gutachten über den derzeitigen Stand und die weitere Bekämpfung der Ankylostomiasis im Oberbergamtsbezirk Dortmund. Jena/Gelsenkirchen: Thaden & Schmemann, 29. 45 Vgl. vor allem Herbert Gottweis, Wolfgang Hable, Barbara Prainsack und Doris Wydra 2004: Verwaltete Körper. Strategien der Gesundheitspolitik im internationalen Vergleich. Wien/Köln/Weimar: Böhlau. 46 Zur Bedeutung bürgerliche Werte für die Hygienebewegung vgl. Manuel Frey 1997: Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760–1860. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht; Philipp Sarasin 2001: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1865–1914. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, sowie Anne I. Hardy 2005: Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit. Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M./New York: Campus.

Max Stadler

„Vom guten Sehen bei künstlicher Beleuchtung“. Lichttechnische Aufklärung um 1930

Nähert man sich den Strategien der Sichtbarmachung von Körperfunktionen vonseiten der Geschichte der Physiologie, dann trifft man mit hoher Wahrscheinlichkeit zunächst auf das Laborgerät. Prominent sieht man sich dort beispielsweise neben inscription devices im Allgemeinen an die sogenannte „grafische Methode“ verwiesen, die in der Historio­ grafie bekanntlich viel Platz eingenommen hat.1 Sicherlich würde man auch auf die Fülle an Präparaten, Modellen und den damit verwandten Demonstrationsstrategien stoßen, die dieser Vorzeigedisziplin des 19. Jahrhunderts immer schon ein unabdingliches Mittel war, um im Labor oder Vorlesungssaal „Anschauung“ beziehungsweise „Wissen“ zu produzieren.2 Und schließlich wären da noch Wandtafeln, Schaukästen, Atlanten und Broschüren, die dieses Wissen reproduzierten und auch nach außen dringen ließen. Ein solcher Gedankengang läge nahe, auch wenn heute wahrscheinlich keiner mehr das hier nahegelegte Zentrifugalnarrativ von (wissenschaftlichem) Wissen und dessen Popularisierung genau so unterschreiben würde. Mit der Vermittlung und Produktion solchen Wissens verhält es sich sicherlich komplizierter, und dennoch ist sich dem Eindruck dieser Bewegung vom Labor zu dessen Jenseits nur schwer zu entziehen. Nun ließe sich die Frage nach der Sichtbarmachung auch von vornherein anders aufrollen als durch ein primär vom Laborexperiment her gedachtes Wissen von der Physiologie.

1 Siehe u.a. Soraya de Chadarevian 1993: Graphical Method and Discipline. Self-Recording Instruments in Nineteenth-Century Physiology. Studies in History and Philosophy of Science, 24, 267–291; Frederic L. Holmes und Kathryn M. Olesko 1995: The Images of Precision. Helmholtz and the Graphical Method in Physiology. In: M. Norton Wise (Hg.): The Values of Precision. Princeton: Princeton University Press, 198–221 sowie Robert Brain 2002: Representation on the Line. The Graphic Method and the Instruments of Scientific Modernism. In: Bruce Clarke und Linda D. Henderson (Hg.): From Energy to Information: Representation in Science and Technology, Art, and Literature. Stanford: Stanford University Press, 155–178 [übersetzt als „Representation on the Line“. Grafische Aufzeichnungsinstrumente und wissenschaftlicher Modernismus. In: Frank Stahnisch und Heijko Bauer (Hg.) 2007: Bild und Gestalt. Wie formen Medienpraktiken das Wissen in Medizin und Humanwissenschaften? (= Medizin & Gesellschaft, 13). Hamburg: LIT Verlag, 125–148]. 2 Henning Schmidgen 2004: Pictures, Preparations, and Living Processes. The Production of Immediate Visual Perception (Anschauung) in Late–19th–Century Physiology. Journal of the History of Biology, 37, 477–513.

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Überlegungen, die sich anhand der Technik- und Kulturgeschichte entwickeln lassen, können zeigen, dass sich die Sichtbarkeit von Körpern auch als Funktion der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine beziehungsweise als Sache der lebensweltlichen Friktion, welche den menschlichen Körper überhaupt erst exponiert, konzipieren lässt. In diesem Sinne werde ich – ausgehend von der „Schnittstelle“ der Lichttechnik – das Sehen um 1930 behandeln, weil gerade in dieser Beziehung die physiologische Dimension technischer Bedingungen besonders deutlich zutage trat. Die Argumentationsstruktur ist nicht neu, sondern findet sich etwa bereits in Schivelbuschs mittlerweile klassischer Geschichte der Eisenbahnreise, in der er auf das von der Eisenbahn verursachte Ineinander von Mensch und Technik anhob. „[T]echnisch verursachte Reize […] als Agenten bei der Zivilisation des Seelenlebens“, heißt es da. Diese Reize manifestierten sich bekanntlich etwa im „panoramatischen“ Blick.3 Auch in neueren Arbeiten zur technikinduzierten, naturalisierten Natur des Menschen, die sich unter anderem mit der Erschöpfung, dem Hören und Sehen, der Reaktionszeit und dergleichen mehr befassen, ist diese Perspektive eingenommen worden.4 Fragt man nach der Sichtbarkeit dieser Körperfunktionen, zeigt sich, dass sich deren Problematisierung und Inszenierung nicht zuletzt zunehmend künstlichen Umwelten der zivilisierten Welt verdankte. Das betrifft die Medien – so viel scheint unstrittig – aber auch die Fabrikmaschinen und Instrumente, die Fahrzeuge, Fluggeräte und sonstige Apparate. In meinem Beitrag werde ich zeigen, wie eine solche Sicht auf die Dinge auch im Kontext der hier verhandelten Sichtbarmachungsstrategien fruchtbar gemacht werden kann. Im Speziellen geht es mir um die Funktion der Augen im Maschinenalter schlechthin: die „Arbeit“, die diese nun zu leisten hatten. Dabei soll deutlich werden, wie sich die Physiologie des Sehens um 1930 als eine durchweg praxisbezogene, das heißt beleuchtungstechnische, Problematik der Sehleistung generierte und damit immer auch und wesentlich, als Sache der psychotechnischen Aufklärung vorangetrieben wurde. Die Aufklärungsbemühungen erfolgten dabei nicht zuletzt im Sinne eines „Erkenne Dich Selbst!“. „[I]n allen Arbeitsräumen und an allen Arbeitsplätzen verdienen die Augen das Geld“, wie es eine Broschüre der OSRAM GmbH typischerweise versicherte (insbesondere in der „hochentwickelte[n] Zivilisation“).5 Dementsprechend ging das Wissen um das Sehen und das nunmehr künstliche Licht als dessen grundlegende Bedingung prinzipiell alle an. Wie ich ausführen werde, beförderte die damals einsetzende Intensivierung von Büro- und industrieller Feinarbeit wie der Nachtverkehr und die allgemeine Ratio3 Wolfgang Schivelbusch [1977] 2000: Geschichte der Eisenbahnreise. Frankfurt a.M.: Fischer, 150 f. 4 Siehe u.a. Chris Otter 2008: The Victorian Eye. A Political History of Light and Vision in Britain, 1800– 1910. Chicago/London: University of Chicago Press; Jimena Canales 2009: A Tenth of a Second. A History. Chicago/London: Chicago University Press; Mara Mills 2011: Deafening. Noise and the Engineering of Communication in the Telephone System. Grey Room, 43, 118–143; Jonathan Sterne 2012: MP3. The Meaning of a Format. Durham: Duke University Press. 5 Vom Guten Sehen bei künstlicher Beleuchtung. Osram Lichtheft, C.22. 1935. Berlin, 4 f.

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nalisierungswut im Verbund mit den – zum Leidwesen der Experten – üblicherweise unzureichenden Beleuchtungsbedingungen einen ganz bestimmten, lichttechnisch geprägten Blick auf das Sehen.6 Ferner war dieser techno-physiologische Komplex somit immer schon auch eine Sache der Sichtbarmachung durch Aufklärung, Werbung und Propaganda. Und auch das lag gewissermaßen in der Natur der Sache; speziell an der gedankenlosen Anpassungsfähigkeit der Augen selbst an die widrigsten Bedingungen. Folglich galt es, dem Lichtbenutzer „überhaupt einmal den Gedanken nahezubringen, dass er von einem seiner wertvollsten Sinnesorgane, dem Auge, tagtäglich ungeheure Leistungen verlangt“.7

Dunkelsehen Die aufgeregten Diskurse, die sich in den 1920er- und 1930er-Jahren um die sich ausbreitende „Lichtkultur“ wie um die Schaufenster und Leuchtreklamen rankten, sind hinlänglich bekannt. Anlass zur Aufregung gab es zur Genüge. Schon allein deswegen, weil mit Beginn der 1920er-Jahre das deutlich leuchtstärkere, elektrische Kunstlicht zunehmend Verbreitung fand und „Lichtkultur“ – die technische Überwindung von Natur (oder jedenfalls der Nacht) – auch jenseits der großen Boulevards erlebbar machte. Historiografisch gesehen handelt es sich in puncto Zwischenkriegszeit beim „Licht“ insofern kaum um eine vernachlässigte Größe.8 Wenig Beachtung allerdings fanden die Agenten deren technischer Implementierung: Figuren wie Matthew Luckiesh, Vorreiter in der physiologisch informierten Lichttechnik und seit 1914 Direktor des Applied Science Departments im Glühlampenlabor der General Electric Company in Cleveland, oder sein gewissermaßen deutsches Pendant, Joachim Teichmüller, Doyen der hiesigen Beleuchtungswissenschaft und „Schöpfer“ des einflussreichen Lichttechnischen Instituts in Karlsruhe.9 Wie diese wenigen Indizien schon vermuten lassen, handelte es sich hier weder um Physiologen im landläufigen Sinn, noch um bloße Techniker. Der „Lichttechniker“, der Begriff begann sich gerade einzubürgern, war einer, könnte man sagen, der sich von 6 Es wäre nicht verkehrt, beim Thema Sehen und Licht um 1930 an den Diskurs des Neuen Sehens zu denken. Dabei sollte aber die kaum minder dramatische biopolitische Konjunktur von Auge und (Licht)Technik im Zeichen der Arbeit mitbeachtet werden. 7 Gerhard Schmidt 1935: Schone Deine Augen …! Ein großangelegter Aufklärungsfeldzug. Licht und Lampe, 18, 441 f., hier 441. 8 Siehe u.a. Willy Hellpach 1927: Zivilisation und Kultur des Lichtes und der Farbe. Die Lichttechnik, 11, 126 sowie Wolfgang Schivelbusch 1992: Licht, Schein und Wahn. Auftritte der elektrischen Beleuchtung im 20. Jahrhundert. Berlin: Ernst & Sohn und Anne Hoormann 2003: Lichtspiele. Zur Medienreflexion der Avantgarde in der Weimarer Republik. München: Fink. 9 Luckieshs umfassendes Œuvre wurde gerade im deutschsprachigen Raum begierig rezipiert, so seine Werke Light and Work (1925), Seeing: A Partnership of Lighting and Vision (1931) und The Science of Seeing (1937).

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Berufswegen gleichermaßen um Mensch und Technik sorgte. Als Gebot der Stunde galt die sogenannte menschenkundliche Lichttechnik. Dabei waren es insbesondere die deutschsprachigen Vertreter der Zunft, die nun verlangten, die Beleuchtungskunst endlich auf wissenschaftliche, das hieß auf physiologische, Füße zu stellen. Denn weder war die Beleuchtung „bloß eine Größe im physikalisch-mathematischem Sinne“ noch war Beleuchtungsgüte einfach gleichzusetzen mit Beleuchtungsstärke: Vielmehr – derartige Überzeugungen begannen in jenen Jahren Fuß zu fassen – handelte es sich beim „guten Licht“ um ein komplexes Zusammenspiel von Sehapparat und Sehbedingungen. „Was gute Beleuchtung heisst“, so klagten die Lichttechniker entsprechend, „darüber hatte man [in der Vergangenheit] kaum nachgedacht.“10 Dies galt erst recht für die speziellen Beleuchtungsanforderungen bei grober Arbeit, mittelgrober Arbeit, feiner Arbeit und „sehr feiner“ Arbeit.11 Die Forderung, über die gute Beleuchtung nachzudenken, wurde dabei umso dringlicher, je umfassender die künstlichen Lichtquellen Einzug ins Alltagsleben fanden, je dringlicher die Sorge um Fließband-, Büro- oder Handarbeit erschien und je größer die Fortschritte in der Lichtquellentechnik ausfielen. Denn umso offenkundiger wurde, dass Technik, und insbesondere die Lichttechnik, nicht ohne den Menschen zu denken war: „Niemand schaut ungestraft unmittelbar in eine moderne gasgefüllte Glühlampe“, konstatierte Teichmüller etwa in seiner viel beachteten Schrift Lichttechnik und Psychotechnik von 1925.12 Dementsprechend lauteten die Themen, die diese noch junge Wissenschaft von der Beleuchtung zusehends beschäftigte: das Wohl oder Übel des Schummer- und Dämmerlichts, die Ursachen der Helligkeitskontraste, die Wirkungen und Nebenwirkungen von Blendung, Schattenwurf und monochromatischer Beleuchtung.13 Denn einerseits zeichneten sich die realen Beleuchtungsbedingungen in den Augen der Lichtreformer vorwiegend durch rückständige und mangelnde Beleuchtungsgüte aus. Andererseits verursachten die Fortschritte auf dem Gebiet der Beleuchtungsquellen ebenso viele Probleme wie sie eigentlich lösen sollten, etwa mittels der nun immer wieder akuten Blendungserscheinungen, die gerade beim dunkeladaptierten Auge „Nachbilder oder

10 Joachim Teichmüller 1925: Lichttechnik und Psychotechnik. Industrielle Psychotechnik, 2, 7–8: 193– 203, hier 194 f. 11 Vgl. u.a. Karl Kuckuck o. J. [um 1926]: Licht und Sehen. Die Grundlagen der guten Beleuchtung. Osram Lichtheft, B.6. Zürich; Heinrich Ströer 1926: Rationalisierung der Arbeitsplatzbeleuchtung. Günstige Flächenhelle und Beleuchtungsverteilung. Industrielle Psychotechnik, 3, 10: 289–304; Stephan Krauss 1928: Die psychologischen Grundlagen der Beleuchtungswahrnehmung. Licht und Lampe, 11, 385–390. 12 Vgl. Teichmüller 1925: 196. 13 Im Rückblick wurde festgestellt, dass „während der letzten zwanzig Jahre kaum ein Aspekt des Sehens mehr Aufmerksamkeit verdiente – und auch erregte – als das Dunkelsehen und die Dunkeladaptation“ (Dorothea J. Crook, John A. Hanson, Patricia I. McBride und Joseph W. Wulfeck 1953: A Bibliography on Dark Adaptation. Washington, D.C.: Armed Forces – NRC Vision Committee, 1, meine Übersetzung).

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gar vorübergehend vollständige Störungen des Sehvermögens“ nach sich ziehen konnten.14 Man sieht vielleicht bereits, wie sich die Sichtbarkeiten von Technik und Körperfunktionen hier zu vermengen beginnen. Dabei erfolgte der sich hier abzeichnende Blick auf das Sehvermögen der Lichtbenutzer nicht gänzlich unvorbereitet. Der Lichtsinn, darunter auch die Vorstellung eines nächtlichen, sogenannten skotopischen Sehens, war, wie die Sinnesphysiologie und -psychologie überhaupt, ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Die Fundamente der Lichttechnik waren also lange gelegt, so beispielsweise durch die Isolation des lichtempfindlichen, retinalen Sehpurpurs (Rhodopsin) und die Erforschung der Dunkeladaptation („Purkinje-Phänomen“). Nur handelte sich dabei bestenfalls um esoterische Sinnesphysiologie.15 Das änderte sich nicht schlagartig, aber doch zusehends zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sicht- und Beleuchtungsfragen – sei es im Büro, in der Fabrik oder im Straßenverkehr – wurden jetzt mehr und mehr virulent. Ein Indiz dafür sind die reihenweise ins Leben gerufenen Institutionen, Fachverbände und Organisationen des Beleuchtungswesens. Zu nennen wären hier mit der amerikanischen Illumination Engineering Society (1906), der London Illuminating Engineering Society (1909), der Deutschen Lichttechnischen Gesellschaft (1912) und der Commission Internationale de l’Éclairage (1913) nur die prominentesten.16 Auch an den Universitäten legte man bald nach, zum Beispiel mit dem Beleuchtungstechnischen Institut in Berlin (1916) und dem Teichmüller’schen Institut in Karlsruhe (1921/22). Und nicht zuletzt begannen sich die großen Glühlampenkonzerne den wahrnehmungstechnischen Aspekten der künstlichen Lichtquellen zuzuwenden: bei Luckieshs Arbeitsgeber, der General Electric Company, genauso wie im Natuurkundig Laboratorium der Philips Gloeilampenfabrieken und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bei der Osram GmbH in Berlin. Um schlagkräftige Argumente war man nicht verlegen. So verkündete etwa Teichmüller 1925: „Die Beleuchtung erscheint uns […] als eins der wichtigsten, vielleicht das wichtigste Werkzeug für die menschliche Tätigkeit, die uns alle anderen Werkzeuge in ihrer Verwendung zu verbessern oder zu vermindern geeignet ist.“17 Teichmüller lieferte damit auch gleich eines der Stichworte, die den deutschen Lichtdiskurs der Zwischenkriegsjahre prägen sollte: das Licht als „Werkzeug“. Und dies bedeutete nicht zuletzt: Ausrichtung der Technik auf den schaffenden Menschen. Denn das Licht war, wie auch in den „Leitsätze[n] für die Beleuch14 E. Hintzmann 1926: Blendung und spiegelnde Reflektion. Industrielle Psychotechnik, 3, 6: 191 f. 15 Nur die weltfremden Astronomen berichteten damals davon, dass man die Gegenstände bei Nacht am besten vom Gesichtsfeldrand her betrachtet, wo sich, wissenschaftlich betrachtet, die Stäbchen der Retina häuften. Vgl. François Arago 1854: Astronomie Populaire. Paris: Gide et Baudry, 189 sowie zum durchaus populären Sehpurpur Derek Ogbourne (Hg.) 2008: Encyclopedia of Optography. The Shutter of Death. London: Muswell Press. 16 Mehr dazu in Sean F. Johnston 2001: A History of Light and Colour Measurement. Science in the Shadows. Bristol: IOP. 17 Vgl. Teichmüller 1925: 198.

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tung mit künstlichem Licht“ (DIN 5035) wenige Jahre später festgehalten wurde, als „wichtiges Werkzeug auf fast allen Arbeitsgebieten unentbehrlich“.18

Beleuchtungswissenschaft Technisch gesehen konnten diejenigen, die sich nun um den Werkzeugcharakter des Lichts zu bemühen begannen, aus dem Vollen schöpfen. Endlich, so die Rhetorik, sei die Lichttechnik den Kinderschuhen entwachsen. Der Fortschritt war tatsächlich kaum zu übersehen: Zu den Gas- und Kohlenfadenlampen gesellten sich nun die modernen Glühlampen auf Wolfram-, Tantal-, oder Osmiumbasis, die gelblich beziehungsweise bläulichen Natrium- und Quecksilberdampflampen sowie die sogenannte reine Gasstrahlung (das heißt die Leuchtstoffröhren). Gleichzeitig vereinfachte sich der Einstieg in die Praxis ungemein, denn dank erschwinglicher Beleuchtungsmesser vermochte nun „jeder ohne besondere Kenntnisse solche Messungen leicht und schnell auszuführen“.19 Kurz: Angefangen bei den Material- und Formeigenschaften der Leuchtkörper bis hin zu den eigentlichen Leuchtquellen erfreute man sich in jenen Jahren an einer unerhörten „Bereicherung der Lichtquellentechnik“.20 Werke wie Luckieshs Light and Work von 1925 waren in vielerlei Hinsicht Symptom dieser lichttechnischen Fülle. Bereits im Folgejahr unter dem Titel Licht und Arbeit. Betrachtungen über Qualität und Quantität des Lichtes und seinen Einfluß auf wirkungsvolles Sehen und rationelle Arbeit ins Deutsche übersetzt, wurden hier dem Leser die neuesten Erkenntnisse zur Verschiedenfarbigkeit des Lichts, zu Variablen wie Lichtintensität, Simultankontrast und Sichtbarkeit, zur Adaption des Auges, Seh- und Unterscheidungsgeschwindigkeit, Augenermüdung und Blendung („unbehagliches Sehen“) sowie zur heiklen Frage der Beleuchtungskosten nahegebracht. Luckieshs grundlegendes Werk fiel gerade im rationalisierungsfreudigen Deutschland auf fruchtbaren Boden. Denn auch hier war die Sorge um die „menschliche Sehmaschine“ bald in vollem Gange.21 Die Teichmüller’sche Initiative, die „Sinnesphysiologie in den

18 Siehe Rudolf Weigel 1936: Das Licht als Werkzeug. Elektrotechnische Zeitschrift, 57, 535–539; Karl Finckh 1937: 25 Jahre Deutsche Lichttechnik. Das Licht, 7, 10: 201–203, hier 202. 19 Licht und Arbeit, Osram Lichtheft C.6. 1925. Berlin, 8. 20 Ellen Lax, Marcello Pirani und Robert Rompe 1935: Die Probleme der technischen Lichterzeugung. Die Naturwissenschaften, 23, 25: 393–404, hier 393. 21 Matthew Luckiesh 1926: Licht und Arbeit. Betrachtungen über Qualität und Quantität des Lichtes und seinen Einfluß auf wirkungsvolles Sehen und rationelle Arbeit. Berlin: Springer sowie ders. 1935: Erst der Start ist erfolgt. Die Wissenschaft vom Sehen – Einblicke und Ausblicke. Licht und Lampe, 10, 261 f. Siehe zur deutschen Diskussion Mary Nolan 1994: Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany. Oxford: Oxford University Press und Katja Patzel-Mattern 2010: Ökonomische Effizienz und gesellschaftlicher Ausgleich. Die Industrielle Psychotechnik in der Weimarer Republik. Stuttgart: Steiner.

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Lehrplan eines Institutes für Lichttechnik“ aufzunehmen,22 zeugte davon genauso wie das anwachsende Schrifttum zur Bedeutung der Psychophysik für die Lichttechnik, worauf Oswald Kroh 1928 abhob, als er die „systematische Nutzbarmachung der Erfahrungen und Einsichten, die aus dem Studium der menschlichen Natur und ihres optischen Lebens gewonnen werden können“ betonte.23 Die hiermit angestoßene Wissensproduktion war nicht immer schon bahnbrechend, aber umso lebensnäher und anschlussfähiger an den beleuchtungstechnischen Rationalisierungsdiskurs. Unmengen an Kurven, Messungen und Details zur spektralen Empfindlichkeit des Auges, zum Auflösungsvermögen, zur Sehfähigkeit bei Natriumlicht und den Reflexionseigenschaften regennasser Straßen sowie zur „Sichtbarkeit durch Kontraste“ taten ihr Übriges, um die Rede von der menschlichen „Sehmaschine“ zu konkretisieren.24 Als zentraler Akteur derartiger Wissensproduktion entpuppte sich dann auch die Berliner Osram GmbH.25 Wie die Mehrzahl der damaligen, psychotechnischen Vorstöße hatte sich deren firmeneigenes Labor in Oberschöneweide, das an die „Fabrik S“ angegliedert war, zwar in erster Linie dem Personalauslese- und Prüfverfahren verschrieben.26 Aber im Fall der Beleuchtungsproblematik war der Schritt von der sogenannten „Subjekt-“ zur „Objekt-Psychotechnik“ denkbar klein: So gestaltete sich der Übergang von der Menschenauslese zur „Anpassung des Gerätes an die Eigenart des Menschen im Sinne einer Bestformgebung“ hier sachbedingt gleitend.27 Da es um die Herstellung von äußerst filigranen Glühlampen ging, war man zunächst darum besorgt, beim Personal eine „äußerst feine“ Sehleistung sicherzustellen, wie der zuständige Psychotechniker Walter Ruffer festhielt.28 Also prüfte der eigentlich zur Physik der Leuchtbogenlampen promovierte Ruffer die meist weiblichen Arbeiterinnen und Bewerberinnen der Osramwerke – mehrere tausend pro Jahr – auf Sehschärfe, Augenmaß, Reaktionsschnelligkeit, ruhige Handführung, „verteilte Aufmerksamkeit“, Findigkeit,

22 Vgl. Krauss 1928: 389; Joachim Teichmüller 1928: Die Transformation der Sehdinge und die Kulturbedeutung der elektrischen Glühlampe. Elektrotechnische Zeitschrift, 49, 493–496. 23 Oswald Kroh 1928: Probleme der Physiologischen und Psychologischen Optik in ihrer Bedeutung für die Lichttechnik. Licht und Lampe, 17, 277–279, hier 277. 24 Siehe z.B. Percy W. Cobb und Frank Moss 1927: Beleuchtung und Kontrast. Licht und Lampe, 16, 501–503; M. W. 1935: Straßenbeleuchtung und Sehen. Licht und Lampe, 24, 298; Rudolf Weigel und Otto H. Knoll 1937: Untersuchungen über die Blendung von Kraftfahrzeugscheinwerfern. II. Teil. Das Licht, 7, 1: 17–20. 25 Zur Psychotechnik bei Osram siehe Insa Großkraumbach 2006: Die Synthese von Mensch und Technik. Zur Generierung, Kommunikation und Implementation von Wissen in der Psychotechnik, 1910–1940. Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 26 Vgl. Patzel-Mattern 2010: 107, 151 f. 27 Walther Moede (Vorwort). In: Erich Alexander Klockenberg 1926: Rationalisierung der Schreibmaschine und ihrer Bedienung. Berlin: Springer, V. 28 Bericht Nummer 7 (1926) der „Personalprüfstelle der Fa. S“, unpag. (Landesarchiv Berlin [im Folgenden LA-B], A 231 OSRAM, 0.704), siehe auch Walter Ruffer 1925: Leistungssteigerung durch Verstärkung der Beleuchtung. Die Lichttechnik, 5, 53–58.

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„optische Auffassungsgabe“ und dergleichen mehr.29 Unter dem Eindruck amerikanischer Vorarbeiten, bei denen er nach eigener Aussage, das „Gefühl nicht verlor, dass sie den Charakter der Reklame tragen“, widmete er dieses umfassende Arsenal an „Leistungsproben“ allerdings bald um.30 Im Sinne der menschenkundlichen Lichttechnik begannen die Psychotechniker bei Osram sich mit dem Problemkreis der „Leistungssteigerung durch Verstärkung der Beleuchtung“ zu beschäftigen. Dafür wurden die Prüflinge kurzerhand „bei den verschiedensten Beleuchtungen“ unter die Lupe genommen: Während sich seine Probanden beispielsweise der Treffsicherheits- oder Sehschärfeprüfung zu unterziehen hatten, manipulierte Ruffer Lichtfarbe oder Beleuchtungsstärke. 1924 trat Ruffer mit seinen Ergebnissen erstmals an die Öffentlichkeit und informierte in einem Vortrag am Berliner Hygienischen Institut über die „erhebliche Leistungssteigerung durch Erhöhung der Beleuchtungsstärken“, die sich im Labor von Osram manifestiert hatte. Gerade bei den „sehr feinen Arbeiten“, so vermutete er aufgrund seiner Resultate, beförderten bereits Lichtstärken um 600 Lux die Arbeitsleistung „erheblich“. Das war weitaus weniger als das Tageslicht von 10.000 Lux, aber leider auch deutlich über den in der Praxis aufgefundenen Innenbeleuchtungswerten von 10 bis 300 Lux. Zurückzuführen sei diese Steigerung der Arbeitsleistung, so Ruffer, vorwiegend auf die durch die Lichtintensivierung erwirkte „Verstärkung der Kontraste“ sowie im Besonderen dem „Kontrastverhältnis der zu bearbeitenden Gegenstände zum Untergrund bzw. untereinander“.31 Ruffers Erkenntnisinteresse war nicht neu, denn aus pathologischer Sicht hatte die Abhängigkeit etwa der Sehschärfe von der Umgebungshelligkeit schon den einen oder anderen Ophtalmologen des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Bemerkenswert ist also nicht Ruffers Innovationsfreude, sondern die in jenen Jahren erfolgende Systematisierung solcher Erkenntnisse und ihre Einbettung in einen Diskurs von Mensch und menschlicher Technik einerseits und von effizienter Augenarbeit andererseits. Sorgte man sich in vorherigen Jahrzehnten bestenfalls um die Kurzsichtigkeit von Schülern oder um farbenblinde Matrosen und Zugführer,32 drängte sich nun die Frage vom „guten Sehen bei künstlicher Beleuchtung“ für alle Lichtnutzer förmlich auf. Wie Ruffers weiterführende Forschungen zeigten, erhielt man etwa durch die Modulation der spektralen Zusammensetzung des Arbeitslichts bessere Kontraste. Insbesondere das unwissend verhasste, einfarbig-gelbe Licht der Natriumdampflampen von Osram erschien diesbezüglich „am zweckmäßigsten“.33 29 Darunter befanden sich etwa die Drahtspann-, Wendelspann-, Aufsteck-, Einsteck- und Perlenziehprobe. Siehe Walter Ruffer 1926: Über die Organisation und Bewährung der Eignungsprüfung der Fabrik S der Osram Kommanditgesellschaft G.m.b.H. Industrielle Psychotechnik, 3, 2: 35–46. 30 Vgl. Walter Ruffers Vortragsmanuskript (LA-B, A 231 OSRAM, 0.704, unpag.). 31 Ebd. (veröffentlicht unter dem Titel: Ueber die Beeinflussung menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten durch farbiges Licht. Licht und Lampe, 18 (1929), 487–492, hier 489); siehe auch Ruffer 1926. 32 Siehe etwa Jordanna Bailkin 2005: Color Problems. Work, Pathology, and Perception in Modern Britain. International Labor and Working-Class History, 68, 93–111. 33 Ruffer 1929: 492; sowie Matthew Luckiesh und Frank Moss 1934: Seeing in Sodium-Vapor Light. Journal of the Optical Society of America, 24, 1: 5–11. Diese besondere Emphase für den Lichtsinn bzw.

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Als sich das Zeitalter des menschlichen Motors34 mit der Wende zum 20. Jahrhundert dem Ende neigte und sich im Gegenzug der arbeitende Mensch als Sinnesmaschine abzuzeichnen begann, zog auch die lichttechnisch informierte Augenhygiene nach. Es genügte deshalb bald nicht mehr, die Sehschärfe anhand von Buchstaben, geometrischen Formen oder ähnlich abstrakten Gestalten zu prüfen. Wirkliche „Sehleistungsproben“ waren unter den der Arbeitswelt der Augen entsprechenden Bedingungen vorzuziehen, wie es um 1927 nicht nur Ludwig Schneider von der Osram’schen „Abteilung für Lichtwirtschaft“ forderte.35 Der Psychophysiker Herbert Schober etwa blies ins selbe Horn, als er knapp zehn Jahre später diagnostizierte, dass sich bezüglich der „Sehleistung“ nun die „lichttechnische Auffassung“ durchgesetzt habe, der zufolge nicht der minimale, gerade noch erkennbare Sehwinkel – also die klassische (physiologische) Optik – ausschlaggebend sein sollte, sondern allein die Empfindungsschwelle des Helligkeitskontrasts.36

Die Lichtbenutzer Ruffer, der sich in den Folgejahren zum gerne zitierten Experten in Fragen der Wirtschaftlichkeit von Büro- und Fabrikbeleuchtung mauserte, befand sich mit seinem beleuchtungstechnischen Zugriff auf die Sehleistung in bester Gesellschaft zur lichttechnischen Avantgarde. Auch seinem Arbeitgeber, der Osram GmbH, passten solche Enthüllungen ins Konzept. Wirkungsvoll Propaganda zu betreiben war hier nämlich zweifellos ein zentrales Anliegen. In erster Linie hieß dies, den Lichtnutzern „die allgemeinen Erfordernisse einer guten Beleuchtung (richtige Lichtstärke, Blendungsfreiheit, Gleichmäßigkeit des Lichts, richtige Verwendung der Schatten, Berücksichtigung der Lichtfarben, usw.) an Beispiel und Gegenbeispiel“ nachdrücklich vor Augen zu führen.37 Tatsächlich war es nicht zuletzt den Expansionsbestrebungen der modernen „Lichtwirtschaft“ zu verdanken, dass die Funktionen des arbeitenden Auges nun überall sichtbar wurden. Am spektakulärsten erfüllte diesen Zweck das im Januar 1925 in Berlin eingeweihte Osram-Lichthaus, ein „demonstration room“ nach Vorbild der General Electric Company. “[T]he most outstanding demonstration centre in Europe”, wie die das „skotopische“ Sehen war keine alleinige Erfindung der lichttechnischen Industrie. Auch in der Foto- und Biochemie gab es ähnliche Tendenzen. Hier wäre auch die damals diskutierte Bedeutung des Vitamins A für den Stoffwechsel des „Sehpurpurs“ zu nennen. 34 Siehe Anson Rabinbach 1990: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity. Berkeley/Los Angeles: University of California Press [übersetzt als Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne. Wien: Turia + Kant 2001]; Richard Gillespie 1991: Manufacturing Knowledge. A History of the Hawthorne Experiments. Cambridge: Cambridge University Press. 35 Ludwig Schneider 1927: Der Einfluss der Beleuchtung auf die Leistungsfähigkeit des Menschen. Licht und Lampe, 16, 803–806, hier 803. 36 N. N. 1939: Sehschärfe und Lichtfarbe. Licht und Lampe, 28, 350. 37 F. L. 1925: Lichtwirtschaft und das Osram-Lichthaus. Technik für Alle. Monatsheft für Technik und Industrie, 16, 1: 157 f.

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Auslandspresse berichtete: “American methods of goodwill advertising emulated in Germany.”38 Direkt an der Warschauer Brücke gelegen, war allein schon das Äußere des Lichthauses bemerkenswert. „Da es sich […] um die Demonstration künstlichen Lichts handelt, braucht es keine Fenster und hat auch deren nicht.“ Das wusste auch bald „jedes Berliner Kind“, wie man sich bei der Abteilung für Lichtwirtschaft brüstete.39 Noch anschaulicher aber ging es im Inneren der Demonstrationsstätte zu. Ausladend genug um immerhin 200 Schaulustige im Vortragssaal mit Bühne zu versammeln, wurden hier beispielsweise „vorbildliche Schreibtischlampen“ präsentiert sowie – in lehrreicher Absetzung zur idealen Heim-, Werkstatt-, Fabrik- und Straßenbeleuchtung – die „landläufigen, ungenügenden Beleuchtungsarten“ vorgeführt. Als Besucher konnte man sich einem „Sehvermögenstest“ unterziehen oder psychotechnische Demonstrationen bestaunen, zum Beispiel zur Wahrnehmungsleistung in Abhängigkeit von der Beleuchtungsstärke. Zudem wurden im Lichthaus unter anderem für Schaufenster-Dekorateure Kurse ausgerichtet, Schulklassen aus Berlin und Umland empfangen und dem interessierten Lichtnutzer ein reichhaltiges Veranstaltungsprogramm mit Sondervorträgen geboten. Dank der „Reihe erster Wissenschaftler“, die Osram für das Lichthaus gewinnen konnte, erfuhr man dort vom Aufbau des Auges genauso wie über die Fortschritte auf dem Gebiet der Autoscheinwerfer. 125 Vorträge und 10.000 Besucher wurden allein 1927 gezählt: „[F]orschend und belehrend zu Nutz und Frommen der Allgemeinheit.“40 Vollendet wurde dieser aufklärerische Werbefeldzug von Unmengen, meist aufwendig gestalteter Lichthefte, die der Konzern, teilweise in Kooperation mit der Berliner Zentrale für Lichtwerbung, seit Anfang der 1920er-Jahre in Umlauf brachte (Abb. 1a und 1b). Mit Titeln wie Kampf dem Schatten, Vom guten Sehen bei künstlicher Beleuchtung, Gute Beleuchtung ist das beste Werkzeug oder schlicht Beleuchtungs-Rezepte kultivierte man das alltägliche Lichtbewusstsein. Ruffers Ergebnisse zur Leistungssteigerung fanden beispielsweise im Lichtheft Nummer A1 unter dem Titel Der Einfluss der Beleuchtung auf die Leistungsfähigkeit des Menschen Eingang. Es gab aber auch spezielle, „technische Winke“ für die Metzgerei, Bäckerei oder Schneiderei. Neben allerlei Information über die Produkte aus dem Hause Osram fehlte jedenfalls kaum je der obligatorische Verweis auf die Sehbedingungen im Lichte der Psychophysik. Weil hier „die bewundernswerte Leistungsfähigkeit [der Augen als] ganz und gar abhängig vom Licht“ konstruiert wurde, wundert es daher nicht, dass das product placement mitunter bis hinein in die physiologischen Illustrationen reichte (Abb. 1b und 1c).

38 N. N. 1929: Germany. Transactions of the Illuminating Engineering Society, 24, 552. 39 F. L. 1925: 157, siehe auch Ludwig Schneider 1925: Das Lichthaus als Demonstrationsstätte. Vortrag am 27. Februar 1925. (LA-B, A 231 OSRAM, A.1220); Karl Radicke 1925: Das Osram-Lichthaus. Die Umschau, 29, 10: 198 f., hier 198. 40 Luckiesh 1926: iii; siehe auch Osram 1925: Osram Lichthaus [Festschrift zur Einweihung im März 1925]. Berlin: Osram GmbH. Diverses Pressematerial findet sich in LA-B, A 231 OSRAM, A.1220.

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Abb. 1a: Titelbild des Osram-Lichthefts C.6 von 1925.

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Abb. 1b: Titelbild des Osram-Lichthefts C.22 von 1935. Abb. 1c: Schaubild zur „Sinnfälligen Darstellung des Sehvorgangs“ (ebd., 8).

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Mag man sich in Fachkreisen über die genaueren Ursachen auch durchaus uneins gewesen sein, die Tatsachen der „Partnerschaft“ von Auge und Beleuchtung lagen zumeist deutlich genug auf der Hand.41 Während „Fehler, feine Risse und dergleichen“ etwa im Natrium-Dampflampenlicht prägnant in Erscheinung traten, war dies kaum oder viel zu undeutlich im herkömmlichen Glühlampenlicht der Fall. Wie in den Lichtheften zu lesen war, lag dies daran, dass das einfarbig-gelbe Licht der Dampflampe eine „merkliche Steigerung der Sehschärfe“ bewirkte und die „Formenempfindungsgeschwindigkeit“ erhöhte.42 Auch die Tatsachen der Adaption (in Bezug auf Pupillenverengung, Veränderung der „Netzhautempfindlichkeit“ und das Sehpurpur) wurden gerne bemüht, galten sie doch als Basis alles Weiteren: Kenntnis der „Struktur des Stoffes, Unebenheiten bei Blechen, Fehler bei der Politur usw.“.43

Lichttechnische „Aufklärung“ Die Osram’sche Aufklärungsarbeit war ungewöhnlich breit gefächert, aber weder untypisch in ihrem betont wissenschaftlichen Anstrich, noch mangelte es in Sachen Aufmerksamkeitsökonomie überhaupt an Werbemaßnahmen für das künstliche Licht.44 Die spektakulären Lichtfeste, bei denen Ende der 1920er-Jahre die deutschen Städte illuminiert wurden, gehören zu den bekannteren Beispielen. In Frankfurt, Berlin, Kiel und selbst in Göppingen und Liegnitz etwa war man, so hieß es, förmlich „lichtinfiziert“.45 Mit Blick auf die Körperfunktionen des Sehens gilt es hier zu betonen, wie sehr diese vermeintlich „neutrale Propagandatätigkeit“46 durchaus psychotechnische Sichtbarkeitseffekte zeitigte. Festzuhalten ist, dass diese Körperfunktion – das Sehen – dann in Form und als Funktion eines Wissens sichtbar wurde, das schon immer technisch-kommerziell verfasst war. Die Rede vom Licht als Werkzeug, wie die von der „lichttechnischen Aufklärung“ überhaupt, richtete sich dann auch dezidiert einen Typus Menschen her, der als Konsument von Technik fundamental psycho-physiologisch konstituiert war, auch wenn oder gerade weil dieser das womöglich noch gar nicht wusste: eben den „Lichtbenutzer“. Bezeichnend ist allein die Wortwahl: Lichtbenutzer. Deutlich macht das auch das bereits 41 Ludwig Schneider 1936: Das Sehen bei farbigem Licht. Technisch-Wissenschaftliche Abhandlungen aus dem Osram-Konzern, 4, 13 f.; Matthew Luckiesh und Frank Moss 1931. Seeing. A Partnership of Lighting and Vision. Baltimore: Williams & Wilkins Co. 42 Siehe Lichtheft C.35, nicht datiert, „Fabrik- und Werkstattbeleuchtung durch Osram Dampf-Lampen“ (LA-B, A 231 OSRAM, A.1220). 43 Osram 1925: Licht und Arbeit, 10; Osram 1935: Vom Guten Sehen, 11 f. 44 Günther Luxbacher 1999: Das kommerzielle Licht. Lichtwerbung zwischen Elektroindustrie und Konsumgesellschaft vor dem Zweiten Weltkrieg. Technikgeschichte, 66, 33–59; Janet Ward 2001: Weimar Surfaces. Urban Visual Culture in 1920s Germany. Berkeley: University of California Press; Franziska Nentwig (Hg.) 2008: Berlin im Licht. Berlin: G+H Verlag. 45 N. N. 1928: Deutsche Städte im Licht. Licht und Lampe, 17, 790. 46 N. N. 1928: Berlin im Licht. Licht und Lampe, 17, 312.

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erwähnte Modell des demonstration room. Das sozusagen notwendige Aufkommen dieser Lichtvorführungsräume und -häuser sahen die Lichttechniker darin begründet, dass in diesem Gewerbe Aufklärung anders als über die Sinnesmodulation gar nicht stattfinden könnte. „Nicht ein Rechen- oder Messungsergebnis und der Verstand“, bemerkte Teichmüller diesbezüglich, „sondern das Auge und die Seele sind [die] Richter.“ Es lag also nahe, „dem Auge zur Beurteilung vorzuführen“ was gute (oder schlechte) Beleuchtung war und weshalb.47 Die Osram GmbH macht das in vielerlei Hinsicht vor: So zum Beispiel mit dem „Lichthaus im Kleinen“, dem „Lichtkoffer“ (Abb. 2): Mobil, klein und handlich, sollte er es erlauben, auch außerhalb Berlins für lebendige und unmittelbare Anschauung zu sorgen. Er bot auf „geringem Raum überraschend viele Möglichkeiten [zur] eindrucksvolle[n] Demonstration“. Zu seinem Lieferumfang gehörten Stoff- und Schriftproben, Blendungslampen, eine Büste des Dante Alighieri zur Demonstration des Zusammenhangs von Schattigkeit und Körperwahrnehmung, sowie eine Fotografie eines „Arbeiters an der Werkzeugmaschine“.48 Abb. 2: Der Lichtkoffer von Osram (N. N. 1925: Seine Ausstattung und Schaltungsweise. Lichtheft, B.3, Berlin, 3).

Auch wenn es vordergründig einmal nicht um den Verkauf von modernen Glühbirnen ging, standen der „Lichtvorführungsraum“ und jener damit verbundene, technoide Blick auf das Sehen Pate, wenn es darum ging, die Arbeit der Augen vorzuführen. Ein eindrucksvolles Beispiel war die groß angelegte „Lichttechnische Schau“, die im Rahmen 47 Joachim Teichmüller 1928: Moderne Lichttechnik in Wissenschaft und Praxis, dargestellt an den Darbietungen der lichttechnischen Ausstellung auf der GeSoLei in Düsseldorf. Berlin: Union Deutsche Verlagsgesellschaft, 5. 48 N. N. 1925: Der Osram Lichtkoffer. Seine Ausstattung und Schaltungsweise, Lichtheft, B.3, 3.

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der Großen Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen (Gesolei) 1926 in Düsseldorf veranstaltet wurde. Verwunderlich ist das bei näherer Betrachtung kaum, denn für diese umfassende Vorführung des „Licht[s] als Werkzeug“ war niemand anderes als Joachim Teichmüller verantwortlich. Der Prophet der „menschenkundlichen“ Lichttechnik ließ es sich nicht nehmen, zu diesem Anlass die „Lichttechnik in ihrer Ganzheit zum Gegenstande“ zu machen. Das hieß, die Technik und den Menschen zur Anschauung zu bringen, also den Menschen im Hinblick auf die Verkehrs-, Signal- und „Stimmungsbeleuchtung“.49 Abb. 3a: Raum 6: Blendung, Lichttechnische Schau in der Gesolei 1926 (Teichmüller 1928, Abb. 30).

Abb. 3b: Raum 8: Mittel zur Gestaltung der Geleuchte, Lichttechnische Schau in der Geolei 1926, (ebd., Abb. 34).

49 Vgl. Teichmüller 1928: Moderne Lichttechnik, 5 f.

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Ähnlich dem Berliner Lichthaus waren die annähernd vierzig Ausstellungsräume der Teichmüller’schen Lichtschau darauf ausgerichtet, den Besuchern dabei zu helfen, sich als Lichtbenutzer und Augenarbeiter selbst zu erkennen. Der Gang durch die Ausstellung führte an einschlägigen, physiologischen Demonstrationen zur Blendung, Dunkeladaption und Unterscheidungsfähigkeit vorbei, hin zur technischen Gestaltung der „Geleuchte“, der Frage der Beleuchtungsgüte und dem „großen Aufgabenkreis“ der angewandten Lichttechnik (Abb. 3a und 3b). Letzterem galt entsprechend große Aufmerksamkeit. Sozusagen in vivo wurden hier die Arbeitsbedingungen der Augen vorgeführt: in Fabrikhalle, Schalterraum, Büro, Kaufladen, Zeichensaal, Nähstube, auf der nächtlichen Straße und sogar im Damenzimmer. Der Raum 16 beherbergte beispielsweise eine „Setzerei“, in der über die Wirkungen der Kontraste in Bezug auf Objekt- und Detail­ erkennung belehrt wurde. Ein paar Schritte weiter erfuhr man etwas über „Maschinenbeleuchtung“ und den vor- und nachteiligen Einsatz des Schattens, Eigen- und Schlagschattens.

Sichtbarmachung, Körperfunktionen und technische Umwelten Teichmüllers „Schau“, ähnlich wie schon das Lichthaus von Osram, und überhaupt der Anspruch einer menschenkundlichen Lichttechnik lassen sich als Formate der Sichtbarmachung verstehen, die Arbeits- und Körperfunktion, Technik und Mensch (oder „Benutzer“), immer schon gemeinsam produzierten. Es handelte sich dabei um Formen von Sichtbarmachung, die prinzipiell auf das rekurrierten, was mittels technischer Gegebenheiten ohnehin sichtbar wurde, sei es nun das „leidige Blendproblem“,50 das Kontrastsehen oder die Dunkeladaptation. Mag die „Schnittstelle“ Lichttechnik dabei auch nur ein Beispiel unter vielen sein, so kommt ihr, was den Zeitraum von 1920 bis etwa 1950 anbelangt, doch eine besondere Rolle zu. Über die allgemeine, kulturelle Präsenz des Lichts hinaus lassen sich gute Argumente dafür ins Feld führen, dass Beleuchtungsfragen – anders als etwa die Psychotechnik als solche – eine definitive, wenn auch subliminale Breitenwirkung entfalten konnten:51 Dem schleichenden Einzug der guten Beleuchtung war sich nur schwerlich zu entziehen. Geschah das, wie hier argumentiert wurde, nicht zuletzt im Zeichen industrieller Vorgaben, so intensivierte sich im Nationalsozialismus die Bemühung um die Sehbedingungen tatsächlich noch einmal mehr. Dabei konnten die verantwortlichen Stellen, wie der Hauptausschuss „Gutes Licht“ des „Amt[s] für Schönheit der Arbeit“ der Deutschen Arbeitsfront, die bestehenden Diskurse und Infrastrukturen aus der Weimarer Republik mühelos kooptieren.

50 N. N. 1939: Das Problem der Blendung. Licht und Lampe, 28, 236. 51 Zur Psychotechnik vgl. u.a. Patzel-Mattern 2010.

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Der 1935 losgetretene, mehrjährige „Aufklärungsfeldzug“ „Gutes Licht, gute Arbeit“ konzentrierte sich nicht zuletzt auf den „engen Zusammenhang von Auge – Sehaufgabe – Licht“.52 Die somit implizierte „Aufklärung durch Schrift und Wort, Bild und Demonstration“ bediente sich, wie gehabt, am Methodenarsenal der menschenkundlichen Lichttechnik. Und nach wie vor tat Aufklärung not, ganz einfach deswegen, weil das Sehen meist „unbewusst“ erfolgte und sich auch an die minderwertigsten Bedingungen anpasste. „Leitworte“ wie „Gutes Licht am Arbeitsplatz“ oder „Schone Deine Augen!“ wurden in gewohnter Manier mit allen Mitteln der Kunst vertrieben: auf Lichtsäulen, in Kulturfilmen, per Betriebsbegehungen, Wanderausstellungen und Sonderveranstaltungen. Ende 1938 wurden bereits etwa an die 100 Vorführräume und Beratungsstellen in allen größeren Städten gezählt.53 Selbstredend erfreute man sich der tatkräftigen Unterstützung durch die Wissenschaft, Industrie und Wirtschaft. „[W]as vor einigen Jahren noch undenkbar war“, notierte man bei Osram erfreut, sei nun eingetreten: „[D]ie Werbung für gutes Licht wurde nicht mehr allein als eine wirtschaftliche Angelegenheit interessierter Firmen angesehen, sondern die Notwendigkeit einer guten Beleuchtung wurde zur Forderung [an] alle Werktätigen erhoben.“54 In glücklicher Fügung koinzidierte der „Feldzug“ dann auch mit der Einführung der technisch vollendeten „Doppelwendel-Glühlampe“, die nicht nur „billig“ und „blendungsfrei“ war, sondern obendrein „noch mehr Licht“ versprach. Ob das Licht tatsächlich „offenbar alle Menschen [anging]“, wie der Lichttechniker Walter Köhler um 1938 euphorisch festhielt, sei dahingestellt.55 Seiner Sache war man sich jedenfalls sicher. So resümierte Teichmüllers Schüler und Reichsvorsitzender der Deutschen Lichttechnischen Gesellschaft Rudolf Weigel bereits 1936: Die „physiologische Lichttechnik, hat nun in systematischer Forschungsarbeit die Zusammenhänge zwischen Licht und Auge, Beleuchten und Sehen, Beleuchtung und Sehleistung aufgeklärt“.56 Und zweifellos – und darauf kam es hier in erster Linie an – trugen die auf diese Weise aufgeklärten Zusammenhänge dazu bei, die Arbeit der Augen überhaupt erst einmal sichtbar zu machen. Es handelte sich dabei um eine prinzipiell technophysiologische Problemlage: eine Sache der „Schnittstellen“, des Lichts als „Werkzeug“. Denn, so viel lag auf der Hand, die moderne Arbeit der Augen, ob nun im Verkehr oder am Fließband, betraf zuerst und zuvorderst die Bedingungen des Sehens – nämlich: des „guten Sehens bei künstlicher Beleuchtung“. 52 Vgl. Schmidt 1935: 441 sowie die Broschüre Gutes Licht, die von der Deutschen Arbeitsfront 1938 herausgegeben wurde, siehe weiterführend Anson Rabinbach 1976: The Aesthetics of Production in the Third Reich. Journal of Contemporary History, 11, 43–74. 53 Wilhelm Kircher 1938: ‚Gutes Licht‘ – Lichttechnische Aufklärungs- und Erziehungsarbeit unter Führung der Deutschen Arbeitsfront. Das Licht, 8, 4: 71–73, hier 71. 54 Direktor [Wilhelm] Brocke, „Verkaufsargument“, Notiz, undatiert [ca. 1938] (LA-B, A 231 OSRAM, 0.1111). 55 Walter Köhler 1938: ‚Gutes Licht‘ Eine Lehr- und Erziehungsaufgabe. Licht und Lampe, 28, 567 f., hier 567. 56 Weigel 1936: 535.

Anja Laukötter

Vom Ekel zur Empathie. Strategien der Wissensvermittlung im Sexualaufklärungsfilm des 20. Jahrhunderts

Gesundheitliche Prävention lässt sich mit Lengwiler und Madarász als eine grundlegende Sozial- und Kulturtechnik der Moderne beschreiben.1 Sie hat das 20. Jahrhundert maßgeblich charakterisiert und ist durch die Bestrebungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Nachkriegszeit zu einer globalen Aufgabe avanciert. Trotz ihres Wandels über die Jahrzehnte versuchen präventive Maßnahmen generell, künftiger Kontingenz zuvorzukommen. Durch Arbeiten von Ulrich Bröckling wissen wir, dass Prävention normalisiert, individualisiert, an Macht und Kosten-Nutzen-Kalküle gebunden ist, sich auf Risiken und deren Vermeidung bezieht und unendlich ist.2 Darüber hinaus ist Prävention eng mit Wissen verbunden. Moderne Präventionsmaßnahmen gehen mit der Vorstellung einher, dass wissenschaftlich generierte Auffassungen lediglich einer entsprechenden Vermittlung bedürfen, um wirksam werden zu können. Aufklärungsmedien spielen hierbei eine herausragende Rolle. Besonders wichtige Träger der praktischen Aufklärung über Krankheiten und Gesundheit sind neben Ausstellungen, Plakaten, Broschüren und verschiedenen Ratgeberformaten vor allem sogenannte Aufklärungsfilme, die hier näher betrachtet werden sollen. Im Sinne einer Vorausintervention zielt der Aufklärungsfilm darauf ab, das Subjekt zur Selbstkontrolle zu erziehen.3 Durch das 20. Jahrhundert zieht sich der Gedanke, dass gerade das Filmmedium die zuschauende Bevölkerung aufgrund seiner enormen Suggestivkraft emotional ansprechen und infolgedessen Wissen über gesundheitliche Gefahren besonders wirksam verbreiten könne. Mehr noch, Filmen wird bis in die Gegenwart ein großes Potential zugesprochen, Emotionen nicht nur hervorzurufen, sondern sie auch zu lenken oder sogar umzudeuten. In den 1970er-Jahren erlangten daher Filme im Bereich der wissenschaftlich gestützten Sexualaufklärung besondere Bedeutung.4 1 Martin Lengwiler und Jeanette Madarász 2010: Präventionspolitik als Kulturgeschichte der Gesundheitspolitik. In: dies. (Hg.): Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik. Bielefeld: transcript, 11–30. 2 Ulrich Bröckling 2008: Vorbeugen ist besser … Zur Soziologie der Prävention. Behemoth. A Journal on Civilisation, 1, 1: 38–48. 3 Ebd.: 46. 4 Vgl. u.a. Franz X. Eder 2010: Das Sexuelle beschreiben, zeigen und aufführen. Mediale Strategien im deutschsprachigen Sexualdiskurs von 1945 bis Anfang der siebziger Jahre. In: Peter-Paul Bänziger,

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Um den Zusammenhang von Emotionen und Wissen5 in der filmischen Sexualaufklärung näher zu charakterisieren, werde ich mich im gewählten Untersuchungszeitraum vor allem auf verschiedene Techniken der Emotionalisierung wissenschaftlichen Wissens im Film beschränken.6 Allgemein werden Sexualaufklärungsfilme hier als ein Instrument der Konstruktion des Sozio-Sexuellen und gleichzeitig als Vorlage für die Einübung von Sexualität verstanden.7 Es soll in Einzelzügen umrissen werden, wie im Verlauf des 20. Jahrhunderts sexualdidaktische Ansätze, die negative Emotionen wie Abscheu oder Ekel in den Vordergrund stellten, durch Konzepte des „präventiven Selbst“ abgelöst wurden, die auf Empathie und Verständnis basieren.

Sexualaufklärungsfilme in ihren institutionellen Zusammenhängen Während um 1900 vor allem die – weitgehend erfolglose – Bekämpfung der Prostitution im Zentrum der Gesundheitspolitik stand, wandelten sich die Strategien im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts: Neben der Gesundheitsaufsicht durch die Ärzte wurden eine Gesundheitsfürsorge durch Beratungs- und Schutzmittelstellen sowie eine Gesundheitsaufklärung eingeführt. Die Implementierung ähnlicher 3-Säulen-Modelle ist auch in Ländern wie Frankreich, England und den USA zu erkennen – allerdings mit nationalen Unterschieden und im nationalsozialistischen Deutschland mit besonderen Motivationen und Zielen.8 Zur hygienischen Volksbelehrung dienten traditionell Schriften,

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Stefanie Duttweiler, Philipp Sarasin und Annika Wellmann (Hg.): Fragen Sie Dr. Sex! Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen. Berlin: Suhrkamp, 94–122, hier 97. Neuere Arbeiten in der Emotionsgeschichte haben gezeigt, wie gewinnbringend es sein kann, Emotionen und Wissen nicht als konträre Analysekategorien zu verstehen, sondern ihre multiplen Zusammenhänge herauszuarbeiten. Vgl. u.a. Uffa Jensen und Daniel Morat (Hg.) 2008: Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen (1880–1930). München: Wilhelm Fink. Vgl. u.a. Anja Laukötter 2013: Wissen als Animation. Zur Transformation der Anschaulichkeit im Gesundheitsaufklärungsfilm. Montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, 2, Special Issue: Animationen, 79–96; dies. 2011: (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert. Evidenz und Emotionen. In: Kathrin Friedrich und Sven Stollfuß (Hg.): Blickwechsel: Bildpraxen zwischen Wissenschafts- und Populärkultur [= Augen-Blick: Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, 50]. Marburg: Schüren, 24–38; dies. und Christian Bonah 2009: Moving Pictures and Medicine in the First Half of the 20th Century. Some Notes on International Historical Developments and the Potential of Medical Film Research. Gesnerus, 66 [= Sonderheft zu Film und Wissenschaft], 121–145. In Anlehnung an die scripting theory von Simon/Gagnon lassen sich auch Filme als „Agenten von Skripten des performativen Einübens von Sexualität“ lesen, wie Lutz Sauerteig ausgeführt hat: Lutz Sauerteig 2010: „Wie soll ich es nur anstellen, ohne etwas falsch zu machen?“ Der Rat der Bravo in Sachen Sex in den sechziger und siebziger Jahren. In: Bänziger/Duttweiler/Sarasin/Wellmann: 123–158, hier 124 f. Vgl. hierzu Heiko Pollmeier 2011: Zwischen Forschung, Therapie und Gesundheitsführung. Die fachöffentliche Diskussion um die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten in Großbritannien und Deutschland (1933–1945). In: Nicholas Eschenbruch, Dagmar Hänel und Alois Unterkircher (Hg.):

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Broschüren und Ausstellungen. In diesen Medien setzte man vor allem auf eine populäre Vermittlung von Wissen über Krankheitsentstehung, mögliche Behandlung und Heilung sowie notwendige Vorsorge. Dieser präventiven Logik folgte auch die Internationale Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden, als sie zeitgenössisches Wissen über Geschlechtskrankheiten in einem separaten Pavillon derart anschaulich präsentierte, dass es ganz besonderen Anklang beim Publikum fand.9 Seit den 1920er-Jahren kamen zu den bereits etablierten Medien Filme hinzu. In der Weimarer Republik, aber auch in Frankreich oder den USA wurden sie schnell zum festen Bestandteil von umfassenden Aufklärungskampagnen über Geschlechtskrankheiten, die sich an die breite Bevölkerung richteten. Zum Teil über Grenzen hinweg wurden sie im kommerziellen Kino oder auch in Sondervorführungen in Vereinen, Schulen oder anderen Einrichtungen in Städten wie auf dem Land gezeigt. Beispiele hierfür sind Filme wie On dit le dire (F 1918), Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen (D 1919), Personal Hygiene For Young Men (USA 1924), Falsche Scham (D 1925), Le baiser qui tue (F 1927), La syphilis, l’ennemi public no. 1 (F 1939), Choose To Live (USA 1940), Sex Hygiene (USA 1942) oder Fight Syphilis (USA 1942).10 Im deutschen Sprachraum wurde die Produktion und Verbreitung solcher Filme zu Beginn des Jahrhunderts durch die Gründung des Medizinischen Filmarchivs der UFA verstärkt. Auf dem gleichen Feld betätigten sich auch Vereine, die sich der Gesundheitsaufklärung verschrieben hatten. Im Bereich der Sexualaufklärung war dies vor allem die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, die bis zur Gleichschaltung Ende 1933 unabhängig agierte.11 1934 wurde die Reichsstelle für den Unterrichtsfilm gegründet, die 1940 umbenannt wurde und als Reichsanstalt für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht zur zentralen Institution für Sexualaufklärungsfilme in der Zeit des Nationalsozialismus aufrückte. Im gesamten 20. Jahrhundert war auch das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden ein wichtiger Akteur im Bereich der Aufklärungsfilme: als Auftraggeber, Produzent, Verleiher und Multiplikator. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts standen für das Deutsche Hygiene-Museum vornehmlich Filmproduktionen über körperliche Behinderungen und die Wiedereingliederung der Kriegsversehrten ins Arbeitsleben im Vordergrund, etwa Ausbildung der Füße als Hände (1915)

Medikale Räume. Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit. Bielefeld: transcript, 141–175, hier 142 f. 9 Anita Gertiser 2008: Ekel. Beobachtungen zu einer Strategie im Aufklärungsfilm zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. In: Alain Boillat, Philipp Brunner und Barbara Flückiger (Hg.): Kino CH/ Cinéma CH. Rezeption, Ästhetik, Geschichte. Marburg: Schüren, 279–294, hier 284. 10 Vgl. u.a. John Parascandola 2007: Syphilis at the Cinema: Medicine and Morals in VD Films of the U.S. Public Health Service in World War II. In: Leslie J. Reagan, Nancy Tomes und Paula A. Treichler (Hg.): Medicine’s Moving Pictures. Medicine, Health, and Bodies in American Film and Television. Rochester: Rochester University Press, 71–92, sowie Gertiser 2008. 11 Lutz Sauerteig 1999: Krankheit, Sexualität, Gesellschaft. Geschlechtskrankheiten und Gesundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Stuttgart: Steiner, sowie Pollmeier 2011: 149 f.

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und Reserve-Lazarett Ettlingen I. Baden (1918).12 Es folgten Filme wie Krebs (1930)13 und schließlich der NS-Film Wegweiser zur Gesundheit (1939). Erst in der Nachkriegszeit, als das Deutsche Hygiene-Museum bereits die zentrale Einrichtung der Gesundheitsaufklärung der DDR und damit institutionelles Pendant zur 1967 gegründeten Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) war, wurden auch Filme zum Themenkreis der Sexualität entwickelt. Hergestellt wurden die Filme meist von den Abteilungen und Produktionsgruppen der DEFA, die für den populärwissenschaftlichen Dokumentar- und Trickfilmbereich zuständig waren. Nachdem die DEFA in den ersten Jahrzehnten ihre Anweisungen aus den Ministerien für Gesundheit sowie für auswärtige Angelegenheiten erhalten hatte, erlangte das Deutsche Hygiene-Museum in den frühen 1980er-Jahren das Weisungsrecht.14 Explizites Ziel aller Sexualaufklärungsfilme war es, auch medizinischen Laien die neuesten Erkenntnisse über Ansteckungswege, Krankheitssymptome, Heilungsansätze sowie Verhütung von Geschlechtskrankheiten zu vermitteln. Die Zuschauer sollten gesundheitsgefährdende Handlungen zukünftig selbst erkennen und meiden. Insofern waren die Filme nicht nur als Hilfsmittel zur Analyse und Regulierung des Körpers gedacht, sondern auch als eine Form der Erziehung zur Selbstsorge.15 Lässt sich diese Tendenz für das gesamte 20. Jahrhundert konstatieren, müssen die spezifischen Strategien der Wissensvermittlung genauer unterschieden werden.

Schock und Ekel als Strategien der Wissensvermittlung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kennzeichnend für die Sexualaufklärungsfilme ist zunächst ihre hybride Struktur. Erzählerische Sequenzen wechseln mit Doku-Szenen aus der medizinischen Beratung. Maschinengeräusche, Prostituierte auf der Straße, dichter Rauch und andere Indikatoren situieren die fiktionalen Geschichten zumeist in der Großstadt. Vor allem in der urbanen Welt werden die Verlockungen des modernen Lebens, die Möglichkeiten eines exzessiven Lebensstils verortet: Bars, Alkohol, Nikotin, Tanz, Prostitution und Quacksalber 12 Vgl. Susanne Roeßiger und Uta Schwarz (Hg.) 2011: Kamera! Licht! Aktion! Filme über Körper und Gesundheit 1915–1990. Dresden: Sandstein, 94–97. 13 Zum Film Krebs siehe Anja Laukötter 2010: „Anarchie der Zellen“. Geschichte und Medien der Krebsaufklärung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7, 1: 55–74 (http://www.zeithistorische-forschungen. de/16126041-Laukoetter-1-2010, letzter Zugriff am 17. Dezember 2013). 14 Uta Schwarz 2011: Vom Jahrmarktspektakel zum Aufklärungsinstrument. Gesundheitsfilme in Deutschland und der historische Filmbestand des Deutschen Hygiene-Museums Dresden. In: Roeßiger/dies.: 12–49, hier 28 f. 15 Vgl. grundlegend Michel Foucault 1989: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit. Bd. 3., Frankfurt a.M.: Suhrkamp; vgl. auch Lisa Cartwright 1995: Screening the Body. Tracing Medicine’s Visual Culture. Minneapolis: University of Minnesota Press.

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waren Topoi im Kampf gegen Geschlechtskrankheiten. Die Protagonisten, die zumeist spezifische soziale Typen repräsentierten, mussten sich diesen Reizen und Gefahren stellen.16 So wurden in den Fallgeschichten die Grenzen des Verhaltens in belehrender Form aufgezeigt: Sexuelles Fehlverhalten, wie der Besuch einer Prostituierten oder das Küssen einer Infizierten, führte zumeist zu schweren, auch tödlich endenden Krankheitsverläufen. Während die gezeigte Infektion und ihre Folgen in der Regel kompliziert verlaufen, werden die angenommenen Ursachen simplifiziert: Da ist der betrunkene junge Mann, der sich für die Prostituierte interessiert (Abb. 1) oder die naive Frau, die die Bekanntschaft von Gigolos macht.

Abb. 1: Dürfen wir schweigen? (1926).

Das heißt, der Zuschauer lernte ignorante oder auch nur uninformierte Akteure kennen, die ein sittliches Fehlverhalten zeigen. Mangelndes Wissen und unsittliche Handlungen wurden dabei narrativ verschränkt. Diese Verknüpfung erzeugte im Film eine vom Protagonisten durchlebte Spannung, die die Zuschauer nachvollziehen sollten. Die Intention dieses Gebrauchs dramatischer Mittel ist dabei offensichtlich: Die Zuschauer sollten sich durch eine geteilte (fiktive) Erfahrung mit den Filmfiguren identifizieren. Die dokumentarischen Szenen boten zugleich ein Wissen an, nach dem der aufgrund seiner Identifikation mit der Filmfigur emotionalisierte und beunruhigte Zuschauer zu verlangen glaubte. Die Filme grenzten dabei Ärzte klar gegen ungebildete und nur am Profit interessierte „Quacksalber“ ab; der Arzt wurde als Repräsentant der rationalen, einzig „Heilung“ versprechenden Wissenschaft inszeniert. Ärzte klärten den moralisch angeschlagenen und unwissenden Protagonisten über Verbreitungswege, Entwicklung und 16 Annette Kuhn 1988: Cinema, Censorship and Sexuality, 1909–1925. London: Routledge, 73.

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Diagnose der Krankheit auf und leiteten zur Selbsthilfe an: Zur Nachahmung wurde unter anderem gezeigt, wie Kondome zu gebrauchen und Geschlechtsorgane nach dem Sexualakt zu reinigen seien, um die Übertragung von ansteckenden Krankheiten zu vermeiden. Andererseits deckten Ärzte im Film auch Mythen über Ansteckungswege auf (Abb. 2).

Abb. 2: Sex Hygiene (1942).

Abb. 3: Feind im Blut (1930).

Bei der Einführung in die Krankheit wurde in den Filmen auf verschiedene Formen der Darstellung wissenschaftlich basierten Wissens zurückgegriffen: mikroskopische Ansichten der Erreger, Moulagen, Karten, Diagramme, Statistiken und anatomische Darstel-

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lungen (Abb. 3), Vorher-Nachher-Bilder und Animationen. Die Modi der Repräsentation sind dabei relational; sie stehen in Abhängigkeit zueinander, um in ihrem Wechselspiel das Argument des Films schlüssig erscheinen zu lassen.17 Die Vielfalt und die wechselnden Abstraktionsgrade dieser Mittel suggerierten außerdem Verlässlichkeit und Macht der Medizin. Gleichzeitig verknüpfte das vorgeführte Faktenwissen – insbesondere Statistiken zur Krankheitsverbreitung und Diagramme mit Sterberaten – das individuelle Sexualverhalten direkt mit dem Wohl der Nation. Die Kombination wechselnder Abstraktionsgrade in der filmischen Vermittlung konnte zudem irritierende und ekelerregende Effekte auslösen: Wachsmodelle von infizierten Körperteilen und Krankenhausszenen mit Syphilispatienten wurden eingesetzt, um das Publikum durch heftige Ekelgefühle dazu zu bringen, dass es seine sogenannte falsche Scham ablegte. „Falsche Scham“ galt, so vermittelt es auch der gleichnamige bekannte Film von 1925, als zentrales Problem der Krankheitsbekämpfung.18 In den medizinischen Aufklärungsfilmen wurde sie immer neu thematisiert und visualisiert. Beide Emotionen, („falsche“) Scham und Ekel, dienten in den Filmen als machtvolle Instrumente eines „social teachings“, hier in Bezug auf sozial korrektes Sexualverhalten.19 Während Scham als moralisch codierte soziale Emotion zum Zweck der Verhaltensnormierung eingesetzt wurde, gebrauchte man das aversive Ekelgefühl, um die Zuschauer deutlich an die Möglichkeit einer Infizierung, an die eigene Sterblichkeit zu erinnern – was zu verstärkter sozialer Abgrenzung führte.20 Ekel wird gewöhnlich durch einen widerlichen Anblick oder besonders unmittelbar durch schlechte Gerüche ausgelöst und ist häufig mit einer starken körperlichen Reaktion verbunden.21 Gerüche sind zwar über das Medium des Films nur sekundär erfahrbar, aber dieses Manko wird durch Detail- und Großaufnahmen, die für den zeitgenössischen Filmtheoretiker Béla Balázs eines der intensivsten psychologischen und suggestiven Mittel des Films waren, ausgeglichen.22 So ist es nicht verwunderlich, dass offene Wunden (Abb. 4), amputierte Glieder und infizierte (Geschlechts-)Organe in den Aufklärungsfilmen oftmals in aufdringlicher, visuell bedrängender Form dargestellt werden. Der Zuschauer wird hier zu einer emotional abwehrenden Reaktion geradezu genötigt.

17 Vgl. Scott Curtis: Rough and Smooth. The Rhetoric of Animated Images in Scientific and Education Film; unveröffentlichtes Manuskript, Kracauer Lecture in Film & Media Studies an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. im Mai 2013. Ich danke dem Autor für eine Kopie seines Vortragsmanuskripts. 18 Vgl. auch Ulf Schmidt 2000: „Der Blick auf den Körper“. Sozialhygienische Filme, Sexualaufklärung und Propaganda in der Weimarer Republik. In: Malte Hagener (Hg.): Geschlecht in Fesseln. Sexualität zwischen Propaganda und Ausbeutung im Weimarer Kino 1918–1933. München: edition text + kritik, 23–46. 19 Vgl. hierzu grundlegend Martha C. Nussbaum 2004: Hiding from Humanity. Disgust, Shame, and the Law. Princeton: Princeton University Press, 96. 20 Ebd.: 206. 21 Ebd.: 87. 22 Vgl. Gertiser 2008: 286.

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Abb. 4: Ein Wort von Mann zu Mann/A word from man to man (1941).

Auch Montagen erzeugen oder verstärken die genannten Effekte. Indem sich die Geschichte des unmoralischen Subjekts und die der Unterweisung durch den wissenden Arzt kreuzen, also zwei einander fern stehende Handlungsräume wiederholt unvermittelt verschränkt werden, verbindet sich auch die hybride Struktur aus erzählerischen und dokumentarischen Szenen zu einem Ganzen. Das private unmoralische Verhalten kann jetzt nicht mehr ohne Bewusstsein seiner öffentlichen Konsequenzen gesehen werden. So mussten Protagonist und Zuschauer beide Räume und die damit verbundenen Emotionen durchleben, um zu erkennen: Nur der Erwerb von einschlägigem hygie­ nischem Wissen garantiert das korrekte Sexualverhalten, das wiederum ein glückliches individuelles und zugleich ein gesundes Leben des Staates und der Nation verbürgt.

Empathie und Humor als Strategien der Wissensvermittlung in der Nachkriegszeit. Kontinuität und Wandel in den Aufklärungsfilmen Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieben Hygiene und Geschlechtskrankheiten die Hauptthemen medizinischer Aufklärungsfilme. Das galt übrigens für alle besetzten Zonen. Diesem Muster entsprechen zum Beispiel folgende Filme: Fleckfieber droht! (1946), Ungebetene Gäste (1947), Die Hausfrau (1947), Reaktion: Positiv (1947), Achtung: Gefahr (1948), Zurück ins Leben (1948), Straßenbekanntschaft (1948) und Erben der Vergangenheit (1949). Auch wenn die Aufklärungsfilme dieser Zeit noch nicht ausreichend erforscht sind, lässt sich festhalten, dass sie auf die in den 1920er- und 1930er-Jahren gebrauchten Erzählstrategien zurückgriffen.23 23 Vgl. den Vortrag von Ursula von Keitz zu Gesundheitsfilmen von 1946 bis 1949 in der Reihe Filmdokument im Kino Arsenal, Institut für Film und Videokunst e.V. im Oktober 2012.

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Doch schon in den 1950er-Jahren zeichnete sich ein Wandel der gesundheitspolitischen Auffassungen ab, der auch die medialen Aufklärungsstrategien veränderte. Die Dichotomie von Gesundheit und Krankheit machte der Idee eines Kontinuums Platz.24 Ansteckende Leiden und „Volkskrankheiten“, die zu Beginn des Jahrhunderts im Brennpunkt standen, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg durch „Zivilisationskrankheiten“ verdrängt, die in den 1980er-Jahren durch „neue Seuchen“ wie AIDS und um die Jahrtausendwende durch eine Zunahme „chronisch-degenerativer Erkrankungen“ wie Diabetes oder Demenz ergänzt wurden.25 Vor allem die Einführung des sogenannten Risikofaktorenmodells veränderte die Vorstellung von Gesundheit und Krankheit grundlegend. Unterstützung fand das in den USA in den 1950er-Jahren entwickelte Modell durch Bestrebungen der WHO, die Prävention zeitgleich zur globalen Angelegenheit erhoben hatte. Unmittelbar nach seiner Einführung in den USA fand es auch in Ost- und Westdeutschland bereitwilligen Anklang.26 Seither wurden individuelles Handeln und persönlicher Lebensstil verstärkt als behebbare Ursachen von Erkrankungen angesehen; Ärzte wurden zur Kontrolle und Disziplinierung der Patienten aufgerufen, denen in bestimmten Grenzen eine zunehmende Eigenverantwortung für ihre Gesundheit vermittelt wurde.27 Dieser Wandel schlug sich auch in einer thematischen Erweiterung in den Aufklärungsfilmen nieder: Waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den Infektionsund Geschlechtskrankheiten Ansteckungswege und -risiken die zentralen Themen gewesen, so traten nun „richtige“ Körperpflege, gesunder Schlaf und gesundheitsfördernde Bewegung sowie Tabak-, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch hinzu. Zudem lässt sich in Ost und West eine steigende Reflexion über besondere Zielgruppen der Sexualaufklärung feststellen: Insbesondere Jugendliche erscheinen jetzt als wichtige Adressaten, die beispielsweise durch Filme wie Mit 15 schwanger (1987) erreicht werden sollen. Dass und wie sich die Vorstellungen von Sexualität und Aufklärungsarbeit in den ersten Nachkriegsjahrzehnten im Detail wandelten, lässt sich hier nur andeuten. Trotz vielfacher Unterschiede ist aber in beiden deutschen politischen Systemen ein Schwanken zwischen Perioden der Modernisierung und Reform und solchen des Konservatismus zu beobachten. Ein Wandel der Sexualmoral vollzog sich in der BRD ausgehend von einer konservativen Sexualkultur hin zu einer liberaleren Haltung in den 1968erJahren. Diese Entwicklung verlief weniger kontinuierlich, als es in der Literatur gele24 Lengwiler/Madarász 2010. 25 Jürgen von Troschke 2002: Das Risikofaktorenmodell als handlungsleitendes Paradigma der Prävention in Deutschland. In: Sigrid Stöckel und Ulla Walter (Hg.): Prävention im 20. Jahrhundert. Historische Grundlagen und aktuelle Entwicklungen in Deutschland. Weinheim/München: Juventa, 190–203. 26 Lengwiler/Madarász 2010 sowie Carsten Timmermann 2010: Risikofaktoren: Der scheinbar unaufhaltsame Erfolg eines Ansatzes aus der amerikanischen Epidemiologie in der deutschen Nachkriegsmedizin. In: ebd.: 251–277. 27 Jeannette Madarász 2009: Gesellschaftliche Debatten um Krankheit. Das Risikofaktorenkonzept zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, 28, 187–211, hier 188 f.

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gentlich nahegelegt wird.28 Der Wandel manifestierte sich unter anderem im und durch den Erfolg der von Beate Uhse gegründeten und nach ihr benannten Läden, in der Ratgeberliteratur, in Oswalt Kolles bald auch international beachteten Büchern (etwa Dein Mann, das unbekannte Wesen von 1967), in Günter Amendts 1970 publiziertem Bestseller Sexfront sowie in zahlreichen populären Filmen (als Beispiel sei hier Kolles Kassenschlager Das Wunder der Liebe. Sexualität in der Ehe von 1968 genannt). Auch die Filmserie Schulmädchen-Report (1970–80), eine Genremischung aus Aufklärungs- und Sexfilm, war sehr erfolgreich. In solchen Produktionen wurde auch versucht, die Verhaltensgrenzen neu auszuloten.29 Diese ebenso populären wie oft von heftigen Protesten wie der Unterschriftenaktion „Saubere Leinwand“ oder durch Demonstrationen vor Kinoeingängen begleiteten Filme fügten sich in die neuformulierten fordistischen Ansätze des „mehr arbeiten, mehr konsumieren, mehr (auch sexuell) erleben“ ein.30 Auch in der DDR zeigt sich in der Ratgeberliteratur und den Filmen der 1960er-Jahre eine zunehmend liberale Entwicklung. Ein wichtiges Beispiel ist hier die Serie von Aufklärungsfilmen mit dem Titel Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen von Götz Oelschlägel aus Abb. 5: Beziehung zwischen Jungen und Mädchen. 3. Teil: Partner (1964).

28 Mark Fenemore 2009: The Growing Pains of Sex Education in the German Democratic Republic (GDR), 1945–69. In: Lutz D. H. Sauerteig und Roger Davidson (Hg.): Shaping Sexual Knowledge. A Cultural History of Sex Education in Twentieth Century Europe. London/New York: Routledge, 71–90; vgl. auch Eva-Maria Silies 2007: Selbst verantwortete Lebensführung. Der Streit um die Pille im katholischen Milieu. In: Habbo Knoch (Hg.): Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren [= Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen, 23]. Göttingen: Wallstein, 205–224. 29 Vgl. hierzu auch Eder 2010; vgl. auch Dagmar Herzog 2010: „Das späte Menschenrecht“. Auf der Suche nach einer nachfaschistischen Sexualmoral. In: Daniel Fulda, dies., Stefan-Ludwig Hoffmann und Till van Rahden (Hg.): Demokratie im Schatten der Gewalt. Geschichten des Privaten im deutschen Nachkrieg. Göttingen: Wallstein, 201–230. 30 Eder 2010: 115–116.

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den 1960er-Jahren mit den Folgen wie Wie sagst Du’s Deinem Kinde? Keine Scheu vor heiklen Fragen, Partner und Weil ich kein Kind mehr bin …, in denen der Regisseur für einen freieren Umgang mit Sexualität und für eine neue Art, über sie zu reden, plädierte. Dabei wurden Gefühle wie Vertrauen, Einfühlungsvermögen und Liebe zum Partner oder Kind ins Zentrum der Aufklärungsarbeit gestellt. Deren Wirkung auf das Sexualleben wurde im Voice-over explizit erwähnt und an zahlreichen Fallgeschichten durchgespielt (Abb. 5). Trotz dieses Wandels sind in den späteren Sexualaufklärungsfilmen mindestens drei Kontinuitäten zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts feststellbar: Nach wie vor ist die hybride Struktur, zumindest in den bekannteren Produktionen, vorherrschend, so etwa in dem international beachteten Film der BZgA Helga (1967) über Schwangerschaft und Geburt oder in Aids geht jeden an (1988), einem der ersten AIDS-Filme des Deutschen Hygiene-Museums. Wieder wurden dabei die fiktionalen und dokumentarischen Szenen durch Montage und Überblendungen miteinander verschränkt.31 Die meisten der Geschichten spielten auch wieder im Setting der Großstadt. So wurde zum Beispiel in dem Film des Deutschen Hygiene-Museums Quelle der Ansteckung Mensch (1985) gezeigt, dass in einer Atmosphäre der Leichtfertigkeit, des Alkohols und der Drogen ein hohes Risiko besteht, das durch Promiskuität und Untreue leicht zum Ausbruch kommt (Abb. 6).

Abb. 6 und 7: Quelle der Ansteckung Mensch (1985).

Als beständig erweist sich zweitens ein für die Gesundheitsaufklärung insgesamt charakteristisches Denken in unversöhnlichen Gegensätzen. Hier stützt es die moralisierende Argumentation: der gesunde versus der kranke Körper, Treue gegen Untreue, Liebe versus Prostitution. Und wieder werden verschiedene soziale Typen zur Identifikation angeboten, um durch die (Seh-)Erfahrung eine emotionale Gemeinschaft herzustellen. Die Botschaft lautet explizit: Während moralisch unangemessenes Verhalten schwerwiegende gesundheitliche Folgen zeitigt, steht einem adäquat handelnden Akteur ein 31 Uta Schwarz 2009: Helga. West German Sex Education and the Cinema in the 1960s. In: Sauerteig/ Davidson: 197–216.

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gesundes und glückliches Leben offen. Hinzu kommt, dass das Ende der Filmerzählung nicht selten mit dem Abschluss des Lernprozesses der Hauptfiguren in eins fällt. Eine dritte Kontinuität zeigt sich in der Präsentation des medizinischen Wissens, das in verschiedenen Formaten (vom Ultraschallbild bis zu animierten Zeichnungen) (Abb. 7) und nicht selten in Großaufnahmen dargelegt wird. Viertens bleibt es in Ost und West bei der Vorstellung, Filme seien durch ihre starke emotionale Ansprache ein effektives Medium der Gesundheitserziehung. Deshalb wurden in Westdeutschland und in der DDR jeweils zahlreiche Aufklärungsfilme produziert. Ab den 1970er-Jahren wurden neben Medizinern auch Psychologen in die Produktion der Aufklärungsfilme eingebunden. Diese neuen Experten waren nicht nur im Vorfeld der Filmproduktionen beratend tätig, sondern sie führten auch während der späteren Vorführungen Untersuchungen über Zuschauerreaktionen durch. Die zunehmende Spezifizierung der Filme im Hinblick auf Themenkomplexe und Zielgruppen scheint mit gewachsenen Ansprüchen an ihre Wirkung einherzugehen. Auch ein didaktischer Wandel ist zu beobachten, der sich zum Teil bereits in den Titeln der Aufklärungsfilme spiegelt. Anders als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen in den Filmen nicht mehr nur die Gefahren für den Körper im Vordergrund, sondern diese werden positiv umgedeutet, wie zum Beispiel der Film Schlaffördernde Maßnahmen (1976) belegt. Denn jetzt sollten sie keine negativen Emotionen wie Verunsicherung, „Berührungsängste“ oder „Angstkomplexe“ auslösen, schrieb der beratende Psychologe an die BZgA zum Film Geißel der Lust. Vielmehr sollten sie in „ausgereifter Form eine realistische Spielhandlung mit sachlichen Informationen“ verbinden, um „die Vorurteile gegenüber Geschlechtskrankheiten emotional positiv“ anzugehen.32 Ähnlich wurde dies auch etwa zeitgleich in der DDR gesehen. Auch hier sollten die Filme eine „Verhaltenshilfe“ sein, zur „geistigen und emotionalen Bewältigung [von gesundheitlichen Problemen, hier AIDS, A. L.] beitragen, ethische Maßstäbe setzen und Modelle bieten, die verhaltenswirksam werden“ konnten.33 Oder wie es anderswo hieß: „Emotionale Identifikation muß unsere Botschaften transportieren. Das heißt, [die] Subjektivität der Filmemacher ist gefragt. Ihre auch emotionale Annäherung an das Thema ist Bestandteil des Filmes. Wir sind nicht die ‚großen Bescheidwisser‘, die das Publikum belehren.“34 Diese Haltung entsprach dem sozialistischen Realismus der Poststalinistischen Ära, der in der Filmbranche der DDR eine Renaissance erlebte. Die Filme sollten mit einfachen stilistischen Mitteln, ohne Bevormundung und in optimistischer Weise die sozialistischen Ideale vermitteln. Dieser Wandel im didaktischen Ansatz manifestierte sich auch in den recht häufigen Gesprächsrunden, die etwa im Deutschen Hygiene-Museum, in FDJ-Jugendclubs oder 32 Bundesarchiv Koblenz, Bestand BZgA, Verwaltung – Film, Akte 5. 33 Gutachten der Gruppe Spektrum vom Zentralinstitut für Jugendforschung, Prof. Starke, 11. April 1989, 3. Sächsisches Staatsarchiv-Hauptstaatsarchiv Dresden [im Folgenden SStA-HStAD], 13658, Nr. F VIII, Nr. 17. 34 Exposé für einen Film zum Thema „AIDS“, 1–2 (ebd.).

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auch in Schulen in Westdeutschland vor der Aufführung von Sexualaufklärungsfilmen stattfanden. Manchmal gehören Diskussionsrunden (beispielsweise in Form von Elterngesprächen) sogar zur Filmhandlung selbst, wie in dem von der BZgA produzierten Film Sexualität – Sicherheit für zwei. Ziel solcher Produktionen war es, den individuellen Umgang sowie die eigenen Erfahrungen mit Sexualität und dem Schutz vor Geschlechtskrankheiten zur Debatte zu stellen. Im Gegensatz zur früheren Präsentation durch den Arzt als Vertreter der Wissenschaft sollte dieser oder der hinzugezogene Psychologe oder Pädagoge nun die Rolle eines Mediators einnehmen und ein empathisches Verständnis für die „Patienten“ zeigen. Zudem sollte die gesundheitliche Problematik nun mittels einer demokratisch erscheinenden Kulturtechnik – der Diskussion unter Gleichgestellten – besprochen werden.35 In Ost und West wurde jetzt verstärkt auch ein altersgerechter und insbesondere humorvoller Umgang mit den sexualmedizinischen Themen gefordert. Dieser galt nun statt Scham und Ekel als wichtiges Mittel, um die Botschaft des Films zu transportieren. So hieß es für die DDR in einem Bericht an das Ministerium aus dem Jahr 1986 über zukünftige „gesundheitserzieherische Filme“: „Das Medium ‚Film‘ müsse deshalb mit psychologisch-pädagogischem Feingefühl prophylaktische Themen dieser Altersgruppen darstellen. Moralisierende, belehrende Filme sollten in größerem Maß einer humorvollen Auseinandersetzung weichen.“36 In der BRD offenbarte sich die neue zentrale Bedeutung des Humors für die Gesundheitsvorsorge besonders auffällig in den meist zweiminütigen Kino- oder TV-Spots zur AIDS-Prävention. Sie waren Teil der 1987 gestarteten Kampagne Gib Aids keine Chance. Der Spruch „Tina, wat kosten die Kondome?“ aus dem Abb. 8: AIDS-Spot Supermarkt (1990).

35 Zur Bedeutung der boomenden Diskussionsrunden in den westdeutschen Medien vgl. Nina Verheyen 2010: Eifrige Diskutanten. Die Stilisierung des „freien“ Meinungsaustauschs zu einer demokratischen Kulturtechnik in der westdeutschen Gesellschaft der fünfziger Jahre. In: Fulda/Herzog/ Hoffmann/van Rahden: 99–122. 36 SStA-HStAD, 13658, Nr. RB/3 Bd. 13, Hervorhebungen im Original.

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Kurzfilm Supermarkt (1990) mit dem Schauspieler und Moderator Ingolf Lück steht exemplarisch für den angestrebten lässigen Tonfall, indem der Wissenstransfer mit einer humorvollen Pointe verknüpft wurde. (Abb. 8).37 In der Nachkriegszeit erfuhren Emotionen in der Bundesrepublik wie auch in der DDR insgesamt eine neue Bewertung. Entsprechend wurden auch Aufklärungsfilme in den neuen ganzheitlichen Ansatz des Lebensweisenmodells integriert. Sie sollten ein „optimistisches Lebensgefühl“ und „Lebensfreude“ verbreiten.38 Ab den 1950er-Jahren wurde Stress zum populären Hauptangriffspunkt des Gefühlsmanagements der Bürger als neuem, wichtigem Bestandteil der Gesunderhaltung.39 Die Folgen negativer Emotionen auf Gesundheit und somit Leistungsfähigkeit der Individuen wurden dann ab den späten 1970er-Jahren selbst zum Thema von Aufklärungsfilmen wie Hygiene – Bedeutung negativer Emotionen für Herz-Kreislauf (1975), einem Film des Deutschen Hygiene-Museums. Vor allem im Zusammenhang mit der Prävention von AIDS wurde die Bedeutung von Emotionen ab Mitte der 1980er-Jahre nochmals verstärkt hervorgehoben. Es kursierten in der Öffentlichkeit Berichte von Menschen, die an schweren Ängsten litten. Leitgedanke der Kampagnen war es, Ängste in der Gesellschaft abzubauen. Dazu gehörte auch die Vermittlung eines positiven Bilds der Sexualität, wie es der DDR-Film Liebe ohne Angst (1989) schon im Titel anklingen lässt. Zu einem weiteren AIDS-Film heißt es in einem Gutachten aus dem Jahr 1989: [F]ür besonders wertvoll halte ich den Versuch, die Problematik AIDS unter dem Gesichtspunkt der Partnerbeziehung zu sehen und sich für die Förderung eines positiven Sexualerlebens und einer erfüllten Liebe einzusetzen. […] Zart und feinfühlig werden die damit zusammenhängenden Probleme angesprochen. Auf Klischees wird verzichtet, und es werden angesichts von AIDS auch keine neuen Feindbilder, z.B. in Gestalt von AIDS-kranken Homosexuellen geschaffen.40

Dieser neue, einfühlsame didaktische Gestus ist Teil der präventiven Gesundheitspolitik, die versucht, dem Individuum mit seinen individuellen Erfahrungen und Gefühlen gerecht zu werden, es aber zugleich in die Pflicht nimmt, ein gesundes Leben zu führen.41 Diese Leitlinie der Präventionspolitik in der Nachkriegszeit wird nicht nur in Sexualaufklä37 Damit ist auch der Beginn einer bis heute gängigen und in der Werbung weitverbreiteten Praxis der Gesundheitsaufklärung markiert: die Einbindung von öffentlich bekannten Persönlichkeiten als Mediatoren der Gesundheitsbotschaft. 38 Elisabeth Pott 2002: Gesund in der Gesellschaft – Information der Bevölkerung heute. Aufgaben und Konzepte der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. In: Stöcker/Walter: 204–217, hier 205 f. 39 Patrick Kury 2012: Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout. Frankfurt a.M./New York: Campus. 40 Anm. 34: 2. 41 Zur Konjunktur des Gefühls der Empathie in der Nachkriegszeit im sogenannten „humanitären Zeitalter“ siehe Ute Frevert und Tania Singer 2011: Empathie und ihre Blockaden. Über soziale Emotio-

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rungsfilmen deutlich, sondern sie wird auch mit ihrer Hilfe eingeübt. Standen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Techniken der Bedrohung und der moralischen Bestrafung im Vordergrund, so wandelten sich diese zuletzt in ein „Regime der freiwilligen Selbstkontrolle“.42 Die Filme wurden damit zum präventiven Instrument schlechthin. Deshalb lässt sich feststellen: Trotz unterschiedlicher politischer Systeme in Ost und West, variierender Konjunkturen in der Gesundheitspolitik und zahlreicher Unterschiede im direkten deutsch-deutschen Filmvergleich zeigen sich starke Parallelen in der Konstruktion eines präventiven Selbst. Die Indienstnahme ganz unterschiedlicher Emotionen in der Wissensvermittlung ist dabei zentral. Dass sich Strategien der Wissensvermittlung im stetigen Wandel befinden, deuten die gegenwärtigen deutschen (und europäischen) Debatten über schockierende Bilder von Krebserkrankten auf Zigarettenpackungen oder über vergleichbare Filmspotpointen zur Thematik an. Ob und in welcher Weise solche Ansätze auch eine Renaissance in zeitgenössischen Sexualaufklärungsfilmen erleben werden, bleibt abzuwarten.

nen. In: Tobias Bonhoeffer und Peter Gruss (Hg.): Zukunft Gehirn. Neue Erkenntnisse, neue Herausforderungen. München: C. H. Beck, 121–146, hier 131 f. 42 Bröckling 2008: 46.

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Den Körper spielerisch erkunden. Die Ausstellung Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin und ihr Nachleben

Das Wunder des Lebens war die erfolgreichste Gesundheitsausstellung im nationalsozialistischen Deutschland: Innerhalb von sechs Wochen wurde sie von 600.000 Menschen in Berlin und bis 1944 in rund 100 Städten im In- und Ausland von über 4 Millionen Besuchern gesehen.1 In seinem 1935 veröffentlichten Bericht Kleines Tagebuch einer deutschen Reise beschrieb der Schweizer Romancier und Dramatiker Max Frisch die Hauptausstellungshalle, einen großen, offenen Raum, in dem das mit dessen Gestaltung betraute Deutsche Hygiene-Museum eine Vielzahl von Objekten, geordnet nach verschiedenen Teilen und Prozessen des menschlichen Körpers, zeigte (Abb. 1): [M]an staunt immer wieder, wie die begabten Aussteller den Weg finden, um ziemlich unvorstellbare Begriffe ins Schaubare zu übersetzen, manchmal geradezu begeisternd, manchmal auch lustig: da steht etwa ein Holzmensch, dessen Herzkraft mittels einer Transmission auf den nachgebildeten Funkturm übertragen wird, und man sieht, daß unsere tägliche Herzleistung genügte, um zwei Menschen im Fahrstuhl auf diesen hohen Turm zu ziehen. Oder wir beobachten die Entstehung der menschlichen Stimme: ich drücke auf einen Knopf, um den sehr interessanten Apparat in Betrieb zu setzen und einen Ton zu erzeugen. […] Anderswo findet man eine witzige Darmgeschichte: ein Männchen steht beim Zahn und spaltet mit einem Beil die Speise, das ist die Zahnaufgabe, im Gaumen wartet ein andrer, der die Speise mit einem Gießkännchen befeuchtet, sozusagen Herr Spucke, und im Magen rühren sie den Brei, dem andre die nötigen Säuren zugegossen haben, und noch weiter unten kommen die Blutkörperchen, stehlen sich das Nahrhafteste durch die Darmwand und rennen mit ihrer Beute davon, bringen es den Muskeln. Sehr umringt ist auch eine Statue, die von Drückern übersät ist: wenn du am Leib drückst, oder am Kopf, so sagt dir eine Leuchtschrift an der Tafel, woher der dortige Schmerz stammt und welche Ursachen er allgemeinhin haben kann […]. Auch ich lasse meinen Lungeninhalt messen, blase mit aller Kraft und bringe den Zeiger ordentlich über den Männerdurchschnitt,

1 Das Deutsche Hygiene-Museum im Jahre 1935. Dresden, 8 (einzusehen in der Bibliothek des Deutschen Hygiene-Museums); zur Gesamtbesucherzahl siehe die Zusatzinformation zum Fotoalbum der Wanderausstellung Das Leben 1936 in Leipzig in der Objektdatenbank des Deutschen Hygiene-Museums (2006/311).

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worauf mir eine nebenstehende Dame anerkennend sagt: Bravo, der junge Herr darf zur Reichswehr!2

Als Frisch über diesen Raum schrieb, nahm er sich eine gewisse künstlerische Freiheit heraus, machte aber dabei auch auf die verspielte Anmutung des Saals aufmerksam. Diese Verspieltheit zeigte sich in der Vielfalt der verwendeten interaktiven Apparate und Exponate. So leuchteten zum Beispiel Neonschilder auf, wenn die Besucher die Knöpfe auf einem aus Kopf und Rumpf bestehenden Körpermodell drückten (Abb. 2). Eine ebenso humorvolle Umsetzung kennzeichnete auch die nichtinteraktiven Ausstellungsobjekte wie die Tafel zur Darstellung des Verdauungstrakts mit Herrn Spucke & Co. (Abb. 3). Weitere Beispiele waren: verschiedene Verbildlichungen von Körperteilen, in denen mit Maßstab, erhöhter Position, Struktur, Farbe und Lichteffekten gespielt wurde, um das auszudrücken, was wir als wunderliche Körper-Objekt-Analogien bezeichnen könnten, wie etwa die Vorführung der Pumpleistung des Herzens anhand eines Aufzugs, der zwei Menschen auf den Funkturm hinaufbefördert (Abb. 1 links im Vordergrund). Allgemeiner gesprochen, war die beträchtliche Freiheit, mit der das Publikum seinen Besuch selbst bestimmen konnte, indem es beispielsweise je nach eigenem Zipperlein entschied, welche der Knöpfe auf dem Rumpf oder Kopf es drückte, welche Testgeräte es benutzte und sogar, in welcher Reihenfolge es die Exponate betrachtete, ein Modell für die bedingte Form von Freiheit, auf der die Aktivität des Spiels basiert. Auch wenn das Spiel, wie der Soziologe Roger Caillois festgestellt hat, häufig durch Regeln bestimmt wird, beruht seine Teilnahme doch auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Andernfalls verlöre das Spiel seinen Charakter der „anziehenden und fröhlichen Unterhaltung“.3 In diesem Beitrag untersuche ich drei miteinander verbundene Fragen, die von der oben beschriebenen Verspieltheit des Raumes aufgeworfen werden. Wie können wir erstens die Nutzung des Spiels in dieser Halle als eine Strategie der Ausstellungsgestaltung historisch einordnen? Was war zweitens in Anbetracht der Tatsache, dass die Halle zumindest auf den ersten Blick fast keinen expliziten Bezug zur nationalsozialistischen Ideologie aufwies, das politische Interesse hinter dieser Verspieltheit des Raums? Wie verschob sich drittens dieser Zusammenhang, nachdem Teile der Ausstellung und einige ihrer Objekte im Ausland gezeigt wurden? Um diesen Fragen nachzugehen, werde ich mich hauptsächlich auf den von Frisch beschriebenen Saal der Berliner Ausstellung Das Wunder des Lebens konzentrieren. Diese Halle, die den Titel Die Lehre vom Leben trug, war der erste und größte Raum der Reichsausstellung. Über ihn wurde in der Presse am 2 Max Frisch 1976 [1935]: Kleines Tagebuch einer deutschen Reise. In: ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 88 f. Der Text erschien ursprünglich in mehreren Teilen zwischen April und Juni 1935 in der Neuen Zürcher Zeitung. 3 Roger Caillois 1982: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Übersetzung des französischen Originals Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige durch Sigrid von Massenbach. Frankfurt a. M./Berlin/Wien: Ullstein, 16.

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Abb. 1: Hauptgang der Abteilung Die Lehre vom Leben der Ausstellung Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin, Postkarte (Alfred Hesse Archiv Hamburg).

Abb. 2: „Schmerzen sind Warner!“ Abteilung Die Lehre vom Leben der Ausstellung Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin (Dittrick Medical History Center Archives, Cleveland; Bruno Gebhard papers, GF 6-14).

weitaus häufigsten berichtet. Ich werde diesen Teil jedoch auch im Zusammenhang mit anderen Ausstellungsbereichen diskutieren, die das Publikum unmittelbar davor und danach besuchte, denn Frisch und seine Zeitgenossen sahen die Platzierung der Die Lehre vom Leben als zentral für das Gesamterlebnis an.4 Um der Frage nachzugehen, wie sich die ideologischen Implikationen der spielerischen Umsetzung des Themas nach der Reichsausstellung veränderten, werde ich schließlich kurz die Hall of Man in der 4

Für einen Überblick über die gesamte Abfolge der Ausstellungsräume siehe Bruno Gebhard 1935: Rundgang. In: Gemeinnützige Berliner Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrs-G.m.b.H. (Hg.) 1935: Das Wunder des Lebens. Amtlicher Führer durch die Ausstellung. Berlin: Ala, 141–156. Zu einer historischen Bewertung siehe Christoph Kivelitz 1999: Die Propagandaausstellung in europäischen Diktaturen. Konfrontation und Vergleich. Nationalsozialismus in Deutschland, Faschismus in Italien und die UdSSR in der Stalinzeit. Bochum: Winkler, 97–102.

Die Ausstellung Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin und ihr Nachleben

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Abb. 3: Relieftafel des menschlichen Verdauungsvorgangs, Abteilung Die Lehre vom Leben der Ausstellung Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin, Fotografie (Sammlung Deutsches Hygiene-Museum, DHMD 2006/329.20).

Weltausstellung 1939/1940 in New York betrachten, in der Dutzende von Exponaten aus der Abteilung Die Lehre vom Leben wieder auftauchten. Wie ich im Folgenden darlegen werde, war das politische Interesse an einer solchen Gestaltung ganz und gar nicht konstant, sondern variierte erheblich, je nachdem, wie bestimmte Objekte und Ausstellungsräume miteinander und mit den Besuchern in Dialog traten. Nichtsdestotrotz hing es häufig von der Rolle ab, die das Spielerische in derartig gestalteten Exponaten bei der Veränderung der Art und Weise auf der emotionalen Ebene einnahm, wie die Ausstellungsbesucher in Bezug auf einen politischen Körper möglicherweise agierten oder über ihren eigenen Körper reflektierten.

Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin Die Entscheidung, die Halle Die Lehre vom Leben in einen spielerischen Ausstellungsraum zu verwandeln, war keine neue Strategie. Schließlich rief die Präsentation viele Formen des Spektakels in Erinnerung, in denen seit der Aufklärung Spiele, Apparate, neue technische Geräte, Publikumsbeteiligung, Mensch-Maschine-Analogien und Humor genutzt wurden, um durch Förderung dessen, was die Kunsthistorikerin Barbara Stafford

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„in­structive recreation“5 genannt hat, Wissen zu verbreiten. Im deutschsprachigen Kontext war das Interesse an der Kombination von Unterhaltung und Bildung eng mit dem Projekt der bürgerlichen Volksaufklärung verbunden, einem Geflecht aus Ideen, Institutionen und Verfahren, die darauf ausgerichtet waren, verschiedene Formen von Wissen an ein breites Publikum zu vermitteln. Diese Bewegung hatte ihre Vorläufer im 18. Jahrhundert, sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend spezialisiert, neue Adressaten gefunden, nach 1900 professionalisiert und neue mediale Orte gefunden und Ausdrucksformen entwickelt.6 Tatsächlich gehen viele Objekte und Strategien der Ausstellungsgestaltung, die in der Abteilung Die Lehre vom Leben verwendet wurden, direkt auf frühere Ausstellungen und Exponate zurück, die vom Deutschen Hygiene-Museum produziert wurden, das seinerseits ein Produkt dieser Popularisierungsbewegung war und während der Weimarer Republik eine zentrale Rolle in der sogenannten hygienischen Volksbelehrung spielte.7 Solche Verbindungslinien gab es schon allein deshalb, weil Bruno Gebhard, der für die Gesamtkonzeption von Das Wunder des Lebens von wissenschaftlicher Seite aus verantwortlich war, Teile der Hallengestaltung an zwei Personen delegierte, die auch eine enge Verbindung zum Deutschen Hygiene-Museum hatten: Herbert Michael, der seit 1924 als Kurator an mehreren Großausstellungen mitwirkte, und E. A. Mühler, der als Dekorationsmaler und Bühnenbildner mehrere Projekte freiberuflich für das Museum umgesetzt hatte. Der Mediziner Gebhard selbst war von 1927 bis 1932 am Deutschen Hygiene-Museum als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig und dann als Leiter der wissenschaftlichen Abteilung des Messeamts nach Berlin abgeordnet worden.8 Trotz der verschiedenen Verbindungslinien zwischen dieser Halle und früheren Ausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums unterschied sie sich von ihren Vorläufern in mehreren Punkten, die alle auf ein bewussteres Bemühen hindeuten, einen spielerischen Raum zu konstruieren. Interaktive Installationen befanden sich in fast jeder Unterabteilung der Halle Die Lehre vom Leben, was wahrscheinlich auf die enge Zusammenarbeit des Deutschen Hygiene-Museums mit dem Physiologischen Institut der Universität 5 Barbara Stafford 1994: Artful Science. Enlightenment Entertainment and the Eclipse of Visual Education. Cambridge: Cambridge University Press [übersetzt als: Kunstvolle Wissenschaft. Aufklärung, Unterhaltung und Niedergang der visuellen Bildung. Amsterdam: Verlag der Kunst]. 6 Siehe Sybilla Nikolow und Arne Schirrmacher 2007: Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit als Beziehungsgeschichte. Historiographische und systematische Perspektiven. In: dies. (Hg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York: Campus, 11–36. 7 Die Tafel mit der Darmgeschichte basierte zum Beispiel auf einer fast identischen Illustration, die das Museum mindestens schon 1930 hergestellt hatte. Sie trug den Titel „Die Arbeit der Verdauungsorgane“ (Deutsches Hygiene-Museum (Hg.) 1930: Der Mensch. Vom Werden, Wesen und Wirken des menschlichen Organismus. Leipzig: Verlag Johann Ambrosius Barth, Tafel 15). Zur Etablierung dieser Einrichtung als Volksbildungsinstitut siehe den Beitrag von Thomas Steller in diesem Band. 8 Bruno Gebhard 1976: Im Strom und Gegenstrom, 1919–1937. Wiesbaden: Steiner. Zu Michael und Mühler gibt es bedauerlicherweise kaum biografische Informationen.

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Berlin zurückzuführen ist, das auch noch eine eigene sogenannte Demonstrationsabteilung in der Halle zur Verfügung stellte.9 Außerdem markierten sowohl der unbeschwerte Ausdruck der Halle als auch die beträchtliche Autonomie, die dem Publikum bei ihrem Rundgang zugestanden wurde, eine Abkehr von den Räumen in Gesundheitsausstellungen der Weimarer Republik, an denen Gebhard als Angestellter des Deutschen Hygiene-Museums mitgearbeitet hatte. Damals wurden die Exponate tendenziell einseitigen Narrativen subsumiert, die einen Anschein augenfälliger Sachlichkeit besaßen. Schließlich hatte Gebhard später anhand von Das Wunder des Lebens auf die Bedeutung hingewiesen, die er inzwischen in der Nutzung des Spieltriebs der Besucher sah. Er gebrauchte dabei diesen Begriff, um zu unterstreichen, wie wichtig er es fand, die Rezipienten eher zu „gefühlsmäßigen Entscheidungen“ als zu „verstandesmäßigen Überlegungen“ zu bewegen.10 Ich möchte Gebhards Berufung auf den Spieltrieb nicht überbewerten, halte sie aber schon deshalb für bedeutsam, weil die spielerische Aufmachung von Exponaten in seinen Schriften und Vorträgen zur Ausstellungsgestaltung bald zu einer der zentralen wiederkehrenden Ideen wurde. Dieser Bedeutungszuwachs ist am wahrscheinlichsten auf das üppige Lob zurückzuführen, mit dem Das Wunder des Lebens in führenden englischsprachigen Zeitungen und Fachzeitschriften überschüttet wurde, die häufig die Verspieltheit der Ausstellung hervorhoben.11 Die Schaffung eines Ausstellungsraums, in dem die Besucher sich wissenschaftliches Körperwissen auf spielerische Art und Weise aneignen sollten, trug dazu bei, deutschen und ausländischen Besuchern gleichermaßen die grundlegende Botschaft zu vermitteln, dass das nationalsozialistische Deutschland ein Ort der nichtelitären, innovativen und vergnüglichen „geistige[n] Erleuchtung“ war. Für die Besucher aus Deutschland, die wahrscheinlich die große Mehrheit ausmachten, hatte dieser Raum darüber hinaus eine weitere Funktion: ihre Neugier und ihr Verständnis für den menschlichen Körper zu wecken, sodass sie aufmerksamer auf ihre Körper achteten, nachdem sie Das Wunder des Lebens gesehen hatten. Während fast alle Gesundheitsausstellungen ein ähnliches Ziel verfolgten, wurde in nahezu allen Publikationen und Reden zur Ausstellung vor allem betont, dass der deutsche Volksgenosse eine sogenannte Pflicht habe, die eigene Gesundheit zum Wohl der Volksgemeinschaft zu erhalten.12 Vor diesem Hintergrund sollte der Raum die Besucher zu gefühlsmäßigen Entscheidungen motivieren und insbesondere 9 Erich Schütz 1935: Physiologisches Institut der Universität Berlin. In: Gemeinnützige Berliner Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrs-G.m.b.H. 1935, 91 f. 10 Siehe z.B. Bruno Gebhard 1938: Ausstellungen als Mittel der Gesundheitserziehung. Der öffentliche Gesundheitsdienst. Teilausgabe A, 1, 95–99, hier 99. 11 Vgl. etwa Harry E. Kleinschmidt 1935: New Germany Teaches her People. An Account of the Health Exposition of Berlin. American Journal of Public Health, 25, 10: 1108–1113, hier 1111 f.: “The opportunity to press buttons, pull levers, test one’s physical abilities and in general to ‘play’ with the exhibits is a grateful relief to the sight-seer who has walked miles of musty galleries dotted with ‘don’t touch’ signs.” 12 Vgl. etwa: Ansprache des Reichs- und Preuß. Innenministers Dr. Frick zur Eröffnung der Ausstellung „Das Wunder des Lebens“. Der öffentliche Gesundheitsdienst, Teilausgabe A, 1 (1935), 100–103.

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den Wunsch in ihnen wecken, die ihnen auferlegte Gesundheitspflicht gegenüber der Volksgemeinschaft zu erfüllen, auch wenn die Halle Die Lehre vom Leben im Unterschied zu späteren Gesundheitsausstellungen im Nationalsozialismus selbst noch nicht direkt auf dieses ideologische Konzept bezogen war. Im Raum wurde diese Pflicht in das Reich der Unterhaltung verschoben. Er appellierte an den Humor des Betrachters, bereitete ihm durch die spektakulären Darstellungen von Körperteilen ein visuelles Vergnügen und gab den Besuchern die Freiheit, eine Vielzahl von Objekten nicht nur zu sehen, sondern, wenn sie es wollten, auch zu berühren, ähnlich einem Kind im Spielzeugladen, nur dass dieser Raum vor allem für Erwachsene gedacht war.

Der hallenübergreifende Erzählbogen Die ideologische Ergiebigkeit der Die Lehre vom Leben resultierte allerdings nicht nur aus den Erfahrungen des Betrachters innerhalb dieses Raumes. Sie ergab sich auch aus der Art, wie er die Gesamtargumentation der aufeinanderfolgenden Hallen mit aufbaute.

Abb. 4: Lageplan der Ausstellung Das Wunder des Lebens (Gemeinnützige Berliner Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrs-G.m.b.H. [Hg.] 1935, 140).

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Das Wunder des Lebens war eine Großausstellung aus sieben Hallen, die alle jeweils von verschiedenen Gremien zusammengestellt worden waren, die teilweise ihre eigenen Gestaltungsteams beauftragten und die nationalsozialistische Ideologie jeweils unterschiedlich stark unterstützten. Die Hallen ergaben zusammengenommen keineswegs ein einziges nahtloses Narrativ. Nichtsdestotrotz spielte Gebhard mit ziemlicher Sicherheit eine Schlüsselrolle bei der Konstruktion des hallenübergreifenden Erzählbogens, wie durch seine Vertretung in den Fachausschüssen der meisten Hallen dokumentiert wird und ein kurzer Abschnitt über die Ausstellungsplanung und -gliederung in seinen Nachkriegserinnerungen nahelegt.13 Der Bogen dieser Erzählung spannte sich hauptsächlich über die ersten Hallen der Ausstellung, die auf dem Grundriss mit Halle II bis IV bezeichnet sind (Abb. 4).14 Er begann mit zwei Räumen, die als Einleitung zur Die Lehre vom Leben gedacht waren und beide von Mühler gestaltet und von Gebhard betreut wurden. Der erste dieser Räume, die Eingangshalle, zeigte als Hauptattraktion eine Prozession von fackelartigen Leuchten auf beiden Seiten, die den Besucher zu dem einzigen Ausstellungsobjekt geleitete: ein monumentales Wandrelief des Bildhauers, Metallbildners und Kunsthandwerkers Ludwig Gies (Abb. 5). Während ich mich mit diesem Relief an anderer Stelle ausführlicher beschäftigt habe,15 geht es mir hier nur um einen entscheidenden Punkt: Die Schwanzfedern des Adlers bestanden aus Tausenden kleinen menschlichen Figuren, die in Reihen zusammengeschlossen aller ihrer individuellen körperlichen Merkmale Abb. 5: Wandrelief von Ludwig Gies in der Ehrenhalle von Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin (Dittrick Medical History Center Archives, Cleveland; Bruno Gebhard papers, GF 6-10).

13 Siehe dazu auch Gebhard 1976: 91 f. 14 Die Ausstellung begann mit Halle II, weil das erste Gebäude des Ausstellungskomplexes nicht benutzt wurde. 15 Michael Tymkiw 2014: National Socialist Exhibition Design, Spectatorship, and the Fabrication of Volksgemeinschaft. PhD-Dissertation an der University of Chicago, 232–251.

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Abb. 6: Der Gläserne Mensch in Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin (Bundesarchiv – Bildarchiv, 1831992-0820-507).

beraubt worden waren. Diese Figuren, die die Besucher nur sehen konnten, wenn sie auf das Relief zugingen, um es aus der Nähe zu betrachteten, gaben den Schwanzfedern des Adlers schließlich ihre üppige Struktur. Sie trugen außerdem dazu bei, die Einreihung und Transformation der Körper der einzelnen Deutschen in einen einzigen kollektiven Körper der Volksgemeinschaft zu versinnbildlichen, der hier durch den Adler, das hoheitliche Symbol Deutschlands, symbolisiert wurde. Direkt nach der Eingangshalle betrat der Besucher einen kleinen bogenförmigen Raum, in dessen Mitte das ikonische Modell des Gläsernen Menschen stand, dessen innere Organe nacheinander aufleuchteten, während ein Tonband knappe Erklärungen dazu abspielte (Abb. 6).16 Am Schluss dieses kurzen Spektakels strahlte ein Scheinwerfer auf die Wand gegenüber der Figur und beleuchtete ein Zitat von Augustinus, das die Neugier und das Wunder des Menschen pries. Im Gegensatz zur Eingangshalle, wo der Betrachter auf den Körper des Adlers blickte und die zelluläre Struktur der aus Tausenden von menschlichen Umrissen zusammengesetzten Vogelfedern sah, sah der Besucher hier in das dreidimensionale Modell eines menschlichen Körpers hinein, eines Körpers, der ein paar Augenblicke vorher nur als Silhouette sichtbar gewesen war. Diese Verschiebung bedeutete auf den ersten Blick eine dramatische Vergrößerung seiner vorherigen mikroskopischen Sichtweise der Wahrnehmung verschiedener Körper. Genauer gesagt sollte der Gläserne Mensch den Besucher dazu bringen, sich vorzustellen, er blicke in seinen eigenen Körper hinein, ein altbekanntes Motiv in der Rhetorik des 16 Die umfassendste Bestandsaufnahme ist immer noch Rosmarie Beier und Martin Roth (Hg.) 1990: Der gläserne Mensch. Eine Sensation – Zur Kulturgeschichte eines Ausstellungsobjekts. Stuttgart: Hatje. Zu Gebhards Nachkriegserinnerung an die Installation des Gläsernen Menschen in Das Wunder des Lebens siehe Gebhard 1976: 98. Vgl. auch den Beitrag von Christian Sammer über die Herstellung und Zirkulation der Gläsernen Figuren nach 1945 in diesem Band.

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durchsichtigen Menschen, das im Zusammenhang mit dieser Ausstellung gemeinhin auftauchte.17 Der Raum an sich schien nahezulegen, dass der Blick in den eigenen Körper auch zu dem Prozess beitrug, durch den sich einzelne Körper, wie Zellen zu einem umfassenden kollektiven, integrierten Volkskörper zusammenschlossen. Während der Gläserne Mensch ein lebensgroßes Modell eines einzelnen menschlichen Körpers lieferte, zeichnete sich der nächste Ausstellungsraum, Die Lehre vom Leben, vor allem durch seine spektakulären Darstellungen einzelner Körperteile aus. So gab es zum Beispiel das Modell einer Lunge, die zu einem riesigen blauen Käfig geformt war, der die Größe der Oberfläche dieses Organs veranschaulichen sollte, oder eine hellrote Decke, die 3.200 Quadratmeter groß war und darstellte, wie viele rote Blutkörperchen ein durchschnittlicher menschlicher Körper besitzt. Diese Visualisierungen dienten dazu, die Idee der körperlichen Transformation zu untermauern, die das Eröffnungsbild der Ausstellung vom Einzelkörper zur Volksgemeinschaft bestimmt hatte. Während die Empfangshalle einen gewissen zeremoniellen und rituellen Charakter hatte, funktionierte die Halle Die Lehre vom Leben auf eine ungezwungene Weise, als sollte damit unterstrichen werden, dass der Prozess der Metamorphose vom Zusammenschluss einzelner Körper zum kollektiven Körper der Volksgemeinschaft sowohl geistig anspruchsvoll als auch kurzweilig unterhaltsam sein konnte. Insoweit ermutigte die Halle die Besucher erneut, sich spielerisch vorzustellen, wie die Form des menschlichen Körpers an ihre weitestmöglichen Grenzen gebracht werden konnte. Dies lässt sich sowohl als euphorischer Ausdruck der noch jungen Idee des Neuen Menschen als auch als Versuch verstehen, ein möglichst breites Publikum, unabhängig von der jeweiligen Unterstützung des Nationalsozialismus, für seine Verpflichtung gegenüber der Volksgesundheit zu begeistern.18

Vom Einzelkörper zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft Nachdem die Besucher eine Treppe hinaufgestiegen und an einem die Rolle des Wassers als Voraussetzung für menschliches Leben symbolisierenden großen Brunnen vorbeigegangen waren, die zusammen eine Art Zäsur zwischen der Abteilung Die Lehre vom Leben und der übrigen Ausstellung markierten, erreichten sie die Halle Träger des Lebens, die sich vor allem auf die Rolle der Frau als Mutter konzentrierte. Am Anfang befand sich ein eingezäunter quadratischer Glockenhof, den die Besucher betraten, bevor sie den Rest der Exponate am Rand der Halle besichtigten, die verschiedene NS-Organi17 Ein Autor schrieb, der Gläserne Mensch komme einer Röntgenaufnahme des Körpers des Zuschauers gleich: E. A. Schwarz: Das Wunder des Lebens. Heute Eröffnung der großen Ausstellung am Berliner Kaiserdamm. Die Gesetze des Werdens und des Seins. Berliner Börsen-Zeitung, 23. März 1935. 18 Siehe Peter Fritzsche und Jochen Hellbeck 2009: The New Man in Stalinist Russia and Nazi Germany. In: Michael Geyer und Sheila Fitzpatrick (Hg.): Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared. Cambridge/New York: Cambridge University Press, 302–341.

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sationen wie zum Beispiel die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt und das Deutsche Frauenwerk zusammengestellt hatten. Die Hauptattraktion dieser Halle, der Glockenhof – ein von Gebhard verantworteter und von Mühler gestalteter Raum –, war der hölzerne Glockenturm in seiner Mitte (Abb. 7). Er war um die sechs Meter hoch und enthielt zwei Glockensätze. Der erste bestand aus zwei großen Metallglocken, die ganz oben angebracht waren und alle fünf Minuten neun Mal anschlugen, um zu signalisieren, dass in diesem Zeitraum im Deutschen Reich durchschnittlich neun Babys geboren worden waren. Der zweite Glockensatz direkt darunter, der aus ungefähr einem Dutzend Glocken aus Meissner Porzellan bestand, spielte direkt nach dem Ausklingen des ersten Glockensatzes die Refrains von traditionellen Kinderliedern. Am Fuß des Turmes war eine große Sanduhr zu sehen, eine Anspielung auf die sieben Deutschen, die durchschnittlich im Verlauf der fünf Minuten starben, die der Sand brauchte, um von dem oberen Teil der Säule in den unteren zu rieseln.19 Die Botschaft war, dass das Deutsche Reich einen Geburtenüberschuss von zwei geborenen Kindern pro fünf Minuten hatte – ein Zeichen dafür, dass die Bevölkerung einen Aufschwung erlebte, wenn auch bisher nur in geringem Umfang. Es sollte deutlich werden, dass die Besucherinnen in gebärfähigem Alter ihren Teil dazu beitragen können, damit dieser Trend anhielt – ein Aspekt, der durch statistische Darstellungen im unteren Bereich der Wände ringsherum unterstrichen wurde.20 Abb. 7: Der Glockenhof, Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin (Bundesarchiv Berlin, NS 5 VI 9921, Bl. 149).

19 Gebhard 1935: Rundgang, 145. 20 Die Hauptattraktion des Glockenhofs waren acht Reliefs aus gehämmertem Kupfer des Künstlers Alfred Vocke. Diese Reliefs, die über den statistischen Darstellungen hingen, zeigten Phasen im Lebenslauf des Menschen (Jugend, erste Liebe, Witwenschaft). Siehe ebd.

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Die Idee, Klang, Bewegung und andere Elemente der Raumgestaltung zu nutzen, um der Darstellung der Bevölkerungsentwicklung einen nationalistischen Ausdruck zu geben, war nicht neu.21 Dadurch, dass der Glockenhof unmittelbar der Halle Die Lehre vom Leben und dem Modell des Gläsernen Menschen folgte, trug er jedoch dazu bei, den Fokus, den die vorangegangenen Räume auf den einzelnen menschlichen Körper gelegt hatten, auf die Volksgemeinschaft zu übertragen. In der Halle Die Lehre vom Leben wurden viele Aspekte und Vorzüge des gesunden Normmenschen gezeigt, die hier zum Ideal für die Volksgemeinschaft erhoben wurden, wobei noch der „nordische“ Mensch als Rassenmerkmal hinzugefügt wurde.22 Entsprechend schrieb Frisch: „Wunderbar ist der gesunde Mensch! – so ließe sich diese erste Halle betiteln; doch schon die nächsten Räume versuchen eine Nutzbarmachung, denn alles Folgende hat etwa diesen Sinn: Gesund und wunderbar ist nur der nordische Mensch!“23 Die Verengung dieser Perspektive auf die „arische“ Volksgemeinschaft beruhte auch auf der Verwendung traditioneller Kinderlieder, die spielerisch das Germanische der verschiedenen Materialien unterstrich, die für den Bau des Glockenhofs verwendet worden waren (beispielsweise Glocken aus Meissner Porzellan, Wände aus Klinkerstein, ein Metallgitter mit dem wiederkehrenden Motiv des Y als nordisches Symbol für das Leben). Sie gründete sich außerdem auf dem Einschluss der Besucher in das, was wir eine „Aufführung von Gemeinschaft“ nennen könnten – eine weitere Dimension der Nutzung des Spielerischen als Gestaltungsstrategie der Ausstellung dahingehend, wie Spiele auf Aufführungspraktiken beruhen. Wegen der zentralen Platzierung des Glockenturms und der Art und Weise, wie die roten Ziegelwände und das Gitterwerk den Glockenhof umschlossen, glich der Raum einem öffentlichen Platz, der die Besucher zwang, sich tatsächlich zusammenzudrängen und ihre Aufmerksamkeit auf einen gemeinsamen Blickpunkt in ihrer Mitte zu richten. Das Arrangement war ähnlich dem einer Ansammlung interessierter Bürger, die zusammengekommen waren, um einen Ausrufer oder den Klang von Kirchenglocken zu hören (Abb. 8). Dadurch verwandelte der Glockenhof die Betrachter erfolgreich in Akteure in einer Aufführung nationaler Gemeinschaft, die das vage Gefühl von Zusammengehörigkeit während der Versammlung um den Glockenturm für die Vermittlung der Kernbotschaft des Raumes ausnutzte („Deutsche, bekommt mehr Kinder!“), wie um zu sagen, dass die Verwirklichung der Ersteren auf Letzterem beruhe.24 21 Siehe Sybilla Nikolow 2006: Imaginäre Gemeinschaften. Statistische Bilder der Bevölkerung. In: Martina Hessler (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit. München: Fink Verlag, 263–278. 22 Ich danke Sybilla Nikolow für ihre treffenden Anregungen u.a. über die Beziehung zwischen dem Glockenhof und der Abteilung Die Lehre vom Leben. 23 Frisch [1935] 1976, 89 f. 24 Das Phänomen des Hineinziehens der Zuschauer in Aufführungen von Gemeinschaft in den verschiedenen Genres nationalsozialistischer Ausstellungen habe ich in der Einleitung zu meiner Dissertation genauer beschrieben (Tymkiw 2014: 1–22).

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Abb. 8: Besucher umringen den Glockenturm in Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin (Dittrick Medical History Center Archives, Cleveland; Bruno Gebhard papers, GF 6-67).

Abb. 9: Entwurf der Eingangs­sequenz der Halle IV Erhaltung des Lebens (Gemeinnützige Berliner Ausstellungs-, Messe- und FremdenverkehrsG.m.b.H. [Hg.] 1935, 101).

Abb. 10: Plakat mit einer Hochrechnung der Geburten­ raten von sogenannten Minderwertigen und Höherwertigen, aus Erhaltung des Lebens (Bundesarchiv – Bildarchiv, 102–16748, Foto: von Georg Pahl).

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Wenn der Glockenhof den Schwerpunkt der Ausstellung vom einzelnen Körper auf die nationalsozialistische Volksgemeinschaft verschob, trug dieser Raum dazu bei, die Voraussetzungen für den Besuch des am deutlichsten völkischen Teils der Ausstellung zu schaffen, der in der folgenden Halle mit dem Titel Erhaltung des Lebens (Abb. 9 und 10) gezeigt wurde. Nach der Besichtigung der restlichen Unterabteilungen von Träger des Lebens, die den Glockenhof umgaben, betraten die Besucher die lange, rechteckige Halle IV. Der Reichsausschuß für den Volksgesundheitsdienst, der sie zusammengestellt hatte, arbeitete mit dem Architekten E. Hackenberger als Gestalter zusammen. Gebhard war dagegen als wissenschaftlicher Leiter der Gesamtausstellung für den inhaltlichen Zusammenhang zwischen dieser Halle und den anderen Ausstellungsbereichen zuständig. Nach dem Betreten der Halle trafen die Besucher auf ihre einzige große Abteilung, die den Hauptteil der Mittelachse des Raumes einnahm und den Titel trug: Erb- und Rassenpflege. Dieser unter der Ägide des Reichsausschusses gemeinsam mit dem Rassenpolitischen Amt der NSDAP realisierte Bereich bestand aus einer Reihe parallel angeordneter weißer Stellwände, auf denen jeweils verschiedene Aspekte dieses Themas behandelt wurden, so beispielsweise „Dienst an der Rasse“, „Erbkranker Nachwuchs“ und „Unsere Ahnen und wir“ (Abb. 9).25 Als Ganzes sollten diese Untergruppen verschiedene Gefahren für die „arische“ Volksgemeinschaft dokumentieren, indem sie auf die staatlichen Maßnahmen zur nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Rassenpolitik aufmerksam machten. Zu diesem Zweck wurden vor allem Tafeln gezeigt, viele davon waren Zahlenbilder, die der Dramatisierung der Statistiken dienten. Auf einer Tafel, auf der beispielsweise das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933/1934 angesprochen wurde, war eine Vorausberechnung der Geburtenrate von sogenannten Minderwertigen und Höherwertigen für die nächsten 120 Jahre zu sehen. Hier wurden zwei Menschenfiguren als Säulendiagramme für die hochgerechnete Geburtenrate zu verschiedenen Zeitpunkten verwendet (Abb. 10). Links war jeweils ein blonder, schlanker Mann in weißen Boxershorts, ein Symbol für die angenommene Höherwertigkeit der „arischen“ Volksgemeinschaft, und rechts ein Mann in einem schwarzen Overall zu sehen, dessen Schuhspitzen, Finger und Gesichtszüge die angebliche körperliche Deformation des als minderwertig diffamierten Menschen illustrieren sollten. Solche Darstellungen gab es keineswegs erstmals in dieser Ausstellung: Sie stützten sich auf Vorläufer aus früheren Propagandaschauen zur Popularisierung der nationalsozialistischen Rassenlehre. Insbesondere gehen die Darstellungen aus dieser Abteilung auf verschiedene frühere Aktivitäten des Deutschen Hygiene-Museums (Lichtbildreihe, Sonderausstellung, gemeinverständlicher Führer) zu diesem Thema seit Mitte der 1920erJahre zurück, die Ende 1933 unter Leitung des SS-Arztes Hermann Vellguth, der nach 25 In der Halle Erhaltung des Lebens wurden außerdem noch Exponate zur Wasserhygiene, Ernährung, dem SA-Sanitätsdienst und zur Krebsbekämpfung gezeigt.

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Dresden geholt wurde, um die neue Abteilung „Erb- und Rassenpflege“ des Museums zu leiten, zur Unterrichtssammlung „Vererbungslehre, Rassenkunde und Rassenpflege“ weiterentwickelt worden waren. Das Material wurde anschließend in einzelnen Ausstellungen gezeigt: so in der Abteilung „Rasse in Not“ der Reichsausstellung Deutsches Volk – Deutsche Arbeit 1934 in Berlin und dann in der Wanderausstellung Volk und Rasse, für die Vellguth verantwortlich war. Gebhard verwendete für die Ausstellung Eugenics in New Germany, die er 1934 für die Jahresversammlung der American Public Health Association in Pasadena, Kalifornien, zusammenstellte, ebenfalls solche Darstellungen.26 Dennoch bedeuteten sowohl der historische Augenblick, in dem Das Wunder des Lebens im Frühjahr 1935 eröffnet wurde, als auch die überwältigenden Besucherzahlen, dass diese Tafeln dazu beitrugen, nach der Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses die breite gesellschaftliche Akzeptanz der nationalsozialistischen Rassenideologie kurz vor Verabschiedung der Nürnberger Gesetze im September 1935 nochmals zu erhöhen. Wenn man außerdem berücksichtigt, wie die Abteilung Erhaltung des Lebens mit den Räumen unmittelbar davor in Dialog trat, erkennt man, dass versucht wurde, bei der vergleichenden Betrachtung von sogenannten erbgesunden und erbkranken Körpern eine grundsätzlich andere Wahrnehmung herbeizuführen. Bis zu diesem Punkt der Ausstellung herrschten freistehende dreidimensionale Exponate vor, die fast immer menschliche Körper darstellten, die eindeutig als erbgesund, arisch und normal zu identifizieren waren. Wenn solche Objekte an einer Wand angebracht oder direkt davor platziert waren, wiesen sie oft eine reliefartige, sehr unterschiedlich stark hervortretende und strukturierte Oberfläche auf, die eine haptische Aneignungsweise bewirkten und dadurch ein Gefühl der körperlichen Verbundenheit zwischen den Betrachtern und den dargestellten Körpern befördern konnten.27 Im Gegensatz dazu begünstigte die im Wesentlichen aus Tafeln bestehende Abteilung Erhaltung des Lebens eine eher über das Bild organisierte Wahrnehmung. Dabei handelte es sich gewissermaßen um eine Methode, die die Besucher daran erinnerte, dass die in den bildlichen Darstellungen als erbkrank verhöhnten Körper nicht berührt werden sollten. Durch die Begünstigung einer visuellen Aneignungsweise, die sich von der vorangegangenen haptischen unterschied, brachte Erhaltung des Lebens eine Trennung zwischen dem Körper 26 Zu den Aktivitäten des Deutschen Hygiene-Museums siehe die Jahresberichte von 1933 und 1934, die in der Bibliothek des Hauses eingesehen werden können. Für Eugenics in Germany siehe Robert Rydell, Christina Cogdell und Mark Largent 2006: The Nazi Eugenics Exhibit in the United States, 1934–1943. In: Susan Currell und Christina Cogdell (Hg.): Popular Eugenics. National Efficiency and Mass Culture in the Thirties. Athens: Ohio University Press, 359–384. 27 Den Begriff „haptisch“ verwende ich etwas unscharf für Objekte, die das „taktile Auge“ (um einen Begriff von Jennifer Barker zu verwenden) des Zuschauers ansprachen. Damit trage ich der Tatsache Rechnung, dass viele der Exponate nicht alle Eigenschaften aufwiesen, die Alois Riegl mit haptischen Sehweisen verbindet (zum Beispiel die Selbstgenügsamkeit eines Objekts oder die fehlende Interaktion mit anderen Objekten). Jennifer Barker 2009: The Tactile Eye. Touch and the Cinematic Experience. Berkeley/Los Angeles: University of California Press.

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des Betrachters und den Körpern der sogenannten Gemeinschaftsfremden, die in den Bildern dieser Sektion herabgewürdigt wurden, zum Ausdruck. Wenn vor diesem Hintergrund die Ausnutzung des Spieltriebs der Besucher in der Halle Die Lehre vom Leben dazu beitrug, die Betrachter dazu anzuregen, stärker auf den eigenen Körper zu achten, dann trug der Gesamtzusammenhang, in dem dieser Raum wahrgenommen wurde, dazu bei, die Rolle des Betrachters bei der Stärkung und dem Schutz der Gemeinschaft in nationalsozialistische Begriffe zu fassen. In diesem Zusammenhang ist es aber auch wichtig zu betonen, dass das Ausmaß der Verspieltheit dieses Raums sich veränderte, als das Deutsche Hygiene-Museum den von ihm gestalteten Teil der Sonderausstellung Das Wunder des Lebens für seine Wanderausstellung unter dem gleichen Titel auf Reisen schickte. Von der Wanderausstellung gab es wegen der großen Nachfrage sogar mehrere Versionen, die vor dem Krieg in verschiedenen deutschen und ausländischen Städten und dann nach Kriegsbeginn auch im besetzten Ausland gezeigt wurden. Mitgeführt wurde zwar das Modell des Gläsernen Menschen, das aus der Werkstatt des Deutschen Hygiene-Museums stammte, allerdings nicht das Wand­ relief am Anfang des Rundgangs, der Glockenhof und verschiedene andere Abteilungen, die extra für die Sonderausstellung in den Hallen des Berliner Messegeländes hergestellt worden waren. Außerdem wurde die „Erb- und Rassenpflege“ als Teil der Abteilung Erhaltung des Lebens nicht übernommen, obwohl auch in der Wanderausstellung auf die nationalsozialistische Erbgesetzgebung hingewiesen und diese als rationale Schlussfolgerung aus der Biologie des Menschen dargestellt wurde. Einerseits waren solche Veränderungen eher typisch für Wanderausstellungen, die vom Deutschen Hygiene-Museum konzipiert wurden. Andererseits trugen solche Veränderungen dazu bei, Narrative zu konstruieren, die sich von derjenigen der Reichsausstellung unterschieden. Diese Unterscheidung war in den nichtdeutschen Versionen, die fast ausnahmslos auf Materialien aus der Halle Die Lehre vom Leben basierten, am stärksten.28 In diesem Sinne fungierte die ausländische Wanderausstellung vor allem als eine Art „sanfte“ Propaganda.29 Damit meine ich, dass sie rassenhygienische Ideen befördern sollte, insbesondere die Vorstellung von der Rassentrennung und der Überlegenheit der „arischen“ Rasse gegenüber anderen. Aber sie tat dies indirekt: erstens dadurch, dass sie die Professionalität der deutschen Gesundheitsaufklärung durch eine Reihe von verblüffenden, streng wissenschaftlichen und dennoch verspielten Exponaten unter Beweis stellte, und zweitens dadurch, dass sie überdeutlich die Bereitschaft des nationalsozialistischen Deutschlands ankündigte, diese Art von „Aufklärung“ auch mit denjenigen zu teilen, die sich unter deutscher Okkupation befanden. In der Krakauer Zeitung war in 28 Siehe für die Wanderausstellung an verschiedenen Orten die Fotobände in der Sammlung des Deutsches Hygiene-Museums (2006/311, 2006/333, 2006/389, 2006/391, 2006/392, 2006/334 und 2006/390). 29 Ich verwende diesen Begriff ähnlich wie Greg Castillo in seiner Debatte um „sanfte Macht“ im Kontext des Kalten Krieges. Greg Castillo 2010: Cold War on the Home Front. The Soft Power of Midcentury Design. Minneapolis: University of Minneapolis Press.

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diesem Zusammenhang von „einem fremden, vor kurzem noch feindlichen Volkstum“ zu lesen, das mit der Station der Ausstellung 1941 in der Hauptstadt des Generalgouvernements adressiert wurde, kurz nachdem man sich den vorher sowjetischen Distrikt Galizien auch noch einverleibt hatte.30

Spieltrieb im Gefolge von Das Wunder des Lebens Trotz des erstaunlichen allgemeinen Erfolgs der Ausstellung Das Wunder des Lebens zeigten spätere Gesundheitsausstellungen im Nationalsozialismus, an denen das Deutsche Hygiene-Museum beteiligt war, weit weniger Exponate, die an den Spieltrieb der Zuschauer appellierten, was darauf hindeutet, dass die Verspieltheit der Abteilung Die Lehre vom Leben letztlich ein Übergangsphänomen war. Das lag vor allem an der größeren ideologischen Willfährigkeit des Museums seit Ende 1935, als mit Verabschiedung einer neuen Satzung der Prozess der Gleichschaltung abgeschlossen wurde. Nach der Ausstellung Das Wunder des Lebens in Berlin wurde Gebhard durch das Deutsche Hygiene-Museum entlassen.31 Michael blieb dagegen am Deutschen Hygiene-Museum. Tatsächlich gab es noch eine Ausstellung, die das Konzept des Spiels von Das Wunder des Lebens um eine neue Dimension erweiterte. Es handelte sich um die sogenannte Halle der Selbsterkenntnis, die erstmals in der Reichsausstellung Gesundes Leben – Frohes Schaffen im Herbst 1938 ebenfalls auf dem Messegelände in Berlin gezeigt wurde, bevor sie in verschiedene Wanderausstellungen, so auch in Das Wunder des Lebens, integriert wurde. Diese Halle, die unter dem Motto „Der Mensch am Prüfstand“ stand, zeichnete sich durch eine Reihe interaktiver Teststationen aus, mit denen die Besucher Gesundheitsparameter wie Puls, Hebekraft und Fingerstärke messen sollten und von denen viele wie Spielautomaten präsentiert wurden. Doch die Rolle dieses Ensembles unterschied sich grundlegend von der Rolle der Apparate und Exponate in Die Lehre vom Leben, obwohl wiederum Michael für diesen Raum verantwortlich war.32 Während Die Lehre vom Leben interaktive Exponate zu Demonstrationszwecken hier und da mit Detailinformationen über die Arbeitsweise einzelner Organe verband, stellte die Halle der Selbsterkenntnis die Apparate um ihrer selbst willen aus, ohne zusätzliche Instruktionen darüber, wie der menschliche Körper eigentlich funktioniert. Das bedeutete letztlich, dass

30 Von der Zelle bis zum lebenden Körper. Krakauer Zeitung, 28. September 1941. 31 Gebhard 1976: 88 f., 108–120. Trotz seiner Entlassung wirkte Gebhard jedoch noch für das Messeamt u.a. an der Olympiaausstellung Deutschland von 1936 mit, bevor er in die USA emigrierte. 32 Herbert Michael: Du! – Das Wunderwerk des Körpers am Prüfstand. In: Gemeinnützige Berliner Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrs-G.m.b.H. (Hg.): Amtlicher Katalog für die Ausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“. Berlin: Ala, 111–114.

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sich der Schwerpunkt von der Vermittlung von Wissen über den menschlichen Körper auf die Messung und Optimierung der Körperleistungen der Besucher verschob.33

Die Hall of Man in der New Yorker Weltausstellung 1939/40 Auch wenn sich die Nutzung des Spieltriebs der Zuschauer für die Aneignung des Wissens über Körperfunktionen nach Das Wunder des Lebens im nationalsozialistischen Deutschland verändert hatte, hatte dieser Aspekt Auswirkungen auf Ausstellungen außerhalb Deutschlands, vor allem in den Vereinigten Staaten. Während es dort eine lange Tradition gab, für die Vermittlung von Wissen über gesundheitliche Fragen an ein breites Publikum auf Humor und interaktive Installationen zu setzen, verstärkte sich das Interesse daran Mitte der 1930er-Jahre aufgrund der beträchtlichen Aufmerksamkeit vonseiten der US-amerikanischen Presse, die die Reichsausstellung Das Wunder des Lebens auf sich zog, und weil Gebhard nach seiner Ankunft in den USA 1937 intensiv an der Durchführung von Gesundheitsausstellungen beteiligt war.34 Die spezielle Abfolge von spielerisch gestalteten Exponaten, die Das Wunder des Lebens kennzeichnete, beeinflusste am unmittelbarsten diejenigen Veranstaltungen, die Mitte bis Ende der 1930er-Jahre vom American Museum of Hygiene (auch American Museum of Health genannt) durchgeführt wurden, einer New Yorker Institution, die sich seit den frühen 1930er-Jahren im Planungsstadium befand und schließlich 1943 vor allem aufgrund des Krieges aufgelöst wurde. Das Museum, in dessen Beirat Gebhard Mitglied war, organisierte eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Ausstellungen, deren wichtigste Exponate aus der Abteilung Die Lehre vom Leben aus Das Wunder des Lebens stammten. Der Grund dafür war, dass der Oberländer Trust, eine Stiftung zur Förderung der deutschamerikanischen Beziehungen, dem Deutschen Hygiene-Museum – wahrscheinlich auf Gebhards Veranlassung hin – eine große Anzahl von Dubletten abkaufte und sie dem American Museum of Hygiene als Leihgabe zur Verfügung stellte. Letzteres zeigte diese Exponate zunächst in einer temporären Ausstellung im Museum of Science and Industry im Rockefeller Center und kurz darauf in der Hall of Man der New Yorker Weltausstellung von 1939/40, die Gebhard mitgestaltete. Diese Ausstellungsstücke tauchten dann wieder im neuen Cleveland Health Museum auf, dessen Direktor Gebhard 1940 wurde. Zur selben Zeit verteidigte Gebhard die spielerische Darstellungsweise in seinen Vorträgen und Schriften weitaus offener. Beispielsweise berief er sich in seinem Vortrag „The German Hygiene Museum. Its Origin and Work“, den er im Oktober 1937 auf einer 33 Zum gesundheitspolitischen Zusammenhang zwischen der Halle der Selbsterkenntnis von 1938 und den zeitgleichen Reihenuntersuchungen der Arbeiterschaft sowie innerhalb der Wehrmacht, Hitlerjugend und NS-Eliteorganisationen siehe den Beitrag von Sybilla Nikolow in diesem Band. 34 Bruno Gebhard 1968: From the Dresden Hygiene Museum to the Cleveland Health Museum. Ohio State Medical Journal, 64, 1134–1136 und Gebhard 1976.

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Tagung unter Federführung des American Museum of Hygiene hielt, erneut auf die Nutzung des Spieltriebs bei den Besuchern und führte Das Wunder des Lebens als Musterbeispiel an: It pays to choose a middle way between entertainment and education. Somehow we must appeal to the child which, according to Nietzsche, is in every man. We must capitalize [on] the play instinct, whether it be by providing something to turn or a button to push or a means of measuring the lung capacity. When feasible and if a progression of some sort is to be shown, something should be in motion, or something should light up […]. Since the eye is strongly appealed to we should keep in mind also the sensibility of the ear and fortify sight with hearing, as for example, by the use of a bell tower in the exposition “Das Wunder des Lebens”.35

Obwohl die von Gebhard zur Sprache gebrachten Ideen in keiner Weise wegweisend waren, werfen solche Bemerkungen die Frage auf, wie sich das politische Interesse, den „play instinct“ des Zuschauers zu nutzen, veränderte, als er versuchte, dies im Kontext der US-amerikanischen Gesundheitsaufklärung zu tun. Dazu möchte ich mich abschließend kurz der Hall of Man zuwenden. Diese Halle war ein rechteckiger, offener Raum mit etwa einem Dutzend Untergruppen, in denen buchstäblich Hunderte von Objekten gezeigt wurden, die mit denen aus der Abteilung Die Lehre des Lebens identisch waren (zum Beispiel die Tafel mit der humorvollen Beschreibung des Verdauungsvorgangs, verschiedene übergroße Körperteile und auch Testgeräte wie zum Beispiel ein Spirometer, das die Lungenvolumen des Zuschauers maß).36 Das Wiederauftauchen dieser Exponate war im Prinzip ein Beleg für Gebhards Interesse an der Nutzung des Spieltriebs des Publikums: vor allem durch die Bevorzugung dreidimensionaler, interaktiver Objekte, das Ansprechen des Tast- und Hörsinns der Besucher und manchmal sogar ihres Geruchssinns, um das, was der Betrachter sah, zu verstärken und zu bereichern,37 und durch eine ausgesprochen humorvolle Umsetzung der Ausstellungen. Außerdem blieb die grundsätzliche Motivation für das Appellieren an den Spieltrieb der Besucher mehr oder weniger die gleiche: vereinfacht 35 Bruno Gebhard 1937: The German Hygiene Museum. Its Origin and Work. In: The Edited Proceedings of a Conference Held under Auspices of the Committee on American Museum of Hygiene of the American Public Health Association, 9–12, hier 12, Hervorhebung von mir (Dittrick Medical History Center, Case Western University, Bruno Gebhard papers, box 3, folder II–43). Gebhards Verweis auf Nietzsche ist eine Anspielung auf dessen bekannten Satz „in ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen“ (Friedrich Wilhelm Nietzsche 1897: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Leipzig: Naumann, 96). 36 Siehe American Museum of Health (Hg.) 1939: Man and His Health. New York World’s Fair 1939. New York: Exposition Publications. 37 Der Geruchssinn des Zuschauers wurde zum Beispiel durch einen sogenannten Riechtisch angesprochen, an dem sich der Zuschauer – umgeben von Tafeln, die erklärten, wie die menschliche Nase funktioniert – vorbeugen und sechs verschiedene Gerüche (z.B. faulig, blumig, würzig) riechen konnte. Siehe zum Riechtisch auch den Hinweis im Beitrag von Sybilla Nikolow.

Die Ausstellung Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin und ihr Nachleben

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gesagt, sie dazu zu ermutigen, sich zum Wohle der „Gemeinschaft“ aktiver für die eigene Gesundheit zu interessieren. Dennoch lag ein zentraler Unterschied zwischen Das Wunder des Lebens und der Hall of Man in der Art und Weise, wie Letztere eine wesentlich andere Vision von Gemeinschaft artikulierte. Abb. 11: Eingang der Hall of Man (Weltausstellung in New York 1939/40), links außen das Modell des Gläsernen Menschen (Dittrick Medical History Center Archives, Cleveland; Bruno Gebhard papers, GF 13–12).

Abb. 12: Ausstellungsmotiv für Das Wunder des Lebens von Herbert Bayer, (Deckblatt der populären Broschüre von 1935, The Wolfsonian-Florida University, Miami).

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In gewisser Weise begann die Hall of Man ähnlich wie Das Wunder des Lebens (Abb. 11). Zum Beispiel trafen die Besucher in der Nähe des Eingangs unter den vielen Exponaten, die der Oberländer Trust vom Deutschen Hygiene-Museum erworben und dann an das American Museum of Hygiene ausgeliehen hatte, auf ein Modell des Gläsernen Menschen.38 Wie 1935 in Berlin stand der Gläserne Mensch hier dramatisch beleuchtet in der Nähe eines Zitats von Augustinus. Außerdem befand er sich wie damals ganz in der Nähe eines monumentalen Wandbildes: in diesem Fall zeigte es den riesigen Umriss eines Mannes auf der dahinterliegenden Wand. In der Berliner Eingangshalle betonte es jedoch durch die Wahl des Adlers das Deutschtum des kollektiven Körpers der Volksgemeinschaft und unterstrich durch die vielen identisch gestalteten Körper, die sich zum Adler fügten, die Auflösung der Individualität und der körperlichen Differenz. Im Gegensatz dazu entschied man sich in der Hall of Man für eine einzelne menschliche Figur im klassischen Stil, die stellvertretend für alle Menschen stand. Diese Figur hatte eine unheimliche Ähnlichkeit mit derjenigen auf dem von Herbert Bayer gestalteten Umschlag der populären Broschüre zu Das Wunder des Lebens, nur dass sie in diesem Fall übergroß und mit ausgestreckten Händen dargestellt war, wie um gleichzeitig die Größe und Fähigkeit der Menschheit zur Inklusion aller Erdenbürger zu betonen (Abb. 12).39 Wie Bayers Figur, deren oberer Rumpf von einem roten Schleier eingefärbt war, zeichnete sich die monumentale Figur in der Hall of Men durch ein orangefarbenes Herz aus, das synchron mit einem von Tonband eingespielten Herzschlag angeblich pulsierte. Diesem Ton, den die Besucher hörten und viele wegen der von ihm erzeugten Vibrationen vermutlich auch spürten, trug ziemlich wörtlich dazu bei, die Körper der Betrachter miteinander und letzten Endes mit der riesigen männlichen Figur auf der Wand hinter dem Gläsernen Menschen zu verbinden. In dieser Hinsicht erinnerte die Halle an die verschiedenartigen Versuche von Das Wunder des Lebens, die Besucher in Aufführungen von Gemeinschaft hineinzuziehen, für die das kollektive Sehen und Hören des Glockenturms im Glockenhof nur ein Beispiel ist. Der Universalmensch mit ausgestreckten Händen war symptomatisch für das allgemeinere Interesse, den Gedanken des Volkskörpers innerhalb eines US-amerikanischen Kontextes zu veranschaulichen, jedoch auf eine Weise, die das Volk eher als universale Gemeinschaft und nicht als einzelne Nation oder rassische Gruppe verstand. Dieses Interesse wurde durch andere Objekte in der unmittelbaren Umgebung wie den gigantischen Globus direkt rechts von dem riesigen menschlichen Umriss zugleich verdeutlicht und bekräftigt. Im Prinzip appellierte dieser Globus durch seine enorme Größe, die automatische Rotation und seine farbige, strukturierte Außenseite an den Spieltrieb des Zuschauers. Er veranschaulichte durch stecknadelähnliche Punkte verschiedener 38 Bruno Gebhard 1943: The Cleveland Health Museum. The American-German Review, X, 2: 29–30. 39 Das Wunder des Lebens. Ausstellung Berlin 1935. 13. März bis 5. Mai. Ausstellungshallen am Kaiserdamm. Prospektgestaltung: Herbert Bayer. Berlin: Mercochrom Tiefdruck Riffarth & Co. Meisenbach A.G. 1935.

Die Ausstellung Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin und ihr Nachleben

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Farbe, die seine Oberfläche bedeckten, auch den Standort und die Bevölkerungsdichte verschiedener Völker der Erde. Auf diese Weise erfüllte das Objekt technisch dieselben Funktionen wie der Globus, der in Die Lehre vom Leben gezeigt wurde. Doch in diesem früheren Raum trug er unter Umständen dazu bei, weitergehende Behauptungen, wie dass das deutsche Volk ein Volk ohne Raum war – Behauptungen, die sowohl an anderer Stelle in der Ausstellung als auch in der Nazi-Rhetorik allgemein artikuliert wurden –, zumindest implizit zu untermauern.40 Jedenfalls waren die deutschen Besucher wahrscheinlich beeindruckt von der hohen Bevölkerungsdichte in Europa im Vergleich zu der geringeren auf anderen Gebieten der Erdkugel, die völlig frei von Punkten oder nur sehr viel weniger markiert waren (zum Beispiel Afrika). Im Gegensatz dazu trug der Globus in der Hall of Man dazu bei, die Rassenvielfalt der Vereinigten Staaten zu veranschaulichen – die zentrale Botschaft der bevölkerungswissenschaftlichen Abteilung, die hinter dieser Präsentation steckte.

US-amerikanische Diversität und Spieltrieb Der anscheinend utopischen Botschaft der Inklusion fehlte es in der New Yorker Weltausstellung von 1939/40 jedoch auch nicht an einer nationalistischen Tendenz. Nehmen wir zum Beispiel den Titel des Globus. Während „We, the people“ sich auf die Einigkeit des Volkes auf der ganzen Welt beziehen kann, ging die Wortwahl auch auf die Präambel zur Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten zurück (“We the People of the United States, in order to form a more perfect union …”), eine Ambivalenz, die den Gedanken eines einträchtigen Zusammenlebens der Völker in der Welt mit der amerikanischen Demokratie verschmelzen sollte. In ähnlichem Stil verwendete die bevölkerungswissenschaftliche Abteilung direkt hinter dem Globus farbenfrohe, leicht zu lesende Zahlenbilder, um das hohe Zuwanderungsniveau der Vereinigten Staaten zu dokumentieren – ein weiteres Verfahren, um die Vereinigten Staaten als eine Art Welt im Kleinen darzustellen. Doch die Ausstellung konzentrierte sich auf die Geburts- und Zuwanderungsraten von Menschen aus anderen Staaten, insbesondere europäischen41, und überspielte damit erfolgreich die Spannungen zwischen den Rassen in der eigenen Nation. Sie wären beschworen worden, wenn man zum Beispiel die jeweilige Bevölkerungsdichte von weißen und schwarzen US-Amerikanern oder die großen demografischen Verschiebungen nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) und den vielen „Jim-CrowGesetzen“ seit Ende des 19. Jahrhunderts grafisch dargestellt hätte oder wenn man 40 Die Beschreibung des ursprünglichen Zwecks des Globus entnehme ich dem Katalog der Ausstellung Das Leben in Essen, einer Version der auf Das Wunder des Lebens basierenden Wanderausstellung (Ausstellung für Volksgesundheit Das Leben, Essen 1936: Amtlicher Führer. Essen: NationalZeitung 1936, 24). 41 Margaret Manson 1940: Your Health. A Guide to the New York City World’s Fair. New York: American Museum of Health, 21.

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erklärt hätte, dass die „Expanding Frontiers“, die auf einer der großen Karten markiert waren, aus der massenhaften Verdrängung und Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner resultierten. Dass die bildliche Darstellung US-amerikanischer Diversität dermaßen selektiv war, ist natürlich keine große Überraschung: Dies war nicht der Ort, um die Rassenprobleme des Gastgeberlandes der Weltausstellung kritisch zu beleuchten. Ebenso wenig erstaunt es, dass Gebhard weitere ähnliche Objekte und Strategien von Das Wunder des Lebens in New York mit anderer Zielsetzung verwendete. Denn die Hall of Man war nicht nur für ein Publikum gedacht, das eher aus internationalen Besuchern bestand, was teilweise erklären könnte, warum in diesem Raum versucht wurde, die rassische und kulturelle Diversität der Vereinigten Staaten in den Vordergrund zu stellen. Ebenso bedeutsam ist, dass der nationalistische Impetus, der in dieser Halle und in der gesamten Ausstellung zu spüren war, die ideologischen Interessen, die die nationalsozialistischen Veranstaltungen stützten, nicht umfasste. Was an der Hall of Man dennoch bemerkenswert zu sein scheint, ist die Anpassungsfähigkeit der Objekte und visuellen Strategien, die von Das Wunder des Lebens übernommen wurden. Denn im Gegensatz zu dieser früheren Ausstellung, die spielerische Elemente als Mittel verwendet hatte, um die Besucher auf eine zunehmend nationalistische und rassistische Vision von Volksgemeinschaft einzustimmen, artikulierte die Hall of Man eine stark inklusive Vision von nationaler Gemeinschaft. Dies geschah zum Teil dadurch, dass sie ähnliche Methoden zur Ausstellungsgestaltung verwendete, wie aufsehenerregende Exponate, performative Erlebnisse des Betrachters und die Überlagerung seiner Sinneseindrücke, um die visuelle Wahrnehmung zu unterstützen. Überdies ergab sich die politische Aufladung dieser Vision von Gemeinschaft anders als in Das Wunder des Lebens weniger aus einem sorgfältigen Austarieren der ideologischen Verweise in den verschiedenen Hallen oder aus formalen, konzeptuellen und emotionalen Überschneidungen von Räumen, nicht zuletzt dadurch, dass die Hall of Man als eine einzelne Halle konzipiert war. Das politische Interesse der Gemeinschaftsvision in dieser Abteilung – und letzten Endes ihrer Verwendung von spielerischen Mitteln zu ihrer Artikulation – beruhte auf dem Ausschluss von Materialien, die die Aufmerksamkeit auf die rassebedingte Ungleichheit in den Vereinigten Staaten hätten lenken können. Oder anders gesagt: Wenn das politische Interesse eines spielerisch gestalteten Raums sich immer aus dem Rahmen ergibt, in den es gestellt wird, wie aus der Ausstellungsrhetorik, den formalen Eigenschaften der Objekte und dem Bezug der Räume untereinander, dann beruhte diese Zusammensetzung auf einer Auslassung. Übersetzung aus dem Amerikanischen durch Sylvia Zirden.

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„Die Fülle des Ausstellungsmaterials allgemeinverständlich zusammenfassen …“1. Populäre Führer im Medienensemble der Ausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums

Unter den Formen öffentlicher Wissensvermittlung im „Jahrhundert des Auges“ ist die Ausstellung als Sammelsurium verschiedener Visualisierungsstrategien ein ebenso naheliegendes wie schwer fassbares Medium. Nicht nur müssen Organisation und Vorgeschichte der Veranstaltung rekonstruiert, ihr Erfolg beim Publikum eingeschätzt und die gezeigten Inhalte kontextualisiert werden. Rückblickend gilt es auch, die Quellen, die über das Ereignis Auskunft geben, in ihrer Heterogenität zu begreifen. Deshalb soll an dieser Stelle ein Teilmedium betrachtet werden, das zwar häufig zur Auswertung der Inhalte von Ausstellungen genutzt wird, bisher jedoch kaum eigenständig wahrgenommen wurde: die populären Ausstellungsführer. Sie sind historiografisch vor allem in ihrem Wechselspiel mit anderen, stärker visuellen Quellen, die die Ausstellungen uns hinterlassen haben, von Bedeutung. „Die Fülle des Ausstellungsmaterials allgemeinverständlich zusammenfassen“, das war der selbst formulierte Anspruch der meisten populären Führer des Deutschen Hygiene-Museums im 20. Jahrhundert. Die kleinen Hefte waren im Gegensatz zu den amtlichen oder offiziellen Führern2 leicht und billig. Sie boten die Möglichkeit, das in der Ausstellung zusammengetragene Wissen buchstäblich mit nach Hause zu nehmen. Die populären Begleitschriften der Dresdner Institution und ähnlicher Einrichtungen stellen jedoch mehr dar als eine bloße Verschriftlichung des Gesehenen, die der Besucher zur Gedächtnisauffrischung nutzen sollte.3 Es handelt sich vielmehr um ein Druck1 Deutsches Hygiene-Museum Dresden (Hg.) 1952: Die Frau. Eine allgemeinverständliche Darstellung für den Ausstellungsbesucher. Dresden, 3. 2 Die vor allem vor 1945 verbreiteten „offiziellen Führer“ werden aufgrund der guten Überlieferungssituation häufiger historiografisch genutzt. Sie waren deutlich umfangreicher als die „populären Führer“ und richteten sich eher an ein Fachpublikum. Vgl. Gemeinnützige Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrs-GmbH (Hg.) 1933: Die Frau in Familie, Haus und Beruf. Amtlicher Katalog und Führer. Berlin, sowie Gemeinnützige Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrs-GmbH (Hg.) 1938: Amtlicher Katalog für die Ausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“. Berlin: Ala. 3 Meines Wissens gibt es bisher keine systematische Untersuchung dieser Gattung. Die Beschäftigung mit den populären Führern des Deutschen Hygiene-Museums ist im Zusammenhang mit meinem

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Erzeugnis eigener Art, das enger mit der Gattung des populären Sachbuchs4 als mit dem Ausstellungsmedium an sich verwandt war. Ihre Geltung reichte weit über die jeweilige Ausstellung hinaus. Deshalb stellt sich die Frage nach der besonderen Ratio dieser eher sparsam illustrierten Popularisierungsmedien. Galten für die gedruckten Publikationen andere Sag- und Zeigbarkeitsregeln als für die Inszenierungen in den Ausstellungen, soweit wir diese heute anhand von Bilddokumenten und anderen Quellen nachvollziehen können? Welche inhaltlichen, bildlichen und sprachlichen Differenzen lassen sich aufzeigen? Und wie verändert sich der historische Blick auf die Ausstellung, wenn die populären Begleitpublikationen in die Analyse des medialen Ensembles einbezogen werden? Waren Inhalte des einen Mediums auch ohne die Ergänzung des anderen zu erschließen oder ergab sich erst in der parallelen Betrachtung von Ausstellung und Führer das angestrebte Gesamterlebnis? Anhand der populären Begleitschriften zu zwei Ausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird im Folgenden versucht, erste Antworten auf diese Fragen zu geben.

Textliche Anreicherung von Merkbildern: Geschlechtskrankheiten. Verhütung und Heilung (1946–1948) Mein erstes Beispiel stammt aus der ersten Sonder- und Wanderausstellung des Deutschen Hygiene-Museums nach dessen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Sie wurde in Dresden vom 9. März bis zum 22. April 1946 gezeigt. Die Organisatoren waren bei der Gestaltung auf billigste Materialien und Improvisation angewiesen. Nichtsdestotrotz fand die Veranstaltung eine enorme Verbreitung, da sieben Kopien der Sonderausstellung angefertigt und auf Wanderschaft geschickt wurden. Von 1946 bis 1948 wurden sie parallel in rund 160 Städten und Dörfern der sowjetischen Besatzungszone gezeigt, wo

Dissertationsprojekt „‚Da werden Weiber zu Hygienen!‘ Geschlecht in der Sexualaufklärung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden im 20. Jahrhundert“ entstanden, das ich seit 2011 an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology bearbeite. Ich danke den Teilnehmern der internationalen Konferenz „‚Erkenne Dich selbst!‘ Sichtbarmachungsstrategien des Körpers in der Arbeit des Deutschen Hygiene-Museums im 20. Jahrhundert“ vom 19. bis 21. September 2013 in Dresden und insbesondere der Arbeitsgruppe „Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums“ um Sybilla Nikolow an der Universität Bielefeld für hilfreiche Anregungen und Kritik. 4 Die Gattung des Sachbuchs, im Allgemeinen eine von Fachautoren für interessierte Laien geschriebene Publikationsform, definiert etwa Oels für die 1940er- und 1950er-Jahre wie folgt: Es handle sich um ein „unterhaltsames Lehrbuch“ für die „außerschulische Bildung und Ausbildung“, das nicht nur, aber vor allem für jugendliche Leser gedacht war: David Oels 2013: „… was ein Sachbuch eigentlich ist“. Arbeitsblätter für die Sachbuchforschung, 20 (http://www.sachbuchforschung.unimainz.de/wp-content/uploads/Was-ein-Sachbuch-eigentlich-ist.pdf, letzter Zugriff am 17. Dezember 2013); vgl. auch Andy Hahnemann und David Oels (Hg.) 2008: Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Peter Lang.

Populäre Führer im Medienensemble der Ausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums

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sie jeweils nur wenige Tage Station machten.5 Bis 1948 sahen auf diese Weise 700.000 Besucher die Ausstellung. Der zur Ausstellung gehörige Führer wurde 1946 von dem Dresdner Dermatologen Karl Linser unter dem Titel Geschlechtskrankheiten. Verhütung und Heilung. Eine gemeinverständliche Darstellung für den Ausstellungsbesucher veröffentlicht.6 Bei diesem 57 Seiten umfassenden Heft handelte es sich um eine gekürzte und mit nur wenigen Zeichnungen ausgestattete Fassung ausgewählter Kapitel aus seinem bereits 1942 im hauseigenen Verlag erschienenen Sachbuch Die Geschlechtskrankheiten. Es erschien zeitgleich mit der Wanderausstellung 1946 in einer leicht überarbeiteten Neuauflage.7 Der populäre Führer und die zweite Auflage des Sachbuchs wurden während der Ausstellung zu „einem billigen Preis“8 zum Verkauf angeboten, von ersterem wurden 1946 111.677 Exemplare verkauft, von letzterem 12.677. Bei einer Gesamtbesucherzahl von 375.605 Personen in diesem Jahr dürfte also ein knappes Drittel der Besucher eine Broschüre mit nach Hause genommen haben. Berücksichtigt man, dass pro Familie vermutlich nur ein Heft erstanden wurde, ergibt sich eine noch größere Reichweite. Welche konkreten Erwartungen knüpften die Ausstellungsmacher an die Publikation des populären Führers? Wie wurde das Verhältnis zwischen Lektüre und Rundgang bewertet? Auskunft darüber gibt ein Bericht des Deutschen Hygiene-Museums über die Durchführung der Wanderausstellung. Dort ist zu lesen, dass der populäre Führer „den Inhalt der Ausstellung im Wesentlichen wiederholt“.9 Der Wert der Ausstellung, so erläuterte ihr wissenschaftlicher Leiter Rudolf Neubert, liege insbesondere darin, […] dass bei der visuellen Veranlagung der meisten Menschen ein gesehenes Bild vielmehr Eindruck macht und viel fester im Gedächtnis haftet, als das Wort allein. Auf den Tafeln der Ausstellung sind ja Bild und Wort in einen erprobten Zusammenhang gebracht. Es sind die Mittel der Reklame, die hier einmal nicht für einen Gegenstand, sondern für eine volkshygienische Forderung eingesetzt werden.10

5 Vgl. Bericht des Hygiene-Museums Dresden über die Durchführung der Wanderausstellung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Jahre 1946 (Sächsisches Staatsarchiv-Hauptstaatsarchiv Dresden [im Folgenden SStA-HStAD], 13658, Nr. 46/1). 6 Karl Linser 1946: Geschlechtskrankheiten. Verhütung und Heilung. Eine gemeinverständliche Darstellung für den Ausstellungsbesucher. Dresden. Linser war seit 1926 in einer Gemeinschaftspraxis mit Eugen Galewsky tätig, der seit der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 für die Aufklärung des Deutschen Hygiene-Museums über Geschlechtskrankheiten verantwortlich zeichnete. Nach 1933 übernahm Linser nicht nur die Praxis seines jüdischen Kollegen, sondern auch Galewskys Funktion des Experten für Geschlechtskrankheiten am Museum. 7 Karl Linser 1946: Die Geschlechtskrankheiten. Ihre Gefahren für Familie und Volk, ihre Behandlung und Bekämpfung [= Leben und Gesundheit, 1]. Dresden: Verlag des Deutschen Hygiene-Museums [1. Aufl. 1942]. 8 Vgl. Anm. 5. 9 Ebd. 10 Rudolf Neubert: Die Wanderausstellung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, 4. Juli 1946 (SStA-HStAD, 13658, Nr. 46/1, unpag.).

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Die Erwartung des Museums an diese Ausstellung bestand darin, durch die geschickte Verknüpfung von Bild und Text in den Exponaten (vor allem den Schaubildern) eine besonders einprägsame Vermittlung der Wissensbausteine zu leisten. Der populäre Führer scheint dagegen die Aufgabe gehabt zu haben, das Gesehene in Textform zu wiederholen.

Die Ausstellung Nicht zuletzt durch ihre spezifische Vermittlungsstrategie sollte diese erste Nachkriegsausstellung des Hauses einen Neuanfang für das Deutsche Hygiene-Museum markieren. Neubert notierte in einer hausinternen Anmerkung im Einzelnen: In der Darstellung sind neue Wege gegangen worden. Alles ist schlichter und einfacher, als es früher im Hygiene-Museum üblich war. […] Es gibt kein Glas, man kann keine elektrischen Apparate, keine Modelle bauen. Zum anderen Teil ist es aber innerlich bedingt. […] Es wird weniger Wissensstoff geboten als früher, vor allem weniger anatomischer und pathologischer. Dafür ist verstärkt alle praktische Hygiene. Wir müssen unseren Besuchern sagen, was sie tun sollen und welche Maßnahmen der Öffentlichkeit sie unterstützen sollen.11

Für ihre grafische Gestaltung setzte Neubert unter anderem auf einen alten Bekannten: den Künstler Rudolf Kramer, der – wie Neubert selbst – bereits in der Weimarer Republik für das Deutsche Hygiene-Museum tätig gewesen war. Kramers Ausstellungstafeln entsprechen ersichtlich Neuberts Aussage, dass mit der Ausstellung einfache Botschaften der Krankheitsprävention transportiert werden sollten.12 Die gezeichneten Aussagen auf den Schaubildern besaßen alle einen deutlich emotionalisierenden und moralisierenden Zug. Im ersten Teil der Ausstellung waren düstere, stark schattierte Bilder zu sehen. Die darin enthaltenen, sich vielfach wiederholenden Merksätze und die dramatisch anmutenden Sinnbilder erzeugten den Eindruck einer dringenden Handlungsnotwendigkeit in höchster Gefahr. Beispielsweise demonstrierte das elfte Schaubild die mannigfaltigen Wege, auf denen es auch ohne eigenes Verschulden zu einer Infektion kommen konnte (Abb. 1a). Auf der Tafel gleich daneben erklärte der begleitende Text, wie die gezeichnete Situation eines ertrinkenden Mannes zu interpretieren war: „Anders bei den Geschlechtskrankheiten. Nur wer sich leichtsinnig in Gefahr begibt, steckt sich an. Nur wer vom Wege der Vernunft abweicht, versinkt im Sumpf der Krankheit.“ (Abb. 1b)

11 Rudolf Neubert: Anmerkungen zur Ausstellung „Geschlechtskrankheiten“, undatiert (ebd.: 12741, Nr. 140, unpag.). 12 Fotodokumentation der Ausstellungstafeln und Moulagen der Wanderausstellung Geschlechtskrankheiten – Verhütung und Heilung (1946), Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden (im Folgenden S-DHMD), 2013/483, 112 Motive.

Populäre Führer im Medienensemble der Ausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums

Abb. 1a und 1b: Tafel Nr. 11 und 12 aus der Ausstellung Geschlechtskrankheiten. Verhütung und Heilung (1946), Fotodokumentation (S-DHMD, 2013/483.11 und 2013/483.12).

Abb. 2: Eingangs­ triptychon der Ausstellung Geschlechtskrankheiten. Verhütung und Heilung (1946), Fotodokumentation (S-DHMD, 2013/483.1, 2013/483.2 und 2013/483.3).

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In den insgesamt 31 Tafeln des ersten Teils wurden die einzelnen Aussagen immer wieder auf das Motto des Eingangstriptychons zurückgeführt (Abb. 2). Darauf war im üblichen Dreiklang der Gesundheitsaufklärung aus Phänomenbeschreibung, Verhaltensregeln und Heilungsversprechen zu lesen: „Geschlechtskrankheiten sind ansteckend!“, „Geschlechtskrankheiten sind vermeidbar!“, „Geschlechtskrankheiten sind heilbar!“. Die Ansteckungsgefahren sollten erkannt und wirksam gemieden werden. Die Besucher wurden an ihre Eigenverantwortung erinnert und ermahnt, auf die ärztliche Expertise zu vertrauen. Erst nach diesem beklemmenden Beginn wurden die Besucher in medizinische Besonderheiten einzelner Geschlechtskrankheiten eingeweiht. Eine Kernkompetenz des Deutschen Hygiene-Museums, mit der sich diese Institution in der Weimarer Republik professionalisiert hatte, war die populäre Vermittlung lebenswissenschaftlicher Sachverhalte und Erkenntnisse. Veranschaulicht wurden die Krankheitsvorgänge im Körper durch stark schematisierte Darstellungen, mikroskopische Abbildungen sowie Fotografien und Zeichnungen und durch Wachsmoulagen von betroffenen Organen. Statistische Schaubilder fehlten in dieser Ausstellung fast völlig. Der dritte Teil der Ausstellung brachte schließlich Verhaltensleitlinien, deren Einhaltung helfen sollte, die Häufigkeit von Geschlechtskrankheiten zu verringern. Der erste und der dritte Abschnitt bildeten einen Rahmen um die eher knappen medizinischen Erläuterungen, in denen das individuelle Verhalten des Besuchers als mögliches Krankheitsrisiko herausgestellt wurde.

Der populäre Führer Betrachtet man Linsers Broschüre nun in Relation zu den Inhalten und Exponaten der Ausstellung, so wird – anders als von Neubert angekündigt – deutlich, dass der populäre Führer keineswegs nur eine reine Wiederholung der Inhalte darstellte. Zwar schickte auch Linser seinem Text eine moralisierende Einschätzung der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten voraus. Darin hob er (analog zur Ausstellung) beispielsweise den Alkoholkonsum und „die hemmungslose Betätigung des Geschlechtstriebes“13 als begünstigende Faktoren hervor. Im Vergleich zu den Schautafeln, die anhand der Fotodokumentation nachvollziehbar sind, erhielt dieser Teil jedoch einen weit weniger programmatischdidaktischen Charakter. Vielmehr orientierte sich Linsers Führer stärker an seinem ausführlicheren Sachbuch und setzte entsprechend mehr auf die Vermittlung von medizinischem als von hygienischem Wissen, auf Aspekte der Behandlung und Heilung mehr als auf solche der Verhütung. Er fasste dabei nicht die Ausstellung für die Besucher zusammen, sondern die Inhalte seines früheren, ausführlicheren Werks wurden für eine nachträgliche, vertiefte Beschäftigung mit dem Ausstellungsthema aufbereitet. Beispielsweise behandelt Linser die Geschlechtskrankheiten Tripper, Syphilis und Ulcus Molle wie im Sachbuch und orientiert sich dabei nicht an der Reihenfolge der 13 Linser 1946: Geschlechtskrankheiten – Verhütung und Heilung, 8.

Populäre Führer im Medienensemble der Ausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums

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Ausstellung. Dazu kommt, dass die Beschreibung von Symptomen, Ansteckungswegen und Therapien auch den deutlich größeren Teil des Heftes einnimmt. In der Darstellung der Stadien der Syphilis zeigt sich darüber hinaus beispielhaft die ergänzende und anreichernde Funktion des populären Führers im Unterschied zur Ausstellung. Dort wurden in den entsprechenden Tafeln und Wachsmoulagen die äußerlich sichtbaren Zeichen der Krankheitsstadien ausschnitthaft vorgeführt (Abb. 3a und 3b).

Abb. 3a: Tafel Nr. 71 der Ausstellung Geschlechts­ krankheiten. Verhütung und Heilung (1946), Fotodokumentation (S-DHMD, 2013/483.71).

Abb. 3b: Moulagen zur Demonstration des 2. Stadiums der Syphilis in der Ausstellung Geschlechtskrankheiten. Verhütung und Heilung (1946), Fotodokumentation (S-DHMD, 2013/483.110).

In der Broschüre beschrieb Linser den Krankheitsverlauf dagegen viel detaillierter und gab daneben Auskunft über weniger spezifische innere Erkrankungssymptome nach einer Syphilisinfektion. So war beispielsweise über das zweite Stadium zu lesen: Zunächst fehlen sichtbare Erscheinungen, doch merkt der Kranke, daß in seinem Körper etwas nicht in Ordnung ist. Er fühlt sich müde und abgeschlagen, ist schlecht gelaunt, klagt über Kopfschmerzen, die Gelenke tun ihm weh, er fröstelt leicht und hat zeitweise höhere Temperaturen. Eines Tages entdeckt er im Spiegel, daß sein Gesicht merkwürdig gefleckt aussieht.14

14 Ebd.: 38.

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Die Ausstellung präsentierte einprägsame Momentaufnahmen des Krankheitsbildes, die auf äußerlich unterscheidbare Stadien verwiesen und als Merkbilder eingesetzt wurden. Die Darstellung in der Broschüre gab dagegen einer eigenständigen erzählerischen Perspektive Raum. Linser nutzte ihn, um den Verlauf der Erkrankung als Entwicklung nachvollziehbar zu machen; dabei gab er auch Einblick in das somatische Innenleben des Kranken. Auch stellte Linser im populären Führer die verschiedenen Therapieansätze ausführlicher vor. So ließ er es sich im Abschnitt über die Behandlung des Trippers nicht nehmen, eine von ihm entwickelte Therapieform mittels Prontosil besonders anzupreisen. Auch andere Verfahren erläuterte er detailreich. In der Ausstellung wurden Behandlungsmöglichkeiten nur gestreift, das ärztliche Entscheidungs- und Behandlungsmonopol aber stärker betont. Wichtig war in der direkteren Form der Ausstellung gerade nicht die Vermittlung des präzisen Ablaufs verschiedener ärztlicher Maßnahmen, sondern die nachdrückliche Aufforderung an die Besucher, bei allen Abweichungen vom Normalzustand einen Arzt zurate zu ziehen. Während also die Verhaltensregeln zur Vorbeugung von Geschlechtskrankheiten in der Wanderausstellung, wie Neubert bekannte, „mit den Mitteln der Reklame“ im Gedächtnis der Besucher verankert werden sollten – was darauf hinauslief, emotional beeindruckende und die Aufmerksamkeit lenkende Bilder, kurze, wiederkehrende Merksätze und ausschnitthafte Darstellungen zu verwenden –, bot der populäre Führer von Linser seinen Lesern weit mehr als die bloße Wiederholung des Gesehenen. Es handelte sich vielmehr um ein eigenständiges Medium der Wissensvermittlung und im konkreten Fall um eine niedrigschwellige Fassung des früher erschienenen und neu aufgelegten umfangreichen Sachbuchs. Die Lektüre nach dem Besuch der Ausstellung bot eine Anreicherung des Stoffs mit weiteren medizinischen Details. Außerdem wurden dem Leser die Symptome im Kontext des Krankheitsverlaufs weniger isoliert präsentiert, was nicht zuletzt der Selbstbeobachtung des potentiell Erkrankten Vorschub leisten konnte. Das Beispiel zeigt, dass das Deutsche Hygiene-Museums seinen erklärten Anspruch, medizinisches Wissen für den Laien verständlich aufzuarbeiten, nicht nur mit visuellen Mitteln in Ausstellungen umzusetzen bemüht war. Die Aufgabe konnte auch der Textdarstellung in einem populären Führer übertragen werden. Der mediale Vorteil der Ausstellung, Merksätze durch die „erprobte“ Kombination aus Bild und Wort im Gedächtnis zu verankern, ließ sich, soweit dies kurz nach Kriegsende möglich war, auch auf diese Weise realisieren.

Räumliche und textliche Logiken: Die Frau in den 1950er-Jahren Eine weitere Veranstaltung, die die Rolle der populären Ausstellungsführer im Medienensemble des Deutschen Hygiene-Museums verdeutlichen kann, wurde nur wenige Jahre nach der gerade besprochenen Sonder- und Wanderausstellung der unmittelbaren

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Nachkriegsjahre organisiert: Die Frau. Sie wurde ab 1950 vor allem im sogenannten fahrbaren Pavillon gezeigt. Dieser konnte am Ausstellungsort aus sechs sternförmig positionierten Lastkraftwagen aufgebaut werden, indem deren Seitenteile ausgeklappt und verbunden wurden. Im Inneren des so entstandenen Pavillons wurde neben Tafeln, Präparaten und Modellen auch eine „Gläserne Frau“15 gezeigt. Schon im Frühjahr 1933 hatte das Museum mit einer stark beachteten wissenschaftlichen Sektion an einer gleichnamigen Großausstellung in der damaligen Reichshauptstadt teilgenommen. Doch im Unterschied zum oben beschriebenen Ausstellungsbeispiel handelte es sich bei Die Frau von 1950 bereits um eine komplette Neubearbeitung des Themas. Die Ausstellung wurde in den Folgejahren mehrfach überarbeitet, in zahlreiche sozialistische Staaten exportiert und gehörte neben der gleichzeitig laufenden Wanderausstellung Erkenne Dich selbst!16 zu den bekanntesten Präsentationen aus den Dresdner Werkstätten in diesem Jahrzehnt.

Der populäre Führer Das vom Museum herausgegebene Heft Die Frau. Eine allgemeinverständliche Darstellung für den Ausstellungsbesucher wurde nachweislich an den einzelnen Stationen der Wanderausstellung vertrieben.17 Im Vergleich zu früheren populären Führern ist diese Broschüre stärker bebildert und enthält sogar vier Seiten in Farbdruck.18 Das Schlüsselobjekt der Ausstellung, die Gläserne Frau, war als Silhouette auf dem Titel zu sehen, in der Broschüre selbst aber wurde sie nicht weiter erwähnt (Abb. 4).

Abb. 4: Titelbild des populären Führers zur Wanderausstellung Die Frau in der Ausgabe von 1952.

15 Zu den Gläsernen Figuren des Deutschen Hygiene-Museums vgl. auch den Beitrag von Christian Sammer in diesem Band. 16 Vgl. dazu auch den Beitrag von Sybilla Nikolow in diesem Band, in dem sie auf die Vorgängerausstellung eingeht. 17 Deutsches Hygiene-Museum Dresden (Hg.) 1952: Die Frau. Eine allgemeinverständliche Darstellung für den Ausstellungsbesucher. Dresden. 18 Vgl. etwa Martin Vogel 1928: Ernährungsführer. Dresden: Deutscher Verlag für Volkswohlfahrt sowie Marta Fraenkel 1932: Gesunde Frau – Gesundes Volk. Kurzer Leitfaden. Dresden: Deutscher Verlag für Volkswohlfahrt.

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Auch in dieser Begleitschrift wurde die Möglichkeit genutzt, die Handlungsanweisungen auf den Schautafeln der Ausstellung mit ergänzenden Hinweisen zu versehen. So wurden beispielsweise die Abbildungen zu verschiedenen Handgriffen in der Säuglingspflege in reduzierter Form in die Broschüre übernommen, hier jedoch durch einen ausführlicheren Begleittext ergänzt. Dabei wurden die aufeinander folgenden Schritte im Einzelnen beschrieben und begründet. Die Tafel zum Baden des Säuglings enthielt beispielsweise nur einen kurzen Text mit Informationen zum richtigen Baden (Häufigkeit, Temperatur und Dauer des Bades) und Halten des Kindes (Abb. 5a und 5b).19

Abb. 5a: Tafel zur Pflege des Säuglings in der Wanderausstellung Die Frau, um 1951, Fotodokumentation (S-DHMD, 2001/408.8, Tafel 8).

Abb. 5b: Abbildung zum Baden des Säuglings im populären Führer zur Wanderausstellung Die Frau (Deutsches Hygiene-Museum 1952, 21).

In der Broschüre wurde die Mutter dagegen zusätzlich angewiesen, den Säugling erst nach Abfallen des Nabelschnurrests zu baden, Zugluft zu vermeiden und die Temperatur mit einem Thermometer statt mit dem Ellenbogen zu messen. Außerdem wurde erklärt, welche Körperstellen auf welche Weise und in welcher Reihenfolge zu reinigen seien. Ähnlich stellte sich die Erläuterung von Wickel- und Stilltechniken dar. Auch 19 Fotodokumentation „Der fahrbare Großpavillon“ mit der Ausstellung „Die Frau“ III (S-DHMD, 2001/408, Tafel 7).

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dazu gab es einen einfachen Abdruck einer in der Ausstellung gezeigten Tafel und eine ausführliche Textlegende, die einzelne Praktiken im Detail beschrieb.20 Auffälliger ist aber noch eine weitere Abweichung, mit der die Gestaltung des populären Führers von der Logik der Ausstellung abweicht: Die Abfolge der Themen im Heft entsprach nicht dem Rundgang der Ausstellung, wie er sich aus der Überlieferung der Ausstellungstafeln und der Fotodokumentation erschließen lässt. Dort bestand sie aus sechs Abteilungen, war also räumlich an den Aufbau aus sechs Lastkraftwagen angepasst. Nach einer kurzen Eingangsabteilung über die Entstehung des Lebens, das heißt über die Fortpflanzungsvorgänge bei Pflanzen und Tieren, folgten drei Abschnitte über Schwangerschaft und Geburt, Säuglingspflege sowie über innere Sekretion. An diese Darstellung des gesunden Körpers als Normalfall des weiblichen Lebens schloss sich eine Abteilung über mögliche Probleme und Belastungen an: Fehlgeburten, Schwangerschaftsabbrüche, Eheprobleme, Unfruchtbarkeit, Probleme der ledigen Mutter und Erwerbstätigkeit der Frau. Im letzten Teil wurde die Vermeidung von Krankheiten durch praktische Hygiene erklärt und Anleitungen für das alltägliche Verhalten und die Selbstbeobachtung gegeben. Mit der kurzen Abteilung „Die Frau an ihrem Lebensabend“ am Ende der Ausstellung schloss sich der Themenkreis. In der Broschüre wurde diese Abfolge zunächst aufgenommen, dann jedoch an entscheidender Stelle wieder durchbrochen. Hier folgt nach Schwangerschaft, Geburt und Säuglingspflege zunächst der Abschnitt, in dem Abweichungen von diesem Normalfall der Fortpflanzung beschrieben sind. Behandelt wurden Fehlgeburten, Abtreibung und Unfruchtbarkeit. Die Beschreibung der inneren Sekretion rutschte dagegen nach hinten und wurde den „häufigen Krankheiten der Frau“ und den hormonellen Veränderungen des Frauenkörpers in den Wechseljahren zugeordnet. Diese Umstellung führte dazu, dass die Bedeutung der regelmäßigen Zyklusbeobachtung für die Frauengesundheit im Sinne einer Krebsfrüherkennung und Vorbereitung auf die Wechseljahre hervorgehoben wurde. Die Abhandlung der Wechseljahre rückte folglich von ihrer Ausstellungsposition am Ende näher an die Darstellung des weiblichen Hormonhaushalts heran. Die klare dreiteilige Abfolge der Ausstellung aus „Der gesunde Körper – Abweichungen und Belastungen – Körperpflege und Prävention“ wurde in der Broschüre zielstrebig zugunsten eines anderen argumentativen Aufbaus aufgehoben.

Die Ausstellung Wie anhand der Fotodokumentation deutlich wird, folgt die Reihenfolge der Themen in der Ausstellung einer von Schlüsselobjekten und Fluchtlinien bestimmten Logik der Argumentation. Dort lief alles auf die Präsentation der Gläsernen Frau im Zentrum

20 Vgl. Deutsches Hygiene-Museum 1952: 21.

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(Abb. 6) der Abteilung über die innere Sekretion zu, die dem Eingang gegenüber platziert war und durch einen Vorhang abgetrennt wurde.21

Abb. 6: Präsentation der Gläsernen Frau in der Wanderausstellung Die Frau, von hinten aufgenommen, Fotoalbum (S-DHMD, F-1181).

Diese Inszenierung im räumlichen Höhepunkt des Ausstellungsraums griff auf die Darstellungstradition der Gläsernen Figuren zurück. Diese war seit der Vorführung des ersten Gläsernen Mannes in der Dauerausstellung des Museums 1930 weitgehend gleich geblieben und fand in einem kleinen, abgetrennten Raum statt, der abgedunkelt werden konnte, um die leuchtenden Organe zur Geltung zu bringen. Die Frauenfigur stand auf einem Podest, sodass die Besucher das berühmteste Produkt der Dresdner Werkstätten von unten aufblickend bewundern konnten. Auch wenn diese Präsentationsform im Fall der vergleichsweise kleinen Wanderausstellung Die Frau nur behelfsmäßig umgesetzt wurde, schlug sie sich auch inhaltlich nieder. Die Abteilung zur inneren Sekretion scheint die einzige, in der das Ganzkörpermodell als Objekt thematisch sinnvoll zum Einsatz kommen konnte. Erklärt wurden die geheimnisvollen Vorgänge im weiblichen Körper und das wundersame Ineinandergreifen hormoneller Abläufe, die Schwangerschaft und Geburt allererst möglich machten. 21 Fotodokumentation Wanderausstellung „Die Frau“, ca. 1950 (S-DHMD, F-1181).

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Das zu bewundernde Werk des gesunden weiblichen Körpers war, lebensgroß dargestellt, nicht nur räumlich, sondern auch argumentativ der Höhepunkt der Wanderausstellung.22 Darauf folgten seine Gefährdung, seine Gesunderhaltung und schließlich sein unvermeidliches Vergehen. Die Inszenierung des Objekts diente der Sensibilisierung der Besucher für die ihnen anschließend vermittelten Bedrohungsszenarien und dazu, Maßnahmen zur Gesunderhaltung zu rechtfertigen. Dieser Logik und der Wirkung staunender Bewunderung sah sich die textliche Darstellung offenbar weniger verpflichtet, wenngleich das Schlüsselobjekt auf dem Titelbild exponiert war. Jedoch war im Führer die Möglichkeit gegeben, andere Themen ausführlicher zu behandeln. So hatte die Ausstellung die „Erwerbstätigkeit der Frau“ noch zusammen mit einer Tafel zu Geburtenregelung direkt nach „Unfruchtbarkeit“ eingeordnet. Obgleich hier die weibliche Erwerbstätigkeit mit vier Tafeln recht umfangreich ins Bild gesetzt wurde, befand sie sich narrativ in einer schwachen Position. In der Broschüre bildete das Thema der Berufstätigkeit den Abschluss und erhielt so besondere Prominenz: Über sechs Seiten erstreckt sich hier der Abdruck des am 27. September 1950 verabschiedeten Gesetzes über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau. Das Gesetz hatte zum erklärten Ziel, neben der Förderung des Kinderreichtums auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die weibliche Erwerbstätigkeit zu stärken, vor allem durch eine verbesserte Infrastruktur für den Gesundheitsschutz von Mutter und Kind. Zwar wurden die staatlichen Errungenschaften auf diesem Gebiet auch auf den Tafeln der Wanderausstellung hervorgehoben, eine explizite Nennung des Gesetzes und seiner Inhalte erfolgte jedoch nicht. Der populäre Führer zeigt also, wie dieses Medium genutzt wurde, um auch die Bedeutung der staatlichen Maßnahmen herauszustellen: Während die Ausstellung eher einer für das Deutsche Hygiene-Museum traditionellen Narration mit der Gläsernen Figur im Zentrum folgte, fügte der populäre Führer das Körperwissen in die aktuelle gesellschaftspolitische Ordnung der DDR ein.

Populäre Führer und Ausstellungen im Medienvergleich Die populären Broschüren, die im Zusammenhang mit verschiedenen Wanderausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums entstanden sind, lassen sich je nach Produktionshintergrund in zwei Varianten unterscheiden: Es gab die Variante, die wie Linsers Heft eine allgemein verständliche Zusammenfassung eines umfangreicheren Sachbuchs 22 Von Beginn an waren die Gläsernen Menschen des Deutschen Hygiene-Museums als Teil einer Wundermetaphorik inszeniert worden, so etwa 1935 im ersten Schauraum in der Berliner Sonderausstellung Das Wunder des Lebens mit dem Wandtext: „Es bewundern die Menschen das rauschende Meer, die fließenden Gewässer, den Anblick des Himmels und vergessen über allem Bewundern der Dinge das Wunder, das sie selber sind.“ Vgl. Bruno Gebhard 1935: Rundgang. In: Gemeinnützige Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrs-GmbH (Hg.): Das Wunder des Lebens. Amtlicher Führer. Berlin: Ala, 142. Siehe zu dieser Ausstellung auch den Beitrag von Michael Tymkiw in diesem Band.

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darstellte, und die andere, die, wie bei der Wanderausstellung Die Frau, erst eigens für diesen Anlass und diesen Zweck hergestellt wurde. In beiden Fällen wich der Text von den für die Ausstellung visualisierten (oder eben nicht gezeigten) Inhalten ab. Während bei den Veranstaltungen griffige Verhaltensregeln und einprägsame visuelle Reize für den Besucher gefragt waren, erlaubte es das Medium der populären Begleitschriften, Themen anders zu denken, Einzelphänomene stärker zu kontextualisieren und Verhaltensanweisungen auf diese Weise zu plausibilisieren. Mit Bezug auf das Eingangszitat „Die Fülle des Ausstellungsmaterials allgemeinverständlich zusammenfassen …“ ließe sich sogar umgekehrt sagen: Die Ausstellungen fassten die Inhalte der Broschüren in einprägsame Formeln. Dagegen konnten diejenigen in der Ausstellung gezeigten Wissensbausteine, die vor allem in Alltagssituationen benötigt wurden, in textlicher Form detaillierter ausgeführt werden, etwa in Gestalt der körperlichen Anzeichen einer Erkrankung oder der Ratschläge zur Säuglingspflege. Der populäre Führer konnte auf diese Weise als Merkheft und Nachschlagewerk dienen. Besucher, die bereit waren, zusätzlich zum Eintrittspreis das Geld für die Broschüre zu investieren, bekamen letztlich mehr Wissensstoff geboten, als sie sich in der Ausstellung aneignen konnten. Wanderausstellungen, das zeigt der Medienvergleich, mussten nicht nur einer argumentativen Logik folgen, sondern auch einer räumlichen. Ihr visueller Vorteil wurde genutzt, um die Besucher emotional anzusprechen. Im Begleitheft war es dagegen möglich, ergänzende Schwerpunkte und Sichtweisen einzubringen. Beide Medien erfüllten somit komplementäre Funktionen zum gemeinsamen Zweck der Popularisierung neuester Erkenntnisse über den menschlichen Körper. Was hier an Beispielen aus der dichten Hausgeschichte des Deutschen HygieneMuseums gezeigt wurde, scheint mir insgesamt einen Hinweis darauf zu enthalten, dass die „populären Führer“ nur sehr bedingt Rückschlüsse darüber zulassen, was die Besucher einer konkreten Ausstellung zu sehen bekamen, welche Schlüsselobjekte sie möglicherweise angelockt hatten und welcher Narration der Ausstellungsrundgang folgte. Dasselbe gilt für die eingangs erwähnten „offiziellen Führer“: Auch sie gaben keineswegs das Gezeigte wieder, vielmehr boten sie nach Art von Messekatalogen den an der Ausstellung beteiligten Organisationen eine weitere Gelegenheit zur Selbstdarstellung. Gerade die Divergenzen zwischen diesen Medien und anderen Quellen, die uns heute zur Rekonstruktion von Ausstellungssituationen noch zur Verfügung stehen – allen voran Fotodokumentationen, aber auch die Berichterstattung in der zeitgenössischen Tagespresse –, geben einen Eindruck von der Vielfalt der Vermittlungsstrategien, die die historischen Protagonisten offensichtlich absichtsvoll einsetzten. Sie lassen Rückschlüsse darauf zu, welches Wissen als geeignet für die visuelle Darstellung erachtet wurde und welches passender in einer Textfassung aufgehoben schien. Mit zu bedenken ist, dass Ausstellung und Führer getrennt rezipiert werden konnten. Oft wurde allerdings erst ihrem Zusammenspiel die (angestrebte) volle und langfristige Wirkung auf den Besucher zuerkannt.

Claudia Stein und Roger Cooter

Die Geschichte des Gesundheits- und Hygieneplakats neu betrachtet. Die ökonomische Neuerfindung des Wissens über das Selbst1

In unseren bisherigen Arbeiten zur Geschichte von Plakaten, die Gesundheit und Hygiene thematisieren, haben wir versucht, ihren Wandel in der wissenschaftlichen und populären Betrachtung und Beurteilung seit den 1960er-Jahren nachzuvollziehen. Besonders interessierte uns, wie sich die Ansichten über das Verhältnis zwischen visueller Wahrnehmung und Epistemologie veränderten und wie sich diese Veränderungen auf die Vorstellungen über die Konstruktion individueller und kollektiver Identität(en) auswirkten. Es kam uns darauf an, die kulturelle Konstruktion dieses Verhältnisses herauszuarbeiten, um die Forderungen des visual turn der 1990er-Jahre zu historisieren, der in besonderem Maße dazu aufgefordert hatte, die visuelle Welt in Untersuchungen über die Identitätsbildung stärker zu berücksichtigen. Was waren die sozio-kulturellen Bedingungen, so fragten wir uns am Beispiel der Plakate, die diese wissenschaftlichen Forderungen möglich gemacht hatten und so populär werden ließen? Wir kamen zu dem Ergebnis, dass der visual turn historisiert werden muss, insbesondere, wenn man die politischen Konsequenzen, die diese Hinwendung zum Visuellen auch für die wissenschaftliche Praxis in der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte hatte, nicht nur als gegeben hinnehmen will, sondern kritisch beleuchten und bewerten möchte.2 Im vorliegenden Beitrag wenden wir uns nun einem Diskurs zu, den wir in unseren bisherigen Untersuchungen noch nicht berücksichtigt haben. Wir möchten vorschlagen, dass es in einer visuellen Geschichte der Gesundheit im Allgemeinen und des Plakats, das Hygiene und Gesundheit thematisiert im Besonderen, wichtig ist, auch wirtschaftliche Ideale, Konzepte und Praktiken unter die Lupe zu nehmen. Im Rahmen dieses 1 Dieser Beitrag beruht auf unserem Projekt mit dem Arbeitstitel The Spectacle of Hygiene. Capitalism, History, and Visual Culture in Britain and Germany, c. 1880–1930, das der Rolle der Wirtschaft und ökonomischer Theorien in der Geschichte von Plakaten und Ausstellungen zur Gesundheit und Hygiene gewidmet ist. 2 Siehe insbesondere Claudia Stein und Roger Cooter 2007: Coming into Focus. Posters, Power, and Visual Culture. Medizinhistorisches Journal, 42, 180–209; wieder abgedruckt mit einer historischen Einleitung in: Roger Cooter mit Claudia Stein 2013: Writing History in the Age of Biomedicine. New Haven: Yale University Press, 112–137.

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Beitrages können wir diese Idee nur anreißen. Wir werden uns auf die Diskussion von zwei Plakaten konzentrieren, die, jeweils in ihrer Zeit, Unruhe stifteten. Das erste stammt aus dem Jahr 1900 und wurde von den Münchner Chemikern Ernst Klebs und Alfons Schwalm in Auftrag gegeben, um für ihr chemisches Labor und seine Dienstleistungen zu werben (Abb. 1). Das zweite ist das inzwischen ikonisch gewordene Bild Dying on Aids oder Final Moment im Leben des Aids-Aktivisten David Kirby, das 1992 von Oliviero Toscani, dem damaligen Artdirektor der italienischen Modefirma Benetton, für eine weltweite Werbekampagne verwendet wurde (Abb. 2). Wir argumentieren, dass beide Werbeplakate jeweils in einer Zeit des Umbruchs erschienen, nicht nur im Hinblick auf das biomedizinische Verständnis des Körpers, sondern auch in Bezug auf das gesamtgesellschaftliche Leben, insbesondere was das ökonomische Denken und Handeln anging. Die Reaktionen, die beide Plakate hervorriefen, sind unseres Erachtens für diese ineinandergreifenden Prozesse konstitutiv. Wir werden die beiden Plakate zunächst in ihren jeweiligen Kontexten erörtern und anschließend einige vorläufige Schlussfolgerungen ziehen.

Plakatwerbung und Gesundheit in München um 1900 Am 27. Januar 1901 befand die Münchner Polizeibehörde, die für die Zensur öffentlicher Ankündigungen einschließlich kommerzieller Plakate zuständig war, dass das Werbeplakat für das private Labor von Klebs und Schwalm in der Öffentlichkeit insgesamt einen „belästigenden oder beunruhigenden Eindruck“ hinterlassen könnte.3 Bild und Text trügen dazu bei, argumentierte die Polizeibehörde. Trotz wiederholter Gesuche der beiden promovierten Chemiker durfte ihr Plakat nie öffentlich angeschlagen werden.4 Es verschwand zusammen mit der zugehörigen Korrespondenz in den Polizeiakten und gehört heute zum Bestand des Münchner Staatsarchivs.5 Um die Reaktion der Polizei zu verstehen, schlagen wir vor, das Plakat auf zwei Ebenen zu analysieren: in Bezug auf seinen Inhalt und seine Form. Zunächst müssen wir uns mit dem Text und der grafischen Gestaltung des Plakats befassen, denn diese sind für den Historiker der unmittelbarste Zugang, um die Reaktionen auf das Plakat zu erklären. Darüber hinaus werden wir Überlegungen darüber anstellen, ob die Reaktionen auf das Plakat vielleicht auch mit seiner Form, also dem Medium an sich und seiner Funktion als Werbemittel zu tun haben könnten. 3 Das Plakat wurde zum ersten Mal im Dezember 1900 in der Polizeidienststelle vorgelegt (Staatsarchiv München, Pol. Dir. München 6646, 27). 4 Gesuch vom Januar 1901 (ebd.: Bl. 2a); das letzte Gesuch stammt vom 22. Mai 1901 (ebd.: Bl. 79 f.). 5 Die Bestände des Münchner Staatsarchivs, die viele solcher Kontroversen über Plakate enthalten, sind für die Plakatgeschichte besonders wertvoll. Ich bin Dr. Christoph Bachmann, Direktor des Staatsarchivs, zu besonderem Dank verpflichtet, denn er hat die Restauration und Ablichtung des Plakats veranlasst.

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Abb. 1: Plakatwerbung für das chemische Labor von Dr. Alfons Schwalm und Dr. Ernst Klebs (Staatsarchiv München, Pol. Dir. München, Plakatsammlung 1800).

Der Text und die grafische Gestaltung des Plakats von Schwalm und Klebs bereiteten der Polizeidirektion die größten Sorgen. Dabei scheint sie sich aber weniger an einer damals möglicherweise als provokativ empfundenen künstlerischen und ästhetischen Gestaltung im Jugendstil gestoßen zu haben,6 als am Thema, welches der Öffentlichkeit 6 München war eines der deutschen Zentren dieser neuen Kunstbewegung und unter anderem berühmt für seine Plakatproduktion. Kathryn Loom Hiesinger (Hg.) 1988: Art Nouveau in Munich. Masters of Jugendstil from the Stadtmuseum Munich, and Other Public and Private Collections. München: Prestel; siehe auch Herbert Schindler 1972: Monographie des Plakats. Entwicklung, Stil, Design, München: Süddeutscher Verlag, 116 und Annemarie Hagner 1958: Das Plakat im Jugendstil. Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Zur Geschichte des Plakats in München siehe Münchner Stadtmuseum (Hg.) 1975: Plakate in München 1840–1940. Eine Dokumentation zu Geschichte und Wesen des Plakates aus den Beständen der Plakatsammlung des Münchner

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Informationen über die Gefahren von Infektionskrankheiten vermittelte. Wir sind uns noch nicht sicher, ob es grundsätzlich verboten war, solche Informationen zu unternehmerischen Zwecken im städtischen Raum zu plakatieren. Ebenso wenig wissen wir, ob das Verbot von Klebs’ und Schwalms kommerziellem Hygieneplakat in der bayerischen Metropole der Jahrhundertwende eine Ausnahme war oder der Regel entsprach. Wie die geltenden gesetzlichen Bestimmungen und Vorschriften für das Anbringen von öffentlichen Ankündigungen im Bezug auf Gesundheit und Hygiene auf städtischen Anschlagtafeln und Litfaßsäulen im Einzelnen tatsächlich gehandhabt wurden, muss erst noch genauer untersucht werden. Was wir aber bereits wissen, ist, dass Werbung für Gesundheits- und Hygieneprodukte im öffentlichen Raum zumindest heftig umstritten war.7 Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei dem Verbot der Münchner Polizeidirektion spielten sicherlich auch politische und wirtschaftliche Überlegungen. Schließlich waren die Erinnerungen an die Panik, die die Typhus- und Choleraausbrüche am Ende des 19. Jahrhunderts hervorgerufen und die zum wirtschaftlichen Stillstand der Stadt geführt hatten, noch sehr präsent. Damalige Zeitgenossen verglichen die nahezu hysterischen Reaktionen der Münchner Bevölkerung mit denen auf mittelalterliche Pestepidemien.8 Wir können hier nicht genauer auf den Inhalt des Plakats eingehen und wie dieser im Rahmen der neuesten Forschungsliteratur zur Popularisierung der Bakteriologie und der Konstruktion eines bakteriologischen Selbst interpretiert werden kann. Wichtig ist hier nur hervorzuheben, dass um 1900 bakteriologisches Wissen, welches in dem Münchner Plakat angepriesen wird, weder in der medizinischen Wissenschaft noch in der breiteren Öffentlichkeit akzeptiert war, sondern sich noch in einem heftigen Konkurrenzkampf mit älteren Ideen von Krankheitsverursachung und Praktiken der Krankheitsbekämpfung befand. Es dauerte Jahre, um selbst Mediziner von dem außerordentlichen pathologischen Potential der allgegenwärtigen, aber für das bloße Auge nicht sichtbaren Organismen zu überzeugen. Für die Reaktionen auf Klebs’ und Schwalms Plakat ist es vermutlich von Bedeutung, dass einer der prominentesten Gegenspieler Stadtmuseums. Katalog zur Ausstellung vom 16. Oktober 1975 bis zum 6. Januar 1976. München: K. M. Lipp. 7 Zur Kontroverse über die Werbung für medizinische Präparate siehe Wolfgang Wimmer 1995: „Wir haben fast immer was Neues“. Gesundheitswesen und Innovationen der Pharma-Industrie in Deutschland, 1880–1935. Berlin: Dunker & Humblot, 47–105. Zur gesetzlichen Regelung des öffentlichen Plakatierens in deutschen Städten um die Wende zum 20. Jahrhundert siehe Johannes Kamps 1999: Plakat. Tübingen: Niemeyer. 8 Choleraepidemien gab es in München in den Jahren 1836/37 und 1853/54, von der Epidemie des Jahres 1892 blieb die Stadt jedoch verschont. Eine anschauliche Darstellung der Auswirkungen der Choleraepidemie von 1854 auf das städtische Leben und insbesondere ihrer Konsequenzen für die Tourismusbranche in München findet sich bei Karl Wienninger 1987: Max Pettenkofer. München: Hugendubel, 154–156. Zum Vergleich der Choleraepidemien des 19. Jahrhunderts mit der mittelalterlichen Pest siehe Carl Flügge 1893: Die Verbreitungsweise und Verhütung der Cholera auf Grund der neueren epidemiologischen Erfahrungen und experimentellen Forschung. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten, 14, 122–202, hier 123.

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der Bakteriologie, Max von Pettenkofer (1818–1901), aus München kam und seine Ansichten über Infektionskrankheiten nicht nur die Forschungspraxis seines dortigen Hygieneinstituts, sondern auch die städtische Gesundheitspolitik stark beeinflussten.9 Es würde an dieser Stelle auch zu weit führen, das Plakat im Rahmen der von Nancy Tomes angestoßenen Debatte um den Beitrag von sogenannten „germ entrepreneurs“ zur Verbreitung bakteriologischen Wissens zu diskutieren, auch wenn man Klebs und Schwalm sicherlich als solche bezeichnen kann.10 Das Paradebeispiel für diese neue, auf der Bakteriologie beruhende Unternehmenskultur ist der ungemein erfolgreiche Dresdner Fabrikant des Mundwassers Odol, Karl August Lingner (1861–1916).11 Wir möchten hier Themen, die sich unmittelbar auf den Inhalt des Plakats beziehen, ebenso wie Untersuchungen zu den zeitgenössischen deutschen Reaktionen auf Modernität im Allgemeinen und auf kommerzielle Plakate im Besonderen ausklammern. Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt und in einer detaillierten Studie zeigen, dass das Schicksal des Plakats von Klebs und Schwalm in diese umfassenderen kulturellen Auseinandersetzungen im deutschsprachigen Raum um Plakatwerbung eingebettet war, in denen sämtlich der starke Wunsch nach Kontrolle des öffentlichen Raums reflektiert wurde. Diese Kontroversen um Design, Verbreitung und Inhalt von Plakaten wurde von den Zeitgenossen oft als „Plakat-Lärm“ bezeichnet.12 Wir möchten hier die Gelegenheit wahrnehmen, über die Form des Plakats nachzudenken, das heißt über das Plakat als eines der wichtigsten Werbemittel des Konsumkapitalismus im Deutschland des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wir glauben, dass die Münchner Reaktionen auf das Plakat von Schwalm und Klebs auch damit in Zusammenhang stehen.

9 Pettenkofer lehnte Kochs Bakterientheorie ab und trat 1882 einen berühmt gewordenen Gegenbeweis an, indem er einen Cocktail mit Cholerabakterien trank, den er von Koch erhalten hatte, ohne im Anschluss daran zu erkranken. Zur Rivalität zwischen Koch und Pettenkofer siehe Silvia Berger 2009: Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland 1890–1933. Göttingen: Wallstein, 106–110. Zu dem von Pettenkofer geschluckten Choleracocktail siehe auch Andrew Mendelsohn 1996: Cultures of Bacteriology. Formation and Transformation of a Science in France and Germany, 1870–1914. PhD-Dissertation an der Princeton University, 442–455. 10 Nancy Tomes 1998: The Gospel of Germs. Men, Women, and the Microbe in American Life. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Zur Rolle, die Handelsunternehmen und Werbung bei der Verbreitung bakteriologischen Wissens in Deutschland spielen, siehe Berger 2009: 83–89. 11 Zu Lingner siehe Ulf-Norbert Funke 1996: Karl August Lingner. Leben und Werk eines gemeinnützigen Großindustriellen. Dresden: B-Edition sowie den Beitrag von Thomas Steller in diesem Band. 12 Der sogenannte Plakat-Lärm bezog sich auf den optischen Eindruck von kommerziellen Plakaten. Zeitgenossen fühlten sich durch die Art, wie diese das Erscheinungsbild des öffentlichen Stadtraums veränderten, bedroht. Man sprach in diesem Zusammenhang häufig von Verschmutzung des Straßenbildes, siehe etwa A. Cüddow 1913: Straßenbild und Reklame. Das Plakat, März, 60–65, hier 60. Die Zeitschrift Das Plakat wurde von 1910 bis 1921 vom Verein der Plakatfreunde herausgegeben.

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Plakatwerbung und ökonomische Theorie an der Wende zum 20. Jahrhundert Um zu verstehen, warum das Medium des kommerziellen Plakats selbst umstritten war, muss man über das unmittelbare Thema der Geschichte der Werbung hinausblicken, die in der Hauptsache bisher nur das Plakatdesign und die Ware, für die geworben wird, in den Blick genommen hat. Im Folgenden möchten wir uns mit dem Plakat in der zeitgenössischen ökonomischen Diskussion befassen, denn in dieser wurden Reflexionen angestellt, die unserer Meinung nach ebenfalls im Zentrum der öffentlichen Aufregung um Plakate standen. Kommerzielle Plakate, so unsere These, propagierten eine neue Beziehung zwischen dem Menschen und den materiellen Dingen. Sie machten das Individuum und sein Verhalten, sowie dessen mögliche Beeinflussung, zum Dreh- und Angelpunkt volkswirtschaftlichen Denkens und Handelns. In den 1870er- und 1880er-Jahren fand eine lebhafte Auseinandersetzung um die Rolle des Individuums im Wirtschaftsleben statt. Sie wurde von dem österreichischen Nationalökonomen Carl Menger (1840–1921) und seinem Buch Grundsätze der Volkswirtschaftslehre von 1871 entfacht. Seine äußerst polemischen Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und die Politische Oekonomie insbesondere von 1883, in der er offen Kritik an der damals in Deutschland führenden Historischen Schule der Natio­ nalökonomie übte, und die er in seiner Schrift Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie im Jahr darauf noch verstärkte, brachte nahezu die gesamte deutsche Riege der Nationalökonomen gegen ihn auf. In seinen Veröffentlichungen ging es Menger darum, die damalige, historisch orientierte Wirtschaftstheorie und ihre Praktiken zu hinterfragen und neue, so glaubte er, wissenschaftlichere Herangehensweisen vorzuschlagen. Seine Ideen begründeten die sogenannte Österreichische Schule der Nationalökonomie, die später durch seine Schüler, wie Joseph Schumpeter (1883–1950) und Friedrich von Hayek (1899–1992), international bekannt wurde.13 Eine seiner neuen Theorien, die des subjektiven Werts, basierte auf der Idee, dass Güter oder Produkte keinen Wert in sich selbst, also keinen intrinsischen Wert besitzen, wie bis dahin weithin angenommen worden war. Ebenso wenig erhielten für ihn Güter und Produkte ihren Wert durch Arbeit oder Tausch. Vielmehr wurden sie Mengers Ansicht nach erst durch ihren Bezug auf menschliche Bedürfnisse und Wünsche mit Wert aufgeladen.14 Was eine Sache zu einer Ware werden lässt, sei ihr subjektiver Wert, behauptete Menger im 13 Tatsächlich waren Mengers Ideen weit weniger radikal und stärker im Einklang mit dem dominanten deutschsprachigen ökonomischen Diskurs, als seine Biografen wie Schumpeter und von Hayek ihren Lesern suggerierten. Siehe die Diskussion in Eric Grimmer-Solem 2003: The Rise of Historical Economics and Social Reform in Germany 1864–1894. Oxford: Oxford University Press, 246–247; vgl. auch Yukihiro Ikeda 2010: Carl Menger’s Liberalism Revisited. In: Harald Hagemann, Tamasotu Nishiyawa und Yukihiro Ikeda (Hg.): Austrian Economics in Transition. From Carl Menger to Friedrich Hayek. Basingstoke: Palgrave Macmillian, 3–20; Eugen Maria Schulak und Herbert Unterköfler 2011: The Austrian School of Economics. A History of its Ideas, Ambassadors, & Institutions. Auburn: Ludwig von Mises Institute. 14 Zum Folgenden vgl. Grimmer-Solem 2003: 249–250; Schulak/Unterköfler 2011: 13–20.

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Gegensatz zu fast allen seinen Kollegen in der Nationalökonomie. Der Wert einer Sache, argumentierte er, begründe sich durch die individuelle Wertschätzung, die der potentielle Käufer ihr entgegenbringe. Für Menger spielte also das Verhalten des Einzelnen, das heißt seine Wünsche und sein Verlangen, die zentrale Rolle in der Volkswirtschaft und nicht mehr die Arbeitszeit, die zu der Produktion einer Sache nötig war, oder ihr Gebrauchswert, wie es die Nationalökonomie seiner Zeit noch propagiert hatte. Menger und seine Mitstreiter verlagerten das Gewicht auf die Wünsche des Einzelnen und insbesondere darauf, wie solche Wünsche stimuliert und gesteuert werden konnten, damit die Wirtschaftsproduktion und der Absatz davon profitierten.15 Dies führte auch dazu, dass die Sichtbarkeit von Waren, ihre Präsentation, zunehmend als wichtig erachtet wurde, denn diese wecke, so wurde argumentiert, beim Kunden erst die Emotion der Begehrlichkeit und führte zum Kauf vieler Waren. In der Wertediskussion in der deutschsprachigen Nationalökonomie wurde sogar ein neuer Begriff dafür geprägt: der Schauwert einer Ware.16 Einer von Mengers Wiener Schülern, Viktor Mataja (1857–1934), war es schließlich auch, der die Stellung der Werbung in der Nationalökonomie erstmals wissenschaftlich untersuchte.17 Sein Buch Die Reklame. Eine Untersuchung über Ankündigungswesen und Werbetätigkeit im Geschäftsleben von 1910 war die erste deutschsprachige Publikation, die sich mit dem Thema der Werbung nicht unter historischen oder praktischen Gesichtspunkten befasste. Er argumentierte stattdessen, dass sie einen äußerst wichtigen Beitrag zum Erfolg einer modernen Volkswirtschaft leistete.18 Mataja war auch der erste, der explizit die Anwendung der damals noch jungen Wissenschaft der Psychologie zur Verbesserung der „Kunst der Werbung“, wie er sie nannte, ausdrücklich verteidigte und 15 Schulak/Unterköfler 2011: 21–28. 16 Der Begriff wurde von dem Journalisten, Schriftsteller und Ausstellungsmacher Alfons Paquet (1881– 1944) in seiner wirtschaftswissenschaftlichen Dissertation Das Ausstellungsproblem in der Volkswirtschaft (Jena: Gustav Fischer 1908) geprägt. Paquet verstand darunter die sichtbaren Charakteristika eines Gegenstands, die unabhängig von seinem Gebrauchswert zu betrachten seien. Zur Definition des Begriffs siehe ebd.: 7. Zu Paquets Idee des Schauwerts siehe Gudrun König 2009: Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900. Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 183–186, zu seinem Lebenswerk als Journalist und aktives Mitglied des Deutschen Werkbunds siehe Sabine Brenner, Gertrude CeplKaufmann und Martina Thöne (Hg.) 2001: „Ich liebe nichts so sehr wie die Städte …“. Alfons Paquet als Schriftsteller, Europäer, Weltreisender. Frankfurt: Klostermann. 17 Siehe Lothar Höbelt 1990: Mataja, Victor. In: Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 16, Berlin: Duncker & Humblot, 365. 18 Mataja schrieb, deutsche Nationalökonomen hielten es allgemein nicht für lohnend, sich mit Reklame zu beschäftigen. Die meisten von ihnen hätten ihr gegenüber eine ablehnende Haltung. Insbesondere diejenigen mit eher sozialliberalen politischen Ansichten wie Sombart betrachteten Werbung als Problem für die deutsche Volkswirtschaft (Viktor Mataja 1910: Die Reklame. Eine Untersuchung über Ankündigungswesen und Werbetätigkeit im Geschäftsleben. Leipzig: Duncker & Humblot, 55–58). Zu seinem Werk und der zeitgenössischen Diskussion um den ökonomischen Nutzen von Werbung an der Wende zum 20. Jahrhundert siehe Christiane Lamberty 2000: Reklame in Deutschland 1890–1914. Wahrnehmung, Professionalisierung und Kritik der Wirtschaftswerbung. Berlin: Duncker & Humblot, 381– 391.

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lobte. Da zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung im deutschsprachigen Raum noch keine einschlägige wissenschaftliche Diskussion über die Wirkung der Psychologie in der Werbung existierte, stützte sich Mataja in seiner Diskussion über die psychologische Natur des Menschen sowie seiner Gefühle und Wünsche vor allem auf Experimente der US-amerikanischen und britischen Psychologen.19 Mataja und Menger betrachteten das menschliche Handeln im Wesentlichen als vernunftgeleitet und, wenn auch nicht als biologisch determiniert, zumindest doch als stark biologisch beeinflusst. Der Mensch, so ihre Überzeugung, handelt von Natur aus rational und dabei grundsätzlich aus eigenem und im eigenen Interesse (Homo oeconomicus). Psychologische Untersuchungen der biologischen Natur des Menschen waren ihrer Ansicht nach nützlich, um die Entscheidungsprozesse des an sich vernunftorientierten Mensch zu entschlüsseln und zu steuern sowie die Volkswirtschaft positiv zu beeinflussen.20 Diese Ideen wurden allerdings von der deutschen Historischen Schule der Nationalökonomie und ihrem Hauptvertreter Gustav Schmoller (1838–1917) auf das Heftigste kritisiert.21 Schmoller und Kollegen betrachteten die Werbung als nutzlose und verschwenderische wirtschaftliche Tätigkeit.22 In seinem Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre (§ 16) räumte Schmoller zwar ein, Werbung sei nichts an sich Schlechtes und eine Erscheinung, die mit der Massenproduktion des modernen Kapitalismus innerlich verbunden sei. Schließlich müsse man den potentiellen Käufer über neue Produkte informieren, um neue Märkte zu erschließen. Dennoch war er der Ansicht, dass das moderne Reklamewesen eine unlautere Kunst sei, die vor allem darauf setze, leichtgläubige Konsumenten zu täuschen und zum Kauf zu überreden. Grundsätzlich erwuchs Schmollers Ablehnung der Reklame aus vollkommen anderen Vorstellungen von der Beziehung zwischen der Volkswirtschaft, dem Individuum und der Gesellschaft. Wie er in seiner Besprechung von Mengers Untersuchungen aus dem Jahr 1883 deutlich machte, lehnten er und die Historische Schule die Idee ab, die wirtschaftliche Organisation der Gesellschaft ergebe sich aus natürlichen, biologischen oder psychologischen Gesetzen individuellen Verhaltens. Das Wirtschaftsleben werde nicht einfach durch die Befriedigung individueller Bedürfnisse in Gang gehalten, wie Menger behaupte, so wetterte Schmoller, sondern es handele sich stattdessen um einen Prozess, der einem ständigen historischen Wandel unterworfen sei. Die Geschichte zeige, dass jede Kultur ihre eigene Form von Wirtschaftsleben hervorgebracht habe. Eine gegenteilige Ansicht, wie, „[d]ie Vorstellung, [dass] das wirtschaftliche Leben jemals ein überwiegend individueller, weil 19 „Das letzte Wort der Vertriebskunst heißt Kundenpsychologie.“ (Mataja 1910: 167), vgl. auch Lamberty 2000: 382 f. 20 Dem Wikipedia-Eintrag zum Homo oeconomicus zufolge ist es fraglich, wer die Idee des ökonomischen Menschen tatsächlich aufgebracht hat. Für Hayek war es John Stuart Mill: Friedrich von Hayek 1971: Die Verfassung der Freiheit. Tübingen: Mohr, 76. 21 Zu Schmoller und der Historischen Schule der Nationalökonomie siehe Grimmer-Solem 2003. 22 Mataja (1910: 355–358) bietet einen interessanten Überblick über die Reklamedebatte in der deutschen Nationalökonomie, siehe auch Lamberty 2000: 391–396.

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technischer, auf individuelle Bedürfnisse gerichteter Prozeß gewesen sei, ist für alle Stadien der menschlichen Kultur falsch“.23 In Schmollers Ausführungen kam auch sein Misstrauen gegenüber den neuen Methoden der Psychologie zum Ausdruck, mit denen nachgewiesen werden sollte, dass der natürliche Trieb des Menschen nur auf den eigenen Vorteil ziele, und die genutzt werden sollten, dieses natürliche Verhalten zu beeinflussen.24 Im Gegensatz zu Mataja und Menger hielt Schmoller die Lobpreisungen der Leistungen der Psychologie im Bereich der Wirtschaft für sehr verfrüht. Kurz gesagt, Reklame und ihre Hilfsmittel wie das Plakat verkörperten für die deutschen Nationalökonomen, die, wie auch Werner Sombart (1863–1941), der Historischen Schule nahestanden, den betrügerischen Charakter des modernen Massenkapitalismus, für den sie den Begriff des Amerikanismus prägten.25 Für Sombart war die Reklame daher das verachtenswerte Werkzeug eines egoistisch-orientierten privaten Unternehmertums, das alle umfassenderen gesellschaftlichen Zusammenhänge missachtete. Reklame und ihre Plakate galten als drohende Anzeichen und Vorboten eines „schrankenlose[n] Austoben[s] des rein privatwirtschaftlichen Gewinnstrebens“.26 Wie auch andere Formen von Reklame manipulierten Straßenplakate aus Sombarts Sicht den freien Willen des vorbeigehenden Individuums und animierten womöglich zum Kauf von unnötigen Produkten.27 Solche Überlegungen standen auch hinter der scharfen Kritik an Lingners Werbekampagnen, in der ihm immer wieder unlautere amerikanische Methoden vorgeworfen wurden.28 Man könnte sich daher vorstellen, dass das Plakat von Klebs und Schwalm von 1900 aus ähnlichem Grund Anstoß erregt haben könnte. Wenn wir das Verbot des Plakats durch die Münchner Polizeibehörde verstehen wollen, so muss neben seinem Inhalt und Design auch seine Form, das heißt das Medium des Plakats selbst in seiner Zeit, genauer betrachtet werden. Indem Klebs und Schwalm das Plakat als Werbemittel für ihre bakteriologischen Dienstleistungen wählten, machten sie sich (wahrscheinlich unwissentlich) das zu dieser Zeit aufkommende und hoch umstrittene Konzept des Homo oeconomicus zu eigen, das heißt, sie vertrauten auf die 23 Gustav Schmoller 1884: Studien über die wirthschaftliche Politik Friedrich des Großen und Preußens überhaupt, 1680–1786. Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, N. F., 8, 15–61, hier 17. 24 Zu seinen Ansichten über Psychologie siehe Grimmer-Solem 2003: 209. 25 Zur damaligen Antiamerikanismusdebatte in Deutschland vgl. die Quellen bei Kevin Repp 2007: Marketing, Modernity, and the German People’s Soul. Advertisement and its Enemies in Late Imperial Germany, 1896–1914. Durham/London: Duke University Press und Pamela E. Swett, S. Jonathan Wiesen und Jonathan R. Zatlin (Hg.): Selling Modernity. Advertisement in Twentieth-Century Germany. Durham/ London: Duke University Press, 47, Fußnote 18; eine Zusammenfassung seiner Argumentation findet sich bei Lamberty 2000: 392 f. 26 Werner Sombart 1908: Ihre Majestät die Reklame. Die Zukunft, 63, 481. 27 Ebd.: 480. 28 Zum Vorwurf, Lingner sei ein amerikamäßiger Unternehmer siehe Paul Weindling 1989: Health, Race and German Politics Between National Unification and Nazism, 1870–1945. Cambridge: Cambridge University Press, 229. Vgl. zu seinen Reklamemethoden auch Henriette Väth-Hinz 1985: Odol. ReklameKunst um 1900. Gießen: Anabas-Verlag.

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rationalen, wenn auch egoistischen Triebe ihrer potentiellen Kunden. Ironischerweise entschieden sie sich für eine Art des Sich-selbst-Erkennens aus einer ökonomischen Theorie heraus, die das „Erkenne Dich selbst!“ durch moderne medizinische Wissenschaft, deren Leistungen sie priesen und die sie verkaufen wollten, transzendierte. Aus heutiger Perspektive ergab sich daraus ein Missverhältnis zwischen ihrem impliziten Verständnis eines individualisierten, psychologisierten Selbst, das immer zu seinem Besten handelte, und der zu dieser Zeit in Deutschland vorherrschenden historisch orientierten Wirtschaftstheorie, deren Vertreter sich weigerten, der Funktion der Subjektivität und der Rolle des Individuums auf dem Markt Rechnung zu tragen.

Körper, Werbung und Wirtschaft am Ende des 20. Jahrhunderts

Abb. 2: „Dying of Aids“. Plakatwerbung, konzipiert von Oliviero Toscani, Italien 1990. (Copyright 1998 Benetton group S. p. A. Foto: Therese Frare. Konzept: Toscani).

Ähnlich wie das Plakat von Klebs und Schwalm wurde Olivero Toscanis Dying on Aids von Protesten und Verboten begleitet.29 Die Reaktionen auf das Plakat, das 1992 als Teil der 70 Millionen US-Dollar teuren Shock-of-Reality-Kampagne für Benetton konzipiert wurde, waren aber nun weltweit: In Deutschland kam das Plakat vor Gericht, französische Plakatkleber weigerten sich, es anzubringen, und in Großbritannien wurde The Guardian, die erste Zeitung, die das Motiv als ganzseitige Anzeige veröffentlichte, mit

29 Das Schwarz-Weiß-Foto der amerikanischen Fotografin Therese Frare erschien unter dem Titel Final Moment zuerst im November 1990 in Life. Es gehörte zu einer Serie, mit der die Arbeit und das Leben des AIDS-Aktivisten David Kirby dokumentiert wurde. Toscani kolorierte es lediglich und klebte das Benetton-Logo darauf. Siehe Oliviero Toscani 2000: Die Werbung ist ein lächelndes Aas. Übersetzung von Barbara Neeb. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 58; Jürgen Döhring (Hg) 1996: Gefühlsecht. Graphikdesign der 90er Jahre. Heidelberg: Edition Braus, 128.

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Beschwerdebriefen bombardiert. In Nordamerika folgten die Reaktionen ganz ähnlichen Mustern.30 Was diese Reaktionen hervorgerufen hat, haben wir bereits an anderer Stelle thematisiert.31 Dazu gehörte sicherlich die als anstößig empfundene Verwendung von Bildern aus der christlichen Ikonografie mit dem Ziel, Modeartikel zu verkaufen. Toscani selbst nannte das Bild provokativ „eine Pietà“32. Diese gezielte und provokante Vermengung von Kommerz und Religion schockierte damals noch. Dasselbe galt auch für die Vermengung von Kommerz und dem sensibelsten medizinischen und humanitären Thema der damaligen Zeit, AIDS. Für diese neue Krankheit, die Tausende von Opfern forderte, gab es zum damaligen Zeitpunkt noch keine erfolgversprechende Therapie. Unter den Opfern war der Aktivist David Kirby, den das Toscani-Plakat auf seinem Totenbett im Kreise seiner Familie zeigt. Wie konnte es ein internationales Modeimperium wagen, eine solche menschliche Tragödie auszuschlachten! Das war zu viel, sogar für die sich damals entfaltende neoliberale Unternehmenskultur, in der Marketingfachleute die Kreation von Markennamen und Logos zunehmend als weitaus wichtiger betrachteten als die Qualität oder die ethisch-verantwortliche Herstellung der Waren selbst.33 Zweifellos verletzte Toscani mit seinem Plakat damals akzeptierte sozio-kulturelle Normen in den westlichen Gesellschaften. Es deutete aber auch eine Krise des fast 100 Jahre alten bakteriologischen Verständnisses des Körpers an und dem damit verbundenen Vertrauen in die Allmacht der Epidemiologie und der wissenschaftlichen Medizin. Mit dem Auftreten von AIDS erlitt dieser bis dahin unangefochtene Glaube einen heftigen Rückschlag. Dass die Ursache und die Übertragung von AIDS trotz intensivster Forschung rätselhaft blieben, stellte die gesamte bakteriologische Forschung und deren Ansätze infrage.34 Ähnlich wie noch am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland stritt man wieder über das bakteriologische Paradigma, dieses Mal aber weltweit. Das bis dahin unbekannte Krankheitsphänomen und die Hilflosigkeit der Medizin unterminierten auch die idealisierte Vorstellung der modernen medizinischen Wissenschaften als Wohltäterinnen der Menschheit, eine Idee, die fast ein Jahrhundert lang von den Erfolgen der Biomedizin profitiert hatte. Diese Vorstellung von der Heilswirkung der modernen Medizin lässt sich auch an den Plakaten zum Thema Hygiene und Gesundheit ablesen. Bis zum Auftreten von AIDS hatten gerade solche Plakate ihre Wirkung aus dem Heilungsversprechen und nicht aus der Aussicht auf den Tod gezogen. Ein 30 Einen Überblick über die Reaktionen bietet u.a. Döring 1996: 128 f. 31 Claudia Stein und Roger Cooter 2010: Visual Imagery and Epidemics in the Twentieth Century. In: David Serlin (Hg.): Imagining Illness. Public Health and Visual Culture. Minneapolis: University of Minnesota Press, 169–192; Stein/Cooter 2007. 32 Toscani 2000: 58. 33 Siehe Naomi Klein [2000] 2001: No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht. Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern. Übersetzt von Helmut Dierlamm. München: Riemann. 34 Siehe Joan H. Fujimura und Danny Y. Chou 1994: Dissent in Science. Styles of Scientific Practice and the Controversy over the Cause of AIDS. Sociology of Science and Medicine, 38, 1017–1036.

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Großteil der Plakate zu den letzten großen Seuchen des Westens, wie zum Beispiel zur Kinderlähmung, die in den 1990er-Jahren bereits auf dem Rückzug war, thematisieren die Hoffnung auf Heilung für unschuldig Infizierte, zumeist Kinder. Die Vorstellung, dass solche Plakate auch für Verantwortung im Bereich der Sexualität werben sollten – noch dazu, wie im Falle von AIDS, für Safer Sex zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern –, war in den frühen 1990er-Jahren noch kaum vorstellbar,35 gehörten doch, so glaubte man, die moralisierenden Gesundheitskampagnen gegen Syphilis und andere sexuell übertragbare Krankheiten seit dem Einsatz von Penicillin in den 1940er-Jahren eindeutig der Vergangenheit an. Sexuell übertragbare Krankheiten galten als besiegt. Kurz gesagt, bis in die 1990er-Jahre wurde die Vorstellung, dass die Medizin „The Greatest Benefit to Mankind“36 sei, wissenschaftlich und gesellschaftlich nicht grundsätzlich angezweifelt. Eine Medizin, die diesem noblen Anspruch nicht genügte, wurde mit dem erhobenen Zeigefinger kritisiert und moralisch hinterfragt.37 Aber wie sollte auch eine ganze Generation, die mit Penicillin und anderen Wundermitteln aufgewachsen war und die, zumindest in den Wohlfahrtsstaaten, vor der aggressiven Kommerzialisierung von Arzneimitteln und medizinischen Dienstleistungen bewahrt worden war, in Zweifel ziehen, dass die Medizin vor allem dem Wohl der Menschheit diente oder zumindest dienen sollte? Toscanis Bild unterstellte zwar nicht, dass sie schaden könne, aber es erinnerte daran, dass medizinische Maßnahmen keineswegs immer Wunder bewirkten. Sollte uns am bitteren Ende nur der Glaube an Gott bleiben? Eine kritische Öffentlichkeit begann sich zu fragen, ob die medizinischen Wissenschaften und insbesondere die Pharmaindustrie durch ihre Kommerzialisierung, Privatisierung und Globalisierung seit den 1990er-Jahren und dadurch, dass sie die Werbung für ihre ständig neuen Produkte zunehmend in den Mittelpunkt ihrer Geschäftsstrategien stellten, vielleicht mehr versprachen als sie halten konnten. All das mag dem Betrachter des Plakats von Toscani durch den Kopf gegangen sein. Nicht weniger schockierend, so möchten wir hier jedenfalls argumentieren, war aber die Verwendung des Plakats selber, eine Form der kommerziellen Werbung, an die man sich längst gewöhnt hatte. In den 1990er-Jahren, insbesondere durch die Konkurrenz neuer Medien, sah niemand mehr im Plakat eine ernsthafte Bedrohung individueller 35 Zur Polio-Kampagne in den USA siehe Naomi Rodgers 2013: Polio Wars. Sister Kenny and the Golden Age of American Medicine. New York: Oxford University Press. Zur Plakatsammlung des Deutschen Hygiene-Museums siehe Susanne Roeßiger 2013: Safer Sex und Solidarität. Die Sammlung internationaler Aidsplakate im Deutschen Hygiene-Museum. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10, Heft 3 (http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041Roessiger-3-2013, letzter Zugriff am 12. Januar 2014). 36 Das ist der englische Titel des Bestsellers des englischen Medizinhistorikers Roy Porter, der 1997 bei Harper Collins Publishers London erstmals erschien. Die deutsche Ausgabe änderte den Titel zu Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute. Heidelberg/ Berlin: Spectrum, 1. Aufl. 2000. 37 Die Bioethik verschrieb sich zum Beispiel diesem Ziel. Siehe Roger Cooter 2013: Inside the Whale. Bioethics in History and Discourse. In: Cooter mit Stein 2013: 170–182.

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Freiheit wie noch am Anfang des Jahrhunderts in Deutschland. Es wurde als mehr oder minder großes Übel einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung akzeptiert. Dies war nicht immer so, wie wir am Beispiel Münchens gesehen haben. Wie bereits erwähnt, ist das kommerzielle Plakat vom modernen Kapitalismus des späten 19. Jahrhunderts neu erfunden worden. Die Idee, dass das Individuum mit seinen subjektiven Wünschen und Verlangen der Motor des wirtschaftlichen Wachstums und Erfolges war, kam damals erst auf. Diese Idee hatte das kommerzielle Plakat zu einem wichtigen Medium gemacht, durch das man glaubte, die individuellen Wünsche steuern zu können. Wie wir aber im Falle des Münchner Plakats gesehen haben, ist diese Macht des Plakats, menschliches Handeln zu beeinflussen, nicht immer und überall als ökonomisch vorteilhaft gesehen oder moralisch gut geheißen worden. Aufgrund dieses Verständnisses der Wirkung von Plakaten versprechen diese, wie die Werbung ganz generell, positive Veränderungen durch den Kauf des beworbenen Produktes oder sie locken mit Bildern und Assoziationen, die den Betrachter in positive Stimmung und Kauflust versetzen sollen. Toscanis Plakat hinterfragte und pervertierte dieses weitverbreitete Verständnis von der Absicht und Wirkung des kommerziellen Plakats, indem er eine Sterbeszene wählte, das wohl traurigste und zugleich höchst private Ereignis im menschlichen Leben, um farbenfrohe italienische Strickwaren zu verkaufen. Man kann aber auch argumentieren, dass er mit diesem Bildmotiv den Sinn und Zweck des Gesundheitsaufklärungsplakats infrage stellte. Ungefähr 50 Jahre lang war dieses wichtige Medium als völlig unproblematisch angesehen worden. Ob von staatlichen Institutionen oder unabhängigen Wohlfahrtsorganisationen produziert, waren Plakate, die auf öffentliche Gesundheit und Hygiene aufmerksam machen sollten, weltweit ein vertrauter Anblick und riefen, an und für sich, keinen Widerspruch mehr hervor. Diese spezifische Untergruppe des kommerziellen Plakats hatte den eigentlichen Widerspruch zwischen ihrer kapitalistischen Form – Plakate wollen immer etwas verkaufen – und ihrem Inhalt erfolgreich aufgelöst, indem sie sich zunutze machte, dass das öffentliche Gesundheitswesen in den Wohlfahrtsstaaten sich noch weitgehend außerhalb des freien Marktes bewegte. Gesundheits- und Hygieneplakate wurden nicht als kommerzielle Produkte wahrgenommen, denn sie warben für das individuelle und allgemeine Wohl, für das bis zu einem gewissen Grad die Regime der öffentlichen Wohlfahrt bürgten. Toscanis Bild, so argumentieren wir hier, stellte die geschützte Existenz, die das öffentliche Gesundheits- und Hygieneplakat in den westlichen Wohlfahrtsstaaten lange geführt hatte, radikal infrage: Es entlarvte den humanitären Diskurs, in dem sich diese Gruppe von Plakaten seit der Mitte des vergangenen Jahrhundert bequem gemacht hatte. Anders formuliert: Toscanis Plakat trug zu einer, wenn man so will, Wiedervereinigung des Plakatinhalts mit seiner Form bei, wenn man unter Inhalt das, was man sieht, versteht und unter Form das, was ein Plakat tatsächlich ist, nämlich ein Mittel zum Zweck, Waren zu verkaufen. Sein Plakat löste die im Bereich der Gesundheitsaufklärung historisch gewachsene Trennung zwischen der Form des Plakats und seinem Inhalt auf. Der tatsächliche Schock des Toscani-Plakats bestand darin, dass zwischen Form und

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Inhalt des Plakats nun nicht mehr unterschieden werden konnte. Gesundheit und Kapitalismus waren plötzlich nicht mehr getrennt: Sie waren eins geworden.

Homo oeconomicus und die laws of cool In diesen sozioökonomischen und politischen Kontext betrachtet, versinnbildlichte Toscanis Plakat in vielerlei Hinsicht einen Schluss- oder Wendepunkt. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass sein Plakat gerade in dem Moment zum Skandal wurde, als sich das ökonomische und politische Projekt des Neoliberalismus durchzusetzen begann. Mit Margaret Thatcher und Ronald Reagan an der Spitze waren England und Amerika die Trendsetter dieses neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells.38 Es war die Zeit, in der internationale Werbe- und PR-Unternehmen begannen, das öffentliche Bild der nationalen und internationalen Politik aktiv zu gestalten, wie der berühmte Fall der Werbeagentur Saatchi & Saatchi zeigt, die 1979 für den erfolgreichen Wahlkampf von Thatcher verantwortlich zeichnete.39 Politik wurde mehr und mehr zur PR-Show. Demokratie und die Mechanismen des freien Marktes erschienen zunehmend als ein und dasselbe. In diesem Milieu gewann die Logik und Politik der von Menger begründeten Österreichischen Schule durch seine Anhänger weltweite Bedeutung. Mengers Ideen waren an der Chicago School of Economics und insbesondere durch den führenden Vertreter des Monetarismus und Reagan-Beraters Milton Friedman (1912–2006) erfolgreich weiterentwickelt worden und trugen dazu bei, dass sich die Demokratie und der freie Markt praktisch und konzeptionell kaum noch voneinander trennen ließen. Die Widerstände unter Wirtschaftswissenschaftlern gegen die zentrale Rolle eines rationalen, nur an dem eigenen Wohl interessierten Homo oeconomicus, die es in Deutschland unter den Anhängern der Historischen Schule der Nationalökonomie um 1900 noch gegeben hatte, verschwanden. Als der neue Guru des Neoliberalismus, der österreichische Ökonom und Politologe Friedrich von Hayek, den Thron der politischen Ökonomie in den 1980er-Jahren bestieg (angeblich trug Margret Thatcher eines seiner Werke als ständigen Reisebegleiter in ihrer berühmten Handtasche), war auch der seit 30 Jahren vonseiten der Keynes’schen Wirtschaftslehre gegen den Wirtschaftsliberalismus erhobene Widerspruch verstummt. Thatcher deklarierte, dass es so etwas wie die Gesellschaft nicht mehr gäbe. In einer neoliberalen Welt, die von makroökonomischen Modellen und Theorien rationaler 38 Zum Neoliberalismus siehe David Harvey 2005: A Brief History of Neoliberalism. Oxford: Oxford University Press; Luc Boltanski und Eve Chiapello 2005: The New Spirit of Capitalism. London: Verso; Philip Mirowski und Dieter Plehwe (Hg.) 2009: The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective. Cambridge, Mass./London: Harvard University Press und Philip Mirowski 2013: Never Let a Serious Crisis Go to Waste. How Neoliberalism Survived the Financial Meltdown. London: Verso. 39 Hugo Young 1993: One of Us. A Biography of Margaret Thatcher. London: Pan, 126 f.

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Entscheidung dominiert wurde, zählte nur noch die Wahlfreiheit des individuellen Konsumenten. Diese neue Volkswirtschaftslehre wurde für die Stimme von Vernunft und Rationalität gehalten, das heißt für die Vernunft des Kapitalismus und die Rationalität des Homo oeconomicus. Der Mensch folgt seinen Instinkten, so eine der Devisen. Die ökonomischen Expertisen von Friedman und von Hayek standen im Wesentlichen außer Frage. Und weil diese Experten als rational und wissenschaftlich absolut fundiert angesehen wurden, gab es keinen Grund, zu befürchten, dass Regierungen mit ihrer Unterstützung falsche und vielleicht potentiell sogar desaströse Entscheidungen treffen könnten. Die auf Computertechnologie und Informationsmodellen beruhenden Theorien des Neoliberalismus warfen der neoklassischen Wirtschaftslehre vor, sich an antiquierte Gleichgewichtskonzepte zu klammern. Der klassische Liberalismus wurde infrage gestellt, weil er noch Wert auf staatliche Oberaufsicht und Verteilungsgerechtigkeit legte. Politische Philosophen, wie der von Hayek inspirierte Robert Nozick, entwickelten neue ethische und moralische Rechtfertigungen für die Zelebrierung von Wahlfreiheit und die Minimierung staatlicher Macht.40 Aber nicht nur der Intellektuelle oder der Ökonom bemerkte, dass ein neuer Wind wehte. Jeder war im Grunde betroffen, denn zunehmend fiel alles dem Diktat des freien Marktes zum Opfer. Von den öffentlichen Bibliotheken und Schwimmbädern, der Müllabfuhr, dem öffentlichen Nahverkehr und den Postdienstleistungen bis zu den öffentlichen Toiletten wurde, insbesondere in Großbritannien, alles privatisiert und gewerblich nutzbar gemacht, was nicht niet- und nagelfest war. Der Bürger wurde in diese Privatisierungsorgie mit einbezogen, indem man ihn einfach zum Aktionär machte. Viele bunte, ästhetisch gefällige Plakate warben für diese fröhliche Privatisierung. Sie waren allgegenwärtig, denn auch die Stadt wurde neu aufgeteilt und internationale Werbefirmen konkurrierten um jeden Meter sichtbaren, das heißt vermarktbaren öffentlichen Raum. Aber im Gegensatz zur Situation um 1900 blieb dieser „Plakat-Lärm“ – abgesehen von kurzfristigen Skandalen wie der Benetton-Kampagne – unangefochten. Plakate waren nicht länger bedrohlich, sondern nur ein fröhlicher Jingle unter vielen anderen. Sie waren nicht länger ein ästhetisches Ärgernis im städtischen Raum wie um 1900 oder wurden wegen ihres angeblichen Einflusses auf den menschlichen Willen gefürchtet und kritisiert. Ganz im Gegenteil wurden sie nun als eine zwingende Notwendigkeit angesehen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Plakate, die in den 1990er-Jahren übrigens eine 40 In den späten 1970er-Jahren empfahl die Philosophin und Bioethikerin Mary Warnock dem Ideologen der Neoliberalisten Keith Joseph das Buch Anarchy, State and Utopia (1974) von Nozick. Warnock erinnerte sich später daran, dass er es mit großem Interesse gelesen und an andere ranghohe britische Konservative weitergegeben habe (Warnock 2001: A Memoir. People and Places. London: Duckworth, 182, zitiert in Duncan Wilson 2012: Who Guards the Guardians? Ian Kennedy, Bioethics and the Ideology of Accountability. Social History of Medicine, 25, 193–211). Keith Joseph (1918–1994), ein Bewunderer des Friedman’schen Monetarismus, war der Hauptverantwortliche für das, was später als Thatcherismus bekannt wurde. Er gehörte von 1979 bis 1986 Thatchers Kabinett an, zunächst als Wirtschaftsminister, später als Minister für Bildung und Wissenschaft.

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Renaissance im Stadtbild erlebten, reflektierten die prosperierende neoliberale Wirtschaftsordnung. Sie warben für eine Welt der endlosen Möglichkeiten, in der rationale Konsumenten ihren natürlichen Instinkten folgten und sie befriedigten. Auch im akademischen Bereich machte sich dieses neue Verhältnis zwischen Menschen und Dingen bemerkbar, für das schon die Österreichische Schule eingetreten war. Quer durch das politische, soziale, kulturelle und intellektuelle Spektrum vermittelten insbesondere im angloamerikanischen Raum Theoretiker des Postmodernismus und -strukturalismus diese neue Beziehung. Indem sie jegliche Art von Universalismus kritisierten, spielten sie – sicherlich unabsichtlich – auch den Vermittler für einen intellektuellen Dekonstruktivismus des Sozialen, was dem neuen neoliberalen Lager in der Wirtschaft und der Politik nur Recht sein konnte.41 Die Kategorie des Sozialen, die bisher mit primär menschlichen Interessen und Aktivitäten gefüllt worden war, wurde zunehmend hinterfragt. Autoren, wie der französische Wissenschaftssoziologe Bruno Latour, vertraten die vormoderne Ansicht, dass in der Formierung sozialer Realität nicht nur Menschen, sondern auch materielle Dinge, Tiere oder Bakterien als gleichberechtigte Akteure mit beteiligt sind.42 Zeitgleich mit dieser Erweiterung des Verständnisses von agency auf nicht-menschliche Akteure und materielle Dinge in der Wissenschaft zeichnete sich in der westlichen Wirtschaftswelt ab, dass der Produktion materieller Güter zunehmend eine geringere wirtschaftliche Bedeutung zugeschrieben wurde als ihrer Werbung, ihrem Marketing, ihrer Finanzierung und ihrem Management. Computergestützte Kopfarbeit oder internationales Banking-Business, die an sich nichts Materielles produzieren, bestimmten die Wirtschaft und beschäftigten immer größere Teile der westlichen Bevölkerung. In seinem Bemühen, ein kritisches Schlagwort für diese postindustrielle Sozialität von neocorporationism, informationalism und politischer Entmachtung zu finden, kam der amerikanische Literaturwissenschaftler Alan Liu analog zu den in der Vergangenheit gefeierten Naturgesetzen schließlich auf die Formel der „laws of cool“.43 Etwas überspitzt könnte man sagen, dass diese laws of cool der neoliberalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts den Schauwert des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ersetzt haben. Toscanis Plakat von David Kirbys Final Moment ist Teil und deutliche Illustration des Funktionierens dieser neoliberalen „coolen Wirtschaftswelt“, die zunehmend verhaltens­ 41 François Cusset 2008: French Theory. How Foucault, Derrida, Deleuze, & Co. Transformed the Intellectual Life of the United States. Übersetzung von Jeff Fort, Minneapolis: University of Minnesota Press, siehe auch Harvey 2005: 42 f. 42 Latour wollte die Wirklichkeit jenseits der alten strukturalistischen Grenzen reinterpretieren, verkaufte uns aber leider die neoliberale Welt von Netzwerken, Tauschhandel und so weiter. Siehe Roger Cooter und Claudia Stein 2013: The New Poverty of Theory. Material Turns in a Latourian World. In: Cooter mit Stein 2013: 205–228, siehe auch Philip Mirowski 2012: A History Best Served Cold. In: Joel Isaac und Duncan Bell (Hg.): Uncertain Empire. American History and the Idea of the Cold War. Oxford: Oxford University Press, 61–74. 43 Alan Liu 2004: The Laws of Cool. Knowledge Work and the Cultural of Information. Chicago/London: University of Chicago Press, insbes. 292–294. Zur politischen negation siehe J. D. Taylor 2013: Negative Capitalism. Cynicism in the Neoliberal Era. Alresford/Hants: Zero Books.

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psychologische Theorien zu Hilfe nahm, um zu erklären, wie das Individuum biologisch funktioniert und wie kommerzielle Werbung auf ein so auf den Instinkt orientiertes Wesen am besten einwirken könnte. Es ist sicherlich richtig, dass Toscanis Plakat zu einem Zeitpunkt erschien, als der klassische Wohlfahrtsstaat noch nicht vollständig unterwandert worden war, und dass AIDS daher auch noch als ein prinzipiell soziales Problem wahrgenommen wurde. Dennoch spielte sein Plakat mit den neuen Wirtschaftsund Werbeprinzipien und der Idee des neuen, instinktgetriebenen Konsumenten. Forschungen in der Körpergeschichte haben gezeigt, dass sich seit den 1990er-Jahren die Identität dieser begehrenden Konsumenten zunehmend über den Körper konstruierte, nicht zuletzt ein Resultat der kommerziellen Werbung für Produkte und Dienstleistungen, die den gesunden, schönen und leistungsfähigen Körper im Mittelpunkt ihrer Strategien positionierten.44 Wir haben an anderer Stelle gezeigt, wie diese Reduktion von menschlicher Identität auf den individuellen Körper unter anderem dazu führte, dass die traditionelle Idee der nationalen Staatsbürgerschaft und dazugehörige Praktiken zunehmend durch die einer globalen Biostaatsbürgerschaft ersetzt wurde.45 Eine der Folgen war, dass sich die Idee des Homo oeconomicus und Homo biologicus erfolgreich verbanden. Wir argumentieren hier, dass das Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland konstatierte Missverhältnis zwischen dem Sich-selbst-Kennen, wie es in der Österreichischen Schule der Nationalökonomie theoretisiert wurde, und dem Sich-selbst-durchseine-Biologie-Kennen in den 1990er-Jahren langsam verschwand. Dies passierte, obwohl AIDS zeitweise den Ruf des bakteriologischen Verständnisses des Selbst beeinträchtigte, was erst in den späten 1990er-Jahren mit der Entdeckung des AIDS-Virus wieder behoben werden konnte. Beide Formen der Selbstwahrnehmung gerieten zunehmend in Einklang miteinander und sind heute kaum noch voneinander zu trennen. Die Überlappung von biologischen und auf das Individuum fokussierten Ansätzen in der ökonomischen Theorie, die die deutsche Historische Schule der Nationalökonomie an der Wende zum 20. Jahrhundert in Aufregung versetzt hatte, beunruhigte an der Wende zum 21. Jahrhundert niemanden mehr. Das ökonomische Selbst war bereits untrennbar mit dem biologischen verbunden. Letzteres reduzierte sich aufgrund des Einflusses der

44 Roger Cooter 2010: The Turn of the Body. Social History of Medicine, 23, 662–672 [wieder abgedruckt mit einer historischen Einleitung in Cooter mit Stein 2013: 91–111]. AIDS-Plakate, die dazu beitrugen, dass öffentliche Gesundheitsplakate wieder in Mode kamen, dienten meistens nur der Akzeptanz und dem Verkauf von Kondomen, durch deren Gebrauch der neoliberalisierte, individualisierte schöne Körper geschützt werden konnte. Man darf auch nicht vergessen, dass zu dieser Zeit gemeinnützige Organisationen, die viele dieser Plakate produzierten, ebenso wie Staaten von der ökonomischen Logik der Wertsteigerung gesteuert waren. Siehe Bryan S. Turner 2001: The Erosion of Citizenship. British Journal of Sociology, 52, 189–209. 45 Claudia Stein und Roger Cooter 2011: Visual Objects and Universal Meanings. “Globalisation” and History. Medical History, 55, 85–108 [wieder abgedruckt mit einer historischen Einleitung in Cooter mit Stein 2013: 141–159]. Vgl. auch Nikolas Rose 2007: The Politics of Life Itself. Biomedicine, Power, and Subjectivity in the Twenty-first Century. Princeton: Princeton University Press.

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Neurowissenschaften allerdings zunehmend allein auf das Gehirn, während die Idee einer Wissenschaft der menschlichen Psyche als überholt angesehen wurde.46 Im Rahmen der heutigen Werbung erscheint Toscanis Plakat kaum noch als bemerkenswert. Zu sehr haben wir uns an die Welt gewöhnt, in der Homo oeconomicus und Homo biologicus ein und dasselbe sind. Der Rubikon ist längst überquert. Diejenigen, die den christlichen Glauben ernst nehmen oder dem Zeitalter des Wohlfahrtsstaates nachtrauern, mögen die religiös anmutende Ikonografie immer noch als anstößig empfinden. Aber die soziopolitischen und ökonomischen Ideen, mit denen das Plakat in den 1990er-Jahren noch spielte, sind heute bereits eine lang gelebte tagtägliche Wirklichkeit. Toscanis Plakat, so könnte man sagen, schockiert nicht mehr, weil seine Aussage ein Teil unseres Selbstverständnisses geworden ist. Wir erkennen uns selbst hauptsächlich durch Referenzen zu unserer Biologie und dieses Verständnis ist in Einklang mit dem, was der Wirtschaftshistoriker Philip Mirowski als das totalisierende neoliberale Verständnis der Welt identifiziert und als neuen „revolutionären Begründungszusammenhang von Selbst, Wissen, Informationen, Märkten und Regierung“ bezeichnet hat. Es sei unmöglich, argumentiert er, diesem Konglomerat des heutigen Selbst, etwas entgegenzusetzen.47 Aus dieser Perspektive verweist Toscanis Plakat rückblickend betrachtet nicht nur auf David Kirbys Final Moment, sondern gewährt uns einen letzten flüchtigen Blick auf ein vergangenes alternatives Verständnis dessen, was es heißen kann, ein Mensch zu sein und sich selbst zu erkennen.

Gesundheit, Werbung und der Markt Wir sind nicht die Ersten, die darauf hinweisen, dass Plakate für die Geschichte der Medizin und die öffentliche Gesundheitsfürsorge interessante und wichtige Forschungsobjekte sind. Insbesondere seit dem visual turn der 1990er-Jahre haben viele Geisteswissenschaftler Plakate untersucht, um die verschiedenen Möglichkeiten menschlicher und kultureller Identitätskonstruktion zu erhellen oder auf ihre wichtige Rolle bei der Popularisierung biologischen Wissens hinzuweisen. Diese Zusammenhänge haben wir in früheren Veröffentlichungen selbst genauer untersucht. In diesem Beitrag haben wir uns allerdings bemüht, über die Interpretation von Inhalten, die sich weitgehend auf die 46 Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Neurowende siehe Roger Cooter 2014: Neural Veils and the Will to Historical Critique. Why Historians of Science Need to Take the Neuro-Turn Seriously. Isis, 105, 145–154. 47 Mirowski 2013 schließt, „dass neoliberales Denken so weit verbreitet ist, dass jeder Gegenbeweis nur dazu dient, dessen Apostel noch mehr von seiner grundlegenden Wahrheit zu überzeugen. Nachdem der Neoliberalismus erst einmal eine Theorie von allem geworden war, die einen revolutionären Begründungszusammenhang von Selbst, Wissen, Informationen, Märkten und Regierung lieferte, konnte er durch nichts so Unbedeutendes wie Daten aus der ‚wahren‘ Wirtschaft mehr widerlegt werden.“ (Klappentext).

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sichtbaren Aspekte von Plakaten stützen, hinauszugehen. Wir haben uns deshalb auf das Medium des Plakats selbst, seine Form, wie wir es hier genannt haben, und auf die sich historisch wandelnden Vorstellungen über seine Funktion als Instrument kapitalistischer Wirtschaftspraxis konzentriert. Während der inhaltsbezogene konstruktivistische Ansatz einen wertvollen Einblick in die sich verändernden Beziehungen zwischen Identität und Kultur gewährt, lieferte der formbezogene Zugang Hinweise auf die veränderlichen Wechselbeziehungen zwischen Individuum, Gesellschaft und Wirtschaft. Es ging uns in diesem Beitrag darum, anzudeuten, wie auch das Verständnis dieses Verhältnisses sich im Laufe der Zeit verändert hat. Man denke an Gustav Schmoller, der kommerziellen Plakaten allgemein äußerst misstrauisch gegenüberstand, obwohl er in einer Welt lebte, die bereits von rapider Industrialisierung und Massenproduktion geprägt war. Sein Misstrauen gegenüber dem kommerziellen Plakat nährte sich aus seiner politischen Überzeugung, dass der kapitalistische Markt durch bewusste staatliche Planung, Organisation und Berechnung gezähmt und zu einem vorhersehbaren und lenkbaren Wesen gemacht werden könnte.48 In seinen sozialliberalen Vorstellungen dominierte und organisierte das rationale Individuum noch den kapitalistischen Markt. Und die gelebte Realität im Deutschen Reich der Jahrhundertwende, in dem das gemeinschaftliche Wohl durch die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen, wie zum Beispiel einer staatlichen Gesundheitsversorgung durch Staat und Gemeinden sowie staatlicher Regulierungen der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung, zunehmend geschützt wurde, gab ihm recht. Kommerzielle Plakate waren für Schmoller bestenfalls ein notwendiges Übel. Er und seine Kollegen der Historischen Schule verachteten insbesondere solche Plakate als unnötigen Wildwuchs eines spezifisch amerikanischen Kapitalismus, die Bereiche der allgemeinen sozialen Wohlfahrt vermarkteten. Hygiene und Gesundheit standen für Bereiche, deren Kontrolle der deutsche Staat durch entsprechende Gesetzgebung und Sozialversicherungen zunehmend an sich zog. In den Vorstellungen der Nationalökonomen der Historische Schule befanden sich das Individuum, die Gesellschaft und die Wirtschaft in einer intimen Wechselbeziehung, die historischen Veränderungen unterworfen war. Aufgrund der damals weitverbreiteten Überzeugung von der Historizität dieser Wechselbeziehung hatte Carl Mengers Idee des subjektiven Werts, der zufolge individuelle Handlungen und Wünsche die einzige treibende Kraft hinter wirtschaftlichem Wachstum waren, noch wenig Hoffnung auf Akzeptanz und Anerkennung. Mengers Ideen wurden erst in den 1980er- und 1990er-Jahren realisierbar, als nicht nur der Sozialismus vor dem Untergang stand, sondern auch die Praktiken und Werte der sozialen Marktwirtschaft zunehmend infrage gestellt wurden. Regierungen auf der ganzen Welt machten sich seine Ideen und die seiner Schüler zu eigen, nach denen das Individuum die Triebfeder wirtschaftlicher Prosperität darstellte. Im Kontext dieser neuen Vorstellungen endete die Geschichte des Misstrauens gegen kommerzielle Plakate allgemein und insbesondere gegenüber solchen aus dem Gesundheits- und Hygienebereich. Diese 48 Grimmer-Solem 2003: 209.

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Entwicklung wurde nicht zuletzt durch die zunehmende Verschmelzung von Gesundheit und Kommerz beziehungsweise der modernen globalen Biowissenschaften und der Wirtschaft ermöglicht. Die Reaktionen auf Toscanis Plakat waren einmalig und zeigen den Moment, in denen Mengers Vorschläge, die bis dahin mehr und minder nur Ideen gewesen waren, zur praktischen Realität wurden. Die beiden Plakate, auf die wir uns hier konzentriert haben, zeugen von bewegten Zeiten, was das „Making-up“ von Individuen angeht, um den von dem Wissenschaftsphilosophen Ian Hacking geprägten Begriff für die Konstruktion moderner Identität zu verwenden.49 Obwohl Plakate nur kurzlebige Objekte sind, tragen sie zu den oben geschilderten Prozessen der Neuerfindung des Wissens über das Selbst durch ihre oft bildhafte Sprache bei und reflektieren diese. Darüber hinaus haben wir hier versucht zu zeigen, dass Plakate als zentrales Medium kapitalistischer Wirtschaftspraktiken (und insbesondere die Kontroversen über ihre Veröffentlichung) auch widerspiegeln, was zu einem bestimmten Zeitpunkt über das Verhältnis des Menschen zu materiellen Dingen gedacht und diskutiert wurde. Plakate sind der Ausdruck und die Summe kapitalistischer Diskurse einer Zeit. Sie geben Aufschluss über das Modell eines ökonomischen Selbst. Als Medizin- und Wissenschaftshistoriker sollten wir uns deshalb nicht nur für die Waren und Dienstleistungen interessieren, für die ein Plakat wirbt, also seinen Inhalt. Genauso wichtig ist es auch, das Plakat als Medium im Rahmen der Logik des Kapitalismus zu betrachten und zu untersuchen, welche Idee vom Menschsein hier umworben wird. Plakate, und somit auch die, die für Gesundheit und Hygiene werben, müssen als das gesehen werden, was sie verkaufen, nämlich eine Art der Selbsterkenntnis, die sich historisch auf die Logik des modernen Kapitalismus stützt. Übersetzung aus dem Englischen von Sylvia Zirden.

49 Ian Hacking 1986: Making-up People. In: Thomas Heller, Morton Sosna und David Wellberry (Hg.): Reconstructing Individualism. Stanford: Stanford University Press, 222–236 [übersetzt von Joachim Schulte als „Leute erfinden“. In: ders. 2006: Historische Ontologie. Zürich: Chronos, 119–135].

Danksagung

Wie sein tragendes Forschungsprojekt hat auch dieses Buch eine längere Vorgeschichte und wäre ohne seine Initiatoren und Unterstützer auf verschiedenen Ebenen nicht in dieser Weise zustande gekommen. Einige, denen an dieser Stelle zu danken ist, mögen sich an ihre Anstoß gebende Rolle vielleicht gar nicht mehr erinnern, solange ist es schon her. Zuerst nenne ich gerne Martin Roth, der vor mehr als 20 Jahren, als damaliger Direktor des Deutschen Hygiene-Museums, mich gemeinsam mit anderen Promovierenden und Postdoktorierenden aus einer Berliner Sommerschule des Walter-RathenauProgramms für Wissenschaftsgeschichte der VolkswagenStiftung nach Dresden entführte. Dies geschah in der Hoffnung, dass sich unter uns so etwas wie ein professionelles Interesse für die Ausstellungs- und Objektgeschichte seines Museums entwickeln würde. Ich habe damals den Ball sehr gerne aufgenommen und mich mit der Rhetorik von statistischen Darstellungen in der Gesundheitsaufklärung am Beispiel der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 befasst, ansatzweise noch in meiner Dissertation an der Technischen Universität Dresden und dann weiterführend, teilweise auch international vergleichend, in Postdoktorandenprojekten in Paris, Cambridge, Berlin und Bielefeld. Der eigentliche Spiritus Rector des Forschungsprojekts „Erkenne Dich selbst!“ Visuelle Gesundheitsaufklärung mit Wissensobjekten aus dem Deutschen Hygiene-Museum im 20. Jahrhundert und damit auch für dieses Buch ist Hans-Jörg Rheinberger vom Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, dem ich für sein Vertrauen, wohl dosierte Ratschläge und institutionelle Unterstützung danke. Er kam im Herbst 2006 auf mich zu mit dem Vorschlag, einen gemeinsamen Projektantrag zur Geschichte des Museums im 20. Jahrhundert zu entwickeln. Inzwischen war ich in meinen Forschungen bei Otto Neuraths Bildstatistik und seinem Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum angekommen, verfolgte interessiert das neue Forschungsfeld der Wissenschaftspopularisierung und -visualisierung und befasste mich mit der Entwicklung des Verhältnisses von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert. Schon in der Antragsvorbereitung wurde klar, dass das historische Erbe des Deutschen Hygiene-Museums erstaunlich vielfältige interessante Facetten hat. Es erschien uns deshalb nicht zielführend, die Betrachtung auf Produkte für die Gesundheitsaufklärung oder die Wissenschaftspopularisierung zu reduzieren. Auch die Beschränkung auf die Periode des Nationalsozialismus hielten wir zu diesem Zeitpunkt angesichts des noch dürftigen Forschungsstands genauso wenig für sachgerecht, wie die Geschichte dieses Hauses den Eindruck erweckte, als könne man sie als isolierte lokale Erscheinung erzählen. Von der Notwendigkeit, bisherige Forschungsperspektiven auf diese Institution im Sinne einer integrierten Kultur-, Wissens- und Politikgeschichte von Körperbildern zu

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Danksagung

erweitern, waren Klaus Vogel und Gisela Staupe vom Vorstand des Deutschen HygieneMuseums genauso schnell überzeugt wie der wissenschaftliche Beirat des Projekts, der aus Anke te Heesen (Berlin), Doris Kaufmann (Bremen), Herbert Mehrtens (Braunschweig) und Volker Roelcke (Gießen) bestand. Alle sechs haben erste Entwürfe, die letztlich erfolgreiche Beantragung des Projekts sowie die Durchführung und Diskussion seiner Ergebnisse mit guten Ratschlägen begleitet und ihnen bin ich deshalb sehr dankbar. Die VolkswagenStiftung hat nicht nur meine Stelle drei Jahre finanziert, sondern auch sonst das Projekt, seine Veranstaltungen und die Drucklegung dieses Bandes großzügig gefördert. Ihrem Generalsekretär Wilhelm Krull und der Referentin der Förderinitiative „Forschung in Museen“ Adelheid Wessler bin ich deshalb zu Dank verpflichtet. Gerade auch in organisatorischer und finanzieller Hinsicht ist wiederum dem Vorstand des Deutschen Hygiene-Museums zu danken, der mehrere Arbeitstreffen im Vorfeld der Antragstellung ermöglichte, ein Promotionsstipendium in enger Bindung an das Forschungsprojekt stiftete und sich an der Organisation und Durchführung der Abschlusstagung aktiv beteiligte. Vor, während und auch nach dem offiziellen Ende der Projektlaufzeit war und bin ich der Universität Bielefeld dankbar dafür, dass ich ihre hervorragenden Forschungsinfrastrukturen nutzen konnte, zuerst am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung und nach dessen Schließung seit 2013 an der Fakultät für Geschichtswissenschaften, Philosophie und Theologie und am neuen Interdisciplinary Institute for Interdisciplinary Studies of Science, was ich Peter Weingart und Martin Carrier zu verdanken habe. Die Antragstellung hatte bereits sehr viel vom engen fachlichen Austausch mit Christina Benninghaus (Bielefeld), Bernd Gausemeier (Berlin), Hans-Walter Schmuhl (Bielefeld) und Heiko Stoff (Braunschweig) profitiert. Bei meiner Bielefelder Arbeitsgruppe, bestehend aus den fünf Doktorandinnen und Doktoranden Berit Bethke, Thomas Steller, Christian Sammer, Anna-Gesa Leuthardt und Lioba Thaut sowie den beiden Masterstudenten Mathis Nolte und Marcel Jacobsmeier, bedanke ich mich für den fast täglichen Austausch über alles, was mit unserem gemeinsamen Untersuchungsobjekt irgendwie zu tun hatte. Über den längeren Zeitraum erwiesen mir Anna-Gesa Leuthardt, Jan-Christoph Thon, Anja Heller, Hanna Reiß und Mathis Nolte von der Universität Bielefeld sowie Carsten Flaig und Sandra Ziegler von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg wertvolle Dienste als studentische Hilfskräfte, insbesondere in der Recherche und Besorgung von Literatur. Ohne die Unterstützung in der Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums durch Susanne Roeßiger und Marion Schneider hätten wir alle in unseren Ausstellungs- und Objektanalysen nur an der Oberfläche kratzen können und damit letztlich viel Forschungspotential verschenkt. Beiden wie auch Susanne Illmer, Anja Sommer und Christoph Wingender vom Museum danke ich für ihren Einsatz in der Durchführung des Projekts und der Abschlusstagung. Letztere hat Julia Voss (Frankfurt a. M.) durch ihren Kommentar des öffentlichen Abendvortrags von Ludmilla Jordanova sehr bereichert. Ich bin wiederum Anke te Heesen, Hans-Jörg Rheinberger und

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Gisela Staupe dankbar für Rat und Tat bei der Konzeption der Tagung und Adelheid Wessler für ihr Grußwort. Dass sich alle Referentinnen und Referenten bereit erklärt haben, ihre Vorträge zu Aufsätzen dieses Sammelbandes umzuarbeiten, empfinde ich als Glücksfall. Dazu kamen die Beiträge von Lioba Thaut, Sandra Mühlenberend und Michael Tymkiw. Allen Autorinnen und Autoren bin ich zu großem Dank verpflichtet, weil sie sich auf meinen sportlichen Zeitplan eingelassen und sich jederzeit gegenüber Überarbeitungsvorschlägen und Revisionswünschen offen gezeigt haben. Beim Lektorat des gesamten Bandes, inklusive der Übersetzung der Beiträge von Nick Hopwood, Ludmilla Jordanova, Michael Tymkiw und Claudia Stein/Roger Cooter, durfte ich auf die professionelle Unterstützung von Annette Wunschel, Sylvia Zirden, Katja Kynast und Birgit Kolboske zurückgreifen. Ihnen bin ich für die gute Zusammenarbeit und ihren professionellen Umgang mit den Texten sehr zu Dank verpflichtet. Gisela Staupe danke ich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe des Deutschen Hygiene-Museums sowie Harald Liehr, Julia Beenken und Sandra Hartmann für die wohlwollende Behandlung, viel Geduld und zuvorkommende Umsetzung des Buchprojekts durch den Böhlau Verlag. Berlin/Bielefeld im Herbst 2014

Die Autoren und Autorinnen

Lars Bluma Dr., ist seit 2012 Leiter des Forschungsbereichs Bergbaugeschichte am Deutschen Bergbau-Museum Bochum und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Er wurde mit einer Arbeit über die Kybernetik im Zweiten Weltkrieg an der Ruhr-Universität Bochum promoviert und war dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Technikgeschichte sowie am Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bergbau-, Technik-, Industrialisierungs- und Körpergeschichte sowie die bildlichen Darstellungen von Technik und Wissenschaft. Zuletzt hat er gemeinsam mit Karsten Uhl herausgegeben: Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2012. Roger Cooter Prof. Dr., ist seit 2002 Wellcome Professional Fellow am University College London. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Medical History und war vorher u.a. als Reader am Center for History of Science, Technology and Medicine an der University of Manchester und als Professor an der University of East Anglia in Norwich tätig. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Wissenschafts- und Medizingeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Er hat Studien zur Geschichte und Historiografie einer Vielzahl von Themen vorgelegt: u.a. zur alternativen Medizin, medizinischen Ethik, Gesundheitspolitik und -fürsorge, Medizin im Krieg, der Popularisierung von Wissenschaft, Phrenologie, Orthopädie, Pädiatrie, Behinderung und Nahrungsmittelsicherheit. Gemeinsam mit Claudia Stein schreibt er zurzeit eine Monografie zur visuellen Gesundheitsaufklärung im deutschbritischen Vergleich, siehe u.a.: Claudia Stein und Roger Cooter 2011: Visual Objects and Universal Meanings. Aids Posters and the Politics of Globalisation and History. Medical History, 55, 85–108 sowie Roger Cooter 2011: Medicine and Modernity. In: Mark Jackson (Hg.): The Oxford Handbook of the History of Medicine. Oxford: Oxford University Press 100–116 ; Roger Cooter 2012: Preisgabe der Demokratie. Wie die Geschichts- und Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften absorbiert werden. In: Michael Hagner (Hg.): Wissenschaft und Demokratie. Berlin: Suhrkamp, 88–111 und Roger Cooter mit Claudia Stein 2013: Writing History in the Age of Biomedicine. New Haven/London: Yale University Press. Noyan Dinçkal PD Dr., ist seit 2014 Akademischer Oberrat auf Zeit am Historischen Institut der Universität Paderborn. Er promovierte an der TU Berlin mit einer Studie zur Wassergeschichte

Die Autoren und Autorinnen

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Istanbuls, war wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Technikgeschichte des Instituts für Geschichte der TU Darmstadt und habilitierte sich dort für Neuere und Neueste Geschichte mit einer Arbeit zur Raumgeschichte des Sports. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozial- und Kulturgeschichte der Technik, Körper-, Stadt- und Umweltgeschichte sowie Wissenschaftsgeschichte. Zurzeit arbeitet er zum Thema Kriegsversehrung und Prothetik nach 1945. Zuletzt erschien die Monografie: Sportlandschaft. Sport, Raum und (Massen)Kultur in Deutschland, 1880–1930. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. Nick Hopwood Dr., ist Reader in History of Science and Medicine am Department of History and Philosophy of Science der University of Cambridge. Er wurde in der Entwicklungsbiologie an der University of Cambridge promoviert, befasst sich seitdem intensiv mit der Geschichte der Embryologie und ist Principal Holder eines Wellcome Trust strategic award in der Medizingeschichte zum Thema „Generation to Reproduction“. Seine Forschungsinteressen liegen in der Geschichte der modernen Medizin und Biologie und der visuellen Kultur der Wissenschaften. Zuletzt hat er u.a. zusammen mit Tatjana Buklijas die Online-Ausstellung Making Visible Embryos (http://www.hps.cam.ac.uk/ visibleembryos/) gemacht. Die Monografie Haeckel’s Embryos. Images, Evolution, and Fraud ist 2015 bei der University of Chicago Press erschienen. Ludmilla Jordanova Prof. Dr., ist seit September 2013 Professor for History and Visual Culture an der University of Durham. Vorher hatte sie verschiedene Professuren an den Universitäten in Essex, York und East Anglia sowie zuletzt am Kings College London inne. Sie ist seit 2011 als Trustee für die Science Museum Group tätig sund damit verbunden Chair of Research and Collections Committee und Mitglied des Advisory Board des National Railway Museums in York. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der visuellen und materiellen Kultur der Wissenschaften und Medizin sowie in den Praktiken der Geschichtsschreibung und der public history. Sie hat verschiedene Studien zur Geschichte der Evolutionstheorie, Geschlechtergeschichte der Wissenschaften und Medizin, zum Wissenschaftlerporträt sowie zur Praxis des Historikers veröffentlicht. Zuletzt erschien die Monografie: The Look of the Past. Visual and Material Evidence in Historical Practice. Cambridge: Cambridge University Press 2012. Anja Laukötter Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin. Sie promovierte mit einer Studie zur Geschichte der deutschen Völkerkundemuseen und der Geschichte der Ethnologie und Anthropologie im beginnenden 20. Jahrhundert in der Neueren und Neuesten Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und war in verschiedenen Forschungs-

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Die Autoren und Autorinnen

projekten wie zur Geschichte des Robert-Koch-Instituts im Nationalsozialismus am Institut für Geschichte der Medizin an der Charité in Berlin tätig. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Wissens- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, in der Geschichte der Emotionen und in der Medien- und Visualisierungsgeschichte. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt „Emotionen und Wissen im Gesundheitsaufklärungsfilm, 1910–1990“ befasst sie sich mit der internationalen Filmgeschichte. Zuletzt erschienen von ihr: Lebrach’s Pain. In: Ute Frevert u.a. (Hg.): Learning How to Feel. Children’s Literature and the History of Emotional Socialization, 1870–1970. Oxford: Oxford University Press 2014, 155–172 sowie Wissen als Animation. Zur Transformation der Anschaulichkeit im Gesundheitsaufklärungsfilm. Montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 2 (2013), Themenheft: Animationen, 2, 79–96. Sie ist zudem Mitherausgeberin des Internet-Portals History of Emotions – Insights into Research (https://www.history-of-emotions.mpg.de/de). Anna-Gesa Leuthardt M. A., ist Mitglied der Bielefeld Graduate School in History and Sociology, der Arbeitsgruppe „Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums“ und Stipendiatin des Rektorats der Universität Bielefeld. Sie hat Geschichtswissenschaft an der Universität Bielefeld studiert und promoviert dort auch über Geschlecht in der Sexualaufklärung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden im 20. Jahrhundert. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Kultur-, Geschlechter- und Medizingeschichte des 20. Jahrhunderts. Anna Maerker Dr., ist Senior Lecturer for History of Medicine am Department of History des King’s College London. Sie wurde am Department for Science and Technology Studies der Cornell University mit einer Arbeit zu den anatomischen Wachsmodellsammlungen in Florenz und Wien im 18. Jahrhundert promoviert, die 2011 unter dem Titel Model Experts: Wax Anatomies and Enlightenment in Florence and Vienna, 1775–1815 bei der Manchester University Press erschien. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der materiellen und visuellen Kultur der Wissenschaften und Medizin seit dem 18. Jahrhundert. Zuletzt erschienen: Zum Nutzen anatomischer Modelle. In: Eva Meyer-Hermann (Hg.) 2014: Blicke! Körper! Sensationen. Ein anatomisches Wachskabinett und die Kunst. Göttingen: Wallstein, 149–153 und Within One’s Grasp. Anatomical Displays from Cabinet of Curiosities to Shop Window. Historical Social Research 40 (2015), 284–300. Sandra Mühlenberend Dr., leitet zur Zeit das Forschungsprojekt „Der anatomische Unterricht an der Kunstakademie Dresden während der NS-Zeit“ an der Hochschule für Bildende Künste Dresden und war von 2008 bis 2013 wissenschaftliche Referentin der Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums und dort für die Sammlungsbereiche Moulagen und anatomische Modelle verantwortlich. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in Modelldiskursen, in

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den anatomischen Körperbildern in Wissenschaft und Kunst sowie auf dem Gebiet der Sammlungsgeschichte und -strategien. Sie wurde mit einer Arbeit über die anatomische Sammlung der Kunstakademie Dresden an der Universität Kassel promoviert, die 2007 unter dem Titel Surrogate der Natur. Die historische Anatomiesammlung der Kunstakademie Dresden beim Münchener Wilhelm Fink Verlag erschien, und hat während ihrer Forschungsarbeit am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin und am Deutschen Hygiene-Museum Publikationen zu kunstanatomischen und medizinischen Lehrsammlungen im Allgemeinen und zu Moulagen, Écorchés und Präparaten im Speziellen vorgelegt. 2014 veröffentlichte sie gemeinsam mit Susanne Roeßiger: Referenzobjekte der Jetztzeit. 2000–2010. Ein Projekt des Deutschen Hygiene-Museums zum Sammeln in der Gegenwart. In: Sophie Elpers und Anna Palm (Hg.): Musealisierung der Gegenwart. Bielefeld: transcript, 107–122. Sybilla Nikolow PD Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin und Gastwissenschaftlerin am Interdisciplinary Institute for Studies of Science der Universität Bielefeld tätig. Im Rahmen des BMBF-Verbundprojekts „ANTHROPOFAKTE. Schnittstelle Mensch“ des Förderprogramms Die Sprache der Objekte beschäftigt und befasst sie sich dort mit der Technik-, Kultur- und Medizingeschichte von Körperprothesen seit dem Ersten Weltkrieg. Von 2010 bis 2014 führte sie das von der VolkswagenStiftung geförderte Forschungsprojekt „‚Erkenne Dich selbst!‘ Visuelle Gesundheitsaufklärung mit Wissensobjekten aus dem Deutschen Hygiene-Museum im 20. Jahrhundert“ durch und leitete an der Universität Bielefeld die Arbeitsgruppe „Geschichte des Deutschen HygieneMuseums“. Nach Studium der Mathematik und Physik an der Universität Leipzig und Promotion in Neuerer und Neuester Geschichte an der Technischen Universität Dresden hatte sie Postdoc-Stipendien in Berlin, Paris, Cambridge und Bielefeld und war anschließend in verschiedenen Forschungsprojekten am Bielefelder Institut für Wissenschafts- und Technikforschung und am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte tätig. Sie war auch geschäftsführende Redakteurin der NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin des Springer Verlags (2008–2013), habilitierte sich an der Technischen Universität Braunschweig und nahm Vertretungsprofessuren an den Universitäten in Frankfurt a. M., Bremen, Bielefeld und Freiburg wahr. Zuletzt erschien von ihr: Wissenschaft, Öffentlichkeit und die Rolle der Medien. Problematik, Konzepte und Forschungsfragen. In: Sebastian Brand, Christa Irene-Klein, Nadine Kopp, Sylvia Paletschek, Livia Prüll und Olaf Schütze (Hg.) 2014: Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in Westdeutschland (1945 bis ca. 1970). Stuttgart: Steiner, 39–57. Susanne Roeßiger ist Kulturwissenschaftlerin, seit 1991 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Deutsches Hygiene-Museum und seit 1993 Leiterin der Abteilung Sammlung. In dieser Funk-

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tion hat sie verschiedene Projekte zu einzelnen Sammlungsschwerpunkten geleitet. Seit August 2013 leitet sie das Teilprojekt Schnittstelle Mensch. Artefakte zur Prothetik im Deutschen Hygiene-Museum im BMBF-Förderprogramm Die Sprache der Objekte. Sie ist Mitautorin der vom Deutschen Museumsbund 2013 herausgegebenen Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen. 2014 veröffentlichte sie gemeinsam mit Sandra Mühlenberend: Referenzobjekte der Jetztzeit. 2000–2010. Ein Projekt des Deutschen Hygiene-Museums zum Sammeln in der Gegenwart. In: Sophie Elpers und Anna Palm (Hg.): Musealisierung der Gegenwart. Bielefeld: transcript, 107–122. Christian Sammer M. A., war 2013/2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Johannes-Gutenberg Universität Mainz. Er ist Mitglied der Bielefeld Graduate School in History and Sociology und der Arbeitsgruppe „Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums“. Von 2010 bis 2013 war er Stipendiat des Deutschen Hygiene-Museums. Er hat Geschichts- und Politikwissenschaften an der HumboldtUniversität zu Berlin studiert und promoviert an der Universität Bielefeld über die deutschdeutsche Geschichte der Gesundheitsaufklärung. Seine Forschungsinteressen liegen in der Wissensgeschichte des Politischen im 20. Jahrhundert. Zuletzt erschien von ihm: „Das Ziel ist das gesunde Leben!“ Die Verflechtungen zwischen dem Deutschen Gesundheits-Museum in Köln (DGM) und dem Deutschen Hygiene-Museum in Dresden (DHM) in den 1950er Jahren. In: Detlev Brunner, Udo Grashoff und Andreas Kötzing (Hg.): Asymmetrisch verflochten? Neue Forschungen zur gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte. Berlin: Christoph Links Verlag 2013, 133–147. Max Stadler Dr., ist seit 2011 an der Professur für Wissenschaftsforschung der ETH Zürich sowie am NCCR Bildkritik/Eikones in Basel tätig. Er war zuvor Pre- und Postdoktorand am MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und wurde am Center for History of Science, Medicine and Technology am Imperial College London promoviert. Seine Forschungsinteressen liegen in der Technik- und Psychologiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Sein aktuelles Projekt „The User: Psychology, Machines, Design, 1930–1980“ beschäftigt sich mit einer Genealogie der Mensch-Maschine-Interaktion bzw. dem user als Modell des post-industriellen Denkens und Tuns. Zuletzt erschien von ihm: Neurohistory Is Bunk? The Not-so-deep History of the Post-classical Mind. Isis 105 (2014), 133–144. Claudia Stein, Dr., ist seit 2008 Associate Professor am History Department an der University of Warwick. Sie wurde an der Universität Stuttgart mit einer Studie über die sogenannte Franzosenkrankheit in der Frühen Neuzeit promoviert und war anschließend als Wellcome Trust Postdoctoral Fellow und Wellcome Trust Lecturer am History Department an der

Die Autoren und Autorinnen

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University of Warwick tätig. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Medizin- und Körpergeschichte der Frühen Neuzeit, seit neuerem auch in der visuellen Kultur des späten 19. und 20. Jahrhunderts. Gemeinsam mit Roger Cooter schreibt sie derzeit eine Monografie zur visuellen Gesundheitsaufklärung im deutsch-britischen Vergleich, siehe u.a.: Claudia Stein und Roger Cooter 2011: Visual Objects and Universal Meanings. Aids Posters and the Politics of Globalisation and History. Medical History, 55, 85–108 sowie Claudia Stein 2013: Divining and Knowing. Karl Sudhoffs Historical Method. Bulletin of the History of Medicine, 87, 198–224 und Claudia Stein 2013: Organising the History of Hygiene at the Internationale Hygiene-Ausstellung in Dresden in 1911. NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin, Neue Serie, 21, 355–387. Thomas Steller Dr. des., war Stipendiat an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology und der John Hopkins University in Baltimore sowie Mitglied der Arbeitsgruppe „Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums“. Er hat Europäische Kulturgeschichte an der EuropaUniversität Viadrina Frankfurt/Oder studiert und wurde 2014 mit seiner Arbeit „Volksbildungsinstitut und Museumskonzern. Das Deutsche Hygiene-Museum 1912–1930“ an der Universität Bielefeld promoviert. Seine Forschungsinteressen liegen in der Popularisierung von Wissenschaft und der Hygiene- und Körpergeschichte. Zuletzt erschien von ihm: Seuchenwissen als Exponat und Argument. Ausstellungen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten des Deutschen Hygiene-Museums in den 1920er Jahren. In: Malte Thiessen (Hg.) 2014: Infiziertes Europa. Seuchen im langen 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg De Gruyter, 94–114 [Beihefte zur Historischen Zeitschrift, N. F., 64]. Lioba Thaut M. A., ist seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Freilichtmuseum am Kiekeberg und Mitglied der Arbeitsgruppe „Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums“. Sie hat Kultur- und Museumswissenschaften an den Universitäten Frankfurt/Oder und Oldenburg studiert und promoviert an der Universität Leipzig zur Transformation des Deutschen Hygiene-Museums Dresden und des Museums für Naturkunde in Berlin nach 1989/90. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Transformationsforschung sowie Museumsgeschichte und Museologie. Zuletzt veröffentlichte sie ihre Masterarbeit: Klassifikation, Kontingenz und Wissensproduktion. Die Sammlung des Deutschen Hygiene-Museum Dresden 1990 bis 2010. [= Studien zur Materiellen Kultur, Universität Oldenburg, Preprints Bd. 3] 2012. Helmuth Trischler Prof. Dr., ist seit 1993 Forschungsdirektor am Deutschen Museum und seit 1997 Professor für Neuere, Neueste Geschichte und Technikgeschichte an der LMU München, Kodirektor des Rachel Carson Center for Environment and Society sowie Sprecher des Zentrums TransFormationen des Wissens der LMU München. Er habilitierte sich mit

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Die Autoren und Autorinnen

einer Arbeit zur Deutschen Luft- und Raumfahrtforschung 1900–1970 an der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissensgesellschaften und Innovationskulturen im internationalen Vergleich. Er hat neben Arbeiten zur Geschichte der Großforschung und Forschungsinstitutionen auch verschiedene Studien zur Geschichte des Deutschen Museums und zu den Beziehungen zwischen Wissenschaft, Technik und Industrie vorgelegt. Im Frühjahr 2014 erschien (gemeinsam mit Martin Kohlrausch) Building Europe on Expertise. Innovators, Organizers, Networkers. Houndsmill, Basingstoke: Palgrave Macmillan. Michael Tymkiw Dr., war von März bis Dezember 2014 Postdoc-Stipendiat am Kunsthistorischen Institut in Florenz – Max Planck Institut und ist seit Januar 2015 als Lecturer an der School of Philosophy and Art History der University of Essex tätig. Er wurde 2014 mit einer Arbeit über spectatorship in Ausstellungen im Nationalsozialismus an der University of Chicago promoviert, wofür er mit einem Fulbright IIE Dissertation Research Fellowship und einem Mellon Humanities Dissertation Fellowship gefördert wurde. Derzeit bereitet er die Publikation seiner Dissertation über die Beziehung zwischen nationalsozialistischem Ausstellungsdesign und Modernismus vor. Zuletzt veröffentlichte er u.a.: Art to the Worker! National Socialist Fabrikausstellungen, Slippery Household Goods, and Volksgemeinschaft. Journal of Design History 26 (2013), 362–380 und Engaged Spectatorship. On the Relationship between Non-Museum Exhibitions and Museums. In: Tanja Baensch, Kristina Kratz-Kessemeier und Dorothee Wimmer (Hg.): Museen im Nationalsozialismus. Berlin, im Druck.

Personenregister

Bartels, Friedrich 236 f., 240, 249 f., 260–265, 267 Benjamin, Walter 16 Erler, Johannes 182–184, 192 Frisch, Max 320–322, 331 Gebhard, Bruno 36, 38 f., 180, 183, 189, 193, 240 f., 265, 322, 324 f., 327 f., 330, 332–334, 336–340, 342, 355 Haeckel, Ernst 148–150, 154 f., 166–168, 170–172 Heisig, Franz 241 f., 244, 253, 257 His, Wilhelm 32, 144–178 His, Wilhelm jr. 166 f., 172 f. Holfelder, Hans 242, 263 f. Huizinga, Johan 11 f., 14–16, 20 f., 25, 42 f. Keßler, Ursula 198, 207–209 Lingner, Karl August 62–69, 72 f., 76 f., 79–83, 88, 91, 97, 201 f., 361, 365 Linser, Karl 345, 348–350, 355 Lippert, Julius 254 Menger, Carl 362–365, 370, 375 f.

Michael, Herbert 252, 265 f., 324, 336 Mühler, E. A. 324, 327, 330 Neubert, Rudolf 180 f., 345 f., 348, 350, Neurath, Otto 20 f., 29, 35 Neustätter, Otto 63–69, 71, 81 Nietzsche, Friedrich 38, 338 Pakheiser, Theodor 202, 235, 246, 255, 258–261, 265 Pudor, Heinrich 20 Reitzenstein, Ferdinand von 65, 68 f., 71 Schmoller, Gustav 364 f., 375 Schulte, Robert Werner 215 f., 220–223 Seiring, Georg 72 f., 77–80, 82–84, 87, 180–183, 185, 187, 190, 202 f. Seffner, Carl 144–178 Streeter, Georg L. 152, 161, 173 f. Sudhoff, Karl 62–71 Teichmüller, Joachim 288–292, 298–301 Tschackert, Franz 179, 182 f. Vellguth, Hermann 333 f. Ziegler, Friedrich 149, 159 f., 169

Sachregister

Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrbedarf 73, 75 f., 82–87, 198, 200–203 AIDS 31, 36 f., 106, 108, 16 f., 313, 315–318, 358, 366–368, 373 Anatomie 12 f., 18 f., 25, 27, 31–33, 74, 97, 99–102, 109 f., 119, 121–123, 128, 133–145, 147–155, 151 f., 154 f., 159 f., 167, 169, 171 f., 174 f., 178, 183, 186, 188, 190, 192, 195 f., 198–211, 219, 230, 248, 310, 346 Apparate 33–36, 42, 48, 50, 95, 99, 198, 210, 217–226–230, 232, 239, 241, 244–248, 253, 257 f., 262, 265–268, 276–279, 287, 289, 320 f., 323, 336, 346 Aufklärung –– Gesundheitsaufklärung 24, 30, 33, 36 f., 63, 73–75, 79, 81 f., 85–88, 94 f., 108 f., 111, 179 f., 192, 195, 198 f., 211, 235, 254, 266, 306–318, 335, 338, 348, 369 –– Sexualaufklärung 36, 305–319, 344–348, 351–353 Augenzittern 271, 275–278 Ausstellungen –– Der durchsichtige Mensch 19, 228 –– Der Mensch 18 f., 59, 77 f., 94, 96, 101, 228, 234 –– Der Mensch in gesunden und kranken Tagen 228 –– Der Mensch in seiner Welt 191 –– Der Mensch und der Sport 219 –– Deutsche Kunstausstellung 1899 in Dresden 150, 168

–– Deutsche Turn- und Sport-Ausstellung 1927 in Karlsruhe 219 –– Die geistige Idee im Sport. Kunst – Geschichte – Wissenschaft 1930 in Darmstadt 219 –– Die Ernährung 1928 in Berlin 16–18 –– Die Frau 252, 267, 343, 350–356 –– Erkenne Dich selbst! 267, 351 –– Geschlechtskrankheiten. Verhütung und Heilung 344–350 –– Gesundes Leben - Frohes Schaffen 1938 in Berlin 34, 227–268, 336, 343 –– Große Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen (GE-SO-Lei) 1926 in Düsseldorf 17–19, 114 f., 201, 218, 228, 299 –– Große Gesundheits-Ausstellung 1951 in Köln 186 –– Internationale Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden 16, 18 f., 30, 55, 59–71, 77, 79–81, 96, 201, 217, 223, 228, 307, 345 –– II. Internationale Hygiene-Ausstellung 1930/31 in Dresden 23, 97 –– Internationale Kunstausstellung 1901 in Dresden 168 f., 171 –– Leibesvisitation. Blicke auf den Körper in fünf Jahrhunderten 1989/90 in Dresden 30, 88–104, 179 –– Magdeburger Sportausstellung 1929 219 –– Weltausstellung New York 1939/1940 36, 38, 323, 337, 339–342

Sachregister

–– Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin 27, 36, 38 f., 228, 232, 243, 248 f., 320–342, 355 Ausstellungsführer 75, 112, 343–356 Ausstellungsgestaltung 89, 94, 99, 100, 102, 125, 232, 320–242, 344, 346 Beleuchtungsanforderungen bei der Arbeit 289–291, 301 Bergbau 35, 269–285 Berufskrankheit 272, 274 f., 278, 283 f. boundary objects (Grenzobjekte) 22 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) 33, 36, 94, 179, 183, 192 f., 308, 314–318 Carnegie Institution of Washington, Department of Embryology 152, 161, 172–175 Corpus Delicti von Juli Zeh 39–41, 43 Dingforschung 105–117 Eignungsfeststellung 33–35, 215–226, 227 f., 248, 293 Embryologie 32, 144–178 Emotionen 36, 106, 147, 305–319, 323, 342, 346, 350, 356, 363 Ethnologisches Museum 64 f. 70 f. Erkenne Dich Selbst! 12, 31–35, 37–43, 121–124, 141, 216, 227–241–268, 282 f., 287, 351, 366, 374 Evolution 11, 22, 55, 145, 148–150, 171, 178, Experten 17, 22, 29, 34, 49, 53, 59, 80, 82 f., 136–143, 157, 183, 197, 216, 226, 240, 251 f., 255, 265, 274 f., 277, 282 f., 287 f., 294, 316, 345, 348, 371 Film 23, 29, 35, 35 f., 60, 70, 74, 102, 114 f., 124–128, 160 f., 177, 204, 219, 224 f., 238, 241, 266, 276 f., 301, 305–319 Fotographie 16–19, 27 f., 31, 36, 124– 126, 128, 159–161, 172–174, 271, 298, 348

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Friedliche Revolution 89, 103 Geburtshilfe 32, 137 f., 145 f., 156 f. 168, 176, 206 f., 353 f. Geschichte 54–71, 80 f. Geschlechtskrankheiten 75, 77 f., 182 f., 305–319, 344–350 Gläserne Figuren –– Gläserne Frau 23 f., 102 f., 179, 180 f., 183–185, 189–194, 197, 235, 351, 353 f. –– Gläserne Fabrik 234, 260 f. –– Gläserner Gigant 33, 186 f. –– Gläserner Homunkulus 33, 186–188 –– Gläserner Mann 102, 110 f., 179, 182, 184, 189 f., 199 f., 234, 354 –– Gläserner Mensch 23, 25, 27 f., 30, 33, 38 f., 92–94, 98 f., 101 f., 103, 179, 181 f., 185, 187 f., 190, 193 f., 235, 328 f., 331, 335, 339 f., 355 –– Gläserne Tänzerin 33, 187 f., 190 –– Gläserne Tiere 33, 179, 187–190, 195 –– Gläserne Zelle 33, 91, 196 Gutes Licht, gute Arbeit 289, 291, 295, 300 f. Hygiene 19, 30, 39, 59–71, 73, 75–77, 77 f., 83, 86 f., 122, 127, 141, 215 f., 284, 285, 294, 307, 310, 312, 318, 333, 346, 353, 357, 360 f., 367, 339, 375, 376 Hygiene-Akademie 30, 73, 83, 87 Industrialisierung 35, 47–51, 86, 227, 230, 269 f., 285, 375 Kapitalismus 361, 364 f., 369–371, 375 f. Knappschaft 35, 270–285 Körperbilder 26, 29, 31, 35–43, 74 f., 88, 90, 95, 99, 101, 103 f., 109, 117, 133, 145 f., 149, 158, 168, 175–178, 194 f., 198–211, 240, 268, 282, 311 f., 316, 346–350 Körpergeschichte 105–117, 269 f., 373

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Körperwissen 13–15, 21 f., 25 f., 29, 36, 41, 108–115, 180, 187, 197, 325, 355 Laien 13, 21–23, 31, 64, 79, 136, 141– 143, 158, 169, 171, 177, 201, 227, 244, 251, 259 f., 308, 344, 350 Lehrmittel 23, 25, 29 f., 72–87, 90, 93, 94 f., 97, 101–104, 109, 111 f., 157, 184, 188, 191 f., 196, 198–211 Lehrmittel Firma Benninghoven 201–206, 208 f. Lehrmittelkatalog 75, 198, 200–211 Leistungsmessung 35, 215–226, 227–268, 287, 292, 294, 301 Lichttechnik 35, 286–301 Memento mori 13, 122, 128, 154, 172 Modelle 13, 15, 18, 23, 27, 31–33, 36, 38, 48, 52, 55–57, 59 f., 74 f., 81, 95, 97–102, 109–115, 119, 123, 133–211, 217, 228, 234, 255, 258–260, 286, 298, 311, 321, 328 f., 331, 335, 339 f., 346, 351, 354 f. Moulagen 25, 31, 74 f., 81, 102, 109, 111, 112 f., 198 f., 201 f., 310, 346, 348 f. Museum –– American Museum of Hygiene 337 f., 340 f. –– American Museum of Natural History 11, 14, 19, 21 f., 24 f., 42 f. –– Deutsches Gesundheits-Museum 24, 33, 179–194, 268 –– Deutsches Historisches Museum 88, 92–94 –– Deutsches Hygiene-Museum 15 f., 18 f., 23–26, 29–37, 50, 58, 72–117, 127, 179–211, 219, 227, 219, 227 f., 230, 234, 234 f., 240, 243 f., 248, 252, 254, 258–260, 264–268, 315 f., 318, 320– 356, 368 –– Deutsches Museum 29, 51–58, 86

Sachregister

–– Museum of Science and Industry New York 23 f., 51, 93, 337 Museumsobjekt 20, 65–59, 74, 81 f., 105–117, 119, 121, 128, 138 f., 179–197 Naturkundemuseum 11 f., 14 f. 20–23, 26, 29, 47, 53, 70 f. Nutzen 29, 32 f., 48, 51, 72 f., 74, 78, 87, 106, 111, 133–143, 177, 181, 192, 209, 216, 218 f., 282 f., 294–297, 325, 331, 337 f., 364 f. Objektivierung 35, 266, 269–285 Osram 287–298, 300 f. Pappmaschee 11 f., 140–142, 203–211 Plakate 29, 31, 35, 37, 83, 106, 108 f., 116 f., 199, 305, 357–376 Porträt 32, 58, 122, 126, 144–178 Präsentation 13, 15 f., 20, 23, 26 f., 32, 36, 38 f., 50, 53, 55, 62, 70 f., 77, 95, 89, 102 f., 106, 111–130, 133 f., 139 f., 142 f., 185, 190 f., 193–195, 205, 208, 211, 218, 236, 244–248, 257 f., 311, 316 f., 323, 341, 353 f., 363 Prävention 40, 230 f., 263, 268, 305–319, 346, 353 Psychotechnik 34, 226, 248, 286–301 Reichsausschuß für hygienische Volksbelehrung 81, 85, 240 Reihenuntersuchung 41 f., 232, 236– 238, 241 f., 244, 248–250, 252–254, 261–265, 271–273, 285 Röntgentechnik 22, 35, 38, 42, 96, 99, 218, 229, 231–233, 236, 238 f., 241– 244, 246, 252–255, 257, 260–267, 270–274, 279, 283, 329 Sammlungen 25, 31, 47–49, 50, 52–54, 57–60, 64–66, 75–78, 81–83, 104–117, 120, 125, 139, 164, 166, 169, 173 f., 196 Selbstbilder 37–43, 121–123 Sichtbarmachungsstrategien 12–15, 22–28, 32 f, 35–42, 88–104, 125 f., 128–130, 133–142, 148, 174, 193,

Sachregister

195–197, 209 f., 22, 249, 262–268, 270–272, 278–185, 286–288, 300 f., 362 Silikose 271–275 Skulptur 60, 96, 144–178, 211, 232 Spalteholz-Präparate 19, 74 f., 119, 201, 219 Statistik 21, 35, 219, 239, 240, 253, 254, 266, 271–283, 310 f., 333 Surrealismus 106, 124–126, 128 Symbolismus 170 f. Technikmuseum 47–58 Versicherung 82, 85, 261, 269–285, 375

391

Volksborngesellschaft für medizinischhygienische Aufklärung 79–80, 83 Wirtschaftstheorie 362–366, 370–373 Wissensobjekte 12, 22–27, 29, 158, 227–230, 264–268, 285 Wissensordnung 48, 51 f., 54–59, 270 Wissensvermittlung 12–14, 17, 22–29, 35–37, 47, 49, 54, 86 f., 136, 138–142, 227–230, 244–247, 252 f., 264–268, 286, 305–319, 343, 346, 348, 350, 356 Zukunft 20 f,. 29–31, 40 f., 43, 48, 54–59, 73, 170, 279, 308 Zurschaustellung 15, 31 f., 42 f., 119– 123, 126, 128, 147, 161–178

SCHRIF TEN DES DEUTSCHEN HYGIENE-MUSEUMS DRESDEN HERAUSGEGEBEN VON GISELA STAUPE

EINE AUSWAHL

BD. 7 | KLAUS-DIETMAR HENKE (HG.) ‌TÖDLICHE‌MEDIZIN‌IM‌‌

BD. 2 | PETRA LUTZ, THOMAS MACHO,

NATIONALSOZIALISMUS

GISELA STAUPE, HEIKE ZIRDEN (HG.)

‌VON‌DER‌RASSENHYGIENE‌ZUM‌

‌D ER‌(IM-)PERFEKTE‌MENSCH

MASSENMORD

‌M ETAMORPHOSEN‌VON‌NORMALITÄT‌

2008. 342 S. BR. | ISBN 978-3-412-23206-1

UND‌ABWEICHUNG 2003. 483 S. 38 FARB. UND 67 S/W-ABB. BR. MIT SU. | ISBN 978-3-412-08403-5

BD. 8 | KARL-SIEGBERT REHBERG, GISELA STAUPE, RALPH LINDNER (HG.) ‌K ULTUR‌ALS‌CHANCE

BD. 3 | HARTMUT BÖHME, FRANZ-THEO

K ‌ ONSEQUENZEN‌DES‌‌

GOTTWALD, THOMAS MACHO, LUDGER

DEMOGRAFISCHEN‌WANDELS

SCHWARTE, CHRISTOPH WULF,

2011. 189 S. 22 S/W-ABB. BR.

CHRISTIAN HOLTORF (HG.)

ISBN 978-3-412-20681-9

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BD. 9 | ANJA TERVOOREN,

2004. 329 S. 37 S/W-ABB. BR.

JÜRGEN WEBER (HG.)

ISBN 978-3-412-16003-6

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BD. 4 | ANKE TE HEESEN,

IN‌KULTUR-‌UND‌BILDUNGS‌-‌

PETRA LUTZ (HG.)

EINRICH‌T UNGEN

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2012. 295 S. 26 S/W-ABB. BR.

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ISBN 978-3-412-20784-7

2005. 194 S. 8 S/W- UND 43 FARB. ABB. AUF 30 TAF. BR. | ISBN 978-3-412-16604-5

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DAS‌MUSEUM‌ALS‌LERN-‌UND‌ ‌D IE‌ZEHN‌GEBOTE

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2012. 168 S. 49 FARB. ABB. BR.

2006. 188 S. BR. | ISBN 978-3-412-36405-2

ISBN 978-3-412-20954-4

BD. 6 | CHRISTIAN HOLTORF,

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2007. 295 S. 24 S/W-ABB. BR.

2015. 391 S. 54 FARB. UND 71 S/W-ABB.

ISBN 978-3-412-01706-4

BR. | ISBN 978-3-412-22380-9

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