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German Pages VIII, 193 [193] Year 2020
Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies
Karolin Kalmbach · Elke Kleinau Susanne Völker Hrsg.
Eribon revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies
Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies Reihe herausgegeben von Maureen Maisha Auma, Stendal, Deutschland Corinna Bath, Braunschweig, Deutschland Hanna Meißner, Berlin, Deutschland Stefan Trinkaus, Köln, Deutschland Elisabeth Tuider, Kassel, Deutschland Adrian de Silva, Esch-Sur-Alzette, Luxemburg Dirk Schulz, Köln, Deutschland Susanne Völker, Köln, Deutschland
Mit der Buchreihe ‚revisited‘ wollen wir Debatten führen, die Konzepte, Arbeiten von Autor*innen, Themenfelder und Problematisierungen aufgreifen, die für Gender und Queer Studies relevant sind. Wir verstehen Gender und Queer Studies als verschränkt mit Decolonial und Black Studies, mit Transgender und Dis/ability Studies, mit Science and Technology Studies. ‚Revisited‘ – als wieder Aufgreifen, wieder Aufsuchen, neu Überdenken – meint dabei nicht Rückkehr in einer linearen Zeit, in der die Gültigkeit, der Belang von etwas Vormaligem abgewogen wird, sondern eine situierte Frageperspektive, die Dringlichkeiten und aktuelle Herausforderungen aufnimmt und auf ein erneutes Verhandeln, auf ein Anderswerden von Wissen und von Welt zugeht. Wir erhoffen uns breite, inter- und transdisziplinäre Verhandlungen, Vielstimmigkeiten, Uneindeutigkeiten, die vermeintlich Unvereinbares, Nichtkonsensuelles zu artikulieren vermögen, doxische, zentralisierende Gesten angreifen und marginalisierten Diskurspositionen und prekarisierten Wissenspraktiken Raum eröffnen.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16492
Karolin Kalmbach · Elke Kleinau · Susanne Völker (Hrsg.)
Eribon revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies
Hrsg. Karolin Kalmbach Universität zu Köln Köln, Deutschland
Elke Kleinau Universität zu Köln Köln, Deutschland
Susanne Völker Universität zu Köln Köln, Deutschland
ISSN 2662-706X ISSN 2662-7078 (electronic) Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies ISBN 978-3-658-30560-4 ISBN 978-3-658-30561-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30561-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Cori A. Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhalt
Autor*innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karolin Kalmbach, Elke Kleinau und Susanne Völker Sexualität, Klasse und Scham schreiben – Des/Identifikationen ermöglichen ? Relektüren von Rückkehr nach Reims und Gesellschaft als Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autobiografisches Schreiben Julia Reuter und Christian Lömke Hontoanalyse, teilnehmende Objektivierung, unpersönliche Autobiografie. Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen literarischer Selbstzeugnisse im Anschluss an Eribon . . . . . . . . . . .
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Elke Kleinau „Dieses verstörende Gefühl, an einem Ort zugleich zu Hause und fremd zu sein“. Bildungs- und geschlechterhistorische Reflektionen über Rückkehr nach Reims . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Scham und Affekt Bettina Kleiner Sexuelle und soziale Scham. Zur unterschiedlichen Bedeutung dieser Affekte in Rückkehr nach Reims . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI Inhalt
Andrea Seier Schamoffensive. Zur Mikropolitik der Betroffenheit bei Didier Eribon . . .
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Des/Identifikationen Dirk Schulz Niedentisch. Fluchtbewegungen, Annäherungen, Festschreibungen
. . .
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Stephan Trinkaus Eribons Gespenster: Zur Zeitlichkeit von sozialer Differenz . . . . . . . . .
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Intersektionale Kritiken Vanessa E. Thompson Von der Rückkehr nach Reims zur Vielfalt der Kämpfe. Überlegungen zu Eribons Perspektive auf Rassismus und zur Intersektionalität von white wages . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gudrun Hentges ‚Race‘ – Class – Gender – Queer. Marine Le Pens Front National/ Rassemblement National und Florian Philippots Les Patriotes als politische Akteure am rechten Rand Frankreichs . . . . . . . . . . . .
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Sexualität und Klasse Thomas Viola Rieske Privilegierung und Beschämung im Bildungsaufstieg. Didier Eribons Hontoanalyse aus Perspektive einer intersektionalen Jungen- und Männlichkeitsforschung
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Susanne Völker Lossagen und Rückkehren: partiale Verbindungen und queere Klassenpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autor*innenverzeichnis
Gudrun Hentges, Dr. phil., Professorin an der Universität zu Köln für Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Rechtspopulismus und -extremismus, Demokratietheorien, Rassismusanalyse und Antisemitismusforschung, (Flucht-)Migration. Karolin Kalmbach, Dipl. Politik- und Verwaltungswissenschaften, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der zentralen wissenschaftlichen Einrichtung GeStiK (Gender Studies in Köln). Arbeitsschwerpunkte: (Queer-)feministische Ideen- und Bewegungsgeschichte sowie Erinnerungspolitiken. Elke Kleinau, Dr. phil., Professorin an der Universität zu Köln für Historische Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Gender History. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Geschichte von Kindheit, Jugend und Familie, Biografieforschung. Bettina Kleiner, Dr. phil., Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Gender Studies und qualitative Methoden an der GoetheUniversität Frankfurt. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Gender und Queer Studies, Postkoloniale feministische Theorien, Ungleichheit und Differenz im Kontext von Bildungsorganisationen und -biografien, Subjektivationsforschung, Theorien und Methoden qualitativer Bildungs- und Geschlechterforschung. Christian Lömke studiert an der Universität zu Köln im Master Sozialwissenschaften und Französisch für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen.
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VIII Autor*innenverzeichnis
Julia Reuter, Dr. phil., Professorin an der Universität zu Köln für Erziehungs- und Kultursoziologie. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Allgemeine (Kultur-) Soziologie, Bildungs- und Wissenschaftssoziologie, Migration und Biografie. Thomas Viola Rieske, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der EuropaUniversität-Flensburg. Arbeitsschwerpunkte: Subjektivierungspraktiken von/mit Jungen und Männern, Theorie und Praxis geschlechterreflektierter und Antidiskriminierungspädagogik, Prävention von (sexualisierter) Gewalt in pädagogischen Kontexten. Dirk Schulz, Dr. phil., Geschäftsführer der zentralen wissenschaftlichen Einrichtung GeStiK (Gender Studies in Köln) an der Universität zu Köln. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Gender/Queer Studies/Theorien, Anglophone Literaturen und Kulturen, Poststrukturalistische/Kritische Theorien, Semiotik und Popular/Celebrity Culture. Andrea Seier, Dr. phil., Professorin für Medienwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Mikropolitik der Medien, Medien- und Selbsttechnologien, Theorien der Schwäche (Passivität, Betroffenheit), Gender, Klasse und Medien. Vanessa E. Thompson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind: Black Studies (mit besonderem Fokus auf Black Europe), kritische Migrations- und Rassismusforschung, Gender und Queer Studies sowie post- und dekoloniale Theorien. Stephan Trinkaus vertritt derzeit die Professur für digitale und audiovisuelle Medien an der Universität Bayreuth und arbeitet zu Prekarität, Theorien der Dekolonialität, Medialität und Psychoanalyse sowie queer-feministischem neuem Materialismus und Gender Studies. Er ist Mitglied der rheinischen Sektion der Kompostistischen Internationale. Susanne Völker, Dr. phil., Professorin an der Universität zu Köln für Methoden der Bildungs- und Sozialforschung und Genderforschung. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Arbeits- und Prekarisierungsforschung, Feministische Theorien (insbesondere Ansätze des Neuen Materialismus und Queer Theory), Dekoloniale Theorien, soziologische Ungleichheitsforschung, Praxeologische Soziologie und Habitusanalyse.
Sexualität, Klasse und Scham schreiben – Des/Identifikationen ermöglichen ? Relektüren von Rückkehr nach Reims und Gesellschaft als Urteil Karolin Kalmbach, Elke Kleinau und Susanne Völker
„Transformationsprozesse des Selbst, Moment der Konstitu tion und Zurückweisung der eigenen Identität waren für mich schon immer mit Prozessen sozialer Zugehörigkeit verbunden. Beide sind ineinander verschachtelt, bedingen, begrenzen und bekämpfen einander. Die erste soziale Identi fikation (sich selbst als das anzuerkennen, was man ist) stand von Anfang an im Widerstreit mit einer Desidentifi kation, die sich aus einer immer wieder zurückgewiesenen Identität speiste.“ (Eribon 2016, S. 89)
Einleitung Die Furore, die das Erscheinen der deutschen Übersetzung von Retour à Reims im Jahr 2016 im deutschsprachigen Raum auslöste, liegt sicherlich darin begründet, dass das Buch nicht nur einen Nerv der Zeit getroffen, sondern eine Vielzahl von aktuellen Fragen aufgegriffen hat. 2016 war ein Jahr tiefgreifender Wandlungsprozesse in der politischen Landschaft des globalen Nordens: Das Brexit-Referendum im Juni, die Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten im November, Anschläge in großen europäischen Städten, aber auch die Kandidatur Emanuel Macrons, die ihn im Mai 2017 nach der Stichwahl mit Marine Le Pen vom rechtsnationalistischen Front National zum französischen Präsidenten machte, und ein Jahr des kontinuierlichen Erstarkens radikaler rechter, autoritärer, rassistischer Kräfte und Parteien sowie deren wachsendem Einfluss in den (nicht nur) europäischen Ländern auf außer- und parlamentarischer Ebene. Die Debatte um die breite Ausstrahlung von autoritären, rassistischen und reaktionären Positionen hatte und hat bis heute eine unzweifelhafte Dringlichkeit. Rückkehr nach Reims wurde insofern als Auseinandersetzung mit der Unterstützung dieser neuen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Kalmbach et al. (Hrsg.), Eribon revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30561-1_1
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Karolin Kalmbach, Elke Kleinau und Susanne Völker
rechten Kräfte durch Arbeiter*innenmilieus und als Kritik der Versäumnisse der Linken rezipiert (vgl. dazu etwa Erdur 2017; van Dyk 2019). Mit Eribons Autoanalyse, wie er seinen Text in Abgrenzung zur Autobiografie und in Anschluss an Pierre Bourdieu bezeichnet, wurde aber noch ein weiteres, gerade in der Soziologie sozialer Ungleichheiten virulentes Thema berührt: die expandierende Enttäuschung des meritokratischen Versprechens von sozialer Mobilität in den sich selbst als ‚modern‘ klassifizierenden Gegenwartsgesellschaften. Die Erwartung von Angehörigen des Arbeiter*innenmilieus und sozialer Milieus der Mitte, dass sozialer Aufstieg mittels individueller (Bildungs- und Arbeits-) Leistung gelingen könnte (vgl. Sachweh, Lenz und Sthamer 2018), weicht zunehmender Desillusionierung. Die Eribon-Lektüre regt(e) dazu an, Fragen der Reproduktion sozialer Ungleichheiten gegenwartsbezogen aufzugreifen und die aktuellen Relationen zwischen der sozialen Schwerkraft von Klassenverhältnissen und dem Begehren nach sozialer Mobilität und gesellschaftlicher Anerkennung erneut auszuloten. Dabei, und dies mag die subkutane Wirkung, das Affiziertsein durch den Text ausmachen, beansprucht Eribon das Flottieren und die Wirkungsmacht der sozialen und sexuellen Scham am eigenen Körper, an der eigenen Erfahrung zu analysieren – einer Scham, die mit dem Entzug von Wertschätzung, mit der Einnahme von ‚inferioren‘ und/oder ‚devianten‘ Positionen und der Konfrontation mit der dominanten legitimen Kultur (Bourdieu) einhergeht. Eribons Von-derScham-Schreiben – Scham als körperliches (Er-)Leben, als gezeichnete Subjektposition und soziales Sein – hat neue Impulse für autobiografisches Schreiben über Fragen der Klasse, der Biografie und des sozialen Aufstiegs gesetzt, wie sich an einer Vielzahl von Publikationen in jüngerer Zeit zeigt (z. B. Dröscher 2018; Jaquet 2018). Zwei weitere Aspekte ziehen sich ebenfalls durch die Rezeption und Diskussion des Buches. Zum einen die Frage nach der Verknüpfung von Auto/Biografie, Zeitdiagnostik, Theorieentwicklung und Gesellschaftsanalyse: Welches Schreiben praktiziert Eribon in seinem Durcheinander-hindurch-Denken unterschiedlicher literarischer, biografischer, theoretisch-konzeptioneller und zeithistorischer Bezüge ? Und: Was ‚macht‘ dieses Schreiben, was ermöglicht und verunmöglicht es ? Zum anderen lassen die von ihm beanspruchten Wahlverwandtschaften, die unterschiedliche Akteur*innen feministischer, antirassistischer, Schwarzer, queerer Artikulationen und Kämpfe adressieren (etwa James Baldwin, Annie Ernaux, Frantz Fanon, John Edgar Wideman), erkennen, worauf sein Schreiben als politische Intervention zu zielen scheint: Die notwendige Wahl von Allianzen auf der Grundlage von nicht-essentialistischen, sondern gesellschaftlich hervorgebrachten Differenzen und die notwendig vielfältigen Kämpfe, die nicht gegeneinander aufgewogen werden können.
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Rechter Populismus, Alltagsrassismus und politische Verortungen der unteren Klassen, soziale Mobilität und soziale Schwerkraft, Autoanalyse von Scham und Beschämung, Fragen des Schreibens, der Wahlverwandtschaften und der politischen Allianzen – das sind die Themen, die Didier Eribon auf eine Weise formuliert hat, die offenbar polarisiert: Die Rezeptionen zeugen mitunter von Verärgerung, sind von Abwehr und Ordnungsversuchen bestimmt oder von begeisterten Bezugnahmen, von Reformulierungsversuchen des Wie-Sprechens über vielfältige Positionierungen und Verletzungen. Wir verstehen diesen Sammelband als einen Beitrag zur Diskussion, der die dichotomen Positionierungen und Polarisierungen der Rezeption hinterfragt. Es geht uns darum, inter- und transdisziplinäre Thematisierungen in Gang zu setzen und sichtbar zu machen, ohne neue Zuordnungen vorzunehmen. Dieser Sammelband bildet den Auftakt zu der Buchreihe Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies. Dem Anliegen der Reihe folgend, möchten wir die Bücher Rückkehr nach Reims und Gesellschaft als Urteil einer Relektüre durch Autor*innen unterziehen, die sich in ihrer Forschung wesentlich auf geschlechter- und/oder queertheoretische Perspektiven beziehen und/oder die Interferenzen und Intersektionen von Marginalisierungen und Ungleichheitsdynamiken in den Blick nehmen. Was haben die Texte Eribons hier zu bieten ? Was eröffnen sie ? Was scheint zu verschwinden ? Was ließe sich anders relationieren ?
Das Projekt Durch die Idee, ein Buch herauszubringen, das verschiedene, insbesondere, aber nicht ausschließlich gender- und queertheoretische Lesarten und (inter-)disziplinäre Ansätze versammelt, für die Rückkehr nach Reims Anknüpfungspunkte bietet, wurde auch die Frage nach dem Vorgehen aufgeworfen. Der Prozess des Schreibens ist oftmals ein einsamer Akt: Die Gedanken bleiben hängen, und es stellt sich die Frage, woher die Inspiration zum Weiterschreiben kommen kann. Sollten wir, die Herausgeber*innen, die Einzigen sein, die die Beiträge mit den Autor*innen diskutieren bzw. diese kommentieren ? Hatten diejenigen, die wir für einen Beitrag angefragt haben, eigene Diskussionszusammenhänge und wenn ja, wie könnten diese im Sinne kollaborativer Wissensproduktion sichtbar werden ? Inspiriert vom Format der Werkstattgespräche, in dem Vertreter*innen unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen gemeinsam einen Text diskutieren und ihre Ergebnisse verschriftlichen (vgl. etwa Koller und Kokemohr 1996), kam die Idee zu einem Autor*innen-Workshop auf. Eingeladen wurde zu einer gemeinsamen Diskus sion anhand der eingereichten Beitragsideen, also zu Beginn des Schreibprozesses. Alle wurden gebeten, ein kurzes Exposé ihres geplanten Beitrags zur inhaltlichen
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Karolin Kalmbach, Elke Kleinau und Susanne Völker
Vorbereitung zu verschicken, bevor wir uns im Februar 2019 für zwei Tage in Köln zu intensiven Diskussionen trafen. Der Workshop bot Zeit und Raum, das eigene Konzept des Artikels vorzustellen, Argumente zu prüfen, diese mit und gegen andere Perspektiven zu diskutieren und sich für diejenigen Punkte, an denen die Gedanken hängen geblieben waren, Hilfestellung zu holen. Insgesamt waren es intensive und inspirierende Tage, die das Gefühl eines gemeinsamen Buchprojektes stärkten. Um die Diskussion inhaltlich zu strukturieren, wurden die eingereichten Beiträge zu Themengruppen zusammengefasst. Dieses Zusammenlesen von ähnlichen Themen unter verschiedenen Fragestellungen stellte sich während des Workshops als so produktiv und inspirierend heraus, dass wir uns entschieden haben, diese Clusterung im Wesentlichen auch für das Buch zu übernehmen, nicht, um Lesarten vorzugeben oder gedankliche Schließungen zu erwirken, sondern um Diskussionsprozesse transparent zu machen, die sich in den einzelnen Artikeln wiederfinden. Ein zweiter Schritt kollaborativer Wissensproduktion erfolgte dann nach einem ersten Abschluss des Schreibprozesses der Beiträge. Hier luden wir externe Gutachter*innen zur anonymisierten Kommentierung, also zu einem Double-Blind Peer Review, ein. Die Rückmeldungen trugen zur Schärfung der Beiträge bei und brachten mitunter neue Impulse ein. Als inter- und transdisziplinäres, kollaboratives Projekt versammelt dieser Band nun Beiträge von Autor*innen aus den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, den Literatur- und Medienwissenschaften, die mit geschlechterhistorischen, rassismuskritischen, de/postkolonialen, gender- und queertheoretischen sowie intersektionalen Ansätzen arbeiten und diese in unterschiedlichen Konstellationen miteinander ins Gespräch bringen. Dementsprechend ist auch die Art und Weise zu schreiben unterschiedlich, ebenso wie die Schreibweise von Begriffen. Als Her ausgeber*innen haben wir uns entschieden, beides nicht zu vereinheitlichen, sondern gerade diese Vielstimmigkeit der Zugänge sichtbar werden zu lassen.
Autobiografisches Schreiben Julia Reuter und Christian Lömke diskutieren in ihrem Beitrag die Frage, ob und inwiefern literarische Selbstzeugnisse, die den eigenen Bildungsaufstieg erzählen, für eine Soziologie sozialer Ungleichheit produktiv gemacht werden können. Eribon bezeichnet seine Erzählung als Autoanalyse, eine Mischung aus distanzierter und involvierter Reflexion, für die im Nachfolgewerk Gesellschaft als Urteil der Begriff der Hontoanalyse eingeführt wird. Ausgehend von dem Gefühl der Scham wird hierbei das Augenmerk daraufgelegt, welche Aspekte des eigenen Lebens erzählt und welche ausgelassen werden. Der Beitrag stellt Eribons Buch eine Reihe aktueller und vergangener Wahlverwandtschaften an die Seite und diskutiert so-
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wohl methodisch als auch methodologisch über die Möglichkeiten der Verschränkung von Literatur und Soziologie. Elke Kleinau liest Rückkehr nach Reims aus bildungshistorischer Perspektive. Sie rekonstruiert die soziale Ungleichheit befördernden Strukturen im deutschen wie im französischen Bildungssystem und vertritt die These, dass Eribon letztendlich keine schlüssige Erklärung für seine Bildungs- und Berufskarriere liefern kann, da er in seiner soziologischen Analyse des Bildungssystems, die sich stark an Bourdieu anlehnt, einer ausgesprochen deterministischen Sichtweise verhaftet bleibt. Das Bildungssystem erscheint als ein hermetisch abgeschlossener Bereich, in dem sich die bürgerliche Elite beständig selbst reproduziert und für ‚Kinder der Arbeiterklasse‘ kein Platz vorgesehen ist. Aus biografie- und geschlechtertheoretischer Sicht gerät ein anderer Erklärungsansatz ins Blickfeld: Bildung als elterlicher biografischer Auftrag. Darüber hinaus werden Auslassungen, Widersprüchlichkeiten, und Rationalisierungen im Text aufgegriffen, bspw. das Nicht-Erkennen eigener geschlechtlicher Privilegien und mütterlicher Unterstützung in Form von Care.
Scham und Affekt Soziale und sexuelle Scham spielen auf jeweils unterschiedliche Art und Weise eine zentrale Rolle in Eribons Erzählung. Der Wunsch nach Bildungsaufstieg und ‚schwuler Identität‘ geht einher mit der Distanzierung von seiner familiären Herkunft. Bettina Kleiners Beitrag geht in einem close reading von Rückkehr nach Reims der Frage nach, welche Bedeutungen soziale und sexuelle Scham für die Sozialisation und Subjektivation von Eribon haben. Hierfür werden affekttheoretische Ansätze und Theorien sozialer Ungleichheit miteinander ins Gespräch gebracht. Der Artikel zeigt die ambivalenten Effekte: herausgearbeitet werden die spezifischen Hin- und Abwendungen, hin zu Bildung und weg von der Familie. Scham in ihren unterschiedlichen Kontexten bringt demnach Begrenzungen und Ermöglichungen hervor. Andrea Seier nimmt das mikropolitische Potential von Betroffenheit in den Büchern Rückkehr nach Reims und Gesellschaft als Urteil in den Blick. Der Beitrag reflektiert über die spezifische Form des Schreibens, das in beiden Werken ausgemacht wird. Betroffenheit wird hier als eine Politik des Selbst verstanden, als „Ergebnis eines Denk- und Schreibprozesses“. Als Mikropolitik der Betroffenheit fasst Andrea Seier das Verfahren, das zwischen Wissen und Erfahrung, zwischen Theorie und Affekt, die eigene Betroffenheit als un/persönlich inszeniert. Eribons Denk- und Schreibprozess lässt eine Form von verkörpertem Wissen entstehen, so dass Betroffenheit hier nicht mehr als unvermittelt gelten kann, sondern spezifisch diskursiv und affektiv gerahmt ist.
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Des/Identifikationen Dirk Schulz legt in seiner literaturwissenschaftlichen und queertheoretischen Lesart von Rückkehr nach Reims den Fokus auf Eribons Thematisierung von ‚Identität‘. In den Blick genommen werden sowohl die Erzählweise Eribons als auch die Rezeption der deutschsprachigen Übersetzung. Der Text wird von Dirk Schulz an der Schnittstelle der Genres Coming Out-Roman und Bildungsroman verortet, und als eine Suche nach ‚Zugehörigkeit‘, ‚Eindeutigkeit‘, ‚schwuler Männlichkeit‘ und ‚klaren Kategorien‘ gelesen, so dass das der Erzählung innewohnende Potential der Subversion, der queeren Verweigerung von ‚Wahrheiten‘ gerade nicht produktiv gemacht wird. Der Beitrag von Stephan Trinkaus denkt ausgehend von Bourdieus Konzept des gespaltenen Habitus über den Zusammenhang von sozialer Differenz und Zeitlichkeit nach. Dabei wird versucht soziale Differenz nicht als „Naturalisierung von Herrschaft“ zu fassen, sondern in Bezug auf dekoloniale und queer-feministische Theorien, als „Unmöglichkeit ihrer Universalisierung“. Anders als Bourdieu, dessen Denken sich durch das systematische Verbinden von Gegensätzen auszeichnet, geht Eribon in seinem Buch Rückkehr nach Reims nicht versöhnlich mit den Widersprüchlichkeiten seiner Herkunft um, sondern verbleibt in den Irritationen, die mit Karen Barad als Diffraktionen, mit Jacques Derrida als Gespenster gefasst werden können.
Intersektionale Kritiken Vanessa E. Thompson nimmt das zunehmende Erstarken von Rassismus in Europa und Nordamerika sowie die damit einhergehende aktuelle und öffentlichkeitswirksame Problematisierung von ‚Identitätspolitik‘ in den Blick, um von da aus nach dem intersektionalen Potential von Rückkehr nach Reims zu fragen. Intersektionale und rassismuskritische Perspektiven werden häufig den Kämpfen um soziale und ökonomische Gerechtigkeit gegenübergestellt. Mit dem Argument, dass sich ersteres im Feld des Kulturellen bewege und dies zu einem ‚Vergessen der Klassenfrage‘ geführt habe, werden sie gegeneinander ausgespielt. In ihrem Beitrag widerspricht Thompson dieser Interpretation von Eribons Analyse über den Aufstieg der radikalen Rechten und ihrem Rückhalt in der Arbeiter*innenklasse und legt eine rassismuskritische, von Angela Davis und W.E.B. Du Bois inspirierte Lesart an und lotet daran anschließend die Möglichkeiten intersektionaler Klassenpolitiken aus. Der Beitrag von Gudrun Hentges geht der Frage nach, wie unterschiedliche Dimensionen sozialer Ungleichheit in den politischen Diskursen der französi-
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schen extremen Rechten thematisiert werden. Ausgangspunkt der Überlegung ist die Zeitdiagnose, dass Marine Le Pen und Florian Philippot eine Strategie der ‚dédiabolisation‘, der ‚Entteufelung‘, gewählt haben, um den Rassemblement National (bis 2018 Front National) eine breitere soziale Basis zu verschaffen. Die Verhandlung um und die argumentative Rahmung der ‚sozialen Frage‘ waren dabei zentral und konstitutiv für die Wahl der Zielgruppe. Gudrun Hentges geht den Thematisierungen von race, class, gender und queeren Lebensweisen in den Diskursen des Rassemblement National nach und spürt die Verbindungslinien zur Erzählung Eribons in Rückkehr nach Reims auf.
Sexualität und Klasse Der Beitrag von Thomas Viola Rieske fokussiert auf die Aspekte Klassenherkunft, sexuelle Orientierung und Praktiken der Männlichkeit und befragt von da aus sowohl Eribons Erzählung der Rückkehr nach Reims als auch die Rezeption des Buches. Aus der Perspektive der Männlichkeitsforschung füllt Eribon eine Leerstelle in der Forschungslandschaft, in dem er Scham und Beschämung in männlichen bzw. vermännlichten Subjektivierungsprozessen thematisiert. Allerdings, so argumentiert Rieske, wird die Vielschichtigkeit des Sozialen verkannt bzw. vernachlässigt, so dass gerade die privilegierenden Aspekte in Eribons Reflexion und Analyse fehlen, etwa die als männlich vergeschlechtlichte oder auch die weiße Positionierung. In einer stärker intersektionalen Konzeption von Männlichkeit würden die Brüche sowie die Un/Möglichkeiten der Verallgemeinerung von Eribons Bildungsbiografie sichtbar werden. Susanne Völker unterzieht Rückkehr nach Reims und Gesellschaft als Urteil einer Re-Lektüre mit dem Fokus auf die Schreibpraxis Eribons: Trotz des formulierten Vorhabens der ‚Rückkehr‘ wird im Text dieses Ziel stetig verfehlt. Auch wenn es einige Rezeptionen anders interpretieren, zeugt die Erzählung nicht, so Völker, von einem Ausspielen der verschiedenen Identitäten gegeneinander. Das Verlassen der ‚sozialen‘ Identität als Sohn aus der Arbeiter*innenklasse und das Ankommen in der ‚sexuellen‘ Identität als schwuler Intellektueller misslinge immer wieder. Und genau in diesem Misslingen, so wird argumentiert, liegt das Potenzial. Diese queere, im Sinne einer un/möglich festschreibbaren, Klassenposition ermögliche das Knüpfen von partialen Verbindungen. Unter Hinzunahme queertheoretischer Bezüge werden sowohl der Text als Praxis, als auch Begriffe und die Thematisierung von Ver/Körper/ungen auf dieses Potenzial hin befragt.
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Zum Schluss Die Buchreihe Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies fokussiert Kontroversen in der Wissenschaft und fordert dazu auf, Texte sowie deren Rezeptionen ‚neu‘ oder ‚anders‘ zu lesen. Dabei sollen unterschiedliche theoretische und methodische Zugänge sowie Positionierungen im Feld miteinander ins Gespräch gebracht werden. In diesem Sinne ermöglicht Eribon revisited als erster Band dieser Reihe die Auseinandersetzung mit den Texten eines aktuell vielgelesenen Autors und dessen – durchaus widersprüchliche – Rezeption in den Erziehungs-, Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaften. Wir sprechen wohl für alle Teilnehmer*innen am Workshop und an den Produktion dieses Bandes Beteiligten, wenn wir an dieser Stelle unserem fast schon beglückten Erstaunen Ausdruck verleihen, dass es – trotz aller Zersplitterung der Disziplinen – möglich war, in dieser Weise zusammenzukommen, zu diskutieren und feststellen zu können: Wir kommen gemeinsam ein Stück weiter in unserem Erkenntnisprozess. Am Ende dieses Schreib- und Redaktionsprozesses angelangt, danken wir allen Autor*innen für die vielen klugen und anregenden Gespräche während des Workshops und der Arbeit an diesem Band. Wir danken auch allen Gutachter*innen des Double-Blind-Peer-Review-Verfahrens für ihre außerordentlich inspirierenden, kritisch-konstruktiven Rückmeldungen. Unser Dank gilt nicht zuletzt und in besonderer Weise Jakob Ginster, der mit viel inhaltlicher Kompetenz, großer Sorgfalt und Umsicht die Druckvorlage für diesen Band erstellte, sowie Lilli Riettiens, die sich mit der ihr eigenen Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit der Aufgabe des Korrekturlesens unterzog, und Marie Dams für die Unterstützung bei der Durchführung des Workshops.
Literatur Dröscher, Daniela (2018). Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft. Hamburg: Hoffmann und Campe. Dyk, Silke van (2019). Über den Wandel des Politischen. Die Demokratie im Zangengriff von autoritärem Populismus und autoritärem Kapitalismus. Nicole Burzan (Hrsg.), Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen. Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018. https://publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband_2018/article/ view/1155. Zugegriffen: 8. April 2020. Eribon, Didier (2016 [2009]). Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp. Eribon, Didier (2017 [2013]). Gesellschaft als Urteil. Berlin: Suhrkamp.
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Erdur, Onur (2017). Rezension zu Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. Berlin 2016. H-Soz-Kult, 31. 03. www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26595. Zugegriffen: 8. April 2020. Jaquet, Chantal (2018). Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht. Konstanz: Konstanz University Press. Koller, Hans-Christoph & Kokemohr, Rainer (Hrsg.) (1996). „Jeder Deutsche kann das verstehen !“ Probleme im interkulturellen Arbeitsgespräch. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Sachweh, Patrick, Lenz, Sarah & Sthamer, Evelyn (2018) Das gebrochene Versprechen der Meritokratie ? Aufstiegsdeutungen im Zeichen steigender Ungleichheit. WestEnd. Sozialer Aufstieg|Sozialer Abstieg. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 01/2018, (S. 71 – 85).
Autobiografisches Schreiben
Hontoanalyse, teilnehmende Objektivierung, unpersönliche Autobiografie Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen literarischer Selbstzeugnisse im Anschluss an Eribon Julia Reuter und Christian Lömke In den vergangenen Jahren macht sich in der Soziologie ein verstärktes Interesse an literarischen ‚Selbstzeugnissen‘ von Soziolog*innen bzw. soziologisch informierten Autor*innen bemerkbar: Besondere Aufmerksamkeit erfährt der französische Soziologe Didier Eribon, dessen stark autobiografisch gefärbtes Buch Rückkehr nach Reims innerhalb kürzester Zeit zum internationalen Bestseller avancierte. Das 2009 in Frankreich und 2016 in Deutschland erschienene Buch steht im Zentrum einer Erzählkultur, die literarische und wissenschaftliche Gesellschaftsbeobachtungen miteinander verbindet und somit auch für die Soziologie von analy tischem Wert ist. Eribon, heute gefeierter Star und Schüler Bourdieus, stammt aus einer Arbeiterfamilie in Reims und blickt aus dieser ‚Außenseiterperspektive‘ heraus auf die eigenen Diskriminierungserfahrungen als junger (homosexueller) Mann, die er als Ausdruck gesellschaftlicher Klassengewalt entlarvt. Das Buch bietet durch seine Reflexionen der biografischen Bezüge zahlreiche Anschlüsse an die zeitgenössische Biografieforschung und die sehr grundlegende Frage, wie sich Gesellschaft in Autobiografien widerspiegelt, wer überhaupt berechtigt ist, selbst Zeugnis abzulegen, und welche Relevanz literarischen Selbstzeugnissen in der gegenwärtigen Soziologie und den angrenzenden Disziplinen zukommt. Betrachtet man das Buch im Zusammenhang mit weiteren Coming of Age-Erzählungen von sogenannten ‚Underdogs‘, rückt vor allem die Frage in den Vordergrund, inwiefern ihre Erzählungen ‚von unten‘ für eine Soziologie sozialer Ungleichheit in inhaltlicher wie method(olog)ischer Weise fruchtbar gemacht werden könnten. Schließlich bringen sie neben neuen Aspekten sozialer Ungleichheit, wie bspw. die in der Herkunftsscham zum Ausdruck kommende Wechselseitigkeit von Gefühlsund Sozialstruktur, auch eine andere Blickrichtung, Legitimation und Sprache in die Debatte um soziale Ungleichheiten ein. Zur Beantwortung dieser Fragen erscheint es sinnvoll, Rückkehr nach Reims in den Kontext verwandter soziologischer wie literarischer Selbstzeugnisse zu stellen, mit denen sich sowohl Fragen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Kalmbach et al. (Hrsg.), Eribon revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30561-1_2
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Julia Reuter und Christian Lömke
zum Verhältnis von Soziologie und Literatur als auch zum Erkenntnispotenzial literarischer Darstellungen neu stellen lassen.
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Literarische Wahlverwandtschaften – Eribon im Kontext
Herkunftserzählungen von Gelehrten sind in Frankreich ein Genre mit großer Tradition (vgl. Cammann 2017). In einer Mischung aus Erinnerungsliteratur, Gelehrtenbiografie und Zeitdiagnostik stellt sich Eribon mit seinem Lebensbericht in eine Tradition, die mit Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Michel Foucault, aber auch mit Pierre Bourdieus Soziologischem Selbstversuch und Annie Ernaux’ Roman Erinnerungen eines Mädchens prominente Vorläufer hat. Eribon, der insbesondere die Werke Bourdieus und Erneaux’ in Rückkehr nach Reims mehrfach erwähnt, findet zudem in den autobiografisch gefärbten Arbeiten des Schriftstellers James Baldwin, der berühmt für seine literarische Aufarbeitung der eigenen biografischen Mehrfachdiskriminierung als ‚schwarzer‘, ‚homosexueller‘ Künstler im amerikanischen Ghetto ist, ein weiteres zentrales Vorbild für die eigene Herkunftserzählung, insbesondere für die retrospektive Aufarbeitung des VaterSohn-Verhältnisses (vgl. Eribon 2016, S. 27 ff.). Eribon setzt die Tradition in gewisser Weise fort, denn Rückkehr nach Reims hat bereits in den wenigen Jahren nach seinem Erscheinen weitere Autor*innen zur soziologisch informierten Selbstauskunft inspiriert, von denen die Arbeiten des französischen Jungautors Édouard Louis zu den derzeit bekanntesten zählen.1 Insofern ist es für eine gattungs- wie erkenntnistheoretische Perspektivierung von Rückkehr nach Reims sinnvoll, einen Blick auf literarischen Vorlagen und intellektuellen Wahlverwandtschaften Eribons zu werfen, um sein autobiografisches Projekt in den Kontext autoanalytischer Erzähltraditionen zu stellen.
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Auch in Deutschland liegen bereits erste Arbeiten vor, die sich explizit als ‚Milieustudien‘ bzw. ‚Herkunftserzählungen‘ in der Tradition von Eribons Rückkehr nach Reims verstehen. Hierzu zählt etwa das Buch des Soziologen und Kulturjournalisten Christian Baron Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten (2016) als auch das aktuelle Buch der Schriftstellerin Daniela Dröscher Zeige Deine Klasse. Geschichte meiner Herkunft (2018). Bereits Jahre zuvor hatte zudem der Journalist Marco Maurer einen Artikel über seine Herkunft Ich Arbeiterkind in DIE ZEIT (2013) veröffentlicht. Kürzlich ist das von Julia Reuter gemeinsam mit Markus Gamper, Christina Möller und Frerk Blome herausgegebene Buch Vom Arbeiterkind zur Professur (2020) erschienen, das Herkunftserzählungen von Aufsteiger*innen in der Wissenschaft versammelt und kommentiert.
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1.1 Soziologische Hontoanalyse: Eribons Rückkehr nach Reims Eribons Rückkehr nach Reims erregt bereits kurz nach Erscheinen große öffentli che Aufmerksamkeit, die mit den Übersetzungen in den Folgejahren nicht abebbt. Insbesondere die autobiografischen Passagen wecken ein besonderes Interesse, wenngleich Eribon selbst sein Buch als ‚soziologische Autoanalyse‘ und gerade nicht als klassische ‚Autobiografie‘ verstanden wissen will (vgl. hierzu auch Prager 2018, S. 1). In einem Interview mit der Journalistin Tanya Lieske vom Deutschlandfunk (2017) spricht Eribon von einem primär soziologischen Werk bzw. einem autobiografisch angelegten Geschichtsbuch. In Rückkehr nach Reims erzählt Eribon von der Transformation vom Arbeiterkind zum Intellektuellen.2 Dabei geht es ihm weniger um die extensive Entfaltung einer persönlichen Lebensgeschichte, als vielmehr um das Nachvollziehen sozialer (Klassen-)Gesetzmäßigkeiten als Vor aussetzung ebendieser. Eribon beschreibt u. a., wie er als Kind eines Fabrikarbeiters und einer Putzfrau in der Schule immer wieder die Erfahrung macht, dass er trotz sehr guter Leistungen durch sein ‚unbürgerliches‘ Auftreten und seine Ausdrucksweise mit dem Schulsystem in Konflikt gerät. Er ist frech und respektlos den Lehrer*innen gegenüber und entgeht durch sein widerspenstiges Verhalten im Unterricht nur knapp einem Schulverweis. Nicht unbedingt die fachlichen, sondern die sozialen Anforderungen des Schulbetriebs bereiten ihm Schwierigkeiten und geben ihm letztlich das Gefühl, „irgendwie fehl am Platz“ zu sein (Eribon 2016, S. 160).3 Eribon entscheidet sich – nicht ohne Probleme – gegen den Widerstand und für die Anpassung an die schulischen (bürgerlichen) Anforderungen und nimmt einen langen, durchaus schwierigen Transformationsprozess in Kauf. Denn die Entscheidung für die Welt der Bildungsbürger*innen bedeutet die Entfremdung von der Welt seiner Familie; ein Lernprozess, der auch ein Verlernen Rückkehr nach Reims enthält typische Elemente sogenannter Coming of Age-Erzählungen. Diese sind in der Regel auf die Jugendjahre – insbesondere Erfahrungen während der Schulzeit – und die persönliche Entwicklung eines Protagonisten fokussiert. Zudem ist der Protagonist aufgrund seiner kulturellen, sozialen und/oder sexuellen Identität auf die ‚Außenseiterrolle‘ festgelegt und entscheidet sich während seiner Entwicklung dafür, in dieser zu verbleiben. Darüber hinaus finden sich auch Überschneidungen zu Coming Out-Narrativen, denn Eribons Bewusstwerdung der eigenen Klassenherkunft wird von ihm als langer komplizierter, vor allem aber konflikthafter Prozess beschrieben, der in seinem Buch Züge eines Geständnisses annimmt, wenn er einräumt, dass sein Coming-Out aus dem sexuellen Schrank auch mit einer Flucht aus dem „sozialen Schrank“ zusammengefallen sei (Eribon 2016, S. 20). Dem Sprachgebrauch zufolge werden diese Erzählungen anscheinend nur von Männern verfasst. 3 Man könnte den jungen Eribon im soziologischen Sinne als klassischen Fremden bezeichnen (vgl. Schütz 1944), der sich aufgrund der fehlenden gelebten Geschichte und des anderen Wissensvorrats in der (bürgerlichen) Ingroup des Gymnasiums – auch im körperlichen Sinne – nicht wohl fühlt und von dieser als ‚Eindringling‘ wahrgenommen wird. 2
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beinhaltet, dessen, was er ursprünglich gewesen war (vgl. ebd., S. 158 f.). In der soziologischen Forschung zu sogenannten ‚Bildungsaufsteiger*innen‘ wird dieser Prozess in Anlehnung an Pierre Bourdieu auch mit dem Begriff der Habitustransformation beschrieben.4 Es ist eine Transformation, die Eribon in seinem Nachfolgebuch Gesellschaft als Urteil (2017) gleich zu Beginn als Motiv aufgreift und am Beispiel des von ihm ausgesuchten Bildes seines Buchcovers zu Rückkehr nach Reims noch einmal reflektiert: Es handelt sich um eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die Eribon als Jungen zeigt, und aus der der Vater von ihm herausgeschnitten wurde. Eribon wollte mit der Manipulation des Fotos ausschließen, dass sein Transformationsprozess als Person durch die Entdeckung potenzieller Ähnlichkeiten zwischen ihm und seinen Vater annulliert würde (vgl. ebd., S. 35). Eribon verweist auf die soziale und physische Distanz zwischen ihm und seinem Vater, die eine Distanz zwischen seinem ‚alten‘ (negierten) und ‚neuen‘ (angenommenen) Habitus ist; gleichzeitig räumt er ein, dass das negierte Selbst nie ganz verschwunden, sondern lediglich verdrängt wurde und sich im Gefühl der Melancholie, der Trauer, des Unbehagens und der Scham unverhofft Bahn bricht.5 Die erlebte Scham ist für ihn ein Seismograph, der den Abstand zum Herkunftsmilieu und seinen gesellschaftlichen Normen auf affektive und körperliche Weise erfahrbar macht. Um seinem Gefühl(schaos) zu begegnen, wählt Eribon eine Mischung aus distanzierter und engagierter Reflexion, die sich u. a. auch in der unterschiedlichen Erzählperspektive (mal wählt er die Ich-, dann die Man-Form) widerspiegelt. Er macht damit deutlich, dass es ihm gerade nicht nur um die bloße Rekonstruktion seiner Melancholie und/oder Schamgefühle, sondern um deren Analyse geht. In seinem Nachfolgebuch Gesellschaft als Urteil bezeichnet er dies mit dem Begriff der Hontoanalyse, entlehnt dem französischen Substantiv ‚la Honte‘ (Scham, Schande), da er seine Autoanalyse vor allem als Analyse der ‚inneren Wahrheit‘ anlegt. Hontoanalyse ist eine Form der Selbstanalyse, die versucht, auch darüber nachzudenken, welche Dinge beim Erzählen über das eigene Leben ausgewählt und welche – aus Scham – ausgelassen wurden. In diesem Sinne könnte man sie auch als einen Versuch der Versprachlichung der schweigsamen Dinge des Sozialen verstehen (vgl. Hirschauer 2001), von denen die Scham als einverleibte und damit besonders schweigsame Form symbolischer Gewalt gilt. Hontoanalyse bedeutet also über die Sichtbarmachung und Kontextualisierung hinaus die Scham als Analyseinstrument fruchtbar zu machen im Sinne einer Art ‚Schichtenkunde der Scham‘, die dazu beiträgt, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Scham auf der ei4 5
Subjektwerdung des Menschen als Unterwerfung ist aber auch eine Denkfigur Michel Foucaults, den Eribon nicht zuletzt durch zahlreiche Interviews in seiner Tätigkeit als Journalist und die von ihm über Foucault verfasste Biografie persönlich kannte. Für eine affekttheoretische Analyse von Eribons Werk vgl. auch Kleiner in diesem Band.
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nen und Gesellschaftsstruktur auf der anderen Seite besser zu verstehen. Schon vor Rückkehr nach Reims hatte Eribon darüber nachgedacht, wenn er schreibt: „Ich wollte […] eine Anthropologie der Scham entwerfen, mit der sich eine Theorie der Herrschaft und des Widerstandes, der sozialen Unterwerfung und Subjektivierung konstruieren lässt.“ (Eribon 2016, S. 21) Die Scham ist für ihn das zentrale Werkzeug, um zu analysieren, wie die sozialen Strukturen funktionieren, die von Dominanz und Marginalisierung geprägt sind, denn „wenn man […] sich wegen seiner Herkunft schämt, dann bedeutet dies, dass es eine soziale Hierarchie gibt. Und die ist selbstverständlich nicht subjektiv. Sie ist objektiv. Deshalb ist Scham nicht nur ein persönliches, sondern auch ein soziales Gefühl“ (Tobler 2019).
1.2 Teilnehmende Objektivierung: Bourdieus Ein soziologischer Selbstversuch Ähnlich wie Pierre Bourdieu, dessen kleiner Band Ein soziologischer Selbstversuch (2002) den Anstoß zum Schreibprojekt von Eribon gegeben hat (vgl. Eribon 2017, S. 73), geht es also bei der soziologischen Hontoanalyse anders als in der Autobiografie um das Überwinden von Diskretion und Schamhaftigkeit. Bourdieu, der den Begriff der Hontoanalyse selbst nicht benutzt, würde sagen, es geht um die Entlarvung der sozialen Strukturen und Probleme, in die man selbst unmittelbar verstrickt ist und über die häufig – auch in der Wissenschaft – geschwiegen wird. Pierre Bourdieus Überlegungen zum klassenspezifischen Habitus und zum gespaltenen Habitus von Klassenübergängern, v. a. aber seine Arbeiten zu Möglichkeiten und Grenzen soziologischer Selbstreflexion durchziehen das gesamte Buch Eribons und werden mehrmals explizit als Vergleichsfolie herangezogen, sowohl um Parallelen zu entdecken als auch um sich davon abzusetzen (vgl. Eribon 2016, S. 152 ff.). Bourdieu, ebenfalls Arbeiterkind und Bildungsaufsteiger, hatte sich in Ein soziologischer Selbstversuch mit den gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingun gen und -restriktionen seines eigenen, vor allem wissenschaftlichen Werdegangs als ‚erkennendes Subjekt‘ auseinandergesetzt. Im Gegensatz zu Eribon ist das Buch aber klar ‚anti-autobiografisch(er)‘ angelegt, da es sich weithin erkenntnistheoretisch mit den Bedingungen des eigenen Verstehens auseinandersetzt und dies auch methodologisch in das Programm einer ‚teilnehmenden Objektivierung‘ übersetzt. Unter ‚teilnehmender Objektivierung‘ ist eine methodologische Strategie zu verstehen, die Beobachter*innen als endoskopische Beobachter*innen, d. h. als dynamische Feldteilnehmer*innen anstatt als außenstehende Fremde ausweist und das Beobachtete und Beobachtbare als Produkt der im Feld sozialisierten Beobachtungsweise aufdeckt. Bourdieu meint hier vor allem das professionelle Feld und die entsprechend professionelle Deformation der Beobachter*innen. Zwar
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erfährt der*die Leser*in in Ein soziologischer Selbstversuch auch etwas über Bourdieus Heimatdorf Béarn nahe der französischen Pyrenäen, Bourdieus ‚Karriere‘ im örtlichen Schulsystem und entfernten Internat, seinen Zwist mit den Mitschülern und Lehrern und seine Vorliebe für Rugby und andere ‚männliche Sportarten‘, die in der Arbeiterklasse besonders beliebt waren/sind (vgl. Bourdieu 2002, S. 95 f.). Aber diese Passagen, die zudem recht spät in seinem Buch angesiedelt sind, nehmen einen verhältnismäßig kleinen Raum ein und sind keinesfalls von der biografischen Dichte wie Eribons Ausführungen, der bemerkt: „Wenn dieses Selbstportrait wirklich etwas erklären soll, dann bleibt es darin unvollständig“ (Eribon 2017, S. 154); und weiter: „In einem Buch, das sich autoanalytisch gibt, hätte dieses Thema viel ausführlicher und viel direkter diskutiert werden müssen“ (ebd., S. 74). Bourdieu hingegen betont mehrfach, dass es ihm nicht um die „gelebte Erfahrung des wissenden Subjekts“ gehe, sondern um die „gesellschaftlichen Bedingungen, die diese Erfahrung (also deren Wirkungen und Grenzen) und, präziser ausgedrückt, den Akt der Objektivierung ermöglichen“ (Bourdieu 2000, S. 173). Darunter versteht Bourdieu auch das Herkunftsmilieu, die soziale und religiöse Zugehörigkeit und Affinität. Bedeutungsvoller aber erscheint ihm die Position in der professionellen Welt – der Welt der Soziolog*innen, Philosoph*innen oder Anthropolog*innen. Insofern nimmt die Rekonstruktion des „akademischen Unbewussten“ (ebd., S. 177) in seinem Selbstversuch den weitaus größeren Raum ein als die Rekonstruktion der Denktraditionen und Klassifikationsschemata der Herkunftsfamilie. Eribon sieht genau hierin eine Schwäche von Bourdieus Selbstanalyse und wirft ihm vor, er habe unter dem Deckmantel der „Wissenschaftlichkeit“ versucht, sich vor Schlussfolgerungen von seiner sozialen Herkunft auf sein Werk zu „schützen“ (Eribon 2017, S. 75); aus Scham habe er seine Arbeiten bewusst wie unbewusst zensiert, was mitunter auch in der konkreten empirischen Forschung zu Missverständnissen bzw. Schieflagen geführt habe.6 Nichtsdestotrotz sieht Eribon Bourdieus Bücher als „autobiographische Fragmente“ (ebd., S. 93), denn das in ihnen entfaltete Begriffsgebäude stützt sich auf die Erfahrung der Gewalt der Ungleichheit zwischen den Klassen, die er in seinem Leben persönlich 6 Eribon übt zudem Kritik daran, dass Bourdieu seine Autoanalyse dort unvollständig lässt, wo es um die Verbindung zwischen persönlicher Geschichte und seinem Verstehen persönlicher Geschichten geht – wie etwa im Band Das Elend der Welt: Bourdieu habe so unterschiedliche Sympathien für seine Interviewpartner*innen entwickelt, etwa zu jungen „Banlieue Machos“ (Eribon 2017, S. 52), ohne dieses präreflexive Nähegefühl zu reflektieren. Gleichwohl kann man einräumen, dass sich Bourdieu durchaus Gedanken über seinen Feldzugang im Banlieue in Lille und den Interviewverlauf mit den zwei jugendlichen Außenseitern gemacht hat. So führt er seine „geglückte“ Forschung auf seine persönlichen Erfahrungen als „Störenfried“ bzw. „Außenseiter“ im Internat, das er seit seinem 11. Lebensjahr besuchte, zurück (vgl. Bourdieu 2002, S. 109).
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und direkt empfunden und beobachtet hatte. Ungeachtet dessen, wie man die Frage nach der Qualität des Bourdieuschen Selbstversuchs beurteilen will, darf nicht aus dem Blick geraten, dass Eribons eigene Soziobiografie ohne Bourdieu nicht denkbar gewesen wäre.
1.3 Nichtfiktionale Literatur: Louis’ Das Ende von Eddy Neben Bourdieu lassen sich auch weitere Bücher und Autor*innen in den Mikrokosmos aus Schriftsteller[n] mit Soziologenblick (Vormweg 2018) einordnen, die als Aufsteiger*innen die Mechanismen sozialer Ausgrenzung mit einer solchen Eindringlichkeit beschreiben, wie es zuvor nur wenigen gelungen ist. Es sind zudem Autor*innen, die Eribon in seinen Büchern namentlich nennt und mit denen er in der Öffentlichkeit gemeinsam auftritt: Hierzu zählt etwa der französi sche Jungautor Édouard Louis, Jahrgang 1992, dessen 2014 in Frankreich und 2016 in Deutschland erschienener Debutroman Das Ende von Eddy ebenfalls den Aufbruch, oder besser: Ausbruch des jungen Erzählers aus der nordfranzösischen Provinz beschreibt, in der er als Kind in ärmlichsten Verhältnissen aufwuchs. Louis, der wie Eribon homosexuell ist, schildert aus Sicht des kindlichen Erzählers Eddy Bellegeule (so der Geburtsname von Louis, den er mit Erscheinen des Buches abgelegt hat) die brutalen Männlichkeitsrituale und den homophoben Wertekosmos einer längst abgehängten prekären Arbeiterklasse in der französischen Peripherie, die Eddy als ‚anders‘ denkenden, fühlenden und handelnden Jungen mit besonderer Härte treffen. Das Leben im Dorf gleicht einem ‚Spießrutenlauf ‘: Für den schmächtigen und weder an Mädchen noch am körperlichen Kräftemessen, Alkohol und Fernsehen interessierten Jungen lauert die Gefahr der gewaltvollen Ausgrenzung und Beschämung überall. Eddy erkennt schnell, dass ihm nur noch die Flucht als Ausweg bleibt. Nachdem erste Fluchtversuche scheitern, gelingt es ihm schließlich durch die Unterstützung der Schulleiterin das Dorf zu verlassen, um das Abitur in der nächstgelegenen Departmenthauptstadt auf einem Internat zu machen. Louis, der zum Erscheinungsdatum seines Buches 22 Jahre alt und Student der Soziologie ist, liefert zunächst einmal keine ‚soziologische Analyse‘, sondern schreibt einen autobiografischen Roman, der aufgrund seiner sprachgewaltigen Bilder über den Wertekosmos einer nordfranzösischen Arbeiterklasse, Erziehung und Elternschaft, die Rolle der Männer, ihre Angst und Vorurteile gegenüber allem Fremden, insbesondere auch gegenüber Homosexuellen als literarische Gesellschaftsbeobachtung daherkommt. Nicht umsonst wird sein Buch nicht nur im Literatur- und Kulturbetrieb, sondern auch in der Soziologie zitiert. Louis möchte mit seiner Literatur provozieren – indem er sie als ein Instrument begreift, um
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‚gesellschaftliche Wahrheiten‘ auszusprechen. Louis verbindet mit seiner Vision einer ‚engagierten Literatur‘ unterschiedliche Annahmen: Erstens bietet ihm Literatur die Möglichkeit, gesellschaftlichen Personen(gruppen) einen Platz zu geben, die bislang nicht zu Wort kommen. Zweitens bietet ihm Literatur den größten Spielraum, eine ‚wahrhaftige‘ Sprache zu verwenden, die es bspw. erlaubt, das milieutypische Sprechen weder zum ‚illustren Fall‘ zu erklären noch zu zensieren. In Das Ende von Eddy werden entsprechende Redewendungen und Ausdrücke zwar kursiv gesetzt, aber weder korrigiert noch kommentiert, was u. a. auch an der Übernahme von grammatikalischen oder (bei geschriebenen Begriffen) Rechtschreibfehlern deutlich wird: „Fick di Bullen“, „Schwule vergahsen“, „schlag ihr die Fresse kaputt“ (Louis 2017, S. 98 f.). Louis nutzt die Sprachgewalt des Milieus ohne Rücksicht auf eigene und fremde Schamgrenzen; er will die Leser*innen zum Hinschauen zwingen. Drittens bietet Literatur für ihn die Möglichkeit, in einer Welt voller Fiktion nicht-fiktionale ‚Wahrheiten‘ auszudrücken und damit auch einen Raum für Kritik an der Gesellschaft zu schaffen. Literatur erscheint so als letztes „Bollwerk des Widerstands“ (von Schenck 2017). Für Louis ist es womöglich weniger wichtig, ob seine Texte7 als autobiografisch im gattungstheoretischen Sinne eingeordnet werden können8, als vielmehr mit Hilfe nicht-fiktionaler Literatur die Fiktionalität der Wirklichkeit zu durchbrechen. Dies schließt auch professionelle Konstruktionen von Wirklichkeit mit ein, wie sie etwa auch die Soziologie vornimmt. Sein ebenso intimes wie gnadenloses Porträt eines Milieus, in dem Misstrauen und Gewalt das Leben beherrschen, weil es an Solidarität, an gesellschaftlicher Anerkennung, vor allem aber an Einkommen und Bildung mangelt, bietet seiner Ansicht nach ‚authentische(re)‘ Introspektionen als üblicherweise sehr abstrakt gehaltene soziologische Klassen- und Schichtmodelle. Unter Nennung der realen Namen und Orte beschreibt Louis die Gewalttätigkeit, der er selbst in der eigenen Familie und Nachbar*innenschaft ausgesetzt war.9 Gleichzeitig verfasst er das Buch als Soziologe, der sich mit den 7
Mittlerweile hat Louis zwei weitere Romane publiziert, in der die eigene Abstammung bzw. die persönlichen Erfahrungen als literarisches Motiv dienen. 8 In der Literaturwissenschaft werden Autobiografien durch ihren Wahrheitsanspruch von rein fiktionalen Texten unterschieden, wenngleich sich durch die ausschließliche Betrachtung der Texte selbst deren ‚Authentizität‘ nicht bestimmen lässt. Nur durch das Heranziehen anderer Quellen lässt sich der ‚Wahrheitsgehalt‘ autobiografischer Texte bemessen. Letztendlich ist es in autobiografischen Texten nur schwer möglich, zwischen fiktiven Elementen und realen Inhalten zu unterscheiden, weshalb hier stellenweise auch von Autofiktionen die Rede ist. 9 Die Verwendung von ‚Klarnamen‘ ist eine riskante und keinesfalls unumstrittene Strategie, da sie auch dazu führte, dass nach Erscheinen des Buches Reporter*innenteams das Dorf und die im Buch genannten Personen aufsuchten und einem ‚Skandaljournalismus‘ Vorschub geleistet wurde.
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Theorien und Modellen zur sozialen Ungleichheit sehr gut auskennt; immerhin hat er noch während seines Soziologiestudiums ein Buch über Pierre Bourdieu geschrieben und ist seit einer Lesung von Eribon im Februar 2010 über dessen Buch Rückkehr nach Reims mit ihm und weiteren Soziolog*innen eng befreundet.
1.4 Unpersönliche Autobiografie: Ernaux’ Die Jahre Eine wichtige Figur im intellektuellen Leben von Louis wie Eribon ist die französische Schriftstellerin Annie Ernaux, deren Werke ebenfalls stark von Bourdieu beeinflusst sind. Ernaux’ Bücher werden von Eribon nicht nur mehrfach zitiert; sie inszenieren ihre intellektuelle Freundschaft auch durch gemeinsame Auftritte.10 Ernaux erzählt in ihrem jüngsten Buch Die Jahre ihren immerhin über 70 Jahre umfassenden eigenen Werdegang vom Mädchen aus einfachen Verhältnissen in der Normandie zur Pariser Intellektuellen im Wandel der französischen Gesellschaft. Das Buch bildet dabei den Abschluss einer Trilogie, die mit dem auto biografisch gefärbten Romanen Der Platz (1983) und Erinnerungen eines Mädchens (1974) begann. Aber auch ihre anderen Romane sind – wenngleich weniger offensichtlich autobiografisch – Teil eines fortlaufenden Erinnerungsprojekts, in der Selbsterlebtes mit den Einflüssen aus Gesellschaft und Politik verwoben werden. Ähnlich wie Louis tritt sie durch die Ausweisung ihres Buches als Roman als Schriftstellerin in die Öffentlichkeit, benutzt aber gleichzeitig die eigene Lebensgeschichte und familiäre Figuren und Zeugnisse als Material. Ernaux wählt dabei eine quasi-soziologische Schreibmethode, indem sie auf einen puristischen, aufs Faktische beschränkten Berichtston zurückgreift (vgl. Radisch 2018). Anhand ausgewählter privater (Familien-)Fotografien, die die einzelnen Kapitel rahmen, unternimmt sie eine Zeitreise, angefangen von der Kindheit als Krämerstochter bis zur Gegenwart als ‚Grand Dame‘ der französischen Literatur. Ernaux verzichtet konsequent auf eine Ich-Erzählerin. Stattdessen spricht sie aus der Perspektive einer (Frauen-)Generation und erzählt in der dritten Person, als „das Mädchen“, „eine Frau“, „man“, manchmal ist auch von „uns“ oder „wir“ die Rede (vgl. Schwartz 2017). Das unterscheidet ihr Schreiben zunächst einmal von Eribon und Louis, die größtenteils aus der ‚Ich‘-Perspektive erzählen. Und noch etwas unterscheidet sie maßgeblich von beiden: Ernaux lenkt mit dem Zitieren der auf den Fotografien zu findenden Jahreszahlen den Blick auf die zeitlichen Umstände und die historisch gesellschaftlichen Kontexte (vgl. Wagner-Egelhaaf 2005, S. 6 f.): Präsidentschaftswahlen, Bildungsreformen, Protestbewegungen, volkskulturelle und popkulturelle Güter und Ereignisse, Waren, Sprichwörter und Anekdoten – all 10 Wie etwa auf der Frankfurter Buchmesse 2017.
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dies wird mit den Gefühlen, Erkenntnissen, Entscheidungen und der Lebensführung der Hauptfigur ins Verhältnis gesetzt, so dass Ernaux konsequent kollektivbiografisch bleibt. Aber es ist eine andere Art der Kollektivbiografie als jene, die die historische Sozialforschung kennt. Kollektivbiografien bezeichnen hier eine spezielle Methode, „eine theoretisch und methodisch reflektierte, empirische, besonders auch quantitativ gestützte Erforschung eines historischen Personenkollektivs in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext anhand einer vergleichenden Analyse der individuellen Lebensläufe der Kollektivmitglieder“ (Schröder 1985, S. 8).11 Ernaux hingegen arbeitet spiegelverkehrt: Nicht das Kollektiv bildet den Ausgangspunkt ihrer Analyse, sondern die einzelne Person, zudem nutzt sie keine quantitativen Dokumente wie etwa Statistiken, sondern qualitative Materialien wie autobiografische Familienfotografien und Aufzeichnungen, von denen aus sie assoziative Verknüpfungen zum gesellschaftlichen Zeitgeschehen macht. Ihre literarische Kollektivbiografie erinnert daher stärker an eine Autoethnografie, nicht zuletzt, weil sie auf die Methode des Vergleichs (von Lebensläufen oder Sozialprofilen), der für sozialwissenschaftliche Kollektivbiografien typisch ist (vgl. Gallus 2005), verzichtet. Ihr geht es ja gerade darum, einen besonderen Charakter – in dem Fall von einer konkreten Frau aus der Arbeiterschicht – zu erfassen, was klassische Kollektivbiografien durch ihren Fokus auf das Typische/Verallgemeinerbare nicht leisten können. Gleichzeitig reflektiert sie immer wieder über die Unmöglichkeit, Einzelbiografien und autobiografisches Schreiben und Erkennen lediglich aus intimen Sehnsüchten und Erinnerungen heraus zu verstehen. Hierzu bedarf es ihrer Ansicht nach immer auch der Kombination mit äußeren Elementen, wie z. B. „Merkmalen einer Epoche“, „das Hintergrundrauschen, das pausenlos formuliert, wie wir sein sollen, was wir denken, glauben, fürchten“ (Ernaux 2017, S. 252).12
11 Prominente Beispiele für solche Personenkollektive sind etwa soziale und politische Gruppen. So wurden beispielsweise Kollektivbiografien der Machtelite der DDR oder der Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik erstellt. Bei dieser Methode sollen durch den Vergleich der individuellen Lebensläufe einzelner Individuen gruppenbiografische Analysen erstellt werden. 12 Die letzten Seiten ihres Romans lesen sich als eine Art ‚methodologischer Anhang‘ für den/ die Leser*in, wenn sie darin beschreibt, wie das Buch zustande gekommen ist, wie der konkrete Schreibprozess aussah, welche Materialien wie genutzt wurden, welche Zeitform warum gewählt oder welche Erzählperspektive verwendet wurde.
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Literatur als Soziologie – Soziologie als Literatur ?
Es ist sicherlich kein Zufall, dass die neuerliche soziologische Aufmerksamkeit für literarische Selbstzeugnisse vor allem auf Beispiele aus Frankreich zurückgreift. Im Gegensatz zu Deutschland bzw. zur deutschsprachigen Soziologie, die traditionell auf eine klare Trennung der Disziplinen Soziologie und Literatur Wert legt (vgl. Kuzmics und Mozetic 2003; Gephart 2008, S. 159), verläuft die Grenze zwischen den Disziplinen in Frankreich unschärfer. So erscheint die französische Soziologie – zumindest in einigen Bereichen – literarisch und die Literatur soziologisch (vgl. ebd.).13 Vereinzelt befasst sich dennoch auch der deutschsprachige Wissenschaftsdiskurs mit der Frage, inwiefern Literatur für die Soziologie fruchtbar gemacht werden kann.14 Dennoch bleibt es vielfach bei einer Skepsis gegenüber der soziologischen Verwertbarkeit von Literatur, die auf das ‚Empirismus argument‘ zurückgeführt wird: Da Soziologie, zumindest in ihren hegemonialen Kernbereichen, eine empirisch verfahrende und auf ‚Fakten‘ basierende Wissenschaft ist, sei die Analyse von fiktionalen Beschreibungen, wie literarischen Texten, für die Erforschung von sozialer Realität irrelevant (vgl. Kuzmics und Mozetič 2003, S. 68). Aber es gibt auch eine andere Begründung für die im Vergleich zu anderen Disziplinen, in denen literarische Selbstzeugnisse eine lange Tradition haben (vgl. Ploder und Stadlbauer 2013, S. 379), späte und recht zögerlich Beschäftigung der Soziologie mit dieser Textsorte: Selbstzeugnisse, Autoethnografien oder -analysen setzen eine kritische Selbstreflexion mit den sozialen Bedingungen von Fachidentität und Erkenntnisinteressen voraus. Man denke etwa an die Writing CultureDebatte (vgl. Clifford und Marcus 1986), die in der Soziologie wenig Beachtung gefunden hat, obwohl es dabei auch um Grundlagenprobleme der Sozialwissenschaften ging, wie etwa die koloniale Verstrickung des Fachs in seinen Gegenstand oder die narrative Konstruktion von Wirklichkeit (vgl. Kuzmics und Moze tič 2003, S. 4 f.; Reuter und Villa 2009). Im Kampf um akademische Reputation und Eigenständigkeit hat sich die zunehmend am naturwissenschaftlichen Paradigma orientierte Soziologie zudem im Zuge ihrer ‚Verwissenschaftlichung‘ von ihren eigenen literaturnahen Frühformen getrennt. Die Folge war ein ‚innerdiszi plinärer Reinigungsprozess‘, in der weite Teile der geisteswissenschaftlichen Tra13 Überhaupt wird die sprachlich-literarische Kultur in Frankreich höher geachtet als in vielen anderen Ländern und spielt seit jeher auch in der Politik eine Rolle. In Frankreich ist es durchaus üblich, sich als (Spitzen-)Politiker*in auch als Literat*in zu erkennen zu geben, wie auch umgekehrt, sich als Literat*in politisch zu äußern (vgl. Bock 2009). 14 Neben dem Sammelband von Kuzmics und Mozetic (2003) finden sich Überlegungen zur Frage, welche Erkenntnismöglichkeiten die Literatur für die Soziologie bietet, auch in Kron und Schimank (2004).
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dition und ihre linguistischen, historischen, philosophischen und literaturwissenschaftlichen Methoden und Denkmodelle abgedrängt wurden. Ein Großteil der gegenwärtigen deutschsprachigen soziologischen Schriften tragen innersoziologische Kontroversen aus und/oder setzen sich mit dem Gesichtspunkt auseinander, wie eine wahrhaft wissenschaftliche Soziologie auszusehen habe.15 In ihrem Bemühen, mit objektivistischer Methodik und formalisierten Repräsentationsformaten die Strukturen, funktionale Zusammenhänge und Bewegungsgesetze moderner Gesellschaften darzustellen, haben literarische Zeugnisse – gleich welcher Art – hier einen vergleichsweise schweren Stand (vgl. Alkemeyer 2007, S. 17 f.). Dabei erscheinen in der Rückschau journalistische Reportagen, literarische Essays und realistische Romane für die Entstehung der Soziologie durchaus von Bedeutung gewesen zu sein (vgl. ebd., S. 10 ff.).16 Demgegenüber besitzen soziologische Dokumente heutzutage unter literarischen Gesichtspunkten kaum ästhetische Qualitäten. Für soziologische Texte gilt im Grunde immer noch das, was einst Wolf Lepenies formulierte: „Soziologische Texte dienen weder der moralischen Erbauung noch helfen sie bei existentieller Betroffenheit; Soziologen schreiben keine Romane, sie müssen lernen, von der unmittelbaren Wahrnehmung zu ab strahieren“ (Lepenies 1998, S. 471). Doch genau die Unmittelbarkeit und Betroffenheit macht die diskutierten Arbeiten der französischen Schriftsteller*innen mit Soziolog*innenblick aus. Dies erklärt womöglich einen Teil der Aufmerksamkeit, die Eribon, Louis und Ernaux im Medien- und Literatur- wie im Soziologiebetrieb erfahren, machen sie doch die Grenze zwischen Literatur und Soziologie virulent: Louis und Ernaux, indem sie Romane verfassen, die – wie sie selbst behaupten – keine Fik tion enthalten, und Eribon, indem er soziologische Analysen mit literarischen Erinnerungsmomenten vermischt, die sich wie ein Roman lesen lassen. In ihrem gemeinsamen Anliegen, Literatur als Ort der ‚Wahrheit‘ in einer Welt voller Fiktion zu nutzen (vgl. von Schenck 2017), gehen sie sogar noch einen Schritt weiter: Sie setzen auf die Literatur und nicht unbedingt mehr auf die Soziologie als Ort des Widerstands und der ‚Wahrheit‘. Literatur, so könnte man es mit dem 15 Ein besonders aktuelles Beispiel hierfür bietet die neugegründete Akademie für Soziologie, die sich explizit als selbsternannte empiristische, evidenzbasierte Soziologie einem stärker naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis verschreibt: https://akademie-soziologie. de/akademie/grundsaetze/. 16 Man denke nur an die Rolle journalistischer Reportagen für die Chicagoer Schule, die Manierenbücher für Norbert Elias’ Arbeiten zum Prozess der Zivilisation oder die Parallelen von Thomas Manns Romanen und Max Webers Analysen zur Protestantischen Ethik. Auch Bourdieu hat stets auf die Relevanz von Literatur als Wissensmedium hingewiesen und nutzte die Gesellschaftsbeschreibungen der Romanciers Flaubert und Balzac als quasi-soziologische Quellen.
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Literatursoziologen Werner Gephart pointiert formulieren, bietet in ihrer Bildhaftigkeit, Prägnanz und Schärfe möglicherweise bessere Erkenntnismöglichkeiten über gesellschaftliche Verhältnisse und deren Entwicklung als die Soziologie, u. a. weil soziologische Analysen und Diskurse durch ihr zum Teil hochelaboriertes Vokabular schwerfälliger daherkommen (vgl. Gephart 2008, S. 15). Ungeachtet dessen, dass Literatur ebenfalls als soziales (Macht)Feld organisiert ist, ließe sich „in Fortführung dieses Gedankens durchaus darüber nachdenken, ob eine Besonderheit der literarischen Modellierung der sozialen Welt nicht darin liegt, in das Prinzip der illusio und damit in die Mechanismen der symbolischen Gewalt einzuführen“ (Alkemeyer 2007, S. 19). Schließlich bieten die Selbstzeugnisse der hier vorgestellten Autor*innen die Möglichkeit, die stummen Mechanismen der symbolischen Gewalt nicht nur über Sprache rational zugänglich zu machen; diese können auch durch eine performative – weil literarisierte – Repräsentation anders nachempfunden werden und fördern damit eine andere, eine ästhetische Erkenntnis (vgl. ebd.).
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Fazit
Armut, Gewalt, Ausgrenzung, Rassismus, Klassismus, Sexismus – dies sind die Themen, die Eribon, Louis und Ernaux in der eigenen Biografie erfahren haben und über die sie schreiben. Aber es sind auch die Themen, die einen immer größer werdenden Teil der Gesellschaft – und nicht nur der französischen – seit vielen Jahren betreffen. Dörfer und Gemeinden wie Hallencourt, Reims oder Yvetot, die Geburtsorte von Louis, Eribon und Ernaux, in denen in manchen Vierteln der Anteil der Erwerbslosen ebenso groß wie die Anhänger*innenschaft rechtspopulistischer Parteien ist, gibt es überall.17 Insofern lassen sich die hier vorgestellten Bücher nicht nur als (auto-)biografische Zeugnisse, sondern auch als soziologische Zeitdiagnosen verstehen, ganz im Sinne der berühmten Kollektivstudie Das Elend der Welt (Bourdieu et al. 1997), die jenseits von subjektiver Betroffenheit und distanzierter ‚objektiver‘ Analyse eine im besten Sinne verstehende und verständliche Soziologie repräsentiert. Diese sieht sich womöglich nicht in Konkurrenz zu literarischen Gesellschaftsbeobachtungen, sondern betrachtet diese als Varianten einer ‚narrativen Soziologie‘, die durch ihre Anschaulichkeit, Sensibilität und Konkretion eine andere Art des Erkennens und Begreifens gestatten, die Bourdieu einmal als ‚praktisches Verstehen‘ bezeichnet hat. Insbesondere für eine 17 Seit 10 Jahren porträtiert etwa der Fotograf Vincent Jarousseau, ebenfalls ein Freund Louis’ und Eribons, das persönliche Schicksal als ‚Abgehängte‘ der Bewohner*innen der französischen Kleinstadt Denain an der belgischen Grenze.
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Soziologie symbolischer Gewalt eröffnen literarische Modellierungen der ‚Wirklichkeit‘ – weil sie nicht im gleichen Maße wie soziologische Modellierungen formalen Zwängen unterworfen sind – die Möglichkeit eines körperlich-praktischen Erkennens eben jener oftmals sehr körperlich-praktischen Machttechniken und Über-/Unterlegenheitsgefälle (vgl. Alkemeyer 2007, S. 24). Die bisherige Rezep tion der Arbeiten von Eribon, Louis und Ernaux zeigt jedoch, das zwar über Klassengewalt als Ausdruck sozialer Ungleichheit neu nachgedacht wird, nicht aber über die Art und Weise, wie eine Soziologie sozialer Ungleichheiten betrieben werden sollte, die durch ihre Repräsentationen selbst zum Teil des Ungleichgeschehens wird (vgl. Barlösius 2005, S. 171). Natürlich ist es zu begrüßen, dass die mit Rückkehr nach Reims neu entfachte Debatte über Klassengegensätze und Klassengewalt nun auch in der deutschsprachigen Soziologie mit neuer Verve geführt wird. Die Aufmerksamkeit für ‚Außenseiterliteraturen‘ ist sicherlich hierzulande ein (Neben-)Effekt der ‚Rückkehr der sozialen Frage‘ (Castel und Dörre 2009) angesichts einer jahrzehntelangen gesellschaftstheoretischen Diskussion jenseits von Klasse und Stand (Beck 1983). Mit Blick auf die erwähnten ‚Außenseitererzählungen‘ in den Postcolonial Studies wäre es aber sicherlich gewinnbringend, neben den aufgeworfenen, im Übrigen intersektional zu stellenden sozialen Fragen auch die erkenntnistheoretischen wie methodologischen Aspekte literarischer Selbstzeugnisse für eine Soziologie sozialer Ungleichheit auszuloten, die jede Textgattung birgt. Dies haben postkoloniale Autor*innen mit ihren Überlegungen zur Rolle von ‚outsiders within academia‘ (vgl. Hill Collins 1986) und ihren transdisziplinären, mit autobiografischem Material durchtränkten Werken als Kritik an der Epistemologie (westlicher) Sozialwissenschaft (vgl. exempl. Hall 1992) lange vor Eribon und explizit(er) deutlich gemacht. Es bleibt also abzuwarten, inwieweit die Herkunftserzählungen von Soziolog*innen bzw. soziologisch informierten Literat*innen über die Aufmerksamkeit für die Literatur und Themen der Außenseiter*innen hinaus auch das Bild der Soziologie sozialer Ungleichheit und ihrer epistemischen Praxis emanzipieren.
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„Dieses verstörende Gefühl, an einem Ort zugleich zu Hause und fremd zu sein“ Bildungs- und geschlechterhistorische Reflektionen über Rückkehr nach Reims Elke Kleinau
Dass ein Text sehr verschieden gelesen werden kann, ist keine umwerfend neue Erkenntnis. Zudem wird jeder Text von seiner Wirkungsgeschichte getragen, „da die Bedeutung eines Textes das Produkt aller früher entwickelten Interpretationen ist“ (Lorenz 1997, S. 149; Hervorhebung im Original). Kein Text kann daher so verstanden werden, wie er ‚ursprünglich‘ gemeint war. Er wird immer aus der Perspektive seiner jeweiligen Leser*innen verstanden. Insofern ist es nicht weiter überraschend, dass auch Didier Eribons Rückkehr nach Reims auf ausgesprochen unterschiedliche Weise rezipiert wird. Für jede Lesart stehen bestimmte Themen im Vordergrund, andere rücken in den Hintergrund, werden schlichtweg ignoriert oder aber erst zu einem späteren Zeitpunkt und/oder in einem anderen Kontext aufgegriffen. Angesichts der aktuellen europapolitischen Lage interessieren sich Politikwissenschaftler*innen oder politikgeschichtlich orientierte Historiker*innen vornehmlich dafür, wie Eribon die Hinwendung der traditionell links wählenden französischen Arbeiterklasse zum rechtsnationalen Front National analysiert. Gender- und Queertheoretiker*innen fokussieren dagegen Männlichkeitskonstruktionen sowie das schwule coming out des Autobiografen, was in Rückkehr nach Reims aber gar nicht explizit thematisiert wird. Für Wissenschaftler*innen mit einem Schwerpunkt auf soziale Ungleichheiten ist wiederum die lange verleugnete soziale Herkunft des heutigen Soziologieprofessors Eribon aus dem Arbeitermilieu von Interesse. Das letzte Thema scheint in Deutschland auf einen deutlich größeren Nachhall zu stoßen als in Frankreich, was sich nicht nur an der Auflagenhöhe und -stärke der deutschen Übersetzung festmachen lässt,1 1
Innerhalb der ersten sechs Monate erlebte das Buch zehn Auflagen. Eigentlich hält diese Entwicklung bis heute an, denn ein vergleichbarer autobiografischer Text aus einer prominenten deutschen Wissenschaftsfeder existiert m. W. nicht, was einen Teil des runs auf Rückkehr nach Reims erklärt. Da in Frankreich diese Textgattung eine längere Tradition hat (vgl.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Kalmbach et al. (Hrsg.), Eribon revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30561-1_3
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sondern auch an einer deutlichen Zunahme von Publikationen über soziale Aufsteiger*innen in der Wissenschaft (vgl. bspw. Möller 2015; Reuter et al. 2020). Ein Text kann aber auch von einer*m einzelnen Leser*in zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich gelesen werden. Ich habe Rückkehr nach Reims innerhalb von zwei Jahren mehrfach und jedes Mal anders gelesen: zunächst fast kritiklos zustimmend, weil ich mich in vielem als eine Angehörige der ‚Ersten-Generation-Universität‘ wiederfinden konnte, dann kritisch hinterfragend und auch mit zunehmenden Ärger über bestimmte Auslassungen, Widersprüchlichkeiten und Rationalisierungen im Text. Ausgehend von der Frage, ob und wie eine solche Bildungs- und Berufskarriere wie die Eribons in den 1960er und 1970er Jahren möglich war, werde ich in Form eines Essays meine ganz persönliche Auseinandersetzung mit der Rückkehr nach Reims führen, wobei Analyse und Kritik stark von meiner wissenschaftlichen Verortung als erziehungs- und bildungshistorische Biografie-, Frauen- und Geschlechterforscherin geprägt sein wird.
Soziale Ungleichheiten und Bildung Die Reproduktion sozialer Ungleichheiten ist ein Thema, dass innerhalb der Sozialund Erziehungswissenschaften in zyklisch verlaufenden Wellen wiederkehrt. In der Bundesrepublik wurde über den Zusammenhang von Bildungserfolg – gemessen am formalen Bildungsabschluss – und sozialer Herkunft bereits in den ersten Nachkriegsjahren mit einem deutlichen Fokus auf sozialstrukturelle Veränderungen der Schule debattiert. Einerseits war die frühe Bundesrepublik tief verwurzelt in den Traditionen vor 1933, andererseits orientierte sie sich in den ersten beiden Jahrzehnten ideologisch stark am Vorbild der westlichen Demokratien, insbesondere an den USA. Die westlichen Besatzungsmächte waren bemüht, im Rahmen der Reeducation ihre bildungspolitischen Vorstellungen bei der Gestaltung des Bildungswesens durchzusetzen (vgl. Hentges 2013, S. 27 – 65). So hielten bspw. die Vereinigten Staaten das dreigliedrige Schulsystem für zutiefst undemokratisch und favorisierten die Einführung eines Einheitsschulsystems nach dem Vorbild der amerikanischen high school. Die Einheitsschule war aber im konservativen Nachkriegsdeutschland assoziiert mit der sozialistischen Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts und damit politisch nicht durchsetzbar. Zudem wurde die Systemkonkurrenz zwischen der Bundesrepublik und der DDR ganz wesentlich im Bereich von Bildungs- und Familienpolitik ausgetragen und der Kampf gegen die ‚sozialistische Einheitsschule‘ nahm Bourdieu 2017 [2002]; Ernaux 2018a [2008] und 2018b [2016]), steht man dort dem deutschen Hype um Eribon reichlich verständnislos gegenüber.
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einen prominenten Platz in den ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges ein. Man beschränkte sich daher im Wesentlichen auf die Beseitigung nationalsozialistischer ‚Reformen‘ und restaurierte damit das Bildungswesen der Weimarer Republik. Die strukturelle Erneuerung des Schulwesens mit Blick auf mehr Chancengleichheit für Kinder aus ‚bildungsfernen‘ Familien nahm erst unter der sozialliberalen Regierung von Willy Brandt richtig Fahrt auf. Bildungs- und Berufskarrieren wie die Eribons – vom Arbeiterkind zum Professor (weniger zur Professorin) – hat es zeitgleich auch in der Bundesrepublik gegeben. Neben individuellen Faktoren haben bildungspolitische Neujustierungen Bildungs- und Berufskarrieren von Kindern aus sogenannten ‚bildungsfernen‘ Milieus befördert, da ihre Schulausbildung in die Zeit der beginnenden Bildungsexpansion Deutschlands fiel. Bis Ende der fünfziger Jahre hatte die Mehrheit der deutschen Bevölkerung keinen Zugang zu höherer Bildung. Mehr als 85 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung hatten nur die Volkschule absolviert, 5 Prozent die Realschule und weniger als 10 Prozent ein Gymnasium mit der Reifeprüfung abgeschlossen (vgl. von Friedeburg 1992, S. 336). Die Zahlen, die Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron Anfang der 1960er Jahre für Frankreich erhoben, weisen in eine ähnliche Richtung, was die Autoren zu der drastischen Formulierung der „Eliminierung“ (Bourdieu und Passeron 2007 [1985], S. 11; Hervorhebung im Original) oder der „Bildungsmortalität“ der „am meisten benachteiligten Klassen“ greifen ließ (ebd., S. 19). Je nach sozialer Herkunft gerinne die Vorstellung einer Hochschulbildung zu einer „‚unmöglichen‘, ‚möglichen‘ oder ‚normalen‘ Zukunftsaussicht“ (ebd., S. 12). In Deutschland machten die öffentlichen Bildungsausgaben 1958 lediglich 3,3 Prozent des Bruttosozialprodukts aus und unterschritten Anfang der Sechzigerjahre sogar den Anteil von 3 Prozent (vgl. von Friedeburg 1992, S. 347). Gestützt auf die Bedarfsfeststellung 1961 bis 1970 der Kultusminister der Länder präsentierte Georg Picht diese alarmierenden Zahlen Anfang des Jahres 1964 in einer Artikelserie der konservativen Wochenzeitung Christ und Welt, die noch im gleichen Jahr unter dem Titel Die deutsche Bildungskatastrophe als Buch herausgebracht wurde. Pichts Thesen lösten eine der intensivsten bildungspolitischen Debatten der Nachkriegszeit aus: Im deutschen Bildungssystem blieben viel zu viele Begabungen unentdeckt, derer es aber bedürfe, um den materiellen Wohlstand der Gesellschaft zu sichern. Aus einer bildungsökonomischen Perspektive konstatierte Picht einen ‚Bildungsnotstand‘ und den Mangel an Abiturienten und zukünftigen Akademikern als dessen Kernproblem: „Die Zahl der Abiturienten bezeichnet das geistige Potential eines Volkes und von dem geistigen Potential sind in der modernen Welt die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, die Höhe des Sozialprodukts und die politische Stellung abhängig“ (Picht 1964, S. 26).
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In deutlicher Abgrenzung zum ausschließlich bildungsökonomisch argumentierenden Picht forderte Ralf Dahrendorf, der damalige Vordenker der Liberalen, ein Recht auf Bildung als „ein soziales Grundrecht aller Bürger“ und monierte, es dürfe „keine systematische Bevorzugung oder Benachteiligung bestimmter Gruppen aufgrund leistungsfremder Merkmale wie soziale Herkunft oder wirtschaftliche Lage geben“ (Dahrendorf 1965, S. 24). Darüber hinaus dürfe dieses Grundrecht auf Bildung keine abstrakte, sondern müsse eine realistische Möglichkeit darstellen, dieses Recht auch wahrzunehmen. Der Staat sei daher verpflichtet mit seiner Bildungspolitik zum Abbau sozialer Ungleichheit beizutragen (vgl. ebd.). Bedingt durch die föderale Struktur der BRD existierten große Unterschiede zwischen Stadt- und Flächenstaaten, zwischen sozial- und christdemokratisch regierten Bundesländern. Das war in Frankreich anders, wo eindeutig das Zentrum (Paris) die Peripherie (Provinz) dominierte. Der Zugang zu einer weiterführenden Schulbildung war jedoch in beiden Ländern für bestimmte Gruppen der Gesellschaft ungleich schwerer als für andere. In der zeitgenössischen deutschen Forschung, hier wäre noch die 1969 erschienene Untersuchung von Helge Pross (1969) über die Bildungschancen von Mädchen zu erwähnen, wurde nachdrücklich darauf hingewiesen, „wie sehr die Landbevölkerung gegenüber den Städtern, die Mädchen gegenüber den Jungen, die Kinder der unteren sozialen Schichten gegenüber den der höheren und die katholischen Kinder gegenüber den evangelischen benachteiligt wurden“ (von Friedeburg 1992, S. 354).2 Die Forschungsergebnisse fanden ihre publikumswirksame Zuspitzung in der bildungspolitischen Kunstfigur des katholischen Arbeitermädchens vom Lande, das ungeachtet seiner individuellen Begabung nur die einklassige Dorfschule und keine Berufsausbildung zu erwarten hatte, während dem Sohn des protestantischen Professors aus Berlin selbstverständlich das Gymnasium und anschließend die Universität offenstand. Auch Bourdieu und Passeron konstatierten eine Bildungsbenachteiligung der Mädchen in Frankreich, die sich stärker noch als im Zugang zur Universität in der „Einschränkung der Studienwahl“ auf das Lehramt zeige (Bourdieu und Passeron 2007 [1985], S. 13; Hervorhebung im Original). Allgemein unterliege „die Studienwahl der unteren Klassen einer größeren Beschränkung als die der Privilegierten, die der Studentinnen einer größeren als die der Studenten, und diese Benachteiligung wird noch deutlicher bei Frauen, die aus den unteren Schichten stammen“ (ebd., S. 13 ff.). In meiner Studienzeit (1974 – 1979) war das Thema soziale Ungleichheit in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften omnipräsent. In den Seminaren diskutier2 Dieses für Deutschland festgestellte ‚katholische Bildungsdefizit‘ ließ sich in Frankreich nicht feststellen, was mit der Dominanz des Katholizismus gegenüber anderen Religionsgemeinschaften zusammenhängen dürfte (vgl. Bourdieu und Passeron 2007 [1985]: 19 f.).
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ten wir mit heißen Köpfen über Familie und Klasse (vgl. Milhoffer 1975), Lernen in der Klassenschule (Beck 1974), stritten über Begriffe wie schichtenspezifische Sozialisation (vgl. Gottschalch, Neumann-Schönwettter und Soukup 1971, S. 71 ff.), ohne allerdings diese Begriffe mit unserer eigenen Sozialisation in Verbindung zu bringen. In den 1980er Jahren versickerte die Auseinandersetzung mit dem Thema allmählich und nahm erst im letzten Jahrzehnt erneut Fahrt auf (vgl. Krüger et al. 2011; Ecarius und Wigger 2006). Dass in der Erziehungswissenschaft das Thema aus dem Blickfeld geriet, verwundert auf den ersten Blick, da sich gerade in den pädagogischen Studiengängen viele Studierende der sogenannten ‚Ersten Generation Universität‘ wiederfinden. In der Hierarchie der Wissenschaften, die Bourdieu mit Blick auf das Verhältnis der Philosophie zu den Sozialwissenschaften ausgesprochen polemisch beschreibt (vgl. Bourdieu 2017 [2002], S. 14), rangieren die Erziehungswissenschaft sehr weit ‚unten‘. Da liegt die Vermutung nahe, dass sich auch unter den zahlreichen Professor*innen dieser Disziplin einige soziale Aufsteiger*innen befinden dürften. Studierende wie Promovierende berichten mittlerweile in Betroffenen-Netzwerken wie ArbeiterKind (vgl. https://www.Arbeiterkind.de/) oder Mentoring-Programmen wie Erste Generation Promotion (vgl. https://artes.phil-fak.uni-koeln.de/egp.html) über Fremdheitserfahrungen, die sie an der Universität, aber auch gegenüber der eigenen Herkunftsfamilie empfinden. Fehlende Einblicke in die formellen wie informellen ‚Spielregeln‘ der Wissenschaft und die Einübung eines akademischen Habitus bilden Herausforderungen, bei deren Bewältigung Studierende wie Promovierende ohne akademischen Familienhintergrund häufig auf sich allein gestellt waren und vielfach noch sind (vgl. Becker 2010; Müller und Pollak 2007). Eribon beschreibt seine mühselige sprachliche Anpassung an den ‚kultivierten‘ Pariser Code und sein ‚Spiel‘ mit den verschiedenen sprachlichen Ebenen in Elternhaus, Schule und Universität (vgl. Eribon 2017, S. 98 f.). Spätestens seit den 1960er Jahren Zeit ist bekannt, dass der Bildungserfolg eng mit der Beherrschung der sogenannten ‚Bildungssprache‘ zusammenhängt. Bourdieu und Passeron sprechen von der Fähigkeit, „mit der abstrahierenden Unterrichtssprache umzugehen“ (Bourdieu und Passeron 2007 [1985], S. 24) und verweisen auf die soziolinguistischen Forschungen Basil Bernsteins. In seinem Buch Ein soziologischer Selbstversuch macht Bourdieu seinen Status als ‚universitärer Außenseiter‘ an seinem – von der südfranzösischen Provinz und seiner kleinbürgerlichen Herkunft geprägten – Habitus fest, der sich deutlich „von der kühlen Selbstsicherheit der hochgeborenen Pariser“ unterschieden habe (Bourdieu 2017 [2002], S. 101). Eribon spricht von dem „Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören“ und greift zur Kennzeichnung dieses Unbehagens den Bourdieu’schen Begriff des „gespaltenen Habitus“ auf (Eribon 2017, S. 12). In der Auseinandersetzung mit Bourdieus Soziologischem Selbstversuch wirft Eribon dem älteren Kollegen vor, seine Selbstanalyse „nicht weit genug“ betrieben
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zu haben (ebd., S. 152). Bourdieu habe geschildert, „wie nach und nach all jene Mitschüler, die aus demselben Milieu stammten wie er und genau diese Werte teilten, aus seinem schulischen Umfeld verschwanden“ (ebd., S. 154) und kritisiert die Nicht-Beantwortung der Frage: „Wie und aus welchen Gründen ist ausgerechnet er übriggeblieben ?“ (Ebd., S. 154) Diese Frage lässt sich auch im Hinblick auf Eribons Bildungskarriere stellen. Wieso ist gerade ihm der sozial ‚unmögliche‘ Aufstieg gelungen ? In seiner Analyse des französischen Bildungssystems bleibt Eribon einer ausgesprochen deterministischen Sichtweise verhaftet. Das Bildungssystem erscheint als ein hermetisch abgeschlossener Bereich, in dem sich die bürgerliche Elite beständig selbst reproduziert. Das Schulsystem fungiere als eine Art „Höllenmaschine“, die „[…] faktisch dafür sorgt, dass Kinder aus armen Schichten abgewertet werden, dass ungleiche Berufschancen und beschränkte soziale Zugangsmöglichkeiten fortbestehen, dass eine bestimmte Form der Klassenherrschaft intakt bleibt und weiterhin als legitim gilt.“ (Ebd., S. 113) In der Auseinandersetzung mit seiner familialen Vergangenheit bezieht sich Eribon wiederholt auf zwei afroamerikanische Schriftsteller: James Baldwin und John Edgar Wideman. In Fanon vergleicht Widemann, Eribon zufolge, seinen erfolgreichen Werdegang mit dem seines wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten Bruders und geht der Frage nach, warum „er sich dem Schicksal vieler junger Schwarzer aus benachteiligten Vierteln entziehen konnte“ (ebd., S. 109) ? Wideman spricht, so Eribon, von einem ‚Krieg‘ der Weißen gegen die Schwarzen, eine Metapher, die Eribon umgehend übernimmt und auf einen „‚Krieg‘ des Bürgertums und der herrschenden Klassen“ gegen die Arbeiterklasse überträgt (ebd., S. 111). Diesen Vergleich, der die privilegierte Position der ‚weißen‘, ausschließlich männlich gedachten Arbeiter gegenüber afrikanischen Migrant*innen ausblendet, empfinde ich als anmaßend. Ausgeblendet wird ebenfalls die lange koloniale Vergangenheit Frankreichs. Der Kampf Algeriens um seine Unabhängigkeit endete 1962 und müsste damit auch in der Erinnerung Eribons, der bei Kriegsende acht Jahre alt war, präsent sein. Zudem gerät Eribon mit der Übernahme der Kriegsmetapher gefährlich nah ins Fahrwasser einer Verschwörungstheorie, die er – mit Bezug auf Bourdieu – Louis Althusser unterstellt. Aber auch Bourdieu ist vor Kritik nicht gefeit: Einige seiner Formulierungen, bspw. die „wirkliche Funktion“ des Bildungssystems, näherten sich „genau den Positionen an, die er selbst so vehement“ zurückweise (ebd., S. 113). Aber das gilt auch für Eribon: Die Selektionsfunktion des Schulsystems führt in seinen Ausführungen faktisch ein Eigenleben. Von den Betroffenen werde sie oftmals nicht erkannt, sie reklamierten „ihren Ausschluss als Resultat ihrer eigenen Wahlfreiheit“ (ebd., S. 44). Und auch die Lehrkräfte seien – selbst wenn sie „ihr Bestes“ gäben, hilflos gegenüber „der Macht der sozialen Ordnung, die ihre Wirkung auf verborgene und zugleich offensichtliche Weise entfaltet und die sich gegen alles und jeden durchzusetzen vermag“ (ebd., S. 113).
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Welch ein Fatalismus ! Mir drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, dass diese Sichtweise Eribon letztendlich dabei hilft, seine Schuldgefühle gegenüber seinen beiden jüngeren Brüdern zu relativieren, die sich von ihm „im Stich gelassen“ fühlen (ebd., S. 106). Erst nach dieser Mitteilung seiner Mutter fängt Eribon an sich zu fragen, was gewesen wäre, hätte er sich mehr für die Brüder interessiert, wenn er ihnen in der Schule geholfen und sie für das Lesen, seinen Zugang zu Bildung, begeistert hätte. Der rhetorischen Bezichtigung als „Egoist“, der nur sich selbst „retten“ wollte und nicht einsah, warum er „irgendeine Rücksicht nehmen sollte“ (ebd., S. 106), folgt umgehend die theoretisch unterfütterte Absolution. Alle Bemühungen, „die vorherrschende Logik der schulischen Selektion auszuhebeln“, hätte nicht ausgereicht, „um die soziale Reproduktionsmechanik zu stoppen, die auch deshalb so effizient ist, weil die Trägheit des Klassenhabitus ihr zuarbeitet“ (ebd., S. 109). Warum ist aber gerade er von der ‚Macht der sozialen Ordnung‘ ausgenommen, warum gelingt es ihm, dem „‚statistischen‘ Schicksal zu entkommen“ (ebd., S. 110) ? Hilfreiche Menschen auf dem Weg aus dem Milieu heraus, scheint es – darauf werde ich noch eingehen – fast keine gegeben zu haben. Bleibt, wenn die These vom ‚autonomen Subjekt‘ als Erklärung verworfen wird (vgl. ebd., S. 120 f.), nur die Hoffnung auf einen religiösen Heilsbringer, auf „ein Wunder“ (ebd., S. 109) ?
Bildung als elterlicher biografischer Auftrag An Bourdieus Soziologischem Selbstversuch kritisiert Eribon die eher psychologische, denn soziologische Herangehensweise. Er vermisst die Auseinandersetzung mit der „Logik der sozialen Kräfte“ (ebd., S. 153). Als erziehungswissenschaftliche Biografieforscherin interessiert mich aber, wieso gerade diesem individuellen Arbeitersohn der soziale Aufstieg aus dem Arbeitermilieu gelang und nicht etwa einem seiner Brüder. Welche individuellen und sozialen Einflüsse, Weichenstellungen etc. kamen zum Tragen ? Zeitlich gesehen korrespondieren Eribons schulischer Erfolg sowie seine zunehmende Distanzierung gegenüber dem sozialen Milieu mit seinem Gefühl des sexuellen ‚Anderseins‘ (vgl. ebd., S. 100). Wie genau Homosexualität, soziale Herkunft und Bildungserfolg miteinander verflochten sind und sich gegenseitig bedingen, wird aber in Rückkehr nach Reims gerade nicht zum Gegenstand gemacht. Stärker als die intersektionale Perspektive, die andere Autor*innen in diesem Band verfolgen, treibt mich die Frage um, ob Eribon mit seiner Bildungskarriere einem biografischen Auftrag seiner Eltern folgte. Den Anteil seiner Mutter an seinem sozialen Aufstieg reflektiert der Autor ansatzweise, den seines Vaters blendet er weitgehend aus. Als ältestes von insgesamt 12 Kindern hatte Eribons Vater (* 1929) bereits vor dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestalter von 14 Jahren die Schule verlassen
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müssen (vgl. ebd., S. 44). Während der Besatzung durch die deutsche Wehrmacht (1940 – 1945) war der Junge für die Versorgung der Familie zuständig gewesen und er blieb es auch, bis er mit dem Erreichen des Volljährigkeitsalters heiratete und seinen eigenen Hausstand gründete. Einer vorzeitigen Heiratserlaubnis hatte seine Mutter nicht zugestimmt, weil sie auf seinen Lohn nicht verzichten wollte oder konnte (vgl. ebd., S. 43). Aufstiegsaspirationen scheint Eribons Vater gleichwohl gehabt zu haben, da als sein Berufswunsch „technischer Zeichner“ genannt wird. Eribon berichtet von Weiterbildung im „Selbststudium“ und in „Abendkursen“, aber der „Traum“ des Vaters scheiterte an den realen Lebensverhältnissen (ebd., S. 47): an unzureichender Vorbildung, langen Arbeitstagen in der Fabrik, unzureichendem Arbeitsschutz, der ihn vorzeitig altern und krank werden ließ. Was ihm gelang, war ein bescheidener sozialer Aufstieg vom Hilfsarbeiter zum Vorarbeiter (vgl. ebd., S. 48). Den Stolz des Vaters auf das Erreichte fand der junge Eribon, der sich ob seiner sozialen Herkunft schämte, „lächerlich“ (ebd., S. 49). Aber da auch die beiden jüngeren Brüder „in einem begrenzten Rahmen“ ökonomisch erfolgreicher als der Vater waren (ebd., S. 108), könnte es sein, dass der Vater – unausgesprochen und weitgehend unbewusst – den biografischen Auftrag des sozialen Aufstiegs an die nachfolgende Generation formulierte. Dass einer seiner Söhne einmal die Position eines Soziologieprofessors bekleiden würde, lag zweifelsohne außerhalb seiner Vorstellungskraft, aber auf öffentliche Auf tritte seines Sohnes war er stolz und – entgegen seiner eigenen früheren homophoben Einstellung – nicht bereit, derartige Äußerungen in seinem Bekanntenkreis zu dulden (vgl. ebd., S. 28 f.). Zu dieser Sichtweise dringt Eribon aufgrund des frühen Kontaktabbruches mit seinem Vater nur bedingt vor, zumal er als Jugendlicher alles unternahm, um „anders als er zu sein“ (ebd., S. 50). Es gelingt ihm besser bei seiner Mutter, zu der die Beziehung nie ganz abriss. Seiner Mutter habe er es „[…] zu verdanken, dass ich aufs Gymnasium gehen und dann studieren konnte. Sie hat es nie ausdrücklich gesagt, aber ich denke, sie sah in mir jemanden, der mit ihrer Hilfe eine Chance wahrnehmen konnte, die ihr selbst verwehrt geblieben war. Ihre enttäuschten Träume konnten sich durch mich verwirklichen“ (ebd., S. 75).
Die Mutter war eine sehr gute Schülerin gewesen, die das letzte Grundschuljahr überspringen durfte und die gern Grundschullehrerin geworden wäre (vgl. ebd., S. 59). Die anfängliche Schilderung, dass der Krieg ihre Bemühungen aufs Gymnasium zu gehen torpediert habe, weicht zunehmend einer komplexen Familien geschichte. Eribons Mutter wuchs als uneheliches Kind einer minderjährigen Mutter ohne Vater auf. Eribons Großmutter lebte mit wechselnden Partnern, meldete sich im Krieg für einen freiwilligen Arbeitseinsatz in Deutschland und ließ
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ihren damaligen Lebensgefährten und ihre drei Kinder bei einer Gastfamilie in Frankreich zurück. Warum die Großmutter „nach ein paar Monaten kein Geld mehr schickte“ (ebd., S. 59), war für Eribon nicht zu entschlüsseln, auch ob die ihr nachgesagte Affäre mit einem deutschen Offizier bereits in Frankreich oder erst in Deutschland begonnen hatte. Für Eribons Mutter hatte allerdings das Ausbleiben des Geldtransfers einschneidende Folgen: Sie wurde einem katholischen Waisenhaus übergeben, was den Abbruch ihrer vielsprechenden Bildungskarriere bedeutete. Im Gegensatz zu ihrem späteren Mann gelang ihr jedoch der erfolgreiche Abschluss der Volksschule, wonach sie als Hausmädchen in Stellung ging (vgl. ebd., S. 59). Eribon schämte sich als Jugendlicher der Familienverhältnisse seiner Mutter (vgl. ebd., S. 63), obwohl ‚wilde Ehen‘ und Patchwork-Familien im Proletariat keine Seltenheit darstellten. Die ‚eigentliche Schande‘, deren seine Großmutter bezichtigt wurde, wurde Eribon erst als Erwachsener bewusst. Es war keineswegs das jugendliche Alter der Großmutter bei der Geburt ihrer Tochter, das Eribon bei seiner ‚Klassenflucht‘ so schamvoll verschwieg: Eribons Großmutter gehörte zu den Frauen, denen nach der Befreiung Frankreichs wegen Kollaboration mit dem Feind in einer Inszenierung öffentlichen ‚Volkszorns‘ der Kopf kahlgeschoren wurde (vgl. ebd., S. 67; Virgili 2004). Zurück zu der Frage nach dem biografischen Auftrag von Eribons Mutter an ihren Sohn Didier: Was hat sie in ihm gesehen ? Und warum in ihm und nicht in einem seiner Brüder ? Die einzige Auskunft, die Eribons Mutter von ihrer Mutter über ihren Erzeuger erhielt, war, dass er von Beruf Maurer und ein ‚schöner Spanier‘ gewesen sei (vgl. Eribon 2017, S. 58). Um diese dürftigen Informationen habe die Mutter einen „Familienroman“ gesponnen (ebd.) und auf einer Abstammung von ‚Zigeunern‘ beharrt, die ihr auf einer Andalusienreise auch ein Gitarre spielender ‚Zigeuner‘ mit dem Zuruf „‚Du bist eine von uns‘“ bestätigt habe (ebd.). Für eine Nordfranzösin scheint Eribons Mutter demnach ein ausgesprochen „dunkler Hauttyp“ gewesen zu sein (ebd., S. 138), und sie verkörperte damit Erscheinungsmerkmale, die sie an ihrem Sohn und er auch an sich wiedererkannte. Obwohl Eribon sich als Intellektueller von dieser „Herkunftsmystik“ distanziert, muss er nach einem Blick auf Jugendfotos – wenn auch äußerst widerwillig – zugeben, dass an dieser „Zigeunerfabel […] etwas dran sein“ könnte (ebd., S. 58). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Erklärung für die Wahl von Spanisch als zweiter moderner Fremdsprache im Gymnasium, die ausgesprochen fremdbestimmt und der ‚Logik der sozialen Kräfte‘ verhaftet klingt: „Die Kinder aus bürgerlichen oder bildungsbürgerlichen Schichten entschieden sich für Deutsch, während die Spanischklasse zum Sammelbecken für die schlechtesten Schüler aus den ärmsten Familien wurde, wobei diese beiden Merkmale natürlich statistisch miteinander korrelieren.“ (Ebd., S. 170)
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Warum findet aber nur einige Zeilen später das „Phantasma“ der ‚zigeunerisch‘andalusischen Herkunft erneut Erwähnung und Eribons jugendliche Schwärmerei für Spanien (ebd., S. 170) ? Die romantisch-verklärte Version des ‚Zigeunerdaseins‘ stellt lediglich eine Variante des Antiziganismus dar (vgl. Hornberg und Brüggemann 2013) und korrespondiert mit der Haltung von Eribons Mutter, die ihrem Sohn zufolge „ein Paradebeispiel für den volkstümlichen Alltagsrassismus der Sechziger“ abgab (ebd., S. 137). Gleichwohl scheint diese Abstammungskonstruktion etwas zu sein, die – wiederholt erzählt – Eribon und seine Mutter emotional miteinander verbindet, eine Erzählung, die sie miteinander teilten und von der andere Familienmitglieder ausgeschlossen blieben.
Frauenerwerbsarbeit, geschlechtliche Arbeitsteilung und bürgerliche Sexualmoral Die Erwerbstätigkeit seiner Mutter als Fabrikarbeiterin, die gegen den erklärten Willen des Vaters erfolgte, ermöglichte Eribon den Schulbesuch bis zum Abitur und das Studium. Die Wahl des Faches Philosophie lag außerhalb ihrer Vorstellungswelt, sie müsse ihr „wie eine Spinnerei vorgekommen sein“ (ebd., S. 83), schreibt Eribon. Sie habe sich wohl für ihn eine eher anwendungsorientierte Zukunft als Gymnasiallehrer für Englisch oder Spanisch erhofft. Begriffen hat er den Einsatz seiner Mutter anscheinend erst bei der Niederschrift der Rückkehr nach Reims: „Auf die Idee, dass auch ich zum Familieneinkommen hätte beitragen können, bin ich damals nicht gekommen. (Oder genauer: Ich habe sie sorgsam verdrängt, denn Andeutungen meiner Mutter gab es genug.)“ (ebd., S. 47), kein Wunder bei ihrer Doppelbelastung als Vollerwerbstätige, Hausfrau und Mutter von vier Kindern. Dass es keineswegs ein Naturgesetz war, das „arbeitende[] Frauen […] zu einem doppelten Arbeitstag“ zwang (ebd., S. 48), realisiert Eribon erst in der reflektierenden Rückschau. Als Jugendlicher markierte er den kleinen Pascha, der – sofern es seiner Bequemlichkeit diente – die geschlechtliche Arbeitsteilung in der Familie als selbstverständliches männliches Vorrecht hinnahm, während die „strikte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern“ als fadenscheinige Begründung für seine zunehmende Abgrenzung von familialen Freizeitaktivitäten herhalten musste (ebd., S. 52). Was seine Mutter an Care-Arbeit für ihn und andere Familienmitglieder leistete (vgl. Bock und Duden 1977; Moser und Pinhard 2010), wird von Eribon völlig ausgeblendet – und damit entwertet. Aus geschlechterhistorischer Sicht sind insbesondere die Textpassagen interessant, in denen Eribon über die sexuelle Doppelmoral der Arbeiterschaft schreibt. Fabrikarbeiterinnen, ledige wie auch verheiratete, galten nicht nur in bürgerlichen Kreisen, sondern auch in der kommunistisch gesinnten Arbeiterschaft als Frauen
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von zweifelhafter Sexualmoral. Eribons Mutter nahm mit der Aufnahme von Fabrikarbeit nicht nur die bereits erwähnte Doppelbelastung auf sich, sondern setzte für die Bildungskarriere ihres Sohnes auch ihren ‚guten Ruf ‘ als ‚anständige‘ Frau aufs Spiel. Vor ihrer Tätigkeit in der Fabrik hatte sie als Putz- und Waschfrau in Privathaushalten gearbeitet, was innerhalb der Arbeiterschaft akzeptiert war, obwohl gerade dort sexuelle Übergriffe seitens bürgerlicher Arbeitgeber an der Tagesordnung waren (vgl. Eribon 2017, S. 60). Was genau an der Fabrikarbeit von Frauen als anstößig galt, wird von Eribon an dieser Stelle nicht eingehend analysiert, aber in Verbindung mit anderen Textpassagen lässt sich die Befürchtung der männlichen Arbeiter herausarbeiten, dass mit der größeren ökonomischen Selbständigkeit der Frauen, die die Fabrikarbeit im Gegensatz zur Dienstbotentätigkeit garantierte, auch die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen zunehmen könnte. Gefürchtet wurde aber nicht nur der Kontrollverlust über die (eigenen) Frauen, sondern auch die Gefährdung männlicher sexueller Privilegien, wie das nächtelange Fernbleiben von zu Hause, ein hoher Alkoholkonsum und „die eine oder andere Nacht mit einer anderen Frau“ (ebd., S. 91). Für seinen Vater findet Eribon an dieser Stelle deutlich entschuldigende Worte, da er an seiner in jungen Jahren eingegangenen „Verantwortung und Fremdbestimmtheit“ (ebd., S. 91), gemeint ist hier seine Verpflichtung als Ehemann und Familienvater, schwer getragen habe. Der Begriff der ‚Fremdbestimmheit‘ wird jedoch für die Mutter nicht in Anschlag gebracht. Sie hat sich – neben ihrer Erwerbstätigkeit – selbstverständlich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern, und bei einem „Ausbleiben über Nacht“ hätte, da ist sich der Autor absolut sicher, sein Vater zuerst das Haus „verwüstet“ und anschließend die Mutter umgebracht (ebd., S. 91). Bereits in den Passagen über das eigenwillige und vielleicht auch weitgehend selbstbestimmte Sexualleben der Großmutter mütterlicherseits hat Eribon seine Scham als Heranwachsender über die Unangepasstheit der Großmutter an bürgerliche Normen und Werte artikuliert. Eine vergleichbare Scham über das Verhalten seines Vaters findet sich im Text nicht, und hier offenbart sich die Internalisierung bürgerlicher Vorstellungen über Ehe, Familie und Sexualität (vgl. Kleinau 1983), die „Zugehörigkeit zur Welt der ‚Normalen‘“ (Eribon 2017, S. 193), über die sich Eribon in Bezug auf seine sexuelle Orientierung längst hinweggesetzt hat. An dieser Stelle argumentiert er vermeintlich ‚sachlich‘ und stellt seine „tiefe Abneigung“ gegenüber Leuten zur Schau (ebd., S. 64), „die ihre Definition von Ehe und Familie, von der Legitimität oder Illegitimität verschiedener Lebensweise allen anderen aufzwingen wollen“ (ebd., S. 63), ohne sein eigenes Verhaftetsein in bürgerliche Geschlechter- und Moralkonventionen zu reflektieren (vgl. ebd., S. 65).
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Freundschaft, Bildung und Kultur Inspirierende und ihn fördernde Lehrer3 hat Eribon in seiner Gymnasialzeit anscheinend nicht erlebt. Erwähnt wird lediglich der Philosophielehrer, der nur „bleierne Langeweile“ vermittelt habe (ebd., S. 171 f.). Auch die Philosophie-Professoren an der Reimser Universität werden von dem aufstrebenden jungen marxistischen Studenten als „Karikaturen des professoralen Mittelmaßes“ empfunden, als „[t]alentfreie Repetitoren, die selbst zum Konservatismus im eigentlichen Sinne nicht fähig waren“ (ebd., S. 178). Der Wahrheitsgehalt dieser Äußerungen sei dahingestellt, aber die drastischen Formulierungen spiegeln zum einen die seinerzeit unbefriedigte intellektuelle Wissbegierde des jungen Eribon wider, zum anderen die Arroganz des in Paris zum Intellektuellen avancierten und international gefragten Gastreferenten gegenüber Provinzfakultäten und deren Professoren. Wie lässt sich diese massive Abwertung mit der Berufung auf die gleichfalls in der Provinz gelegene Universität von Amiens vereinbaren ? Nun, auch ‚Geistesgrößen‘ benötigen schließlich einen Broterwerb und müssen sich ein „festes Einkommen“ sichern (ebd., S. 237). Einen nachhaltigen Einfluss auf den Bildungsweg Eribons scheint ein gleichaltriger Mitschüler aus bürgerlichem Elternhaus ausgeübt zu haben. Um ihm zu gefallen und es ihm gleichzutun, gab Eribon seine anfängliche Haltung als „rebellische[r] Bildungs- und Kulturverweigere[r]“ auf (ebd., S. 157). Seine Hingezogenheit zu diesem Jungen bezeichnet Eribon heute als „Verliebtheit“ (ebd., S. 163), damals war es für ihn unmöglich dieses Gefühl zu benennen, geschweige denn, es auszuleben. Die Freundschaft mit diesem Jungen erschloss dem Arbeiterjungen die Welt der Literatur und der klassischen Musik und ermöglichte es ihm, seinen gegenüber der Schulkultur widerständigen „Klassenhabitus“ aufzugeben (ebd., S. 165). Dass dieser Prozess auch schmerzhafte Seiten für ihn hatte, wird in Formulierungen deutlich, dass er sich anpassen, sich unterwerfen, seine ‚Bildungslücken‘ überspielen musste, um seinen Verbleib am Gymnasium zu sichern (vgl. ebd., S. 161). Die Freundschaft mit dem Klassenkameraden bestand nur drei oder vier Jahre, und Eribon vermutet, dass sie für seinen Freund „weit weniger bedeutend“ war als für ihn (ebd., S. 169). Um noch einmal die Formulierung vom ‚Wunder‘ aufzugreifen: Ermöglicht wurde das ‚Wunder‘ durch das Begehren des Anderen, so zu sein wie er.
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Ob es am Gymnasium auch Lehrerinnen gab, geht aus Rückkehr nach Reims nicht hervor. Auch Mitschülerinnen werden nicht erwähnt. Daraus lässt sich allerdings nicht ohne Weiteres ableiten, dass Eribon ein reines Jungengymnasium besuchte.
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Fazit Die Schwierigkeit einen so vielschichtigen Text wie Rückkehr nach Reims zu analysieren, liegt wahrscheinlich in der Vermischung der beiden Genres autobiografischem Schreiben und soziologischer Reflexion (vgl. Erdur 2016, S. 2). Dem autobiografischen Teil, in dem Eribon seinen Bildungsgang zum ‚Wunder‘ erklärt, stehen theoretisierende Passagen gegenüber, die zwischen individueller und kollektiver Handlungsfähigkeit (agency) und „den Determinismen und der selbstreproduzierenden Kraft der sozialen Ordnung“ oszillieren (Eribon 2017, S. 218), aber letztlich die Frage nicht beantworten, wie der Bildungsaufstieg gelang. Trotz aller theoretischen Ausfälle gegenüber der Konstruktion des autonomen Subjekts reklamiert Eribon für sich eine „Pseudoautonomie“ (Winterhager-Schmid 2000, S. 28), die ihren Ursprung in seiner ‚abweichenden‘ Sexualität habe. Die Unterstützung der Mutter wird auf rein materielle Hilfen reduziert, fördernde Lehrkräfte gab es nicht, ein kleiner Anteil an der ‚Erfindung‘ des neuen bildungsbeflissenen Selbst wird lediglich dem Schulfreund aus bürgerlichem Milieu zugestanden. Alle genannten Personen bleiben im Text namenlos, was den Eindruck eines instrumentellen Umgangs mit Menschen verstärkt. Eribon arbeitet sich an seiner Kindheit und Jugend im Arbeiter*innenmilieu ab und sucht literarische, theoretische und politische Referenzen, die es ihm ermöglichen, „die emotionale Aufladung“, die sich beim autobiografischen Schreiben unweigerlich einstellt, „zu neutralisieren“ (Eribon 2017, S. 236), was ihm – zum Glück – nicht immer gelingt. Seine anhaltende Empörung über die bürgerliche Welt, die nicht wahrhaben will, „dass ihre Welt nur einer partikularen, situierten Wahrheit entspricht (so wie ein Weißer sich nicht seines Weißseins und ein Heterosexueller sich nicht seiner Heterosexualität bewusst ist)“ (ebd., S. 92), schlägt sowohl in autobiografischen wie auch theoretisch-reflektierenden Passagen durch und gibt den Blick frei auf einen Menschen, der bis heute mit seiner ‚Klassenflucht‘, seinem ‚sozialen Überläufertum‘ ringt (vgl. ebd., S. 23) und trotz aller vordergründigen Anpassungen nicht zu denjenigen gehören will, die „in der Komfortzone der sozialen Ordnung angekommen“ sind (ebd., S. 119). Das „Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören, die schier unvereinbar weit auseinanderliegen und doch in allem, was man ist koexistieren“ (ebd., S. 12), bleibt Hypothek und – wenngleich eingeschränkt – Erkenntnischance zugleich.
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Scham und Affekt
Sexuelle und soziale Scham Zur unterschiedlichen Bedeutung dieser Affekte in Rückkehr nach Reims Bettina Kleiner
In seinem autobiografisch motivierten Buch Insult and the Making of the Gay Self (2004) hatte Didier Eribon seine Flucht in die Großstadt erzählt und analysiert, wie schwule Männer dort die Möglichkeitsbedingungen ihrer Sexualität neu herstellen, „sich Freiräume erobern und auf dem Grundriss einer heterosexuellen Stadt den einer homosexuellen zeichnen“ (Eribon 2016, S. 208). In Rückkehr nach Reims (2016) macht er vorrangig seine Sozialisation und Subjektivation im Kontext von Klassenverhältnissen zum Gegenstand. In einem Interview äußert sich der Autor dazu wie folgt: „Ich habe meine Familie und mein soziales Milieu wegen der Homophobie verlassen, die in diesem Milieu so prominent vertreten war. Es war also ein sehr guter, ein sehr wichtiger Grund. Aber ich musste auch mir selbst und meinen Lesern gegenüber ehrlich sein, dass es nicht der einzige Grund war. Es gab außerdem noch einen, nämlich, dass sie Arbeiter waren, und so wollte ich nicht sein.“ (Rehberg 2017, S. 20)
Eribons Lebensbericht und Analyse Rückkehr nach Reims erzählt in fünf Kapiteln und stilistisch unterbrochen von etlichen Pro- und Analepsen von seinen widersprüchlichen Kindheitserfahrungen, dem Tod des seit der Pubertät verabscheuten Vaters und der erneuten Kontaktaufnahme mit der Mutter, von den von Kriegen und sexualisierter Gewalt gezeichneten Biografien von Mutter und Großmutter, von Eribons Besuch des Gymnasiums und der Universität sowie vom Beginn und Abbruch seiner Promotion und zuletzt von der Entdeckung eines schwulen Lebens in Reims, bevor er nach Paris flüchtete. In einem Epilog erklärt er, wie ihm durch die „Ressourcen der schwulen Subkultur“ (Eribon 2016, S. 223) schließlich doch noch der Eintritt ins Pariser intellektuelle Leben um Pierre Bourdieu und Michel Foucault und sogar der Aufstieg zum Professor der Soziologie gelang. Gleichzeitig analysiert und kritisiert das Buch die Determinismen der sozialen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Kalmbach et al. (Hrsg.), Eribon revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30561-1_4
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Herkunft, den „Klassenrassismus“ (ebd., S. 23), gespeichert im Habitus, der den Eltern und Brüdern den sozialen Aufstieg verunmöglicht und Eribons eigene Bildungslaufbahn erschwert und behindert habe. Eribons biografische Erfahrungen sozialer Ungleichheit finden sich eingebettet in Analysen des Schulsystems, „eine Höllenmaschine […] die, wenn auch vielleicht nicht ausdrücklich mit diesem Ziel programmiert, faktisch dafür sorgt, dass Kinder aus armen Schichten abgewertet werden, dass ungleiche Berufschancen und beschränkte soziale Zugangsmöglichkeiten fortbestehen, dass eine bestimmte Form der Klassenherrschaft intakt bleibt und weiterhin als legitim gilt“ (ebd., S. 113), sowie des universitären Bildungssystems, das diese soziale Ungleichheit reproduziere Die schwule Subkultur und der aufgrund des „gesellschaftlichen Verdikts“ (ebd., S. 109) unwahrscheinliche Bildungsaufstieg stellten für ihn zwar Möglichkeiten dar, sich von der als beschränkend empfundenen Herkunftsfamilie zu entfernen, allerdings bleiben sexuelle und soziale Scham zentrale Themen in Eribons Familiengeschichtsschreibung. Eribon nimmt in Rückkehr nach Reims nicht nur inhaltlich den Versuch einer intersektionalen Untersuchung von Männlichkeit, Sexualität und Klassenverhältnissen vor, sondern auch auf einer ästhetischen Ebene. Er verwebt seine eigenen Darstellungen mit Theorien und autobiografischen Erzählungen Schwarzer – und vereinzelt auch Schwarzer schwuler – Autoren wie etwa James Baldwin.1 Die so erzeugte Intertextualität bewirkt, dass Eribon seine eigenen Erfahrungen performativ in einen Kontext von kritischen französischen und US-amerikanischen Intellektuellen und Schriftstellern einschreiben kann und damit seine erwünschte Zugehörigkeit zu dieser virtuellen Gemeinschaft hervorbringt. Aus einer affekttheoretischen Perspektive betrachtet sind die in Rückkehr nach Reims an vielen Stellen eindrücklich dargestellten Schamgefühle besonders inter essant, weil sich daran das vielschichtige Verhältnis von gesellschaftlichen Strukturen und individuellem Erleben, von Herrschaftsverhältnissen und Ungleichheiten eindrücklich zeigt. Dies legt eine Relektüre nah, die sich systematisch der Bedeutung der Scham im Zusammenhang mit Sozialisations- und Subjektivierungsprozessen nähert. Welche Bedeutung hat Scham für die von Eribon beschriebenen Prozesse seiner Subjektivierung, für den beschriebenen Bildungsaufstieg und sein schwules Begehren ? Wie unterscheiden sich sexuelle und soziale Scham in Rückkehr nach Reims ? Und inwiefern stützt Scham die Verhaftungen an Normen bzw. ermöglicht Transformationen derselben ? 1
Aus einer intersektionalen Perspektive kann angemerkt werden, dass die mit Eribons weißer Cis*Männlichkeit einhergehenden Privilegien nicht systematisch reflektiert werden. Dies zeigt sich beispielsweise an Eribons Darstellungen des eigenen Passing, eine Strategie, die Wideman oder Baldwin vermutlich nicht in der gleichen Art und Weise zur Verfügung gestanden hat.
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Um diesen Fragen nachzugehen, wird in einem ersten Schritt (1) das erkenntnistheoretische Potenzial von Literatur erörtert. Im zweiten Abschnitt (2) folgt eine Rekonstruktion von systematischen Perspektiven auf Scham im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit, bevor ich eine daran orientierte Analyse (3) der sozialen und sexuellen Scham in Rückkehr nach Reims vornehme. Abschließend erfolgt ein Fazit (4), in dem die Frage nach der Bedeutung sexueller und sozialer Scham sowie deren Stellenwert für Subjektivierungs- und Bildungsprozesse diskutiert wird.
1
Literarische Ethnografie als Zugang zu Erfahrungen symbolischer Gewalt
Literatur und Kunst als eigensinnige Wirklichkeitskonstruktionen können für das Verständnis von Gefühlen und von schweigsamen Dimensionen des Sozialen im weiteren Sinne produktiv gemacht werden. Anders als der wissenschaftliche und damit vorrangig auf rationale Erkenntnis zielende Diskurs bieten sie Bilder für Erfahrungen an, die logisch-argumentativ schwerer zu vermitteln sind als durch ästhetische Erkenntnis. „Die wissenschaftliche Sprache stellt uns weder ausreichend Plastizität noch Differenziertheit bereit, den Bedeutungsgehalt der erlebten Wirklichkeit einer Person in Umfang und Tiefe auszudrücken“ (Neckel 1993, S. 244). Wissenschaft sei, so Neckel, in Bezug auf ihr Vermögen subjektives Erleben darzustellen, nur ein armseliges Kondensat und verfüge lediglich über dürre Begriffe, um die Komplexität subjektiven Erlebens zu beschreiben. Dies ermöglichten literarische Texte auch aufgrund ästhetischer sprachlicher Mittel und dichter Beschreibungen erheblich besser (ebd.). Literaturanalysen finden sich inzwischen vielfach als Erkenntnisquellen und Gegenstände in den Sozial-, Kultur- und Erziehungswissenschaften, etwa zur Untersuchung des Sozialen, der Erziehung oder Bildung (vgl. King 2018, S. 21 f.). Kunst und Literatur vermittelten insofern zwischen Sozialem und Individuellem, als sie Wahrnehmungen und Deutungen des Sozialen abbildeten und eine Möglichkeit darstellten, Auswirkungen sozialer Verhältnisse auf der subjektiven Ebene zu rekonstruieren (ebd.). Sowohl in soziologischen als auch in erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Bedeutung und erkenntnistheoretischem Gehalt von Literatur finden sich Hinweise darauf, dass der Literatur gerade im Hinblick auf die Negativität subjektiver Erfahrungen und sozialer Prozesse eine besondere Bedeutung zukommt: So wird in der Erziehungswissenschaft seit Langem darauf verwiesen, dass literarische Texte ein spezifisches Erkenntnis- und Anregungspotenzial für pädagogisches Denken und Handeln enthalten (vgl. Oelkers 1985; Mollenhauer 2000; Koller 2014; Rieger-Ladich 2014), weil sie Phäno
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mene thematisieren, die sich hier wenig erforscht und diskutiert finden (vgl. Koller 2014, S. 341). Literatur beschreibe eher das Scheitern bzw. die negativen Wirkungen von Erziehung, wohingegen die Pädagogik seit dem 18. Jahrhundert die positiven Effekte erzieherischer Einwirkung betone (vgl. Koller 2012, S. 171). Daraus folge, dass literarische Texte, ihre Lektüre und Interpretation einen spezifischen Artikulationsraum und Artikulationsformen für Widerständiges und tendenziell Tabuisiertes eröffnen, etwa für Spielarten des Scheiterns, für Krisen und Abgründe des Sozialen (vgl. Koller 2012; Rieger-Ladich 2014, S. 262). Korrespondierend damit betonen auch soziologische Arbeiten, dass negative und insbesondere stille und schweigsame Dimensionen des Sozialen mit literarischen Mitteln angemessener ausgedrückt werden können als in der wissenschaftlichen Sprache. Zur Scham könne man keine Umfragen machen, sie erschließe sich nur indirekt – im Nachspüren dessen, wodurch Menschen eine soziale Kränkung erfahren (vgl. Neckel 1991, S. 24). Geht man davon aus, dass alle sozialen Prozesse über stille oder schweigsame Dimensionen verfügen (vgl. Alkemeyer 2007, S. 11), die sich nicht ohne Weiteres versprachlichen lassen, weil sie sich in Architekturen, Bildungsplänen und Lehrmaterial z. B. materialisiert finden, können literarische Texte als eine Form von Ethnografie verstanden werden, die es ermöglicht, diese Dimensionen erfahrbar zu machen (vgl. ebd., S. 15). Sie können „gewahr werden lassen, wie sich abschätzige Gesten, Blicke und Scherze physisch anfühlen, wie sie die Vorstellungen und das Erleben buchstäblich penetrieren“ (ebd., S. 20). Rückkehr nach Reims lässt sich m. E. in diesem Kontext als eine Form der Autoethnografie klassifizieren, weil darin sowohl dichte Beschreibungen von sozialen Praktiken, Körpern und Architekturen als auch Darstellungen und Reflexionen von eigenen Gefühlen und Gedanken greifbar werden. Literarische Texte oder Ethnografien ermöglichen folglich über ihre ästhetischen und komplexen Darstellungsmöglichkeiten eine spezifische Form der Erkenntnis, weil Leser*innen einen sinnlichen Eindruck von den dadurch hervorgebrachten Wirklichkeiten erhalten. Über die Erfahrbarkeit von sozialen und subjektiven Prozessen und das besondere Resonanzgeschehen zwischen Leser*innen und Texten können Erkenntnisund Bildungsprozesse initiiert werden (vgl. ebd.; Koller 2014; Rieger-Ladich 2014).
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(Emotions-)soziologische und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Scham und Ungleichheit
Eine Besonderheit literarischer Darstellungen von Ungleichheitsverhältnissen liegt also darin, dass sie ein Nachempfinden der paradoxen Dynamik von Herrschaft und Anpassung ermöglichen, nämlich dessen, „wie sich soziale Strukturen und institutionelle Gewaltverhältnisse im Erleben des Einzelnen auswirken; und
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wie dieser Strukturen trägt“ (Alkemeyer 2007, S. 24). Pierre Bourdieu, an dessen Theorien sich Eribons Analysen maßgeblich orientieren, schreibt Emotionen wie Scham, Erniedrigung und Zorn in seinen Arbeiten zur Symbolischen Gewalt – der unbewussten Einverleibung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen aufgrund der Übernahme von Denk- und Wahrnehmungsschemata der Herrschenden sowie der Selbstabwertung infolgedessen – zu, das Produkt von solchen Anpassungsverhältnissen zu sein und gleichzeitig empfänglich für die Macht zu machen (vgl. Bourdieu 2005, S. 72 ff.). Gefühle wie Scham seien reflexiv nicht zugänglich, weil sie ins Innerste eingeprägt seien (vgl. ebd., S. 73). Vielmehr entwickelten die Beherrschten „AMOR FATI“, die Liebe zum sozialen Schicksal (ebd., S. 69), denn die symbolische Gewalt richte sich mittels Zustimmung und Anpassung des eigenen Denkens und Fühlens ein (vgl. ebd., S. 66). Nun lassen sich mit Bourdieus Theorie zwar für spezifische gesellschaftliche Kontexte Beharrungsverhältnisse sozialer Ungleichheit gut erklären, jedoch nicht, warum und wie sich Verhältnisse verändern bzw. Subjekte Veränderungen durchlaufen. Schon bezogen auf die wiederkehrenden Wutausbrüche des Vaters und der Mutter Eribons „über ihren verhinderten Bildungsweg“ (Eribon 2016, S. 76) zeigt sich, dass Bourdieus und infolgedessen auch Eribons Überlegungen zur Rolle von Gefühlen zu eindimensional ausfallen: Die Eltern entwickeln m. E. keineswegs eine Liebe zum sozialen Schicksal, vielmehr lässt sich ihre Wut als ein Rebellieren gegen den sozialen Determinismus lesen. Wie darin Geschlechterverhältnisse wirken, zeigt sich an vielen Stellen im Buch. So konnte Eribons Mutter aufgrund des Zweiten Weltkrieges trotz guter Noten nicht aufs Gymnasium gehen und war bei ihrer Arbeit als Hausmädchen vielfach sexueller Belästigung ausgesetzt. Die Hoffnung auf eine Festanstellung zerschlug sich aufgrund der wiederholt erfahrenen sexualisierten Gewalt. Ein späterer Versuch, einen Informatikkurs neben Haushalt und Arbeit zu absolvieren scheiterte; mit Putzjobs in einer „Welt der Herablassung“ (ebd., S. 93) finanzierte sie nicht zuletzt Schulausbildung und Studium des Sohnes – ein Aspekt, der in Rückkehr nach Reims wenig kritisch reflektiert wird. Eribons Vater wiederum verließ als eines von 12 Kindern einer armen Familie so früh wie möglich die Schule und wurde zum „Arbeiter der niedrigsten Kategorie“ (ebd., S. 43). Anders als die Mutter nahm er sich jedoch die Freiheit zu einer „gewissen Form der Arbeitergeselligkeit“, nämlich zu trinken und Affären mit anderen Frauen zu haben, während sich die Mutter unhinterfragt neben der Arbeit um die Kinder zu kümmern hatte (ebd., S. 90 f.). Eribons Entwicklung zum jungen Schwulen beinhaltete schließlich auch eine Abkehr von Männlichkeitsnormen seines Herkunftsmilieus, die seinen eigenen Angaben nach auch mit einer gewissen „Transformationskraft“ (ebd., S. 218) der Scham zu tun hatte. Sozialer und sexueller Scham scheinen in Rückkehr nach Reims, wie bereits angedeutet, unterschiedliche Qualitäten zuzukommen: „Warum habe ich […] so gut
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wie gar nichts zur sozialen Scham geschrieben ?“ (ebd., S. 19), fragt sich der Autor. Oder: „Tatsächlich wäre die Behauptung nicht übertrieben, in meiner Entwicklung sei das Coming-out aus dem sexuellen ‚Schrank‘ – das Verlangen, meine Homosexualität anzunehmen und zu bejahen – mit dem Eintritt in etwas zusammengefallen, das man den ‚sozialen Schrank‘ nennen könnte: in Zwänge, die von einer anderen Form des Verbergens, der Persönlichkeitsspaltung und des doppelten Bewusstseins geprägt sind (wobei die Mechanismen den wohlbekannten der sexuellen Einschränkung gleichen: Ausflüchte und das Verwischen von Spuren; sehr wenige Freunde, die Bescheid wissen und schweigen; je nach Situation und Gesprächspartner variierende Sprachregister; permanente Kontrolle der Gesten, Vokabeln und Intonation, um ja nichts durchscheinen zu lassen, sich ja nicht zu ‚verraten‘ usw.).“ (Ebd., S. 20)
Deutlich wird in diesem letzten Zitat, dass Passing für ihn als weißen Mann in beiden Fällen eine Option darstellt, dass aber das Leben als junger schwuler Intellektueller offensichtlich erfordert, seine soziale Herkunft zu leugnen. Um der Genese, Beschaffenheit und Beharrlichkeit sowie aber auch Veränderungskraft der sexuellen und sozialen Scham in Rückkehr nach Reims nachgehen zu können, werden deshalb theoretische Perspektivierungen der Scham im Zusammenhang mit Ungleichheit herangezogen: Zum einen Sighard Neckels emotionssoziologische Untersuchung des Zusammenhangs von Scham und Status und zum anderen Sara Ahmeds affekttheoretische Erklärungen zur Scham, in denen u. a. sexuelle Scham erörtert wird. Neckel (1991; 1993) untersucht, basierend auf einer heuristischen Unterscheidung in moralische und soziale Scham, wie soziale Scham infolge der Wahrnehmung und Deutung sozialer Ungleichheit entsteht und wie Techniken der sozialen Demütigung und Beschämung zur sozialen Schließung führen. Soziale Scham, so eines seiner Ergebnisse, sei ein Instrument zur Stabilisierung von Privilegien und sozialer Ungleichheit (vgl. ebd. 2003, S. 258). Scham beschreibt Neckel als ein Wertgefühl (vgl. ebd., S. 245) und als soziale Angst in dem Sinne, dass sie auf dem Verfehlen eigener Ideale und auf der Furcht vor Entdeckung beruhe (vgl. ebd., S. 249), denn „der beschämende Vorfall dementiert die Identität, die man hatte anderen zeigen wollen“ (ebd., S. 247). Die Möglichkeitsbedingung der Scham beruhe bezogen auf das Individuum auf einem positiven Selbstbild und auf der Anerkennung sozialer Regeln (vgl. ebd., S. 247 ff.). Gleichzeitig seien Scham und Beschämung jedoch auch Ausdruck von Gesellschaftsformen: Erst in der individualisierten Klassengesellschaft können Statusdefizite auf die jeweils eigene Biografie und Leistung zurückgerechnet werden – damit der Akt der Beschämung seinen Zweck erreicht, muss das beschämte Individuum Verantwortung empfin-
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den (vgl. ebd., S. 258). Den Bezugsrahmen normativer Fremd- und Selbsteinschätzungen stellen nach Neckel die Statusordnungen Reichtum, Wissen, hierarchische und soziale Positionen in Organisationen ab, mögliche Referenzen lokalisiert er in Körpern, Persönlichkeiten und Status. Neckel macht dann bezogen auf die Felder des Statuserwerbs vier zentrale Praktiken sozialer Beschämung und damit kor respondierende Anlässe der Scham aus: erstens, den Ausschluss von Personen aus sozialen Gruppen, der Fremdheit herstellt und Zugehörigkeit verweigert; zweitens, die Degradierung von Personen innerhalb formaler Organisationen, die ihren Rang herabsetzt und Subalternität erzeugt; drittens, die Prüfung, weil sie sich scheinbar objektiv auf Kompetenzen bezieht und aufgrund ihrer Formalisierbarkeit verheerend für das Selbstbild sein kann, denn sie signalisiert anderen ggf. Unwissen; und viertens die Devaluierung (Entwertung), die der Arbeit oder Bedürftigkeit der Person materielle Werte oder Wertschätzung entzieht und Armut als Anlass möglicher Scham hervorbringt (vgl. Neckel 1991, S. 210; 1993, S. 256 f.). Die Frage nach dem sozialen Gehalt der Scham lege eine Untersuchung jener Prozesse nah, „in denen wir uns gegenseitig Bewertungen signalisieren“ (Neckel 1993, S. 245) und ein zentraler Effekt von Scham und Beschämung sei eine Veränderung des Machtgefüges in sozialen Interaktionen, indem sie den Beschämten herabsetze (vgl. Neckel 1991, S. 106). Neckels Theorie stellt treffende Analyseinstrumente für eine Untersuchung von (cis*männlicher) Klassenscham dar, greift aber in Bezug auf eine intersektionale Analyse von gesellschaftlichen Verhältnissen zu kurz, weil sie Differenzordnungen wie Rassismus und Heteronormativität nicht systematisch berücksichtigt. Diese Ordnungen überlagern jedoch die von ihm genannten Beschämungspraktiken. Dies lässt sich etwa damit illustrieren, dass rassistische Differenzkonstruktionen in schulische Bewertungen eingelassen sein können und folglich einen gewichtigen Teil der vermeintlich objektiven Prüfung und Bewertung ausmachen, oder damit, dass Hetero- oder Cis*normativität Degradierungen motivieren können. Beschämung muss dabei weder gezielt erfolgen noch zur sozialen Schließung führen, wie sich am Beispiel der folgenden von Eribon beschriebenen Szene aufzeigen lässt: „Als ich dreizehn oder vierzehn war, freundete ich mich mit einem Jungen aus meiner Klasse an, dessen Vater an der damals gerade erst wiedergegründeten Reimser Universität lehrte. Es ist nicht übertrieben meinen damaligen Zustand als Verliebtheit zu bezeichnen. […] Er hatte einen klangvollen Vornamen, ich einen banalen. Schon darin symbolisierte sich unser gesellschaftlicher Abstand. Er wohnte mit seiner Familie in einem großen Haus im wohlhabenden Viertel im Zentrum. Besuche bei ihm waren eine beeindruckende, einschüchternde Erfahrung für mich. Um jeden Preis wollte ich vermeiden, dass er herausbekam, in welcher ‚Siedlung‘ am Stadtrand ich wohnte. Seinen
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Fragen in diese Richtung wich ich aus. Eines Tages stand er aber unangemeldet vor unserer Haustür. […] Trotz der Freundlichkeit, die in seiner Geste lag, und obwohl er mir zu bedeuten schien, dass ich mich für gar nichts zu schämen brauchte, fühlte ich mich gedemütigt.“ (Eribon 2016, S. 163 f.)
Der gesellschaftliche Abstand, die Demütigung und Beschämung, die der Erzähler in Anbetracht des unerwarteten Besuchs verspürt, rührt nicht aus einer expliziten Abwertung durch den Jungen. Vielmehr hat sich der Protagonist den Vergleich, die Bewertung und die mögliche Außensicht längst einverleibt. Von ganz allein verwandelt sich die Unterscheidung aufgrund der Herkunft in ein eigenes Werturteil. Der Ein-Blick des anderen in seine im Vergleich einfachen Lebensverhältnisse wird zur empfundenen Entwertung, weil er vor dem Hintergrund der auch von ihm anerkannten Statusnormen seine Herkunft als defizitär ansieht und befürchtet, dass er nun mit diesem Defizit identifiziert wird. Subjektivierungstheoretisch betrachtet, bringt die Scham in diesem Moment zwei Subjektpositionen hervor: eine untergeordnete und entprivilegierte und eine übergeordnete und privilegierte. Der Spalt, der sich durch den unerwarteten Besuch zwischen Eribons idealisiertem Selbstentwurf und der nun möglicherweise erblickten Wirklichkeit auftut, ist vor allem deshalb brisant, weil er in den Jungen verliebt ist. Dessen Männlichkeit, Bildung und distinguiertes Elternhaus scheinen gleichermaßen Objekte seines jugendlichen Begehrens zu sein, wobei sexuelle anders als soziale Scham hier noch nicht thematisch wird (oder werden kann). An dieser Szene zeigt sich aber auch, dass Scham nicht zu sozialer Schließung führen muss, sondern zu einer spezifischen Form der Öffnung führen kann. Denn die Freundschaft mit dem begehrten Jungen „brachte mich auf den Geschmack der Bücher“ (ebd., S. 167), wie Eribon schreibt. Er gibt seinen eigenen Reflexionen zufolge den Widerstand gegen schulische Anforderungen auf und beginnt sich einen Bildungshabitus anzueignen. Die Scham erscheint hier also überaus ambivalent: Nicht nur lässt sie sich als (Wunsch nach einer) Verbindung (vgl. Ahmed 2014, S. 104 ff.), als Ausdruck der Relationalität der beiden Jungen und ihrer Welten lesen, sondern sie führt schließlich auch zu einer anderen Haltung, die Eribon mittelfristig ein Entwicklungspotenzial eröffnet. Die Ambivalenz der Scham sowie Zusammenhänge zwischen Differenzordnun gen, Affekten und Subjektivierungsweisen finden sich in Sara Ahmeds Arbeiten zu Affekten erklärt. Diese widmen sich in erster Linie der Erzeugung von Affekten und Subjekten in neoreaktionären politischen Texten zur Migration. Welche subjektiven Affekte und damit zusammenhängende Machtwirkungen Rassismus und Heteronormativität hervorbringen, ist sowohl in Cultural Politics of Emotion (2014) als auch in Queer Phenomenology (2007) Gegenstand der Untersuchung. Scham wird Ahmed zufolge nur empfunden, wenn das Subjekt an anderen inter
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essiert ist (vgl. Ahmed 2014, S. 105) – andere können nur unter der Voraussetzung Scham evozieren, dass sie bereits anerkannt sind (vgl. ebd.). Scham ist also in dem Sinne ambivalent, als sie von einem Wunsch nach Relationalität oder gar von Relationalität an sich zeugt. Zentral für Ahmeds Überlegungen zur Scham ist u. a. die körperliche Machtwirkung von Exponierung und Verbergen: Auf der einen Seite bedecke Scham, was exponiert ist, auf der anderen exponiere sie das, was bedeckt wurde (vgl. ebd.). Scham richte so auch Körper aus – der Versuch, etwas zu bedecken, das sozialen Normen nicht entspricht, strukturiere Hin- und Abwendungen des Subjekts. Die Physikalität der Scham, wie sie an und durch Körper arbeitet, impliziere, dass Scham körperliche und soziale Orte formt, z. B. wenn sich Körper abwenden. Im Anschluss an ältere Arbeiten zur Queer Shame arbeitet Ahmed heraus, wie queeres Begehren zunächst Anlass für Schamgefühle sein kann (vgl. ebd., S. 107). Wenn aber das Begehren nach queeren Lebensformen bereits am Horizont aufscheint, können Schamgefühle auch zu einer Transformation der Beziehungen zu Normen und zu anderen führen. Sie können nach Ahmed Subjekte in eine andere Richtung lenken (vgl. ebd., S. 201) und/oder zu einer Desidentifikation mit Normen führen. Bildungstheoretisch gewendet, ließe sich hier folglich auch nach Bildungsprozessen im Sinne einer Transformation von Selbst-, Weltund Anderen-Verhältnissen (vgl. Koller 2012) im Zusammenhang mit Scham gefühlen fragen.
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Soziale und sexuelle Scham in Rückkehr nach Reims
Betrachtet man die Beschreibung und Deutung von sozialer und sexueller Scham in Rückkehr nach Reims, fällt auf, dass sich diese beiden Typen von Schamgefühlen sowohl durch eine biografische Komponente als auch durch die Techniken der Beschämung und durch ihre Kontexte unterscheiden. Meine nachfolgend zu belegende These ist, dass die soziale Scham in Rückkehr nach Reims deshalb beharrlicher scheint, weil sie a) biografisch früher auftaucht als die sexuelle und weil b) soziale Herkunft in Bildungsinstitutionen sowohl in Leistungszuschreibungen als auch in akademische Anerkennungspraktiken eingelassen ist und Referen zen von Beschämungspraktiken aufgrund dieser Interdependenzen schwer ausge macht werden können. Zur sozialen Scham: In Rückkehr nach Reims werden durchaus widersprüchliche
biografische Kindheitserinnerungen beschrieben. So lassen sich neben der Abscheu vor den Gewaltausbrüchen des Vaters auch ganz andere, schöne Erinnerungen an Eribons Kindheit nachzeichnen: Er beschreibt sonntägliche Picknickausflüge, wie die Eltern die Kinder in Kindersitzen auf dem Moped herumfahren oder
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auch das Angeln mit dem Vater in den Ferien, bei dem der Vater als zugewandt und geduldig erscheint (vgl. Eribon 2016, S. 51 f.). Auch wenn die Streitereien der Eltern diese Ausflüge trüben, scheinen hier zunächst positiv besetzte Erinnerungen auf. Was zunächst fast idyllisch wirkt, wird in der Jugend und vermutlich mit dem späteren Schulbesuch zum Gegenstand der Abgrenzung: „Bald schon kamen mir diese Rituale aber steril und albern vor. Ich wollte lesen, anstatt meine Zeit mit einer Angelrute zu verschwenden und auf einen Schwimmer zu starren. Die gesamte Geselligkeit und Kultur dieses Zeitvertreibs wurde mir verächtlich. Die Musik aus den Transistorradios, die belanglosen Gespräche mit den anderen Anglern, die strikte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern […].“ (Ebd., S. 52)
Der Wunsch zu lesen, der sich auch als Wunsch nach Bildung und nach dem Eintauchen in andere Welten lesen lässt, wird in der Jugend offensichtlich zum Auslöser für Eribons Abgrenzung von elterlichen Ritualen. Was sich hier zunächst als für die Adoleszenz noch recht typische Ablösung lesen lässt, verhärtet sich im Zuge des eigenen Bildungsweges zur Abneigung gegen das familiäre und zugleich zu Fremdheitserfahrungen im neuen Umfeld, das ihn spätestens auf dem Gymnasium nicht mehr selbstverständlich einschließt. So beschreibt Eribon Fremdheitserfahrungen eindrücklich für seine ersten Jahre dort – sein Habitus, der dem an der Schule geforderten nicht entspricht, habe zu mangelnder Passung und Zugehörigkeit geführt. Neben diesen Fremdheitserfahrungen stehen umfassende Beschämungen aufgrund von Devaluierungen: So entsteht das Gefühl der Unterlegenheit ganz direkt im Kontakt mit einem von ihm zunächst bewunderten Jungen, der für Reichtum, Kultur und Bildung und den damit verbundenen Status gleichermaßen zu stehen scheint: „Er hatte ein Pseudonym. Ich wollte auch eines. Als ich ihm von meinem nom de plume erzählte, musste er lachen, so konstruiert und verschnörkelt kam er ihm vor. […] Wieder und wieder wurde ich auf meine Unterlegenheit verwiesen.“ (Ebd., S. 166; Hervorhebungen im Original) In Anbetracht des durch den Schulfreund verkörperten Reichtums, Bildungsstands und der Kultur, empfindet sich Eribon als defizitär, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er für seinen Versuch, sich kulturelles Kapital anzueignen, verlacht wird. Weitere Praktiken der Entwertung, die der Arbeit oder Bedürftigkeit von Personen materielle Werte oder Wertschätzung entziehen, werden auf Familienmitglieder bezogen beschrieben: am Beispiel der Arbeit der Eltern, die hart arbeiten und dennoch kein bürgerliches Leben finanzieren können, aber auch materialisiert in Architekturen und Körpern. Das Arbeiter*innenelend, so Eribon beim Betrachten alter Fotos, spricht aus den „Physiognomien der Häuser im Hintergrund […], aus den Inneneinrichtungen, den Klamotten, aus den Körpern selbst.“ (Ebd., S. 17) Mangelnde soziale Wertschätzung wird demnach inkorporiert, und als Eribon be-
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ginnt, den sozialen Aufstieg zu imaginieren, gewinnt der Wunsch an Bedeutung, dieser Inkorporierung zu entgehen und mit dem Leben der Familie nicht identifiziert zu werden: „Der Großvater, den ich in den sechziger Jahren kennenlernte, arbeitete als Fensterputzer. […] Er transportierte seine Leiter und seinen Eimer auf einem Moped. Da er auch die Fenster von Cafés oder Läden außerhalb seines Wohnviertels reinigte, kreuzten sich unsere Wege einmal mitten in Paris. Er freute sich über diese Zufallsbegegnung, mich genierte sie, denn mir grauste davor, dass ich mit ihm und seinem seltsamen Gefährt gesehen werden könnte.“ (Ebd., S. 64 f.)
So als ob die Entwertung, die für ihn aus der umfassenden Armut, der Putz- und Fabrikarbeit, aus der Kleidung und den Gegenständen seiner Familie spricht, auf ihn übergehen könnte, beginnt Eribon seine Familie und Herkunft vor den Menschen zu leugnen, zu deren sozialem Milieu er gehören möchte: „Es wäre mir todpeinlich gewesen, hätten meine Bekannten und später meine Arbeitskollegen her ausbekommen, wo sie [die Eltern, BK] lebten. Ich war in dieser Hinsicht extrem diskret. Wenn Fragen kamen, wich ich aus oder log.“ (Ebd., S. 66) Um Hinweise auf seine Herkunft zu verwischen, die ihn trotz aller Distanz konstituiere, versucht er als Bildungsbürger zu passen; dass Bildung und Kultur auch mit anderen Genderperformances einhergehen, ermöglicht Eribon, sich gleichzeitig von der von ihm – nicht zuletzt aufgrund des Vaters – verabscheuten Männlichkeit zu entfernen: „Ich entschied mich für Bildung und ‚Kultur‘ und damit gegen den Männlichkeitskult der unteren Schichten. Weil es sich dabei um einen Vektor der ‚Distinktion‘ handelt, um eine Möglichkeit, sich von anderen zu unterscheiden, sich von ihnen abzugrenzen und auf Distanz zu gehen, stellt die Begeisterung für die Kultur für junge Schwule (insbesondere aus unterprivilegierten Milieus) einen Subjektivierungsmodus dar, der ihrem ‚Anderssein‘ einen Sinn und einen Halt gibt, der es ihnen ermöglicht, sich eine andere Welt aufzubauen […].“ (Ebd., S. 158)
Der Bildungsaufstieg ist schwer erkämpft. Eribon beschreibt, dass er eine richtig gehende Umerziehung durchlaufen muss, um den „Selbstbezug, den die Lernkul tur erfordert“ (ebd., S. 159) zu erlernen. Zu seiner „Umerziehung“ (ebd., S. 98) – ein ideologisch aufgeladener Begriff, den Eribon positiv besetzt und auf sich selbst anwendet – gehörten das Interesse an Kunst und auch das Sprechen neu zu erlernen – „mir ein feineres Vokabular und präzisere grammatikalische Konstruktionen angewöhnen“ (ebd., S. 99) sowie auch eine Distanzierung vom Elternhaus. Zudem ist der Bildungsaufstieg mit Veränderungen seiner Genderperformance verbun-
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den. Diese Beobachtung korrespondiert mit Untersuchungen zum deutschen Bildungssystem, die belegen, dass es spezifische Männlichkeiten sind, denen in weiterführenden Schulen Leistung zugeschrieben wird und andere – nicht selten migrantisierte Männlichkeiten – denen der Bildungsaufstieg erschwert wird (vgl. Diehm 2009). Beide Befunde weisen auf die Intersektionalität von Leistung (und Schulerfolg) hin, die nicht nur erbracht, sondern auch zugeschrieben und bescheinigt werden muss: Geschlecht, soziale Herkunft und natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit beeinflussen solche Leistungszuschreibungen und performances von Leistung. Jedoch bleibt der soziale Aufstieg auch für Eribon begrenzt, weil er zwar das Abitur schafft und ein Studium absolviert (vgl. Eribon 2016, S. 172 ff.), ihm letztlich aber das organisationsbezogene Wissen, das ökonomische und das soziale Kapital fehlten, um die für eine universitäre Karriere notwendige Promotion erfolgreich zu absolvieren. Eine Folge davon ist, dass ihm sowohl die universitäre Karriere als auch, bedingt durch das Scheitern an der entsprechenden Prüfung, der Weg zum Gymnasiallehrer versperrt ist (vgl. ebd., S. 186 f.). Hier zeigen sich folglich Beschämungserfahrungen in Bezug auf das Scheitern an der Prüfung, das er sich selbst zurechnet und das anderen seine mangelnde Befähigung als Lehrer signalisieren könnte. Und auch in Bezug auf die nie abgeschlossene Promotion deutet sich eine Degradierung an, weil ohne Titel einen Rang an der Universität einzunehmen schwierig anmutet. Seine Herkunft holt ihn ein. Zur sexuellen Scham: Bezogen auf sein schwules Leben und auf die damit verbun-
dene sexuelle Scham, lässt sich feststellen, dass diese zunächst auf Ausschlüssen aus sozialen Gruppen und Gewalterfahrungen anlässlich des Abweichens von sozialen Normen beruht. Eribons Begehren wird zunehmend konfrontiert mit der Homophobie der sozialen Umgebung, die er geteilt hatte. Nachdem er eigenen Angaben zufolge lange andere beleidigt hatte, wird er, vermutlich mit 16 oder 17, selbst zur Zielscheibe der Beleidigungen (vgl. ebd., S. 193). Er versucht, sein Begehren zu verstecken, fühlt sich jedoch durch die Beleidigungen exponiert und terrorisiert, „weil man mir in jedem einzelnen Fall zu verstehen gab, dass man wusste oder ahnte, was ich war und zu verstecken versuchte“ (ebd., S. 194). Beleidigungen werden fortan zu einer zuverlässigen Konstante in Eribons Leben: „Dieses Begehren – mein Begehren – war zur Verheimlichung verdammt. Was ist das, ein zum Schweigen, Verstecken und zur öffentlichen Leugnung gezwungenes Begeh ren ? […] Es ist ein Begehren, das von Zerbrechlichkeit und einer bewussten, immer und überall verspürten Verletzlichkeit gekennzeichnet ist, ein von Unruhe und Verunsicherung (am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum…) heimgesuchtes Begehren. Und das umso mehr als die Beschimpfung auch in all den abwertenden, geringschätzigen, entwürdigenden, sarkastischen, erniedrigenden Sprechakten steckt, die
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man mitbekommt, ohne dass sie unmittelbar einem selbst gelten würden: dieses Wort ‚Schwuchtel‘ (‚pédé‘) mit all seinen Synonymen, die in Alltagsgesprächen, in der Schule, im Gymnasium und in der Familie obsessiv wiederholt werden und von denen man sich dann auch getroffen, schockiert und gebrandmarkt fühlt, wenn der Gesprächspartner gar keine Ahnung hat, dass er einen gerade mitbeleidigt und dass man sich von seiner Wortwahl, die eigentlich auf jemand anderen oder eine nicht näher bestimmte Kategorie zielt, mitgemeint und mitgetroffen fühlt, weil man selbst der vagen Kategorie angehört – trotz oder gerade wegen dem unbändigen Willen, ihr nicht anzugehören.“ (Ebd., S. 197)
Deutlich wird zum einen die Allgegenwart der herabwürdigenden ‚Anrufungen‘, denen Eribon ausgesetzt ist (vgl. ebd., S. 195): Diese bezieht er auf sich, auch wenn sie sich gar nicht an ihn richten, in der vagen Ahnung, dass die stigmatisierten Kategorien auf ihn zutreffen könnten. Die Beschämung und Unterordnung, der soziale Ausschluss, wird hier durch die Konstruktion eines ‚normalen‘ und eines stigmatisierten Begehrens erzeugt, wobei sich diejenigen, die stigmatisieren, im Akt der Abwertung als unzweifelhaft heterosexuell und männlich konstruieren bzw. ihre heterosexuelle Männlichkeit versuchen, abzusichern. Eribon begann dennoch als Jugendlicher ein schwules Leben zu leben. In Reims, „der Stadt der Beleidigung“ (ebd., S. 191) entdeckt er eine schwule Subkultur und beginnt ein Teil von ihr zu sein: „Irgendwann erfährt man, dass es […] Orte zum Cruisen [gibt], zum An machen und Angemachtwerden unter Schwulen. Ich fand es auf eine seltsame Weise heraus. In dem Jahr, als ich siebzehn wurde, hatte ich in den Sommerferien einen Job bei einer Versicherungsfirma.“ (Ebd., S. 201) Er beschreibt jedoch auch in Bezug auf sein offen schwules Leben vielfältige Gewalterfahrungen durch körperliche Übergriffe sowie durch Versuche der Pathologisierung durch Polizeibeamte: „Die Polizisten erklärten mich für psychisch krank, sie sagten, ich solle mich behandeln lassen, sie würden meine Eltern anrufen, ich würde mein ganzes Leben lang einen Schaden haben usw. Das war nur die erste von zahllosen Interaktionen mit der Polizei, die nie ohne sarkastische Bemerkungen, Beleidigungen oder Drohungen abgingen.“ (Ebd., S. 209)
Diese Gewalterfahrungen stellen nicht nur soziale Entwertungen dar, weil soziale Zugehörigkeit abgesprochen wird, sondern umfassende Infragestellungen sozialer Intelligibilität. Denn Normen produzieren „einen selektiven Sinn dafür, wer menschlich ist und wer nicht“ (Butler 2009, S. 14) und wer damit in den Genuss von Rechten kommt bzw. die Unterstützung von Institutionen erhält (vgl. ebd., S. 14 ff.). Weil sich soziale Normen also auch in Definitionen von Krankheit und Gesundheit sowie in Gesetze einschreiben, definieren sie letztlich, wer ein voll-
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wertiges bürgerliches Subjekt darstellt. In diesem Sinne können soziale Normen strukturelle Gewalt gegen Subjekte legitimieren, wenn sie nicht als vollwertige Staatsbürger*innen definiert sind. Trotz dieser Gewalt- und Abwertungserfahrungen wendet sich Eribon nicht von der schwulen Subkultur ab.
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Fazit
Wie verhalten sich also die Mechanismen sexueller und sozialer Scham in Rückkehr nach Reims zueinander ? Das Verhältnis zur sozialen Herkunft, zu sozialen Normen und der damit verbundenen Klassenscham scheinen der Reflexion und Veränderung weniger zugänglich zu sein. Dies ist zum einen dadurch begründet, dass die biographisch früher empfundene Klassenscham mit einer verachteten Männlichkeit und vor allem mit dem abgelehnten Vater zusammenhängt. Zum anderen lassen sich die beschriebenen Beschämungspraktiken aufgrund der Verschränkungen mit Leistung und Anerkennung (besonders im Kontext von Bildungsinstitutionen) nicht ohne weiteres auf soziale Ungleichheiten zurückführen, die Anlässe bleiben Eribon zunächst verborgen. Sozialscham führt in Rückkehr nach Reims gleichermaßen zu seiner Abwendung von der Familie und zur Verhaftung mit seiner Herkunft. Sexuelle Scham motiviert Eribon hingegen nicht, sein Begehren zu leugnen oder sich von der schwulen Subkultur abzuwenden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich ihm mit dem Eintreten in die schwule Subkultur auch eine spezifische Form der Kollektivität eröffnet, die es ihm erlaubt, sein Begehren positiv zu besetzen und den sozialen Aufstieg zu erreichen. Eine Desidentifizierung mit sozialen Normen wird möglich, weil er an schwulen Netzwerken partizipiert und von ihnen profitiert. Darüber hinaus wird sexuelle Scham erst als Jugendlicher thematisch, die Anlässe der Beschämung (offene Abwertung, Pathologisierung) scheinen dann für ihn greifbarer und die damit verbundenen Normen können hinterfragt werden. Sowohl sexuelle als auch soziale Scham führen Eribon zu spezifischen Hin- und Abwendungen. Das Leiden an sozialer und sexueller Scham führt zur Abwendung von der Familie. Sozialscham ermöglicht aber schließlich eine Hinwendung zu Bildung und sexuelle Scham die Suche nach einem schwulen sozialen Leben. Im Zusammenhang mit Subjektivierungsprozessen spielt Scham also offensichtlich eine widersprüchliche Rolle: Sie kann zum Festhalten an Normen und Erwartungen beitragen, aber auch dazu führen, dass am Horizont erscheinende neue Möglichkeiten ergriffen werden. In diesem Sinne lässt sich Scham als eine Vermittlungsstruktur der Subjektivierung beschreiben. Sie strukturiert Verhältnisse zu sich selbst, zu Normen und zu anderen. Insofern Scham gleichzeitig auf ein
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Idealbild von sich selbst und eine davon abweichende Wirklichkeit verweist, im Empfinden der Abweichung jedoch auch das Streben nach neuen Möglichkeiten auftauchen kann, verweist sie zugleich auf die Möglichkeit von Bildungsprozessen (vgl. Schäfer und Thompson 2009, S. 10). Während Alfred Schäfer und Christiane Thompson davon ausgehen, dass Scham Bildungsprozesse voraussetzt, weil das beschämte Subjekt bereits Veränderungen durchgemacht habe, vor deren Hintergrund die Beziehungen zu sich und zur Welt anders wahrgenommen werden, deutet die Analyse der Scham in Rückkehr nach Reims auf ein anderes zeitliches Verhältnis von Scham und Bildungsprozessen hin: Hier geht Scham Veränderungen wie etwa Eribons Hinwendung zu Büchern und Bildung voraus. Daraus folgt, dass Scham Bildungsprozesse anregen kann, wenn dadurch die mit der eigenen Wirklichkeit verbundenen Beschränkungen reflexiv und veränderbar werden.
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Schamoffensive Zur Mikropolitik der Betroffenheit bei Didier Eribon Andrea Seier
„Widerstand hätte meine Niederlage bedeutet, Unterwerfung war meine Rettung.“ (Eribon 2016, S. 160)
Schreiben als Verpflichtung Didier Eribons Buch Gesellschaft als Urteil (2017) beginnt mit einer Reflektion über das Schreiben, genauer, über das Schreiben als Tätigkeit eines nur bedingt souveränen Autor_innensubjekts. In einem Vorwort mit dem Titel Ouvertüre gibt Eribon Auskunft über eine gefühlte Verpflichtung zu schreiben, die als innerer Zwang und zugleich als Antrieb verstanden werden kann.1 Die Rede ist von einem Schreiben, dass seine eigene Un/Möglichkeit auslotet. Sie ist als Effekt eines Überschreitens von Klassengrenzen entstanden. Später im Buch, an einer Stelle, an der Eribon die Schriftstellerin Annie Ernaux zitiert, heißt es: „‚Schmaler Grat des Schreibens: eine als minderwertig betrachtete Lebensform rehabilitieren und zugleich die Entfremdung anklagen, die sie mit sich bringt.‘ […] ‚Der Eindruck, von der einen zur anderen Seite dieses Widerspruchs zu taumeln.‘“ (Ernaux 1988, zit. n. Eribon 2017, S. 95)2
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Es heißt dort: „Schon bald stand fest, dass ich nicht darum herum kommen würde, das, was ich erzählt und analysiert hatte, fortzuschreiben. Dieses Buch [Rückkehr nach Reims, A. S.] war eine Notwendigkeit gewesen. Es weiterzuführen war nun nicht weniger notwendig.“ (Eribon 2017, S. 9) 2 In der deutschen Übersetzung von Annie Ernaux’ Buch Der Platz wird der gleiche Satz in leicht abgewandelter Form übersetzt. Statt Entfremdung wird der Begriff der Fremdbestimmung verwendet: „Beim Schreiben ein schmaler Grat zwischen der Rehabilitierung einer als
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Kalmbach et al. (Hrsg.), Eribon revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30561-1_5
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Wie also dieser Gratwanderung gerecht werden, die sich aus dem gespaltenen Habitus (Bourdieu 2017, S 116 – 124) ergibt ? Diese Frage geht für Eribon mit einer zweiten Verpflichtung einher: Wie lassen sich Bücher schreiben, „nach deren Erscheinen man den anderen nicht mehr ins Gesicht zu blicken wagt, weil man weiß, welche Angriffsflächen man geboten“ (ebd., S. 10) hat ? Benannt wird hier nicht nur die Sorge, im Prozess des Schreibens einer falschen Re-Souveränisierung des Autor_innensubjekts zuzuarbeiten. Mehr noch geht es um die Selbstverpflichtung, einer komplexen Ausgangslage gerecht zu werden.3 Aus den Erfahrungen der/des ‚Klassenflüchtigen‘ ergibt sich eine besondere Dringlichkeit, die eigenen Anteile an den Mechanismen sozialer Selektion und Segregation im Blick zu behalten.4 Die Dringlichkeit des Schreibens, die ich auch als eine Form der Solidarität mit dem Herkunftsmilieu verstehe,5 ergibt sich nicht zuletzt aus der Unmöglichkeit einer Rückkehr. Das Schreiben schiebt sich gewissermaßen in die kommunikative Kluft zwischen dem zurückgelassenen und dem gegenwärtigen Milieu, die durch den Klassenwechsel entstanden ist. In einer Szene, in der die Begegnung zwischen Mutter und Sohn nach Erscheinen des Buches Rückkehr nach Reims (2016) geschildert wird, wird dies besonders deutlich. Die schriftliche, ebenso analytische wie emotionale Begegnung mit der Familie, die das Schreiben ermöglicht hatte, lässt sich in der persönlichen Begegnung nicht ohne Weiteres fortsetzen. Das fertige Buch steht im persönlichen Kontakt gerade nicht für Annäherung, sondern ganz im Gegenteil, für maximale Distanz: „Als sie den Umschlag öffnete, in dem ich das Buch verpackt hatte, überkam mich ein merkwürdiges Unbehagen: Was mochte dieses Objekt, das sie da in den Händen hielt, für sie bedeuten ? Sie sah mich an, durchblätterte das Buch auf eine fast schon mecha-
unterlegen geltenden Lebensweise und dem Anprangern der Fremdbestimmung, die mit ihr einhergeht […].“ (Ernaux 2019a, S. 45) 3 Auch Pierre Bourdieu und Annie Ernaux, die zu den wichtigsten Referenzen von Didier Eribon zählen, thematisieren die eigenen Bedingungen und Anliegen des Schreibens in ihren Arbeiten (vgl. Bourdieu 2017). In Annie Ernaux’ Buch Der Platz heißt es etwa gegen Ende: „Ich bin am Ende meines Vorhabens angekommen: das Erbe ans Licht holen, das ich an der Schwelle zur gebildeten, bürgerlichen Welt zurücklassen musste.“ (Ernaux 2019a, S. 93). 4 „Man möchte einfach verstehen, wie und warum das alles auch weiterhin ‚funktioniert‘. Wenn diese Ordnung besteht, bedeutet das dann nicht auch, dass jeder von uns auf eine bestimmte Weise an ihrer Reproduktion beteiligt ist ? Welche Art der Zustimmung zu den ererbten sozialen und mentalen Strukturen, die sich tief in unsere Körper und Subjektivitäten einschreiben, ja die unser soziales Handeln hervorbringen und vorherbestimmen, setzt das voraus ? Die Zustimmung mag stillschweigend oder ausdrücklich sein. In jedem Fall ist sie stärker, als man glaubt oder möchte.“ (Eribon 2017, S. 10 f.) 5 Andere Rezensent_innen vermissen genau diese Solidarität in Eribons Büchern (vgl. z. B. Braun und Niggemann 2017).
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nische Weise, hielt auf irgendeiner Seite inne, las einige Zeilen, sagte nichts, hob die Augen und sah mich an, durchblätterte es dann erneut und hob schließlich erneut die Augen und sah mich an. Die ganze soziale Distanz, die zwischen uns lag, schien sich in diesen kleinen Band eingeschrieben zu haben, auf dem zwar der Name ihres Sohnes stand, an dem sie aber alles – das Erscheinungsbild, das Vokabular usw. – daran erinnerte, dass es nicht an Leute wie sie gerichtet ist. Und dennoch handelte es in einem gewissen Sinne von ihr.“ (Eribon 2018, S. 86 f.)
Es geht es mir darum, die spezifische Form des Schreibens und Denkens zu reflektieren, die Eribons Bücher ausmachen. Als Mikropolitik der Betroffenheit bezeichne ich dabei ein Verfahren, das die eigene Betroffenheit als un/persönlich konzipiert und auf der Grenze zwischen Wissen und Erfahrung, Theorie und Affekt inszeniert. Mein Anliegen ist das Nachzeichnen einer Politik des Selbst, die Betroffenheit nicht als etwas versteht, das unmittelbar gegeben oder nicht gegeben ist. Betroffenheit lässt sich vielmehr auch, das machen die beiden Bücher Rückkehr nach Reims und Gesellschaft als Urteil deutlich, als Ergebnis eines Denk- und Schreibprozesses, d. h. als eine besondere Form des Denkens, Wissens und Fühlens verstehen. Die Betroffenheit von Klassenverhältnissen ist in Eribons Fall sowohl als Motor der Selbstanalyse wirksam als auch als das Ergebnis einer „Arbeit des Sich-selbst-Denkens“ (Eribon 2017, S. 106), die sich erst im Schreibprozess realisiert. Als ein ebenso implizites, affektives, verkörpertes wie zugleich explizites, konzeptualisiertes Wissen ist Betroffenheit hier gerade nicht unvermittelt, sondern vermittelt durch ästhetische und mediale Prozeduren, die ihr eine diskursive und affektive Rahmung verleihen.6 Im Zentrum von Eribons Selbstanalysen, die ihre eigenen Bedingungen zwischen Getriebenheit und Souveränität minutiös reflektieren, steht die insistierende Hinwendung zur eigenen Scham mithilfe eines fühlenden Denkens bzw. denkenden Fühlens. Scham wird dabei als eine spezifische Form der Verletzbarkeit verstanden, die nicht das Gegenteil von Handlungsfähigkeit markiert, sondern ihre Bedingung (vgl. Butler und Athansiou 2014; Butler, Gambetti und Sabsay 2016). Für stigmatisierte und stigmatisierbare Individuen entwickelt sich Scham, so Eribon, als eine „Struktur des In-der-Welt-Seins“ (Eribon 2017, S. 49), die in der Regel mit Angst gekoppelt ist und sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich jederzeit reaktualisieren lässt. Nicht die Überwindung der Scham, sondern ihre strukturelle Unüberwindbarkeit ist es daher, die Eribon in spezifischer Weise
6 Insofern die Klassenfrage, auch im Rahmen intersektionaler Analysen, randständig geblieben ist, geht die von Eribon geschilderte Betroffenheit von sozialer Segregation, sogar über Diskursgrenzen hinaus.
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zu politisieren versucht.7 Sie steht entsprechend im Zentrum der beiden Bücher Rückkehr nach Reims und Gesellschaft als Urteil und wird im Text als Beleg angeführt, dass Klassenverhältnisse und Heteronormativität eine strukturelle Gewalt darstellen, die sich gerade nicht individuell überwinden oder auflösen lässt. Dem feministischen Klassiker von Anja Meulenbelt aus dem Jahr 1978 Die Scham ist vorbei antwortet Eribon mit einer Anti-These: Die Scham ist nicht vorbei. Sie ist maximal erzählbar (vgl. Linck 2016) und selbst dort noch wirksam, wo es gelingt, sie punktuell, sporadisch und mehr oder weniger anlassbezogen in pride zu überführen.8 Eribons Mikropolitik der Scham besteht vor allem darin, sich ihr – in gleich zwei Büchern – zu widmen.9 Das offensive und inszenierende Be-Schreiben der Melancholie eines gespaltenen Habitus wird hier selbst zu einer Form der Wahrheitspolitik. Nach dem vermeintlichen Verschwinden der Klassenfrage ist es gerade das performative Insistieren auf den alltäglichen Auswirkungen der Herkunftsscham, das Eribons politischen Beitrag zur Klassenfrage ausmacht.10 Die Erfahrungen der Klassenflucht werden dabei vor allem als unsichtbare somatische und emotionale Verletzungen thematisiert, die die hegemonialen Bewertungen sozialer Milieus zur Voraussetzung hat und sich auch im Kontext links-intellektueller Milieus perpetuieren.
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Das Insistieren auf der Unüberwindbarkeit der Scham hat besonders im rechtskonservativen Milieu zu vernichtenden Kritiken geführt, die Eribon u. a. als „Mensch des Ressentiments und Denker der Militanz“ (Scheu 2018) diskreditiert haben. 8 Das Verhältnis von Scham und Stolz haben die Queer Studies intensiv bearbeitet, u. a. Sedgwick 2005, Crimp 2006 und Eribon 1999 selbst. Mit positiven Bezügen zum ‚class pride‘ tut sich Eribon schwer. Klassenstolz tendiere dazu, so die apodiktisch formulierte These, nicht nur die Existenz einer Arbeiterklasse anzuerkennen, sondern dieser zugleich eine „fast schon heroische Widerständigkeit“ zu attestieren (Eribon 2017, S. 220). Mit dieser These knüpft Eribon an die Debatten der Queer Studies an, in denen Stolz im Unterschied zu Scham eine Form der Abgrenzung impliziert (vgl. hierzu auch Linck 2016). 9 In Gesellschaft als Urteil heißt es: „Man kann ein Buch über die Scham geschrieben haben, ohne sie zu überwinden. Das Schamgefühl ist komplex, es ist ein verschlungenes, kaum zu entflechtendes Gewebe von Affekten. Etwas davon überdauert noch in den ärgsten Bemühungen, die schambestimmte, ‚hontologische‘ Realität der sozialen Welt zu ersetzen. […] Das assujettissement, die unterwerfende Subjektwerdung hält an; das Bewusstsein erlittener Gewalt annulliert noch nicht die ihr zugrunde liegende Kraft, durch die sie sich in der äußeren und inneren Welt fortsetzt.“ (Eribon 2017, S. 38) 10 Vor dem Hintergrund des Erstarkens alter und neuer Rassismen stand in vielen deutschsprachigen Rezensionen hingegen Eribons Auseinandersetzung mit den Wähler_innen des Front National im Fokus, zu denen auch seine Eltern als ehemalige Linkswähler_innen zählten.
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Scham erzählen: Betroffenheit als Arbeit Mit historisierendem Blick auf zwei Coming-Outs macht Eribon die Hinwendung zur eigenen Herkunftsscham im Vergleich zum schwulen Coming-Out als die riskantere Herausforderung aus (vgl. Eribon 2016, S. 20). Dirck Linck (2016) hat darauf hingewiesen, dass einer der Gründe darin liegt, dass auch im queeren Umfeld die Klassenfrage aus dem Blick gerutscht ist,11 die in den 1970er Jahren bis Anfang der 1980er Jahre noch präsenter war.12 Eribon setzt sich vor diesem Hintergrund dafür ein, Klassenscham, queere und andere Formen der Scham gerade nicht gegeneinander auszuspielen.13 Vielmehr reflektiert er ihre wechselseitigen Verflechtungen – insbesondere auch die ‚Hemmung‘ des sozialen durch das ‚gelungene‘ schwule Outing – anhand der eigenen beruflichen und sozialen Entwicklung. Ganz im Sinne der Queer Studies geht es Eribon darum, den Formen und Ausprägungen von Beschämungen einen eigenen Erkenntnisgewinn abzuringen, indem er die eigenen Schamerfahrungen auf ihre sozialen und politischen Vor aussetzungen hin untersucht. Im Unterschied zur queeren Scham wird die Herkunftsscham auch als transgenerationelle Erfahrung thematisiert, die sich über mehrere Generationen hin entwickelt und sich nicht einfach, etwa durch räumliche Distanzen, überwinden lässt. Im Erzählen und Deklinieren der eigenen Schamvariationen, von dieser Hoffnung sind die Bücher getragen, könnte das Potenzial für eine noch zu erfindende, queere Klassenpolitik liegen, die vielfältige intersektionale Perspektiven im Blick hat.14 Die Voraussetzung dafür wäre ein
11 Vgl. hierzu auch Volker Woltersdorff (2017), der auf die Fetischisierung nicht-bürgerlicher Schwuler im queeren Kontext verweist und sie mit der Fetischisierung rassistischer Klischees vergleicht. 12 Exemplarisch verweist Linck etwa auf Fassbinders Film Faustrecht der Freiheit aus dem Jahr 1975, in dem die Differenz zwischen proletarischen und bürgerlichen Schwulen nicht nur thematisiert, sondern mit der ‚Lektion‘ versehen wird, „dass bürgerliche Schwule sich im Zweifel eben nicht als Schwule verhalten, sondern als Bourgeois.“ (Linck 2016, S. 39) 13 „Wie holt man die Vergangenheit seiner sozialen Klasse ein, wenn die Gegenwart dieser Klasse die Emanzipation von der sexuellen ‚Scham‘ so schwierig macht ? Wie versöhnt man Ansätze, die sich vielleicht als widersprüchlich erweisen: Kann man die soziale und die sexuelle Scham überwinden ? Wie soll man beiden zugleich (und weiteren Formen der Scham) im Denken gerecht werden ?“ (Eribon 2017, S. 97) 14 Das Entstehen weiterer Bücher auch im deutschsprachigen Raum sowie der Hashtag „unten“ deuten darauf hin, dass die deutschen Übersetzungen von Eribons Büchern in eine Zeit gefallen sind, in der das Ausblenden der Klassenfrage schwieriger geworden ist. Die Verschränkung von sozialen und sexuellen Positionierungen gerät dabei zum Teil wieder aus dem Blick (vgl. u. a. Dröscher 2018; Zimmer 2013; im britischen Kontext vgl. z. B. Hanley 2017). Problematisch erscheint gegenwärtig auch die Tendenz, die Klassenfrage vor allem
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produktives Weiterdenken, das über Eribon hinausgeht.15 Geteilte Erfahrungen wahrzunehmen, wäre, insbesondere was die Klassenfrage angeht, ein wichtiger Schritt. Über die geteilten Erfahrungen hinaus müsste es in dieser queeren Klassenpolitik allerdings auch um die Frage gehen, wie und in welche Richtung soziale Transformationsprozesse denkbar und wünschenswert wären. Um Eribons Bücher für ein solches Projekt als Ausgangspunkt zu erschließen, erscheint es mir notwendig genauer zu bestimmen, auf welche Weise es Eribon gelingt, die eigene Scham zu politisieren. Anders als in vielen Rezensionen nahegelegt, gelingt Eribon, so lautet meine These, eine solche Politisierung der Scham nicht (nur), weil er selbst als Betroffener schreibt. Sie gelingt vielmehr durch die Art und Weise, in der er sich der eigenen Betroffenheit zuwendet und diesen Zuwendungsprozess dramatisiert und inszeniert.16 Nicht die Wahrheit des eigenen Betroffen-Seins liegt dieser Hinwendung zur Scham zugrunde, sondern das Betroffen-Werden als Arbeit. Eribons Bücher lassen sich als präzise arrangierte Dokumente der Erschließung der eigenen Betroffenheit lesen. Ohne die Dimension einer eingeschränkten Handlungsfähigkeit zu vernachlässigen, inszenieren sie Betroffenheit als eine Form des Werdens und reflektieren dieses gerade nicht in seiner Exklusivität, sondern in der potentiellen und realisierten Beziehung zu anderen (Erfahrungen, Autor_innen, Texten, Filmen, Fotografien und Kunst). Betroffenheit ist damit nicht als unhintergehbar, vordiskursiv oder transparent definiert, sondern als Ergebnis einer bewussten Her- und Darstellung. Eribon entwickelt damit ein – in feministischen und queeren Kontexten bewährtes – Verfahren, dass sich nachahmen lässt, gerade weil es ‚un/persönlich‘ ist. Der implizit formulierte ‚Auftrag‘ zur Nachahmung lautet: vermeintlich exklusive Wahrheiten des Subjekts in eine Politik des Selbst überführen.17 mit Blick auf das Erstarken faschistoider und rechtsextremer Bewegungen in Europa zu reaktualisieren. 15 Dazu sei hier nur angemerkt, dass die intensive, wenn auch verspätete Rezeption der Bücher von Eribon in Deutschland, die schließlich auch zur längst überfälligen Übersetzung älterer Texte geführt hat, nicht gleichzusetzen ist mit einem konstruktiven Weiterdenken. Auf diesen Aspekt werde ich später noch eingehen. 16 Dies gilt ebenso für die von ihm zitierten Autor_innen wie Annie Ernaux, Eduard Louis, James Baldwin usw. 17 Eribon geht in seiner Schilderung eigener Erfahrungen damit nicht in die Falle, die die Historikerin Joan W. Scott als Naturalisierung von Differenzerfahrungen untersucht hat. Scott hatte in ihrem 1991 erschienenen und breit rezipierten Text The Evidence of Experience einen spezifischen Umgang mit intersektionalen Differenzerfahrungen in feministischen Kontexten hinterfragt und dabei auf das Problem nicht befragbarer Letztbegründungen aufmerksam gemacht. Andere Autorinnen haben daraufhin gegen den Kurzschluss von persönlicher Erfahrung und metaphysischer Letztbegründung argumentiert und die eigene Erfahrung als wichtige – diskursive – Ressource in der Auseinandersetzung mit Sexismus, Rassismus und Homophobie verteidigt (vgl. hierzu etwa Oksala 2014). Im Kontext der Debatten um
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Scham zeigen und erzählen: Medien-Denken des Selbst Exemplarisch lässt sich die performative Inszenierung von Betroffenheit in Eribons Buch Gesellschaft als Urteil nachvollziehen, das mit dem schreibenden Nachdenken über Mediendifferenzen beginnt. Thematisiert wird der eigene Widerstand, für die Buchgestaltung von Rückkehr nach Reims ein privates Foto zu verwenden. Auch nach Beendigung von Rückkehr nach Reims hatte Eribon sich gegen die Veröffentlichung eines solchen Fotos gewehrt. Die Zustimmung zu diesem Schritt für die deutsche Ausgabe erwies sich rückblickend als schwierigster Schritt der Selbstanalyse (vgl. Eribon 2017, S. 20). Eben diese Hürde bot zugleich aber auch den Anlass des ‚Weiterschreibens‘, d. h. der hier entsprechend umgesetzten schriftlichen Inszenierung der eigenen Scham im Text. Schrift und Fotografie werden dabei im Hinblick auf ihre jeweiligen medialen Leistungen und Effekte gegeneinander abgewogen: Noch stärker und intensiver als in der Schrift erweist sich die eigene Geschichte im Familienfoto als ent-eignet. Die gespenstische Realität der eigenen, ent-eigneten Geschichte18 manifestiert sich bildlich in anderer Weise als schriftlich. Mit Hilfe dieser Unterscheidung wird versucht, der eigenen Scham genauer auf die Spur zu kommen. Waren die Fotos zunächst Auslöser für das eigene Schreiben, so erweisen sie sich schließlich riskanter als die Schrift: „Mit Erinnerungen kann man tricksen, mit Fotos nicht.“ (Eribon 2017, S. 21) Mediale Differenzen werden hier sowohl auf der Ebene der verwendeten Zeichen als auch im Hinblick auf die Wirkmächtigkeit diskursiver Ordnungen reflektiert: Bewegt sich das Schreiben aufgrund der Abstraktion der Zeichen und seiner diskursiven Macht zwischen Souveränisierung und Enteignung,19 verweist der Zeugnischarakter des Fotos in besonderer Weise auf die Diskontinuität des Selbst: „Während die Journalisten meinen Mut priesen, konnte ich nicht umhin, mich für diese ultimative Feigheit zu schämen. Ich tat mich noch immer schwer damit, zu meiner Familiengeschichte [anhand der Veröffentlichung eines Fotos, A. S.] zu stehen. Inner#MeToo und #unten und einer wiederkehrenden Popularität von Auto-Fiktionen in Kunst, Literatur und Medien gewinnt diese Diskussion eine neue Aktualität. Auch die generelle und tendenziell negative Konnotation von Betroffenheit als transparent bzw. nicht-argumentativ hat einen ihrer Ausgangspunkte in dieser Diskussion. 18 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Stephan Trinkaus in diesem Band. 19 Judith Butler und Athena Athanasiou unterscheiden zwei unterschiedliche Dimensionen von Enteignung. Zum einen diskutieren die beiden Autorinnen Formen von Unterwerfung durch politische Verteilungskämpfe, neoliberale Gouvernementalität und Prekarisierung. Zum anderen geht es in ihrer Auseinandersetzung um Enteignung, um „den inaugurierenden Akt der Unterwerfung des (werdenden) Subjekts unter Normen der Intelligibilität“ (Butler und Athanasiou 2014, S. 13 f.). Das Schreiben kann demnach als eine Form der unterwerfenden Subjektivierung verstanden werden.
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halb eines ausgearbeiteten, konstruierten Diskurses hatte ich es zwar geschafft, sie anzusprechen. Schlicht und einfach zeigen wollte ich sie nicht.“ (Eribon 2017, S. 17)
Die Auseinandersetzung mit dem Familienfoto bezeichnet Eribon als „Vier-Augen-Gespräch“ mit sich selbst, das er selbst dann noch „für [s]ich behalten“ wollte, als das Buch Rückkehr nach Reims bereits veröffentlicht war. Wenigstens „wollte [ich] sicher sein“, so Eribon, „dass es [das Vier-Augen-Gespräch, A. S.], nachdem ich es schon öffentlich gemacht hatte, unsichtbar und ungreifbar blieb. ‚Lest ohne zu sehen‘, war die implizite Botschaft an meine Leser gewesen.“ (ebd., S. 22) Eribon variiert an dieser, wie auch an anderen Stellen des Buches, Annie Ernaux’ ebenfalls anhand von Fotografien unternommenen Reflektionen des Klassenwechsels, allerdings nicht ohne ihnen eine neue Wendung zu geben. In Ernaux’ Erinnerungen eines Mädchens heißt es: „Je länger ich das Mädchen auf dem Foto betrachte, desto größer wird der Eindruck, dass sie mich ansieht. Ist sie ich ? Dieses Mädchen ? Bin ich sie ? Um sie zu sein, müsste ich eine Physikaufgabe und eine Gleichung zweiten Grades lösen können/jede Woche den Roman lesen, der der Frauenzeitschrift Bonnes soirés beiliegt/[…]/ Annie Duchesne heißen./Natürlich dürfte ich auch nichts von der Zukunft wissen, von diesem Sommer 1958. Ich müsste schlagartig unter Amnesie leiden und die Geschichte meines Lebens und der ganzen Welt vergessen. Das Foto bin nicht ich, aber sie ist auch keine Fiktion.“ (Ernaux 2018, S. 18 f.)
Während Annie Ernaux hier vor allem auf die historische Distanz zwischen dem schreibenden Ich und dem auf dem Foto abgebildeten Mädchen verweist, reflektiert und dramatisiert Eribon die eigene schamhafte und angstbesetzte Verweigerung, sich mit dem Bild unter den Augen einer zuschauenden bzw. lesenden Öffentlichkeit zu identifizieren. Die diskontinuierlichen Schichten der Subjektivierung sind hier nicht nur historisch bedingt. Sie werden auch als disruptive Effekte von Klassismus, Sexismus und Homophobie lesbar gemacht. Eribon nimmt die Fotografie als Anlass, die doppelte Begründung seines Bruchs mit der Familie zu reflektieren, die nur bedingt gewählt war und die unterschiedlichen Bildungsniveaus ebenso betrifft wie die mit Gewalt ausagierte Homophobie des Vaters (vgl. Eribon 2017, S. 21 f.). Den Zugang zu seinen eigenen Schamgefühlen und ihre Verknüpfung mit familiären affektiven Logiken entwickelt Eribon hier mithilfe einer Überblendung der eigenen Familiengeschichte mit Almodóvars Film Alles über meine Mutter, dem Bezug zu Bourdieus Thesen über die integrierenden und desintegrierenden Kräfte der „Familie als Körper“ sowie der Idee von Familie als „Mitgliedsausweis“ ohne Ablauf- und Gültigkeitsdatum, die er John Edgar Widemans autobiografischem Buch Bruder und Hüter entnimmt (vgl. ebd., S. 23).
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Das Fazit, das aus dieser Ansammlung von Stimmen, in die die eigene lediglich ‚nachgetragen‘ wird, ableiten lässt, lautet: Die eigenen, schmerzhaften Erfahrungen zu realisieren, erst recht als Diskriminierungserfahrungen, benötigt ein Kollektiv und ein politisches Projekt. Allein geht es nicht. Notwendig ist vielmehr die Einsicht, dass Scham und Schmerz auch anderen widerfahren können oder einer/m selbst zu einer anderen Zeit.
Klassenerfahrungen an der Grenze des Begrifflichen und Sichtbaren Was die Schreibweise betrifft, so experimentiert Eribon im Vergleich zu den Büchern Réflexions sur la question gay (1999)20 und Une morale du minoritaire (2001) oder auch seiner Foucault-Biografie (1989) mit einem neuen Stil. Das verwendete Verfahren der „soziologische(n) Introspektion“ (Eribon 2017, S. 11) verschränkt Wissenschaft mit Literatur und Autoanalyse und verlangt das Medium Buch wie es dieses zugleich unterminiert. Einzelne Kapitel bleiben Versatzstücke und inszenieren den „schmalen Grad des Schreibens“ (Ernaux 1988, zit. n. Eribon 2017, S. 95) als Effekt des gespaltenen Habitus. Die, wenn auch fragmentarisch bleibende, Buchform hat allerdings – etwa gegenüber der kurzen Form des Hashtags – den Vorzug, dass sich mit ihr der Erschließungsprozess der eigenen Betroffenheit performativ arrangieren lässt. Die Hinwendung zur eigenen Herkunftsscham realisiert Eribon über die Form einer theoretisch-affektiven Arbeit, die die eigenen Erfahrungen in etwas transformiert, was über sie hinausgeht. Der springende Punkt ist dabei, dass die eigenen Erfahrungen diesem Erschließungsprozess nicht vor ausgehen. Sie sind vielmehr das Ergebnis einer (affektiven) Denk- und Schreibarbeit. Literatur, Theorie und der Blick von ‚außen‘ bringen eine Durchlässigkeit der individuellen Erfahrung hervor, die die Hinwendung zur eigenen Scham erleichtert, wenn nicht sogar ermöglicht. Erst die kollektive und damit politische Dimension der subjektiven Scham, so ließe sich argumentieren, präzisiert die eigene Erfahrung auch dort, wo die Grenzen des Begrifflichen erreicht werden. Soziale Zugehörigkeiten und Ausschlüsse werden, so die ‚Pointe‘ der beiden Bücher, auch ohne einen verfügbaren Klassenbegriff affektiv erfahren: „Ich habe die Zugehörigkeit zu einer Klasse immer gespürt. Was nicht dasselbe ist, wie einer selbstbewussten Klasse anzugehören. Man kann sich über seine Zugehörigkeit zu
20 Das Buch ist 2019 unter dem Titel Betrachtungen zur Schwulenfrage ins Deutsche übersetzt worden.
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einer Klasse bewusst sein, ohne dass sich diese Klasse ihrer selbst als Klasse oder als ‚klar definierte Gruppe‘ bewusst ist.“ (Eribon 2016, S. 93)
Eribon kommt nicht nur „ohne konzisen Klassenbezug aus“ (Rilling 2016), sondern reklamiert und inszeniert die Wirkmächtigkeit sozialer Milieus bewusst an der Grenze verfügbarer Klassenbegriffe. Ohne soziologische und politische Terminologien wären die Schilderungen der ‚Klassenflucht‘ unmöglich. Der Reduktion wissenschaftlicher und klassentheoretischer Begrifflichkeiten wird allerdings eine Absage erteilt. Diese Absage ist das mehr oder weniger zwangsläufige Ergebnis der soziologischen Introspektion: die verfügbaren politischen und wissenschaftlichen Diskurse – die intensive Zusammenarbeit mit Bourdieu eingeschlossen – hatten über viele Jahre des gelebten Lebens und Arbeitens gerade nicht dazu eingeladen, sich der Herkunftsscham zuzuwenden, obwohl sie zugleich die wichtigste und unumgängliche Grundlage der Autoanalyse darstellen. Diese Diskurse hatten erlaubt, eine diffuse Nähe zum Herkunftsmilieu zu halten. Und dieses diffuse ‚Halten‘ wird rückblickend als Effekt des gespaltenen Habitus lesbar. Die aufgesuchte Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Literatur stellt letztlich die Mittel und Techniken einer bürgerlichen Kultur bereit, die mit Skepsis betrachtet werden müssen, weil sie von den Distinktionsmechanismen und Werturteilen, die die Verleugnung der eigenen Herkunft erzwungen hatten, durchdrungen sind. Was Eribon als eine Form der „Zweisprachigkeit“ (Eribon 2016, S. 99) beschreibt, die ihn sowohl im Herkunftsmilieu seiner Eltern als auch im intellektuellen Umfeld zu Anpassungsleistungen zwingt und insofern auch das eigene Schreiben berührt, thematisiert Annie Ernaux (2003) in mindestens so eindringlicher Weise als L’écriture comme un couteau.21 Die selbst gestellte Aufgabe und zugleich innere Notwendigkeit erfordere es, so Ernaux, sich im Schreiben nicht zur Komplizin mit dem kultivierten Leser (‚le lecteur cultivé‘) zu machen. Eine solche Perspektive tendiere dazu, das eigene Herkunftsmilieu zu kolonisieren. Ernaux sieht – auch oder gerade nach dem Verfassen ihrer Romane – in der bürgerlichen (romanhaften) Sprache die Gefahr einer Derealisierung der eigenen familiären Erfahrung und experimentiert, etwa in ihren Büchern Der Platz (2019a) und Eine Frau (2019b), mit dem Stil des sachlichen Berichts. Das Experimentieren mit und die Verschränkung von Sprachmilieus wird bei Ernaux, ähnlich wie auch in den Büchern von Édouard Louis Das Ende von Eddy (2014) und
21 Für diesen Hinweis danke ich Christina Ernst, die sich in ihrer Dissertation mit dem Arbeitstitel ‚Écrire dans la langue de l’ennemi‘. Herkunft, Klasse und Gewalt in den autosoziobiographischen Werken der französischen Gegenwartsliteratur mit den Arbeiten von Eribon, Ernaux und Louis auseinandersetzt.
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Wer hat meinen Vater umgebracht ? (2018)22 zum Akt des Widerstands auf der Ebene der Repräsentation: „Seit Kurzem weiß ich, dass der Roman unmöglich ist. Um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war, darf ich nicht zu den Mitteln der Kunst greifen, darf nicht ‚spannend‘ oder ‚berührend‘ schreiben wollen. Ich werde die Worte, Gesten, Vorlieben meines Vaters zusammentragen, das, was sein Leben geprägt hat, die objektiven Beweise einer Existenz, von der auch ich Teil gewesen bin. Keine Erinnerungspoesie, kein spöttisches Auftrumpfen. Der sachliche Ton fällt mir leicht, es ist derselbe Ton, in dem ich früher meinen Eltern schrieb, um ihnen von wichtigen Neuheiten zu berichten.“ (Ernaux 2019a, S. 19 f.)
Das ‚kunstlose‘ Schreiben ist für Ernaux, wie Katharina Sykora (2019) hervorhebt, „ebenso politisches Anliegen wie literarische Herausforderung“ (S. 11). Das Experimentieren mit Sprache wird darüber hinaus aber auch zur Form der Selbstsorge und damit auch durchaus zu einer (anderen) Ästhetik. Während das Buch Der Platz nicht zuletzt auch um das Reklamieren einer Position im Raum und in der Geschichte kreist, endet das Buch Eine Frau mit den Worten: „Dies ist keine Biographie und natürlich auch kein Roman, eher etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung. Meine Mutter, die in ein beherrschtes Milieu hineingeboren worden war, das sie hinter sich lassen wollte, musste erst Geschichte werden, damit ich mich in der beherrschten Welt der Wörter und Ideen, in die ich auf ihren Wunsch hin gewechselt bin, weniger allein und falsch fühle.“ (Ernaux 2019b, S. 89.)
Ernaux’ Versuch, Mutter und Tochter gleichermaßen im Text vorkommen zu lassen, erweist sich hier als politisch-ästhetisches wie selbstsorgendes Manöver im Umgang mit der eigenen, durch den Abstand sozialer Milieus sich verschärfenden Trauer. Eribon experimentiert im Vergleich zu Ernaux mit einem Verfahren, das das eigene Schreiben in extensiver Art und Weise von anderen Autor_innen umstellt. Bücher, Texte, Filme werden nicht nur als Inspiration, sondern als zwingend notwendige Bestandteile des eigenen Nachdenkens (im gewissen Sinne auch des Über-/Lebens) dargelegt, was nicht an sich außergewöhnlich ist, sondern nur 22 In einem Interview mit der Basler Zeitung spricht Édouard Louis (2019) über das Schreiben als Akt der Rache an der Literatur: „Als ich mit Schreiben begann, war es auch eine Rache an der Literatur. […] Ich fragte mich, warum Menschen wie mein Vater aus der Literatur getilgt sind, warum kommen Leute wie meine Mutter oder meine Schwester darin nicht vor ?“
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im Hinblick auf die offensive Umsetzung im Text. Judith Butlers Thesen über das Denken als konträr-körperliche Ko-Habitation werden hier performativ umgesetzt.23 Wie Ernaux ringt auch Eribon mit der (unmöglichen) Wiederaneignung des Selbst zwischen Nähe und Distanz und verweist dabei immer wieder auf die Notwendigkeit einer Distanznahme, wenn es um das Erschließen der eigenen Selbstverleugnung geht. Die „intime Kenntnis des Gegenstands“, so heißt es in Anlehnung an Bourdieu und Foucault, wird durch die analytische Distanz gewissermaßen „kompensiert“ (Eribon 2017, S. 94). Die umgekehrte Bewegung erscheint allerdings ebenso zutreffend: Die analytische Distanz bringt die „intime Kenntnis“ erst zur Geltung, und zwar so, dass sie auch für andere anschlussfähig wird. Hartnäckig hält Eribon an der Distanzierung fest, insofern sie einen notwendigen Schritt im Umgang mit der eigenen Scham darstellt und eine – wenn auch nur graduelle – Entlastung verspricht. Sie ermöglicht eine Form von Respekt gegenüber dem Herkunftsmilieu, die die eigenen, negativen Erfahrungen durchkreuzt und aus einem anderen Blickwinkel erscheinen lässt:24 „Erst die ethnologische, soziologische oder literarische Aufarbeitung lässt den Schreibenden die von ihm verlassene Welt erfassen und begreifen, ja sogar ‚respektieren‘ und sie sich ‚wiederaneignen‘, ohne dass er sie deshalb überhöht. Nur ein kritischer Blick ermöglicht die Wiederaneignung. Man gibt die Logik einer Kultur nicht dadurch wieder, dass man ein Loblied auf sie singt.“ (Eribon 2017, S. 94)
Insofern Denken und Schreiben letztlich eine Bewegung darstellen, die zwischen Unterwerfungs- und Risikobereitschaft oszilliert, wird hier das Ringen zwischen diesen beiden Polen performativ ausgestellt. Eine romantische Überhöhung der einfachen Leute (‚classe populaire‘), die Eribon vor allem in links-bürgerlichen Milieus verortet (vgl. hierzu auch Jens Kastner 2018), erscheint ihm ebenso wenig 23 Bei Butler heißt es: „Wenn man also denkt oder in eine theoretische Praxis eintritt, so betritt man einen Bereich, der streng genommen nicht ausschließlich der eigene ist, und es wird deutlich, dass das Denken immer eine gewisse Enteignung des Selbst in Richtung des Denkens mit sich bringt. Eine theoretische Idee wird nicht aus dem eigenen Inneren geboren; sie wird vielmehr im eigenen Umfeld aufgefunden, das bereits ein Teil der Welt ist. […] In jedem Fall wird man gewahr, dass eine Idee sehr viel länger an einem selbst gearbeitet hat, als man selbst an ihr. Eine ganze Reihe von Menschen hat bereits an dem gearbeitet und das umgearbeitet, was vor ihnen gedacht wurde, sodass das Denken sogar in seinen privatesten Momenten eine Form des ‚Beiwohnens‘, der co-habitation, durch nicht anwesende Gesprächspartner_innen ist.“ (Butler 2016b, S. 573; Hervorhebung im Original) 24 Das Insistieren auf dieser Distanzierung kann in diesem Sinne als ein anhaltender Umgang mit den Auswirkungen der Scham gelesen werden. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Susanne Völker in diesem Band.
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als Option wie der Klassenverrat, den der Eintritt in das neue Milieu ermöglicht/ verlangt hatte und im Rückblick wiederum Schamanlässe bietet. In eher linksorientierten Lektüren ist Eribons Blick auf das Milieu seiner Eltern als zu negativ kritisiert und als mangelnde Solidarität eingeschätzt worden (vgl. z. B. Braun und Niggemann 2017). Produktiver erscheint es mir allerdings, aus diesem Umstand die Wirkmächtigkeit eines gespaltenen Habitus abzuleiten, der neben den problematischen Effekten auch ein spezifisches soziales Wissen mit sich bringt.
Performativität der Betroffenheit Die Widersprüche des gespaltenen Habitus, die eine Unmöglichkeit des Seins und Sprechens ohne Reibungsverluste zur Folge haben, inszeniert und dramatisiert Eribon inhaltlich, methodisch und ästhetisch. Im Nachdenken über die Arbeiten von Annie Ernaux, James Baldwin, Franz Fanon und anderen Autor_innen wird die Frage diskutiert, inwieweit das schamhafte Verleugnen der sozialen Herkunft mit einer Vermeidung des Selbst und damit des ‚Lebens‘ überhaupt gleichzusetzen ist (vgl. Eribon 2016, S. 30 f.): „Ein gespaltener Habitus indiziert nicht einfach nur eine Spannung oder einen Widerspruch innerhalb des sozialen Feldes, in dem man sich bewegt. Er ist eine Verwerfung, ein Riss, an dem das intellektuelle Projekt all derer seinen Ausgang nimmt, die schreiben, weil sie das Projekt einer Kritik der sozialen Welt und ihrer Unterdrückungsformen verwirklichen wollen. Sie tun dies vielleicht gar nicht so sehr mit dem Ziel, diese Welt abzuschaffen oder sich gegen sie abzuschotten (ginge das überhaupt ?), als mit dem Wunsch, ohne allzu große Pein in ihr leben zu können.“ (Eribon 2017, S. 93)
Es ist das Erzählen und Analysieren aus einer unmöglichen Position heraus, durch die die Politisierung der Scham hier gelingt. Anders als in der von Foucault als Machttechnik untersuchten Geständniskultur wird die Wirksamkeit der Klassengrenzen als eine durch schamhaftes Verleugnen verstellte innere Wahrheit erschlossen, ohne diese an ein Subjekt zurückzubinden. Aus der Machttechnik des Geständnisses wird eine politisch motivierte Sorge um sich, die sich dem Selbst als Scharnier zwischen Kollektivem und Individuellem zuwendet und dieses erst in und durch diese Relation hervorbringt. Die eigene Betroffenheit von Klassenverhältnissen ist dabei nicht einfach gegeben, sondern Einsicht und Ergebnis einer anhaltenden und schriftlich, wenn auch nicht chronologisch inszenierten Introspektion. Der Schreibprozess konstituiert ein soziales Selbst, das die eigenen Erfahrungen mithilfe von medialen, theoretischen und analytischen Bausteinen auf spezifische Weise moduliert und sich zugleich auch von dieser ‚Last‘ der eigenen
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Erfahrungen bis zu einem gewissen Grad befreit. Anders formuliert: der Schreibprozess bringt die eigenen Erfahrungen ebenso hervor wie er zugleich eine Di stanz zwischen dem schreibenden Selbst und den gemachten Erfahrungen erlaubt. Der gewählte Tonfall variiert in beiden Büchern und ist mal analytisch, mal kämpferisch, mal theoretisch, mal poetisch. Linck (2016) hat darauf hingewiesen, dass sich Eribons Rückkehr nach Reims stellenweise auch sprachlich in Form einer „unsublimierten Aggressivität“ und der „Wiederaneignung eines Merkmals plebejischen Sprechens“ (S. 42) vollzieht. Anders ausgedrückt, lässt sich im gewählten Vokabular das Anliegen eines weniger abgesicherten Sprechens erkennen, das sich aus den Grenzen des bürgerlich-wissenschaftlichen Vokabulars herausbewegt (und sich gerade nicht allein auf Distanzierung verlässt). Im Gegenteil: Das Insistieren auf Begriffe wie soziale Gewalt, soziale Determinismen u. Ä., das sich mit voller Absicht vom gegenwärtigen Vokabular der Sozialwissenschaft (von Begriffen wie soziale Ungleichheit und soziale Differenz) absetzt, deutet auf ein derart performatives Anliegen hin, das sich gegen das Unsichtbarwerden milieuspezifischer Erfahrungen wendet und dabei auch der eigenen Wut ihren Platz im Text einräumt. Lincks Hinweis auf Eribons Wiederaneignung des „plebejischen Sprechens“ lässt sich vor diesem Hintergrund neu und politischer formulieren: Es sind die von der Scham verstellten Klassenverhältnisse, die Eribons Wut hervorbringen und die Suche nach einer anderen Sprache motivieren. Diese Suche findet Eingang in den Text. Anstatt den gespaltenen Habitus zu überschreiben, wird er als eine Form des denkenden Fühlens bzw. fühlenden Denkens in Szene gesetzt. In der intensiven deutschsprachigen Rezeption der beiden Bücher Rückkehr nach Reims und Gesellschaft als Urteil blieb ihre performative Dimension entweder unberücksichtigt oder wurde politisch als Selbststilisierung diskreditiert.25 Diese Auslassung bzw. Diskreditierung ist allerdings nicht folgenlos. Sie führt zu einem, bewusst oder unbewusst erzeugten Othering, die Eribons Erfahrungen mit Klassengrenzen auf fatale Weise personalisieren. Hilfreicher als eine Spektakularisierung, wie sie sich etwa im vielfach wiederholten Narrativ einer ‚Klassenreise‘ vom schwulen Arbeiterkind zum Universitätsprofessor abzeichnet,26 wäre es daher, die Denkrichtung einer Ausweitung der Betroffenheitsszonen einzuschlagen, die von sozialen und anderen Beschämungen handeln. Die relativen, kontingenten Wirkmächtigkeiten und Grenzen von Betroffenheiten, die Fragen aufwerfen wie Wer ist betroffen ?, Woran lässt sich Betroffenheit erkennen ? und Wo beginnt und endet 25 Die politischen Diskreditierungen fanden vor allem in den Rezensionen der NZZ und der FAZ statt (vgl. Scheu 2018; Wagner 2018). 26 Selbstverständlich rufen die Bücher dieses Narrativ auf, allerdings nicht ohne es konsequent zu befragen.
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ihre Wirkmächtigkeit ?, ließen sich als Motor für das Herstellen überindividueller Erfahrungsfelder erschließen. Die beiden Bücher Rückkehr nach Reims und Gesellschaft als Urteil sind vor diesem Hintergrund als Anleitung zu verstehen, sich zu eigenen Betroffenheiten, d. h. zu eigenen Verstrickungen in ethnische, klassenförmige und Geschlechterverhältnisse durchzuarbeiten. Betroffenheit als ‚Werden‘ wäre damit nicht das Problem der Anderen. Im Sinne der spanischen Philosophin Marina Garcés (2010) ginge es stattdessen um ein Verständnis von Betroffenheit, das auf der „Unmöglichkeit“ basiert, „ausschließlich Individuum zu sein“ (S. 169).
Betroffenheit verkörpern Eribons performatives Verfahren soll abschließend mit Marina Garcés als eine Form der verkörperten Kritik gelesen werden. In einem kurzen, 2010 erschienen Text formuliert Garcés die These, dass die gegenwärtige „Radikalisierung der sozialen Frage“ (ebd., S. 169) dazu einlädt, neue Formen der kritischen Auseinandersetzung zu verlangen. Garcés verweist dabei auf die Notwendigkeit, über ein kritisches Bewusstsein hinauszugehen und einer Verkörperung von Kritik zuzuarbeiten, die sie an die Möglichkeit und Bereitschaft des Affiziert-Werdens knüpft. Das Affiziert-Werden gilt dabei als Gegenstrategie zu dem, was Garcés, neben der Privatisierung von Gütern, Territorien und Öffentlichkeiten, als „Privatisierung der Existenz“ (ebd., S. 164) bezeichnet. Das Verschwinden der Klassenfrage ist im Rahmen dieser Privatisierung nur ein, wenn auch besonders wichtiges, Element. Wichtiger noch erscheint eine Verschiebung, die die Relation zwischen Bewusstsein und Körper betrifft: Wird die Frage der Kritik auf die Ebene des Bewusstseins reduziert, führt dies angesichts eines global agierenden Kapitalismus, so Garcés, zu einem Oszillieren der Kritik zwischen Ohnmacht und Gleichgültigkeit: „Hatte die Kritik traditionell die Finsternis bekämpft, so muss sie heute gegen die Ohnmacht bzw. das Unvermögen antreten.“ (Ebd., S. 161) In Bezug auf die Klassen frage, die in besonderer Weise als Frage des Bewusstseins konzipiert war, hieße dies, Ansätze für neue Formen einer verkörperten Klassenpolitik zu entwickeln. Die Privatisierung der Existenz wäre demnach gegenwärtig als eine offene Situation zu verstehen, die zwischen Entpolitisierung und Radikalisierung schwankt und dabei die tradierten politischen Lager nachhaltig verschiebt. Neben der Entpolitisierung der sozialen Frage entstehen dabei auch neue Formen der Radikalisierung, deren diskursive Rahmungen noch nicht abgeschlossen sind.27 Didier Eribon, Édouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie deuten in diesem Zusammen27 Zu gegenwärtigen Formen der politischen Artikulation und Versammlung vgl. Butler 2016a; Kastner et al. 2012.
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hang etwa die Proteste der Gelbwesten als Form des Klassenkampfs, um den dar in formulierten Anliegen und Ausgrenzungserfahrungen eine progressive Rahmung zu verleihen. Garcés schlägt hingegen vor, der Privatisierung der Existenz und der darin enthaltenen (neoliberalen) Zuspitzung der sozialen Frage, eine spezifische Form der Kritik abzuringen: Die Privatisierung der Existenz, die nicht zuletzt auch als Bedingung der Popularität von Eribons Büchern in Rechnung gestellt werden muss, verlangt eine Form der politischen Kritik, die sich nicht nur mit Aufklärung befasst, sondern auch das „Eintauchen in die eigene Welterfahrung“ verlangt. Die soziale Frage ist in diesem Sinne nicht allein das Problem der Prekarisierten, sondern ist als solche „unmittelbar in unserer eigenen und nicht in einer anderen Welterfahrung“ anzutreffen (ebd., S. 164). Mehr denn je erwachse, so Garcés, aus der gegenwärtigen „Fragmentierung des Sinns“, eine besondere Verpflichtung, das „Wir“ im „Ich“ aufzusuchen: „Die Frage nach dem Wir zu stellen verlangt, vom einzigen auszugehen, was wir haben – von unserer eigenen Erfahrung. Die Fragmentierung des Sinns hat diese paradoxe Tugend: Sie verpflichtet uns dazu, von uns selbst auszugehen. Deswegen ist es so wichtig, die dritte Person aufzugeben, welche das traditionelle kritische Denken dermaßen dominiert hat, und unser eigenes Feld von möglichen Erfahrungen zu erforschen. Die Frage nach dem Gemeinschaftlichen verlangt heute den Mut, in die eigene Welterfahrung einzutauchen, auch wenn diese kahl und ohne Versprechen ist. Darauf beruht die Verkörperung von Kritik.“ (Ebd., S. 165)
Auf der Suche nach Ansatzpunkten für eine Kritik an sozialer Reproduktion kommt Eribon der Verpflichtung nach, das „eigene Feld von möglichen Erfahrungen zu erforschen“. Das von ihm durch- und vorgeführte „Eintauchen in die eigene Welterfahrung“ (ebd.) lässt die eigene Erfahrung als durchweg ent-eignet erscheinen. Gerade daraus beziehen die Bücher ihre politische Bedeutung. Der Klassenwechsel wird nicht zuletzt als intensive Körpererfahrung thematisiert. Er ist nicht nur beschwerlich, sondern verlangt eine „nahezu vollständige Umerziehung“, mit der der Eintritt ins neue Milieu garantiert und die gelungene Abkehr von der Herkunftsumgebung unter Beweis gestellt werden muss (Eribon 2016, S. 98). Sprechen, Körperhaltung, Interesse für Kunst und Kultur, alles wird in einer zweiten Sozialisation neu gelernt und als eine Form des in den Alltag integrierten Hochleistungssports geübt.28 Das intellektuelle Milieu und der damit einhergehende Lebensstil enthält, anfänglich und von außen betrachtet, allerdings 28 Insbesondere die Selbstverständlichkeit der bürgerlichen Klasse im Umgang mit Kunst und Kultur muss hart trainiert werden: „Dieses Gehabe hat mich seit je eingeschüchtert, und doch tat ich alles dafür, so zu werden wie diese Leute, in kulturellen Kontexten dieselbe Lo-
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auch Versprechen der besonderen, affektiven Art. Buchtitel (wie etwa Traurige Tropen von Claude Lévi-Strauss (1978)) haben eine magische Wirkung, die nicht auf Inhalte, sondern auf ihren elektrisierenden Klang zurückgehen. An und mit ihm lässt sich ein ästhetisches Interesse und Empfinden entdecken, das zum wichtigen Bestandteil intellektuell-schwuler Subjektivierung wird (vgl. Eribon 2017, S. 115). Gelesen wird nicht aus Gewohnheit und Routine, sondern fieberhaft, weil die Lektüre von Theorie und Literatur zugleich das Gefühl der eigenen Transformation erlebbar macht. Eindringlich beschreibt Eribon diese – von außen angestoßenen – inneren Transformationsprozesse, die nicht nur freiwillig passieren und dennoch besondere Glücksversprechen in Aussicht stellen: „Ich war wie behext. Vor meinen faszinierten Augen schillerte also mehr als nur ein Netz von Namen. Eher hatte ich es mit esoterischen, hypnotisierenden Symbolen zu tun. Sie riefen mich dazu auf, an Festen teilzunehmen, von denen ich in der Zeit des Stammelns und Zögerns noch kaum einen Schimmer hatte und in die ich mich nach und nach immer lustvoller begeben sollte.“ (Ebd., S. 116)
Im selbstanalytischen Blick zurück erkennt Eribon in diesen Gefühlen das „Schwindelgefühl einer Überlegenheit“ und das „Glück der ‚Distinktion‘“, das die Loslösung von der eigenen Familie ermöglicht hatte (und in der relativ harten Formulierung des Stammelns noch mitschwingt): „All das ist nicht besonders ruhmreich, das gebe ich gerne zu. Aber vielleicht war es notwendig. Und es ist die Wahrheit. Ich muss sie aussprechen.“ (Ebd., S. 117) Schilderungen wie diese setzten weder auf Distanzierung noch auf Eindeutigkeit. Sie arbeiten mit einer affektiven Adressierung ihrer Leser_innen, die aufgrund ihrer Uneindeutigkeit und Ambiguität auch gelingt. Durchaus weisen die beiden Bücher von Eribon, in der alle mehr oder weniger Opfer und Täter_innen sind, melodramatische Strukturen auf, was hier, wie hoffentlich deutlich geworden ist, nicht als Kritik zu verstehen ist, sondern als performative Ästhetik. Um dieser eine langfristige politische Perspektive abzuringen, muss es um die Dringlichkeit gehen, von der hier die Rede ist. Sie gelingt in Eribons Texten insbeson dere auch durch die performative Inszenierung des ‚eigenen‘ wie auch des Körpers der Mutter als ent-eignet. Beide werden im Text zum Austragungsort und Schauplatz von Politik und Kritik: „Wenn ich meine Mutter heute vor mir sehe mit ihrem geschundenen, schmerzenden Körper, der fünfzehn Jahre lang unter härtesten Bedingungen gearbeitet hat – am ckerheit an den Tag zu legen und den Eindruck zu vermitteln, ich sei ebenfalls so geboren worden.“ (Eribon 2016, S. 98)
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Fließband stehen, Deckel auf Einmachgläser schrauben, sich morgens und nachmittags höchstens zehn Minuten von jemandem vertreten lassen, um auf die Toilette zu gehen zu können – dann überwältigt mich die konkrete, physische Bedeutung des Wortes ‚soziale Ungleichheit‘. Das Wort ‚Ungleichheit‘ ist eigentlich ein Euphemismus, in Wahrheit haben wir es mit nackter, ausbeuterischer Gewalt zu tun. Der Körper einer alternden Arbeiterin führt allen die Wahrheit der Klassengesellschaft vor Augen.“ (Eribon 2016, S. 78)
Eribons erzählende Inszenierung einer Mikrophysik klassenspezifischer Macht, die das Körperinnere durchzieht, liefert einen spezifischen Beitrag zur Klassenfrage, der nicht etwa, wie manche Rezensent_innen meinen, hinter dem zurückbleibt, was Bourdieu bereits geleistet hat. Vielmehr setzt Eribon – zu einer Zeit, in der die Klassenfrage drohte ins Unsagbare zu rutschen – noch einmal neu an, indem er seine eigene Betroffenheit als legitime Quelle des Wissens auch ohne verfügbare Klassenbegriffe in Stellung bringt. Das Politische der beiden Bücher liegt vor allem darin, Klassenzugehörigkeiten als geteilte Erfahrung und unausgesprochene Verletzungen29 (wieder) diskutierbar zu machen und der Frage nach den sozialen und politischen Voraussetzungen dieser Erfahrungen eine Dringlichkeit zu verleihen. In Bezug auf den akademischen Kontext liegt der politische Gewinn dieser Bücher darin, dass sie einem Milieu, dass sich im Umgang mit Differenzerfahrungen als ebenso kompetent wie sensibel einstuft, einen Spiegel vorhält, der diese Selbsteinschätzung vorsichtig formuliert, nicht bestätigt. Hatte Bourdieu (2017) um die Wissenschaftlichkeit seiner eigenen Arbeit so sehr gerungen, dass seine Methodik und selbst auferlegte Strenge immer auch wieder selbst in den Blick gerieten, so experimentiert Eribon an einer anderen Diskursstelle, die dem wissenschaftlichen Schreiben und Denken seine eigene Situiertheit vor Augen führt (vgl. hierzu auch Geoffroy de Lagasnerie 2018). Mehr als um Eribon geht es in den beiden Büchern Rückkehr nach Reims und Gesellschaft als Urteil um die Unmöglichkeit seiner Auto-Biografie. Textlich arrangiert werden nicht nur die Mühen, die darin liegen, die eigenen Beschämungen zu übernehmen, sondern auch das Ringen mit der eigenen Welterfahrung, die gerade nicht oder nur sehr bedingt zur Verfügung steht. Sie wird erst im Prozess des Schreibens erarbeitet und überhaupt nur möglich aufgrund einer dauerhaften 29 Richard Sennetts und Jonathan Cobbs Buch The Hidden Injuries of Class (1993) hatte zu Beginn der 1970er Jahre dafür argumentiert, den Klassenkonflikt nicht nur anhand von Einkommensverhältnissen zu erörtern, sondern auf der Ebene ‚interner‘ Konflikte derjenigen, die ihren eigenen Wert gegen andere Lebensformen bestimmen müssen, denen gesellschaftlich nicht nur eine höhere Akzeptanz, sondern eine besondere Form der Auszeichnung zukommt. Das Role-Model ist hier der amerikanische‚ weiße, männliche, heterosexuelle BlueCollar-Worker.
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Bewegung zwischen An- und Enteignung. Wegschauen zwecklos: „Manche Klassenreflexe bleiben einfach.“ (Eribon 2016, S. 23) Mein eigener Reflex liegt wohl darin, Eribons Texte ausschließlich solidarisch zu lesen. Andauernde Reflektion über diesen Reflex hat bislang keine Änderung gebracht.
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Des/Identifikationen
Niedentisch Fluchtbewegungen, Annäherungen, Festschreibungen Dirk Schulz
In Rückkehr nach Reims (Eribon 2016) wird ein starker Fokus auf die Identitätsentwicklung des Erzählers1 gelegt. Sie wird hier wechselweise als Determinismus, Suche, Zuschreibung und Zugehörigkeit nahegelegt. Besonders ‚schwule Identitätsfindung‘ wird in der Narration gegen ‚provinzielle Herkunft‘ und das ‚Arbeiter*innenklassenmilieu‘ gegen ‚akademische Intellektuellenkreise‘ gesetzt. Dieser Beitrag widmet sich diesem Erzähl- und Rezeptionsmuster aus queertheoretischer und literaturtheoretischer Perspektive und problematisiert dabei die scheinbar selbstverständlich gültigen und damit wiederholten Dichotomien und Einschreibungen. Diese sind besonders gravierend, weil Eribon selbst zu einer prominenten ‚Autorität‘ geworden ist und Rückkehr nach Reims als autobiografische Erzählung große Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Realismus unterstellt wird. Dieser Beitrag geht allerdings „von der Prämisse aus, dass Authentizität in der autobiographischen Erzählliteratur niemals auf der vermeintlichen Abbildung einer, wie auch immer gestalteten, empirischen Realität beruhen kann [und, D. S.] muss sich daher zunächst von einer Begriffsbestimmung des Authentischen im Sinne von Echtheit, Wirklichkeit, Wahrheit, Unmittelbarkeit oder Realität lösen.“ (Schmidt 2014, S. 24)2 1
Dieser Beitrag folgt einem Verständnis von Literatur, das nicht grundsätzlich und eindeutig zwischen ‚(Auto)biografien‘ und ‚fiktionalen‘ Erzählungen unterscheidet und sich außerdem von der Vorstellung einer ‚souveränen, authentischen, verlässlichen‘ Autor*innenschaft verabschiedet. Darum verwende ich auch in Bezug auf Rückkehr nach Reims Termini wie bspw. Erzähler und Protagonist. 2 Eine ausführliche literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten bzw. Unmöglichkeiten der Trennung von Fakt und Fiktion, Autobiografie und Dichtung, etc. siehe insbesondere die ersten beiden Kapitel aus Nadine Jessica Schmidts Studie Konstruktionen literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Kalmbach et al. (Hrsg.), Eribon revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30561-1_6
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Die grundsätzliche Überlegung dieses Beitrags ist, dass Rückkehr nach Reims zwar Brüche und Ambivalenzen der Identitätssuche und -findung thematisiert, aber in seiner Erzählweise kategoriale Zugehörigkeiten und Hierarchien sedimentiert und nicht als – wenngleich unbestreitbar wirkungsvolle – Konstrukte in ihrer Kontingenz validiert. In einer Tradition klassischer Bildungsromane (bspw. Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (2004), Charlotte Brontës Jane Eyre (2009), Hermann Hesses Demian (1978), J. D. Salingers Catcher in the Rye (2010)) und Coming-out-Romane (bspw. Rita Mae Browns Rubyfruit Jungle (2015), Edmund Whites A Boy’s Own Story (2009), David Leavitts Lost Language of Cranes (2014)) werden in Rückkehr nach Reims die anhaltenden Selbstzweifel, Unsicherheiten und großen Lebenskrisen des Protagonisten zugunsten einer offenkundig erfolgreichen und ausnahmsweisen Überwindung scheinbar unvereinbarer, aber doch kategorischer Zugehörigkeiten veräußert. Seine ‚Außenseiterposition‘ – auch dies ist typisch für das Genre – erschwert einerseits den Aushandlungsprozess mit seinem sozialen Umfeld, ermöglicht ihm andererseits einen scheinbar ‚klareren‘ und ‚kritischeren‘ Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse und Konventionen als den in ihnen fest und scheinbar selbstverständlich Eingebundenen. In seiner autobiografischen Verfasstheit werden die Schilderungen im Falle von Rückkehr nach Reims zudem als verlässlich rezipiert. Eribon ist ein vielgefragter Gast und häufiger Referenzname in kulturpolitischen Medien und akademischen Kontexten. Während seine bemerkenswerten gesellschaftskritischen Beobachtungen hier nicht bestritten werden sollen, so unterminieren Eribons dichotome und versämtlichende Identitätszuschreibungen doch wichtige, mögliche Befragungs- und Interventionspotenziale genau dieser ‚Gegebenheiten‘. Eribons Erfolg ‚trotz‘ seiner ‚Herkunft‘ und ‚Sexualität‘ droht sich in eine etablierte Schreibtradition und Lesart von (autobiografischen) Entwicklungsgeschichten reibungslos einzufügen, nämlich die gelungene Überwindung eines Außenseiters/ Misfits von offensichtlichen Widrigkeiten und Stigmatisierungen zugunsten eines ‚besseren‘ Lebens und einer gesellschaftlichen Aufwertung des Selbst. Rückkehr nach Reims tradiert als ein kategorial-teleologisches Narrativ eine Aufstiegsgeschichte vom Arbeiter*innensohn zum Intellektuellen, von einer geächteten und marginalisierten „tante“ zu einer schwulen Heldenfigur und affirmiert damit essentialisierte Ordnungsmuster, anstatt ihre naturalisierte Gültigkeit zu befragen. Malte Neuwinger fasst sie folgendermaßen zusammen: „Eribon ist ein Bildungsaufsteiger. Er beschreibt in faszinierender Weise die zwei Welten, in denen er seine Jugend- und Studentenzeit verlebte: Auf der einen Seite ist da das weite, heterogene, gebildete, farbenfrohe Paris. Auf der anderen Seite das enge, homophobe, einfältige, graue Reims. Eribons außergewöhnliches Interesse an allem, wor über man in Reims nur die Stirn runzelte – anfangs vor allem Bücher über alles Mögli-
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che, später klassische Musik, bildende Kunst, etc. – führte zwangsläufig, so seine These, zur schleichenden Entfremdung von seiner Familie.“ (Neuwinger 2018, S. 10)
Der Erfolg von Rückkehr nach Reims beruht sicher vor allem auf dem scheinbar einzigartigen, zumindest außergewöhnlichen und herausragenden Lebensweg seines Erzählers. Dieser präsentiert seinen Lebensweg als eine ‚Erfolgsgeschichte‘ gegen alle Umstände, als eine Ankunft in einem ersehnten, privilegierten Leben mit großer öffentlicher und akademischer Anerkennung trotz denkbar ungünstiger, ja geradezu exkludierender Voraussetzungen. Didier Eribon wird aus diesem Grund als Ausnahmeerscheinung gefeiert, als Autor, dessen Lebensweg und Schreiben Anderen Mut macht und der aufgrund seiner eigenen Entwicklungsgeschichte und als ‚Grenzgänger‘ wichtige Einblicke und Auskünfte aus ‚zwei Welten‘ als Experte ‚authentisch‘ versammeln und veräußern kann. Die Festschreibungen von Identitätscharakteristika, die hierbei vorgenommen werden, sind aus queertheoretischen Überlegungen heraus – anti-identitär, dekonstruktivistisch, denaturalisierend – nicht unproblematisch: „Wenn Identität als ‚mythologische‘ Konstruktion verstanden wird […] heißt es zu begreifen […], daß unsere Vorstellung von uns selbst als kohärente, einheitliche und selbstbestimmte Subjekte Ergebnis jener Repräsentationscodes ist, die üblicherweise zur Beschreibung des Selbst verwendet werden und durch die folglich Identität sich erst verstehen läßt. Barthes’ Auffassung von Subjektivität stellt die scheinbar natürliche und selbstverständliche Wahrheit der Identität in Frage.“ (Jagose 2001, S. 102)
Rückkehr nach Reims schreibt sich eher in eine Tradition des autobiografischen Erzählens ein, das auktoriale Kohärenz und Selbstbestimmtheit offenkundig vermittelt und ist in einem Barthes’schen Sinne ein dezidiert readerly text. Für Roland Barthes ist der readerly text ex negativo dem writerly text gegenübergestellt. Dieser ist eine „galaxy of signifiers, not a structure of signifieds […], it has no beginning; it is reversible; we gain access to it by several entrances, none of which can be authoritatively declared to be the main one.“ (Barthes 1975, S. 4 f.) Es ist die autobiografische Erzählweise seiner Selbstsuche und Identitätsfindung gepaart mit den vielen selbst-reflexiven Einschüben, die „die Galaxie von Signifikanten“ dieses Textes erheblich einengen und determinieren. Eribon selektiert und reflektiert seine Entwicklungsgeschichte, er gibt vor, dass und wie wir seinen Schilderungen folgen sollen, zeitlich, räumlich, persönlich, interpretatorisch. Der Entwicklungs-, Bildungs- und Coming Out-Telos des Textes drängt uns dazu, der Selbstinszenierung Eribons mit seinen zwei offenbar entscheidenden Achsen – Arbeiter*innenkind und Homosexueller – und dem Wunsch des Entkommens ihrer stigmatisierenden Zuweisungen zu folgen. Durch die scheinbar auf der Hand liegenden, für
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‚alle‘ nachvollziehbaren Befreiungsabsichten des Autors aus der Umklammerung seiner limitierenden und ‚marginalisierenden Zugehörigkeiten‘ gerät die Affirmation ihrer gesellschaftlichen Ordnungsmacht und kategorialen Bedeutung als naturalisierte Konzeptionen im Text aus dem kritischen Blick: „As ideology, literary ‚realism‘ does not depend at all on the language spoken by the writer. Language is a form, it cannot possibly be either realistic or unrealistic. All it can do is either to be mythical or not […]. Now unfortunately there is no apathy between realism and myth. It is well known how often our realistic literature is mythical (if only as a crude myth of realism) and how our ‚literature of the unreal‘ has at least the merit of being only slightly so. The wise thing would be of course to define the writer’s realism as an essentially ideological problem. […] The writer’s language is not expected to represent reality, but to signify it.“ (Barthes 1972, S. 136 – 37)
In der allgemeinen Fokussierung auf Eribon als Autor, Garant und Repräsentant einer Ausnahmegeschichte, seiner Geschichte, seiner Entwicklung und seiner Deutungen als beeindruckende Triumphgeschichte exemplifiziert Rückkehr nach Reims gleichzeitig auch die Rückkehr des Autors „als Prinzip der Gruppierungen von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts.“ (Foucault 1991, S. 20) Und Eribon bewahrt und bestätigt bestehende Ideologien des gesellschaftlichen Aufstiegs als Intellektueller und der Selbstfindung im Coming Out als Schwuler, obwohl er selbst beteuert, dass „man diese Erzählungen aufbrechen [muss], man muss ihre Vereinfachungen dekonstruieren und dafür sorgen, dass sie die Widersprüche und die Komplexität der Welt abbilden.“ (Eribon 2016, S. 80) Vielleicht ist Eribons Vertrauen auf die Möglichkeit einer ‚realistischen Abbildung‘ der Welt der Grund, jedenfalls schreibt sich Rückkehr nach Reims eher in klassische gesellschaftliche Ordnungs- und Erzählmuster ein als sie aufzubrechen. Der Erzähler vermag sich so noch nachdrücklicher zur Ausnahme der Regel zu stilisieren, entkommen aus einem bildungsfernen Milieu und einem Schulsystem, „das faktisch dafür sorgt […], dass eine bestimmte Form der Klassenherrschaft intakt bleibt und weiterhin als legitim gilt.“ (Ebd., S. 113) Eribon beschreibt die Bewertung und Konzeptionierung seines Aufstiegs und seiner Autorenschaft immerhin als zumindest ambivalent: „Interesse für Kunst und Literatur hat stets, ob bewusst oder unbewusst, auch damit zu tun, dass man das Selbst aufwertet, indem man sich von jenen abgrenzt, die keinen Zugang zu solchen Dingen haben; es handelt sich um eine ‚Distinktion‘, einen Unterschied im Sinne einer Kluft, die konstitutiv ist für das Selbst und die Art, wie man sich selbst sieht, und zwar immer im Vergleich zu den anderen – den ‚bildungsfernen‘ oder ‚unteren‘ Schichten etwa. Wie oft konnte ich in meinem späteren Leben als ‚kultivierte
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Person‘ die Selbstzufriedenheit besichtigen, die Ausstellungen, Konzerte und Opern vielen ihren Besuchern bereiten. Dieses Überlegenheitsgefühl, das aus ihrem ewigen diskreten Lächeln ebenso spricht wie aus ihrer Körperhaltung, dem kennerhaften Jargon, dem ostentativen Wohlgefühl … In all diesen Dingen kommt die soziale Freude darüber zum Ausdruck, den kulturellen Konventionen zu entsprechen und zum privilegierten Kreis derer zu gehören, die sich darin gefallen, dass sie mit ‚Hochkultur‘ etwas anfangen können. Dieses Gehabe hat mich seit je eingeschüchtert, und doch tat ich alles dafür, so zu werden wie diese Leute, in kulturellen Kontexten dieselbe Lockerheit an den Tag zu legen und den Eindruck zu vermitteln, ich sei ebenfalls so geboren worden. Auch das Sprechen musste ich von Grund auf neu lernen […]. Ich musste meine Sprache und meine Ausdrucksweise permanent überwachen.“ (ebd., S. 98 f.)
Interessant in seinen Ausführungen ist, dass die konstitutive Abgrenzung gegen die ‚Arbeiter*innenherkunft‘ durch die kulturell-intellektuelle Distinktion in seinen Worten „das Selbst aufwertet“ (ebd., S. 98). Doch was ist dieses Selbst, von dem Eribon schreibt ? Wird dieses kultivierte Selbst nicht als eine Identität der sozialen Aufwertung, verbunden mit Selbstzufriedenheit, einem Überlegenheitsund ostentativem Wohlgefühl, überhaupt erst und immer wieder kontextuell hergestellt ? Wie grenzt sich ein ‚authentisches Selbst‘ gegen die kulturellen Konventionen, den Jargon und das Gehabe ab, die scheinbar eher als unweigerliche, strapazierende Begleiterscheinungen empfunden werden, bzw. warum eben nicht ? Ist das Selbst, das nach kultureller Distinktion und Teilhabe sucht, dasselbe Selbst, das diese Möglichkeit in einer ständig sich selbst überwachenden, disziplinierenden Performanz findet ? Das Lernen, Sprechen und Überwachen einer neuen Sprache ist doch wohl eher ein deutlicher Hinweis auf einen sozial erzwungenen Habitus, auf konventionalisierte Spiel- und Sprachregeln und weniger die erfolgreiche Annäherung an ein ‚authentisches Selbst‘. Die Aufwertung des Selbst erfolgt in diesem Sinne durch ein erfolgreiches, performatives Erlernen der Einreihung in bestehende Konventionen und Spielregeln. Darum könnte die Einverleibung der neuen Codes eher als eine weitere Erfahrung von Selbst-Entfremdung nahegelegt werden, allerdings mit dem Unterschied einer Aufwertung des gesellschaftlichen Status. Im Prinzip artikuliert Eribon ja auch diese Selbst-Fremdheit und ein immer wieder eingeschüchtertes, fragiles ‚Ich‘. Allerdings setzt er den erlernten einem qua Geburt ‚gegebenen‘ Habitus gegenüber. Ob es ein ‚authentisches Ur-Selbst‘ gibt bzw. was dies sein könnte, wird sicher eine offene Frage bleiben müssen, aber gesellschaftliche Zugehörigkeiten und Distinktionen bringen eben immer auch und immer wieder neue Momente der Verunsicherung und Entfremdung mit sich. Wonach wir streben, ist sicherlich nicht allein sozial bedingt und motiviert, sondern wird auch durch individuelle Materialitäten, Voraussetzungen und Erfahrungen erzeugt, aber die scheinbar
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eindeutigen Bewegungslinien und Zuordnungen von gesellschaftlichem Aufstieg und identitärer Annäherung in Rückkehr nach Reims’ Erzählung verfestigen eta blierte Hierarchien von naturalisierten Zugehörigkeiten. In klassischer Bildungs- bzw. Coming Out-Erzählweise erzählt Eribon seine Geschichte aus der Perspektive des gesellschaftlichen Außenseiters, umgeben von ‚Anderen‘, die scheinbar selbstverständlich und eindeutig zu ihren Klassen gehören. Während sein Weg durch kritischen Geist, Willensstärke, Außergewöhnlichkeit, Zerrissenheit und Mobilisierungspotenzial gekennzeichnet ist, um die ihm „versprochene Zukunft zu widerlegen – und zugleich den unauslöschlichen Abdruck [seiner] sozialen Herkunft“ (ebd., S. 89) –, erscheint vor allem seine Familie sich ihrem qua Geburt determinierten Schicksal zu ergeben. Und die privilegierte, kultivierte Klasse habe ohnehin keine Notwendigkeit, kein eigenes Interesse an der Veränderung ihres ‚Schicksals‘. Eribons Wille zur Distinktion führt zur Versämtlichung der ‚Anderen‘. Dazuzugehören erfordert allerdings in allen sozialen Kontexten immer wieder performative und diskursive Aneignungen, eine zu erlernende Semiotik. Oder sind die ‚privilegierten Anderen‘, die nicht ursprünglich aus der ‚bildungsfernen Arbeiter*innenklasse‘ kommen, tatsächlich so geboren ? Oder meint Eribon hier lediglich die eigene Aufwertung durch eine mittlerweile stabilisierte, aber ‚gegen die Umstände‘ erworbene, privilegierte ‚gesellschaftliche Identität‘, die für Andere selbstverständlich und damit ‚normal‘ ist ? Sind Menschen bzw. das ‚Selbst‘ dieser Menschen, die in diese vermeintlich ‚kultiviertere, intellektuelle Welt‘ hinein geboren wurden, dieser also automatisch und ‚natürlich‘ zugehörig ? Ist ihre Zugehörigkeit sicherer, einfacher und unstrittiger, muss sie weniger erlernt und angeeignet werden ? Bedarf ihre Zugehörigkeit keiner ‚Anstrengung‘, ist ihre Erfahrung von Selbstentfremdung geringer ? Hierbei soll keinesfalls die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Voraussetzungen, Positionierungen und Aneignungen in Frage gestellt werden, die Machtordnungen, die mit Zugehörigkeiten bzw. Zuschreibungen verbunden sind, wohl jedoch die unterstellte Selbstverständlichkeit, die zugeschriebene Selbstsicherheit, das „Ausbleiben des Klassengefühls“ (ebd., S. 92) und das Wohlgefühl der Zugehörigkeit für ‚native Bürgerliche‘ in jeder Hinsicht und mit großer Eindeutigkeit. Während die Kritik an der „Höllenmaschine […], die […] dafür sorgt, dass Kinder aus armen Schichten abgewertet werden, dass ungleiche Berufschancen und beschränkte soziale Zugangsmöglichkeiten fortbestehen“ (ebd., S. 113), sich eben genau gegen etablierte, ungerechte Ordnungsstrukturen und Apparate wendet, ist Eribons kategoriale, eindeutige und essentielle Zuschreibung von Identitätszugehörigkeiten immer wieder problematisch. Die Versämtlichung der ‚Arbeiter*innenklasse‘ als bildungsfern und homophob macht die Motivation und das ‚Bildungsziel‘ Eribons besonders nachvoll-
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ziehbar. Zudem bestätigt er in seinem Bildungsweg, seinem Willen zum Wissen, auch ein Publikum, das er bereits selbst im Text imaginiert: „Und natürlich weiß ich, dass die von mir so Beschriebenen wahrscheinlich nicht zu meinen Lesern gehören werden. Von Arbeitermilieus wird nicht oft gesprochen. Und wenn, dann meistens unter der Maßgabe, dass derjenige, der spricht, sie verlassen hat und dass er von seinem Aufstieg, über den er froh ist, berichten will. Die soziale Illegi timität der Beschriebenen wird genau in dem Moment bestätigt, wo jemand, der die notwendige kritische Distanz (und damit eine wertende, urteilende Perspektive) erreicht hat, sie beschreibt und anklagt.“ (Ebd., S. 90)
Dem ‚Arbeiter*innenmilieu‘ und der mit ihr verbundenen Homophobie zu entfliehen, sind offenkundig allgemeingültige, nachvollziehbare, sogar notwendige Bewegungen der ‚Selbstaufwertung‘. Doch wie sieht es mit Eribons kritischer Di stanz zu der bildungsbürgerlichen Gesellschaft und der ‚Schwulenszene‘ in Paris aus ? In der Logik der Erzählung fordern diese nicht nur eine absolute Distanzierung gegenüber der Herkunftsgemeinschaft – die Gründe hierfür bleiben in Rückkehr nach Reims allenfalls implizit bzw. werden als bekannt vorausgesetzt –, ihre exkludierenden, beschränkenden und konformistischen Strukturen lassen ebenfalls den Telos einer ‚Befreiung‘ und einer Selbstfindung mehr als fragwürdig erscheinen. Und wodurch kennzeichnet sich in Rückkehr nach Reims Eribons kritische Distanz zum verlassenen Arbeiter*innenmilieu ? In der Tat, der Erzähler spart nicht an Wertungen und Urteilen. Er blickt auf die ‚Hinterbliebenen‘ vor allem mit Scham hinab: „Jeder träumt davon, aus einer ruhmreichen Familie zu stammen, egal worauf der Ruhm sich gründet. Aber die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Man kann sich lediglich fragen, wie man mit einer Geschichte klarkommt, für die man sich schämt. Wie soll man sich mit dem Schrecken von einst arrangieren, wo doch nicht abzustreiten ist, dass man sich, ob man will oder nicht, in diese Genealogie einschreibt ?“ (Ebd., S. 72)
Eribon lässt keinen Zweifel daran, von dem scheinbar ‚Überwundenen‘ immer wieder heimgesucht zu werden, allerdings als ein belastendes Stigma, niemals als ein positiv erlebtes gemeinschaftliches Miteinander: „Auf dem Weg, den ich zu gehen, und bei den Schwierigkeiten, die ich zu überwinden hatte, konnte ich nicht auf andere zählen, nur auf mich.“ (Ebd., S. 85) Eribon geht es schließlich dar um zu entkommen, aufzusteigen, nach oben zu gelangen, weg von der verachteten ‚Grobschlächtigkeit‘ seines kleinstädtischen Umfeldes. Und er akzeptiert, ja umarmt darum alle Attribute und Habitus der großstädtischen ‚Feingeister‘, durch deren Assoziation sein Selbst aufgewertet wird. Seine familiären Umstände wertet
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er dagegen kategorisch ab. Schließlich gefährden sie seinen mühevoll errungenen Status des self-made-Intellektuellen. Rückkehr nach Reims scheint genau dieses Projekt für Eribon zu sein und somit eine Antwort auf diese Frage zu geben. ‚Man‘ arrangiert sich mit dem Schrecken, indem ‚man‘ einen autobiografischen Bildungsroman schreibt, der die Erfolgsgeschichte des Erzählers vor allem in der eindeutigen Kontrastierung – individ ualisierte Komplexität und Mobilität auf der ei(ge)nen Seite und versämtlichende, vereindeutigende Kollektivität auf der anderen Seite – herausstellt. Jetzt, in seiner arrivierten Position als angesehener Intellektueller in den ‚besten Kreisen‘ muss er die Vergangenheit, ‚die sich ja nicht ändern lässt‘, auch nicht mehr verstecken. Er schreibt (über) sie zumindest nach eigener Aussage distanziert, er hat die Kontrolle gewonnen, die Autorität über seine Geschichte, die er nun gegen seine Blutsverwandten als Kontrastfolien der einstigen Vorsehungen und Vorschriften erzählen kann. Wenn er sein Klassengefühl schon nicht vergessen kann, so kann er sich narrativ doch zumindest von ihrer unterstellten Lethargie und kulturellen Armut distanzieren. Rückkehr nach Reims ist aber eben nicht nur ein Bildungsroman sondern auch ein Geständnisnarrativ, eine Beichte, die uns Erklärungsangebote macht und ihm Erleichterung verschafft (vgl. Eribon 2016, S. 66). Es ist bemerkenswert, wie Eribon, der die Psychoanalyse kategorisch ablehnt und als Interpretationsmodell scharf kritisiert, viele klassische Topoi der Psychoanalyse in Rückkehr nach Reims bedient, ja exerziert. Seine Abgrenzungsbehauptung wirkt durch die Erzählweise und -gegenstände von Rückkehr nach Reims – Identitätsfindung, nachwirkende Familien- und Herkunftskonflikte, Entdeckung und Akzeptanz ‚seiner‘ Sexualität – wenig überzeugend und basiert vor allem auf Eribons Insistenz auf eine eindeutige, kategoriale Separierung des Sozialen und des ‚Eigensten‘, „[d]enn im Reich von Ödipus wird die Analyse des Subjektivierungsprozesses desozialisiert und depolitisiert.“ (Ebd., S. 88) Der Vater-Sohn-Konflikt – der Tod des Vaters ist immerhin der zentrale Auslöser für das Schreiben dieses Buches – stellt daher für ihn „einen sozialen – nicht psychischen oder psychologischen – Einschnitt dar.“ (Ebd., S. 89) Doch es bleibt unklar, warum diese Sphären so eindeutig und vehement voneinander abgegrenzt werden müssen. Schließlich verstehen sowohl die Freud’sche als auch die Lacan’sche ‚Schule‘ – hier mit einem noch größeren Fokus auf die symbolische Ordnung – Identitätsentwicklungen ja gerade als einen fortwährenden Aushandlungsprozess zwischen den Potenzialen des Selbst und gesellschaftlichen Erwartungen, Disziplinierungen und Zurichtungen. „Trans formationsprozesse des Selbst, Momente der Konstitution und Zurückweisung der eigenen Identi tät waren für mich schon immer mit Prozessen sozialer Zugehörigkeit verbunden“ (ebd., S. 89), schreibt Eribon und affirmiert damit eher psychoanalytische Zugänge: „[T]he psychoanalytic theory […] thwarts the possibility of any unified identity,
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sexual or otherwise. By theorizing subjectivity in terms of language and culture, Lacan also denaturalizes sex.“ (Dean 2003, S. 243) Eribon hingegen beruft sich in seiner Ablehnung auf die unterstellte Möglichkeit und angewendete Methoden der ‚Wahrheitsfindung‘ und simplifiziert die Psychoanalyse hierbei: „Schemata, die der reflexartige, ordinäre Lacanismus aufruft, um in ihnen den ‚Schlüssel‘ zu meiner Homosexualität zu entdecken, den er in Wahrheit nur selbst in sie hin eingelegt hat“ (ebd., S. 88), sind als Kritik an einer dominant-heteronormativen Aneignung und Praxis der Psychoanalyse berechtigt, aber die Fragen von ‚Identität(sentwicklung)en‘ sollten immer das Wechselverhältnis von soziokulturellen und individuellen Bedingungen in den Bick nehmen, beschreiben und nicht werten, unterstützen und nicht pathologisieren: Wie Judith Butler in Undoing Gender bemerkt: „Psychoanalysis can also serve as a critique of cultural adaptation as well as a theory for understanding the ways in which sexuality fails to conform to the social norms by which it is regulated.“ (Butler 2004, S. 14) Doch für Eribon erscheint es wichtig, soziale und sexuelle Zugehörigkeit zu separieren bzw. sogar zu oppositionieren. Der einen will er entkommen, in der anderen ankommen. Es sind seine Klassenzugehörigkeit und die ‚Homophobie‘ seines Umfeldes, die Eribons Suchbewegungen motivieren. Während ihm in Bezug auf seine Sexualität in Paris ein Ankommen zu gelingen scheint, bleibt er ein Grenzgänger zwischen den Klassen und dabei auch immer ein ‚Außenseiter‘. Eribon fühlt sich dar um autorisiert, nicht nur über die ‚Arbeiter*innenklasse‘, sondern auch über die Bourgeoisie aus einer distanzierten weil ihr nicht ‚genuin‘ zugehörigen Distanz zu urteilen: „Was mir vor allen Dingen unbestreitbar vorkommt, ist die Tatsache, dass ein solches Ausbleiben des Klassengefühls eine bürgerliche Kindheit kennzeichnet. Die Herrschenden merken nicht, dass ihre Welt nur einer partikularen, situierten Wahrheit entspricht (so wie ein Weißer sich nicht seines Weißseins und ein Heterosexueller sich nicht seiner Heterosexualität bewusst ist).“ (Eribon 2016, S. 92)
Eribon postuliert also eine ‚selbstverständliche bürgerliche Identität‘ und setzt sie hier mit ‚Weißsein‘ und Heterosexualität gleich. Seine Gleichsetzung soll offenbar besonders stark markierende ‚Zuschreibungen/Zugehörigkeiten‘ und ihre gesellschaftlich hierarchisierenden Einteilungen von ‚Norm‘ und ‚Abweichung‘ verdeutlichen. Dabei werden allerdings nicht nur die unterschiedlichen Konstruktionsund Wirkungsweisen von sexuellen, ethnischen und sozialen ‚Identitäten‘ außer Acht gelassen, sondern ihnen wird eine solide Kongruenz von Zugehörigkeiten unterstellt. Als wäre die Selbstverständlichkeit dieser Identitäten für die Einen etwas ‚Gegebenes‘ und ‚Stabiles‘, während sie für die ‚Anderen‘ etwas ‚Umkämpftes‘ und immer wieder ‚zu Erbringendes‘ darstellt. Gerade in den derzeitigen Debat-
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ten von beispielsweise #metoo, Black Lives Matter, Geschlechtervielfalt, Anti-Feminismus oder Toxischer Männlichkeit wird doch aber deutlich, wie es immer wieder nachdrücklichen performativen und diskursiven Ermächtigungsgesten bedarf, um die Fragilität und Panik der ‚Herrschenden‘ bzw. ‚der Norm‘ hinsichtlich ihrer unterstellten Selbstverständlichkeit zu verbergen. Gerade weil die Gegebenheit dieser Identitäten, ihre Privilegien, ihre Einheit, Mehrheit und Normalität mehr und mehr in Frage gestellt wurde und wird, muss die ‚Macht der Bürgerlichkeit‘ offenkundig mit noch mehr ostentativ performativer und diskursiver, zuweilen auch mit körperlicher Gewalt geschützt werden. In Rückkehr nach Reims überschreibt der Erzähler wirkungsvolle Konstruk tionsmechanismen zugunsten einer unterstellten identitären Natürlichkeit und Gegebenheit. Mit der Annahme eines fehlenden Klassenbewusstseins unterscheidet er nicht mehr zwischen dem Wunsch, einer privilegiensichernden Identitätsnorm bzw. ‚herrschenden Klasse‘ dauerhaft anzugehören – ein Wunsch, der ja auch Eribon nicht fremd ist, sondern ihn ebenso motiviert – und einer qua Geburt gesicherten, fraglosen Zugehörigkeit. Aber verteidigen die soziokulturell Herrschenden, die Heterosexuellen, die Weißen nicht einen ihnen zumindest individuell durchaus bewussten, fragilen partikularen und situierten Platz ? Die ‚bürgerliche Gesellschaft‘ besitzt einen ‚Repräsentations- und Diskursvorteil‘. Aber als Norm und erstrebenswerte Identitätszugehörigkeit muss sie doch immer wieder aufs Neue beschworen und beworben und die Grenzen ihres Außen immer wieder neu verhandelt werden, um die damit verbundenen Machtverhältnisse in ihren hierarchisierenden Zuweisungen aufrecht zu halten. Weiße, heterosexuelle Bürgerlichkeit als Normativität braucht die kategorische Markierung und Abwertung des Außen wie bspw. die Arbeiter*innenklasse, die Queeren, die People of Colour und ist gleichsam stets durch die Kontingenz dieser Grenzziehungen bedroht. Durch die klaren Zuschreibungen von sich als bemerkenswertem ‚Aufsteiger‘ in eine Welt der größeren ‚kulturellen‘ Teilhabe reiteriert und zementiert der Erzähler eine allzu oft vorausgesetzte ‚Minderwertigkeit des Arbeiter*innenmilieus‘, beispielsweise die Meinung, „Bars und Diskotheken seien Zerstreuungsorte, die es explizit zu verurteilen oder zumindest insgeheim zu verachten gilt.“ (Ebd., S. 205) Klassische Musikkonzerte, akademische Veranstaltungen und Museumsausstellungen andererseits versteht Eribon als unbezweifelbare Orte der kulturellen Bildung und eigenen Aufwertung. Rückkehr nach Reims schreibt sich damit in etablierte, bildungsbürgerliche Vorstellungsweisen ein. Menschen, die diesen unterstellen Orten der ‚Hochkultur‘ fern bleiben oder – was allerdings zu beklagen ist – fern gehalten werden, müssen sich eben mit – hier als minderwertig vermittelten – „Zerstreuungsorten“ begnügen oder sich aber um den ‚Aufstieg‘ bemühen. Den Bildungsbürger*innen der Großstadt hingegen attestiert Eribon eine selbstzufriedene Stabilität und fehlenden ‚Ausstiegswillen‘.
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Die Motivationen, Ziele und die Bewertungen von Lebenswegen scheinen sowohl in der Selbstinszenierung des Textes wie in der Rezeption generalisierbar und eindeutig zu sein und die damit einhergehenden Oppositionierungen auch. Die unterschiedlichen Handlungsspielräume und gesellschaftlichen Wertungsordnungen, die mit den Zuschreibungen zu sozialen Klassen und sexuellen ‚Identitäten‘ verbunden sind, sollen hier nicht bestritten, die einstimmige Affirmation des ‚Erstrebenswerten‘ jedoch in der Verallgemeinerung problematisiert werden. Denn sie bestätigen die etablierten und machtverteilenden gesellschaftlichen Bewertungen und Bedingungen, naturalisieren die Wirkungskraft einer normativen bürgerlichen Identität anstatt ihre Insistenz auf und die Gültigkeit von eindeutigen Bewertungen kritisch zu befragen. Die weiße, heterosexuelle Bürgerlichkeit wird durch Rückkehr nach Reims als determinierender Machtapparat in den Ausschlussmechanismen zwar kritisch herausgestellt, aber gleichzeitig als Norm- und Hochkulturträgerin legitimiert. „Intellektuelles Theoretisieren, wie es Eribon betreibt, erfordert ein so großes Wissen außerhalb der Lebenswelt der Personen, die eigentlich beschrieben werden, dass immer eine etwas eigenartige Situation entsteht. Es scheint fast, als müsse das Leben eines Intellektuellen wie Eribon – ungeachtet aller persönlichen Integrität – fast zwangsläufig ‚bourgeois‘ sein, um dem ‚Proletariat‘ Weisungen erteilen, oder es auch nur wirklich ‚verstehen‘ zu können.“ (Neuwinger 2018, S. 11)
In der vorherrschenden Rezeption von Rückkehr nach Reims als einen klassischen Bildungs- und Coming Out-Roman wird die Vorstellung von erreichtem Erfolg, gesellschaftlichem Aufstieg und öffentlicher Anerkennung eines ‚Außenseiters‘ und ‚Underdogs‘ vor allem an zwei Hürden und zugleich Motivationen gemessen. Sie werden als entscheidende Parameter der Bewertung und Bestimmung – auch der eigenen – durch den Erzähler vermittelt und durch die bisherige Rezeption scheinbar einvernehmlich affirmiert: Eribons ‚Sexualität‘ und seine Herkunft als ‚Arbeiter*innenkind‘. Sie sind nicht nur Dreh- und Angelpunkt seines Bildungsweges, sondern werden auch in der Rezeption als die großen ‚Dennochs‘ affi rmiert. Erstaunlich ist, dass Eribon zwar immer wieder intersektionale und anti-identi täre Denkweisen erkennen lässt, strukturelle Analysen der unterstellten, psychoanalytischen Schlüsselfindung vorzieht, aber dennoch zuweilen allzu kategorialen Zuschreibungen essentielle Bedeutungen zukommen lässt. Zu seiner Sexualität schreibt er: „Von dem Tag an, als sie mir zum ersten Mal begegnete, war die Beleidigung mein ständiger Begleiter. […] Mein Begehren und meine Sexualität allmählich zu entdecken hieß, mich dieser immer schon durch Schmähworte definierten und stigmatisierten
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Kategorie zuzuordnen und den Schrecken all derer zu durchleben, denen klar wird, dass solche Beleidigungen sie ein Leben lang bedrohen werden. […] Eine stigmati sierte Identität geht einem voraus, man wird sie eines Tages bewohnen und verkörpern und auf irgendeine Weise versuchen, mit ihr klarzukommen. Es mag viele Möglichkeiten geben, das zu tun. Allen gemeinsam ist, dass sie von der konstituierenden Macht der Herabsetzung geprägt sind.“ (Eribon 2016, S. 191 f.)
Die gesellschaftliche Stigmatisierung von bzw. durch Homosexualität und deren Folgen für persönliche Erfahrungen und Entwicklungsmöglichkeiten soll mitnichten in Abrede gestellt werden. Im Gegenteil fehlt zumindest in Rückkehr nach Reims eine weitergehende kritische Auseinandersetzung mit ihrer naturalisierten und naturalisierenden Reiteration, ihrer identitätsdefinierenden Zentralisierung und kategorialen Vereinheitlichung. Eribon stellt zwar die „konstituierende Macht der Herabsetzung“ in Bezug auf nicht-heteronormative Begehrensmuster heraus und formuliert damit eine wichtige Kritik an bestehenden Ordnungsmustern. Gleichzeitig schreibt er aber von der Notwendigkeit/Möglichkeit, sich „ein schwules Leben einzurichten. Schwule Lebensweisen und eine schwule ‚Welt‘ basieren […] nicht nur auf Sexualität, sondern auch auf einer ganz bestimmten Weise, sich als soziales und kulturelles Subjekt selbst zu erschaffen.“ (Ebd., S. 208) Seine Annahme, dass Sexualität individuell ‚entdeckt‘ werden kann und zumindest in Bezug auf Homosexualität darauf basiert, sich „selbst zu erschaffen“, sind gerade vor dem Hintergrund der „konstituierenden Macht der Herabsetzung“ bemerkenswert, denn „[a]s an orientation or identity, homosexuality is normalizing though not socially normative. […] [W]hile homosexuality is far from representing the social norm, as a minority identity it does conform to the processes of normalization that regulate desire into social categories for disciplinary purposes.“ (Dean 2003, S. 246)
Bei aller analytischen und kritischen Schärfe, die Eribon in Rückkehr nach Reims demonstriert, negiert möglicherweise Eribons eigene bekundete Abneigung gegenüber psychoanalytischen Ansätzen in Bezug auf ‚seine‘ Sexualität eine selbstreflexiv-queere Dekonstruktion dieser ‚Identität‘. Seine Erzählung bestätigt die Homosexualität des Autors als seine ‚Essenz und Natur‘ und verallgemeinert schwules Leben nicht als Teil von, sondern als Opposition zur Norm: „An bestimmten Orten leben Menschen auf bestimmte Weise jenseits der ‚Norm‘. […] Ein schwules oder queeres Leben zeichnet sich gerade durch die Fähigkeit – oder Notwendigkeit – aus, […] [v]on der normalen in die nichtnormale Welt und zurück“ (Eribon 2016, S. 208) zu pendeln. In einem queeren Verständnis ist gerade die wiederholte Einschreibung in die Oppositionen ‚normal/deviant‘, ‚innen/außen‘, ‚wir/
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andere‘ problematisch, auch wenn sie als Teil einer selbstermächtigenden Politik identitätsstabilisierend wirken kann. Gleichzeitig führt dieses Einschreiben jedoch genau zu einer Aufrechterhaltung jener Bewertungsmaßstäbe und -kriterien, die für die konstituierende Macht der Definitionshoheit von ‚normal‘ und ihrer kategorischen Herabsetzung von ‚queeren Leben‘ verantwortlich sind. Für Eribon ist „Homosexualität nicht der Ausweg, den man sich erfindet, um dem Erstickungstod zu entfliehen. Vielmehr ist es umgekehrt die Homosexualität, die einen dazu zwingt, einen Ausweg zu finden, damit man nicht erstickt.“ (Ebd., S. 192 f.) Sie ist also treibende, wesentliche Kraft und – im Gegensatz zu seiner lokalen und sozialen Zugehörigkeit – unveränderliche Tatsache, Ausgangspunkt und Sehnsuchtsort seines Wegs. Trotz der konstituierenden Herabsetzung kann er ihr nicht ausweichen, „man wird sie eines Tages bewohnen und verkörpern und auf irgendeine Weise versuchen, mit ihr klarzukommen.“ (Ebd., S. 191) Die ebenfalls konstituierende Herabsetzung seiner „gebürtigen sozialen Herkunft“ bleibt hingegen unversöhnlich, dauerhaft schambesetzt und unbewohnbar für ihn. Die Gründe seiner Scham, der Wille zum Wissen, zum ‚gesellschaftlichen Aufstieg‘, und sein „Wunsch, endlich ein freies schwules Leben zu führen“ (ebd., S. 183) machen seinen Weg offenbar allgemeinverständlich und absolut nachvollziehbar. Doch was versteht Eribon unter einem „freien schwulen Leben“, wenn er ebenso von „einer Sozialisierung und eine[m] ‚Schwulwerden‘ im Sinn einer informellen kulturellen Prägung“ (ebd., S. 205) schreibt. Hierzu führt er aus: „[M]an erlernt die Codes, den Slang, die Sprechweisen […], die angestammten Witze […] und auch die vielen kulturellen Referenzen, die Teil jeder Unterhaltung und jedes Wortwechsels sind“ (ebd.). Eribons narratives Changieren zwischen ‚eigener Sexualität‘, einem ‚freien schwulen Leben‘ und dem Erlernen eines ‚schwulen Habitus‘ führt in Rückkehr nach Reims nicht zu ihrer zumindest ambivalenten Thematisierung. Sie werden als Beispiel eines typisch ‚schwulen Identitätsfindungsprozesses‘ und eines ‚erfolgreichen Coming Outs‘ akzeptiert und verabsolutiert. Besonders in Anbetracht seiner ausgewiesenen Lektüre von und seiner Bekanntschaft mit Michel Foucault ist seine Thematisierung von Homosexualität in Rückkehr nach Reims bemerkenswert. Foucault problematisiert die Essenzialisierung ‚des Homosexuellen‘, der Sexualität als Identität überhaupt, die in seinen Überlegungen vor allem der Kontrolle, Disziplinierung, Kategorisierung und der Aufrechterhaltung der Zweigeschlechtlichkeit und einer heteronormativen Ordnung dient: „Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die […] eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. Sie ist überall in ihm präsent: allen seinen Verhaltensweisen unterliegt sie als hinterhältiges und unbe-
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grenzt wirksames Prinzip; schamlos steht sie ihm ins Gesicht und auf den Körper geschrieben, ein Geheimnis, das sich immerfort verrät. Sie ist ihm konsubstantiell, weniger als Gewohnheitssünde denn als Sondernatur.“ (Foucault 1983, S. 58)
Im Gegensatz zu den denaturalisierenden, anti-identitären Bemühungen in Foucaults Sexualität und Wahrheit, seiner queeren Unterminierung einer gouverne mentalen, heteronormativen Identitätslogik, schreibt Eribon die dort problematisierten, essentiellen Vorstellungen in beinahe literaler Form affirmativ fort: „Er schien tatsächlich zu glauben, niemand wisse von seiner Sexualität, obwohl alle seine Gesten und Bewegungen, sein Laufstil, seine Stimme und seine Redeweisen geradezu herausschrien, was er unbedingt verstecken wollte.“ (Eribon 2016, S. 202)
Eribons Sehnsucht nach einer grundlegenden, stabilisierenden Gruppenzugehö rigkeit, einem bewohnbaren Zuhause und die lange ‚Geheimhaltung‘ seines Begehrens führen scheinbar dazu, ‚abweichende‘ Genderperformanzen als zutreffende Identifikationsmerkmale für Homosexuelle anzuerkennen. Damit schreibt sich Eribon in die Konzeptionierung und Bewertung von Homosexualität als „Sondernatur“ ein, die als normabweichend und in einem biologisch-physiologischen, unausweichlichen Sinn auch (selbst)verräterisch ist. Sie ist präsent als „konsubstantielle“ Natur und nicht performativ als sozio-kulturelle Aneignung. Trotz der schicksalhaften und abwertenden Markierung von Homosexualität erscheint Eribon ein Ankommen, ein Bewohnen, ein Verkörpern ‚seiner‘ Sexualität – im Gegensatz zu seiner Arbeiterherkunft – nicht nur möglich sondern unausweichlich. In einer Art Fazit seines Buchs schreibt Eribon: „Meine sexuelle Identität nahm ich trotz aller Beschimpfungen an und bekannte mich zu ihr, von meiner sozialen Herkunft und der durch diese bedingten Identität riss ich mich los. Man könnte sagen, dass ich in dem einen Bereich zu dem wurde, der ich bin, im anderen jedoch denjenigen zurückwies, der ich hätte sein sollen. Ich wurde von zwei sozialen Verdikten gebrandmarkt, einem sozialen und einem sexuellen. Solchen Urteilen entkommt man nicht. Diese beiden Einschreibungen trage ich in mir. Als sie in einem bestimmten Moment meines Lebens miteinander in Konflikt traten, musste ich, um mich selbst zu formen, die eine gegen die andere ausspielen.“ (Ebd., S. 219)
Die verständnisvolle Rezeption affirmiert die Bewegungen und Determinanten Eribons, seine Distanzierungen von den Unwissenden und Unkultivierten sowie die Sehnsucht nach ‚Gleichgesinnten‘. Das Bekennen zu und Bewohnen einer zumindest in westlich-urbanen Kontexten kulturstiftenden und prägenden ‚schwulen Welt‘ findet daher ebenfalls allgemeine Zustimmung. Aber ist das (homo-)se-
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xuelle Verdikt, das ihn brandmarkt, tatsächlich sexuell und nicht – zumindest in erheblichem Maße – sozial ? Schließlich ist Homosexualität als Identitätskategorie auch eine historische, soziokulturelle Erfindung und Ordnung und wird durchaus sehr unterschiedlich ‚gelebt‘ und ‚verstanden‘. Die Reibung und permanente Aushandlung von eigenem Selbstverständnis und Zuschreibung durch Andere wird in Rückkehr nach Reims durchaus deutlich. Allerdings sind dennoch etablierte und durch die Rezeption oftmals bestätigte, oppositionierende und teleologische Tendenzen seines Erzählens nicht zu übersehen. Diese sind – als beispielhaft bzw. vorbildlich zu verstehende Aussagen – nicht unproblematisch. Sie naturalisieren gesellschaftliche Ordnungen eher als sie zu problematisieren. Der Underdog und Außenseiter, der einen Weg der Aufwertung findet exemplifiziert ‚etablierte‘ Parameter von Erfolgsgeschichten, von Bildungs- und Coming-Out-Romanen, die gerade als Ausnahmebiografien ‚unterdrückende‘, ‚marginalisierende‘, ‚pathologisierende‘ Regeln wiederum bestätigen und bekräftigen können. Die ‚Großstadtkultivierten‘ können mit Eribon dessen Erfolg feiern, denn ihre Anerkennung ist das erstrebenswerte Ziel. Sie müssen die Gültigkeit und den ‚Preis‘ ihrer eigenen Prämissen, Werte und Privilegien darum nicht in Frage stellen. Im Gegenteil, das Überschreiben der Uneindeutigkeiten, Brüche und Widersprüchlichkeiten von Zugehörigkeiten, all die Anstrengungen, die es bedarf, die Fragilität und Performativität des ‚Kultiviert-Seins‘ zu kaschieren, dürfen ignoriert werden. Das Ziel dort, der ‚Hochkultur‘, und nicht da, der ‚Arbeiter*innenkultur‘ zugehören zu wollen, wird immer wieder bestätigt und durch den Erzähler untermauert: „Was ich heute bin, geht auf die Verflechtung zweier Projekte zurück. Ich war mit der doppelten Hoffnung nach Paris gekommen, ein freies schwules Leben zu führen und ein ‚Intellektueller‘ zu werden. Meine erste Hoffnung hatte sich bald und ohne grö ßere Schwierigkeiten erfüllt, die zweite war im Sande verlaufen.“ (Eribon 2016, S. 223)
Sowohl was er unter einem „freie[n] schwule[n] Leben“ in Paris versteht als auch, inwiefern das Projekt dort ein „Intellektueller“ zu werden „im Sande verlaufen“ ist, bleibt unklar bzw. eine offene Frage. Bezogen auf Homosexualität wird eine narrativ selbstverständlich gewordene Bewegung von der Peripherie in die Metropole reiteriert, in der die Anonymität der Großstadt Schutz und Zuflucht für ‚die Devianten‘ bietet. In welcher Weise dies jedoch ‚Freiheit‘ bedeutet und welche Hierarchisierungen von Zuschreibungen innerhalb dieser ‚Szenen‘ wiederum Personen sehr unterschiedlich Zugänge ermöglichen bzw. erschweren, sollte aus queertheoretischer Sicht nachdrücklicher befragt werden. Dass das zweite Projekt – zum Intellektuellen zu werden – „im Sande verlaufen“ war ist zum einen vielleicht eine Koketterie des Erzählers, zum anderen möglicherweise ein Verweis
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auf Eribons weiterhin ambitionierte Zielsetzung, die durch die notwendig bestehende, bleibende Begrenzung von Bildung und Wissen nie erreicht werden kann und darum immer eine – bzw. in – Bewegung bleiben muss. Die inhärente Kritik an gesellschaftlicher Homophobie – vor allem der ‚bildungsferneren Schichten‘ – ist in Rückkehr nach Reims wesentlich stärker als die an den Ausschlussmechanismen, dem Jargon, der ‚Erhabenheit‘ und Selbstzufriedenheit der intellektuellen Zirkel, die Eribon mittlerweile bewohnt. Im Gegenteil scheinen diese Zirkel zumindest in Bezug auf Eribons Sexualität wohlwollender und erfahren damit eine zweifache Aufwertung. Vielleicht ist es darum auch kein Wunder, dass Eribons Texte zumeist wohlwollend bis euphorisch gerade auch in ‚diesen Kreisen‘ aufgenommen wurden. Es ist der großen Anstrengung wert, dazuzugehören, weil der Gegenwert stimmt. Das ‚hochkulturelle‘ Großstadtmilieu eröffnet Möglichkeiten und Horizonte. Hier einen Platz zu finden, heißt einen Status zu gewinnen, der mit großem Ansehen und – für Eribon – gleichzeitig mit einer Aufwertung des Selbst verbunden ist. Auch und gerade für jemanden, der sich scheinbar ‚von unten‘ und ‚von außen‘ dazu gesellt. Es ist die fokussierte Autorfunktion Eribons und die Bestätigung seiner Autorität gerade durch seine reflektierte ‚Außenseiterposition‘, seinem Willen zum Wissen, seiner Sehnsucht nach Freiheit, die den urbanen, kultivierten Kreisen ‚ihre Identität‘ als unbedingt erstrebenswert erneut vor Augen führt. Eribons Text bringt daher seltener performative, ambivalente und fluide Positionierungen zur Geltung, sondern gestaltet sich als klassischer Bildungs- und Coming Out-Roman und ist somit sowohl gesellschaftsordnungs- als auch identitätsstabilisierend. Die Rückkehr nach Reims, die der Titel suggeriert, ist eine Abkehr von diesem Milieu und die narrative Einkehr in die Bourgeoisie.
Literatur Barthes, Roland (1975). S/Z. An Essay. New York: Hill & Wang. Barthes, Roland (1972). Mythologies. New York: Hill & Wang. Butler, Judith (2004). Undoing Gender. New York: Routledge. Brontë, Charlotte (2009). Jane Eyre. New York: Vintage Classics. Brown, Rita Mae (2015). Rubyfruit Jungle. New York: Bantam Books. Dean, Tim (2003). Lacan and Queer Theory. In Jean-Michel Rabaté (Hrsg.), The Cambridge Companion to Lacan (S. 238 – 52). Cambridge: Cambridge University Press. Eribon, Didier (2016). Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp. Foucault, Michel (1990). Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag. Foucault, Michel (1983). Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a. M: Fischer Verlag.
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Eribons Gespenster: Zur Zeitlichkeit von sozialer Differenz Stephan Trinkaus
„Ein Gespenst ist immer ein Wiedergänger. Man kann sein Kommen und Gehen nicht kontrollieren, weil es mit der Wiederkehr beginnt.“ (Derrida 1995, S. 28)
Soziale Differenz handelt von Herrschaft, von hierarchischen Anordnungen, von Gegebenheiten und Bestimmungen, von Körpern und Strukturen, Organisation und Arbeitsteilung. Angefangen mit Georg Simmels Über Sociale Differenzierung (2015) von 1890 wurde unter diesem Begriff immer auch der Zusammenhang von Zeit und Sozialem verhandelt. In den Vorstellungen einer sozialen Evolution zunehmender Differenzierung nach dem alten Evolutionsmodell „des Baumes und der Abstammung“ (Deleuze/Guattari 1992, S. 20), wie sie bspw. auch Simmel entwickelte, schien das Verhältnis eindeutig: Soziale Differenz entsteht ‚in‘ der Zeit, genauer: ‚in‘ der Vergangenheit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das, was war, ist und sein wird oder zumindest erwartet werden kann, wird so definiert und in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gebracht. Die Vergangenheit wäre jene Zeit, in der das entstand, was ist, so wie die Zukunft der Gegenwart Richtung und Ziel gibt. In einer solchen Zeitlichkeit voneinander geschiedener Phasen in einem linearen Ablauf ist in der Soziologie bis heute oft das Verhältnis von sozialer Struktur und sozialer Praxis angelegt: Die Strukturen kommen aus der Vergangenheit, sind gewissermaßen zur Gegebenheit verfestigte Geschichte, die Praxis findet im flüchtigeren Modus der Gegenwart statt. Von dieser Vorstellung müssen wir uns entkoppeln: Zeitlichkeit steht nicht jenseits des Sozialen, so wie das Soziale sich weder jenseits noch ‚in‘ der Zeit ereignet: Zeit ist ein ‚soziales‘ Ereignis, eine ‚Praxis‘. Ich möchte hier versuchen, mich einem Verständnis des Zusammenhangs von sozialer Differenz und Zeitlichkeit zu nähern, das darauf antwortet.1 1
Ich danke Susanne Völker, Andrea Seier, Fiona Schrading und dem anonymen Peer Review
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Kalmbach et al. (Hrsg.), Eribon revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30561-1_7
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Gespaltener Habitus (habitus clivé) Pierre Bourdieu hat genau an der Schnittstelle von Struktur und Praxis seine Theorie des Sozialen Raums und des Habitus entwickelt: Konzepte, die ihm ermöglichen sollen, Struktur, soziale Positionen und Praktiken auf eine andere, nichtlineare Weise miteinander zu verknüpfen. So versucht Bourdieus HabitusKonzept das körperlich/materielle Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart zu fassen. „Der Habitus ist jene Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart, die die Präsenz des Kommenden in der Gegenwart möglich macht. […] In ein und demselben Streben vereinigt der Habitus Vergangenes und Künftiges, denen gemeinsam ist, daß sie nicht als solche gesetzt sind. Das bereits gegenwärtige Künftige kann in der Gegenwart nur von Vergangenem her verstanden werden, das selbst nie als solches ins Auge gefaßt wird (da der Habitus als einverleibte Errungenschaft Gegenwärtigkeit des Vergangenen – oder im Vergangenen – ist und nicht Gedächtnis des Vergangenen).“ (Bourdieu 2001, S. 270)
Daraus ergibt sich ein Paradox: der Habitus, der bei Bourdieu unabdingbar ist für die Kontinuität der sozialen Positionen, ist selbst ortlos, zumindest nicht einfach bestimmbar in Raum und Zeit. Ein nichtlokalisierbarer Raumzeitknoten, aus dem die Lokalisierbarkeit sozialer Differenz hervorgeht: eine Relation, die auf nichts zurückzuführen ist als auf Relationalität. Doch damit nicht genug. Hinter diesem Knoten versteckt sich noch ein anderer, der dieses Denken des Habitus überhaupt erst möglich gemacht hat und den Bourdieu gespaltener Habitus nennt. Damit ist ein Habitus gemeint, der widersprüchliche Dispositionen miteinander verbindet. Hilmar Schäfer (2014) hat im Zusammenhang des gespaltenen Habitus von der Gründungsszene der bourdieuschen Soziologie gesprochen: In der kolonialen Situation des Algerien der späten 1950er und frühen 1960er Jahre war Bourdieu in seinen Untersuchungen zur algerischen Übergangsgesellschaft mit Praktiken konfrontiert, die aus einer Welt stammten, die sich in der Gegenwart des kolonialen Projekts der Modernisierung (vor allem der Einführung der Lohnarbeit) nicht nur nicht aktualisieren ließen, sondern geradezu gegenläufige Effekte der Desintegration provozierten. Bourdieu analysiert das bereits in seinen frühen Büchern als Aufeinandertreffen unvereinbarer sozialer Zeitlichkeiten: die zyklische Zeit der einfachen Reproduktion trifft auf die lineare Zeit der erweiterten Repro-
dieses Bandes für die Kommentare und die Kritik, die wesentlich zur aktuellen Gestalt dieses Textes beigetragen haben.
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duktion der Moderne, schreibt er mit Bezug auf Marx (vgl. Bourdieu 2000). In dieser widersprüchlichen Konstellation des Bewohnens unterschiedlicher Zeiten sieht Schäfer das Konzept des gespaltenen Habitus bereits angelegt: Vierzig Jahre später, in seinem Buch Ein soziologischer Selbstversuch, kommt Bourdieu auf eine solche Konstellation zurück und zwar im Zusammenhang einer Analyse seines eigenen Habitus, der sich darin ausdrücke, einander widersprechende Dispositionen miteinander zu verbinden: „die deutliche Diskrepanz zwischen der hohen schulischen Anerkennung und einer niederen gesellschaftlichen“ (Bourdieu 2002, S. 114). Und er fährt fort: „Aber dieser gespaltene Habitus, Ergebnis einer ‚Versöhnung der Gegensätze‘, der zur ‚Versöhnung der Gegensätze‘ neigt, wird zweifellos nirgendwo so deutlich wie im ganzen Stil meiner Forschungen, an der Art von Gegenständen, denen meine Aufmerksamkeit gilt und an der eigentümlichen Weise, sie anzugehen.“ (ebd., S. 116)
Gerade das Konzept des Habitus selbst und der mit ihm zusammenhängenden Vorstellung einer dis/kontinuierlichen, pluralen Zeit, ist eine solche Verknüpfung widersprüchlicher philosophischer und soziologischer Konzepte. Im gespaltenen Habitus verbindet sich Bourdieus Herkunft aus den unteren Sphären des sozialen Raums und einer weitab vom Zentrum gelegenen französischen Provinz mit der gewaltvollen kolonialen Situation der radikal diskontinuierlichen Erfahrung in Algerien. Ein Leben und ein Land, die Transformationen durchlaufen, die keinen Stein auf dem anderen lassen und dennoch mit den Mitteln der gegenwärtigen Vergangenheit des Habitus bewohnt und hervorgebracht werden müssen.
Diffraktion Diese Soziologie, der immer wieder vorgeworfen wurde, den spezifisch französischen Zentralismus zu universalisieren, kommt aus den Randbereichen der Moderne, der Heterogenität ihrer Borderlands (Anzaldúa 2012). Auch wenn Bourdieu einen anderen Weg geht, möchte ich zurückkehren zu dieser Heterogenität der Peripherie, aus der Bourdieus Soziologie hervorgegangen ist und die sie mit der Homogenität der einen Welt des Zentrums zu versöhnen versucht. Es geht mir um Konzepte von Welt, von Welten, die an dieser Heterogenität festhalten, die jenseits des Verhältnisses von Peripherie und Zentrum andere Möglichkeiten der Dis/Kontinuität und des Zwischen denkbar machen und die Vorstellung einer homogenen Raumzeit der One-World World (Law 2011) der Moderne herausfordern – wie bspw. die lateinamerikanischen Theorien der Dekolonialität und des Pluriversums (vgl. etwa Dussel 2013; Mignolo 2011 und vor allem Escobar 2018):
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„By interrupting the neoliberal globalizing project of constructing One World, many indigenous, Afrodescendant, peasant, and poor urban communities are advancing ontological struggles. The struggle to maintain multiple worlds – the pluriverse – is best embodied by the Zapatista dictum, un mundo donde quepan muchos mundos, a world where many worlds fit. Many of these worlds can thus be seen as engaged in struggles over the pluriverse.“ (Escobar 2015, S. 20)
Das lässt sich auch auf die queertheoretischen Debatten um Zeitlichkeiten (vgl. etwa Edelman 2004; Muñoz 2009; Halberstam 2005) beziehen: queere Zeitlichkeit unterläuft und überbordet die homogene leere Zeit der patriarchalen Nation und das lineare Entwicklungsparadigma einer kolonialen Moderne von den Rändern, den Räumen des Zwischen, den Borderlands her. Aber die feministische Debatte darum beginnt viel früher: Luce Irigarays Konzepte des Geschlechts, das nicht eins ist (2016) und des Speculums (1980) sind auch Versuche, Momente der Heterogenität und der Entkopplung von der patriarchalen Raumzeit der Moderne aufzusuchen und in ihren Relektüren der weiblichen Sexualität zu ermöglichen. Noch Irigarays Ethik der sexuellen Differenz beginnt mit einer grundlegenden Auseinandersetzung mit den geschlechtlichen Dimensionen von Raum und Zeit: „Ein Epochenwechsel erfordert eine Veränderung der Perzeption und Konzeption des Raum-Zeit-Gefüges, des Bewohnens der Orte und der Umschließungen der Identität.“ (Irigaray 1991, S. 14) Hier ist es das Erscheinen der sexuellen Differenz innerhalb der homogenen raumzeitlichen ‚Gegebenheit‘ der ‚Eingeschlechtlichkeit‘ männlicher Herrschaft, die diese unterläuft und überbordet. Ich stelle mir vor, was es bedeuten würde, auf diese Weise über soziale Differenz nachzudenken: nicht als Naturalisierung von Herrschaft, sondern ganz im Gegenteil, als Unmöglichkeit ihrer Universalisierung, als Rückkehr zu den Rändern, dem Zwischen, den Kämpfen um eine Welt, die nicht eine sondern viele ist, die eine und viele ist. Karen Barad hat eine solche un/mögliche Bewegung eines differential becoming, wie sie das nennt, in ihrer diffraktiven Lektüre der Quantenphänomene als spacetimemattering bezeichnet, als materielle Rekonfiguration von Raumzeit: „Es gibt keine inhärent determinierte Beziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Phänomene sind nicht in Raum und Zeit lokalisiert; vielmehr sind Phänomene durch die Raumzeitmaterialisierung des Universums eingefaltete und durchwirkte materielle Verschränkungen.“ (Barad 2015, S. 103; Hervorhebungen im Original) Hier sind wir in einem völlig anderen Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als in der modernen soziologischen Erzählung sozialer Differenzierung: Die Vergangenheit steht mit der Gegenwart weder in einem direkt kausalen Verhältnis, noch ist sie von ihr geschieden; und mit der Zukunft verhält es sich nicht anders. Raumzeitmaterialiserungen finden weder in einer bestimmten Zeit statt noch in einem bestimmten Raum, sie sind Hervorbringungen von Raumzeit.
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Was heißt das für unsere Vorstellung einer Beziehung zur Vergangenheit, für die Wiederholung oder – worum es hier vor allem gehen soll – die Rückkehr ? Können wir zu einem Ort oder Zeitpunkt zurückkehren, der unabhängig von dieser Rückkehr existiert ? Oder ist die Rückkehr selbst eine Raumzeitmaterialisierung, das performative Ereignis einer Diffraktion von Raumzeit ? Barad diskutiert das im Zusammenhang des sogenannten Quantenradierer-Experiments, einer Anordnung, die versucht, eine vorherige Messung ungeschehen zu machen, die Vergangenheit zu löschen: „Sogar die Rückkehr eines Interferenzmusters signalisiert kein Zurückgehen, Löschen von Erinnerungen oder gegenwärtige Vergangenheit. Erinnerung – das Muster sedimentierter Einfaltungen iterativer Intraaktivität ist in die Struktur der Welt eingeschrieben. Die Welt ‚trägt‘ die Erinnerung aller Spuren; oder eher, die Welt ist ihre Erinnerung (eingefaltete Materialisierung).“ (ebd., S. 103 f.; Hervorhebungen im Original)
Und sie fährt etwas weiter unten fort: „Die Vergangenheit ist nie verschlossen, nie ein für allemal abgeschlossen. Aber sie kann nicht zurückgenommen werden, Zeit nicht berichtigt, die Welt wieder gerade gerückt werden. Es gibt schließlich keine Löschung, keinen Radierer. Die Spuren aller Rekonfigurierungen sind in die eingefalteten Materialisierungen dessen eingeschrieben, was war/ist/sein wird.“ (ebd., S. 108)
Von hier aus müssen wir auch über soziale Differenz neu nachdenken: Sie wäre dann nicht unsere Determinierung durch die Vergangenheit, sondern die Einfal tung von Ereignissen und Erfahrungen, gelebten Welten, von Herrschaftsverhältnissen und Gewalt, die nicht ausgelöscht werden können, nicht einmal vorbei sind, sondern sich ständig neu ein- und ausfalten in unseren raumzeitmaterialisierenden Praktiken. Und auf die wir dennoch antworten, denen wir begegnen können und müssen, die umgearbeitet und verhandelt und ver-antwortet werden müssen. Damit greift Barad aber eben nicht nur die Bohr’sche Deutung der Quantenphänomene auf, sie liest sie zugleich durch queerfeministische, dekoloniale, dekonstruktive und subalterne Verhandlungen von Zeitlichkeit hindurch: cutting together-apart, wie sie das nennt. Auch Bohr, auch die Kopenhagener Deutung der Quantenphänomene sind nicht gegeben, nicht das, was ist, sondern Rekonfigurationen von Welt, differential becoming: Diffraktion. „Diffraction owes as much to a thick legacy of feminist theorizing about difference as it does to physics. As such, I want to begin by re-turning – not by returning as in reflecting on or going back to a past that was, but re-turning as in turning it over and over
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again – iteratively intra-acting, re-diffracting, diffracting anew, in the making of new temporalities (spacetimematterings), new diffraction patterns.“ (Barad 2014, S. 168)
Es geht um diese Bewegung, diese Zeitlichkeit eines re-turning, einer Rück-kehre, der Verschränkung von Rückkehr und Umkehr, von Rekonfiguration oder Rekonstellierung diffraktiver Gefüge. Die Rückkehr führt eben nicht zu dem, was ihr vorausgegangen ist, im Gegenteil, die Rückkehr ist die Rekonstellierung, Verkehrung, Transformation dessen, was ist. Sie bringt eben jenen grundlegenden Moment des Gegebenen ins Spiel, der nicht gegeben ist. Bourdieu hat aus den Widersprüchen seiner Herkunft und seines akademischen Aufstiegs, der Zeitlichkeit seiner sozialen Situiertheit, eine nichtdialektische Methode des Verbindens von Gegensätzen (Vergangenheit und Zukunft, Subjektivität und Objektivität, Struktur und Praxis, Körper und Geist etc.) entwickelt, in denen dieses diffraktive Moment sozialer Prozessualität, das wäre meine These, in die Theorie (nicht nur) des Habitus überführt und gewissermaßen ‚versöhnt‘ wird. Didier Eribon, um den es hier vor allem gehen soll, geht in Rückkehr nach Reims (2016) einen anderen Weg. Er schließt sicherlich in vieler Hinsicht an Bourdieu an, bei ihm gibt es diese Versöhnung aber nicht. Rückkehr nach Reims gibt einer anderen diffraktiven Bewegung statt: einem re-turning, einer Wi(e)derkehr ohne Versöhnung, einem Andauern der diffraktiven Irritation. Ich möchte jedenfalls von dieser Irritation ausgehen, die eben auch eine des Verhältnisses von Raum und Zeit ist: Soziale Differenz, das wäre der Gedanke, um den es mir geht, ist keine räumlich lokalisierbare Differenz in einem euklidisch vorgestellten Raum bestimmbarer Positionen. Sie hat sicher zu tun mit dem „Bruch mit der tendenziellen Privilegierung der Substanzen – im vorliegenden Fall die realen Gruppen, deren Stärke, Mitglieder, Grenze man zu bestimmen sucht – auf Kosten der Relationen“, von der Bourdieu in Abgrenzung zur marxistischen Theorie schreibt (Bourdieu 1991, S. 9). Sie ist aber nicht nur ein relationaler Effekt der Machtverhältnisse im sozialen Raum und seinen Feldern, sondern eine raumzeitliche Verschränkung, ein spacetimemattering, eine Diffraktion. Mit Jacques Derrida (ich komme gleich darauf zurück) ließe sich sagen: sie ist ein Gespenst.
Rückkehr Didier Eribons Rückkehr nach Reims handelt von sozialer Differenz, von einem sozialen Aufstieg und den ‚Problemen‘, die damit verbunden sind, und es handelt von Gespenstern. Eribon spricht zu Beginn des Buchs davon, dass es von der Rückkehr an einen Ort handele, an dem er noch nie war, den er noch nie aufge
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sucht hat: jenem Ort, an dem seine Eltern zwanzig Jahre gelebt haben und den er erst nach der Einweisung des Vaters in ein Pflegeheim zum ersten Mal besucht. „Lange ist es für mich nur ein Name gewesen. Meine Eltern waren zu einer Zeit in dieses Dorf gezogen, als ich sie nicht mehr besuchte. Hin und wieder schickte ich ihnen eine Postkarte von meinen Auslandsreisen, halbherzig bemüht, eine Verbindung aufrechtzuerhalten, die ich mir so lose wie möglich wünschte. Beim Schreiben der Adresse fragte ich mich, wie der Ort, an dem sie wohnten, wohl aussah. Nie trieb ich die Neugier weiter.“ (Eribon 2016, S. 9)
Ein kurzes Aufblitzen von Interesse, das sofort wieder verfliegt, zumal die Antwort bereits bekannt zu sein scheint: es ist ein Ort wie alle Orte, ein Ort, den es sich nicht lohnt aufzusuchen, der im Grunde gar kein Ort ist: „Ich habe Muizon also erst vor Kurzem kennengelernt. Es entsprach meiner Vorstellung: eine Karikatur der Zersiedelung, einer dieser semiurbanen, von Feldern gerahmten Räume, von denen man nicht genau weiß, ob sie noch Land oder schon zu dem geworden sind, was man gemeinhin Banlieue nennt.“ (Ebd., S. 9)
Muizon, der Ort der Eltern, des erkrankten Vaters und der Mutter, an dem sich die Rückkehr als Begegnung und „Aussöhnung“ (ebd., S. 11) mit der Mutter abspielen wird, ist ein Nicht-Ort (durchaus auch im Sinne Marc Augés, vgl. dazu Augé 1994), eine Karikatur dessen, was man verachtet: Hier werden keine Leben gelebt, hier entsteht eigentlich nichts. Ist es noch Land oder ist es schon Banlieue ? Das scheint erst einmal die einzige Frage, die der angereiste Pariser Intellektuelle zu stellen in der Lage ist: „Mehr als zwanzig Jahre haben meine Eltern dort gelebt, ohne dass ich mich zu einem Besuch hatte durchringen können. Ich entdeckte diesen Flecken – wie bezeichnet man einen solchen Ort ? – und ihr Häuschen erst, als mein Vater dort nicht mehr war, weil meine Mutter ihn in einer Alzheimer-Klinik untergebracht hatte, aus der er nicht wieder herauskommen sollte.“ (Eribon 2016, S. 10)
Das ist es, was die Rückkehr hier ins Spiel bringt, ein Nichts, ein Nirgendwo, am Ende das Vergessen der Alzheimer Klinik. Hier scheint sich jede Spur zu verlieren, jeder Sinn, jeder Halt löst sich auf in die Zersiedelung des Landes, die sich als Ort ausgibt und sogar einen Namen trägt, hinter dem sich die Ortlosigkeit zu verbergen scheint. Hier vermutet Eribon das genaue Gegenteil dessen, was er in Paris gesucht hat: den Glanz, die (sexuelle) Freiheit und die Bedeutsamkeit der Pariser Gesellschaft, des akademischen Lebens.
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Die Banlieue ist gewissermaßen die Rückseite, der Antipode jene_r Bewohner_in der inneren Stadtbezirke von Paris, die sich selbst als Mittelpunkt ihres Universums, als Subjekte ihrer Welt erleben. In einer Stadt, die zum Bersten gefüllt ist mit Bedeutung.2 Aber, und davon handelt Rückkehr nach Reims, Eribon ist nicht dieses bürgerliche Subjekt, das die Stadt als ständige Bestätigung der eigenen Existenz erfährt. Rückkehr nach Reims handelt von der Implosion der Entität ‚bürgerliches Subjekt‘ und von der Sichtbarmachung dessen, was die Vorstellung dieser Entität auszulöschen versucht: die Ökologien und Infrastrukturen seiner Ermöglichung, ihre Gewalt und die Gewalt ihrer Unsichtbarmachung. Das bürgerliche Subjekt hat natürlich eine Geschichte, aber seine Geschichte ist eine Bildungsgeschichte und womöglich die Geschichte eines sozialen Aufstiegs, der Abkopplung von den Milieus der Herkunft, die in der Ortlosigkeit zurückgelassen werden, und von denen die Integration, Inklusion oder Initiation in die ewigen Werte der bürgerlichen Welt erlösen sollen. Diesem Versprechen der Erlösung, so könnte man sagen, ist in Rückkehr nach Reims „der Prozess der Rückkehr“ (ebd., S. 10) entgegengestellt, der sich zuerst am Kaffeetisch der Mutter in Muizon ereignet. Auf einmal öffnet sich die Leere und eine andere Welt, eine andere Trauer, ein anderes Leid kommen zum Vorschein. „Alles wollte sie mir sagen, unermüdlich, ihre Worte überschlugen sich. Als sei ihr dar an gelegen, mit einem Mal die verlorene Zeit einzuholen und die Traurigkeit zu vertreiben, die unsere nichtgeführten Gespräche in ihr hinterlassen hatten. Wir saßen uns beim Kaffee gegenüber, ich hörte ihr zu. Aufmerksam, wenn sie von sich selbst berichtete, matt und gelangweilt, wenn sie die Großtaten ihrer Enkelkinder aufzählte, meiner Neffen, die ich nie getroffen hatte und die mich kaum interessierten.“ (ebd., S. 11)
Eine Bindung stellt sich hier her, schreibt Eribon, auch wenn er sich erst einmal nicht für die Person der Mutter, ihre Welt und ihre eigenen Bindungen interessiert, sondern für das, was für die Rekonstruktion der eigenen Geschichte von Bedeutung ist. Aber das ist ein Anfang: die Herkunft hat Bedeutung, weil sie Teil der eigenen Geschichte ist. Aber zugleich ist es so, als ob hier auf der anderen Seite etwas explodiert, das der Implosion des bürgerlichen Subjekts analog ist: Als ob der Mutter, der Welt der Mutter überhaupt zum ersten Mal zugehört wird und sie sich 2
„Wenn heutzutage von problematischen ‚Banlieus‘ oder von ‚Ghettos‘ die Rede ist“, schreibt Bourdieu in Ortseffekte, „so wird hierbei fast automatisch nicht etwa auf Wirklichkeiten Bezug genommen, die ja ohnehin jenen, die am eilfertigsten hierüber das Wort ergreifen, weitgehend unbekannt sind. Vielmehr sind hier Phantasmen angesprochen, die seitens Sensationspresse, Propaganda oder politischer Gerüchte mit emotionalen Eindrücken genährt werden, die mit mehr oder weniger unkontrollierten Begriffen und Bildern aufgeladen sind.“ (Bourdieu et al. 1997, S. 159)
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versichern muss, dass es ihre Welt, ihre Beziehungen zu den Menschen, die für sie von Bedeutung sind, überhaupt gibt, indem sie sie erzählt. Als habe die Abwesenheit und das Nichtzuhören Eribons bereits die Nichtigkeit dieses Lebens, dieser Leben bezeugt, denen jetzt doch noch eine Existenz zugesprochen werden könnte. Und es ist nicht nur der Eribon, der im Fernsehen aufgetreten ist, der in Paris lebt und jener Welt anzugehören scheint, die das Urteil über Existenz oder Nichtexistenz fällt, um den es hier geht. Auch wenn Eribon sich kontinuierlich weigert, dieser Welt ihr Existenzrecht zuzusprechen, er das Urteil darüber immer schon gefällt zu haben scheint: in diesen Gesprächen ereignet sich eine Begegnung von Welten, die nie wirklich voneinander getrennt waren. Mit der Abwesenheit des Vaters, seiner Alzheimer-Erkrankung, wird einerseits diese Begegnung möglich, andererseits offenbart sich in ihr aber auch die Nichttrennbarkeit, von der das Phantasma der Unteilbarkeit des bürgerlichen Subjekts heimgesucht wird. Der Vater ist abgesunken in das Vergessen, aber im Moment seines Verschwindens erscheint er erneut. Nicht als Person, sondern als Drohung. „Zwei oder drei Jahre [vor seinem Tod, S. T.] hatte mich die Nachricht von seiner Krankheit in tiefe Angst gestürzt. Nicht um ihn – es war zu spät, und ohnehin rief er in mir keinerlei Gefühl, nicht einmal Mitleid hervor –, sondern um mich selbst, egoistischerweise: Ist das erblich ? Bin auch ich bald an der Reihe ? […] Diese Obsession hat mich seither nicht mehr losgelassen. Strauchelt meine Erinnerung an einem Namen, einem Datum, einer Telefonnummer, erwacht sofort eine Unruhe. Überall sehe ich Anzeichen, ich erspähe sie, weil ich sie fürchte. Mein Alltagsleben wird gewissermaßen vom Gespenst des Alzheimer heimgesucht. Ein Gespenst, das aus der Vergangenheit auftaucht, um mich mit der Zukunft zu ängstigen. Auf diese Weise bleibt mein Vater ein Teil meines Daseins. Eine seltsame Art für einen verstorbenen Menschen, im Inneren des Gehirns eines seiner Söhne, am bedrohten Ort selbst, zu überleben.“ (Ebd., S. 14)
Das ist die Stelle, in der das Gespenst in Rückkehr nach Reims benannt wird: etwas, „das aus der Vergangenheit auftaucht, um mich mit der Zukunft zu ängstigen.“ Eribons Vater ist das ganze Buch hindurch die Figuration dessen, was abgelehnt wird, wovon Eribon sich abstößt, womit er nichts zu tun haben möchte. Er steht, anders als die Mutter, für die Homophobie der Arbeiterklasse, die Gewalt der väterlichen Autorität, das Unverständnis und die angebliche ‚Dummheit‘ seines Milieus ein. Und bis zum Schluss des Buches gelingt es nicht, zu dieser Figur eine Verbindung aufzubauen, indem sie selbst als etwas spürbar wird, was uneindeutig, lebendig, nicht nur verletzend, sondern verletzbar und verletzt sein könnte. Zum Vater kann keine Beziehung entwickelt werden, die Gefahr ist vielmehr, dass er Besitz ergreift, dass ‚man‘ zu ihm wird, dass er sich in die eigenen Gene und darüber hinaus in das eigene Hirn eingeschlichen hat und dort sein Unheil treibt, die intel-
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lektuellen Fähigkeiten bedroht, an denen das Versprechen des guten Lebens hängt. Er ist in die Zeitlosigkeit des Unbewussten abgetaucht und kann zu jeder Zeit und an jedem Ort zurückkehren. Nichtgealtert, ungebrochen gefährlich, Implosion all dessen, was erreicht wurde.
Melancholie „Deshalb bedeutet die Rückkehr in ein Herkunftsmilieu, aus dem man hervor- und von dem man fortgegangen ist, immer auch eine Umkehr, eine Rückbesinnung, ein Wiedersehen mit einem ebenso konservierten wie negierten Selbst. Es tritt dann etwas ins Bewusstsein, wovon man sich gerne befreit geglaubt hätte, das aber unverkennbar die eigene Persönlichkeit strukturiert: das Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören, die schier unvereinbar weit auseinanderliegen und doch in allem, was man ist, koexistieren. Eine Melancholie, die aus einem ‚gespaltenen Habitus‘ erwächst, um diesen schönen und kraftvollen Begriff Bourdieus aufzugreifen. Dieses unterschwellige, diffuse Unbehagen, und mit ihm eine noch stärkere Melancholie, drängt genau dann an die Oberfläche, wenn man glaubt, es hinter sich gelassen zu haben. Diese Gefühle waren nie ganz weg, und man entdeckt dann, oder besser, man entdeckt wieder, wie sie tief in unserem Selbst verkrochen, in uns arbeiten und auf uns wirken. Kann man ein solches Unbehagen jemals überwinden ? Kann man der Melancholie entkommen ?“ (Ebd., S. 12)
Eribon bringt hier den soziologischen Begriff des gespaltenen Habitus mit der Melancholie zusammen, etwas, das Bourdieu meines Wissens an keiner Stelle tut. Damit öffnet er den soziologischen Diskurs für nichtsoziologische Modelle von Zeit und Differenz. Die Melancholie als psychoanalytisches Konzept handelt vom Nicht-vergehen-Können des Vergangenen, vom Festhalten des Vergangenen als Gegenwart und von der Abhängigkeit des Zukünftigen vom Vergangenen. Der gespaltene Habitus wiederum bezieht sich auf seine widersprüchliche Aktualisierung als Unterwerfung unter und Aufbegehren gegen die gesellschaftlichen Institutionen. In diesem Sinne ist er so etwas wie ein Festhalten an der Herkunft als Wunsch nach der Befreiung von der Herkunft. In Ein Soziologischer Selbstversuch verknüpft das Konzept des gespaltenen Habitus die persönliche Erfahrung Bourdieus mit der spezifischen wissenschaftlichen Praxis der Bourdieu’schen Soziologie, wie der hochtheoretischen Annäherung an ‚gewöhnliche‘ Gegenstände oder das „Fehlen einer jeden Geringschätzung für empirische Genauigkeit“ (Bourdieu 2002, S. 115). Vor allem aber erzeugt der gespaltene Habitus – so jedenfalls Bourdieu – eine Gleichzeitigkeit von Distanz und Affirmation dem bürgerlich/akademischen Milieu gegenüber, eine Aufmerksamkeit für seine Posen und Selbstlügen, seinen als Kritik getarnten Konformismus.
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Wenn Eribon den gespaltenen Habitus mit der Melancholie verbindet – auch wenn er kurz zuvor noch die Überlegenheit der Sozioanalyse gegenüber der „irreführenden“ (Eribon 2016, S. 11 f.) Begrifflichkeit der Psychoanalyse betont hatte –, dann ändern sich die Koordinaten. Bourdieus komplexes Modell der mit dem gespaltenen Habitus verbundenen begrifflichen Versöhnung der Widersprüche wird aufgekündigt: Eribon gibt so nicht nur dem Nicht-vergehen-Können des Vergangenen statt, sondern unterläuft zugleich die Systematik einer Versöhnung der Widersprüche. Melancholie und gespaltener Habitus bezeichnen nicht nur die Verschränkung (entanglement) von Zugängen, Gegenstandsbereichen, Disziplinen: der Sozioanalyse und der Psychoanalyse, sie verknüpfen das spacetimemattering des Psychischen mit dem des Sozialen. Geht es bei der Melancholie in der klassischen Freud’schen Fassung um die Bindung an ein verlorenes Objekt, das die Möglichkeit neuer Objektbesetzungen in der Gegenwart verhindert, so handelt der gespaltene Habitus von der Widersprüchlichkeit von ‚Herkunft‘ und sozialem ‚Aufstieg‘ in ein Milieu, in das die Welt der Herkunft nicht integriert werden kann. Es ist dieses Moment der Diskontinuität, des Bruchs mit der Gegenwart, mit der Welt, der beide auszeichnet. Und von diesem Bruch, so könnte man vielleicht sagen, von diesem Riss in der Erfahrung der Welt, nehmen sowohl die Psychoanalyse Freuds als auch die Sozioanalyse Bourdieus ihren Ausgang. „Der Konflikt im Ich, den die Melancholie für den Kampf um das Objekt eintauscht, muß ähnlich wie eine schmerzhafte Wunde wirken, die eine außerordentlich hohe Gegenbesetzung in Anspruch nimmt.“ (Freud 1999, S. 446)
Was ist allerdings das Schicksal dieses Bruchs ? Wohin führt er ? Bourdieus Soziologie ist eine genaue Analyse der Bedingungen der Reproduktion von Herrschaft. Die Bedingung ihrer Begriffsbildung ist jedoch die beinahe totale Abhängigkeit und Unterworfenheit der subalternen Welten unter die zwar mehrdimensionale, aber immer hierarchische Anordnung des Raums. Die subalternen Welten der Herkunft sind nicht in der Lage, eine eigene Wirklichkeit, eigene Welten hervorzubringen, sie bleiben der Schatten der bürgerlichen Welt. Bourdieu hält so an der einen sozialen Welt fest und schiebt die Gespenster in den Habitus ab. Genau darin liegt auch die Spannung der Sozioanalyse zur Psychoanalyse, die Bourdieu einerseits versöhnt und andererseits verwirft. An die Stelle des Bruchs, der Diskontinuität, so ließe sich fast freudianisch formulieren, tritt bei Bourdieu Wissenschaft bzw. Soziologie. „Den Standpunkt der Reflexivität einzunehmen bedeutet nicht, auf Objektivität zu verzichten, das heißt, man muss sich in den eigenen Begriffen der von dem wissenschaftlichen Subjekt konstruierten Objektivität über das empirische ‚Subjekt‘ klar wer-
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den – vor allem dadurch, daß man es an einem bestimmten Ort des gesellschaftlichen Raumes und der gesellschaftlichen Zeit einordnet – und dadurch das Bewußtsein und die (mögliche) Beherrschung der Zwänge gewinnen, die auf das wissenschaftliche Subjekt einwirken können durch all seine Bindungen an das empirische Subjekt, seine Interessen, seine Triebe, seine Vorurteile, Bindungen, die es unterbrechen muß, um sich gänzlich zu verwirklichen.“ (Bourdieu 1993, S. 373)
Rückkehr nach Reims ist deshalb so wichtig, weil es Zeugnis von der Unmöglichkeit ablegt, aus dieser Unterbrechung einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit zu generieren. Die Diskontinuität sozialer Differenz hört hier nicht auf zu beunruhigen, zu stören, sich zu widersetzen. Und das hat vielleicht mit dem Widerstand gegen die Objektivierung zu tun, von der Bourdieu (in Anlehnung an die Freud’sche Verneinung) an anderer Stelle spricht (vgl. Bourdieu 1997, S. 788). Widerstand gegen die Objektivierung ist ja gerade der Widerstand gegen die Heimsuchung durch die soziale Differenz, die Bourdieu als Objektivierung bezeichnet, weil sie tatsächlich etwas unterbricht: die Transparenz und Selbstgewissheit der doxischen Erfahrung. Jener Erfahrung also, in der die Welt spiegelt, was ich bin, ihre Einrichtungen nichts anderem zu dienen scheinen, als der Bestätigung meines Subjektstatus, meiner Handlungsmacht. In einem bestimmten Sinne rührt die Kraft von Bourdieus Soziologie daher, dass es gerade die subalterne Handlungsmacht der Diffraktion (vgl. Trinkaus 2013) ist, dem cutting together-apart der Dis/Kontinuität Barads, auf dem sie gründet (und die sie zumindest teilweise leugnet oder eher ‚sublimiert‘). Rückkehr nach Reims ist letztlich ein anderes Manöver, ein anderes taktisches Gefüge: Es affirmiert und reproduziert in den konstativen Äußerungen die Bourdieu’sche Abwehr der Unintegrierbarkeit des Bruchs, unterläuft sie aber in seiner eigenen performativen Praxis, in der Sozioanalyse und Psychoanalyse ununterscheidbar und damit ganz neue Verknüpfungen und Perspektiven zwischen ihnen möglich werden. In diesem Sinne ist das Intervall des nichtgespaltenen Habitus vielleicht so etwas wie das Äquivalent der Freud’schen Vorstellung der Trauer (so wie der gespaltene Habitus mit der Melancholie verschränkt ist): eine Anwesenheit des Vergangenen, die sich nicht im Vergangenen festkrallt, sondern es zum Modus eines gegenwärtigen Erfassens des Zukünftigen macht. Auf diese Weise kann es – anders als der gespaltene Habitus – zu einer bruchlosen Reproduktion des sozialen Raums beitragen, in dem alles an seinem Ort bleibt – eben auch die Zeit. Vielleicht ist es bei Eribon tatsächlich der unversöhnliche Widerspruch von sozialer und sexueller Differenz, die brutale Homophobie des Herkunftsmilieus, die nicht nur das Ankommen in der bürgerlichen Gegenwart, sondern auch die ‚Befriedung‘ oder eher ‚Sublimierung‘, die der gespaltene Habitus in der Bour dieu’schen Soziologie findet, verhindert.
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„Ich wurde von zwei sozialen Verdikten gebrandmarkt, einem sozialen und einem sexuellen. Solchen Urteilen entkommt man nicht. Diese beiden Einschreibungen trage ich in mir. Als sie in einem bestimmten Moment meines Lebens miteinander in Konflikt traten, musste ich, um mich selbst zu formen, die eine gegen die andere ausspielen.“ (Eribon 2016, S. 219)
In Rückkehr nach Reims ist die Distanzierung von den akademischen Eliten jedenfalls viel prekärer als im Selbstversuch, die Affirmation nicht auf die Einhaltung der (schulischen) Regeln gerichtet wie bei Bourdieu – das war für Eribon unmöglich –, sondern auf das Versprechen der Öffnung durch Bildung, durch den Glanz der ‚Intellektuellen‘ (Sartre, de Beauvoir, Lévi-Strauss, Foucault, Genet, Baldwin etc.), für den Bourdieu weitgehend unempfindlich bleibt. Bourdieu wendet sich dem ‚Gewöhnlichen‘ zu, Eribon den großen Persönlichkeiten des akademischen Lebens. In Bourdieus Texten hat man das Gefühl, die Affirmation der bürgerlichen Welt sei tatsächlich ‚aufgehoben‘ in ihrer kritischen Analyse, bei Eribon wirkt sie fort als affektive Delokalisierung, als Scham, als latenter Widerstand gegen jede Systematisierung. Der gespaltene Habitus und die Melancholie handeln von Gespenstern. Das ist die Ausgangskonstellation, das, was Rückkehr nach Reims im eigentlichen Sinne zu bedeuten scheint: einem Gespenst zu begegnen, das man selbst ist, in dem Sinne, dass man kein einheitliches, selbstbestimmtes Subjekt ist, kein ‚Bürger‘ also, sondern immer auch das, was man nicht (mehr) sein will, was einen hervorgebracht hat und bewohnt. Das Selbst der Melancholie und des gespaltenen Habitus ist ständige Heimsuchung durch etwas, das sich in keine Kohärenz, in keinen Sinn überführen lässt: Eine Nichtgegenwärtigkeit des Gegenwärtigen, eine Anwesenheit dessen, was gewesen ist, ohne vergangen zu sein. Die ganze erste Hälfte von Rückkehr nach Reims und vielleicht das ganze Buch scheint zu behaupten, dieses Auftauchen des Gespenstes in eine soziologische Kategorie rückbinden zu können und in eine soziokulturelle Analyse und eine politische Strategie zu überführen. Und die große Stärke dieses Buches ist, dass dies tatsächlich niemals gelingt, dass es wohl auch nicht gelingen soll: alles hängt davon ab, die Scham, das Straucheln, die Irritation nicht aufhören, es an keiner Stelle zu einer Objektivierung der eigenen Erfahrung kommen zu lassen. Eribon, der Text oder was auch immer hier agiert, ‚weiß‘, dass es mit der Versöhnung der Gegensätze nicht getan ist: Soziale Herkunft, soziale Differenz ist nicht nur eine soziologische Kategorie, ein Organisationsprinzip des sozialen Raums, sondern eine grundlegende Verunsicherung, eine Heimsuchung, eine Erschütterung des Raumzeitkontinuums der einen modernen, bürgerlichen Welt: ein Gespenst.
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Heimsuchung Derrida hat in Marx’ Gespenster versucht, Marx aus einer Logik des Fortschritts, der linearen Zeit und des mechanischen Determinismus zu lösen und seiner nichtgegenwärtigen Anwesenheit, seiner Dringlichkeit, der Dringlichkeit dessen, worum es bei der Nennung seines Namens geht, gerecht zu werden. Damit bietet Derrida einen wichtigen Anknüpfungspunkt, soziale Differenz nicht als Gegeneinander-Ausspielen von Sozioanalyse und Psychoanalyse zu denken, sondern als Verschränkung beider Bewegungen, als Gleichzeitigkeit von Aus- und Einfaltung von sozialer/zeitlicher Differenz. Mir scheint es jedenfalls nahe zu liegen, die Melancholie Eribons und den gespaltenen Habitus Bourdieus an Derridas doppelte Hamlet- und Marx-Lektüre in Marx’ Gespenster zu knüpfen: „Time is out of joint“ und: „Ein Gespenst geht um in Europa“, in der Derrida die Frage der sozialen Differenz als eine Frage der Zeitlichkeit behandelt, als unaufhebbares, nichtlokalisierbares Im-Kommen-Sein von Gerechtigkeit. Mit dem Gespenst des Kommunismus erscheint dieses Im-Kommen-Sein auch als Drohung und als Gewalt, als Heimsuchung durch das, was nicht integriert, nicht ‚aufgehoben‘ oder ‚sublimiert‘ werden konnte: Ein Aus-denFugen-Geraten der Zeit, ihre innere Gespaltenheit und Unverfügbarkeit. „Die Heimsuchung ist historisch, gewiß, aber sie hat kein Datum, sie schreibt sich nie fügsam in die Kette der Gegenwarten ein, von Tag zu Tag, gemäß der institutionalisierten Ordnung eines Kalenders.“ (Derrida 1995, S. 18)
In der ersten Szene von Hamlet will der Offizier Marcellus Hamlets Freund Horatio von der Existenz des Gespenstes, das ihm bereits begegnet ist, überzeugen. Er führt ihn auf die Terrasse vor dem Schloss, wo das Gespenst dann tatsächlich erscheint: „Thou art a scholar; speak to it, Horatio.“ (Shakespeare 1955, S. 78)3, wendet sich der ‚ungebildete‘ Soldat an den ‚Gelehrten‘. Aber Horatio weiß nicht, wie er dem Gespenst antworten soll, er vergreift sich im Ton, verärgert und vertreibt es. „Es hat nie einen scholar gegeben“, schreibt Derrida, „der als solcher nicht an die scharfe Trennung von Realem und Nicht-Realem geglaubt hätte, von Faktischem und NichtFaktischem, Lebendem und Nicht-Lebendem, Sein und Nicht-Sein (to be or not to be im Sinne der konventionellen Lesart), an die Opposition zwischen dem, was präsent ist, und dem, was es nicht ist, zum Beispiel in der Form des Gegenständlichen. Jenseits dieser Opposition gibt es für den scholar nur gelehrte Hypothesen. Theatralische Fiktionen, Literatur und Spekulation.“ (Derrida 1995, S. 29; Hervorhebungen im Original) 3
„Du bist gelehrt, sprich du mit ihm, Horatio !“
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Der scholar ist also genau derjenige, der die Grenzen konstituiert, die vom Gespenst heimgesucht werden, also derjenige, der am wenigsten dazu in der Lage scheint, ihm zu antworten. „Aber“, fährt Derrida fort, „Marcellus war vielleicht nicht in der Situation, zu begreifen, daß ein klassischer scholar nicht zu Gespenstern spricht. Er wußte nicht, was die Singularität eines Standpunkts ist – sagen wir nicht: Eines Klassenstandpunkts, wie man früher tat, sondern die Singularität eines Ortes in der Rede, eines Ortes der Erfahrung und eines Bandes der Abstammung, Orte und Bindungen, von denen allein aus man sich dem Gespenst zuwenden kann.“ (Ebd., S. 30; Hervorhebung im Original)
Das ist nach Derrida, was Marx zumindest teilweise begreift: dass es nicht die ‚Gelehrsamkeit‘, nicht die Universalität des Wissens ist, von dem aus zum Gespenst gesprochen werden kann, sondern die eigene Eingebundenheit, die eigene Herkunft, die Situiertheit. Der Nicht-Ort des Gespenstes gehört der Singularität einer situativen Bindung, einem Ort der Erfahrung an, einem Milieu, einer Welt, die aus der Out-of-jointness der Zeit kommt, nicht aber aus einer bestimmbaren, linearen Genealogie. Das Gespenst bezeugt gewissermaßen die Gewalt, die in der Vorstellung liegt, das Historische, die Herkunft, sei raumzeitlich lokalisierbar, einfach der zeitliche Ort, aus dem die Gegenwart hervorgegangen sei. Die Singularität des sogenannten ‚Standpunkts‘, des ‚Klassenstandpunkts‘, wäre dann genau das nicht: sie bricht mit der Vorstellung des modernen Universalismus der ‚einen Welt‘ und verweist auf das Insistieren einer diffraktiven Verschränkung der vielen Welten. Die soziale Differenz ist immer auch eine ontologische Differenz, ein Effekt der Vielheit der Welten, die bei Derrida, so wie ich ihn verstehe, Hantologie (vgl. ebd., S. 27) heißt. Bourdieus Konzept des Habitus konstruiert raumzeitliche Kontinuität über ein zeitliches Intervall, hat also bereits eine gespenstische Dimension. Eribon geht darüber hinaus, wenn er das Affektive, das Psychische und das Schreiben als eigen dynamische Prozesse einführt, die mit der Prozessualität des Sozialen interferieren, auch wenn er auf der konstativen Ebene die Sozioanalyse gegen die Psychoanalyse weiter auszuspielen scheint. Ein wenig ist Eribon in diesem Buch der Marcellus, der dem Gespenst begegnet und der der Wissenschaft zutraut, ihm zu antworten, dabei aber ignoriert, dass die Gelehrsamkeit sich immer auch gegen das Gespenst konstituiert hat (auch wenn sie gerade dadurch mit ihm verschränkt ist). Eribon selbst wird aber in Rückkehr nach Reims nie zum Gelehrten und auch nie vollständig zum Wissenschaftler, vielmehr bleibt die Wissenschaft bei ihm an die Versprechen der akademischen Welt gebunden, an die er sich mit dem heranwachsenden, bildungshungrigen Trotzkisten aus Reims und dem jungen Schwulen in der glanzvollen Welt der Pariser Intelligenzija erinnert und denen er affektiv verbun-
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den bleibt. Und die zugleich verschränkt sind mit dem Verrat, der Gewalt der bürgerlichen Herrschaft, des Klassismus und der Illusion der Auslöschung der Herkunft. In gewisser Weise ist es in Rückkehr nach Reims so, als ob Marcellus selbst auf das Gespenst geantwortet hätte und zwar ein Marcellus, der immer noch daran glaubt, nur ein scholar könne antworten und deshalb ein scholar geworden und ein Marcellus geblieben ist: ein spezifisches spacetimemattering, situierte Diffraktion. Rückkehr nach Reims ist ein Gespensterbuch, jede Zeile spricht von der Unmöglichkeit der Homogenisierung oder Objektivierung der Erfahrung. Einer Erfahrung, die nicht subjektiv ist, weil sie nicht von einem Subjekt gemacht wird. Das erste Kapitel von Gesellschaft als Urteil (2017), das die Entstehungsbedingungen von Rückkehr nach Reims reflektiert, handelt davon. Das Foto auf dem Cover der deutschen Ausgabe von Rückkehr nach Reims, auf dem man den jungen Eribon sieht und seinen neben ihm stehenden Vater nicht sieht, weil er aus dem Foto her ausgeschnitten wurde, thematisiert das Gespenst als Gegenwart einer Nichtanwesenheit, und unterläuft die Ebene der Analyse, die behauptet: „Mit Erinnerungen kann man tricksen, mit Fotos nicht. Egal wie schlecht oder ob man sich gar nicht mehr erinnert, sie zeigen die Welt so, wie sie war, nicht als Wille, sondern als Vorstellung: das Reale, wie es gewesen ist. Ich halte diese Fotografien sorgsam zurück.“ (Eribon 2017, S. 17 f.) Ich denke, hier wird tatsächlich „das Reale, wie es gewesen ist“ zurückgehalten, denn ins Spiel gebracht wird, dass die Gegenwart niemals einfach „das Reale, wie es gewesen ist,“ sein wird, sondern immer schon von anderen Fotografien heimgesucht, anderen Erinnerungen, anderen Toten, anderen Verletzungen, anderen Zeiten. Die Scham, die in Gesellschaft als Urteil, stärker aber noch in Rückkehr nach Reims selbst verhandelt wird, ist so wenig linear wie die Erinnerung oder das Unbewusste bei Freud, sie ist gerade das, was in der linearen Geschichte einer sexuellen Befreiung oder eines sozialen Aufstiegs verworfen wird. Die Psychoanalyse kann dem so wenig antworten wie die Sozioanalyse, Horatio so wenig wie Marcellus, erst in ihrer Verschränkung, in der situierten, diffraktiven Irritation des ‚Gegebenen‘, erscheint das Gespenst, erst dann kann es eine Antwort geben.
Involution Ich möchte gerne mit einer anderen Welt, einer anderen Antwort enden: die französische Schriftstellerin Annie Ernaux, eine der wichtigsten Bezüge und Vorbilder für Rückkehr nach Reims, kommt gegen Ende ihres Buchs Die Jahre (2017), einer unpersönlichen Autoethnografie der eigenen Lebenszeit, die versucht, über Fotos das alltägliche Erleben der historischen Zeit zu rekonstruieren, auf eine Szene zu sprechen, die nicht von Bildern handelt, nicht von der Zeit als ‚Geschichte‘ und auch nicht vom Gespenst. In dieser Szene sind wir in einer völlig anderen Ein-
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faltung der Raumzeit, vielleicht in der Verschränkung von sexueller und sozialer Differenz, in dem, was Luce Irigaray Das Geschlecht, das nicht eins ist (2016), genannt hat: „Oft, wenn sie an Sonntagen nach dem Sex an seiner Seite vor sich hindämmert, gerät sie in einen seltsamen Zustand. Dann weiß sie nicht mehr, von woher, aus welcher Stadt, die Geräusche der Autos, Schritte und Gespräche zu ihr dringen. Sie liegt auf ihrem Bett zwischen den Trennwänden im Schlafsaal des Mädchenwohnheims oder in einem Hotelzimmer – in Spanien im Sommer 80, in Lille mit P. im Winter – oder hat sich als Kind neben ihrer schlafenden Mutter zusammengerollt. Sie spürt sich selbst in verschiedenen Momenten ihres Lebens, die übereinander zu schweben scheinen. Ein fremdes Zeitempfinden ergreift Besitz von ihr und ihrem Körper, eines, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart überlagern, aber nicht ineinander aufgehen, in dem sie das Gefühl hat, für einen Augenblick noch einmal alle die verschiedenen Gestalten ihres Lebens anzunehmen.“ (Ernaux 2017, S. 214)
Hier sind wir nicht beim Gespenst, nicht bei dem, was wir sein müssen, weil wir es nicht sein wollen, nicht in der Melancholie oder dem gespaltenen Habitus. Hier sind wir in den Interferenzen des spacetimematterings selbst, die nie vergehen, uns immer bewohnen, ermöglichen. Wir leben nicht im unaufhaltsamen Fortschreiten der Zeit, im Verlöschen der Spuren. Wir sind diese Interferenzen, diese Involution der Zeiten und Räume. Wir gehören uns nicht. Wir gehören niemandem.
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Intersektionale Kritiken
Von der Rückkehr nach Reims zur Vielfalt der Kämpfe Überlegungen zu Eribons Perspektive auf Rassismus und zur Intersektionalität von white wages Vanessa E. Thompson
„Alles ist miteinander verknüpft“ Der Hörsaal C des Hörsaalgebäudes an der Universität zu Köln ist am 17. Januar 2019 um 19:00 Uhr voll besetzt. Es sitzen Personen auf dem Boden und stehen sogar noch in der Eingangstür des Hörsaals. Sie alle sind gekommen, um Didier Eribon im Gespräch mit Cornelia Koppetsch und Nina Möntmann über die neue Debatte um die Notwendigkeit des Klassenbegriffs sowie aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in Frankreich, Deutschland und Europa zu hören und mitzudiskutieren. Eribon und Koppetsch erläutern in kurzen Eingangsstatements ihre Überlegungen zu neuen Dimensionen der Klassenpolitik, dem Erstarken der Rechten und den länderspezifischen Unterschieden, die sich dazu in Deutschland und Frankreich zeigen. Als die Frage aufkommt, welche Rolle dabei neue soziale Bewegungen oder auch ‚Identitätspolitiken‘ spielen oder ob eine Fokussierung auf diese das Erstarken der Rechten nicht auch mitbegünstigt habe, erwidert Eribon, dass er sich von einer politischen Trennung zwischen ‚Identitätspolitik‘ und ‚sozialer Frage‘ distanziere. Damit wolle er auch deutlich machen, dass er über die dominante Rezeption seines Buches Rückkehr nach Reims (2016) in Deutschland als eine Kritik an Identitätspolitik(en) und ein Plädoyer für die Wiederentdeckung der ‚sozialen Frage‘ erstaunt und befremdet sei. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus dem Vorjahr hatte Eribon sich bereits von dieser Lesart distanziert: „Aber wenn Sie mein Buch richtig lesen, stellen Sie fest, dass ich keinen Gegensatz zwischen den Interessen der Arbeiterklasse und denen des Feminismus, Antirassismus, der LGBT-Bewegung und der Ökologie aufmache. Eine wirklich linke Partei kann nur all diese Themen gemeinsam angehen. Alles ist miteinander verknüpft.“ (Kilb und Siemons 2018) © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Kalmbach et al. (Hrsg.), Eribon revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30561-1_8
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Dieser Verknüpfung in Eribons Rückkehr nach Reims soll im Folgenden nachgegangen und dabei rassismuskritisch ausgelotet werden, welchen Beitrag Eribons Analyse für intersektionale Klassenpolitiken bereitstellen könnte. Im ersten Teil des Beitrags wird die Rezeption von Rückkehr nach Reims in Deutschland mit Fokus auf politikwissenschaftliche und soziologische öffentlichkeitswirksame Debatten um soziale Fragen und Identitätspolitiken diskutiert. Darauf folgt eine Diskussion von Eribons Ausführungen in Rückkehr nach Reims mit besonderem Fokus auf seine Erklärung des gegenwärtigen Erstarkens von Rassismus (im dritten Kapitel). Im darauffolgenden Teil werde ich unter aktualisierter Bezugnahme auf W.E.B. Du Bois’ Konzept der wages of whiteness (1962) Eribons Deutungen rassismuskritisch wenden. Abschließend gehe ich mit Bezug auf Angela Davis’ Konzept der Intersektionalität der Kämpfe (2015) auf die Implikationen dieser Wendung für ‚intersektionale Klassenpolitiken‘ ein.
Das Vergessen der sozialen Frage ? Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen gesellschaftlichen Erstarkens von Rassismus und den Erfolgen rechtsnationalistischer Parteien in Europa und den USA lässt sich auch eine aktualisierte Abwehr gegenüber rassismuskritischer und intersektionaler Theorie und Praxis in gesellschaftstheoretischen Analysen und Debatten beobachten. Im Rahmen der Debatte über Klassen- und Identitätspolitik und Erklärungsansätze zu dem Erstarken von rassistischen und rechtsnationalistischen Bewegungen wird die soziale Frage dabei zunehmend der Diskussion um marginalisierte Identitäten und Gruppen gegenübergestellt. Auch in Deutschland wird mit Bezug auf die weitere Normalisierung rassistischer Gewaltförmigkeit öffentlichkeitswirksam in Wissenschaft, Medien und Bildungspolitik über die ‚Falle der Identitätspolitik‘ diskutiert (dazu kritisch Dowling, van Dyk und Graefe 2017; Kastner und Susemichel 2018). So unterschiedlich die gesellschaftstheoretischen Analysen auch sind und so sehr sich die Kontexte, Konjunkturen und Logiken des gesellschaftlichen und politischen Erstarkens von rechts unterscheiden, vielen der Erklärungsansätze ist doch einiges gemein: Dem ‚Zuviel‘ an Identität der neuen sozialen Bewegungen und dem Erstarken von rassistischen Bewegungen in Europa sowie den USA sollte die Wiederentdeckung der sozialen Frage und die Problematisierung von Identitätspolitik entgegengesetzt werden, um die Leiden und Ängste der ‚Abgehängten‘ (beispielsweise Wähler*innen für das Brexit-Votum, gegen die Renzi-Reform, für Trump, für die AfD in Deutschland, den Front National in Frankreich und das Forum voor Democratie in den Niederlanden) nicht nur verstehen, son-
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dern um ein neues Fundament emanzipatorischer solidarischer Politik legen zu können.1 Auch in Deutschland wird vor dem Hintergrund des Erstarkens der nationa listischen Rechten und der weiteren Normalisierung rassistischer Gewaltförmigkeit seit 2017 öffentlichkeitswirksam über die ‚Falle der Identitätspolitik‘ diskutiert (vgl. Berendsen, Cheema und Mendel 2019). So entfachte sich nach Donald Trumps Inauguration auch eine Debatte in den deutschen Feuilletons und Zeitschriften. Die Politikwissenschaftler Dirk Jörke und Nils Heisterhagen schreiben in der FAZ am 26. Januar 2017, dass die Vernachlässigung der sozialen Frage durch die Linke, verstanden in einem weiteren Sinne, den Aufstieg des Rechtspopu lismus zu einem großen Teil mitverschuldet habe. Sie argumentieren, dass „Antidiskriminierungspolitik, Vielfaltseuphorie und politisch-korrekte Sprache“ dazu führen, den „kleinen Mann“ zu vergessen. Auch Winfried Thaa stimmt dieser These in seinem taz-Kommentar vom 07. März 2017 weitestgehend zu und erklärt, die Politik habe sich in der Gestalt des Populismus vor dem Hintergrund der Depolitisierung durch die Identitätspolitik zurückgemeldet. In dieser, vor allem publizistisch ausgetragenen Debatte, blieb die These der ‚Falle der Identitätspolitik‘ nicht unwidersprochen und es wurden Verbindungslinien und komplexe Zusammenhänge zwischen marginalisierten Identitäten, Ausbeutung, Unterdrückung und intersektionalen Re-produktionsverhältnissen herausgearbeitet bzw. auf historische Analysen verwiesen, wie bspw. die des Combahee River Collectives (vgl. Dowling, van Dyk und Graefe 2017; Kastner und Suse michel 2018; Purtschert 2017). Heike Mauer (2017) und Aram Ziai (2017) stellen in diesem Zusammenhang in ihren Repliken eine intersektionale und postkoloniale Kritik der Debatte vor und argumentieren, dass Ausgrenzung und Ausbeutung, daher auch die Politik um gelebte Erfahrungen und marginalisierte Identitäten und soziale Gerechtigkeit nicht nur keinesfalls als konkurrierende Prioritäten verstanden werden dürften, sondern die Analyse ihrer Verknüpfungen zentral für die Kritik an neoliberalem postkolonialem Kapitalismus und seinen Reproduk tionsverhältnissen ist. Peggy Piesche stellt in ihrem Beitrag heraus, dass die Diskussion um den backlash durch die Rechte impliziere, dass marginalisierte und 1
So konstatiert Nancy Fraser bspw. in ihrer Kritik am „progressiven Neoliberalismus“ (2017), dass der Schulterschluss von den Diskursen um die Rechte marginalisierter Gruppen mit der individualisierenden meritokratischen Logik der Finanzialisierung zu der Vernachlässigung potentieller Allianzen und Bündnisse zwischen der Arbeiter*innenbewegung und den neueren sozialen Bewegungen geführt habe. Francis Fukuyama erklärt in seinem Buch Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet (2018), dass Identitätspolitiken nicht nur das Erstarken der Rechten befördern, sondern die Demokratie selbst bedrohen würden durch die Verschiebung auf ‚Partikularinteressen‘ bei gleichzeitiger Abwendung von Fragen sozialer Ungleichheit.
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rassifizierte Gruppen mit ihren Kämpfen gegen intersektionale Machtverhältnisse das Erstarken des Rassismus selbst provoziert hätten, und verweist auf die hochproblematische Dimension dieser Rhetorik (2017). Diese und weitere Interventionen (vgl. Susemichel und Kastner 2019) problematisieren u. a., dass, während die ‚Anderen‘ auf Identitäten reduziert und aus der Produktionssphäre ausgeschlossen werden, die Identität des ‚kleinen weißen Mannes‘ in der dominanten Debatte um die soziale Frage universalisiert wird. So ist es auch nicht überraschend, dass alleinig von Sorgen und existentiellen Ängsten die Rede ist, während rassistische, hetero-sexistische und besonders trans*feindliche Angriffe steigen und die Ängste und Kritik von Mehrfachmarginalisierten als Form von ‚Identitätspolitik‘ zum Schweigen gebracht werden (vgl. Piesche 2017). Zudem wird darauf hingewiesen, dass die ‚Vergessenen‘ und ‚Abgehängten‘ hier als Klassensubjekt homogenisiert werden, das zugleich nicht als weiß benannt wird. So werden diejenigen, die besonders stark von sozialer und ökonomischer Prekarisierung betroffen sind (Migrant*innen, People of Color, Frauen*, besonders alleinerziehende Frauen* of Color und Migrant*innen) nicht als potentiell abgehängt wahrgenommen und ihren Kämpfen wird kein sozio-ökonomisches Anliegen zugesprochen (vgl. Dowling, van Dyk und Graefe 2017). Die genannten Interventionen zeigen, dass wenn der Diskurs um die ‚Vergessenen, De/klassierten und Abgehängten‘ nur für weiße Menschen (und hier besonders Männlichkeiten) reserviert ist, sozio-ökonomische Position mit einer bestimmten (rassifizierten) Identität gleichgesetzt wird und alleinig für soziale Klasse steht. So konstatiert Gurminder K. Bhambha in ihrer Kritik an methodological whiteness: „Ironically, the return to ‚class‘ via a focus on the white working class shows the purported concern with socio-economic realities actually to be a concern with a new identity politics of race – where ‚whiteness‘ trumps class position.“ (Bhambra 2017, S. 219)
Ein Autor, der im Rahmen dieser Debatten gerne zitiert und herangezogen wird, ist der französische Soziologe und öffentliche Intellektuelle Didier Eribon. Zwar stützt sich die deutsche Rezeption seines viel diskutierten Buches Rückkehr nach Reims auf seine Betonung der Klassenfrage (vgl. Demirović 2016; Kaindl 2016; Rilling 2016), Eribon selbst jedoch versteht diese nicht als Gegenüberstellung zu Kämpfen marginalisierter Identitäten und betont deren Verknüpfung. Gleichzeitig, und das möchte ich im Folgenden am Beispiel seiner Erklärung zum Erstarken des Rassismus in Frankreich herausstellen, weist Eribons Perspektive Leerstellen auf, die eine Konzeptualisierung von intersektionaler Politik für ‚neue‘ Klassenpolitiken erschweren, da er in seinen Ausführungen Rassismus (und verschränkte Machtverhältnisse) eher als Effekte betrachtet. Während ich Eribons Einschätzungen in Bezug auf die gegenwärtige politische Konjunktur (besonders
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in Frankreich aber auch darüber hinaus) an vielen Stellen teile, bleibt eine dezidiert rassismuskritische Perspektive doch an vielen Stellen aus. Daher werde ich im Folgenden Eribons Ausführungen, die an vielen Stellen auch Widersprüche aufweisen, mit W.E.B. Du Bois Konzept der white wages in Konversation bringen, um die Rolle von weißsein als sozial-psychologischem Ertrag im Rahmen gegenwärtiger Konjunkturen des Rassismus zu diskutieren. Schließlich verweise ich im Ausblick auf die Möglichkeiten der intersektionalen Wendung dieser Analyseperspektive.
Rückkehr nach Reims In dem autobiografisch-soziologischen Roman Rückkehr nach Reims, den Eribon selbst als Hontoanalyse beschreibt, legt er poetologisch die Innenanalyse der verkörperten Scham auf die Herkunft aus einem Arbeiter*innenmilieu frei. Ausgangspunkt ist die Rückkehr, die auch eine Neujustierung bedeutet, in seine Heimatstadt Reims, in der er seit Jahrzehnten nicht mehr war und von der er sich auf dem Weg vom Arbeiter*innenkind in das schwule und akademische Milieu als Professor für Soziologie beschämt abgewendet hat. Dabei ist seine Geschichte zugleich eine des Bildungsaufstiegs, der „fast, aber doch nicht ganz“ (Bhabha 2000, S. 126) einen Habituswechsel impliziert; der sozialen und institutionellen Reproduktion von sozialer Ungleichheit und der affizierten Klassenscham; der Herausbildung einer schwulen Identität in einem homophoben Umfeld und der politischen Hinwendung der französischen Arbeiter*innen in der Nachkriegszeit von der kommunistischen zu rechtsextremen Parteien. Bereits in diesem Spannungsfeld stellen sich Fragen der Verschränkung und Intersektionalität, von schwuler Identität und Kultur im Arbeiter*innenmilieu, der intersektionalen Privilegierung Eribons in Bezug auf Männlichkeit und race, Homophobie in weiß-bürgerlichen Milieus sowie intersektionaler Auslassungen (siehe auch die anderen Artikel in diesem Band). Ich werde zunächst Eribons Deutung des Erstarkens von Rechtsnationalismus und Rassismus bei weißen Arbeiter*innen in Frankreich aus rassismuskritischer Perspektive diskutieren. In dem viel diskutierten dritten Kapitel des Romans wendet Eribon sich der Frage nach dem Erstarken des Rassismus in der französischen Arbeiter*innenklasse zu und betrachtet dabei besonders sein Herkunftsmilieu und seine Familiengeschichte. „Wie konnte es dazu kommen, dass man in derselben Familie wenig später rechte oder rechtsextreme Parteien wählte und dies sogar manchmal für die ‚natürliche‘ Wahl empfand ?“ (Eribon 2016, S. 117)
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Einen wesentlichen Grund sieht Eribon in der Entwicklung linker Parteien, die sich spätestens seit Beginn der 1980er Jahre Reformprojekten zu- und damit auch von den Interessen der Arbeiter*innen und der ‚Sprache der Regierten‘ abgewandt haben. „Nicht mehr von Ausbeutung und Widerstand war die Rede, sondern von ‚notwendigen Reformen‘ und einer ‚Umgestaltung‘ der Gesellschaft. Nicht mehr von Klassenverhältnissen oder sozialem Schicksal, sondern von ‚Zusammenleben‘ und ‚Eigenverantwortung‘.“ (Ebd., S. 120)
Durch das ‚Verschwinden der Arbeiter*innen‘ aus dem politischen Diskurs und Vokabular, ihren Lebenssituationen und relativ prekären Umständen sowie ihrer partikularen Interessen im Rahmen des Ausbaus politischer Reformprojekte, die von einem Rückbau sozialer Absicherungssysteme geprägt waren, hätten sich die Arbeiter*innen dem Front National und dem Rechtspopulismus zugewandt. Eribon verweist darauf, dass das ‚Verschwinden der Arbeiter*innen‘ und der ‚Klassenidentität‘ aus dem Rahmen der politischen Repräsentation natürlich noch lange nicht das Verschwinden ihrer Lebensumstände bedeute, und interpretiert die Hinwendung zum Rechtsnationalismus und das Erstarken des Rassismus daher auch als eine Art ‚Verteidigung‘ dieser ‚Klassenidentität‘ (vgl. ebd., S. 123). „So widersprüchlich es klingen mag, bin ich mir doch sicher, dass man die Zustimmung zum Front National zumindest teilweise als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss.“ (Ebd., S. 124)
Es scheint überflüssig zu erwähnen, dass Eribon hier mitnichten die Kämpfe marginalisierter Identitäten und neuer sozialer Bewegungen als Begründung anführt, wie es in der deutschen Rezeption des Buches oft anklingt. Eribon sieht die Gründe für die politische Veränderung der Arbeiter*innenklasse, die Normalisierung des Rassismus und die Hinwendung zum Rechtsnationalismus eher in der Neoliberalisierung der Sozialdemokratie, ihren individualisierenden Effekten sowie der Normalisierung von Austeritätsprojekten. Durch die Abwendung von den Interessen der Arbeiter*innen sowie die Akademisierung linker Politik und ihrem Fokus auf unternehmerische und reformorientierte Projekte habe die Arbeiter*innenklasse, die sich zuvor gegen ‚die da oben‘ positionierte und links wählte, eine neue kollektive Identität der Abwehr oder Notwehr gegen diese politischen Veränderungen gebildet.2 Nach Eribon haben wir es hier mit einer politischen 2
Eribon verweist hier auf die Arbeiten Stuart Halls, der die Rolle der Parteien in Bezug auf politische Subjektivierungsprozesse hervorgehoben hat. Diese soll hier nicht geschmälert, allein der Fokus Eribons auf die Rolle der Parteien problematisiert werden.
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Verschiebung von links nach rechts vor dem Hintergrund der Herausbildung einer kollektiven Formation zur Absicherung der Identität als (weiße, französische) Arbeiter*innen zu tun (vgl. Ehling 2016, S. 10). Diese ‚politische Notwehr‘ impliziere auch einen relativen Wandel der Antago nismen. So hat sich ihm zufolge das ‚Wir‘ der Arbeiter*innen (von Grund auf) in ein ‚Wir‘ der (weißen) ‚Franzosen‘ gewandelt und sie als Gruppe neuformiert, nationalisiert sowie ethnisiert (vgl. Eribon 2016, S. 137) und mit rechtsextremen Formationen einen ‚historischen Block‘ (Gramsci, zit. n. ebd., S. 128) gebildet. „Nachdem die spontane Wahrnehmung der Welt als Gegensatz zwischen ‚den Franzosen‘ und ‚den Ausländern‘ erst einmal in der politisch-medialen Sphäre angekommen war, konnten diese Kategorien mit umso größerer Selbstverständlichkeit in Gespräche im Familienkreis eindringen, in banalste Wortwechsel beim Einkaufen, auf der Straße, in der Fabrik… Man spürte förmlich, wie sich in ehemals kommunistisch dominierten Räumen der Geselligkeit und des Politischen eine rassistische Stimmung breitmachte, wie sich die Menschen allmählich einem politischen Angebot zuwandten, das vorgab, lediglich die Stimme des Volkes oder die Stimmung der Nation wiederzugeben, das eine solche Stimme in Wahrheit aber erst herstellte, weil es Ressentiments und Affekte mit einem stabilen diskursiven Rahmen und gesellschaftlicher Legitimität versah. Der von den ‚französischen‘ populären Klassen geteilte ‚Gemeinschaftssinn‘ wandelte sich von Grund auf. Die Eigenschaft, Franzose zu sein, wurde zu einem zentralen Element und löste als solches das Arbeitersein oder Linkssein ab.“ (Ebd., S. 137)
Während Eribons Analysen sonst eher die Verschränkungen von Rassismus und Klassenverhältnissen mitdenken, wenn auch immer männlich – so bezieht er sich in seinen Reflektionen über die Herausbildung einer schwulen Identität im Arbeiter*innenmilieu und seinen Bildungsaufstieg u. a. auf James Baldwin und John Edgar Wideman –, zieht er in seiner Analyse des Rechtrucks die Intersektionen sowie die Zusammen- und Wechselwirkungen von Rassismus, Klassenverhältnissen und Geschlechterverhältnissen nicht ausreichend heran. Rassismus wird hier eher als ‚Effekt‘ dieser politischen Verschiebung gedeutet, anstatt entlang seiner Konjunkturen und in Verwobenheit mit gesellschaftlichen Verhältnissen analysiert. Eine Analyse der historischen Artikulationen und Konjunkturen des Rassismus in Frankreich, die vor allem auch im Rahmen der postkolonialen Konfigurationen betrachtet werden müssen, nimmt dabei nicht nur den Wandel linker Politik und Diskurse in den Blick, sondern vor allem auch die Konjunkturen des Rassismus selbst und wie diese sich in Beziehung zu den ökonomischen, historischen und postkolonialen Bedingungen wandeln. Étienne Balibar argumentiert in seiner Analyse des Neo-Rassismus (oder Rassismus ohne ‚Rassen‘), der sich
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nicht mehr auf biologistische Konstruktionen von ‚Rasse‘ stützt, sondern über die Naturalisierung des rassifizierten Markers ‚Kultur‘ operiert und damit auch eine Antwort auf anti-rassistische Kämpfe darstellt (vgl. Taguieff 1986), dass der Rassismus aus der Zeit der Dekolonisierung insofern eine neue Konjunktur aufweist, als er sich um Fragen der Migration entzündet (vgl. Balibar 1990, S. 27). Zudem operiert diese Form des Rassismus nicht über Externalisierungen, d. h. über rassistische Diskurse die sich, neben internen Rassismen gegen rassifizierte Gruppen innerhalb Europas, auf ein Außerhalb der Nation richten, wie es bspw. während des Kolonialismus der Fall war. Vielmehr findet diese Form des Rassismus, die sich auch auf eine Umkehrung der Bewegungsrichtung der Bevölkerung zwischen den alten Kolonien und den sogenannten Metropolen richtet (vgl. Balibar 1990; siehe auch Hall 1990, S. 11 f.), innerhalb einer nationalen Konfiguration statt. Die „Aufspaltung der Menschheit [vollzieht sich] innerhalb eines einzigen politischen Raumes“ (Balibar 1990, S. 28). Der Wandel der rassistischen Konjunktur, der auch mit postkolonialen Konfigurationen sowie anti-rassistischen Kämpfen, den rassifi zierenden Implikationen globaler Arbeitsteilung und der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse zusammenhängt, kann demnach nicht hauptsächlich durch eine politische Diskursverschiebung linker Parteien und ihrem Verhältnis zu Arbeiter*innen erklärt werden, sondern verweist auf die Verschiebung postkolonialer Selbst- und Arbeitsverhältnisse. Neben der Bewegungsrichtung des Rassismus und den Komplexen, an denen er sich entzündet, hat auch die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse den Wandel rassistischer Konjunkturen befördert. Dies haben u. a. Stephane Beaud und Michel Pialoux in ihrer industriesoziologischen Langzeitstudie über gesellschaftlichen Wandel und die Automobilindustrie Die verlorene Zukunft der Arbeiter. Die Peugeot-Werke von Sochaux-Montbéliard (2004) gezeigt (vgl. auch Ehling 2016, S. 12). Das Erstarken des Rassismus unter den französischen Arbeiter*innen sei, so wird argumentiert, vor allem mit dem starken Konkurrenzdruck auf dem flexibilisierten und zunehmend deregulierten Arbeitsmarkt in Verbindung zu bringen. Zudem droht Eribons Narrativ von dem Wandel des Gegensatzpaares ‚Arbeiter*innen/Bourgeois‘ hin zu ‚Französ*innen/Ausländer*innen‘ die rassistischen und vergeschlechlichten Kontinuitäten und die Kompliz*innenschaft, die weißen französischen Arbeiter*innen historisch durch ihre Privilegierung sowie ihre Eingebundenheit in das europäische Projekt der Versklavung und des Kolonialismus zukommen, zu unterschätzen. Eribon thematisiert zwar den Rassismus der französischen Arbeiter*innenklasse der 1960er und 1970er Jahre (vgl. ebd., S. 133) und verweist bspw. auf die Rassismen in der französischen Linken mit Blick auf ihre Haltung zum Algerienkrieg. Jedoch reduziert er diesen zugleich auf einen ‚rassistischen Reflex‘ gegen den die französischen Arbeiter*innen, die sich sonst als politisch linke Arbeiter*innen fühlten, in den 1960er und 1970er Jahren noch an-
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wählten. Mit der Reduktion auf rassistische Reflexe, „Ressentiments und Affekte“ (ebd., S. 137), wird jedoch die Historisierung des Rassismus (d. h. die spezifische und sich historisch wandelnde Form des Rassismus) der weißen Arbeiter*innen in Frankreich weitestgehend vernachlässigt (siehe hierzu Fanon 2015 und Césaire 1997). Damit erkennt Eribon den tiefgreifenden und tiefsitzenden Rassismus zwar an, bezieht diesen und seine früheren Artikulationsweisen jedoch nicht gleichwertig in seine Analyse mit ein. So waren die französischen Arbeiter*innen ihm zufolge vor den 1980er Jahren zwar auch rassistisch, Rassismus machte jedoch nicht ihre Identität aus, da man sich politisch als ‚linker Arbeiter‘ fühlte. „Es dauerte, bis dieser Alltagsrassismus, unterstützt und allmählich ideologisch angereichert von einem organisierten Diskurs, der ihm Sichtbarkeit und politische Bedeutung verlieh, zum dominierenden Modus der Wahrnehmung der sozialen Welt wurde.“ (Eribon 2016, S. 135 f.)
Rassismuskritische Narrative und Theorien, die sich mit den Artikulationen des Kolonialrassismus in Frankreich auseinandergesetzt haben, verweisen jedoch dar auf, dass rassistische Diskurse, Habitus und Kultur (auch in Form von rassistischem Kapital und Warenrassismus, vgl. Hall 2000) auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Alltag rassifizierter und kolonisierter Personen und Gruppen geprägt und strukturiert haben (vgl. Fanon 2015). Diese Ansätze, die die gelebten Erfahrungen und Perspektiven von kolonisierten und migrantisierten Personen und Gruppen in Frankreich zur Grundlage nehmen, fordern Eribons These auf gewisse Weise heraus, da sie zeigen, dass Rassismus auch vor den 1970er Jahren Teil der Gruppenidentität französischer Arbeiter*innen war. Damit holt ihn seine eigene Kritik an der Romantisierung und Mystifizierung des Arbeiter*innenmilieus, die die historischen Konjunkturen des Rassismus weißer Arbeiter*innen auslässt oder nur als individualisiertes Ressentiment verhandelt, gewissermaßen ein. Rassismusforscher*innen und postkoloniale Theoretiker*innen wie Stuart Hall (2000), Cedric Robinson (1983), Étienne Balibar (1990) oder Anne McClintock (1995) haben in ihren Arbeiten zudem gezeigt, dass Rassismus als institutionelle und soziale Praxis der Klassifizierung, Dehumanisierung und Ausbeutung auch innerhalb der Arbeiter*innenbewegung subjektivierend gewirkt und koloniale Selbstverständnisse konstituiert hat. „Die dritte Frage, die ich in Bezug auf den Zusammenhang von ‚Rasse‘ und Klasse behandeln möchte ist die, ob Rassismus ausschließlich ein Problem der herrschenden Klasse, der herrschenden Gruppen der Gesellschaft ist. Ich fürchte, das ist eine weitere Geschichte, die die Linke sich selbst lange Zeit zu ihrer Beruhigung erzählt hat: Die Geschichte von der logischen Unmöglichkeit einer rassistischen Arbeiterklasse. Die Erfah
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rungen in der postkolonialen Welt zeigen, daß diese Geschichte unhaltbar geworden ist. Wir hätten die Unhaltbarkeit dieser Geschichte schon längst erkennen müssen, denn schließlich hat sich die Arbeiterklasse in der imperialistischen kapitalistischen Welt im Rahmen der Etablierung des Kapitalismus als Weltsystem herausgebildet. Folglich waren die Ideologien des Imperialismus und der rassistischen Überlegenheit und Minderwertigkeit innerer Bestandteil der Kultur der Arbeiterbewegung.“ (Hall 2000, S. 10)
Der Wandel, den Eribon in seiner Analyse konstatiert und hauptsächlich durch einen Wandel linker Politiken erklärt, muss aus rassismuskritischer Perspektive angereichert werden, da Rassismus sich als Strukturprinzip innerhalb der Klassenverhältnisse nicht nur vertikal, sondern auch horizontal artikuliert und rassifizierte Fraktionen innerhalb sozialer Klassen diese nicht nur spalten, sondern auch konstituieren (vgl. Türkmen 2018). Das Erstarken des Rassismus in Frankreich (und in Teilen Westeuropas) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte meines Erachtens stärker vor dem Hintergrund des Wandels postkolonialer Verhältnisse (vgl. Balibar 1990; Hall 2000; Bhambra 2007) und damit einhergehenden Migrationsdynamiken sowie der Herausforderung kolonialer Selbstverständnisse und dem Wandel globaler Arbeitsverhältnisse diskutiert werden. In Anlehnung an W.E.B Du Bois’ Konzept der white wages möchte ich im Folgenden einen Diskussionsvorschlag machen, der es vermag, der historischen Implikationen und Konjunkturen von Rassismus innerhalb des Arbeiter*innen milieus kontextspezifisch gerechter zu werden, und es zugleich erlaubt, das gegenwärtige Erstarken der Normalisierung von Rassismus zu erfassen.
White wages und verschränkte Perspektiven In Black Reconstruction in America (1962) aus dem Jahre 1935 entwickelt Du Bois eine Analyse von weißsein als kompensatorischem und nicht-monetärem Ertrag. Vor dem Hintergrund seiner Betrachtungen des US-amerikanischen Bürgerkriegs und aus der Perspektive der Handlungsmächtigkeit Schwarzer versklavter Subjekte und ihren vielseitigen Widerständen innerhalb der plantokratischen Plantagengesellschaft unternimmt er eine Lesart der Abolition (Abschaffung) von Versklavung ‚von unten‘. Dabei befragt er auch die (Un-)Möglichkeiten der Solidarität zwischen ehemals versklavten Subjekten und deprivilegierten weißen Arbeiter*innen nach der formalen Abschaffung der Versklavung in den USA. Nach Du Bois wäre die Zeit nach dem US-Bürgerkrieg und der formalen Abschaffung der Versklavung eine historische Möglichkeit für eine anti-rassistische, demokratische Gegen-Hegemonie gewesen, die jedoch zu einem Großteil durch Artikulationen von weißsein, vor allem verstanden als „public and psychological
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wage“ (Du Bois 1962, S. 700) verunmöglicht wurde. Du Bois versteht weißsein dabei nicht allein als Prinzip, das kapitalistische Ausbeutungs- und Dehumanisierungsverhältnisse strukturiert und konstituiert und damit Formen des rassistischen Kapitals re-produziert, sondern auch als epistemologische, psychosoziale und kulturelle Formation, die Selbstverständnisse, soziale Beziehungen, kulturelle Prozesse und Wissenskomplexe manifestiert. Somit stellen white wages nicht einfach einen Ertrag ökonomischer Art dar. Vielmehr handelt es sich nach Du Bois um eine bedeutende Kompensation oder auch nicht-monetäre Transaktion, gerade für jene, die ebenfalls ökonomische Ausbeutung erfahren (oder dies fürchten). White wages ermöglichen damit vor allem eine sozialpsychologische Kompensa tion oder stellen eine Form des nicht-materiellen Besitzes dar, der gleichzeitig die Absicherung der vermeintlichen Superiorität und einen sozial-rassifizierten Status garantiert. Nach Du Bois haben white wages die Konstitution der rassistischen Jim Crow Gesetze nach der formalen Versklavung weitgehend legitimiert. Rassistisch-infanti lisierende Ansprachen wie ‚boy‘ und rassistische Regelungen wie wer von öffentlichen Waschbecken trinken darf, im Bus vorne sitzen oder auf welcher Straßenseite laufen darf, stellen nach Du Bois eine Form des öffentlichen und sozial-psychologischen Ertrags dar, für die weiße Arbeiter*innen nach der formalen Abschaffung der Versklavung einen ‚racial contract‘ (Mills 1997) eingegangen sind. Weißsein diente hier dem symbolischen und sozial-psychologischen Status von weißen Arbeiter*innen, der sich durch die gesellschaftlichen Implikationen dessen, was es bedeutete nicht-schwarz zu sein, und der Abwertung rassifizierten Lebens artikulierte. So sind es nach Du Bois die Versprechen sowie die Erwartungen der white wages, die solidarische Allianzen zwischen ehemals versklavten Menschen und weißen Arbeiter*innen historisch verunmöglicht haben. Du Bois’ Analyse ist freilich historisch einzuordnen und kann nicht einfach aus ihrem politischen Kontext gelöst werden, zudem kann die USA als liberale post-versklavungs- und siedlungskoloniale Gesellschaft nicht einfach mit postkolonialen Kontexten in Europa gleichgesetzt werden. Auch muss weißsein stets in Bezug auf historische und kontextspezifische Konjunkturen analysiert werden, denn weißsein artikuliert sich global im Zusammenspiel mit verschränkten Kategorien und innerhalb jeweiliger nationaler und postkolonialer Konfigurationen (vgl. Robinson 1983). Zudem haben ja nicht nur weiße Menschen aus ökonomisch prekarisierten Milieus rechtsextreme Parteien gewählt, sondern durch alle Schichten hindurch. Du Bois’ heuristischer Analyserahmen ist meines Erachtens dennoch (und vielleicht gerade mit Bezug auf die sozialpsychologische und symbolische Ebene, die in vielen gegenwärtigen Rassismusanalysen nur eine marginale Rolle spielt) hilfreich für die gegenwärtige und kontextspezifische Analyse und Kritik am Er-
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starken rassistischer und rechtsnationalistischer Tendenzen, weil sie u. a. die Rolle von ‚Rasse‘ in der gegenwärtigen politischen Konjunktur benennt, ohne sie auf eine Diskussion über Privilegien zu reduzieren. Für den US-Kontext hat John Narayan in seinem Artikel The wages of whiteness in the absence of wages: racial capitalism, reactionary intercommunalism and the rise of Trumpism (2017) Du Bois’ Konzept mit Bezug auf Huey P. Netwons Theorie des Interkommunalismus fruchtbar gemacht und argumentiert, dass, vor dem Hintergrund neoliberaler Globalisierung und der damit einhergehenden Prekarisierungsprozesse, weißsein als Ertrag und Statusforderung auch im Rahmen der relativen Abwesenheit von wages imaginiert und mobilisiert wird: „Trumpism is therefore best seen as a promise to re-supply the wages of whiteness in the absence of wages. The success of Trumpism is in this sense a racially regressive reaction to the effects of neo-liberal globalisation’s decimation of (white) working class and middle class economic and political power.“ (Narayan 2017, S. 2491; Hervorhebung V. E. T.)
Narayan zeigt auf, dass gesellschaftspolitische Entwicklungen wie Globalisierungsund Ökonomisierungsprozesse nicht nur ökonomische Prekarisierung befördern, sondern auch die Einschränkung von white wages die weiße Milieus zuvor imaginiert haben, die ihnen auch zugekommen sind, und die sie zudem auch weiter erwarten und einfordern. Eine intersektionale Wendung des Konzeptes der white wages („in the absence of wages“ (ebd.)) kann hilfreich sein, um das derzeitige Erstarken von Rassismus auch als Krise von weißsein, Nationalität und hetero-sexueller Männlichkeit sowie Weiblichkeit zu verstehen, und ein relationaler Ansatz ermöglicht es, sowohl kontextspezifische als auch historische, diskursive und strukturelle Di mensionen als miteinander verwoben zu begreifen. Das Konzept der white wages lässt sich so auch mit den Überlegungen und Lesarten zum Anti-feminismus als Reaktionen auf Prekarisierungsprozesse (verstanden im Sinne von sowohl prekarisierter Erwerbsarbeit oder der Angst davor als auch von Krisen der doxischen Erfahrung, vgl. Wimbauer, Motakef und Teschlade 2015) und als einen „psychosozialen Abwehrmechanismus“ in Verteidigung eines „Phantombesitzes“ (Redecker 2016, S. 4) verschränken. Das heißt, es geht auch um den Mechanismus männlicher, weißer, hetero-sexueller Identität, um die Anrufung oder Forderung der wages die weißsein, cis-männlich sein, hetero-sexuell sein durch die Kolonialität der vergeschlechtlichten und kapitalistischen Moderne versprechen. Gleichzeitig fordern auch weiße geschlechtlich-marginalisierte Gruppen white wages ein, was sich auch am Wahlverhalten von bspw. weißen Frauen in den USA und vielen Kontexten Europas gezeigt hat. Rechtsnationalistische und rassistische Identitäts-
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politiken versprechen eine Aufbesserung dieser wages, vor allem auch in ihrer sozialpsychologischen Dimension.
Intersektionalität der Kämpfe „Ich sage nicht, dass wir mit dem Engagement für den Feminismus oder für die LGBTRechte oder für die Transsexuellen oder für Einwanderer und Flüchtlinge aufhören sollten. Im Gegenteil: Alle diese sozialen Bewegungen gehören zum 68er-Erbe, und das 68er-Erbe ist für mich das allerwichtigste. 68 erlangte der Feminismus eine absolut zentrale Bedeutung, es war die Geburtsstunde der Homosexuellen-Bewegung, die Frage der Einwanderung wurde zum ersten Mal gestellt, es entstand eine Kritik des Justizsystems, der Repressionsapparate, des Gesundheitssystems. Es entstand ein ökologisches Bewusstsein. Und zusätzlich haben zehn Millionen Arbeiter in Frankreich gestreikt. 68 war eine sehr breite, gesamtgesellschaftliche Bewegung, die auf soziale Veränderung, auf soziale Gerechtigkeit ausgerichtet war. Es ging nicht darum, eine Bevölkerungsgruppe gegen eine andere auszuspielen. Im Gegenteil: Alles war miteinander verbunden.“ (Eribon im Interview mit Kilb und Siemons 2018)
Eribon liefert wichtige Ansätze für die Analyse des gegenwärtigen Erstarkens von Rassismus und Rechtsnationalismus in Frankreich und Europa. Vor allem, da er sich auch den sozial-psychologischen Komponenten von Rassismus zuwendet und, mit Blick auf die Haltung seiner Mutter, der Frage nachgeht, inwiefern die Abwertung von Migrant*innen und Menschen of Color Mittel sind, sich vor dem Hintergrund der eigenen Marginalisierung in Überlegenheit zu wiegen. Zugleich, und das habe ich zu zeigen versucht, vernachlässigt er die tiefliegenden Strukturen und Konjunkturen des Rassismus, die in weißen Arbeiter*innenmilieus wie auch innerhalb der Mittel- und Oberschichten historisch und gegenwärtig wirken (was auch mit seiner autobiografischen Herangehensweise und seinem Fokus auf ein weißes Milieu, ohne weitere Beachtung der von Rassismus Betroffenen und seiner eigenen relativ privilegierten Position, zu tun haben könnte). Eine Historisierung dieser Konjunkturen ist dabei auch für ein Verständnis der Verwobenheiten von sozialen Kämpfen wichtig, auch, um eine Gegenüberstellung von den Kämpfen der Arbeiter*innen auf der einen und den Kämpfen um Rechte der Frauen*, LGBT*IQ, rassifizierten und geflüchteten Personen auf der anderen Seite nicht zu re-produzieren. Angela Davis’ Konzept der Intersektionalität der Kämpfe (2015) liefert hierfür einen wichtigen Beitrag. Davis verhandelt darin Intersektionalität nicht nur über die Ebene der (wichtigen, jedoch oft reduzierten) Identität hinaus und mit Bezug auf gesellschaftliche Strukturen und die Re-Produktion von Gesellschaftsformen, sondern mit Blick auf die sozialen Kämpfe und ihre inhärenten
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Verschränkungen. Gerade bei vielen mehrfachmarginalisierten sozialen Gruppen finden wir nach Davis eine Form der Intersektionalität der Kämpfe vor, die sich einer binären Gegenüberstellung von sozialer Frage und Identität entziehen. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die transnationalen Formationen der Refugee Movements und besonders auf die Kämpfe mehrfachmarginalisierter geflüchteter Personen: auf ihre verschränkten Forderungen nach Bewegungsfreiheit; das Recht auf Wohnen; Zugang zu medizinischer Versorgung; die Infragestellung nationaler Grenzen und Zugehörigkeiten und die Verknüpfung von sozialer Wohlfahrt mit dem Nationalstaat (und seinen rassistischen und vergeschlechtlichten Implikationen); die Forderung nach einem guten Leben; gegen vergeschlechtlichte interpersonelle und staatliche Gewalt; und gegen die Re-Produktion von vergeschlechtlichten Ausbeutungsverhältnissen; den Ausbau von Regimen der Versicherheitlichung; die Kritik an bis heute nachwirkenden kolonialen Strukturen und Politiken des Krieges und der Enteignung; Kämpfe um soziale, politische, ökologische und reproduktive Gerechtigkeit und Umverteilung und gegen die ReProduktion von Menschen als ‚überflüssig‘. Dabei geht es nicht darum, soziale Bewegungen zu romantisieren oder gar zu behaupten, dass die Kämpfe von Mehrfachmarginalisierten notwendigerweise emanzipatorisch sind. Auch sind diese Bewegungen durch konstante Aushandlungsprozesse charakterisiert und Leerstellen müssen kritisch reflektiert werden. Gleichzeitig ist viel von der Intersektionalität der Kämpfe zu lernen, wenn es um ‚soziale Fragen‘ geht.
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‚Race‘ – Class – Gender – Queer Marine Le Pens Front National/Rassemblement National und Florian Philippots Les Patriotes als politische Akteure am rechten Rand Frankreichs Gudrun Hentges
Ausgangspunkt dieses Beitrags ist die Thematisierung der Achsen der Ungleichheit (Klinger, Knapp und Sauer 2007) in den politischen Diskursen der extremen Rechten in Frankreich. Es soll aufgezeigt werden, dass die Strategie von Marine Le Pen und Florian Philippot auf eine ‚dédiabolisation‘ (‚Entteufelung‘) des Front National (FN)/Rassemblement National (RN) abzielte – und zwar in der Weise, dass die offene Artikulation von Homophobie, Antisemitismus und Sexismus in der Agitation und Ideologie in den Hintergrund treten. Zugleich unternahmen Le Pen und ihre Berater*innen, namentlich Florian Philippot, den Versuch, die ‚soziale Frage‘ aufzugreifen und von rechts zu besetzen. Da die französische Gesellschaft geprägt ist durch eine Zunahme an sozialer Ungleichheit – und die neoliberale Politik von den Regierungsparteien der letzten Jahre vorangetrieben worden ist –, kann die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, auch wenn es sich letztlich um soziale Demagogie handelt, schnell verfangen. Die Thematisierung der ‚sozialen Frage‘ von rechts ist immer auch verknüpft mit einer ‚Ethnisierung des Sozialen‘. In diesem Sinne handelt es sich um eine exkludierende Solidarität, die sozialstaatliche Leistungen den ‚autochthonen Französinnen und Franzosen‘ und allenfalls noch den vorbildlich assimilierten Einwander*innen vorbehalten will. Zugleich sollten jene Einwander*innen von staatlichen Transferleistungen ausgeschlossen werden, die nicht assimilationsbereit seien. Aber dennoch verfängt sich die Thematisierung der sozialen Frage in einer Situation, in der die Arbeiter*innen und kleinen und mittleren Angestellten auf den unteren Ebenen der Beschäftigungshierarchie die Erfahrung machen, dass sich keine politische Partei für ihre sozioökonomischen Problemlagen zu interessieren scheint.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Kalmbach et al. (Hrsg.), Eribon revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30561-1_9
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‚Gilets Jaunes‘ – Eine „Revolte gegen das politische und ökonomische System“
Als Didier Eribons Sozioanalyse Retour à Reims 2009 in Frankreich erschien, konnte zu diesem Zeitpunkt keine*r ahnen, dass eine Dekade später – im Oktober 2018 – die ‚classes populaires‘ in ganz Frankreich auf die Straße gehen sollten, um gegen die geplante Erhöhung der Steuern auf Diesel und Benzin zu protestieren. An der ersten großen Demonstration der ‚Gilets Jaunes‘ am 17. November 2018 beteiligten sich 282 000 Demonstrant*innen. Charakteristisch für diese Bewegung war, dass die Mobilisierung durch die sozialen Netzwerke erfolgte und die ‚Gilets Jaunes‘ weder von einer Partei noch von einer Gewerkschaft oder einer sozialen Bewegung gesteuert wurden. Jenseits des kleinsten gemeinsamen Nenners – der Proteste gegen die Erhöhung der Spritpreise – war zunächst unklar, welche politischen Forderungen die ‚Gilets Jaunes‘ erhoben. Ein Katalog, der Ende des Jahres 2018 veröffentlicht wurde, versammelt 42 heterogene und disparate Forderungen in Bezug auf Sozial- und Wirtschaftspolitik, Migrations- und Integrationspolitik, Verkehrs-, Struktur- und Städtebaupolitik und umfasst nicht zuletzt auch Forderungen nach einer direkten Demokratie (Bürger- oder Volksinitiativen-Referendum). Die Einschätzung dieser Bewegung könnte kontroverser und widersprüchlicher nicht sein: Einerseits wurde in der Berichterstattung häufig auf die gewaltsamen Ausschreitungen und auf die Todesfälle – im Kontext von Verkehrsblockaden – Bezug genommen, andererseits wurde immer wieder darauf verwiesen, dass die Bewegung in einem hohen Maße von Marine Le Pen gesteuert sei. Während Publizist*innen und Wissenschaftler*innen den Versuch unternahmen, diese Bewegung aus der Distanz zu charakterisieren, plädieren Didier Eribon, Édouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie im Interview mit der Schweizer Zeitschrift Republik dafür, sich an den ‚Gilets Jaunes‘ aktiv zu beteiligen. Danach gefragt, wie reaktionär diese Bewegung sei, entgegnet Eribon: „Diese Revolte ist in ihrem Kern nicht reaktionär. Befragungen haben ergeben, dass eine Mehrheit der Protestierenden sich selber als eher links oder auch als linksextrem definiert, ein grosser Anteil bezeichnet sich als apolitisch, ein drittes Segment ist eher rechts oder auch rechtsextrem. Da kann man schwer von einer reaktionären Revolte sprechen, nur die Medien tun dies ohne Unterlass. Wenn man mit den Leuten direkt redet, sagen sie, dass sie den politischen Parteien misstrauen – was man ja auch verstehen kann. Es handelt sich um eine Revolte gegen das politische und ökonomische System, so wie es heute funktioniert. Die unteren Schichten wollen nicht weiter so behandelt werden.“ (Eribon im Interview mit Binswanger und Lehr 2019)
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Ausgehend von Eribons Einschätzung einer „Revolte gegen das politische und ökonomische System“ haben sich Eribon, Lagasnerie und Louis dafür entschieden, sich im Kampf um die Bedeutung der Bewegung zu engagieren. Denn, so ihr Argument, die ‚Gilets Jaunes‘ haben keine „vorgegebene Bedeutung“ (ebd.), sondern man könne als Intellektueller an der Herausbildung dieser Bedeutung mitarbeiten.
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Class – Lebensrealitäten, gesellschaftliche Transformationen, politische Transformationen
Die zentrale These in Didier Eribons Buch lautet, dass die Arbeiter*innen und kleinen und mittleren Angestellten, die noch in den 1970er und 1980er Jahren für Parteien der Linken votierten, nun gar nicht mehr zur Wahl gingen oder sogar Parteien am rechten Rand wählten. Diese politische Konversion stünde damit in Zusammenhang, dass die politische Linke die Forderungen der neuen sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre aufgegriffen hatte und Identitätspolitik eine immer wichtigere Rolle spielte. Arbeiter*innen gewannen zunehmend den Eindruck, dass sie von den Parteien der Linken (Parti Communiste Français, Parti Socialiste) nicht mehr vertreten würden. Zugespitzt gesagt: Innerhalb der ‚classes populaires‘ entstand der Eindruck, dass eine Identitätspolitik zugunsten von gesellschaftlichen Minderheiten an die Stelle einer Interessenvertretung der Arbeiter*innen und kleinen Angestellten getreten sei. Um den Erfolg der extremen Rechten in Frankreich zu erklären, sei es erforderlich, sich mit diesen Veränderungen in der politischen Linken zu befassen, so die zentrale These Eribons, der in der Sozioanalyse Rückkehr nach Reims seine biografischen Erfahrungen mit sozialwissenschaftlichen Überlegungen und Theorien im Anschluss an Pierre Bourdieu, Michel Foucault und Annie Ernaux verknüpft. Der folgende Beitrag will analysieren, in welcher Weise sich der FN/RN dieser Kategorien ‚race‘, class, gender, queer bedient, um einerseits bei den Wahlen erfolgreich zu sein und andererseits jenseits der Wahlen kulturelle Hegemonie zu erlangen. Bei den Europawahlen 2014 erzielte der FN mit knapp 25 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis aller Parteien. Bei den Regionalwahlen im Dezember 2015 erlangte er einen Stimmenanteil von 28 Prozent; bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2017 stimmten sogar 34 Prozent aller Wähler*innen für Marine Le Pen, die als Spitzenkandidatin in der Stichwahl gegen Emmanuel Macron angetreten war. Auch bei den jüngsten Europawahlen 2019 konnte sich die Partei Marine Le Pens mit der Liste Rassemblement National gegen Macron durchsetzen. Während Macrons La République en Marche auf 22,4 Prozent kam, konnte der RN 23,3 Prozent aller Stimmen mobilisieren.
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Die Wahlerfolge der letzten Jahre werden vor allem damit in Zusammenhang gebracht, dass der FN unter Marine Le Pen und Florian Philippot den Versuch unternommen habe, neue Themen auf die Agenda zu setzen, und den Anspruch erhoben habe, sich jenseits von rechts und links zu platzieren. So konnte eine Analyse der politischen Forderungen von Marine Le Pen aufzeigen, dass sie 40 Prozent ihrer Äußerungen auf wirtschaftliche und soziale Themen bezieht (vgl. Kempin 2017). Zu ihren Forderungen zählen die Nationalisierung der Banken, der Rüstungsindustrie und anderer Industriezweige, die Einführung von Schutzzöllen zum Schutz der einheimischen Landwirtschaft und Industrie und die Aufkündigung von Freihandelsabkommen im Sinne eines ‚intelligenten Protektionismus‘. Des Weiteren fordert sie die Erhöhung der Sozialleistungen und die Einführung einer Steuer auf ausländische Arbeitnehmer*innen (vgl. ebd.). Mit Hilfe dieser Forderungen wolle der FN/RN die Macht der EU-Institutionen einschränken und die Globalisierung zurückdrängen. Le Pen kritisiert die EU als „durchlässiges Europa“ und als „Europa der Arbeitslosigkeit“. Es handele sich um ein „totalitäres System“ und ein „wirtschaftliches und soziales Desaster“ (ebd.). Sie tritt ein für eine Stärkung des öffentlichen Dienstes und richtet sich mit dieser Forderung in erster Linie an Arbeiter*innen und kleine oder mittlere Angestellte. Dies zahlte sich durch das Wahlverhalten dieser Zielgruppe aus, denn 40 Prozent aller Arbeiter*innen und 30 Prozent aller Angestellten im öffentlichen Dienst votierten für Le Pen (vgl. Flecker et al. 2019). Eine Auswertung des Umfrageinstituts Ifop ermittelte, dass bei den jüngsten Europawahlen 2019 43 Prozent der Sympathisant*innen der ‚Gilets Jaunes‘ für Marine Le Pen votierten (vgl. Wiegel 2019).1 Somit konnte der FN/RN „am besten das Protestpotential – etwa der seit November 2017 demonstrierenden ‚Gilets Jaunes‘ – für sich nutzen und in hohem Maße Nichtwähler mobilisieren.“ (Galetti und Wissmann 2019) Zu der Frage der Unterstützung der RN-Liste durch Arbeiter*innen merkt Sylvain Crépon von der sozialistischen Jean-Jaurès-Stiftung (Paris) an, dass die Vorstellung existiere, der*die Arbeiter*in komme notwendigerweise von links. In Wirklichkeit gebe es jedoch eine Verschiebung im Abstimmungsverhalten der Arbeiter*innen nach rechts – und vor allem nach extrem-rechts. Die Arbeiter*innen der Linken tendierten stärker zu einer Stimmenthaltung als zu einer Hinwendung zu Marine Le Pen. „Wenn wir“, so Crépon, „sagen, dass Marine Le Pen die Hälfte
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Die Plattform der ‚Gilets Jaunes‘, die von dem Sänger Francis Lalanne angeführt wurde, kam auf lediglich 0,54 Prozent der Stimmen, die Liste des Schweißers Christophe Chalencon erreichte nur 0,01 Prozent der Stimmen.
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der Arbeiter*innenstimmen erhalte, so dürften wir nicht vergessen, dass dies nur die Hälfte der abgegebenen Stimmen ist.“2 (Soullier 2019, Übersetzung von G. H.) In der Rückkehr nach Reims plädiert Eribon dafür, dass man verstehen müsse, „wie und warum es dazu kommt, dass die populären Klassen aus ihren Lebensumständen manchmal den Schluss ziehen, dass sie notwendigerweise der politischen Linken angehören, und manchmal, dass sie selbstverständlich zur politischen Rechten gehören.“ (Eribon 2016, S. 145) Eribon führt verschiedene Faktoren an, die er für die politische Positionierung als relevant erachtet: Erstens die wirtschaftliche Situation, sowohl global als auch lokal, zweitens der Wandel der Arbeitswelt und daraus resultierende sozialen Beziehungen, drittens die „Art und Weise, wie politische Diskurse und diskursive Kategorien die Konstituierung als politisches Subjekt beeinflussen.“ (Eribon 2016, S. 145) In diesem Kontext spielen Parteien eine zentrale Rolle, denn „jene, die keine Stimme haben, können nur sprechen, wenn sie von jemandem vertreten werden, wenn jemand für sie, in ihrem Namen und in ihrem Interesse spricht.“ (Ebd.) Bei den Parteidiskursen handelt es sich, laut Eribon, um organisierte Diskurse, die die „Wahrnehmungskategorien, die Wege, sich selbst als politisches Subjekt zu denken, und auch die Begriffe, die man sich von seinen ‚Eigeninteressen‘ und wahltaktischen Optionen macht, hervorbringen.“ (Ebd.)
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Queer – Veränderte Positionen des FN/RN zur (männlichen) Homosexualität, geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt und Öffnung der ‚Ehe für alle‘
Eines der zentralen Themen in Rückkehr nach Reims ist Eribons Auseinandersetzung mit seiner eigenen Homosexualität. Bereits als Teenager erlebt er die Homophobie seines Vaters, seiner Familie und seines sozialen Umfelds in Reims als Infragestellung seiner Lebensweise und sexuellen Präferenzen und somit als massiven Angriff gegen seine Person. Die Homophobie, unter der er als Jugendlicher gelitten hat, ist zugleich die Homophobie des (‚ungebildeten‘) Arbeitermilieus, von dem er sich nicht nur distanziert, sondern das er immer stärker verachtet. Im Kontrast dazu erlebt er seine Studienzeit in Paris als Zeit der sexuellen Befreiung. In dem Maße, in dem er sich als Student und später als Sozialwissenschaftler in der LGBTIQ-Bewegung engagiert, entfernt er sich von seinem Herkunftsmilieu, aus dessen Enge und Provinzialität er sich hinausbegeben hat und für das er sich nicht mehr interessiert. 2
Zitat im Original: „[…] quand on dit que Marine Le Pen récupère la moitié du vote ouvrier, il ne faut pas oublier que c’est la moitié des voix exprimées.“
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Eribons Reise nach Reims anlässlich des Todes seines Vaters hat zur Folge, dass er sich dessen bewusst wird, wie sehr er sich von der Klassenfrage, vom -kampf, von den -interessen und sozialen Kämpfen entfernt hat. Zugleich wird er sich auch dessen bewusst, dass nicht nur er persönlich die sozialen Fragen in seinem politischen Engagement marginalisiert hat, sondern dass eine ganze Generation von Aktivist*innen Fragen der Identitätspolitik auf die Agenda gesetzt und Fragen der Klassenpolitik vernachlässigt hat. Die Bedeutung der (männlichen) Homosexualität in der Sozioanalyse Eribons veranlasst mich dazu, diese Fragen auf den FN/ RN zu beziehen, denn im Laufe der letzten Jahre hat sich der FN/RN von einer offenen Homophobie verabschiedet, um Homosexuelle als Wähler*innen zu gewinnen und um somit seine soziale Basis zu erweitern. 2013 wurde in der Französischen Nationalversammlung – gegen die Stimmen des FN – ein Gesetz erlassen, das eine Eheschließung homosexueller Paare ermöglicht. Als Reaktion auf die Öffnung der ‚Ehe für alle‘ demonstrierten vorwiegend aus dem katholischen und rechten Lager stammende Gegner*innen der Öffnung der Ehe, so dass sich z. B. im Mai 2013 fast eine Million Demonstrant*innen zu einer Manif pour tous (Demo für Alle) versammelten. Während sich Marine Le Pen tendenziell eher in der Öffentlichkeit zurückgehalten hat, beteiligten sich andere FN-Parteimitglieder, so auch ihr Vater Jean-Marie Le Pen und ihre Nichte, Marion Maréchal-Le Pen, öffentlichkeitswirksam an den Demonstrationen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Positionierung von Marine Le Pen deutlich von ihren Vorgängern bzw. von dem anderen Flügel innerhalb des FN, der sich um ihre Nichte gruppiert (vgl. Bax 2018). Marine Le Pen erklärte in ihrem 144-Punkte-Plan (Nummer 87), sie wolle den Pacte Civil de Solidarité – PACS (Zivile Partner*innenschaft) verbessern und die Öffnung der Ehe, die seit 2013 in Kraft ist, möglichst schnell wieder rückgängig machen. Stattdessen forderte sie eine Verbesserung der eingetragenen Lebenspartner*innenschaft für Homosexuelle, vor allem mit Blick auf das Erb- und Wohnrecht. Zugleich sollte das Adoptionsrecht, die Leihmutterschaft oder eine medizinisch unterstützte Fortpflanzung nach wie vor das Privileg von heterosexuellen Ehepartner*innen bleiben und auch Alleinstehenden vorenthalten werden (vgl. Le Pen 2014). Auffällig ist jedoch, dass sich Marine Le Pen in Bezug auf eine allzu offensive Kritik der Öffnung der Ehe eher zurückgehalten hat, um neue Wähler*innen zu gewinnen, und dies entspricht auch den Zielen, die der FN/RN auf Initiative von Florian Philippot mit der ‚dédiabolisation‘ verfolgt hat. Diese Zielstellung bestätigt Florian Philippot in einem Interview mit der Zeit: Hier weist er darauf hin, dass die Wählergruppe der homosexuellen Männer 6,5 Prozent der Wähler*innenschaft in Frankreich ausmache. Innerhalb dieser Gruppe votierten bei den Regionalwahlen 2015 38 Prozent für den FN, während
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es in der Gruppe der heterosexuellen Männer nur 30 Prozent waren, die dem FN ihre Stimme gaben (vgl. Blume, Raether und von Randow 2017). Insofern ist festzuhalten, dass männliche homosexuelle Wähler innerhalb des Elektorats des FN sogar überrepräsentiert sind. Florian Philippot, der im Dezember 2014 von einem Boulevardmagazin ge outet wurde, fungierte bis 2017 als stellvertretender Vorsitzender des FN. Auch der FN-Generalsekretär Steeve Briois wurde ein Jahr zuvor geoutet. Hinzu kommt die Ernennung des geouteten homosexuellen Politikers Sébastien Chénu als Kulturberater, so dass mehrere homosexuell lebende Politiker unter Marine Le Pen wichtige politische Ämter innerhalb der Partei innehaben bzw. hatten.3 Es zeigt sich, in welchem Maße das Thema Homosexualität zu innerparteilichen Spannungen und Konflikten führt. Deutlich wird jedoch auch, dass mit den Anti-Islam-Kampagnen homosexuelle Wähler*innen mobilisiert werden sollen. Zugleich werden Bruchlinien zwischen der Stammwähler*innenschaft, der neuen Führungsspitze und alten Parteimitgliedern deutlich. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, weshalb Marine Le Pen immer wieder vermieden hat, zu diesen Themen allzu offen Stellung zu beziehen. Des Weiteren stand die Zurückhaltung von Marine Le Pen sicherlich auch in Zusammenhang mit Florian Philippot, den sie 2011 kennenlernte. Als Absolvent der Pariser Wirtschaftsuniversität École des Hautes Études Commerciales de Paris und der Elitehochschule und Kaderschmiede École Normale Supérieur avancierte er zum engsten Vertrauten von Marine Le Pen, galt als ihre rechte Hand und wurde in den Medien als „ihre linke Gehirnhälfte“ (Meister 2017) bezeichnet. Von 2012 bis 2017 hatte er die Funktion des stellvertretenden Parteivorsitzenden inne. Philippot war 2014 von einem Boulevardmagazin geoutet worden und macht kein Geheimnis daraus, dass er in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebt. Er war derjenige, der eine ‚dédiabolisation‘ des FN vorantreiben wollte und dessen Strategie darauf abzielte, den FN zur politischen Mitte hin zu öffnen, u. a. durch Entmachtung des Parteigründers Jean-Marie Le Pen. Von einer solchen ‚dédiabolisation‘ versprach er sich, neue Wähler*innenschichten anzusprechen und ehemalige Wähler*innen der zentristischen oder auch linken Parteien als FNWähler*innen zu gewinnen.
3 Als Bernd Lucke den offen schwulen André Yorulmaz zum Generalsekretär küren lassen wollte, löste dies einen Skandal aus (vgl. Feddersen 2015).
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‚Race‘ – Souveränität, Identität, Sicherheit und Instrumentalisierung des französischen Laizismus
Im Fokus des Parteiprogramms stehen die Begriffe Souveränität, Identität und Sicherheit. Die Forderung nach einer nationalen Souveränität zielt ab auf einen Austritt aus der EU und aus der Eurozone und fordert sowohl eine Wiederherstellung der nationalstaatlichen Souveränität Frankreichs als auch die Wiedereinführung des Francs. Dazu zählt auch eine protektionistische Zollpolitik. Die Forderung nach einer nationalen Identität wird verknüpft mit der Wiederherstellung der französischen Nation als Abstammungsgemeinschaft. Einwanderung kann aus Sicht des FN/RN nur dann akzeptiert werden, wenn die Einwander*innen dazu bereit seien, sich restlos zu assimilieren. In diesem Kontext wird dem Christentum eine entscheidende Rolle zugesprochen, denn ohne Christentum könne sich keine ‚kulturelle Identität‘ Frankreichs entwickeln. Der Islam wird, so Jean-Yves Camus, je nach Opportunität als Besatzungsmacht oder als politisches Projekt betrachtet; nur selten gilt der Islam als Religion, die im Rahmen des französischen Laizismus ausgeübt werden darf (vgl. Camus 2014, S. 5). Der Laizismus – kennzeichnend für die französische Gesellschaft – werde jedoch vom FN verfälscht. Der FN begnüge sich nicht mit der Forderung nach Trennung von Religion und Staat. Vielmehr zielten die Aktivitäten des FN/RN darauf ab, die jüdischen und muslimischen religiösen Symbole aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Zu diesen Maßnahmen zählt u. a. das vom FN geforderte Verbot des Schächtens oder auch die Forderung, die staatliche Unterstützung von kommunitaristischen Vereinen zu stoppen. Eine staatliche Förderung sei auch dann einzu stellen, wenn diese Vereine kulturelle Ziele verfolgten (vgl. ebd.). Anknüpfend an die zentrale Kategorie der Identität fordert der FN/RN die „Bevorzugung von Franzosen auf dem Arbeitsmarkt, dem Wohnungsmarkt und bei der Verteilung von Sozialleistungen, drastische Reduzierung der europäischen und nicht-europäischen Einwanderung auf 10 000 Personen pro Jahr, ausgewählt allein aufgrund ihrer beruflichen Kompetenz, Abschaffung des ius soli.“ (Ebd., S. 6) Somit zielen die Forderungen des FN/RN auf die Herstellung eines ethnisch homogenen christlichen Frankreichs, in dem ein Assimilationszwang besteht und Ausländer*innen, die nicht dazu bereit sind, sich dem zu unterwerfen, die Abschiebung droht. Im Sinne einer ‚dédiabolisation‘ haben sich aber die vom FN/RN verwendeten Begrifflichkeiten verändert. An die Stelle der ‚priorité nationale‘ (‚nationalen Bevorzugung‘) trat die Forderung nach einer ‚préférence nationale‘ (‚nationalen Präferenz‘). Während die Forderung nach Abschiebung von Einwander*innen in der Vergangenheit noch umschrieben wurde mit ‚l’inversion des flux migratoires‘ (‚Umkehrung des Migrationsstroms‘), wird heute die Forderung erhoben
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nach einer ‚réduction du nombre d’étrangers admis en France‘ (‚Reduzierung der Zahl der in Frankreich zugelassenen Einwanderer*innen‘). Die Einführung dieser euphemistischen Forderungen ändert jedoch nichts an der letztlich rassistischen Politik des FN/RN. Eribons Erinnerungen an die Alltagsgespräche in seiner Familie bringen ihn zu der folgenden Einschätzung: „Hätte man aus dem, was tagtäglich in meiner Familie gesprochen wurde, ein politisches Programm stricken wollen, es wäre, obwohl man hier links wählte, dem der Rechtsextremen wohl ziemlich nahegekommen: Forderungen, Einwanderer wieder abzuschieben; ‚nationales Vorrecht‘ auf Arbeitsplätze und Sozialleistungen; Verschärfung des Strafrechts und der Strafverfolgung; Beibehaltung und Ausweitung der Todesstrafe […]. Ein tiefsitzender Rassismus, der eines der dominanten Merkmale der weißen Arbeitermilieus und Unterschichten ausmachte, hat die Eroberung einer ehemals kommunistischen Wählerschaft durch den Front National […] vielleicht erst ermöglicht oder jedenfalls erheblich begünstigt. ‚Sie übernehmen das Land‘, ‚Sie verdrängen uns‘, ‚Sie kriegen Sozialhilfe und Kindergeld, und für uns bleibt nichts‘.“ (Eribon 2016, S. 133 f.)
Die „rassistischen Empfindungen“ (ebd., S. 135) oder der „volkstümliche Alltagsrassismus“ (ebd., S. 137), der in der Familie Eribon vorgeherrscht habe, sei so stark gewesen, dass man bei der „Entscheidung für linke Parteien […] gewissermaßen gegen seinen unmittelbaren rassistischen Reflex“ (ebd., S. 135) habe anwählen müssen. Im Nachdenken darüber, was die tiefer liegenden Ursachen des rassistischen Ressentiments gewesen sein könnten, führt Eribon an, dass seine Mutter einer sozialen Gruppe angehört habe, die immer wieder mit ihrer „eigenen Unterlegenheit“ konfrontiert worden sei. „Vielleicht erfuhr sie in der Abwertung der anderen eine Aufwertung ihres Selbstbildes, vielleicht sah sie darin einen Weg, die eigene Existenz zu verteidigen.“ (Ebd., S. 139) In der Sozioanalyse Eribons findet sich auch der Hinweis darauf, dass sich in den 60er und 70er Jahren im Denken seiner Eltern – und speziell seiner Mutter – „zwei Arten der Differenzierung zwischen ihnen und uns vermischt“ haben: Einerseits „die Unterscheidung von Klassen (Reiche vs. Arme)“, andererseits die Unterscheidung „von Ethnien (Franzosen vs. Ausländer)“ (ebd.). Die Arbeitskämpfe und Streikbewegungen der 60er und 70er Jahre führten jedoch dazu, dass im Zuge von Streikerfahrungen die spontanen rassistischen Ressentiments verschwanden, zwischen den Streikenden herrschte Solidarität, wenn auch nur temporär für die Phase der Arbeitsauseinandersetzungen: „Die fehlende Mobilisierung als Gruppe bzw. die fehlende Selbstwahrnehmung als solidarisch-mobilisierbare Gruppe (sobald sie um ihre Mobilisierbarkeit weiß, ist eine
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Gruppe geistig schon mobilisiert) führt dazu, dass rassistische Kategorien die sozialen ersetzen. Wenn die Linke die Mobilisierbarkeit aus dem Selbstwahrnehmungshorizont der Gruppe löscht, dann rekonstruiert diese sich anhand eines anderen, diesmal nationalen Prinzips, anhand der Selbstwahrnehmung als ‚legitime‘ Population eines Territoriums, das einem scheinbar weggenommen wird und von dem man sich vertrieben fühlt“ (ebd., S. 139 f.).
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Gender – Der ‚Toxische Feminismus‘ Marine Le Pens
Bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2017 war Marine Le Pen die einzige weibliche Kandidatin, was in mehrfacher Hinsicht überrascht: Einerseits ist es den Parteien des linken Spektrums nicht gelungen, eine Frau als Kandidatin aufzustellen; andererseits ist es ausgerechnet der männerbündische FN, der durch eine Frau nach außen repräsentiert wird. Die Tatsache, dass ausgerechnet der FN ein ‚weibliches Gesicht‘ hat, führt(e) dazu, dass Wählerinnen in einem höheren Maße dazu bereit waren (und sind), dieser Partei ihre Stimme zu geben. Bei dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen gaben die Männer ihre Stimme eher Macron (24,8 Prozent) als Le Pen (20 Prozent). Die Frauen hingegen votierten mit 23,9 Prozent für Marine Le Pen und nur mit 21,3 Prozent für Macron (vgl. Kuhn 2017). Bei dem zweiten Wahlgang waren die weiblichen Wählerinnen in Bezug auf die Stimmabgabe für Le Pen etwas zurückhaltender: 20 Prozent aller Frauen votierten für Le Pen und 24 Prozent aller Männer gaben ihr die Stimme (vgl. Eloi 2017). So kann man in Bezug auf den Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Mai 2017 konstatieren, dass es den Radical Right Gender Gap (RRGG), den es über Jahrzehnte hinweg gegeben hat, in Frankreich nicht mehr zu geben scheint. Nonna Mayer sieht darin, im Interview mit Nicolas Truong, einen ‚Marine-Le-Pen-Effekt‘. Das Wahlverhalten der weiblichen Wählerinnen sei einerseits der Tatsache geschuldet, dass Marine Le Pen als Frau wählbarer ist als ihr Vater; zu berücksichtigen sei aber auch die schlechte ökonomische Lage von Frauen aus den ärmeren Schichten der Gesellschaft. Namentlich bei der Gruppe der Angestellten im Einzelhandel handelt es sich um eine soziale Gruppe, die sehr deutlich für Le Pen votiert hat (vgl. Truong 2017). Im Wahlprogramm des FN, das 144 Punkte umfasst, finden sich lediglich drei Zeilen zu Frauenrechten: „Die Rechte der Frauen zu verteidigen bedeutet: den Islamismus zu bekämpfen, der ihre fundamentalen Freiheiten beschneidet; es bedeutet: einen nationalen Aktionsplan für die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen zu erstellen und die berufliche und soziale Unsicherheit anzugehen.“ (Zit. nach Kostolnik 2017) Die programmatische Verknüpfung des Kampfes um Vertei-
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digung der Frauenrechte mit der Bekämpfung des Islamismus lässt deutlich werden, dass der FN die Legitimation der Bekämpfung des Islam/Islamismus ableitet aus dem Eintreten für Frauenrechte – eine diskursive Verknüpfung, die in Anlehnung an Sara R. Farris auch als Femonationalismus firmiert (Farris 2016). Marine Le Pen bezeichnet sich nicht explizit als Feministin; sie präsentiert sich jedoch stets als moderne Frau, die sich als emanzipiert versteht. Dies begründet sie damit, dass sie eine alleinerziehende und berufstätige Mutter ist. Auf ihrer früheren Internetpräsenz als Mitglied des Europäischen Parlaments (Stand 27. 08. 2015) betonte sie ihr ‚Frausein‘ in fünffacher Hinsicht: Als Tochter und somit auch legitime Nachfolgerin der Familie Le Pen, als Anwältin und somit berufstätige Frau, als Mutter einer Familie („mère de famille“), die alleinerziehend ist, als engagierte Frau der Öffentlichkeit in ihrer Rolle als Politikerin und Vorsitzende des FN. Diese Rollen verknüpft sie darüber hinaus mit unterschiedlichen Kompetenzen und dem Expertisewissen als Juristin, Politikerin, die quasi in den FN hineingeboren wurde und als Mutter, die um die Belange berufstätiger und alleinerziehender Mütter weiß. Diese verschiedenen Identitäten vermitteln einerseits Nähe zu den vielfältigen Problemlagen der Bevölkerung, andererseits Expertise und Durchsetzungskraft. In dieser Rolle beansprucht sie für sich, auch im Namen vieler berufstätiger und alleinerziehender Mütter sprechen zu können (vgl. Hentges und Nottbohm 2017). Auch wenn sich Marine Le Pen nicht explizit als Feministin bezeichnet, so nimmt sie doch gelegentlich auf Feministinnen Bezug, u. a. auf Elisabeth Badinter oder Simone de Beauvoir. Die feministische Philosophin und Schriftstellerin Elisabeth Badinter rekurrierte 2011 positiv auf Marine Le Pen. In einem Interview mit Le Monde betont Badinter, dass – abgesehen von Marine Le Pen – derzeit kein*e andere*r Politiker*in den Säkularismus verteidige. In der Linken sei der Kampf – abgesehen von Manuel Valls (1980 – 2017 Mitglied des PS, 2012 – 2014 Innenminister, 2014 – 2016 Premierminister) – vollständig aufgegeben worden. Zugleich habe die politische Linke dazu beigetragen, dass sich die folgende Gleichung in der Gesellschaft verfestige: „Die Verteidigung des Säkularismus entspricht Rassismus“ (Schwarz 2011, Übersetzung G. H.), und das sei, so Badinter, tragisch.4 Diese Äußerungen von Badinter waren eine Steilvorlage für Marine Le Pen und veranlassten sie dazu, Badinter für die zum Ausdruck gebrachte Klarheit zu beglückwünschen. 4
„En dehors de Marine Le Pen, plus personne ne défend la laïcité. Au sein de la gauche, le combat a été complètement abandonné, si ce n’est par Manuel Vals. La gauche a laissé s’installer l’équation suivante : défense de la laïcité égal racisme. Cela est tragique. Je me bats aussi pour l’égalité des sexes, la gestation pour autrui, l’adoption par les couples homosexuels. Le retard de nos représentants sur ces questions est d’une part lié à la sacralisation de la nature et, d’autre part, à la vitesse des changements sociétaux.“ (Schwarz 2011)
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Ein weiteres Beispiel für die Bezugnahme auf den französischen Feminismus war die ‚Kölner Silvesternacht 2015‘, ein Ereignis, das in dem Essay von Sabine Hark und Paula-Irene Villa im Sinne von Bruno Latour als Ding von Belang bezeichnet und von den beiden Autorinnen als moralischer Knotenpunkt analysiert worden ist: „‚Köln‘ stellt in diesem Licht betrachtet einen affektiv aufgeladenen moralischen Knotenpunkt dar. Es mobilisiert Gefühle, die dazu angetan sind, dass ‚sich manche Subjekte auf manche andere und gegen manche andere richten‘. ‚Köln‘ verknüpft Diskurse und Praktiken in einer spezifischen Weise, so dass wir auch durch die so mobilisierten Affekte und Emotionen als Subjekte in je bestimmte und asymmetrisch angeordnete, geschlechtlich und sexuell markierte, rassifizierte moralische Positionen gerufen werden. So werden beispielsweise weiße, westliche Frauen als besonders schützenswertes Gut, aber auch als moralisch überlegen ausgerufen.“ (Hark und Villa 2018, S. 52)
Marine Le Pen nahm die sexualisierte Gewalt gegen Frauen zum Anlass, um sich als Frauenrechtlerin zu inszenieren. So schrieb sie in der Tageszeitung L’Opinion: „Ich denke an die Worte von Simone de Beauvoir: ‚Vergesst nie, dass es nur zu einer politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Krise kommen muss, um die Frauenrechte in Frage zu stellen.‘ Und ich befürchte, dass die Flüchtlingskrise der Anfang vom Ende der Frauenrechte ist.“ (Marine Le Pen 2016, zit. nach Volkert 2016) Marine Le Pens Bezugnahme auf Simone de Beauvoir erfolgt keineswegs im Sinne einer positiven Referenz auf feministische Theorie, sondern dient lediglich der Instrumentalisierung de Beauvoirs. Le Pen benutzt die Schriften von Simone de Beauvoir als Steinbruch, um die Fluchtmigration im Spätsommer 2015 und die Ereignisse der Silvesternacht in Köln als das Ende der Frauenrechte darzustellen. Nach Einschätzung der Kulturwissenschaftlerin Céline Alduy, die Marine Le Pens Reden analysiert hat, handelt es sich jedoch um einen reinen Verbalradikalismus, der einzig und allein dem Zweck der Islamkritik diene. Nie gehe es ihr, so Céline Alduy, um die Gleichheit der Geschlechter, die Prekarität arbeitender Mütter, um Familienpolitik oder Abtreibung (vgl. Brändle 2017). Jenseits der Diagnose des Verbalradikalismus sind jedoch diese Debatten in einen größeren Kontext einzuordnen. Bezugnehmend auf Hark und Villa kann hier von einem toxischen Feminismus gesprochen werden, denn in der Debatte, die von Marine Le Pen aufgegriffen worden ist, finden sich alle Ingredienzien, die einen hegemonialen, gar rechten Feminismus charakterisieren: „Kriminalität, Terror gefahr und -abwehr, nationale Sicherheit, Disziplin und öffentliche Moral sowie Formen rassistischer Verallgemeinerung, die umstandslose Verflechtung von Religion, Gewalt und Geschlecht und schließlich die Verflechtung von feministischen Anliegen und nativistischen Topoi.“ (Hark und Villa 2018, S. 77 f.)
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In Didier Eribons Buch Rückkehr nach Reims findet sich an einer Stelle die Passage, in der Eribon darüber nachdenkt, weshalb auch Frauen für Le Pen votieren. Eribon fragt seine Mutter, weshalb sie denn Le Pen gewählt habe, obwohl sich der Front National gegen Schwangerschaftsabbrüche ausspreche und sie einige Jahre nach seiner Geburt habe abtreiben müssen. Daraufhin sagte sie, es sei doch nicht wichtig, ob sich der FN für oder gegen Schwangerschaftsabbrüche ausspreche. Dies spiele doch keine Rolle, und dies habe sie nicht davon abgehalten, FN zu wählen (vgl. Eribon 2016, S. 73 ff.). Diese Passage lässt deutlich werden, dass Eribon in dem Gespräch mit seiner Mutter versucht, die Widersprüche herauszuarbeiten und auf die Unstimmigkeiten hinzuweisen. Jedoch stellt sich heraus, dass sich seine Mutter überhaupt nicht für die Frage interessiert, ob das Parteiprogramm an allen Punkten mit ihren Positionen übereinstimmt – oder auch nicht. Diese Passage habe ich zum Anlass genommen, um darüber nachzudenken, wie sich die Achsen der Ungleichheit (Klinger, Knapp und Sauer 2007) auf die Programmatik und Ideologie des FN bzw. RN auswirken.
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Fazit
Die Thematisierung von ‚race‘, class, gender, queer in Eribons Sozioanalyse Rückkehr nach Reims war Anlass für den vorliegenden Beitrag. Ausgehend von den Achsen der Ungleichheit habe ich rekonstruiert, wie diese Themen im Spektrum der extremen oder rechtspopulistischen Rechten verhandelt werden. Es konnte aufgezeigt werden, dass die Strategie von Marine Le Pen und ihres Beraters, Florian Philippot, eine ‚dédiabolisation‘ des FN/RN vorangetrieben hat. Folglich versucht Marine Le Pen zu vermeiden, dass sich Parteifunktionär*innen offen homophob, antisemitisch oder sexistisch äußern. Dieser Strategie- oder Paradigmenwechsel soll zu einer Verbreiterung der sozialen Basis und zu einer Erlangung der kulturellen Hegemonie führen. Eine strategische Neuausrichtung gilt somit für die Kategorien ‚race‘, class, gender, queer. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die Aktualisierung der Programmatik und Ideologie und die Vermeidung offener Beleidigungen der Tatsache geschuldet ist, dass Marine Le Pen und ihre Berater*innen die Strategie verfolgen, neue Wähler*innengruppen für den FN/RN zu gewinnen. Auch der Versuch, die soziale Frage von rechts zu besetzen, scheint in Ansätzen gelungen zu sein, indem ökologische Fragen gegen ökonomische Fragen ausgespielt worden sind. Folgt man den Ergebnissen des Umfrageinstituts Ifop, so haben bei den EU-Wahlen 2019 43 Prozent aller Demonstrant*innen der ‚Gilets Jaunes‘ für die RN-Liste votiert (Ifop 2019). Wenn man bedenkt, dass vorangegan-
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gene Umfragen unter den Demonstrant*innen zu der Einschätzung kamen, dass diese Bewegung politisch nicht eindeutig zu verorten sei, spricht einiges dafür, dass es der extremen Rechten in Frankreich gelungen ist, die Revolte der ‚classes populaires‘ für sich zu vereinnahmen. Mit Blick auf den Ausgang der Wahlen wird deutlich, dass Marine Le Pen ein zentrales Ziel erreicht hat: Die Verbreitung der sozialen Basis mit Blick auf Frauen als Wählerinnen und homosexuellen Männern als Wähler scheint ihr gelungen zu sein. Hinsichtlich der Erlangung der kulturellen Hegemonie zeichnet sich ab, dass die Bewegung der ‚Gilets Jaunes‘, die sehr stark geprägt war von sozialen Abstiegsängsten der Bevölkerung ländlicher Regionen, in Teilen von Marine Le Pen vereinnahmt werden konnte. Auch wenn Eribon dafür plädiert hat, sich der sozialen Frage wieder verstärkt zuzuwenden, um die Bewegung der ‚Gilets Jaunes‘ nicht der extremen Rechten zu überlassen, so ist es den linken und fortschrittlichen Kräften offenbar nicht gelungen, innerhalb der Bewegung die kulturelle Hegemonie zu erlangen. Daran wird deutlich, dass wir es in Frankreich – wie in anderen EU-Staaten auch – mit einer Krise der politischen Repräsentation zu tun haben, die sich dadurch auszeichnet, dass die Parteien des politischen Mainstreams kein Vertrauen mehr genießen. Diese Krise der politischen Repräsentation zeichnet sich jedoch auch dadurch aus, dass Formationen am rechten Rand als wählbare Alternative erscheinen und derzeit europaweit reüssieren können, wie bei den EU-Wahlen im Mai 2019 ersichtlich wurde.
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Sexualität und Klasse
Privilegierung und Beschämung im Bildungsaufstieg Didier Eribons Hontoanalyse aus Perspektive einer intersektionalen Jungen- und Männlichkeitsforschung Thomas Viola Rieske
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Einleitung
Der 1953 in Reims als Sohn einer Putzfrau und eines Fabrikarbeiters geborene Didier Eribon hat einen ungewöhnlichen Weg beschritten. Entgegen aller Barrieren einer Bildungskarriere von Arbeiterkindern hat er nicht nur als einziges Kind seiner Eltern einen weiterführenden Schulabschluss gemacht. Er hat zudem in der Folge Philosophie studiert, Gastprofessuren in Princeton und Berkeley innegehabt und 2009 im Alter von 56 Jahren eine Professur für Soziologie an der Universität Amiens erhalten. In dem im selben Jahr in Frankreich erstmals erschienenen Buch Rückkehr nach Reims (2016) reflektiert Eribon diesen Weg jedoch nicht als eine reine Emanzipationsgeschichte, sondern vielmehr als ambivalenten Prozess im Kontext der französischen Klassengesellschaft: Zwar sei er letztlich in jenem akademischen Feld als Intellektueller angekommen, welches er für einen großen Teil seines Lebens angestrebt habe. Doch im Zuge dessen habe er sich zunehmend von jenem Milieu räumlich und kulturell distanziert, in dem er aufgewachsen sei und dem er sich zwar solidarisch verbunden gefühlt, dessen konkrete Praxis er jedoch selbst zu verachten gelernt habe: das Arbeiter*innenmilieu. Ich möchte Eribons Beitrag im Folgenden mit der Forschung zu Jungen und Männlichkeit in Kontakt bringen und das wechselseitige Ergänzungspotenzial eruieren. Dabei zeigt sich einerseits, dass Eribons Überlegungen Leerstellen im Diskurs über Jungen, Männlichkeit und Bildung verdeutlichen, in welchem die soziale Position des schwulen Arbeiterkindes ebenso wenig thematisiert wird wie die Bedeutung von Beschämung. Andererseits zeigt sich jedoch, dass Eribon bedenkenswerte Dimensionen seiner Biografie nicht thematisiert. Seine Klassenreise ist unter Berücksichtigung der intersektional verstandenen Kategorie ‚Männlichkeit‘ nicht ganz so unwahrscheinlich, wie sie erzählt wird und wurde von Ressourcen ermöglicht, die in Eribons Darstellung unreflektiert bleiben. Zur Entfaltung © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Kalmbach et al. (Hrsg.), Eribon revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30561-1_10
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Thomas Viola Rieske
dieser Thesen blicke ich zunächst auf Diskurse über die Reproduktion sozialer Ungleichheit in Bildungssystemen mit einem Fokus auf die (Un-)Wahrscheinlichkeit von Bildungskarrieren männlicher Arbeiterkinder. Einer Darstellung der Erzählung Eribons und der darin enthaltenen Thesen folgt schließlich der Vergleich zwischen dieser Erzählung und den Theorien der Männlichkeitsforschung, um die wechselseitigen Ergänzungspotenziale zu entfalten.1
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Jungen in Diskursen über Bildung und soziale Ungleichheit
2.1 ‚Benachteiligte Jungen‘ und ‚Migrantensöhne‘ als Hauptfiguren Die Schlagworte ‚Jungen‘ und ‚Bildungsungleichheit‘ sind in den vergangenen Jahren vor allem in Diskursen über Differenzen zwischen den Bildungswegen und -resultaten von Jungen und Mädchen vorgekommen. Hinsichtlich Bildungsabschlüssen, Noten und Kompetenzerwerb war etwa ab dem Jahr 2000 verstärkt darauf hingewiesen worden, dass Mädchen im Schnitt ein höheres Bildungskapital erwarben. Gegen die Schlussfolgerung einer Bildungsbenachteiligung von Jungen gegenüber Mädchen (vertreten etwa von Diefenbach 2010) wurde vorgebracht, dass sich diese scheinbaren Vorteile nicht in damit assoziierte Vorteile im Erwachsenen leben – insbesondere im Sinne eines höheren ökonomischen Kapitals von Frauen – übertrugen. Es wurde darauf hingewiesen, dass Jungen bei einigen Indikatoren, denen eine hohe Relevanz auch für die soziale Positionierung im Erwachsenenalter zugeschrieben wurde, im Vergleich zu Mädchen durchschnittlich bessere Resultate erzielten, wie etwa beim Vertrauen in die eigene Leistung (vgl. König und Valtin 2011). Da mit dem Begriff der Bildungsbenachteiligung nicht nur isoliert Nachteile im Erwerb von Fachkompetenzen und schulischen Bildungstiteln gemeint sind, sondern seine Skandalisierung vielfach in der Annahme eines Zusammenhangs mit einer langfristigen sozial nachteiligen Positionierung gegründet ist, wurde die These einer Benachteiligung von Jungen vielfach abgelehnt (vgl. Rieske 2011) und die damit verbundene Krisendiagnose kritisch hinterfragt (vgl. Fegter 2012). In der genannten Diskussion wurde außerdem auf Differenzen unter Jungen hingewiesen, da manche Jungen durchaus für sie vorteilhafte Bildungswege beschritten und nachteilige Bildungswege durch eine Überrepräsentation einer 1
Der Beitrag wurde im Rahmen des Forschungsprojekts Jungen und Bildung entwickelt, welches vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wird und sich der Frage widmet, wie Bildungsprozesse von Jungen gegenwärtig gestaltet sind.
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Teilgruppe von Jungen gekennzeichnet sind, die nicht nur durch die Kategorie Geschlecht bestimmt ist. Anstelle des ‚katholischen Arbeitermädchens vom Lande‘ – die Kunstfigur zur Beschreibung von Dynamiken der Bildungsbenachteili gung der 1960er – wurde etwa vom „Migrantensohn aus bildungsschwachen Familien“ (Geißler 2005, S. 95) gesprochen. Die Formulierung ‚bildungsschwach‘ ist aufgrund ihres potenziell stigmatisierenden Gehalts sicherlich diskussionsbedürftig. Auch birgt eine Fokussierung auf Jungen mit Migrationsgeschichte angesichts aktueller Diskurse, die erneut rassistische Verhältnisse anhand der Konstruktion außereuropäischer Männlichkeiten als fremd und gefährlich herstellen, ein Risiko (vgl. Scheibelhofer 2018). Doch zugleich wurde in der Thematisierung der Kategorien Geschlecht, Ethnizität und Klasse der Blick auf problematische soziale Lagen gelenkt und der Diskurs differenziert. Die erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bildungsungleichheiten und Männlichkeit ist seitdem aber deutlich zurückgegangen. Insbesondere die Auseinandersetzung mit den Bildungswegen von Jungen in sozioökonomisch nachteiligen Lagen, zu der Eribon beiträgt, ist zuletzt kaum weiterverfolgt worden. Der folgende Blick auf das bestehende Wissen zu diesem Thema zeigt jedoch Forschungsdesiderate auf, von denen einige durch Eribon bearbeitet werden.
2.2 Bildungswege von Arbeitersöhnen Für ein Verständnis der Bildungssituation von Jungen ist die Berücksichtigung von normativen Bildern und Praktiken hilfreich, wie sie im Konzept der Männlichkeitsanforderungen von Stuve und Debus (2012) beschrieben werden. Demnach sind all diejenigen, die Jungen sein wollen oder sollen, mit einer kontextspezifisch varia blen Souveränitätserwartung konfrontiert. Stärke, Kontrolle, Distanziertheit, Unangreifbarkeit, Wettbewerbsfähigkeit, Freude am Kampf sind typische Elemente dieser Erwartung, die mit Abwertung und Ausgrenzung etwa von Verletzbarkeit, Homosexualität, körperlichen oder geistigen Beschränkungen, Bedürftigkeit oder Beziehungsorientierung einhergeht (auch dies hängt vom Kontext ab). Dies führt zu hierarchischen Relationen zwischen Praktiken von Jungen und Männern und letztlich unter Jungen und Männern selbst, die von Raewyn Connell (1999) mit dem Konzept der Unterordnung gefasst werden. Im Kontext Schule, in welchem die Akzeptanz von Regeln und Lernanforderungen gefordert wird, geraten Jungen potenziell in einen Konflikt zwischen doing masculinity und doing student, was die Dynamiken von und mit Jungen in Schulen verständlich macht (vgl. Budde 2011). Dass Männer trotz der durchschnittlich schlechteren Schulabschlüsse weiter hin durchschnittlich einen besseren Zugang zu politischer und ökonomischer Macht erhalten, kann mit Connells Begriff der „patriarchalen Dividende“ (Connell
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Thomas Viola Rieske
1999, S. 100) gefasst werden. Demnach erhalten Männer aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum männlichen Feld bestimmte Vorteile, und zwar auch wenn sie dem Souveränitätsideal nicht besonders stark entsprechen. Dieses – gerade mit Blick auf marginalisierte Lebenslagen durchaus problematisierungswürdige – Konzept hilft dabei, scheinbare Nachteile besser zu verstehen. So können schlechtere Noten oder Abschlüsse als ‚Kosten‘ einer ansonsten privilegierenden Männlichkeit begriffen werden. Michael Messner (2000) hat in diesem Sinne vorgeschlagen, drei Perspektiven in der Auseinandersetzung mit Jungen und Männern anzuwenden: den Blick auf institutionalisierte Privilegien, den Blick auf Kosten und Nachteile und schließlich den Blick auf Differenzen unter Männern. Dies führt zu der Frage, wie die Bildungspraktiken und -effekte von Jungen in marginalisierten Situationen gefasst werden können. Connell argumentierte, dass es neben der Hierarchie entlang der Erfüllung von Männlichkeitsnormen noch einen zweiten Typus an Relationen unter Männlichkeiten gibt, der durch die Interdependenz von Geschlecht mit weiteren Differenzkategorien entsteht. Rassismus, Klassismus und Ableismus etwa führen dazu, dass die Ressourcen zur Erfüllung der Souveränitätserwartung unterschiedlich verteilt sind und es zu einem weiteren Hierarchietypus kommt: Marginalisierung. Jungen und Männer in entsprechenden Lebenslagen bilden teilweise Dominanz beanspruchende Praxismuster – „protestierende Männlichkeiten“ (Connell 1999, S. 132) – aus. Diese Praktiken verfehlen jedoch die kulturellen Regeln für akzeptierte Strategien der Herstellung männlicher Dominanz und werden in besonderem Maß zum Objekt von Kritik und Veränderungsbemühungen gemacht. Paul Willis (1977) fand derartige Muster im Rahmen seiner Studie Learning to Labour vor, in welcher er die Praktiken von weißen männlichen Jugendlichen der Arbeiterklasse in Bildungskontexten untersuchte. Er beobachtete, dass diese sich durch die Performanz einer demonstrativ körperbetonten Männlichkeit von staatlichen Autoritäten, Mädchen und Migranten abgrenzten. Sie konnten damit einerseits ein ihnen vermitteltes Dominanzversprechen begrenzt einlösen, andererseits jedoch reproduzierten sie damit ihre untergeordnete Klassenposition. Während diese Praxis zu jener Zeit noch teilweise in akzeptierbare Lebenslagen für Jungen führte, betont Wellgraf (2012), dass die Hauptschule dies inzwischen nicht mehr leiste. Eine unter proletarischen Männern verbreitete Feminisierung und Abwertung geistiger Arbeit führe angesichts der Deindustrialisierung der Produktionsverhältnisse zu einer Beschränkung von Beschäftigungsmöglichkeiten und in der Folge zu weiterer Marginalisierung (vgl. auch Siegert 2017). Die ohnehin bestehende Spannung zwischen Männlichkeitserwartungen und schulischen Erwartungen verstärkt sich also für Jungen aus nicht-akademischen Milieus, was – neben weiteren Aspekten, die allgemein für bildungsbenachteiligte Kinder herausgearbeitet worden sind – als Erklärung für ihre geringeren Bildungsabschlüsse herangezogen werden kann.
Privilegierung und Beschämung im Bildungsaufstieg 163
Wie es dazu kommt, dass Jungen trotz einer nicht-akademischen Herkunft und den damit verbundenen Habitus-Struktur-Konflikten (vgl. zu diesem Begriff Schmitt 2010) einen sozialen Aufstieg vollziehen, ist bislang allerdings kaum erforscht worden. Eine Ausnahme bildet das Lehrforschungsprojekt Bildungserfolg im Kontext von Männlichkeit und Migration. Westphal und Mühlenhoff (2017) haben in diesem Rahmen u. a. sportliche Betätigung – insbesondere Fußball – als Strategie identifiziert, mit deren Hilfe männliche Bildungsaufsteiger mit Migrationsgeschichte diese Herausforderung bewältigen. Ist die Teilhabe an anerkannter Männlichkeit aufgrund von Rassismus und Klassismus erschwert und birgt der Bildungsaufstieg Risiken einer Diskriminierung, so kann mithilfe der Aneignung von als männlich geltenden Kompetenzen im Rahmen von Sport erstens ein anerkannter Status in der Peer-Gruppe sichergestellt und zweitens der Erwerb von Ressourcen (wie z. B. Selbstsicherheit) zum Umgang mit Diskriminierungserfahrungen erreicht werden. (Fußball-)Sport wird so zum „‚Hoffnungsschimmer‘ marginalisierter Männlichkeit“ (ebd., S. 235). Weitere Aspekte männlichen Bildungsaufstiegs im Kontext von Migration und Rassismus werden hierbei jedoch nicht diskutiert. So wäre bspw. zu fragen, ob die an die Söhne gestellten elterlichen Bildungsaspirationen von Migrant*innen (vgl. Ringler und Möller 2017) sich quantitativ oder qualitativ von den an Töchter gestellten Bildungsaspirationen unterscheiden oder der Umgang der Söhne damit ein spezifisch männlicher ist. Während die intergenerationale Transmission solcher Aspirationen mehrfach diskutiert worden ist, fehlt eine männlichkeitstheoretische Betrachtung dessen. Zölch, King, Koller, Carnicer (2012) diskutieren zwar Männlichkeitsentwürfe in diesem Kontext, fassen darunter jedoch weitgehend Lebens- und Zukunftsentwürfe, die sie nicht weiter geschlechtertheoretisch interpretieren. Ebenso wäre zu fragen, welche Relevanz rassistische Konstruktionen und Strukturen – zu denken wäre etwa an Konstruktionen von Hypermaskulinität und effeminierter Männlichkeit, an monolinguale institutionelle Normen oder an (selbst-)essenzialisierende Kulturalisierungen von Homophobie – in den Bildungsprozessen von Jungen of colour haben.
2.3 Schwule Arbeitersöhne in Bildungsinstitutionen – Eine Leerstelle im Diskurs Gänzlich unterbeleuchtet sind nun Bildungswege schwuler Arbeitersöhne wie Eribon. Welche Erfahrungen schwule Jungen in Bildungseinrichtungen konkret machen und welche Bedeutung dies für ihre Bildungswege hat, ist bislang für Deutschland kaum erforscht, auch nicht unter Einbezug der sozialen Lage der Betroffenen. Die Interdependenz von normativer Zweigeschlechtlichkeit und Hete-
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rosexualität sowie von Androzentrismus, Klassismus und Rassismus, wie sie sich in Biografien solcher Jungen zeigen dürfte, ist bestenfalls mit Blick auf heterosexuelle Jungen/Männer der Arbeiterklasse Thema – schwule Arbeitersöhne und schwule Arbeiter fehlen im Diskurs hingegen weitgehend. Zu fragen wäre etwa, inwieweit auch schwulen Arbeitersöhnen Ressourcen fehlen, um die in hegemonialer Männlichkeit idealisierten Elemente erfolgreich zu realisieren und wie sie damit umgehen. Denkbar wäre etwa, dass die Übernahme des Musters der Protestmännlichkeit sich für schwule Jungen ambivalenter als für heterosexuelle Jungen darstellt, sofern die Ablehnung von Femininem eine Ablehnung von Homosexualität beinhaltet. Daran schließt sich die Möglichkeit an, dass eine spezifisch schwule Protestmännlichkeit umgesetzt wird, die ohne eine explizite Entwertung von Weiblichkeit die marginalisierte Position inkorporiert. Ebenso wäre denkbar, dass eine schwule Subjektivierung Dynamiken be inhaltet, die anders als Protestmännlichkeit tatsächlich einen Weg aus einer marginalisierten Position heraus ermöglichen. Bei der Bearbeitung dieser Fragen wäre außerdem der o. g. Voschlag bedenkenswert, in der Betrachtung von Männlichkeiten sowohl auf Kosten, Privilegien als auch Vielfalt zu blicken und dabei die Gleichsetzungen ‚Männlichkeit = Privilegierung‘, ‚Homosexualität/Arbeiterklasse = Benachteiligung‘ in Anwendung einer multidimensionalen Perspektive zu überwinden (vgl. Mutua 2012). Zu fragen wäre dann: Welche Kosten hat ein Bildungsaufstieg für (schwule) Arbeitersöhne ? Welche Vorteile im Hinblick auf ökonomische, politische und symbolische Macht erfahren sie trotz ihrer Positionierung an den Grenzen legitimer Männlichkeit ? Welche Differenzen zeigen sich diesbezüglich innerhalb der Gruppe schwuler Arbeitersöhne ? Die an der Schnittstelle zwischen soziologischer Analyse und biografischer Schrift operierende „Autosoziobiographie“ (Spoerhase 2017, zit. n. Rieger-Ladich und Grabau 2018, S. 791) Eribons mag für die Klärung dieser Fragen nur begrenzt hilfreich sein, da Kindheit und Jugend der Erzählung in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts liegen und zudem die Übertragbarkeit auf den bundesdeutschen Kontext zu klären wäre. Interessant ist jedoch, welchen Denkraum sie eröffnet.
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Scham und Solidarität im Kontext von Klassismus und Heteronormativität – Eribons Hontoanalyse
3.1 Eribons Erzählung Die wesentliche Erzähllinie in Rückkehr nach Reims bildet der Werdegang Eribons vom Arbeiterkind zum Professor für Soziologie, wobei die Lebensumstände von
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Arbeiter*innen in der Nachkriegszeit, die Hürden des Feld- und Habituswechsels vom Arbeiter- zum akademischen Milieu und die Entwicklung einer schwulen Identität und intellektuellen Männlichkeit thematisiert werden – mitsamt der damit verbundenen Konflikte und erlebten Gewalt. Eribon geht dabei immer wieder auf klassistische Abwertungen ein, die ihm widerfahren sind und deren Komplize er selbst geworden ist. Hinsichtlich seines Bildungswegs fokussiert Eribon die Zeit auf dem Gymnasium und im Studium; Institutionen der Elementar- und Primarstufe werden nicht erwähnt und der Verlauf ab Ende des Studiums wird gerafft berichtet. Eribon erzählt seinen Weg in starker Resonanz der Bourdieu’schen Theorie zur Reproduktion sozialer Ungleichheit. Dieser zufolge geraten diejenigen, die sich zwischen einander konträr konstruierten Feldern bewegen, in Konflikte, weil soziale Hierarchien auch durch die Pflege kultureller Differenzen hergestellt werden (vgl. Bourdieu 1982). So schreibt Eribon, dass er in seinem Herkunftsumfeld eine Distanzierung zur Hochkultur erworben habe, die im Kontext Schule zu einer „Dynamik der Selbstexklusion“ geführt habe: „Ich war für jeden Blödsinn zu haben, gab auf alles Widerworte, war frech und respektlos zu meinen Lehrern“ (Eribon 2016, S. 151). Die Schule habe von ihm jedoch eine Anerkennung bürgerlicher Werte, Praktiken und Wissensbestände erfordert und die Vertrautheit mit diesen zugleich vorausgesetzt. Dies habe ihn in massive Konflikte gebracht, denn für ein erfolgreiches Bestehen der schulischen Anforderungen sei eine „Umerziehung“ vonnöten gewesen, „die sich auch dadurch vollzog, dass ich das verlernte, was ich ursprünglich gewesen war“ (ebd., S. 159). Im Kontakt mit seinen Eltern habe er eine Ablehnung der von ihm zunehmend entwickelten Haltungen erlebt: „‚Du sprichst wie gedruckt‘, haben sie in meiner Familie oft gesagt, um sich über meine neuen Manieren lustig zu machen“ (ebd., S. 99). Dennoch habe er den Habitus eines sich von der sport- und körperbetonten Männlichkeit der Arbeitersöhne abgrenzenden intellektuellen Ästheten entwickelt, wobei die damit verbundene Distanzierung von der Herkunftsfamilie nicht nur den Regeln des schulischen Feldes folgte, sondern auch auf Alkoholismus und Gewalt des Vaters reagierte. Als wesentliche Ressource für die Transformation seines Habitus nennt Eribon eine schwärmerische, rückblickend von ihm als Verliebtheit gedeutete Freundschaft zu einem Mitschüler, der ihm die Welt der ‚Hochkultur‘ eröffnete und an dem sich Eribon für einige Zeit orientierte. Doch dies hätte nicht gereicht, um die Begeisterung für Literatur und Philosophie, die er in seiner Jugend entwickeln sollte, auch beruflich verfolgen zu können. In seinen Entscheidungen entdeckt Eribon rückblickend die Dispositionen und die „Mittellosigkeit“ (ebd., S. 169) seines Herkunftsmilieus: anstelle einer naturwissenschaftlichen Abschlussklasse habe er eine literarische gewählt, als Fremdsprache wie die anderen Arbeiterkinder Spanisch statt Latein oder Griechisch ge-
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lernt, nach seinem hervorragenden Abitur nicht eine Vorbereitungsklasse für den Besuch einer Grande École besucht (von deren Existenz nicht einmal gewusst) – „ich glaubte zu wählen, wurde in Wahrheit aber von dem, was mich erwartete, gewählt oder, besser gesagt, von dem eingeholt, was mir vorgezeichnet gewesen war“ (ebd., S. 170). Eribon konnte zwar, auch aufgrund finanzieller Unterstützung seiner Eltern, ein Studium der Philosophie absolvieren, doch reüssierte er nicht im damals hoch selektiven Staatsexamen für dieses Fach, und zur Verfolgung einer Promotion fehlte ihm das Geld. Eine berufliche Perspektive ergab sich erst über einen Freund, durch den er Ende der 1970er in Kontakt mit einer Mitarbeiterin der Zeitung Libération kam, die ihm eine Stelle vermittelte. Er wurde Journalist, schrieb über philosophische und literarische Themen und schloss im Zuge von Interviews Freundschaften etwa mit Michel Foucault und Pierre Bourdieu. In den 1980ern folgten schließlich nach der Veröffentlichung von zwei Interviewbänden sowie einer Biografie Foucaults Anstellungen an Universitäten. Ähnlich wie viele Bildungsaufsteiger führte auch Eribons Weg zunächst über eine außerakademische berufliche Tätigkeit, er entspricht dahingehend dem Muster des „Bildungsaufstiegs trotz der Familie“ (Spiegler 2015, S. 230). Als Wegbegleiterin und Effekt dieses Prozesses führt Eribon die Scham ein. Bereits zu Beginn seines Buches berichtet er, dass er bei Besuchen bei den Eltern eine Scham gegenüber deren Verhaltens- und Sprechweisen empfunden habe und es auch als unangenehm empfunden habe, dass in seiner Geburtsurkunde die Tätigkeiten der Eltern eingetragen waren. Ausführlicher widmet er sich schließlich der sexuellen Scham. Sehr eindrücklich schildert Eribon die Omnipräsenz schwulenfeindlicher Abwertung in seiner Jugend und bezeichnet Reims als „die Stadt der Beleidigung“ (Eribon 2016, S. 191). Die Wirkung dessen bezeichnet er als schmerzhaft und massiv und er betont, dass die Verinnerlichung der Beleidigung zu einer dauerhaften Scham führe: „Ich bin ein Produkt der Beschimpfung. Ein Sohn der Schande.“ (Ebd., S. 194) Dies bezieht er wiederum auch auf die soziale Scham, die er infolge bürgerlicher Distinktionspraktiken entwickelt habe, in denen die Lebensweisen von Arbeiter*innen abgewertet werden. Die klassistische Beschämung wird Eribon zufolge ähnlich wie die schwulenfeindliche Beschimpfung verinnerlicht, wobei die dabei entstandene soziale Scham in Eribons Text als schwerer überwindbar dargestellt wird. Während es für die Überwindung der sexuellen Scham Orte der Unterstützung und des Empowerments gab, fehlten diese in Bezug auf die soziale Scham.2 2
Überlegenswert wäre, inwiefern diese beiden Dynamiken sinnvollerweise miteinander verglichen werden können. Während Eribon in Bezug auf die sexuelle Scham weiterhin jene Position einnimmt, welche Zielscheibe von Beschämung werden kann, ist dies im Fall der sozialen Scham etwas anders. Zwar kann er weiterhin für die Residuen eines nicht-akademi-
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3.2 Erziehungswissenschaftliche Rezeption Rieger-Ladich und Grabau (2018) werten Eribons Buch als „wichtigen Beitrag zur weiteren Aufklärung von jenen sozialen Praktiken, durch welche die Einrichtungen des Bildungswesens die soziale Ungleichheit reproduzieren“ (ebd., S. 791). Gemeint sind damit die Einblicke in die Habitus-Struktur-Konflikte, welche sich im Zuge einer Biografie wie jener Eribons ergeben. Die sich daran anschließende Frage, warum dennoch ein Aufstieg zustande kam, beantworten die Autoren Eribon folgend mit der Freundschaft zu dem Schüler aus dem bürgerlichen Milieu, der Finanzierung von Eribons Weg durch die Arbeit der Eltern sowie den unterstützenden Praktiken der schwulen Community. Insbesondere die Zugehörigkeit zu dieser sehen sie als wesentliche Ressource: „wer sich als Schwuler outet und um Aufnahme in der Schwulenszene bemüht, kann hier auf Solidarität und Unterstützung hoffen“ (ebd., S. 800). Als zweiten wertvollen Aspekt sehen die Autoren Eribons Thematisierung von Scham. Diese ermögliche zum einen ein besseres Verständnis für die Erfolge rechtspopulistischer Bewegungen. Wer erlebe, wie die eigenen Kinder sich im Zuge einer Bildungskarriere von der Herkunftsfamilie kulturell distanzieren und beginnen, sich an bürgerlichen Praktiken der Verachtung zu beteiligen, habe gute Gründe, sich von einem politischen Feld zu distanzieren, welches sich als links, emanzipatorisch und herrschaftskritisch inszeniert und zugleich selbst soziale Ungleichheit befördert und legitimiert. Zugleich ermögliche genau die Thematisierung von Scham eine solidarische Verbindung über die Spaltungstendenzen von auf wechselseitiger Distinktion beruhenden Habitus hinweg. Allerdings reklamiert Eribon für sich – explizit erst in einer späteren Veröffentlichung – eine besondere Variante der Zerrissenheitserfahrung. Er argumentiert, dass heterosexuelle Bildungsaufsteiger*innen aufgrund ihrer Heterosexualität in beiden Feldern – Herkunfts- und Ankunftsmilieu – leichter Unterstützung generieren könnten als dies ihm möglich war (vgl. Eribon 2017, S. 95). Damit positioniert sich Eribon eher als mehrfachdiskriminiert, was erneut die Frage aufwirft, warum ihm der Aufstieg möglich war. Dies soll im Folgenden unter Rückgriff auf Perspektiven der Männlichkeitsforschung diskutiert werden.
schen Habitus beschämt werden, doch er ist eben auch inzwischen Angehöriger des akademischen Feldes.
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Beschämende Privilegierungen – Eribons Text aus Sicht einer intersektionalen Männlichkeitsforschung
4.1 Privilegierung als Leerstelle Eribons Darstellung des Vorteils heterosexueller Bildungsaufsteiger*innen ist zunächst dahingehend problematisierbar, dass auch heterosexuelle Personen mit der heteronormativen Geschlechterordnung in Konflikt stehen können. Zudem bedenkt er nicht, dass die Ressource Solidarität unter Schwulen keineswegs unterschiedslos verteilt wird. Vielmehr werden in dieser Verteilung historisch tradierte und habitualisierte hierarchische Differenzordnungen reproduziert, wie insbesondere die Kritiken an rassifizierten und rassistischen Praktiken unter schwulen Männern zeigen (vgl. die Beiträge in Yılmaz-Günay 2014). Eine ähnliche Problematik ist auch in Eribons Erzählung in Rückkehr nach Reims beobachtbar, die in der Rezeption bislang nicht artikuliert worden ist. Als zwei wesentliche Ressourcen seines Eintritts in die von Bourdieu als herrschende Klasse bezeichnete Gruppe nennt Eribon (mehrheitlich männliche) Personen. Dabei handelt es sich erstens um den erwähnten Mitschüler, dessen Hinweise Eribon einen Ausweg aus seinem Habituskonflikt bieten. Ein zweiter Wendepunkt wird erneut in Form sozialer Unterstützung erzählt – die Vermittlung einer Tätigkeit bei einer Zeitung durch die Bekannte seines Kurzzeitpartners. Eribon betont an dieser Stelle selbst, dass Orte des schwulen Cruisens von Angehörigen verschiedener Klassen besucht werden und dadurch eine klassenübergreifende Solidarität möglich wird. Aus männlichkeitstheoretischer Perspektive sind dies Hinweise dafür, dass Eribon trotz seiner im Feld des Männlichen untergeordneten Position als schwuler Intellektueller Zugang zu Unterstützungsressourcen erhält – ganz im Sinne der These der ‚patriarchalen Dividende‘. Zum Verständnis der Bedeutung, die selbst eine untergeordnete Zugehörigkeit zum männlichen Feld haben kann, hilft der Vergleich mit den Möglichkeiten von nicht-männlichen Personen: Es ist zwar nicht unmöglich, aber doch insgesamt unwahrscheinlicher, dass diesen Ende der 1970er Jahre eine solche Tätigkeit vermittelt worden wäre. Zwar hatte die Frauen bewegung bereits zu diesem Zeitpunkt Ressourcen für Bildungsaufstiege von Frauen gegeben (vgl. für eine Analyse Soremski und Dierckx 2016), aber weiterhin erlebten Frauen zahlreiche Entmutigungen im Hinblick auf Bildungswege. Die Zuweisung der Zuständigkeit für Carearbeit etwa sowie (cis-)sexistische Diskriminierung erschweren Frauen und nicht-binären Personen weiterhin die Realisierung von Erwerbsarbeit und eine damit verbundene ökonomische Absicherung. Männern hingegen wurde eine akademische Karriere – entsprechend der Souveränitätserwartung – eher nahegelegt.
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Entgegen Eribons Selbstbeschreibung, er habe über keinerlei soziales Kapital verfügt, ist hier also auf das symbolische Kapital zu verweisen, das ihm aufgrund seiner spezifischen Position verliehen worden ist. Intersektional erweitert lässt sich konstatieren: Als weißer, schwuler, nicht-behinderter Mann wird ihm nicht dieselbe Masse an Hindernissen in den Weg gelegt, wie das bei anderen Personen der Fall ist. Er wurde nicht rassistisch angegriffen, seine Bildungsteilhabe wurde nicht durch ableistische Praktiken eingeschränkt, ihm ist kein Sexismus entgegengetreten. Während andere Arbeiter*innenkinder mit einer Reihe an weiteren Hindernissen zu kämpfen haben, war Eribon diesbezüglich relativ privilegiert. Dies Aufzugreifen ist eine besondere Herausforderung für Autosoziobiografien, da Diskriminierung direkter erfahrbar ist als Privilegierung, die meist über den Umweg der davon negativ Betroffenen erkennbar wird. Zudem birgt die – zweifelsohne schmerzhafte – Auseinandersetzung mit Diskriminierungserfahrungen die Möglichkeit, deren restriktive Wirkungen zu überwinden und sich ermächtigen zu können. Die Anerkennung der eigenen Involviertheit in Unterdrückungsverhältnisse legt demgegenüber auch eine Aufgabe bestimmter Ressourcen nahe, was als Verlust eigener Handlungsfähigkeit antizipiert werden kann, und damit als Rückkehr in genau jene Lage, der man gerade entkommen ist (zu den hier skizzierten Schwierigkeiten der Auseinandersetzung mit Privilegien vgl. Forschungsgruppe Lebensführung 2004). Eine Anerkennung der multiplen Formen von Privilegierung und Diskriminierung zeigt deutlicher als eine ein- oder zweidimensionale Betrachtung, warum Eribons Weg möglich war, und hinterfragt zugleich dessen Verallgemeinerungen. Denn seine These, dass „das kollektive Wertesystem der ‚Arbeiterkultur‘ […] die Arbeiterkinder dazu anhält, die schulische Kultur und die Kultur des Lernens zurückzuweisen“ (Eribon 2017, S. 235) wird unter anderem von der Erkenntnis konterkariert, dass Migrant*innen durchschnittlich höhere Bildungsaspirationen für ihre Kinder als Nicht-Migrant*innen (Becker und Gresch 2016) formulieren und Arbeitertöchter anders mit dem System Schule umgehen als Arbeitersöhne. „Es wird immer eine Dimension geben, der man nicht gerecht wird“, schreibt Eribon (2017, S. 252) und fragt danach, wie viele „kollektive Geschichten […] ein einzelnes Individuum aus[machen]“ (ebd., S. 253). Die Antwort sollte die Dimension Privilegierung enthalten – auch und gerade dort, wo sie vermeintlich inexistent ist. Dies ermöglicht es besser, den „Seiltanz“ (Boger 2015, S. 103) zu begehen, der mit einer Bezugnahme auf die Konstruktion ‚Arbeiterkind‘ einhergeht und zu oft dadurch bewältigt wird, dass nur eine von mehreren möglichen Perspektiven eingenommen wird.
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4.2 Scham als vernachlässigte Dynamik in der Jungen- und Männlichkeitsforschung Die Forschung zu Jungen, Männlichkeit und Bildungsungleichheit kann dennoch auch aus Eribons Text lernen. In der (erziehungswissenschaftlichen) Männlichkeitsforschung wird Scham kaum thematisiert. Zwar wird schon seit langem die zentrale Bedeutung der Ablehnung von mit Weiblichkeit gleichgesetzter Homosexualität diskutiert, doch hierbei spielen vor allem Gewalt und Angst eine Rolle. So wird vielfach davon ausgegangen, dass die Entwicklung einer männlichen Subjektivität mit der Ausgrenzung und Abwertung von Weiblichkeit einhergeht, was wiederum Grundlage für Homonegativität – in Form von Homophobie – ist (vgl. Kimmel 2001). Die wichtige Funktion von Beschämung in Subjektivierungsprozessen wird aber selten thematisiert. In Connells (1999) Werk kommt der Begriff kaum vor, ebenso wenig in den Sammelbänden von Budde, Thon, Walgenbach (2014) und Horlacher, Jansen, Schwanebeck (2016). Einzelne Hinweise finden sich in der vielfach zitierten Studie von Meuser (2006), der Scham an einer Stelle als Folge der Verunsicherung angesichts unerfüllbarer Männlichkeitsideale nennt und zugleich als möglichen Grund für die Beliebtheit hypermaskuliner Figuren vorschlägt (vgl. ebd., 313), sowie bei Thielen (2014), der in ethnografischen Beobachtungen im Kontext der Berufsvorbereitung Beschämung als eine Strategie zur Stabilisierung hegemonialer Männlichkeitserwartungen vorfand. Ausführli cher geht Kersten (2011) in der Analyse von männlicher Gewalt auf die Thematik ein. Jenseits dessen wird Scham in Bezug auf Männlichkeit umfangreicher vor allem in Diskursen geschlechterreflektierter Pädagogik mit Jungen (vgl. Jantz 2003) sowie in der psychoanalytisch orientierten Literatur diskutiert (vgl. die Fallgeschichten in Quindeau und Dammasch 2014).3 Eribon zeigt demgegenüber zum einen, dass Beschämung ein explizites Element von Unterordnung und Marginalisierung ist. Zum anderen verdeutlicht er, in welchem Ausmaß das Leben von Jungen und Männern durch Beschämung gekennzeichnet sein kann. Damit lässt sich die Analyse der Dynamiken von Jungen in Bildungsinstitutionen, wie sie etwa mit dem Begriff der Protestmännlichkeit diskutiert werden, um eine wesentliche Dimension erweitern und es ergeben sich neue Fragen: Was bedeutet es für (welche) Jungen, beschämt zu werden ? Auf der Grundlage welcher normativen Ordnungen werden sie beschämt ? Welche Umgangsstrategien wählen sie damit und gründet darin auch Protestmännlichkeit ? In welchem Ausmaß wenden Jungen wiederum selbst Beschämung in Interaktio3 Ich danke Michael Cremers für einige Literaturhinweise in diesem Zusammenhang. Insbesondere die nicht-akademische Literatur aus Jungen- und Männerarbeit wäre es wert, in wissenschaftlicher Forschung verstärkt rezipiert zu werden.
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nen an, trainieren womöglich in den Praktiken der Aneignung eines männlichen Habitus eine Souveränität auch gegenüber Schamgefühlen ? Inwiefern ist auch der Empfang männlicher Privilegien schambesetzt ? Verhindert Scham die Annahme der Auseinandersetzung mit eigenen Verwicklungen in Unterdrückungsverhältnisse ? Diese und weitere Fragen wären es wert erforscht zu werden, nicht zuletzt auch um die Dynamik von Scham nicht wissenschaftlich zu verdoppeln, indem die ihr innewohnende Tendenz zum Verbergen des Beschämten so weit reproduziert wird, dass sie unbenannt bleibt und zugleich die historisch tradierte Verknüpfung von Scham mit Weiblichkeit erneuert wird. Die Anerkennung von Scham könnte einen Zugang zum Ausstieg aus den Logiken hegemonialer Männlichkeit bieten.
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Fazit
Eribons Rückkehr nach Reims bietet Anlass für eine Weiterentwicklung von Theorien über die (Wieder-)Herstellung sozialer Ungleichheit in Bildungsprozessen. Deutlich wird darin, dass Konflikte mit heteronormativer, hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit einerseits den Willen bestärken können, sich kulturelles Kapital anzueignen. Dieses ermöglicht Anerkennungserfahrungen in dem Maße, indem etwa in literarischen Zeugnissen queere Praktiken und Relationen als Möglichkeit aufscheinen. Es ermöglicht zudem den Übergang in soziale Felder, die anderen Regeln folgen. Eine erfolgreiche Einsozialisation in eine queere Community bietet zudem Unterstützung, die angesichts der Herausforderungen solcher Feldwechsel besonders wichtig ist. Andererseits jedoch erschwert eine Positionierung in Distanz zu heteronormativer hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit auch Eribon zufolge die soziale Repositionierung, da eine weitergehende Verbundenheit mit dem Herkunftsmilieu erschwert ist, wenn diese sexistisch und heteronormativ strukturiert sind. Queere Bildungsaufsteiger*innen verlassen ihr Herkunftsmilieu potenziell in doppelter Weise und haben womöglich einen doppelten HabitusStruktur-Konflikt im bürgerlichen/akademischen Feld. Das gilt auch für die Auseinandersetzung mit den Bildungswegen von (marginalisierten) Jungen. Schwule Lebensweisen sind Teil der Lebensrealitäten von Jungen und sollten nicht, wie dies vielfach geschieht, den Queer Studies überlassen werden, sondern als Gegenstand von Jungen- und Männlichkeitsforschung anerkannt werden. Darüber hinaus regt Eribons Text dazu an, Scham als wesentliches Element von (vermännlichter) Subjektivierung anzuerkennen und zu explorieren. Bereits die bekannten Praktiken der Unterordnung homosexueller Männlichkeiten gehen mit Beschämung einher, was jedoch vorrangig in den Queer Studies reflektiert wird, während die Männlichkeitstheorie es lange vorgezogen hat, mit den Begrif fen der (Homo-)Phobie und (Weiblichkeits-)Abwehr zu operieren. Die Rolle von
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Scham und Beschämung in den Subjektivierungsprozessen von – verschiedenen – Jungen zu erforschen hieße, einem wesentlichen Teil ihrer Lebensrealität gerecht zu werden. Auch im Hinblick auf etwa pädagogische Angebote zur Reflektion männlicher Subjektivierungsweisen wäre eine solche Analyse außerordentlich hilfreich. Beide Impulse sollten jedoch mit einer intersektionalen Perspektive umgesetzt werden, um nicht jene Verkürzungen zu reproduzieren, die in Eribons Text und dessen Rezeption zu finden sind. Aufgrund der Multidimensionalität sozialer Verhältnisse, aufgrund der Interdependenz von Praktiken der Differenzierung und Hierarchisierung gilt es, die Gleichzeitigkeit und möglicherweise auch das Zusammenwirken von benachteiligenden und privilegierenden Dynamiken anzuerkennen und zu untersuchen.
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Lossagen und Rückkehren: partiale Verbindungen und queere Klassenpositionen Susanne Völker
„Meine sexuelle Identität nahm ich trotz aller Beschimpfungen an und bekannte mich zu ihr, von meiner sozialen Herkunft und der durch diese bedingten Identität riss ich mich los. […] Ich wurde von zwei sozialen Verdikten gebrandmarkt, einem sozialen und einem sexuellen. Solchen Urteilen entkommt man nicht. Diese beiden Einschreibungen trage ich in mir. Als sie in einem bestimmten Moment meines Lebens miteinander in Konflikt geraten, musste ich, um mich selbst zu formen, die eine gegen die andere ausspielen.“ (Eribon 2016, S. 219)
Mein Beitrag ist eine Re-Lektüre zweier Texte Eribons – Rückkehr nach Reims (2016) und Gesellschaft als Urteil (2017) –, in denen ‚Rückkehr‘ als immer wieder erneutes Misslingen des Versuchs eines Gegeneinander-Ausspielens von sexueller und sozialer ‚Identität‘ fassbar wird. Dass die Rezeption der Texte Eribons sehr kontrovers ist und dabei von intensiver Begrüßung bis zu schroffer Ablehnung reicht, scheint mir genau durch dieses ‚Misslingen‘ einer eindeutigen Positionierung, durch die widerstrebenden, ambivalenten, ja ‚scheiternden‘ Bewegungen, Begriffe und Konzepte dieser Texte motiviert zu sein. Denn trotz aller Bemühungen des Lossagens von, trotz allem Fortbewegen aus seinem Herkunftsmilieu mittels Bildungs-, Begehrens- und Körperarbeit bleibt Eribon in ‚seiner Klasse‘ verstrickt, bleibt sie verworfener Teil seines In-der-Welt-Seins, gibt es kein Ankommen in einem befriedeten ‚Ausspielen‘. Dies – so die These des Beitrags – zeigt sich sowohl in seiner Textpraxis, die widerstrebende Bewegungen artikuliert, als auch in wichtigen Begriffen seiner Analyse (wie beispielsweise Determinismus, Körper, Bildung und Unterwerfung) und nicht zuletzt in den affektiven Strömen seiner Texte (etwa hinsichtlich der Desidentifikation und der Scham). Im Folgenden möchte ich in einer etwas mäandernden Lektüre nachvollziehbar machen, weshalb Eribon mit diesem ‚nicht konsistenten‘, ‚misslingenden‘ Schreiben ein Stattgeben von queeren, im Grunde ‚unmöglichen‘ Klassenpositio© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Kalmbach et al. (Hrsg.), Eribon revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, Revisited – Perspektiven der Gender und Queer Studies, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30561-1_11
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nen und das Knüpfen von partialen Verbindungen, von Wahlverwandtschaften der Nicht-Identischen ermöglicht – und damit eine Praxis entfaltet, die das ‚Ausspielen‘ zugunsten einer nicht-konsensuellen Rückkehr immer wieder unterläuft. Dabei werde ich seine Texte durch die Überlegungen von Autor*innen hindurch lesen, auf die er explizit verweist (etwa Pierre Bourdieu oder Autoren der Cultural Studies wie Richard Hoggart oder Paul Willis) und/oder zu denen sich implizit Verbindungen herstellen lassen – etwa zu queer-feministischen Theoretiker*innen wie Judith Butler und Donna Haraway. Fünf Konstellationen werde ich näher betrachten: Im ersten Schritt (1) möchte ich mich den unterschiedlichen, widerstreitenden Textpraktiken Eribons widmen und diese mittels einiger Überlegungen Pierre Bourdieus und Donna Haraways charakterisieren. Im Anschluss werde ich drei wiederkehrende Thematisierungen aufgreifen: Da ist (2) einmal der Begriff des ‚sozialen Determinismus‘, der vieles zusammenbringt: die Skepsis gegenüber einer eigenständigen Arbeiter*innenkultur und deren Mystifizierung, die Totalität gesellschaftlicher Urteile und die schmalen Möglichkeiten des ‚wundersamen‘ Durchbrechens sozialer Zuweisungen. Ein weiteres Verhandlungsfeld der Texte dreht sich (3) um verworfene und begehrte Körper, um den (väterlichen) Körper der sozialen Herkunft, um verkörperte Genealogien und schwules self fashioning (Eribon 2017, S. 37) und Neuerfinden. Anschließend möchte ich (4) den Blick auf Fragen der Bildung, auf institutionelle Unterwerfungsforderungen und autodidaktische Überschüsse richten. Alle drei Verhandlungsfelder – Determinismus, Körper und Begehren, Bildung – inszenieren inhaltlich meines Erachtens genau die widerstrebenden Textbewegungen zwischen Lossagen/Distanznahme/Objektivierung und Rückkehren/partialer Verbindung. Abschließend möchte ich (5) das Changieren zwischen unterschiedlichen, temporären Situierungen betrachten: zwischen der ‚homosexuellen Emanzipation‘ aus einem sozialen (Klassen-)Determinismus einerseits und der Inanspruchnahme einer queeren Klassenposition und von solidarischen Wahlverwandtschaften andererseits.
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Sozialer Raum und Praktiken der Partialität „Bald schon hatte ich begriffen, dass eine ‚Rückkehr‘ niemals abgeschlossen, ja gar nicht abzuschließen ist. Dies gilt für die Bewegung im Raum ebenso wie für die Reflexion, die diese begleitet und bis zu einem gewissen Punkt möglich, weil verstehbar macht. Reflexion und Rückkehr sind nicht voneinander zu trennen, sie gehören zusammen und vermischen sich. Aus dieser Reflexivität entstehen Komplexität und Unsicherheit. Anfangs war der Weg, den ich zu beschreiten gehabt hatte, schwierig gewesen – nun war er chaotisch geworden.“ (ebd., S. 9)
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Mein Ausgangspunkt ist die doppelte Textbewegung in Rückkehr nach Reims: Da ist zum einen die Rekonstruktion der eigenen Positionierung im gesellschaftlichen Raum als einem Raum, der zunächst eindeutig strukturiert und bestimmbar erscheint. Zum anderen zeigt sich eine gegenläufige, situierte Textpraxis der Partialität, die situativ ist und in der Affiziertheit, in den ‚gemischten Gefühlen‘ einer nicht eindeutigen Lokalisierung gehalten wird. Der Weg durch den Sozialen Raum ist damit nicht nur „schwierig“, ‚Weg‘ und ‚Schreiben‘ werden „chaotisch“, „vermischen sich“, sind unbestimmt/unbestimmbar.
1.1 Distanznahme Die erste ‚Bewegung‘ knüpft sehr direkt an die Arbeiten seines intellektuellen Freundes Pierre Bourdieu an. In La distinction (deutsch: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1987)) konstruierte dieser bekanntermaßen empirisch und theoretisch die französische Gesellschaft als einen vertikal, horizontal und zeitlich strukturierten Raum sozialer Kämpfe, in dem der Raum sozialer Positionen und der Raum sozialer Praktiken und Lebensstile vermittelt über den „theoretischen Raum“ (Bourdieu 1987, S. 214) des Habitus aufeinander bezogen sind. Das Raumkonzept eröffnete den Blick auf soziale Wahrscheinlichkeiten von Laufbahnen und die Bewältigung von unterschiedlich langen Wegstrecken, zeigte Relationen und Relevanzen von topografischen Nähen und Fernen.1 Was in den 1960er und 1970er Jahren, also in jenem Zeitraum, in dem Bourdieu den Sozialen Raum konstruierte und Eribon seine ‚Bildungslaufbahn‘ maßgeblich (er)lebte, noch klar strukturiert und auch in den sozialen Ausschlüssen irgendwie kalkulierbar erschien, beschreibt Bourdieu dann ein Vierteljahrhundert später als zunehmend durch „Ungewissheitszonen“ (Bourdieu 2001, S. 202) und von Prekarität gezeichnet – der ‚Weg‘ durch den Sozialen Raum und der Raum selbst veruneindeutigen sich. Im Bourdieuschen Kosmos ist der Soziale Raum ein Instrument seiner Sozioanalyse und Hintergrundkonzept seiner methodologischen Praxis der ‚teilneh-
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Zugleich klammerte dieser nationalstaatlich begrenzte, scheinbar eindeutig bestimmbare erwerbs- und bildungsbezogene Raum zentrale Aspekte des Sozialen als eigenständige Diskriminierungs- und Stratifizierungsdynamiken aus: race, sexuality, disability, gender – um einige wesentliche zu nennen. Mit anderen Worten: die Konstruktion des Sozialen Raums, so aufschließend sie für die Wahrnehmung einiger sozialer Ungleichheitsdynamiken war und bis heute ist, sieht zugleich von transnationalen Konstellationen, der Vielfalt von Marginalisierungserfahrungen und von sozialen Unbestimmtheiten, Vermischungen und Uneindeutigkeiten zugunsten überschaubarer Stratifizierungsdimensionen ab.
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menden Objektivierung‘, die er in La misère du monde (deutsch: Das Elend der Welt (1997)) beschrieben hat: „Nur in dem Maße, wie er [der*die Soziolog*in, S. V.] fähig ist, sich selbst zu objektivieren, kann er an dem Platz bleiben, der unauslöschlich der seine in der gesellschaftlichen Welt ist, und sich gleichzeitig gedanklich an den Ort begeben, an dem sich sein Objekt befindet […], und so dessen Standpunkt einnehmen, das heißt verstehen, dass er, wäre er, wie man so schön sagt, an dessen Stelle, zweifellos wie jener sein und denken würde.“ (Bourdieu 1997, S. 802)
Teilnehmende Objektivierung ist also eine Operation der Distanznahme von der eigenen Positioniertheit, um so von einem reflexiven Ort, einem Außen, das die eigene Positionierung nicht vergisst, andere Perspektiven innerhalb des Sozialen Raums nachvollziehen zu können. Bourdieu spricht dieser durch einen selbstanalytischen Reflexionsprozess ‚objektivierten‘ (also reflexiv erarbeiteten und ausdrücklich nicht ‚objektiven‘) Position die Funktion des „Geburtshelfers“ (ebd., S. 796) zur Artikulation einer ‚Wahrheit‘ zu, die jene, die praktisch in den Verhältnissen verstrickt sind, zwar tagtäglich erfahren, aber – so Bourdieu – nicht analytisch formulieren können. In zweifacher Hinsicht knüpft Eribons Schreiben als Praxis reflexiver sozialer Positionierung an Bourdieus Überlegungen an und durchkreuzt diese zugleich: Eribon übernimmt das Instrument des Sozialen Raums zur Beschreibung seiner Aufstiegsbewegung und weist auf die eigene unlösbare, nicht verfügbare, nicht objektivierbare Verstrickung hin. So heißt es gleich zu Beginn von Rückkehr nach Reims: „Ein sozialer Raum, den ich auf Distanz gebracht hatte, ein geistiger Raum, gegen den ich mich konstruiert hatte, der aber trotz allem einen wesentlichen Teil meines Seins bestimmte.“ (Eribon 2017, S. 10 f.) Eribon besteht dabei immer wieder auf die Operation der Distanzierung, die erst den erkennenden Blick ermögliche und zugleich die Gefahr der symbolischen Gewalt gegenüber den Involvierten in sich berge. „Mir ist vollkommen klar, dass meine gesamte Art zu schreiben gegenüber den Milieus und Menschen, für die meine versuchte Lebensbeschreibung und Lebenswiedergabe noch immer Lebenswirklichkeit ist, ein sozial bestimmtes Außen voraussetzt, meine eigene Exterritorialität als Schreibender ebenso wie die meiner Leser. Und natürlich weiß ich, dass die von mir so Beschriebenen wahrscheinlich nicht zu meinen Lesern gehören werden. Von Arbeitermilieus wird nicht oft gesprochen. Und wenn, dann meistens unter der Maßgabe, dass derjenige, der spricht, sie verlassen hat und dass er von seinem ‚Aufstieg‘, über den er froh ist, berichten will. Die soziale Illegitimität der Beschriebenen wird genau in dem Moment bestätigt, wo jemand, der die notwendige
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kritische Distanz (und damit eine wertende, urteilende Perspektive) erreicht hat, sie beschreibt und anklagt.“ (Eribon 2016, S. 90)
Im gleichen Atemzug also, in dem die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit, ja das Begehren nach Distanznahme im Dienste einer Bourdieu’schen ‚Wahrheit‘ über die Beforschten (vgl. Bourdieu 1997, S. 797) betont wird, scheint ihre verletzende Praxis, aber auch die Unmöglichkeit dieser Distanznahme auf: sein Projekt hat Eribon denn auch nicht als distanzierende Objektivierung bezeichnet, sondern mit ‚Rückkehr‘ überschrieben.
1.2 Partiale Verbindungen Und damit komme ich zur zweiten Textbewegung, der Textpraxis der Situierung und Situativität, die die Bourdieu’schen Impulse durchquert und unterläuft. Die Feministin und Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway tritt entschieden für eine partiale Perspektive als Möglichkeit von ‚Objektivität‘ ein. Nicht die Überwindung und Aufhebung von Spezifik durch eine verzerrte Zentralperspektive, sondern Übersetzung zwischen irreduziblen, heterogenen und lokalen, in ein Feld von Machtbeziehungen eingebetteten und verkörperten Praktiken und Wissen (vgl. Hammer und Stieß 1995, S. 25) ermögliche so etwas wie Objektivität: „Unsere Suche nach Partialität ist kein Selbstzweck, sondern handelt von Verbindungen und unerwarteten Eröffnungen, die durch situiertes Wissen möglich werden. Einen spezifischen Ort einzunehmen, ist der einzige Weg zu einer umfangreicheren Vision. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus zielt auf Objektivität als positionierter Rationalität“ (Haraway 1995, S. 91), schreibt sie in ihrem berühmten Text zu situierten Wissen. In Rückkehr nach Reims und in Gesellschaft als Urteil zeigt sich eine Textpraxis situierter Partialität, die sich einer eindeutigen Lokalisierung im Sozialen Raum widersetzt und dies in unterschiedlichen Facetten artikuliert: in Fragen des sozialen Determinismus und/oder der gewählten Zugehörigkeit (Wahlverwandtschaft), in der Genealogie und dem Neu-Erfinden von Körpern, in der Unterwerfung unter Institutionen und den beharrlichen autodidaktischen Praxen. Den Versuchen der Distanznahme und der Strategie der Positionierung im Sozialen Raum sind heterogene und heteronome, räumliche und zeitliche Situierungen eingelagert, die vielmehr der Haraway’schen partialen, „enteigneten“ (Butler 2009, S. 38) Subjektivität entsprechen als einem*r reflexiven Beobachter*in: „Das erkennende Selbst ist in allen seinen Gestalten partial und niemals abgeschlossen, ganz, einfach da oder ursprünglich, es ist immer konstruiert und unvollständig zusam-
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mengeflickt, und deshalb fähig zur Verbindung mit anderen und zu einer gemeinsamen Sichtweise ohne den Anspruch, jemand anderes zu sein. Das Versprechen der Objektivität liegt darin, dass wissenschaftlich Erkennende nicht die Subjektposition der Identität suchen, sondern die der Objektivität, das heißt der partialen Verbindung.“ (Haraway 1995, S. 86; Hervorhebung im Original)
Das Changieren zwischen unterschiedlichen Schreibpraktiken ermöglicht ‚vermischte‘, ‚komplexe‘, ja mitunter ‚chaotische‘, ‚unsichere‘ Thematisierungen (vgl. Eribon 2017, S. 9), die die Rezeption herausfordern. Soziale und sexuelle Zugehö rigkeiten werden eben nicht nur gegeneinander ‚ausgespielt‘ zugunsten der Fortschrittsgeschichte einer ‚emanzipativen‘ Ablösung und Neuerfindung, sondern zugleich und immer wieder erneut in Relation zueinander gebracht, durcheinander hindurch artikuliert und verändert. So etwa in der ausführlichen Auseinandersetzung mit einem Interview von Bourdieu in La misère du monde zur Wahrnehmung von Rassismus, Sexismus und Homosexuellenfeindlichkeit, die unterschiedliche situierte Empfänglichkeiten und dabei auch (irritierende, verletzende) Sichtfeldbeschränkungen von Eribon (und Bourdieu) offenbart (vgl. Eribon 2017, S. 43 – 71). Der Betonung der sozialen Offenheit einer bestimmten, elitären städtischen, bürgerlichen schwulen (Hoch-)Kultur (vgl. Eribon 2016, S. 223 ff.) als Chance einer neuen Positionierung im Sozialen Raum stehen zugleich Eribons Verweise auf Wahlverwandte und Nähen gegenüber, die diese spezifischen ‚Subkulturen‘ überschreiten und sehr verschiedene Erfahrungen der Marginalisierung (und nicht Identitätspolitiken) zum Ausgangspunkt von Begegnungen und Verbundenheiten machen. Hier geht es gegen die oftmals homogenisierenden Dynamiken von Identitätspolitiken um vielfältige Marginalisierungen, die Differenzen artikulieren, die eigene Klassenherkunft thematisieren und auf Gemeinsames setzen. Und nicht zuletzt bleibt die ‚Bildungsgeschichte‘ Eribons nicht allein fragil im Sinne des von Bourdieu beschriebenen und theoretisierten gespaltenen Habitus (vgl. Bourdieu 2001, S. 206; Bourdieu 2002, S. 116 – 124), der immer wieder die Beschwerlichkeiten, Anpassungen und Verluste durch die zurückgelegte Strecke durch den Sozialen Raum greifbar macht. Die Bildungsposition bleibt auch fragil, weil die soziale, körperliche und verkörperte Genealogie seiner Herkunft gegenwärtig bleibt, ihn situativ hervorbringt, spukt (vgl. dazu Eribon 2016, S. 14 f.; Eribon 2017, S. 15 – 42 und Trinkaus in diesem Band), ihn aus der Institution und ihren Gesetzmäßigkeiten immer wieder herauskatapultiert – Eribon bleibt in gewisser Weise ‚Autodidakt‘.
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Sozialer Determinismus oder eine Arbeiter*innenkultur existiert nicht: pathogene Klasse und konformistisches Geschlecht „Aber ich will mehr und will es genauer wissen. Nicht weil ich mich selbst und meinen Vater besser verstehen möchte, sondern weil ich die Ordnung der Welt und der sozialen und politischen Determinismen begreifen will, deren Mechanik sich noch in die geringsten Details unserer beider Existenzen (in mein Leben, in das seine und in die Beziehung zwischen uns) eingeschrieben hat.“ (Eribon 2017, S. 25)
Die Annahme eines alles durchdringenden Klassendeterminismus durchzieht Eribons Schreiben und leitet seine Interpretation seiner Handlungsstrategien als ‚Klassenflüchtiger‘ ebenso an wie die Deutung alltäglicher Praktiken von Angehörigen der Arbeiter*innenmilieus.
2.1 Determinismus Für ihn selbst erweist sich das Lossagen von seinem Herkunftsmilieu und dessen Verleugnen2 als schlichte Notwendigkeit, um zumindest temporär den sozialen Schwerkräften zu entfliehen. Das Loslösen aus den sozialen Zuschreibungen und die Überwindung der eigenen, affektiven Verstrickung3 assoziiert er mit seiner Homosexualität – und zwar als Begehren von bestimmten Körpern, Männlichkeiten und einem damit verbundenen urbanen und intellektuellen Lebensstil (vgl. Eribon 2016, S. 208), der in scharfem Gegensatz zu den Praktiken des Arbeiter*innenmilieus und seiner Männlichkeiten stehe.4
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So beschreibt Eribon, wie er in einer Zeit, in der er bereits ein öffentlich anerkannter Autor und Intellektueller ist, auf Nachfrage die Verwandtschaft zu seinem Bruder verleugnet (vgl. Eribon 2017, S. 36). Analog zu den Befunden von Paul Willis (1979) zum Widerstand britischer Arbeiter*innenjugendlicher gegen das bürgerliche Bildungssystem bezeichnet sich Eribon in seiner frühen Revolte gegen die schulischen Anforderungen als „zwanghaften Querulanten“ (Eribon 2016, S. 151 f.). Hier stellt Eribon das eigene Auftreten in den schulischen Institutionen in Vergleich zu den Bildungserfahrungen Bourdieus und zugleich in kritischer Auseinandersetzung mit dessen Selbstanalyse Ein soziologischer Selbstversuch (2002) als Differenz zwischen Homosexualität und Heterosexualität und den damit praktizierten und sozial situierten Männlichkeiten dar (vgl. Eribon 2016, S. 152 – 157).
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„Ich komme nicht umhin, meine Selbsterschaffung als ‚Intellektueller‘ und die Distanz, die sich zwischen mir und meinem sozialen Milieu auftat (und zu deren Entstehung ich beitrug, so gut ich konnte) als meinen Weg anzusehen, mit dem, was ich wurde, und nur werden konnte, indem ich mich neu erfand und von den anderen absetzte, irgendwie zurechtzukommen. Weiter oben habe ich mich in Bezug auf meine Schullaufbahn als jemanden beschrieben, der ‚wie durch ein Wunder‘ gerettet worden ist. Gut möglich, dass in meinem Fall die Homosexualität dieses Wunder ermöglicht hat.“ (Ebd., S. 193)
2.2 Desidentifikation In diesem Sinne fungiert ‚schwule Lebensweise‘ (vgl. ebd., S. 208) als – verletzliche, häufig beleidigte und gefährdete – Chance, mit den kulturellen, sozialen und sexuellen Zuschreibungen des Herkunftsmilieus, d. h. mit dem sozialen Determinismus zu brechen. Eribon spricht hier von der Erfahrung der (sozialen) „Desidentifikation“ (ebd., S. 81, 89), die soziale und sexuelle Spielräume erweitert, aber auch ‚Klassenverrat‘ als Sehnsucht nach Verbürgerlichung bedeuten kann. Es ist Judith Butler, die Desidentifikation vor allem als queere, Normen und Normalität befragende Erfahrung beschrieben und zu einem (subjekt- und macht-) theoretischen und politischen Begriff gemacht hat. In ihrem frühen Text Körper von Gewicht (1995) geht sie auf die Potenzialität des Desidentifizierens für die Erweiterung der Möglichkeiten (sozialen) Seins ein: „Obwohl die politischen Diskurse, die die Identitätskategorien mobilisieren, dazu neigen, Identifikationen zugunsten eines politischen Ziels zu kultivieren, könnte es sein, dass die Nachhaltigkeit von Desidentifizierung für die Neuartikulierung der demokratischen Auseinandersetzung von ebenso entscheidender Bedeutung ist.“ (Butler 1995, S. 24; Hervorhebung im Original) Während Butler Desidentifikation als Erfahrung der Nichtübereinstimmung, Praxis des ‚Am-Ziel-Vorbeischießens‘ (vgl. Butler 2016, S. 44) und als politische Strategie aufgreift, bezeichnet Eribon diese für sich selbst als kontingente Erfahrung, als glücklichen Zufall, als „Wunder“ (Eribon 2016, S. 193), das man zu nehmen wissen muss, in einer Welt voller Determinismen.
2.3 Pathogene Arbeiter*innenkultur Es ist diese starre Macht des sozialen Determinismus, die seinen Blick auf sein Herkunftsmilieu bestimmt und dessen Praktiken bewerten lässt: „Was bringt die Reflexion über verkörperte soziale Zwänge zum Vorschein ? Das fürchterliche Gesetz des sozialen Determinismus, das jedem Einzelnen einen Platz zuweist, das
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uns vorschreibt, wie wir uns zu verhalten, was wir zu sagen und wer wir zu sein haben.“ (Eribon 2017, S. 53) Die determinierten Praktiken des eigenen Herkunftsmilieus beschreibt er als Unterwerfung unter die ‚legitime Kultur‘ (Bourdieu), die die Kultur der Herrschenden ist. Es gibt dabei wenig Artikulationen über die Unterwerfung hinaus, vielmehr zeigen sich die alltäglichen Praktiken als soziale Pathologien. So bescheinigt Eribon seinem Vater das Aufwachsen in einem „pathogene[n] Milieu, in dem soziale Pathologien nicht auf sich warten ließen. Jugendliche aus diesem Viertel drifteten besonders häufig in die Kriminalität ab, ein Zusammenhang, der sich noch heute statistisch nachweisen läßt.“ (Eribon 2016, S. 35)5 Dieses Festhalten an einem nahezu undurchdringlichen Determinismus führt ihn zum Bestreiten einer eigenen Arbeiter*innenkultur. Die Bedeutungsvielfalt und Uneindeutigkeit sozialer Praxen werden von Eribon in einer einseitigen Lektüre der Birminghamer Cultural Studies6 vereindeutigt: Kollektivitätsvorstellungen populärer Kulturen sind lediglich Ausdruck von Konformismus und Zwang. Die mitunter von den Cultural Studies stark aufgewertete und zugleich konventionell gelesene, sorgende und in der Fabrik arbeitende, proletarische ‚Familienmutter‘ gerät für Eribon ausschließlich zur Sozialfigur ausgebeuteter, unterworfener Weiblichkeit, ihre Wertschätzung (etwa bei Hoggart) wird zur Mystifizierung im Rahmen eines konservativen, antifeministischen Diskurses (vgl. Eribon 2017, S. 210 f.). So berechtigt einige Kritikpunkte Eribons hinsichtlich der Produktion konventioneller Weiblichkeits- und Familienvorstellungen in den marxistisch orientierten Cultural Studies auch sein mögen, in dem Individualisierungsbegehren von Arbeiterinnen gegen das Leben in familialen Zusammenhängen und dessen vergeschlechtlichten Sorgeverpflichtungen die einzige Möglichkeit der Emanzipation zu sehen, ist eine ebenso einseitige Interpretation und wertet zudem die Relevanz und Eigenständigkeit von ‚weiblichen‘ Sorgetätigkeiten ab (vgl. ebd., S. 2067). 5
Eribon knüpft nicht an die Kritik der Kriminalisierung von bestimmten rassifizierten oder mit einem Klassenstigma versehenen Leben und Lebensführungen an (vgl. etwa dazu den Roman von James Baldwin Beale Street Blues (2018), für #BlackLivesMatter vgl. Khan-Cullors 2018 oder mit Blick auf die sozialpolitische Herstellung von abgewerteten Gruppen in den USA: Wacquant 2013), sondern wiederholt den Prozess der Vereigenschaftlichung von sozialen Zuschreibungen – die Einzelnen werden im pathogenen Milieu kriminell und nicht zuvorderst kriminalisiert ! 6 Vgl. dazu etwa Eribons Lektüren von The Uses of Literacy. Aspects of Working Class Life (1957) von Richard Hoggart, Second Generation (1964) von Raymond Williams oder Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule (deutsch 1979, engl. 1977) von Paul Willis (vgl. Eribon 2017, S. 206 – 237). 7 Im Grunde dreht Eribon in seiner Kritik der Cultural Studies deren mitunter zu Vereinseitigungen neigenden Darstellungen durch die typisierende Gegenüberstellung seiner Großmütter, deren Leben er an anderer Stelle sehr viel vielschichtiger und ambivalenter be-
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Die starke Akzentuierung der sozialen Schwerkraft von Milieuzugehörigkeiten (‚Determinismus‘) und die Beschreibung von Arbeiter*innenmilieus als Unterwerfungskultur, die ‚infiziert‘ ist und infizierend wirkt (‚pathogen‘), scheinen vor allem eines zu plausibilisieren: die Strategie der Abgrenzung und des Lossagens vom Herkunftsmilieu. „Um mich selbst neu zu erfinden, musste ich mich zuallererst abgrenzen.“ (Eribon 2016, S. 53) Die Entwicklung des eigenen kulturellen und sozialen Selbst geht notwendig einher mit dem Verwerfen der eigenen Herkunft – so eine zentrale Facette der Eribon’schen Strategie der sozialen Positionierung, in der Homosexualität das ‚Wunder‘ der Überwindung des sozialen Determinismus ermöglicht. Und doch heißt das Projekt von Eribon ‚Rückkehr‘ – zum Vater, zur Mutter, zur Herkunftsfamilie, zum Herkunftsmilieu und bringt damit eine andere Textspur hervor.
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Unterworfene Körper und kulturalisierte Körper: unbewusste Genealogie und Neuverkörperungen des Selbst „Natürlich gibt es eine physische Ähnlichkeit. Wer von uns hat noch nie hervorgehoben, dass die Stimme, der Blick, das Lächeln, die Körperhaltung, der Gang, die Gestik eines Menschen denen seiner Mutter oder seines Vaters, manchmal auch seiner Großmutter oder seines Großvaters ähnelt ? Jedes autobiografische oder auch nur autoanalytische Unterfangen muss sich früher oder später mit dem Atavismus der eigenen Qualitäten und Fehler, der körperlichen und charakterlichen Züge befassen. Was aber bleibt von diesen Ähnlichkeiten bei einem Klassenflüchtigen ? Wie ist das bei einem sozialen Überläufer, bei dem sich die Unterschiede so stark herausgebildet haben, dass sie sich anschicken, die Ähnlichkeiten zu verdrängen ?“ (Eribon 2017, S. 32)
Eine weitere Facette seines Schreibens ist Eribons Beschäftigung mit sozial gezeichneten Körpern, der Hervorbringung ‚anderer‘, kulturalisierter Körper und schreibt, lediglich um: „Ich habe wirklich keine Ahnung, was meine beiden Großmütter in dieser kurzen Phase ihres Lebens [junger Arbeiterinnen vor der Ehe, S. V.] gemacht haben. Die eine dürfte für die Freiheiten und Genüsse, von denen Hoggart so verächtlich spricht, nur wenig Zeit gehabt haben. Sie muss sich den Anforderungen von Ehe und Mutterschaft recht bald und ohne großes Murren unterworfen haben, muss gelernt haben, die Frau zu sein, die sie sein sollte, mit allen Zwängen und Entbehrungen, die dies mit sich brachte. Meine andere Großmutter hingegen könnte die Freiheiten der Jugend so sehr genossen haben, dass sie am liebsten zu einer der ‚besonders Sorglosen‘ geworden wäre, die der Soziologe so scharf verurteilt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich nie ganz damit abfinden konnte, nicht oder nicht mehr das zu sein, was sie sein wollte.“ (Eribon 2017, S. 207 f.)
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mit Verkörperungen von Wahlverwandtschaften, die einmal als Strategie soziokultureller Positionierung und ein anderes Mal als situierte, changierende Bezugnahme und Rückwendung daherkommen.
3.1 Klassenkörper, männliche Körper Sowohl in Rückkehr nach Reims als auch in Gesellschaft als Urteil wird gleich zu Beginn der Körper des Vaters thematisiert – und zwar aus der Perspektive des Sohnes, der sich entfernt, losgesagt hat und doch verstrickt ist: Die späten Jahre des Vaters sind geprägt durch seine Demenzerkrankung, brachten diesen „dem Zustand körperlicher und geistiger Zersetzung jeden Tag ein Stück näher“ (Eribon 2016, S. 13) und ließen den (biologischen) Sohn nach dessen Tod die bange Frage formulieren: „Ist das erblich ?“ (ebd., S. 14) Das Gespenst der körperlichen und sozialen Konditioniertheit des Vaters spukt, macht die überwunden geglaubte Verstrickung, die unbewusste Genealogie (vgl. ebd., S. 17) spürbar, lässt sie auf vielfache Weise hervortreten: als fleischlicher Ausdruck der Lebensrealität einer unterworfenen Klasse, als für ihn, den Sohn, abjekter Körper einer virilen, heterosexuellen Männlichkeit, als Körper intimer genealogischer Verbundenheit, den es auszutreiben gilt mittels Askese, körperlich-sozio-kultureller ‚Umdressur‘ mittels schwulem self fashioning. Die Erzählung seiner schulischen Laufbahn verflechtet die Fragen von differenten Körperlichkeiten, Verkörperungen und Begehren – in abgrenzender Bezugnahme auf die Selbstanalysen Bourdieus in dessen Buch Ein soziologischer Selbstversuch (2002). Obgleich Bourdieu und Eribon ihre Klassenherkunft und damit wesentliche Erfahrungen mit dem französischen Bildungssystem teilen, unterscheiden sie sich in ihrem Verortungskämpfen im Bildungssystem erheblich in den Entwürfen einer expressiv körperlichen, sportlich-wettkämpfenden, heterosexuellen Männlichkeit (Bourdieu) und einer asketischen, sozio-kulturell distinguierten, intellektuellen und zunehmend expliziter homosexuellen Männlichkeit (Eribon). Eribon weist dies als bewusste, körperliche Gestaltungs- und Bildungsarbeit seit seiner späteren Schulzeit aus: „Ich wollte nicht länger zur Gruppe der ‚Athleten‘ zählen […] ([…]; ich bereute sogar, dass ich überhaupt versucht hatte, meinen Körper zu kräftigen, anstatt meine schmächtige und schmale Figur zu bewahren, die viel eher meiner Vorstellung vom Erscheinungsbild eines Intellektuellen entsprach). Ich entschied mich also für Bildung und ‚Kultur‘ und gegen den Männlichkeitskult der unteren Schichten.“ (Ebd., S. 158)
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3.2 Scham Diese Körperarbeit, die Selbsthervorbringung des Körpers und die Konturierung des eigenen Begehrens zirkuliert in den Texten. Sie zeigt als Grundlage aller Abgrenzungen, allen Lossagens vom Vater die anhaltende Verstrickung: „Auf die Frage, was ich von meinem Vater habe, könnte ich gewissenermaßen antworten: alles.“ (Eribon 2017, S. 37) Dem Spuken der Herkunft durch die Gegenwart des Pariser gutbürgerlichen Intellektuellen, begegnet Eribon mit einer nicht-identifizierenden Rückkehr, einem beständigen Nicht/Aufsuchen der Herkunftsfamilie. Dies korrespondiert mit einem weiteren Kernthema der Texte, der Scham (vgl. dazu ausführlicher Andrea Seier und Bettina Kleiner in diesem Band). Denn die Scham ist verkörpert, artikuliert sich körperlich, sie flottiert, hat nicht ‚ein Thema‘, eine*n Adressat*in – die Scham richtet sich auf die Körper oder Tätigkeiten der Familienmitglieder8, auf die soziale Herkunft (vgl. ebd., S. 21, 65; Eribon 2017, S. 38), auf das eigene, von der Gesellschaft als ‚deviant‘ beleidigte Begehren (vgl. Eribon 2016, S. 194, 216), auf den eigenen Körper. Scham ist erzwungene Lebenspraxis, soziales Stigma (vgl. Eribon 2017, S. 48 – 52) und die symbolische Gewalt, aber auch ein Welt- und Selbstverhältnis, an dem sich Akteur*innen mit homologen Erfahrungen erkennen und durch das Allianzen und Wahlverwandtschaften möglich werden. Über das Zirkulieren der Scham als ein Sein in der Welt, das ihn ein Interview seiner Mutter für die Untersuchung La misère du monde der Bourdieu’schen Forschungsgruppe unterbinden lässt, schreibt Eribon: „Natürlich schämte ich mich meiner Scham. Ich schämte mich dafür, dass ich mich für meine Mutter schämte und insbesondere für die Standpunkte, die sie zu dieser Zeit vertrat […], tatsächlich aber auch für das, was sie war, was meine Eltern lebten, für den Ort, an dem sie lebten, für ihre Art zu sprechen…“ (Eribon 2017, S. 70) Die Scham stellt sich ein angesichts der Körperlichkeiten und Verkörperungen des Unterworfen-Seins. Denn die soziale Herkunft der Arbeiter*innen verunmöglicht einen eigenen (kulturellen) Ort und produziert ein ‚pathogenes Milieu‘ unansehnlicher Körper.
3.3 Neuverkörperungen: Klasse und Begehren All dies weist auf die notwendige Arbeit an einer anderen Verkörperung hin, einer Neuerfindung des Selbst, die nicht anders als ‚bildungsbürgerlich‘ sein kann. 8
Eribon beschreibt die Scham über die Einträge der Berufe der Eltern in der Geburtsurkunde (vgl. Eribon 2016, S. 49).
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Es ist die Arbeit an einem feingliedrigen, intellektuellen Körper der ‚geistigen Arbeit‘. Dies bedeutet allerdings auch, dass Eribon eine Hinwendung zu den Körpern seines Herkunftsmilieus, sowohl dem des Vaters als auch der Mutter, eine Anteilnahme an ihrem So-Sein und eine Praxis der Zuwendung und des Sorgens kaum möglich ist. Der Körper der als Putzfrau arbeitenden Mutter, dieser „Körper einer alternden Arbeiterin“ (Eribon 2016, S. 78), bleibt ‚geschunden‘, ‚schmerzend‘, ‚ausgewrungen‘, verbraucht, grob, tendenziell der sozialen Verachtung (auch der des Sohnes) überlassen. Auch das Abschneiden der Gestalt des Vaters von einem Kindheitsfoto, das Vater und Sohn ursprünglich gemeinsam zeigte, versucht nicht einfach Familien ähnlichkeiten zwischen dem verworfenen, groben, männlichen Körper der sozialen Herkunft und dem Sohn zu kappen. Die Vaterfigur offenbart vielmehr die langwierige Arbeit der ‚Umdressur‘ und des Schaffens eines neuen Begehrensund sozialen Körpers, die noch in der Andersheit des Sohnes sichtbar wird. Deshalb wird der Vater aus dem Bereich der Sichtbarkeit getilgt. Der Eribon der Gegenwart ist seinem Vater nicht – mehr – ähnlich und doch droht der Weg der Loslösung mit dem Auftreten des Vaters zu implodieren. Eine Rückkehr nach langer schwieriger Selbsterfindung erweist sich hier zunächst als unmöglich, statt einer Begegnung in Differenz geht es um die erneute Abwehr einer fortwährenden gespenstischen Verstricktheit. „Das Foto habe ich also nicht deshalb zerstückelt, weil ich fürchtete, man könnte zu viele Ähnlichkeiten zwischen meinem Vater, wie er damals war, und meinem heutigen Ich entdecken […]. Nein, im Gegenteil, ich wollte verhindern, dass die so stark markierten Abweichungen, die meine Entwicklung hervorgebracht hatte, durch das Foto annulliert würden: […] dass die Jahre der Arbeit an mir selbst, in denen ich diesen Abstand, diese Kluft überhaupt erst hatte herstellen können, dass das Verwischen aller Spuren des Gestern auf dem Weg zu meinem Heute ruiniert werden würde.“ (Eribon 2017, S. 35)
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‚Falsche‘ Bildungsentscheidungen und autodidaktische Abseitigkeiten „[…] Ich musste mich, um meinen Verbleib innerhalb der Mauern des Gymnasiums zu sichern, nach und nach den schulischen Anforderungen beugen, mich anpassen, die Herausforderung akzeptieren. Widerstand hätte meine Niederlage bedeutet, Unterwerfung war meine Rettung.“ (Eribon 2016, S. 160 f.)
Eribon entwirft seine Bildungslaufbahn als Möglichkeit zu sozialem Aufstieg qua Unterwerfung unter die bürger*innenliche Bildungs- und Lernkultur. Ganz in
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Anlehnung an Paul Willis (1979) hätte ‚Widerstand‘ als Bestehen auf einer – von Eribon ja auch bestrittenen – eigenen Arbeiter*innenkultur die ‚Selbsteliminierung‘ aus dem Bildungssystem nach sich gezogen.
4.1 AnPassungen Auch hier also einmal mehr die Orientierung an bürger*innenlichen Bildungsund Individualisierungspraxen als Strategie sozialer Positionierung. In den Zeiten des Studiums in Paris wird dies allerdings durchquert durch zwei den bürger*innenlichen Bildungskanon erweiternde Bezüge: auf die intellektuellen Arbeiten queerer Theoretiker*innen und deren Verbindung mit der queeren Szene in Paris sowie auf die links-intellektuellen Impulse, die mit 1968 angestoßen wurden. Dass die Unterwerfung unter das Bildungssystem nicht nur eine freudige, wenn auch befreiende und ermöglichende war, zeigt Eribon in den autoanalytischen Beschreibungen, die die Bourdieu’sche (Selbst-)Analyse vom gespaltenen Habitus aufnimmt: Der beständige Wechsel zwischen dem zunehmend abgelehnten sozialen Universum der Herkunftsfamilie und dem der (höheren) Bildungsinstitutionen, das immer mehr zum Fluchtpunkt der Neuerfindung des Selbst wird, bedeutet eine permanente Zerreißprobe, Verunsicherung und eine außerordentlich hohe Verletzbarkeit (vgl. Eribon 2016, S. 159). Eribons Beschreibungen zeigen dabei einmal die Affirmation und Mimesis des bürger*innenlichen Bildungsverständnisses sowie das Hadern mit ‚Fehlentscheidungen‘, die ihn in die Gesellschaft des Herkunftsmilieus zurückkatapultieren. Die Wahl von Spanisch statt Deutsch als zweiter ‚moderner‘ Fremdsprache erweist sich als Entscheidung für ein „Sammelbecken für die schlechtesten Schüler aus den ärmsten Familien“ (ebd., S. 170), d. h. für einen drohenden ‚Rückfall‘.
4.2 Bildung (er)finden Zugleich geht Eribons Bildungsstreben nicht in dieser Strategie der sozialen Positionierung qua Aufstiegsmobilität durch Anverwandlung an die legitime Kultur auf. Eine Gemengelage aus ‚Bildungslücken‘ und mangelnder Kenner*innenschaft des Feldes (‚falsche‘ Bildungsentscheidungen), Präferenzen für eine urbane, queere Kultur sowie der eigenen Verortung in als deviant stigmatisierten sexuellen Lebensweisen lässt Eribon in relativer Distanz zu sicheren Positionen in den Bildungsinstitutionen verweilen. Er bleibt Autodidakt, macht sich seine Bildung in diesem Gemenge selbst. So erinnert er die Zeit im Gymnasium:
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„Meine Bildungslücken, meine Unkenntnis der Klassiker und all dessen, was die anderen in meinem Alter schon gelesen hatten – Krieg und Frieden, Les Misérables – kompensierte ich mit einer arroganten, verachtungsvollen Pose. Ich machte mich über den ‚Konformismus‘ meiner Mitschüler lustig, während sie mich einen Snob nannten, was mich natürlich entzückte. Ich erfand mir meine eigene Bildung – und eine Person und Persönlichkeit gleich mit.“ (ebd., S. 168; Hervorhebungen im Original)
In Die feinen Unterschiede (1987) taucht bei Bourdieu die Figur des Autodidakten ausschließlich als Mitglied des nach oben strebenden Kleinbürger*innentums auf, dessen Bildungsweg durch einen „häretischen Erwerbsmodus“ (Bourdieu 1987, S. 515; Hervorhebung im Original) charakterisiert ist. Die mangelnde Kenner*innenschaft der hierarchischen und hierarchisierenden Regeln des Bildungssystems zeigten sich hier in der willkürlichen Anordnung von Bildung, dem Sammeln „endlos disparate[r] und häufig wertlose[r] Bildungselemente“, so Bourdieu (ebd.). Was hier also ausschließlich als fehlgeleitete Bildung des ahnungslosen, prätentiösen und bildungsbeflissenen Kleinbürger*innentums beschrieben ist, hat bei Eribon eine deutlich verschobene Funktion: der*die Autodidakt*in als Figur neuer Wege, prekärer, abseitiger, abwegiger Situierungen, die es ermöglicht – je nach Perspektive – in relativer Nähe und zugleich in relativer Distanz zum Bildungssystem der Etablierten zu sein. Diese situierte Praxis ist nicht jenseits von ‚Unterwerfung‘, geht aber darüber hinaus. Dies zeigt sich auch in Eribons positionellen Entwicklungen: vom Journalisten zum freien Autor, prekär und anerkannt zugleich: „Ich musste meine Wünsche soweit herunterschrauben, bis sie zu meinen sozialen Möglichkeiten passten. […] Wege, die für andere wie eine gut ausgeschilderte Straße aussahen, musste ich mir zögerlich ertasten. Oder andere finden, weil sich herausstellte, dass die existierenden für Leute wie mich nicht offenstanden.“ (Eribon 2016, S. 219) Und dennoch endet Rückkehr nach Reims mit der endlich erworbenen Professur, in einem Fach, mit dem die Mutter nichts anfangen kann. Die Professur, die institutionelle Position, hat Eribon allerdings zurückgegeben – er ist nun öffentlicher Intellektueller, verbunden in seiner (Bildungs-)Biografie mit anderen.
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Rückkehren als enteignete, partiale Verbindungen: eher queere Klassenposition als homosexuelle Emanzipation „Die Spuren dessen, was man in der Kindheit gewesen ist, wie man sozialisiert wurde, wirken im Erwachsenenalter fort, selbst wenn die Lebensumstände nun ganz andere sind und man glaubt, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Deshalb bedeu-
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tet die Rückkehr in ein Herkunftsmilieu, aus dem man hervor- und von dem man fortgegangen ist, immer auch eine Umkehr, eine Rückbesinnung, ein Wiedersehen mit einem ebenso konservierten wie negierten Selbst.“ (Ebd., S. 12)
Eribons soziologische Selbstanalyse als Hontoanalyse (vgl. dazu auch Julia Reuter und Christian Lömke in diesem Band) lässt sich – das habe ich versucht zu zeigen – als Changieren zwischen unterschiedlichen Textpraxen der Positionierung beschreiben: Die Strategie der reflexiven Positionierung, bei der sowohl auf der Notwendigkeit eines Außen (mit Bezug auf die Bourdieu’sche Sozioanalyse und teilnehmende Objektivierung) als auch die Massivität von sozialer Determiniertheit (Arbeiter*innenkultur als Unterwerfung) betont wird, wird konterkariert und unterlaufen durch nicht kontrollierbare Affizierungen (bspw. von der nicht/erreichbaren Position der urbanen, liberalen ‚Intelligenz‘), durch die Situativität einer (ent-eigneten, nicht-autonomen) Situierung und deren Partialität. Dabei verknüpft sich die Strategie der reflexiven Positionierung mit der Arbeit am Selbst (,Umdressur‘ und Körperarbeit) im Sinne einer ‚homosexuellen Emanzipation‘ vom sozialen Klassenschicksal. Dieser Emanzipationsprozess, der auf Autonomiegewinn, das Kappen von Verbindungen und die Ankunft in einem urbanen, liberalen Intellektuellenmilieu setzt, bleibt stets verwickelt mit dem Begehren nach ‚Rückkehr‘, nach dem queerenden, desidentifizierenden Begrüßen des Gespenstes der eigenen Herkunft. „Wer Determinismen Rechnung trägt, negiert damit noch nicht die Möglichkeit der Veränderung, sondern weist darauf hin, dass auch die Effekte häretischer Aktivitäten, welche die Orthodoxie und ihre endlose Wiederholung infrage stellen, stets begrenzt und relativ sind. Absolute Subversion oder Emanzipation kann es nicht geben. Man unterminiert immer etwas Bestimmtes, man nimmt eine andere Haltung ein, geht auf Abstand, tritt einen Schritt zur Seite.“ (Ebd., S. 218 f.)
Es gibt also keine absolute Loslösung und damit auch keine gesicherte Ankunft, keine einfache Lokalisierung in einer anderen Region des Sozialen Raums. Es gibt vielmehr ein Beiseite-Treten, ein Verschieben; es sind veränderte, neue, temporäre Situierungen, in denen sich zwei Phänomene artikulieren: die Praxis der Desidentifikation und eine mannigfaltige Scham. Die Wahlverwandtschaften und partialen Verbundenheiten, die Eribon in seinen Texten zu unterschiedlichen Schriftsteller*innen und Theoretiker*innen explizit herstellt, setzen an der Desidentifikation und der Scham an. Die unterschiedlichen Personen zeichnen sich durch interferierende, partiell gemeinsame und immer auch andere Stigmatisierungs- und (Mehrfach-)Marginalisierungserfahrungen aus. Häufig verbindet sie mit Eribon die Klassenherkunft wie etwa bei
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der französischen Schriftstellerin und Feministin Annie Ernaux sowie bei Pierre Bourdieu oder Klasse und Sexualität wie bei dem Schriftsteller James Baldwin.9 Zugleich werden diese ‚Wahlverwandten‘ radikal ‚anders‘ situiert: Baldwin durch seine Erfahrung, die er als US-amerikanischer, in Frankreich lebender, Schwarzer Homosexueller Zeit seines Lebens mit Rassismus machen musste, Ernaux durch ihre ‚andere‘ Positionierung als heterosexuelle Frau und Bourdieu durch sein Leben heterosexueller Männlichkeit (die beiden Letzteren sind wiederum weiß privilegiert wie Eribon selbst). Die vielzähligen (über die Genannten weit hinausgehenden) solidarischen Verbindungen, die Eribon herstellt und beansprucht, treffen sich in der Nichtübereinstimmung mit dem, was ihnen gesellschaftlich zugewiesen und zuerkannt wird. Gerade das Stattgeben der Gespenster der sozialen Herkunft durch jene, die sich mittlerweile mal mehr oder weniger an einem anderen Ort befinden, macht die schmerzhafte, verstrickte, anhaltende und öffnende Erfahrung der Desidentifikation, der Delokalisierung, des Seins an sozialen Unorten (Butler) greifbar. Es ist das Spüren der Desidentifikation – etwa qua Bildung oder (Homo-)Sexualität in Gang gesetzt –, das gleichzeitig auch das ‚Wunder‘ (vgl. ebd., S. 193) der Überwindung des sozialen Determinismus ermöglicht. Die delokalisierende, ermöglichende Desidentifikation bedeutet auch immer wieder die Konfrontation mit der Herstellung des Selbst durch Andere/s, mit der Enteignung als sozial-ontologischer Seins-Modus, bedeutet die Konfrontation damit, dass ‚wir‘ nicht über uns selbst verfügen und über das, was ‚wir‘ jeweils sein wollen. Was gesellschaftlich begrüßt oder als ‚deviant‘ klassifiziert, was verworfen wird, liegt nicht in ‚unserer Hand‘ – ‚wir‘ werden durch andere gemacht: „Machen wir uns nicht vor. Wir werden vom Anderen dekomponiert. […] Wenn wir von meiner Sexualität oder meiner Geschlechtsidentität sprechen, wie wir es tun (und tun müssen), meinen wir also etwas Kompliziertes. Genau genommen ist weder das eine noch das andere ein Besitz, vielmehr sind beide als Modi der Enteignung zu verstehen, als Formen des Daseins für einen Anderen oder sogar kraft eines Anderen.“ (Butler 2009, S. 38; Hervorhebung im Original)
Und damit bin ich bei einem zweiten Bezugspunkt der Wahlverwandtschaften: der Scham – als gesellschaftliche, durch Andere hervorgerufene Scham des Abwe9
Inwieweit Eribon den von ihm zitierten Wahlverwandten gerecht wird, welche Nähen her ausgestellt, welche Diskriminierungskonstellationen unterschätzt und ausgeblendet werden, ist eine Frage, die hier berührt wird und zugleich über diesen Beitrag hinausführt. Zu einer systematischeren und theoretisch fundierten Berücksichtigung intersektionaler Kämpfe vgl. den Beitrag von Vanessa Eileen Thompson in diesem Band.
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gigen, des Unterworfenen, des Rassifizierten, des Sexualisierten und bei der Frage danach, ob und wie diese Scham im Sinne des Rückkehrens überwunden werden kann: „Es stellt sich also die Frage: Wovor ist man geflohen ? Wie holt man es wieder ein ? Wie holt man die Vergangenheit seiner sozialen Klasse ein, wenn die Gegenwart dieser Klasse die Emanzipation von der sexuellen ‚Scham‘ so schwierig macht ? Wie versöhnt man Ansätze, die sich vielleicht als widersprüchlich erweisen: Kann man die soziale und die sexuelle Scham überwinden ? Wie soll man beiden zugleich (und weiteren Formen der Scham) im Denken gerecht werden ?“ (Eribon 2017, S. 97)
Die Schreibpraxis Eribons zeugt meines Erachtens genau davon, dass die Scham nicht überwunden werden und nicht eine Scham gegen die andere ausgespielt werden kann. Eribons Ringen um die un/mögliche Rückkehr zu einem Herkunftsmilieu, mit dem er nichts mehr und alles gemein hat, und das Nicht-Ablassen-Können vom Rückkehren bezeugen ein Halten der Scham, das sich der dauerhaften Ankunft an einem anderen sicheren sozialen Ort der (bürgerlichen) Emanzipation entzieht. Das, was Eribon mit allen Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten und Ungeschiedenheiten bietet, ist ein schwankendes Erschreiben einer queeren, uneindeutigen Klassenposition, die ihren Rückhalt und ihre Rückkehr in situativen Solidaritäten, enteigneten Situierungen und partialen Verbindungen findet.
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Eribon, Didier (2016 [2009]). Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp. Eribon, Didier (2017 [2013]). Gesellschaft als Urteil. Berlin: Suhrkamp. Hammer, Carmen & Stieß, Immanuel (1995). Einleitung. In Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen (S. 9 – 31). Frankfurt a. M., New York: Campus. Haraway, Donna (1995). Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen (S. 73 – 97). Frankfurt a. M., New York: Campus. Khan-Cullors, Patrisse (2018). #Black Lives Matter. Eine Geschichte vom Überleben. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Wacquant, Loïc (2013 [2004]). Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit (2. Aufl.). Opladen, Berlin: Barbara Budrich. Willis, Paul (1979 [1977]). Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule. Frankfurt a. M.: Syndikat.