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German Pages 316 Year 2000
Marina Münkler Erfahrung des Fremden
Marina Münkler
Erfahrung des Fremden Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts
Akademie Verlag
Motiv auf dem Einband: Wilhelm von Rubruk, C o r p u s Christi College Cambrigde, Ms. 66 A , fol. 67 r.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Münkler, Marina: Erfahrung des Fremden : die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts / Marina Münkler. Berlin : Akad.-Verl., 2000 Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 1997/98 ISBN 3-05-003529-3
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2000 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Druck: GAM-Media, Berlin Bindung: N. Klotz, Jettingen-Scheppach Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
VORWORT
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EINLEITUNG
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I. KULTURKONTAKTE UND DISKURSE 1.
FORMEN DES KULTURKONTAKTS UND DAS WISSEN ÜBER DIE FREMDE
2.
„ C O N C L U D E R E PER EXPERIENTIAM FACTI": DIE ERSTEN EUROPÄISCHEN GESANDTEN
14 14
z u DEN M O N G O L E N UND DIE BEGRÜNDUNG KATEGORIALEN WISSENS ÜBER FREMDE KULTUREN
Die mongolischen Eroberungszüge und die ersten Gesandtschaften Der erste Augenzeugenbericht: Die historia mongalorum des Johannes de Piano Carpini Die Systematik der Beschreibung und die aristotelische Kategorienlehre Die 'Seinen' den Tartaren aussetzen Der geheime Gesandte: Wilhelm von Rubruk 3.
Die Entstehung des euro-asiatischen Fernhandels Reisende und Geldgeber: die Organisation des Fernhandels Verschriftlichung, Schriftlichkeit und Beschreibung
30 35 38 43 50
50 54 57
D I E M O N G O L E N ALS MISSIONSVOLK: OPERATIVES WISSEN UND DIE NARRATIVIERUNG DER MISSION
Die Neubegründung der Mission im 13. Jahrhundert Die Tartaren als Missionsvolk und die Grundlagen der Missionsarbeit Missionare bei den Mongolen Odorico de Pordenone und die Narrativierung der Mission 5.
20
D I E ERFAHRUNG DER EUROPÄISCHEN FERNHANDELSKAUFLEUTE UND DIE AUSBLEIBENDE DISKURSIVIERUNG INSTRUMENTELLEN WISSENS
4.
20
66
66 71 83 90
D I E DISJUNKTION VON KONTAKTSYSTEMEN UND DISKURSEN: M A R C O P O L O UND JOHN MANDEVILLE
Der stumme Kaufmann und die Stimme des Erzählers: Marco Polo Von Kaufmann zum Gesandten: Die narrative Umbesetzung der Kontaktsysteme II Milione Peregrinatio mundi und die Belesenheit des Augenzeugen: John Mandeville Der Weltpilger als homo viator
102
102 113 123 124 130
6 II. PARADIGMEN DER FREMDBESCHREIBUNG 1.
M O D I DER FREMDERFAHRUNG
147
DIE RHETORIK DER FREMDBESCHREIBUNG 2.
WELT-BILD-ORDNUNG: MAPPAEMUNDIUNU
147 154
DIE BESCHREIBUNG DER FREMDE
160
DAS BILD DER WELT IN BILDERN: MAPPAE MUNDI
161
DIE SIGNATUREN DES RAUMES IN DEN ORIENTBERICHTEN
171
3.
FREMDE HERRSCHER: D E R PRIESTERKÖNIG UND DER GROSSE KHAN
187
4.
BARBAREN, HEIDEN, MONSTRA
206
III. REISEN, ERFAHRUNG UND DIE KONSTITUIERUNG DES SUBJEKTS 1.
Z U M BEGRIFF DER ERFAHRUNG UND DEN ERKENNTNISTHEORETISCHEN PRÄMISSEN DER BISHERIGEN FORSCHUNG TRADITION ODER ERFAHRUNG?
2.
222 222 232
PARATEXTE, GELTUNGSBEDINGUNGEN UND DIE WAHRHAFTIGKEIT DES AUGENZEUGEN
240
FORMEN DER GLAUBHAFTMACHUNG: INCIPITES UND PROLOGE
241
AUGENZEUGENSCHAFT UND GLAUBHAFTIGKEIT
248
3.
„EXPERIENTIA FIT EX MULTIS MEMORIIS": ZUM ARISTOTELISCHEN
4.
DIE REDE DES AUGENZEUGEN: DIE SPÄTMITTELALTERLICHEN ORIENTBERICHTE
ERFAHRUNGSBEGRIFF IM HORIZONT VON HISTORIA UND TOPOS ALS AUSSAGEFELD INNERHALB DER HISTORIA
LITERATURVERZEICHNIS
266 282
288
HANDSCHRIFTENVERZEICHNIS
288
PRIMÄRLITERATUR
289
SEKUNDÄRLITERATUR
292
PERSONENREGISTER
307
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1997/98 von der Philosophischen Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie stellenweise überarbeitet und gekürzt. Da für die Entstehung dieser Arbeit mehrere Archivreisen erforderlich waren, möchte ich zunächst den Mitarbeitern jener Bibliotheken danken, die ich aufgesucht habe, um einzelne Handschriften einzusehen, und die mir hilfsbereit weitergeholfen haben. Hierbei sind vor allem zu nennen: die Preußische Staatsbibliothek Berlin, die Bayerische Staatsbibliothek München, die Österreichische Nationalbibliothek Wien, die Cambridge University Library, die Biblioteca Estense, Modena, sowie die Bibliothèque Nationale, Paris. Gerne möchte ich auch all jenen danken, die das Entstehen dieses Buches freundschaftlich und kritisch unterstützt haben. Zu allererst möchte ich meinem Doktorvater Werner Röcke danken, der die Arbeit stets mit wohlwollender Aufmerksamkeit begleitet und sich für ihre Betreuung mehr Zeit genommen hat, als Hochschullehrer sich das in der derzeitigen Mangelsituation der Universitäten eigentlich erlauben können. Zu Dank verpflichtet bin ich auch den beiden weiteren Gutachtern, den Professoren Horst Wenzel und Thomas Cramer, deren kritische Hinweise mich an einigen Punkten dazu bewegt haben, meine Ausfuhrungen zu präzisieren und Kürzungen vorzunehmen. Daneben gilt mein Dank meinem Schwiegervater Friedrich Münkler, der die lateinischen Zitate und meine Übersetzungen derselben überprüft hat. Danken möchte ich auch Hans Grünberger, Christine Künzel sowie Stephanie Neumann, die das ganze Buch oder Teile davon mit kritischen Augen gelesen und auch die Mühe nicht gescheut haben, mir bei den Schlußkorrekturen zu helfen. Nicht zuletzt danke ich auch Matthias Bohlender und Karina Hoffmann für ihren Rat und die freundliche Unterstützung bei der Formatierung des Manuskripts.Vor allem aber danke ich meinem Mann Herfried Münkler, der das Entstehen dieses Buches mit viel Geduld und Anteilnahme begleitet und es in den unterschiedlichen Phasen immer wieder kritisch gelesen hat. Ihm ist es gewidmet.
Einleitung
Gegenstand dieser Arbeit sind die im Zeitraum zwischen 1245 und 1370 entstandenen europäischen Berichte über das mongolisch beherrschte Ostasien und die Funktion, die ihnen als Augenzeugenberichten in der Diskursivierung der Fremde zukam. Die ersten lateinischen Berichte der Franziskanermönche Johannes de Piano Carpini und Wilhelm von Rubruk entstanden in unmittelbarem Zusammenhang mit dem politischmilitärischen Druck durch die Mongolenstürme der dreißiger und vierziger Jahre des 13. Jahrhunderts und wurden von höchsten Stellen in Auftrag gegeben. Während das politisch-militärisch geprägte Interesse mit dem Ende der mongolischen Westexpansion sowie der Konsolidierung der mongolischen Herrschaft in Ostasien spürbar nachließ, verselbständigte sich die Form des Augenzeugenberichts aus der fremden Welt des Orients und blieb nicht länger eine Angelegenheit, die ausschließlich den Mendikantenorden oblag: Die Orden konnten ihr Wissensmonopol nicht aufrechterhalten, und damit öffnete sich die Beschreibung fremder Kulturen breiten Kreisen und unterschiedlichen Interessengruppen. Mit dem Bericht des Venezianers Marco Polo entstand um 1298 der erste volkssprachliche Reisebericht über Ostasien, der - zumindest nach der Zahl der überlieferten Handschriften zu urteilen - bald das Feld der Ostasienberichte beherrschte. Noch zu Lebzeiten Marco Polos wurde er von dem Dominikaner Francesco Pipino da Bologna im Auftrag seiner Ordensoberen ins Lateinische übersetzt und damit teilweise wieder in den Bereich der gelehrten Wissensvermittlung zurückgeholt. Mit diesen drei innerhalb eines Zeitraums von etwa fünfzig Jahren entstandenen Berichten, war bereits ein großer Erfahrungsschatz angehäuft worden, und als der Franziskaner Odorico de Pordenone im Jahre 1330 den Bericht über seine Reise nach Indien und China aufzeichnen ließ, eröffnete er ihn mit dem rhetorischen Eingeständnis, schon viele hätten von den Gebräuchen und Verhältnissen jener Welt berichtet. Von solchem Druck gänzlich unbelastet zeigte sich der Ritter John Mandeville, der besser als jeder andere wissen mußte, wieviel seine Vorgänger bereits erfahren hatten, schrieb er ihre Berichte doch passagenweise ab, erweiterte und ergänzte sie aus anderen Quellen, um sie als seine eigenen Erfahrungen auszugeben. Mit der Verbindung zwischen dem Orientreisebericht und dem Bericht von einer Pilgerreise nach Palästina, die nach der zeitgenössichen Geographie immer nahegelegen hatte, in dieser Form aber noch nie realisiert worden war, schuf er nichtsdestoweniger einen völlig neuen Bericht, in dem er die Möglichkeiten der Vermittlung von Erfahrung durch einen Augenzeugen auf den gesamten Osten der erfahrbaren Welt ausdehnte. In teilweise prächtig ausgestatteten und mit reichen Illustrationen versehenen Sammelhandschriften, die dem Leser auch visuell erfahrbar machten, was er selbst nicht
Einleitung
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gesehen hatte, wurden die Berichte in Sammelhandschriften häufig gemeinsam überliefert, wobei der bestimmende Sammelaspekt offenkundig sowohl in dem den Berichten gemeinsamen Berichtsraum als auch dem Anspruch auf eigene Augenzeugenschafit bestand.' Neben dem Faktum der intensiven und nicht abreißenden Kontakte mit dem Orient ist daher die Form, in der das Wissen über die Fremde diskursiviert wurde, von entscheidender Bedeutung: Von der Mitte des 13. Jahrhunderts an wird der Reisebericht als geschlossener und eigenständig tradierter Augenzeugenbericht zur dominanten Form der Darstellung des Orients. Damit ist zugleich das Kriterium für die Auswahl der dieser Arbeit zugrundegelegten Texte angegeben: Untersucht werden die Ostasienberichte, die geschlossen und eigenständig tradiert worden sind und die Identität von Augenzeugenschaft und Autorschaft behaupten. Mit den Reisenberichten aus Asien trat der ganz auf die aktuelle Augenzeugenschaft eines einzelnen Subjekts abgestellte und nicht zeitlich, sondern räumlich gegliederte Bericht, in dem Sehen und Schreiben, Erfahren und Darstellen zusammenfallen sollten, als in sich geschlossene Einheit auf. Auszüge aus den Augenzeugenberichten gingen zwar nach wie vor in Weltchroniken und Enzyklopädien ein, wie etwa Carpinis Historia Mongalorum in Vinzenz' von Beauvais Speculum historíale und Wilhelms von Rubruk an den französichen König adressierter Bericht in Roger Bacons Opus Maius, oder wurden in Kreuzzugsgutachten und Traktaten unter Hinweis auf ihre Augenzeugenschaft zitiert und verwendet, aber in erster Linie wurden die Berichte separat und in teilweise großer Zahl handschriftlich überliefert. Berichte von Jerusalempilgern waren schon früher eigenständig tradiert worden, aber bei ihnen lag das Gewicht mit dem Besuch der heiligen Stätten auf dem wiederholenden Nachvollzug der entscheidenden Stationen der Heilsgeschichte und seiner schriftlichen Dokumentation. Dagegen versprachen die Orientreiseberichte die Vermittlung neuerworbenen Wissens aufgrund eigener Beobachtung. Augenzeugenschafit war als Begründung der narrativen Darstellung von Gegebenheiten und Ereignissen freilich nichts Neues. Die Berufung auf Augenzeugenschaft war schon seit der Antike ein Kennzeichen der Historiographie und explizit in deren Definition als eine der narrativen Gattungen eingegangen. Dennoch wurde der Augenzeugenschaft in der Forschung bei den Reiseberichten eine andere, eine besondere Bedeutung beigemessen. Mit der Erfahrung als Konstituens der Darstellung trat nämlich das Subjekt in den Vordergrund, das über diese Erfahrungen verfügte und davon berichtete. Die Verknüpfung von Autor und Werk hat bei Reiseberichten offenkundig ein besonderes Gewicht dadurch, daß der Autor als Reisender zugleich Zeuge des von ihm Berichteten ist: Reiseberichte, so die übereinstimmende Definition der Gattung, gehen auf reale Reisen zurück, und sie beschreiben, epochenspezifisch durchaus unterschiedlich, das dort Gesehene. So definiert etwa Peter J. Brenner Reiseberichte als „die sprachliche Darstellung authentischer Reisen" und grenzt den Reisebericht damit ab von „konkurrierenden Kategorien", wie Reisebeschreibung, Reiseliteratur und Reiseroman. 2 1
Dies gilt freilich nur f ü r einen Teil der Handschriften. Daneben wurden die Reiseberichte auch mit anderen Texten überliefert. Vgl. hierzu Ernst Bremer, Spätmittelalterliche Reiseliteratur, insbes. S. 345ff.
2
Peter J. Brenner, Einleitung zu: Der Reisebericht, hg. von Peter J. Brenner, S. 9. Vgl. auch ders., Der Reisebericht in der deutschen Literatur, S. 19ff.
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Einleitung
Wahrnehmen und Darstellen erscheinen als eine methodisch-semantisch unauflösliche Einheit, die dem Reisebericht seine eigentliche Identität verleiht und ihn von anderen Textsorten unterscheidet. Die für den Reisebericht als gattungskonstitutiv angenommene Identität von Autor und Reisendem hat denn auch die differentia specifica gebildet, anhand derer zwischen realen und fiktiven Reiseberichten unterschieden worden ist. War der Autor nachweislich nicht gereist, dann konnte sein Text kein Reisebericht sein. Von dieser Unterscheidung ist die Auseinandersetzung mit dem unter dem Namen John Mandeville oder Jean de Mandeville überlieferten Reisebericht seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dominiert worden. In jüngerer Zeit wurde Mandevilles Bericht dann nach der festgestellten Fiktivität in den Status eines fiktionalen Textes überführt. Aus dem Reisebericht wurde so ein Reiseroman. Doch auch hier wurde erneut die Rolle des Autors als Interpretament dominant, insofern nun die Einfuhrung des Erzähler-Ichs eines fiktiven Reisenden als literarische Innovation und damit als gezielte Autorenintention begriffen wurde. 3 Für den Reisebericht aber galt umso mehr, daß die Beschreibung von einem teilnehmenden Beobachter stammte, der mit dem Beschreibenden identisch war. Ohne Reise gibt es keinen Reisebericht, so die übereinstimmende Prämisse der Forschung; die Reise aber setzt den Autor in ein besonderes Verhältnis zum Text, das gleichbedeutend mit seinem Verhältnis zur Welt ist, weshalb der Reisebericht über die Wahrnehmung des Autors mindestens ebensoviel aussagt wie über seinen Gegenstand. Unter dieser Prämisse ist dem Reisebericht in den letzten Jahren als mentalitätsgeschichtlicher Quelle verstärkte Aufmerksamkeit der historischen wie der literaturwissenschaftlichen Forschung zuteil geworden, und sicherlich ist es ihr zu verdanken, daß der einst so periphere Gegenstand, für den sich keiner recht zuständig fühlte, vom Rand der kulturwissenschaftlichen Fächer zu einem vielbehandelten Gegenstand aufrücken konnte.4 Spätmittelalterlichen Reiseberichten, insbesondere den Ostasienreiseberichten, zu denen mit dem Bericht Marco Polos der bis heute bekannteste Reisebericht des Mittelalters gehört, ist dabei besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht worden, weil man im Erfahrungsbericht über ein fernes, d. h. unvertrautes Territorium am ehesten einen Umbruch in der Wahrnehmung der äußeren Welt und der ihr zugrundeliegenden Mentalität festmachen zu können meinte. Um einen solchen Mentalitätswandel feststellen zu können, mußte man auf ein dahinterliegendes Bewußtsein rekurrieren, und aufgrund der Identität von Augenzeugenschaft und Autorschaft schienen die Reiseberichte für einen solchen Rekurs besonders geeignet zu sein. Hierin liegt m. E. aber eines der zentralen Probleme der Interpretation der Orientreiseberichte: Wie für andere handschriftlich überlieferte Texte gilt nämlich auch für die 3 4
Vgl. etwa Mary Campbell, The Witness and the Other World, S. 122ff. Unter der Vielzahl jüngerer Arbeiten, die das in den letzten Jahren stark angewachsene Interesse am Gegenstand belegen, seien hier nur einige genannt: Folker Reichert, Begegnungen mit China, Sigmaringen 1992; Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, Sigmaringen 1994; Discovering N e w Worlds, ed. by Scott D. Westrem, N e w York/London 1991; Die Begegnung des Westens mit dem Osten, hg. von Odilo Engels und Peter Schreiner, Sigmaringen 1993; Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. von Xenia von Ertzdorff und Dieter Neukirch, Amsterdam 1992; Mary Campbell, The Witness an the Other World, Ithaca/ London 1988; Stephen Greenblatt, Marvelous Possessions, Oxford 1991.
Einleitung
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Reiseberichte (insbesondere die in großer Zahl überlieferten), daß es keine autorisierte Textfassung „von letzter Hand" gibt, die es - unabhängig von anderen methodischen Erwägungen - ermöglichen würde, von einem homogenen Text auf ein dahinterliegendes Bewußtsein zu schließen. Von keinem der Reiseberichte, auch nicht von dem in nur wenigen Handschriften überlieferten Reisebericht Wilhelms von Rubruk, ist das Autograph oder auch nur ein Apograph des Textes überliefert; immer sind die Texte „korrumpiert" von der Hand eines Schreibers, „kontaminiert" mit anderen Vorlagen oder „interpoliert" von der Absicht eines Redaktors: die gesamte Überlieferung erscheint als eine einzige Crux. Und auch der Rückgriff auf die ältesten Handschriften kann, wie so häufig, keine Abhilfe verschaffen: „recentiores non deteriores" - die jüngsten Handschriften sind nicht unbedingt die schlechtesten. Aber gemessen woran? An der Authentizität des Autors. Wie aber kann man die Stimme des Autors vernehmen, wenn sie von einem Chor von Redaktoren, Schreibern oder auch Mitautoren übertönt wird? Kann man von der Erfahrung eines Reisenden sprechen, wenn sie von so vielen übermittelt wird, denen eben diese Erfahrung abgeht? Wie läßt sich systematisch zwischen der Erfahrung eines Reisenden und der Imagination eines Autors unterscheiden, wenn beide derselben Form der Literaturproduktion unterliegen? Welchen Regeln unterliegt die Diskursivierung von Erfahrung? Und schließlich, welchen Status hat Erfahrung innerhalb einer diskursiven Formation, die noch nicht den Regeln der Mathematik, sondern den Regeln der Schrift als erfahrungsvermittelndem Medium unterliegt? Ausgehend von der Medialität der Schrift und der Diskursivität der Beschreibung und ihrer Regelmäßigkeiten orientiert sich die vorliegende Arbeit nicht am Konzept eines einsinnigen, linearen Verlaufs der Geschichte im Sinne wachsender Aufklärung durch fortschreitende Zerstörung realitätsfremder, d. h. empirisch widerlegter Topoi, sondern untersucht die Geltungsbedingungen von Topos und Empirie als Formen der Welterfahrung. Topos und Empirie werden dabei nicht als einander ausschließende Gegenbegriffe, sondern als wechselseitig verknüpfte Konstitutions- und Vermittlungsweisen von Wissen gesehen, wobei keinem von beiden Wahrheit im absoluten Sinne prädiziert wird. Vielmehr wird im Sinne der archäologischen Methode Michel Foucaults versucht, die Konstitution von „Realität" und „Wirklichkeitserfahrung" selbst aufzudecken. Im Anschluß an die Kantsche Wendung, daß die Formen der Erkenntnis die Gegenstände der Erkenntnis erst konstituieren, aber im Gegensatz zu allen apriorischen Konstruktionen wird unter Zuhilfenahme des wissenssoziologischen (Berger/Luckmann) wie des diskurstheoretischen (Foucault) Instrumentariums der Geltungsgrund von Erkenntnis und Wissen in den wissenssoziologisch zu spezifizierenden Erkenntnisformen aufgesucht und in den für die Wissensorganisation grundlegenden Kontaktsystemen fundiert. Von dieser Voraussetzung ausgehend, soll in der nachfolgenden Untersuchung anhand der spätmittelalterlichen Augenzeugenberichte über die fremde Welt Ostasiens deren Interrelation mit der Praxis interkultureller Kontaktsysteme, den Konstitutionsformen des Fremden und den gattungskonstitutiven Dominanten der Wissensvermittlung empirischen Wissens untersucht werden. Dabei untergliedert sich die Arbeit insgesamt in drei Teile: Als erstes werden die zwischen Europa und Ostasien seit dem Beginn der Begründung des mongolischen Großreiches bestehenden Kulturkontaktsysteme und ihre
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Einleitung
Relation zur Verschriftlichung von Wissen über die Fremde untersucht. Im zweiten Teil gehe ich den Konstitutionsbedingungen des Fremden und den in den Orientreiseberichten verwendeten Deskriptionsformen nach, um im dritten und letzten Teil schließlich den Begriff der Erfahrung und von daher das diskursive Aussagefeld der Orientberichte und ihre gattungsprägenden Dominanten zu erörtern. Im ersten Teil versuche ich zu entwickeln, welche Kulturkontaktsysteme mit dem Osten und insbesondere mit den Mongolen bestanden und was diese Kulturkontaktsysteme zur Erfahrung der Fremde beitrugen. Meine These ist, daß die Kulturkontaktsysteme in sehr unterschiedlicher Weise zur Beschreibung der Fremde beitrugen und daß sie Beschreibungsformen hervorbrachten, die sich nicht nach den Unterschieden von Mentalitäten aufsplitten lassen. Aus der seit dem ersten Kulturzusammenstoß mit den Mongolen resultierenden erzwungenen Beschreibung der Fremde ging eine deskriptive Aneignung des Fremden hervor, die sich schließlich von den Interessen und Praxisfomen jener Kulturkontaktsysteme entfernte, die entscheidend zu ihrer Formierung beigetragen hatten. Die Beschreibung der Fremde wurde zu einem Wert an sich, weil sie den Osten nicht mehr nur als Erwartungshorizont, sondern als Erfahrungsraum präsentierte und damit Weltaneignung durch Wissen signalisierte, die die Relation zwischen eigen und fremd entscheidend modifizierte. Im zweiten Teil gehe ich darauf aufbauend den Begriffen des 'Eigenen' und des 'Fremden' nach und versuche zu zeigen, daß deren Relationierung nicht über asymmetrische Gegenbegriffe gesteuert wird, sondern über ein überaus komplexes Wechselspiel von Praxisformen, Beschreibungsmodi und Grenzziehungen. Um die Komplexität dieses Wechselspiels zu demonstrieren, betrachte ich in den themenorientierten Kapiteln dieses Teils die Art und Weise, wie die verschiedenen Berichte mit vorgegebenen Semantiken umgingen und in welcher Weise sie von vorgängigen Narrativierungsangeboten Gebrauch machten. Dazu untersuche ich die Raumbeschreibung der Reiseberichte in Relation zur mittelalterlichen Kartographie, den Umgang mit der Gestalt des Priesterkönigs Johannes, der seit der Mitte des 12. Jahrhunderts zu einem festen Bestandteil der Beschreibung des Ostens geworden war, sowie die kategorialen Bestimmungen der Fremden mittels der Differnzierung in Heiden, Barbaren und monstra. Dabei wird deutlich, daß die Reiseberichte nicht nach den Kriterien von „realistisch" versus „literarisch" gegeneinander ausgespielt werden können, sondern daß sie alle gleichermaßen, wenn auch mit unterschiedlichen Zielrichtungen und Beschreibungsangeboten, an der deskriptiven Konstitution des Fremden partizipierten. Im dritten und letzten Teil der Arbeit erörtere ich von daher den Begriff der Erfahrung und die Bedeutung der Augenzeugenschaft des Berichtssubjekts für die Aneignung der Fremde. Sämtliche der überlieferten Berichte, so meine These, präsentierten und begründeten Erfahrung - auch der Bericht John Mandevilles, der bis in die jüngste Forschung als Negierung „echter" Erfahrung begriffen worden ist. Um das zu zeigen, untersuche ich in einem gesonderten Kapitel den aristotelisch-scholastischen Erfahrungsbegriff, der sich vom neuzeitlichen Erfahrungsbegriff, der in den meisten Untersuchungen mittransportiert, nicht aber reflektiert wird, deutlich unterscheidet. Während der neuzeitliche Erfahrungsbegriff, so meine These, einen asymmetrischen Gegensatz zwischen Tradition und Erfahrung begründet, geht der mittelalterliche Erfahrungsbegriff von einer stets lebendigen Beziehung zwischen Tradition und Erfahrung
Einleitung
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aus, die als Erfahrungstradition für neue Beobachtungen offen ist, sofern die Beobachter ihre Augenzeugenschafit glaubhaft vermitteln können. Daraus ergeben sich Schlußfolgerungen für die Gattungspoetik des spätmittelalterlichen Reiseberichts, die ich schließlich im letzten Kapitel der Arbeit erörtern möchte. In ihrer Konsequenz plädiere ich dafür, die spätmittelalterlichen Orientberichte im diskursiven Feld der Historia anzusiedeln, und sie nicht als iteweberichte, sondern als Augenzeugenberichte zu bezeichnen, denn ihr Fokus ist nicht die narrative Darstellung einer Reise, sondern die Augenzeugenschafit des Berichtssubjekts.
I. Kulturkontakte und Diskurse
1. Formen des Kulturkontakts und das Wissen über die Fremde Innerhalb des spätmittelalterlichen Diskurses über fremde Kulturen bilden die Augenzeugenberichte europäischer Ostasienreisender das zentrale Element eines sich stark aktualisierenden Wissens. Durch ihre relativ geringe Zahl könnten sie leicht als die Berichte einzelner Reisender erscheinen, die allein und nur auf sich gestellt in völlig fremde Kulturen vorgedrungen seien. Die Reisenden waren jedoch keineswegs so vereinzelt, wie es die überlieferten Berichte suggerieren. Selbst die ersten europäischen Berichterstatter über die Tartaren trafen am mongolischen Hof bereits auf andere Europäer oder griffen bei ihren Reisevorbereitungen auf die Hilfe von Gruppen zurück, die den Weg nach Ostasien bereits regelmäßig machten und über selbständige Kontakte mit den Mongolen verfugten. Ermöglicht wurde die Dominierung des Wissensdiskurses durch aktuelle Augenzeugenberichte nämlich aufgrund der im betrachteten Zeitraum zwischen Europa und Ostasien bestehenden Kulturkontakte. Verglichen mit den Pilgerfahrten nach Jerusalem, den Kreuzzügen und der späteren kolonialen Expansion Europas nach Übersee mag die Zahl der an solchen Kulturkontakten beteiligten Europäer gering gewesen sein, aber sie war doch sehr viel größer, als die Zahl der überlieferten Berichte vermuten läßt. Diese Kulturkontakte verbinden sich auf der Seite der Ereignisgeschichte mit Aufstieg und Niedergang der Mongolen als der beherrschenden Macht in Asien vom Beginn des 13. Jahrhunderts über den Zerfall des mongolischen Großreichs in einzelne Teilreiche bis zum Sturz der mongolischen Herrschaft in China durch die Ming-Dynastie 1368. Die mongolische Eroberung und Beherrschung des asiatischen Raumes von den Grenzen Europas bis an den Pazifik schuf einen machtpolitischen Großraum, der Asien für unterschiedliche Kulturkontaktsysteme erheblich durchlässiger machte, als dies zuvor der Fall gewesen war. An erster Stelle steht daher die Frage, welche Formen des Kulturkontakts zwischen Europa und Asien sich in dem genannten Zeitraum entwickelten und wie sie systematisiert werden können. Dazu bietet es sich an, auf jene Systematisierungen von Kulturkontaktsituationen zurückzugreifen, die Urs Bitterli für die Beschreibung der frühneuzeitlichen Kulturkontakte zwischen Europa und der Neuen Welt entwickelt hat.' Dabei 1
Auf die Brauchbarkeit der von Bitterli entwickelten Taxonomie hat bereits Jürgen Osterhammel hingewiesen. Vgl. ders., Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas, S. 106.
Kulturkontakte und Diskurse
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ist freilich zu beachten, daß diese Schemata sich auf ein anderes Zeitalter beziehen und auf anderen Voraussetzungen beruhen, insofern sich ihr begrifflicher Fokus auf die von Europa ausgehende Kolonisierung der Welt richtet. So ist als zentraler Unterschied zunächst festzuhalten, daß die spätmittelalterlichen Kulturkontakte mit Asien durch die Expansion der mongolischen Kultur begründet wurden, während die frühneuzeitlichen Kulturkontakte und was auf sie folgte von der europäischen Expansion geprägt wurden. Den Mongolen gegenüber befanden sich die Europäer militärisch in der Defensive, und ökonomisch profitierten sie von Voraussetzungen, die sie selbst weder geschaffen hatten noch zu kontrollieren imstande waren. Während also die mit dem Entdeckungszeitalter begründeten Kulturkontakte immer von einer europäischen Dominanz ausgingen, war dies für die spätmittelalterlichen Kulturkontakte keineswegs der Fall. Unter dem Oberbegriff Kulturkontakt subsumiert Bitterli drei Formen der Kulturbegegnung, nämlich Kulturberührung, Kulturzusammenstoß und Kulturbeziehung. 2 Mit Kulturberührung bezeichnet er erstmaliges oder punktuelles Zusammentreffen von Menschen, die unterschiedlichen Kulturen angehören. Die zweite Form, der Kulturzusammenstoß, umfaßt dagegen unterschiedliche Formen des feindseligen Aufeinandertreffens von Kulturen unter territorialen oder kulturellen Hegemonieansprüchen einer oder beider der beteiligten Kulturen. Der Terminus Kulturbeziehungen schließlich bezeichnet kontinuierliche, friedliche Beziehungen einzelner Kontaktsysteme zu fremden Kulturen. 3 Alle drei Formen finden sich auch im Mittelalter, wenngleich in geringerer Extensität und Intensität als in der Neuzeit. Zu Kulturzusammenstößen kam es in erster Linie zwischen der muslimisch-arabischen und der christlich-europäischen Kultur, weil beide durch Gebietseroberungen in das Territorium der jeweils anderen Kultur expandierten. Zu einem Kulturzusammenstoß kam es auch mit der mongolischen Kultur, welcher allerdings im Vergleich mit den christlich-muslimischen Auseinandersetzungen nur als peripher bezeichnet werden kann. 4 Mit der Schlacht von Liegnitz 1241, bei der die Mongolen ein polnisch-deutsches Ritterheer vernichtend geschlagen und damit das Tor nach Westeuropa aufgestoßen hatten, zeichnete sich zwar ein zentraler Kulturzusammenstoß ab, der jedoch durch die überraschende Kehrtwende der Mongolen nicht ein2
Vgl. Urs Bitterli, Alte Welt - Neue Welt, S. 42ff. In seiner 1976 veröffentlichten und bis heute grundlegenden Darstellung der Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung Die »Wilden« und die »Zivilisierten« hat Urs Bitterli noch vier Formen der Kulturbegegnung zwischen der europäischen Kultur und außereuropäischen Kulturen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert unterschieden: Kulturberührung, Kulturkontakt, Kulturzusammenstoß und Kulturverflechtung. Vgl. Urs Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«, München 1976, S. 8 1 179. In Alte Welt- Neue Welt hat er dieses Schema modifiziert und verändert. Ich beziehe mich im folgenden auf dieses modifizierte, dreigliedrige Schema.
3
Ich wähle hier den Terminus „Kontaktsysteme" - Bitterli spricht demgegenüber von den „Trägergruppen" von Kulturbeziehungen - weil er mir geeigneter zu sein scheint, die Komplexität von Funktionsbestimmungen zu bezeichnen.
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Bitterli unterscheidet nicht zwischen unterschiedlichen Graden des Kulturzusammenstoßes, was mir aber im Hinblick auf die mittelalterlichen Kulturkontakte sinnvoll zu sein scheint. Hierbei sollte m. E. zwischen peripherem und zentralem Kulturzusammenstoß unterschieden werden, wobei diese Unterscheidung sowohl im Hinblick auf die territorialen als auch die kulturellen Hegemonieansprüche anzuwenden wäre.
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Kulturkontakte und Diskurse
trat. 5 Der Rückzug der Mongolen nach Asien reduzierte ihn zu einem peripheren Kulturzusammenstoß - auch wenn er im Abendland apokalyptische Erwartungen auslöste, die ihn ins Zentrum der Wahrnehmung rückten. Nach dem Schock des Kulturzusammenstoßes entwickelten sich schon bald Kulturbeziehungen, als deren Träger wie in Bitteriis auf die frühe Neuzeit bezogener Schematisierung auf europäischer Seite Händler, Missionare und Diplomaten festgemacht werden können. Als Besonderheit der spätmittelalterlichen Kulturkontakte mit den Mongolen ist allerdings zu berücksichtigen, daß eines der Kontaktsysteme, nämlich die diplomatischen Beziehungen, die eigentlich den höchsten Institutionalisierungsgrad möglicher Kulturbeziehungen aufweisen und deswegen erst in einer relativ fortgeschrittenen Phase kultureller Beziehungen zu erwarten wären, erstaunlicherweise bereits auf der Ebene der Kulturberührung eingesetzt wurde. Zu beachten ist auch, daß die Bedingungen, unter denen europäische Fernhandelskaufleute und Missionare seit der Mitte des 13. Jahrhunderts Beziehungen zu den Mongolen unterhielten, den Bedingungen der frühen Neuzeit, in denen Händler und Missionare als „frontiers" einer vordringenden Kultur auftraten, diametral entgegengesetzt waren: Für die Landreisenden des 13. und 14. Jahrhunderts, die vom Schwarzen Meer aus durch die Weiten Asiens zogen, gab es keinen logistischen Rückhalt auf Schiffen und keine militärisch überlegene landnehmende Macht im Hintergrund; sie befanden sich stets in der Hand der Fremden, auf deren Wohlwollen sie in jedem Fall angewiesen waren. Die Kaufleute und Missionare, die im späten Mittelalter in das mongolische Herrschaftsgebiet vordrangen, begaben sich als Einzelne oder in kleinen Gruppen nach Ostasien und waren darauf angewiesen, sich an die fremde Kultur zu akkomodieren, um ihre eigenen Interessen verfolgen zu können. Andererseits waren sie durchaus nicht nur widerwillig geduldet, sondern teilweise hochwillkommen, und insofern unterschied sich ihre Position von der der Portugiesen im China des 16. Jahrhunderts. Die Europäer agierten aber auch nicht in der Erwartung, auf zivilisatorisch unterlegenene Völker zu stoßen, und zu keinem Zeitpunkt kam ihnen der Gedanke, sie könnten sich ihre Handelswaren mit militärischen Mitteln günstiger beschaffen, sie gegen minderwertige Güter eintauschen oder gar die Annahme des christlichen Glaubens erzwingen. Den Handel begünstigten die Mongolen durch Zollerleichterungen und niedrige Abgaben, der christlichen Mission legten sie, außer wo sie sich bereits dem Islam zugewandt hatten, keine Hindernisse in den Weg. Das mongolische Reich war im Vergleich etwa mit dem osmanischen Reich gegenüber Fremden deutlich aufnahmebereiter und duldete nicht nur die Handelsdiaspora, sondern auch die christliche wie die islamische Mission und integrierte Fremde häufig sogar in seine Administration. 6 Das hing damit zusammen, daß ein zunächst tribal organisiertes Reitervolk mit
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Die Mongolen kehrten nur deswegen um, weil ihr Heerführer Batu nach dem Tod des Großkhans zur Wahrung seiner Interessen bei der Wahl des Nachfolgers nach Karakorum zurückkehren mußte. Der von den Mongolen nachdrücklich vertretene Weltherrschaftsanspruch, dem ein gleicher Anspruch des Papstes und des Kaisers entgegenstand, hätte sonst sicherlich zu einem zentralen Kulturzusammenstoß geführt. Das galt nach dem Zerfall des mongolischen Großreichs in mehrere Teilreiche freilich nur so lange, bis die Mongolen des Ilkhanats von Persien und der Goldenen Horde islamisiert worden waren. Danach ließen sie kaum noch christliche Missionare zu und reglementierten auch Han-
Kulturkontakte und Diskurse
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hochmobiler Kriegführung, wie die Mongolen, im Bereich der euro-asiatischen Landmasse zwar zu extern großflächigen Eroberungen in der Lage war, nicht jedoch zur Verwaltung der eroberten Gebiete. Um die eroberten Gebiete verwalten zu können, bedurften die Mongolen eines kulturellen Umbaus, in dem sie entweder von ihrer Herrschaft abhängige Fremde mit der Verwaltung beauftragten oder sich an die eroberte Kultur anpaßten und deren Verwaltung und auch ihre Lebensweise übernahmen. 7 Zu den Fremden, die in mongolische Dienste traten, gehörten auch Europäer, nicht zuletzt europäische Kaufleute, die damit ihre eigene Position im mongolischen Reich zu stabilisieren suchten. Die Kontaktsysteme der Diplomatie, des Handels und der Mission unterschieden sich in erster Linie darin, welche Bezugnahmen auf die fremde Kultur ihre institutionelle Praxis begründete, d. h. welchen Funktionskriterien sie unterlagen, welche Absichten mit ihnen verknüpft wurden und welche Handlungsimperative zu ihrer Unterhaltung befolgt werden mußten. Da es in dieser Arbeit aber nicht um historiographisch aufzuarbeitende Formen von Kulturkontakten, sondern zentral um die Diskursivierung von Wissen über fremde Kulturen geht, für die das aus Kulturkontakten resultierende Wissen nur einen Ausgangspunkt bildet, habe ich mich bemüht, auf der Grundlage der dargestellten Kulturkontaktformen ein Schema zu entwickeln, das die Formen des Wissens beschreibt, die aus unterschiedlichen Kulturkontaktsystemen hervorgehen. Die Leitdifferenz für diese Schematisierung der Wissensformen bildete einerseits die in Relation zur Praxis des jeweiligen Kulturkontakts erkennbare Struktur des Wissens, andererseits die Frage nach dem Eingang dieses Wissens in den Diskurs, der andere Kulturen beschreibt. Nicht alles Wissen, soviel kann hier vorweggenommen werden, hat gleichermaßen Eingang in die Beschreibung fremder Kulturen gefunden, nicht jede Form von Erfahrung ist in gleichem Maße in die Diskursivierung der Fremde eingegangen. Das lag aber nicht unbedingt an sozial begründeten Ausschlußmechanismen, nicht unbedingt daran, daß bestimmte Gruppen von der Diskursivierung des Wissens gezielt ausgeschlossen worden
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delskontakte sehr viel stärker, als dies zuvor der Fall gewesen war. In der Folge wandelte sich die europäische Einschätzung der Mongolen Vgl. hierzu Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 137. In der Spätphase der mongolischen Herrschaft in China und bei den persischen Ilkhanen nach deren Islamisierung war der seltene Fall gegeben, daß eine Erobererkultur sich den unterworfenen Völkern akkulturierte. Vgl. hierzu Veronika Veit, Die Mongolen: Von der Clanförderation zur Volksrepublik, die darauf hinweist, daß die Mongolen sich den eroberten Kulturen im 13. Jahrhundert so weit akkulturierten, daß sie schließlich ihre Identität aufgaben: „Das mongolische Herrschaftssystem war ferner ein Versuch, die militärische Macht der Reiternomaden mit einem Verwaltungssystem zu verbinden, das der Regierungsform seßhafter Gesellschaften entlehnt war: nämlich die föderativen, auf Fortüne und persönliches Charisma gegründeten, ad hoc ausgerichteten Traditionen der Mongolen mit der zentralasiatisch-bürokratischen der Uiguren, Araber, Perser und Chinesen. Die Mongolen waren außerdem verhältnismäßig gering an Zahl. Als die Verwaltung des Reiches in die Hände von Beamten aus den Reihen der unterworfenen seßhaften Völker überging, hörte das Reich auf, spezifisch mongolisch zu sein" (S. 164). Vgl. auch die ebenfalls in dem von Michael Weiers herausgegebenen Band Die Mongolen versammelten Aufsätze über die Geschichte der Mongolen und der mongolischen Teilreiche vom 12.14. Jahrhundert.
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wären, weil man ihnen nach dem Motto, „was nicht sein darf, das nicht sein kann", keinen Glauben schenken wollte. Die in der Forschung weit verbreitete Überzeugung von der Unglaubwürdigkeit „realistischer" Beschreibungen gegenüber den mythisch oder topisch geprägten Erwartungen hat in ihrer dichotomischen Gegenüberstellung von tradiertem Wissen und Erfahrung den Blick für die Komplexität des Verhältnisses von Kontaktsystemen und Diskursivierungsbedingungen eher verstellt - ein prinzipielles Problem binärer Schemata. Aber auch die interpretatorische Ausrichtung an der Mentalität sozialer Gruppen ist für die Relationierung zwischen Kontaktsystemen und Wissensdiskursen ungeeignet, weil sich der Zugang zum Wissensdiskurs wie die Differenzen zwischen den Darstellungsformen nicht ausschließlich auf die Weltsicht oder das geistige Rüstzeug bestimmter sozialer Gruppen zurückführen lassen. Das wird vor allem der Vergleich zwischen den Kontaktsystemen der Gesandten und der Missionare zeigen, die derselben sozialen Gruppe und ihrer Mentalität zugeordnet werden können, ohne daß daraus identische Wissens- und Darstellungsformen über die Fremde resultieren. Es ergeben sich nämlich durchaus funktionale Unterschiede, aus denen sich die prinzipielle Differenzierbarkeit der Wissensformen begründet. Daneben gab es zweifellos auch Überschneidungen und einen Wissensaustausch zwischen den Kontaktsystemen, die zwischen der Diplomatie und der Mission besonders eng waren, wie die Darlegung des Materials zeigen soll. Von den Kontaktsystemen der Gesandten und Missionare deutlicher abgegrenzt war das Kontaktsystem des Fernhandels, der mit der Beherrschung des asiatischen Großraums durch die Mongolen einen enormen Aufschwung nahm. Die Abgrenzung dieses Kontaktsystems von den beiden anderen erfolgte freilich nicht auf der Ebene sozio-kultureller Beziehungen innerhalb der einzelnen Kontaktsysteme, etwa in dem Sinne, daß die Kleriker den Kaufleuten wegen deren Gewinnerzielungsabsichten mißtraut und sie deshalb gemieden hätten - wenngleich es für solche Konflikte zwischen Fernhandelskaufleuten und der Kirche, insbesondere was die Handelsbeziehungen mit den Sarazenen betraf, eine Reihe von Beispielen gibt. Im Kontakt mit den Mongolen läßt sich jedoch an zahlreichen Stellen eine enge Zusammenarbeit zwischen den im Auftrag des Papstes oder ihres Ordens nach Osten reisenden Mönchen und europäischen Fernhandelskaufleuten belegen; die inner-kulturellen Kontakte zwischen den Angehörigen jener Kontaktsysteme, die den inter-kulturellen Kontakt dominierten, waren teilweise durchaus eng. Eine entscheidende Grenzziehung gab es aber auf der Ebene der Wissensdiskursivierung, zu der die Kaufleute, obwohl sie zweifellos sowohl die extensivsten als auch die intensivsten Beziehungen zu den Mongolen unterhielten, nur wenig beitrugen nicht aber wegen eines gezielten Ausschlusses vom Diskurs, sondern weil die Struktur des Wissens, über das sie durch ihre Fernhandelskontakte verfügten, es für die Diskursivierung der Fremde innerhalb des herrschenden Wissensdiskurses unbrauchbar machte und sie selbst keinen eigenen, schriftlich fixierten Wissensdiskurs hervorbrachten. In der Relation von Schrift und Wissen bilden die Kontaktsysteme jenen Grenzraum von Diskurs und Praxis, der von Anknüpfungen, Verlagerungen, Verknappungen und Ausschließungen gekennzeichnet ist, bei dem aber die Formationsregeln der diskursiven Praxis bestimmen, in welcher Weise die nichtdiskursiven Praktiken und das ihnen zugehörige Wissen zur Erscheinung kommen. 8 8
Zur V e r k n ü p f u n g v o n Diskurs und Praxis vgl. Michel Foucault, D i e A r c h ä o l o g i e , S. 2 3 1 .
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Die sich bei der Untersuchung des Materials herauskristallisierenden Wissensformen der einzelnen Kulturkontaktsysteme habe ich als kategoriales, instrumentelles und operatives Wissen zu verbegrifflichen und den jeweiligen Kulturkontaktsystemen zuzuordnen versucht. Diese Wissensformen unterhielten sehr stark unterschiedliche Relationen zur Wissensorganisation und zur medialen Vermittlung dieses Wissens. So erschien es je nach den Formen des Kulturkontakts unter Umständen gar nicht oder nur in sehr geringem Maße erforderlich, in die Sinnsysteme der fremden Kultur einzudringen und sie in Beschreibungen anderen Angehörigen des Kontaktsystems zu vermitteln, weil die Praxis des Kulturkontakts auch ohne eine solche „verstehende" Durchdringung einigermaßen reibungslos zu funktionieren vermochte. Dies gilt etwa für das Kontaktsystem des Fernhandels, das lediglich eine Kenntnis der begehrten Produkte und der für ihre Ausfuhr zuständigen Institutionen voraussetzte und eine Berücksichtigung der kulturellen Sinnsysteme nur insoweit erforderlich machte, als Regelverstöße gegen solche Sinnsysteme unter Umständen Sanktionen nach sich ziehen konnten. Andere Kontaktsysteme, wie etwa die Mission, machten das Bemühen um eine verstehende Durchdringung der fremden Kultur zumindest dort unerläßlich, wo sie auf die natürliche Vernunft der zu Missionierenden rekurrierten, weil sie in den Sinnsystemen der fremden Kultur nach Anknüpfungspunkten für die Vermittlung des eigenen Sinnsystems suchen mussten. Das heißt nicht, daß die eine Gruppe das kulturelle Sinnsystem einer fremden Gesellschaft besser verstehen oder richtiger beschreiben konnte als die andere; es heißt nur, daß ihre Praxis eine solche Beschreibung - über deren Adäquatheit damit nichts gesagt ist - nahelegte, weil sie als operative Ausgangsbasis für diese Praxis unerläßlich war. Das Kulturkontaktsystem der Diplomatie brachte mit seiner sehr spezifischen Praxis der gezielten Beobachtung anhand vorgegebener Fragestellungen im größten Umfang das hervor, was ich kategoriales Wissen nennen möchte. Es zielte auf jene Elemente der fremden Kultur, die es als bezeichnend für diese Kultur bestimmte und überführte sie in ein geordnetes Aussagefeld, das diese bezeichnenden Elemente organisierte. Demgegenüber zeichnete sich das Kulturkontaktsystem des Fernhandels in erster Linie durch instrumentelles Wissen aus, das unmittelbar praxisorientiert war und deshalb zum Diskursfeld „Fremde" als einem Aussagefeld seriöser Sprechakte nahezu nichts beigetragen hat. Es war an unmittelbaren Nützlichkeitserwägungen und pragmatischen Handlungsimperativen orientiert und mußte daher hochflexibel auf Veränderungen seiner Grundlagen reagieren. Damit stand es unter permanentem Aktualisierungsdruck, dem die Kommunikation mittels durch Boten überbrachter mündlicher Nachrichten und schriftliche Mitteilungen in Briefform am ehesten angemessen waren. Mit dem instrumenteilen Wissen teilte das operative Wissen des Kontaktsystems der Mission die Erfolgsorientierung und die Notwendigkeit der Aktualisierung, so daß auch hier der Brief als Medium der Informationsübermittlung eine wichtige Rolle spielte. Da der Erfolg der Mission sich in der Überzeugungskraft der eigenen Religion gründete, deren zentraler Anknüpfungspunkt die vorgefundene Religion bildete, war ihr Kontaktsystem im Gegensatz zum Kontaktsystem Fernhandel stark auf kategoriales Wissen angewiesen, und hat deshalb gerne auf das Aussagefeld zurückgegriffen, in dem dieses Wissen diskursiviert wurde. Dieses kategoriale Wissen wurde zu seiner Nutzbarmachung dann aber häufig systematisiert und in einen stärker theoretisch angelegten theologischen Diskurs überfuhrt, der ein
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übergreifend systematisiertes operatives Wissensfeld organisierte, auf das für die Ausbildung von Missionaren zurückgegriffen werden konnte. Die Erfolgsorientierung machte neben Rückmeldungen an die auftraggebende Institution, die in aller Regel nur innerhalb des geschlossenen Kommunikationssystems der Orden zirkulierten, aber auch Rückmeldungen an den größeren Rahmen der eigenen Kultur erforderlich, für deren transkulturelle Überzeugungskraft die Missionare eine Stellvertreterfunktion einnahmen, und begründete damit einen in den Raum des Eigenen gewendeten legitimatorischen Charakter. Die drei Wissensformen, kategoriales, instrumentelles und operatives Wissen, unterscheiden sich damit sowohl auf der Ebene der in Erscheinung tretenden Wissensgegenstände als auch auf der Ebene der Diskursivierung des in den Kulturkontaktsystemen gewonnenen Wissens. Während kategoriales Wissen zur Diskursivierung innerhalb eines fest umrissenenen Aussagefeldes drängte und darin erst seine eigentliche Funktion erfüllt, bedurfte instrumentelles Wissen keiner Diskursivierung, sondern nur der Zirkulation innerhalb eines geschlossenen Kommunikationssystems. Operatives Wissen dagegen bedurfte der Diskursivierung insoweit, als es die spezifischen Grundlagen seiner operativen Ausgangsbasis aus den zur Verfugung stehenden Nachrichten selegieren, teilweise systematisieren und zur Herstellung einer operativen Kontinuität zugänglich machen mußte. Daß die Zuordnung der so bezeichneten drei Wissensformen zu den einzelnen Kulturkontaktsystemen Überschneidungen zwischen den Wissensformen so wenig ausschließt, wie Überschneidungen zwischen den Kontaktsystemen, braucht hier nicht besonders betont zu werden. Die Untersuchung soll auch zeigen, wie es möglich war, die Wissensund Kommunikationssysteme einzelner Kulturkontaktsysteme zu überspringen, und quasi von außen in den Diskurs über die Fremde einzutreten. Auf eine zuordnende Systematisierung aufgrund solcher notwendiger Einschränkungen zu verzichten, wäre aber schon deswegen nicht sinnvoll gewesen, weil mit ihrer Hilfe beschrieben werden kann, warum manche Wissensformen so wenig zu dem betracheten Aussagefeld beigetragen haben, und welche Existenzbedingungen andererseits erfüllt sein mußten, um Diskursivierungsgrenzen zu überspringen.
2. „Concludere per experientiam facti": die ersten europäischen Gesandten zu den Mongolen und die Begründung kategorialen Wissens über fremde Kulturen
Die mongolischen Eroberungszüge und die ersten Gesandtschaften Seit den bis weit nach Europa reichenden Eroberungszügen der Mongolen in den Jahren 1238 und vor allem 1241, als die Mongolen bei Liegnitz ein schlesisch-polnisches und
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gleichzeitig am Sajö ein ungarisches Heer vernichtend schlugen, stand die Beschreibung der Völker Ostasiens unter deutlichem Aktualisierungsdruck: Erstmals schien das, was in den Völkerlisten des Alten Testaments und den tradierten Werken der Alten über Ostasien zu erfahren war, nicht mehr auszureichen, um die „wie Gottes zornflammender Blitz", „wie ein Wirbelwind" 9 über Osteuropa herfallenden Völker einordnen, die Abfolge ihrer gewaltigen Siege begreifen und ihre geschichtsteleologische Bedeutung erklären zu können. Zwar boten die überlieferten Quellen mit ihren Beschreibungen der Völker des Ostens durchaus eine gewisse Orientierung, aber die Ereignisse wurden doch als zu einschneidend wahrgenommen, um sich mit der üblichen Methode des Ein- und Zuordnens einfach begnügen zu können. Das hing nicht nur mit den tatsächlichen Ereignissen zusammen, sondern auch mit den seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts sich zunehmend verbreitenden eschatologischen Strömungen, die das nahe Weltende prophezeiten. 10 Durch das Auftauchen der mongolischen Reiterhorden aus eben jener Himmelsrichtung, aus der man die Völker der Apokalypse erwartete, ihr fremdartiges Aussehen, die von ihnen berichteten Grausamkeiten und ihre große Zahl schienen sich die Prophezeiungen der Apokalyptiker eindeutig zu bestätigen. Wenngleich die Kirche einen großen Teil der eschatologisch-chiliastischen Strömungen als häretisch verurteilt hatte, konnte doch auch sie sich nicht der Frage entziehen, ob sich nicht doch der Antichrist anschickte, mit seinen Völkern die Welt zu erobern. Waren jene unaufhaltsam scheinenden Horden, denen bei Liegnitz die Blüte der europäischen Ritterschaft zum Opfer gefallen war, nur eines der verschiedenen Heidenvölker, die von jeher aus dem Osten nach Europa gedrängt waren, oder handelte es sich bei ihnen um die geweissagten Völker der Apokalypse, die Vorboten des Weltendes? Die Brisanz dieser Fragen stand freilich nicht von Anfang an im Mittelpunkt. Als sich nach 1220 im Kreuzfahrerlager vor Damiette die ersten Nachrichten über ein aus dem Osten herandrängendes kriegerisches Volk verbreiteten, wurden sie noch keineswegs als bedrohlich, sondern im Gegenteil als hoffnungsvolles Zeichen gedeutet. Ein christlicher Priesterkönig, so hieß es, eile den in Bedrängnis geratenen Kreuzfahrern aus dem Osten zu Hilfe, um das Heilige Land von den Sarazenen zu befreien. Hintergrund dieser Gerüchte waren die ersten mongolischen Eroberungen in Persien und Turkestan, die das Reich des Chwarezm-Schahs Mohammed II. zerschlagen hatten. Da hier nicht die Christenheit, sondern deren Feinde bedroht waren, deutete man die Nachrichten aus dem Osten, nicht als das, was sie signalisierten, nämlich als das Auftauchen einer neuen, bis
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So Matthaeus Parisiensis in seiner Chronica maiora, IV, S. 113. Nahezu gleichlautend beschreibt auch Friedrich II. in seinem berühmten Tartarenmanifest das plötzliche Auftauchen der Mongolen. Vgl. Johannes Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit, S. 291. Grundlegend zur Verbreitung der Nachrichten über die Mongolen im lateinischen Westen ist nach wie vor Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht ( 1 2 2 0 - 1 2 7 0 ) , sowie jüngst Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, passim.
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Zu den apokalyptischen, insbesondere den joachimitischen Strömungen des 13. Jahrhunderts, die das Ende des zweiten Reiches für 1260 erwarteten, vgl. H. M. Schaller, Endzeit-Erwartungen und Antichrist-Vorstellungen, sowie Norman Cohn, Das neue irdische Paradies. Revolutionärer Millenarismus und mystischer Anarchismus im mittelalterlichen Europa, Reinbek 1988, bes. S. 117-120.
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dahin unbekannten Macht, die über ein erhebliches militärisches Potential verfügte, sondern vielmehr als gezielte Unterstützung der Christen in ihrem Kampf um das Heilige Land. Als Anknüpfungspunkt, der die berichteten Ereignisse mit einer plausiblen Narration verknüpfte, diente die seit dem 12. Jahrhundert in Europa verbreitete Legende von einem christlichen Priesterkönig Johannes, der in Indien über ein mächtiges Reich herrsche." Diese Legende verband sich mit der nach 1220 bei den Kreuzfahrern kursierenden, als Liber Clementis bezeichneten Prophetie, in der geweissagt wurde, zwei Könige, einer aus dem Osten und einer aus dem Westen, würden den Islam vernichten und Jerusalem in dem Jahr erobern, in dem Ostern auf den 3. April falle. 12 Eine fast gleichzeitig unter dem Titel Relatio de Davide Rege verbreitete Legende, die unter anderem von Jakob von Vitry überliefert und in zahlreiche Chroniken aufgenommen wurde, berichtete von einem König David, der als der Sohn oder Enkel des Priesterkönigs Johannes oder auch als dieser selbst identifiziert wurde. Von ihm hieß es, er habe den Kalifen von Bagdad besiegt und stehe mit seinen Truppen jetzt nur noch fünfzehn Tagesmärsche von Antiochien entfernt und schicke sich an, Damaskus und Aleppo einzunehmen, um das den Kreuzfahrern von den Sarazenen wieder entrissene Jerusalem zu befreien und es danach mit Gold und Silber, wovon er im Überfluß habe, wieder aufzubauen. 13 Zwar sahen sich die hochfahrenden Hoffnungen der Kreuzfahrer enttäuscht, als der erwartete Angriff König Davids zu ihrer Unterstützung ausblieb, aber das verband man nicht mit der Fehlerhaftigkeit der Prophezeiungen, sondern suchte die Schuld für das Ausbleiben der erhofften Hilfe bei sich selbst: Weil die Kreuzritter aufgrund der Uneinigkeit unter den Christen Damiette wieder verloren hatten, sei König David nach Osten zurückgekehrt. 14 Tatsächlich hatten sich die Mongolen 1223 wieder nach Ostasien zurückgezogen, um die Herrschaft über die dort eroberten Gebiete zu konsolidieren, und mit dem Tod Dschinghis Khans im Jahre 1227 hatten sie ihre Westexpansion vorläufig eingestellt. In den dreißiger Jahren nahmen die Mongolen ihre Westexpansion jedoch wieder auf, und nun gelangten immer mehr Briefe von dominikanischen und franziskanischen Missionaren ins Abendland, in denen von einem Volk die Rede war, das sich Tartaren nenne und dessen Grausamkeit und Rohheit schrecklich sei.15 Der Zusammenhang zwischen diesen Kriegszügen und den Ereignissen der zwanziger Jahre blieb den Chronisten, die die eingehenden Nachrichten sammelten, nicht verborgen, aber noch reichten Sammeln und Einordnen aus, um ihn erklären zu können. 16 So schloß Alberich von TroisFontaines, die Völkerschaften, die 1240 Kiew erobert und eingeäschert hatten, seien 11 12
Zur Darstellung des Priesterkönigs Johannes in den Reiseberichten siehe unten Kap. 11,3. Vgl. Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 14.
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Vgl. ibid., S. 15ff. sowie bes. S. 27ff. Diese Erklärung findet sich u. a. bei Alberich von Trois-Fontaines, der in seiner Weltchronik seit 1232 die neuesten Nachrichten über die Tartaren sammelte. Vgl. hierzu Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 5 7 - 6 3 , sowie Schmieder, Europa und die Fremden, S. 25. Vgl. Drei Texte zur Geschichte der Ungarn und Mongolen; Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 70; vgl. auch Marina Münkler, Marco Polo, S. 13ff.
15 16
Zur Verbreitung der Nachrichten aus dem Osten, die vorwiegend auf das Nachrichtennetz der Orden zurückging, vgl. Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 67.
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zwar mit denen des Priesterkönigs Johannes identisch, aber sie hätten sich nach der Rückkehr nach Asien gegen ihn aufgelehnt und ihn schließlich ermordet. Nun kämen sie nicht mehr als Helfer, sondern in übler Absicht. 17 Das Ausmaß ihrer 'üblen Absichten' überstieg freilich alles, was man bis dahin erlebt hatte. 18 Die Niederlagen von 1241 bei Liegnitz und am Sajò schließlich rückten die Ereignisse in ein völlig anderes Licht. Als die Mongolen am 9. April 1241 in der Nähe der schlesischen Stadt Liegnitz ein polnisch-deutsches Ritterheer nahezu vollständig vernichteten, breitete sich Panik aus, denn sowohl die Schwere der Niederlage als auch die Art und Weise, wie sie zustandegekommen war, machten deutlich, daß man es hier mit einer Macht zu tun hatte, der man nichts entgegensetzen konnte. Gegenüber der hochmobilen Taktik der mongolischen leichten Reiterei, die sich jederzeit zurückziehen und wieder vorpreschen konnte, erwies sich das gepanzerte Ritterheer als viel zu schwerfällig. Die europäischen Ritter waren im Prinzip darauf angewiesen, daß sich der Kampf in einem eng begrenzten Terrain abspielte, bei dem zunächst die beiden - in der Regel relativ kleinen - Heere über eine kurze Distanz aufeinander zuritten und dann im Kampf Mann gegen Mann mit dem Schwert die Schlacht entschieden. Die in sehr viel größerer Zahl antretenden Mongolen, die mit dem Bogen über eine effektive Distanzwaffe verfugten, ließen sich auf diese Art des Kämpfens aber gar nicht ein, sondern arbeiteten mit Flankenangriffen und Einkreisungsmanövern, so daß sie gleichzeitig an der Seite und im Rücken des Ritterheeres auftauchen konnten. Diese als ehrlos und grauenerregend erlebte Kampfweise bestätigte sich für die entsetzten Ritter nachdem Herzog Heinrich von Schlesien in der Schlacht gefallen war, und die 'blutrünstigen Barbaren' nicht davor Halt machten, ihm den Kopf abzuschlagen, ihn auf eine Lanze zu spießen, um ihn vor den Toren von Liegnitz zu schwenken. 19 Das Entsetzen über diese Niederlage wurde noch verstärkt, als nur zwei Tage später ein zweites mongolisches Heer bei Mohi am Sajò die Truppen des ungarischen Königs Béla nahezu vollständig aufrieb. Die Tartaren bestätigen auch hier den Ruf ihrer Heimtücke und Grausamkeit, denn sie öffneten den bedrängten Ungarn einen scheinbaren Fluchtweg, um sie in eine günstige Position zu locken, in der sie sie um so leichter niedermachen konnten. 20 Diese Art der Kriegführung war den europäischen Ritterheeren nicht nur strategisch durch die Aufteilung des mongolischen Heeres in zwei Flügel, die von zwei Seiten nahezu gleichzeitig angriffen, und taktisch durch die hohe Mobilität der Mongolen in der Schlacht weit überlegen, sondern spottete auch jeder Vorstellung von
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Alberich von Trois-Fontaines war Zisterzienser und verfügte offensichtlich über gute Kontakte zu den Kreuzfahrern und nach Ungarn. Seine Weltchronik, in die er schon früh Nachrichten über die Tartaren aufnahm, schrieb er zwischen 1232 und 1250. Aus den jährlich vorgenommenen Einträgen in seiner Chronik spricht das deutliche Bemühen, die Abfolge der Ereignisse narrativ zu homogenisieren. Vgl. Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 5 7 - 6 3 .
18
Zu den „Mongolenstürmen" vgl. Göckenjan/Sweeney (Hg.), Mongolensturm; Felicitas Schmieder, Der Einfall der Mongolen; sowie diess., Europa und die Fremden, S. 2 6 - 3 1 .
19
Die Reaktion auf diese Ereignisse war in polnischen Chroniken besonders heftig. Vgl. A. Rutkowska-Plachcinska, L'image du danger tartar dans les sources polonaises de XlIIe-XIVe siècles, in: Histoire et société, Mél. Georges Duby, Aix-en-Provence 1992, S. 8 7 - 9 5 .
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Vgl. Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 88.
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ehrenhaftem Kampf und Ritterlichkeit. Besonders die Wahrnehmung der tartarischen Siege als ehrlos und hinterhältig und ihres Auftretens als grausam und blutrünstig verbreitete unter den zeitgenössischen Chronisten lähmendes Entsetzen. Roger von Apulien sprach in seinem Carmen miserabile in einer Mischung aus Entsetzen und Empörung von der crudelitas, astutia und malitia21 der Tartaren, die alles zu übertreffen schien, was man bis dahin erlebt hatte. Was sich hier abzeichnete, war nicht weniger als eine Katastrophe der christlichritterlichen Kultur des Abendlandes. Hatte man sich Ende der dreißiger Jahre noch mit der Hoffnung trösten können, daß es nur die häretischen Christen Osteuropas treffe, denen die Strafe des Herrn zuteil werde, so mußte man nunmehr erkennen, daß die Christenheit in ganz Europa bedroht war. Die Tartaren, so schrieb Otto II. von Bayern, dessen Herzogtum nach den Niederlagen von Liegnitz und am Sajö unmittelbar gefährdet schien, an Bischof Sibotho von Augsburg, planten nicht weniger, als alle Christen gottlos zu verfolgen und zu töten. 22 Durch solche Einschätzungen erhielt auch der Name „Tartaren", der seit den dreißiger Jahren verwendet worden und etwa bei Matthaeus Parisiensis auf einen Fluß namens „Tartar" zurückgeführt worden war, eine neue Bedeutung. In seltener Einmütigkeit deuteten Kaiser Friedrich II. und Papst Gregor IX. den Namen der „Tartaren" als „die aus dem Tartarus kommen" und „Satans Boten und Diener des Tartarus". 23 Damit hatte sich die Verbegrifflichung der Ereignisse in eschatologische Dimensionen gesteigert. 24 Kaiser und Papst, die in den scharfen Auseinandersetzungen um die Suprematie die Apokalypse zu einem Propagandainstrument gemacht und sich gegenseitig beschuldigt hatten, der Antichrist oder aber zumindest sein Verbündeter zu sein, wurden nun plötzlich von außen mit der Möglichkeit des Weltendes konfrontiert. Die Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst verloren dadurch jedoch keineswegs an Schärfe. Ganz im Gegenteil benutzte die Kurie das Auftauchen der Tartaren für ihre anti-kaiserliche Propaganda und beschuldigte Friedrich II., die Tartaren zu den Angriffen gegen das Abendland aufgestachelt zu haben. 25 Die Wucht des Angriffs und die Erkenntnis, daß man ihm nichts entgegenzusetzen hatte, die phonemischen Ähnlichkeiten der verschiedenen Namen der tartarischen Völker mit eindeutig besetzten Namen sowie die Berichte von der Grausamkeit der Tartaren ergaben ein geschlossenes Bild, dessen Zeichen deutbar waren. In einer Zeit, die ohnehin von apokalyptischen Strömungen und Visionen beherrscht wurde, waren nicht wenige, wie Roger von Apulien, davon überzeugt, daß das Weltende nahte. 26
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Roger von Apulien, Carmen miserabile, cap. 20, S. 564. Vgl. Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 68. Zum Topos der Grausamkeit und Hinterlist der Tartaren vgl. ibid., S. 96f.
23
Zur Ableitung des Namens der Tartaren von einem Flußnamen vgl. Bezzola, S. 104, dort auch die angeführten Belege.
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Zu den apokalyptischen Deutungen vgl. Fried, Auf der Suche, S. 294f.
25
Zu den Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst sowie der apokalyptischen Propaganda vgl. H. M. Schaller, Endzeit-Erwartungen und Antichrist-Vorstellungen, bes. S. 320f. Carmen miserabile, c. 40, S. 586.
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In den Zeiten des größten Schreckens mochten die Zeichen entsetzlich sein, aber sie waren lesbar. Die von vielen geteilte furchtbare Gewißheit schlug jedoch in Ungewißheit um, nachdem die Tartaren im Jahre 1242 ebenso plötzlich, wie sie über Osteuropa hergefallen waren, wieder verschwanden. 27 „Multa quidem de ortu, ritu et victu predicte barbare gentis audimus incredibilia et o m n i n o inhumana, que n o n d u m nobis plene cognita supersedimus hic scribenda, donec nobis super hoc mera veritas illucescat, q u a m loco congruo ducemus ponendam."
Mit diesen Worten zog der Annalist von St. Pantaleon zu Köln eine Bilanz der Ereignisse, und Matthaeus Parisiensis, der in seiner Chronica maiora seit 1238 alle verfügbaren Nachrichten über die Tartaren gesammelt hatte, konstatierte, sie seien eine „gens ipsa ignota". 29 „...nullius alterius linguam noscentes praeter suam, quam ignorant omnes alii. N o n enim usque ad haec témpora patebat ad eos accessus, nec ipsi e x i e r u n ^ u t haberetur de moribus aut personis eorum per c o m m u n e h o m i n u m commercium notitia (...)."
Um den Zustand der Ungewissheit zu beenden und zugleich gegenüber dem Kaiser seinen Suprematieanspruch in der Fürsorge für die gesamte Christenheit und ihrer Vertretung nach außen nachdrücklich geltend zu machen, griff Innozenz IV. auf ein Mittel zurück, das zwar seit der Antike als eines der verläßlichsten zur Beschaffung genauer Informationen gegolten hatte und seit dem Beginn der Kreuzzüge auch im Umgang mit feindlichen Mächten gründlich erprobt war, hier aber einen anderen Status hatte: die Aufnahme diplomatischer Kontakte. Auf den Johannistag 1245 berief er ein Konzil nach Lyon ein, in dessen Mittelpunkt drei zentrale Themen standen: die Absetzung des Kaisers, die Ausrufung eines neuen Kreuzzuges gegen die Sarazenen und die Erörterung von Mitteln und Wegen zum Schutze der Christenheit vor den Tartaren und anderen Verächtern des christlichen Glaubens. Noch bevor das Konzil zusammentrat, sandte Innozenz vier Gesandtschaften, zwei auf dem Weg über Osteuropa und zwei weitere über das Heilige Land, zu den Tartaren, um diplomatischen Kontakt mit ihnen aufzu-
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Der Grund f ü r den plötzlichen Rückzug der Mongolen war, wie schon 1227, der Tod des Großkhans. Nach dem Tod Ögödeis kehrte Batu, der die Westexpansion betrieben hatte, mit seinen Horden nach Osten zurück, um bei der Wahl des neuen Großkhans seinen Einfluß geltend zu machen. Vgl. David Morgan, The Mongols, S. 84ff. Annales S. Pantaleonis Coloniensis, in: Chronica regia Coloniensis, S. 281. „Über Ursprung, Glauben und Sitten des vorgenannten Barbarenvolkes [der Tartaren] hören wir viel Unglaubhaftes und ganz Unmenschliches, und solange wir darüber nichts Genaues wissen, wollen wir es übergehen, bis uns darüber die reine Wahrheit erleuchtet, die wir an geeigneter Stelle anführen werden." Der Eintrag in die Annalen erscheint zum Jahr 1241, er dürfte aber später erfolgt sein, wie der vergleichsweise gelassene Tonfall zumindest vermuten läßt. Matthaeus Parisiensis, Chronica maiora, IV, S. 119. ibid., S. 77. „Sie kennen keine andere Sprache als ihre eigene, die sonst niemand versteht. Bis zur Gegenwart, stand kein Z u g a n g zu ihnen offen, und sie selbst waren noch nicht hervorgetreten, um über ihre Sitten und Personen durch allgemeine Handelskontakte der Menschen Nachricht zu geben."
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nehmen, ihre Absichten zu erforschen und vor allem zu erkunden, wer dieses Volk sei.31 Die Franziskaner Laurentius von Portugal, 32 dessen Beglaubigungsschreiben auf den 5. März 1245, und Johannes de Piano Carpini, dessen Beglaubigungsschreiben auf den 13. März 1245 datiert ist, reisten über Osteuropa, die Dominikaner Ascelin von Cremona und Andreas von Longjumeau, deren Beglaubigungsschreiben nicht überliefert sind, über das Heilige Land. 33 Das Verfahren war ebenso paradox wie innovativ, denn es stellte die Grundsätze diplomatischer Kontakte auf den Kopf: Diplomatische Kontakte findet man eigentlich erst auf der Ebene der Kulturbeziehungen, und sie weisen überdies im Vergleich mit den anderen Formen der Kulturbeziehungen, Handel und Mission, den höchstmöglichen Grad an Institutionalisierung und Ritualisierung auf. Anders als umherziehende Missionare und Händler brauchen Diplomaten ein konkretes Reiseziel und einen Adressaten, an den die diplomatische Botschaft gerichtet werden kann. Diplomatische Kontakte setzen damit eine zumindest vage Kenntnis der Herrschaftsorganisation des adressierten Volkes voraus, denn sie implizieren immer die Anerkennung einer herrschaftlichen Organisation. Die Aufnahme diplomatischer Kontakte steht daher in der Regel am Ende einer langen Reihe von Kulturkontakten, die schließlich auf eine institutionelle Ebene gehoben werden. 34 Dazu bedarf es nicht unbedingt friedlicher Kulturbeziehungen; diplomatische Kontakte kann es, das zeigt nicht zuletzt der Gesandtschaftsaustausch zwischen Sarazenen und Kreuzfahrern, auch zwischen verfeindeten Imperien oder kriegführenden Parteien geben. Die diplomatischen Kontakte zwischen der Kurie und verschiedenen sarazenischen Herrschern beruhten aber zumindest insoweit auf einer Vertrautheit mit dem Gegenüber, daß man ihn in ein weltgeschichtliches und geopolitisches Schema einordnen und seine Ziele und Interessen einschätzen konnte. Auf der Ebene der formalen 31 32
Vgl. I. de Rachewiltz, Papal Envoys to the Great Khans, S. 84ff. Verschiedentlich ist in der Forschung die Annahme vertreten worden, Laurentius habe seine Legation nicht angetreten, weil er bereits am 7. 7. 1246, also ein gutes Jahr später, zum Legaten für den Vorderen Orient ernannt wurde. Vgl. Paul Pelliot, Les Mongols et la Papauté; in: Revue de l'Orient chrétien 23, S. 27ff. Jean Richard, La Papauté et les missions d'Orient au Moyen Age, S. 70f. Dagegen hat Johannes Fried jedoch eingewandt, daß Laurentius zu diesem Zeitpunkt durchaus wieder hätte zurück sein können, und verweist ergänzend auf einen bis dahin nicht beachteten Brief von Innozenz an den Bulgarenherrscher Koloman, in dem er diesen zur Rückkehr in den Schoß der katholischen Kirche und zur Unterstützung der zu den Tartaren und anderen Völkern reisenden Minoriten auffordert. In seinem Inhalt entspricht der Brief den Geleitschreiben, die den anderen Gesandten mitgegeben worden sind, und da Carpini über Polen, Andreas von Longjumeau und Ascelin über das Heilige Land reisten, kommt als Überbringer des Schreibens nur Laurentius in Frage. Vgl. Johannes Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit, S. 303, Fn. 65.
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Zu den Gesandtschaftskontakten und -briefen vgl. I. de Rachewiltz, Papal Envoys to the Great Khans; Karl Ernst Lupprian, Die Beziehung der Päpste. Der Text des Begleitbriefes für Laurentius von Portugal dort S. 142-145, für Carpini S. 146-149. Zu den Gesandtschaften der Dominikaner Andreas von Longjumeau und Ascelin vgl. Lupprian, S. 41—45 sowie S. 5 3 - 5 5 . Unter institutionalisierten Kulturkontakten soll hier nicht die Einrichtung ständiger Botschaften verstanden werden, die in Europa erst seit dem 16. Jahrhundert aufkam, sondern die formalen und ritualisierten Kulturkontakte auf der Ebene institutionalisierter Herrschaft.
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Kulturkontakte und Diskurse
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Diplomatik zeigt sich das etwa daran, daß die Schreiben mit einer adressatengerichteten inscriptio anhoben, die zu den Grundelementen diplomatischer Sendschreiben gehört, weil man über die Herrschaftsorganisation der Sarazenen unterrichtet war, ihre Herrscher namentlich kannnte und daher seine Gesandtschaftsbriefe gezielt addressieren konnte. 35 Im diplomatischen Kontakt mit den Mongolen wurde das diplomatische Instrumentarium regulärer Beziehungen dagegen im irregulären Raum des Unvertrauten eingesetzt. Die beiden in den päpstlichen Regesten überlieferten Gesandtschaftsschreiben vom 5. März (Dei patris immensa) und vom 13. März 1245 (Cum non solum homines), als deren Überbringer Laurentius von Portugal und Johannes de Piano Carpini genannt werden, verdeutlichen zunächst die Schwierigkeiten, die es bereitete, diplomatische Briefe an einen unbekannten Adressaten zu richten. Ihnen fehlt die inscriptio, die Anrede des Adressaten, denn anders als die Briefe an sarazenische Herrscher konnten sich die an die Tartaren gerichteten Kredenzbriefe 36 des Papstes an keinen bestimmten Adressaten richten, sondern sprachen ganz allgemein „regi et populo Tartarorum"37 oder noch vager „universitatem vestram" 38 an, weil man weder sicher wußte, wie sie ihren Herrscher nannten, noch gar seinen Namen kannte. 39 Abgesehen von der inscriptio unterschieden sich nach den Regeln der Diplomatik die beiden Kredenzbriefe für Laurentius und Johannes formal nur wenig von üblichen Gesandtschaftsbriefen: Sie enthielten eine ausfuhrliche commendatio des Gesandten, in der er namentlich genannt, seine besonderen Fähigkeiten und guten Eigenschaften hervorgehoben und versichert wurde, daß er zum Besten der Empfänger zu diesen geschickt worden sei. Im Anschluß daran wurden die Empfänger gebeten, den Gesandten gut aufzunehmen, seine Immunität zu respektieren
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Vgl. etwa die verschiedenen bei Lupprian (Die Beziehungen der Päpste) abgedruckten päpstlichen Gesandtschaftsbriefe, die bis zu diesem Zeitpunkt an islamische Herrscher gerichtet wurden. Sie sind immer an einen konkreten Adressaten gerichtet, haben in der Regel konkrete Anlässe, die von Kriegserklärungen (Nr. 3, S. 1 lOff.) über Friedensangebote (Nrr. 1819), Vorschlägen zum Gefangenenaustausch (Nr. 1, S. 106f.), Aufforderungen, den christlichen Glauben anzunehmen (Nr. 7, S. 120ff., Nr. 13, S. 128ff. ) bis zu der A u f f o r d e r u n g reichen, der A l m o h a d e n k a lif solle den Christen in seinem Reich die freie Ausübung ihres Glaubens gestatten, da der Papst j a auch dulde, daß unzählige Muslime im christlichen Herrschaftsgebiet ihren Glauben praktizierten (Nr. 5, S. 116ff.). All diese Briefe zeichnen sich insgesamt durch eine grundlegende Kenntnis der Positionen des Gegenübers aus.
36
Lupprian unterscheidet verschiedene Formen von Gesandtschaftsschreiben. Die sog. Kredenzbriefe zeichnen sich wie die litterae commendatitiae durch die Empfehlung des Briefüberbringers an den E m p f ä n g e r aus. Vgl. Lupprian, Die Beziehungen der Päpste, S. 8 9 - 9 4 . Vgl. das Gesandtschaftsschreiben f ü r Laurentius von Portugal, in: Karl-Ernst Lupprian, Die Beziehungen der Päpste, S. 142.
37 38 39
Vgl. das Gesandtschaftsschreiben für Johannes de Piano Carpini, in: ibid., S. 147. Zu den verschiedenen inscriptiones, in denen zwischen christlichen und nichtchristlichen E m p fängern kein Unterschied gemacht wurde, vgl. Lupprian, Die Beziehungen der Päpste, S. 89f. Felicitas Schmieder (Europa und die Fremden, S. 75, Fn. 13) hat in diesem Z u s a m m e n h a n g gegen James Muldoon (Popes, Lawyers and Infidels, S. 30) zu Recht betont, daß die diplomatische K o n t a k t a u f n a h m e mit den Mongolen nicht mit den diplomatischen Kontakten zu den sarazenischen Herrschern verglichen werden kann.
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und ihn für die Dauer seines Aufenthaltes mit allem notwendigen zu versorgen. Dem folgte die ebenfalls zum üblichen diplomatischen Aufbau gehörende yWes-Klausel, mit der der Gesandte ermächtigt wurde, mündliche Mitteilungen zu machen, die über den Inhalt des Briefes hinausgingen und in der die Empfänger aufgefordert wurden, diesen mündlichen Mitteilungen gleiches Vertrauen zu schenken wie dem Schreiben selbst.40 Für die Kontaktaufnahme mit den Tartaren bildeten diese diplomatischen Floskeln, deren Regelhaftigkeit auf der Regelmäßigkeit diplomatischer Beziehungen gründete, jedoch ein zu schwaches Gerüst, um die Kommunikation aufzunehmen. Es bedurfte einer inhaltlichen Begründung des In-Beziehung-Tretens, es mußte ein Band geknüpft werden, das die Fremdheit der Kulturen so weit zu relativieren vermochte, daß ein diplomatischer Kontakt überhaupt denkbar wurde. Das diplomatische Band, mit dem Innozenz in seinem Begleitschreiben für Carpini seine Rede an die Tartaren begründete, war das naturrechtliche Band des göttlichen ordo der geschöpflichen Welt, demgegenüber Kulturgrenzen nur als relative Größen im Raum der Geschichte begriffen wurden. „ C u m non solum homines verum etiam animalia irrationalia nec non ipsa mundialis elementa machine quadam nativi federis sint unione coniuncta, exemplo supernorum spirituum, q u o r u m a g m i n a universorum conditur deus perpetua pacifici ordinis stabilitate dixtinxit, mirari non inmérito cogimur vehementer, quod vos, sicut audivimus, multas tarn Christianorum q u a m aliorum regiones ingressi, horribili eas desolatione vastatis, et adhuc continuato furore depopulatrices manus ad ulteriores extendere non cessantes, soluto cognitionis vinculo naturalis, nec sexui nec etati parcendo, in omnes indifferenter animadversionis gladio desevitis."
Allein mit der Betonung der geschöpflichen Ordnung der Welt, die alles mit allem verknüpfte, konnte Innozenz die Fremdheit des unbekannten Adressaten so weit relativieren, daß es möglich war, eine gemeinsame Basis zu unterstellen, auf deren Grundlage die diplomatische Kontaktaufnahme rechtfertigbar wurde. Der Papst berief sich hier ausdrücklich nicht auf seine Befehlsgewalt als Stellvertreter Christi auf Erden, sondern ausschließlich auf die naturrechtliche Konstitution der menschlichen Gemeinschaft. Das 40
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Die /ides-Klausel erscheint in beiden Briefen: Im Brief für Laurentius heißt es „...eisque super hiis, que vobis ex parte dixerint, fidem indubitatam adhibere velitits", im Kredenzschreiben f ü r Johannes „fidem eiis super hiis, que vobis ex parte nostra dixerint, adhibendo". In Bezug auf das Verhältnis von gesprochenem Wort des nuntius und schriftlicher Botschaft seines Auftraggebers ist aufschlußreich, daß in der formalen Diplomatik mit deryicfes-Klausel die Schrift den Boten zum Sprechen ermächtigte. Der päpstliche Legat bedurfte dagegen keiner schriftlichen Ermächtig u n g zum Sprechen, sondern war Kraft seines Amtes befugt, stellvertretend f ü r seinen A u f t r a g geber, den Papst oder den Kaiser, zu sprechen. Deshalb fehlt in diplomatischen Schreiben, die von Legaten übergeben wurden, die//¿fes-Klausel (vgl. Lupprian, S. 94). Lupprian, Die Beziehungen der Päpste, S. 147. „ D a nicht nur die Menschen, sondern auch die unvernünftigen Tiere und sogar die Elemente der Weltmaschine nach dem Vorbild der himmlischen Wesen durch ein natürliches Band miteinander verknüpft sind, denn alle diese Scharen hat der Schöpfer des Weltalls dauerhaft friedlich geordnet, müssen wir uns nicht unbilligerweise auf das höchste darüber wundern, daß ihr, wie wir gehört haben, viele christliche und auch andere Länder überfallen, sie in schrecklicher Zerstörung verwüstet habt und nicht ablaßt, eure zerstörerischen Hände in andauernder Raserei nach weiteren auszustrecken und, losgelöst vom Band der natürlichen Verwandtschaft, ohne Rücksicht auf Geschlecht oder Alter, gegen alle ohne Unterschied mit dem Schwert der Strafe zu wüten."
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implizierte auch die von Innozenz an anderer Stelle wiederholt vertretene naturrechtliche Begründung der Herrschaft, die einerseits die Anerkennung der rechtmäßigen Herrschaft der Tartaren über ihr Gebiet einschloß, andererseits aber die Verurteilung von Angriffen gegen andere Völker, auch nicht-christliche, ermöglichte, ohne daß der Papst sich auf seine oberste Jurisdiktion berufen mußte. 42 Erst im Anschluß an diese ausfuhrliche Begründung des geschöpflichen ordo, in dem jedes Element seinen ihm zugedachten Platz hatte, gemahnte der Papst die Tartaren daran, daß die Strafe Gottes sie erwarte, wenn sie seinen Ermahnungen nicht folgten. Ihre kriegerischen Erfolge relativierte er mit dem Argument, daß Gott die Unterwerfung anderer Völker nur zulasse, damit die Hochmütigen Gelegenheit bekämen, sich aus freien Stücken selbst vor ihm zu demütigen. Wenn sie dies mit angemessener Buße aber nicht täten, so erwarteten sie nicht nur irdische Strafen, sondern auch schwerste Strafen im zukünftigen Leben. Zu einer Annahme des Christentums forderte Innozenz die Tartaren damit nur indirekt auf, wenngleich die angemahnte Umkehr von der Hochmut zur Furcht vor der Strafe, die in der Selbstdemütigung ihren Ausdruck finden sollte, durchaus nicht nur ein hilfloser Appell aufgrund militärischer Unterlegenheit war, sondern stärkere theologische Implikationen hatte, als dies auf den ersten Blick scheinen mag. In seiner Schrift De arca Noe mystica hatte Hugo von St. Viktor die sich im Aufbau der Arche symbolisierende Heilsgeschichte auf das Anwachsen der Tugenden bei den Menschen bezogen. In zwölf Treppen mit je zehn Stufen schreiten die Menschen zu Gott und erreichen dabei immer höhere Stufen der Tugend. Die Stufen der ersten Treppe bezeichnen dabei jenen Übergang von der Hochmut zur Furcht vor der Strafe, den Innozenz bei den Tartaren anmahnte. Die Stufenleiter der Tugenden auf dem Weg zur Erkenntnis Gottes zu beschreiten, konnte jedoch nur heißen, den christlichen Glauben anzunehmen, denn nur den Christen war der Aufstieg auf der Stufenleiter zu Gott möglich. 43 Diese theologischen Implikationen deckte der
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Nach der Rechtsauffassung der meisten Kanonisten der Zeit besaß der Papst, wenn auch nicht die faktische, so doch die rechtliche {de iure licet non de facto) iurisdictio und potestas über alle Menschen. Das schloß aber die rechtmäßige Herrschaft auch heidnischer Herrscher über ihre Völker und die von ihnen bewohnten Gebiete nicht aus, die ihnen nach dem Naturrecht zukam. Die Eroberung von Gebieten durch die Christen konnte daher, wie bei den Kreuzzügen, nur dann gerechtfertigt werden, wenn die Gebiete entweder den Christen weggenommen worden waren oder die Ausübung und Verbreitung des Christentums gewaltsam unterdrückt wurde. Vgl. James Muldoon, The Nature of the Infidel: The Anthropology of the Canon Lawyers, in: Discovering N e w Worlds, bes. S. 117-121; Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, S. 187-189; Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 74f. Aegidius Romanus ging Anfang des 14. Jahrhunderts in seinem Traktat De ecclesiatica potentate allerdings sehr viel weiter, und sprach den Ungläubigen nicht nur die Herrschaftsrechte, sondern auch die Eigentumsrechte ab, womit sie faktisch als völlig rechtlos betrachtet wurden. Gewicht erhielt diese Position jedoch erst mit der kolonialen Expansion Europas. In den Dekretalenkommentaren dominierte die Position des Kirchrechtslehrers Innozenz IV. und in den Sentenzenkommentaren die von Thomas von Aquin in Anlehnung an den Papst begründete Unterscheidung zwischen göttlichem und menschlichen Recht, wobei im Bezug auf die Ausübung weltlicher Herrschaft das menschliche Recht den Vorzug genoß. Vgl. Fisch, Die europäische Expansion, S. 192ff.
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Zur Schrift De arca Noe mystica Hugos von St. Viktor vgl. Joachim Ehlers, Arca significat ecclesiam. Ein theologisches Weltmodell aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in:
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Brief jedoch nicht auf. Ausdrücklich verlangte der Papst lediglich Auskunft darüber, was die Tartaren zur Störung der naturrechtlichen Ordnung bewogen habe, und was sie weiterhin zu tun beabsichtigten (quid ulterius intendatis) - womit er einen der entscheidenden Gründe für die Aussendung seiner Gesandten offen darlegte. 44 In erster Linie diente die Diplomatie mit ihren zumindest auf Minimalformen gegenseitiger Anerkennung basierenden Formen von Beglaubigungs- und Sendschreiben, hier nämlich nicht der Ermahnung der Tartaren, von ihrem mörderischen Tun abzulassen, sondern vielmehr der Erkundung eines unvertrauten Gegenübers. Die Diplomatie war dazu nur ein Mittel und ihr Zweck war nicht in erster Linie Verständigung, sondern Verstehen. Einen schreckenerregenden Kulturzusammenstoß hatte es bereits gegeben, jetzt setzte man ein System der Kulturbeziehungen ein, um eine geordnete Kulturberührung herbeizuführen. Ziel dieser Kontaktaufnahme waren aber nicht institutionalisierte Kulturbeziehungen, sondern die Beobachtung einer als fremd und bedrohlich empfundenen Kultur und ihre Beschreibung aufgrund der Augenzeugenschaft der Gesandten. Die Gesandten von 1245 wurden nicht gesandt, um Schreiben zu überbringen und entgegenzunehmen, sondern um beschreiben zu können; sie sollten erst erwerben, was Kulturkontakte auf institutioneller Ebene eigentlich voraussetzen: Wissen über denjenigen, mit dem man in Kontakt trat.
Der erste Augenzeugenbericht: Die historia mongalorum des Johannes de Piano Carpini Johannes de Piano Carpini reiste am 16. April 1245 von Lyon ab und kehrte an Allerheiligen 1247 mit einem Brief des Großkhans an den Papst nach Lyon zurück, wo er ihm mündlich genauen Bericht über seine Gesandtschaft erstattete. Vermutlich überbrachte er dem Papst daneben die Briefe einiger osteuropäischer Herrscher, mit denen er sowohl auf der Hinreise als auch auf der Rückreise Kontakt aufgenommen hatte. Diese Kontakte hatten nicht nur der Suche nach möglichen Verbündeten gegen die Tartaren gedient, sondern auch der unmittelbaren Vorbereitung Carpinis auf sein erstes Zusammentreffen mit den „Dienern des Satans". 45 Von Lyon aus hatte Carpini sich zunächst nach Prag zu Wencelaus I., König von Böhmen, begeben, der in der Schlacht von Liegnitz 'persönliche Erfahrungen' mit den Tartaren gemacht hatte. Ihn befragte Carpini „que via
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45
Frühmittelalterliche Studien 6 (1972), S. 171-187. Vgl. auch Henning Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, Bd. II, M ü n c h e n 1994, S. 178. In seinem Antwortschreiben spricht der Großkhan jedoch davon, daß der Papst ihn aufgefordert habe, sich taufen zu lassen. Daraus kann eventuell geschlußfolgert werden, daß Carpini auch den auf den 5. März 1245 datierten Brief mit sich führte, der in ganz anderem T o n gehalten ist und eine ausführliche Belehrung über den christlichen Glauben sowie die A u f f o r d e r u n g zur T a u f e enthielt. Carpinis Reiseroute ist aufgrund seiner Angaben im neunten Buch der Historia Mongalorum von Enrico Menestö relativ genau rekonstruiert worden. Vgl. Menestö, Giovanni di Pian di Carpine, in: ed. Menestö, S. 58.
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esset nobis melior ad eundum". 4 6 Wencelaus wies ihm eine Route über Polen und Rußland, gab ihm ein Empfehlungsschreiben mit und Geleit bis nach Breslau zu seinem N e f f e n Boleslaw, Herzog von Schlesien, der ihn ebenfalls mit Geleit und Empfehlungsschreiben ausstattete und nach Krakau zu Konrad, Herzog von Lanciscia, weiterschickte. 47 Dort trafen Carpini und seine Begleiter mit dem russischen Fürsten Wasilico zusammen, „a quo intelleximus de facto plenius Tartarorum. Miserat enim ibi nuntios suos, (,..)." 48 Wasilico ließ sie bis nach Kiew geleiten, und von dort reisten sie weiter „ad illas barbaras nationes". 4 9 Carpinis Reiseroute orientierte sich demnach in erster Linie daran, im Vorfeld des ersten Zusammentreffens möglichst viel über die Tartaren in Erfahrung zu bringen, um sich für die erste Begegnung zu wappnen. Daneben spielte sicherlich auch der Wunsch des Papstes eine Rolle, die russischen Herrscher, von denen sich einige den Tartaren bereits hatten unterwerfen müssen, mit dem Versprechen militärischer Hilfe in den Schoß der römischen Kirche zurückzuholen und sie so als Verbündete gegen die mongolische Bedrohung des Westens zu gewinnen. Diesen Bemühungen war freilich kein Erfolg beschieden, denn für die russischen Fürsten waren die Versprechungen des Papstes viel zu vage und unglaubhaft, um dafür einen Konflikt mit den Mongolen zu riskieren, denen man militärisch hoffnungslos unterlegen war. 5 0 An wechselseitigem Informationsfluß über die Tartaren waren aber beide Seiten gleichermaßen interessiert, und Carpini suchte daher auch auf dem Rückweg verschiedene osteuropäische Fürsten auf, um ihnen noch vor dem Papst über seine Beobachtungen Bericht zu erstatten. Das Wissen des Gesandten wurde also keineswegs als Arkanwissen betrachtet, sondern vielmehr gezielt verbreitet, um die Abwehr der Mongolen auf eine möglichst breite Basis zu stellen. 51 Als Johannes de Piano Carpini an Allerheiligen 1247 schließlich nach Lyon zurückkehrte, überbrachte er dem Papst, der in der Auseinandersetzung mit Friedrich II. um die Suprematie im Abendland auf dem Konzil von Lyon einen entscheidenden Zwischensieg errungen hatte, die erste Unterwerfungsaufforderung des Großkhans der Mongo-
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ed. Menestö, S. 302f.
47 48
ed. Menestö, S. 302f. ed. Menestö, S. 303.
49 50
ed. Menestö, S. 305. Die Kommunikation mit den russischen Fürsten, die sich teilweise bereits ab 1243/44 den Mongolen hatten unterwerfen müssen, wurde deshalb auch zunehmend schwieriger. 1243/44 war Fürst Alexander Jaroslawitsch von Nowgorod, der nach seinem Sieg von 1240 über die Schweden an der N e w a bekannter unter dem Namen Alexander Newskij war, nach Karakorum gereist, um sich den Mongolen zu unterwerfen und sich von ihnen seine Herrschaft bestätigen zu lassen. Dennoch bot Innozenz IV. Alexander Newskij 1251 erneut Hilfe gegen die Mongolen an, wenn die orthodoxen Russen in den Schoß der rechtgläubigen katholischen Kirche zurückkehren würden. Dieses Ansinnen wurde von Alexander jedoch zurückgewiesen. Vgl. Michael Weiers, Von Ögödei bis M ö n g k e - d a s mongolische Großreich, in: Die Mongolen, S. 192-216, hier S. 198ff.
51
Zu Carpinis Rückkehr vgl. Folker E. Reichert, Begegnungen mit China, S. 140-142; Denis Sinor, John of Piano Carpini's Return from the Mongols.
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len. 52 In barschem Ton forderte der Großkhan den Papst in seinem Brief auf, sich mit allen Königen des Abendlands unverzüglich an seinen Hof zu begeben, um sich zu unterwerfen. „Habito consilium pro pace habenda nobiscum, tu papa et omnes Christiani nuntium tuum nobis transmisisti, sicut ab ipso audivimus et in tuis litteris habebatur. Igitur si pacem nobiscum habere desideratis, tu papa et omnes reges et potentes pro pace diffinienda ad m e venire nullo m o d o postponatis, et tunc nostram audietis responsionem pariter atque voluntatem. (...) Si vero dei et nostris litteris non credideretis et consilium non audieretis, ut ad nos veniatis, tunc pro certo sciemus, quod guerrram habere vultis nobiscum. Post hac quid futurum sit nos nescimus, solus deus novit."
Dieser eindeutig auf Unterwerfung gerichtete Ton war im Umgang fremder, auch feindlicher Mächte mit dem Papst und den christlichen Königen völlig neu. Die im Verlauf der Kreuzzüge mit muslimischen Herrschern des nahen Ostens geführten Briefwechsel waren demgegenüber von ausgesuchter diplomatischer Höflichkeit. 54 Inhalt und Ton des Briefes, in dem der Großkhan sich wiederholt auf seinen göttlichen Auftrag berief, die ganze Welt zu unterwerfen, mußten die apokalyptischen Deutungen des Auftauchens der Mongolen und ihrer militärischen Erfolge bekräftigen - der periphere Kulturzusammenstoß, auf den der Papst nur mit Ermahnungen reagiert hatte, konnte nach dem hier for-
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Nach dem Bericht Salimbenes de A d a m ließ Carpini den Großkhan denn auch nicht in Zweifel darüber, wem die Suprematie im Abendland zukomme: dem Papst. Der Großkhan habe Carpini gefragt, „qui dominabant in partis occidentis; et respondit quod duo, papa videlicet et imperator, et ab istis duobus o m n e s alii habebant dominia. Iterum quesivit quis istorum d u o r u m esset maior. C u m q u e frater Iohannes dixisset quod papa, protulit litteras pape et dedit ei."(Chronica, S. 298). „(...) wer in den westlichen Teilen herrsche; und er antwortete ihm, daß es zwei Herrscher gebe, nämlich den Papst und den Kaiser, und daß alle anderen [Herrscher] von diesen ihre Herrschaft erhalten. Danach fragte er ihn, wer von den beiden höherstehe. Der Bruder Johannes antwortete, der Papst [sei höherstehend] und dabei zog er die Briefe des Papstes hervor und überreichte sie ihm."
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Vat. lat. 7620, in: Karl Ernst Lupprian, Die Beziehungen der Päpste, S. 184f. „Du Papst und alle Christen, ihr habt über einen Friedensschluß mit uns beratschlagt und deinen Gesandten zu uns geschickt, wie wir von ihm gehört und deinen Briefen entnommen haben. Wenn ihr also Frieden mit uns zu haben wünscht, so müßt ihr, du Papst, und alle Könige und Herrscher unverzüglich zu mir k o m m e n , und dann werdet ihr unsere Antwort und unseren Willen vernehmen. (...) Wenn ihr den Worten des wahren Gottes und unseren Worten keinen Glauben schenkt und unseren Ratschlag, zu uns zu kommen, nicht befolgt, dann wissen wir mit Gewißheit, daß ihr Krieg mit uns haben wollt. W a s darauf die Z u k u n f t bringen wird, wissen wir nicht, das weiß Gott allein." Die lateinische Übersetzung des persischen Originals wurde wahrscheinlich in Karakorum in Z u sammenarbeit von mongolischen Hofbeamten mit Carpinis Dolmetscher Benedikt von Polen angefertigt. Zur handschriftlichen Überlieferung des Briefes vgl. Lupprian, S. 182-189. Das persische Original ist abgedruckt und ins Französische übersetzt bei Paul Pelliot, Les M o n g o l s et la Papauté, S. 17f. Eine deutsche Übersetzung des persischen Textes bietet Bertold Spuler, Geschichte der Mongolen. Nach östlichen und europäischen Zeugnissen des 13. und 14. Jahrhunderts, Zürich-Stuttgart 1968, S. 83f.
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Vgl. die beiden Briefe, die Andreas von Longjemeau mit zurückbrachte, bei Karl Ernst Lupprian, Die Beziehungen der Päpste, S. 155-165.
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mulierten Weltherrschaftsanspruch jederzeit in einen zentralen Zusammenstoß umschlagen. Wichtiger als die Antworten der Großkhans auf die Fragen des Papstes war daher Carpinis Bericht, in dem er seine Beobachtungen und Erfahrungen sowie das, was er von anderen in Erfahrung hatte bringen können, niedergelegt hatte. Daß Carpini seinen Auftraggeber nicht nur mündlich, sondern ausführlich schriftlich über seine Gesandtschaft unterrichtete, war für die Gepflogenheiten der Zeit ungewöhnlich und signalisiert, welche Bedeutung man den Informationen über die Tartaren beimaß. Üblicherweise überbrachten Gesandte lediglich Schriftstücke und informierten ihre Auftraggeber vorwiegend mündlich oder in Briefform über die gemachten Beobachtungen. Carpini jedoch übergab dem Papst einen systematisch in neun Teile gegliederten Bericht, den er noch auf der Rückreise niedergeschrieben hatte. Der Bericht war nach einzelnen Themenkomplexen gegliedert, die Carpini im Anschluß an den Prolog auflistete, damit seine Leser - bei denen es sich offensichtlich keineswegs nur um den Papst und Mitglieder der Kurie handeln sollte - sich leichter zurechtfinden könnten. „ V o l e n t e s igitur facta scribere Tartarorum, ut lectores valeant facilius invenire, hoc m o d o per capitula describemus. Primo d i c e m u s de terra, secundo de hominibus, tertio de ritu, quarto de moribus, quinto de ipsorum imperio, sexto de bellis, septimo de terris quas eorum d o m i n i o subiugarunt, o c t a v o q u o m o d o bello occurratur eisdem, ultimo de via quam f e c i m u s et curia imperatoris et testibus qui in terra Tartarorum n o s invenerunt."
Diese systematische Gliederung stimmt in vielen Punkten mit dem Fragenkatalog überein, den das Konzil von Lyon an einem der Versammlungstage an einen, in einem Teil der Quellen als Erzbischof bezeichneten, Peter von Rußland richtete, der offensichtlich als Spezialist in der Frage der Tartaren betrachtet wurde. 56 Er war auf dem Konzil aufgetreten, während die Gesandten bereits unterwegs waren, und fungierte dort offenbar als eine Art Vorberichterstatter, solange man noch nicht auf eigene Augenzeugenberichte zurückgreifen konnte. Der nach den Antworten des Informanten aus den Annales Burtonensis rekonstruierbare Fragenkatalog über die Tartaren untergliedert sich in neun Fragen: 1. De origine, 2. de modo credendi, 3. de ritu colendi, 4. de forma vivendi, 5. de fortitudine, 6. de multitudine, 7. de intentione, 8. de observantia foederis, 9. de nun-
55
ed. Menestö, S. 2 2 9 . „Ich m ö c h t e meine Beschreibung der Taten der Tartaren in folgender W e i s e nach Kapiteln aufteilen, damit die Leser sich leichter zurechtfinden können: Zuerst rede ich v o m Land, z w e i t e n s von den Menschen, drittens von den religiösen Gebräuchen, viertens v o n den Sitten, fünftens v o n ihrem Herrschaftsbereich (imperio), sechstens von den Kriegen, siebtens v o n den Ländern, die sie ihrer Herrschaft ( d o m i n i o ) unterworfen haben, achtens davon, w i e man ihnen im Krieg b e g e g n e n soll, schließlich über den W e g , den wir g e n o m m e n haben und über den H o f des Kaisers und die Z e u g e n , die uns im Land der Tartaren getroffen haben" (ed. Schmieder, S. 4 1 ) .
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Über die Identität des Informanten ist nichts genaues bekannt. Seine Befragung durch das Konzil ist in z w e i D o k u m e n t e n , bei Matthaeus Parisiensis und in den Annales
Burtonensis,
überliefert
(vgl. ed. Dörrie, S. 1 8 7 - 1 9 4 s o w i e Gian Andri B e z z o l a , D i e M o n g o l e n in abendländischer Sicht, S. 1 1 3 - 1 1 5 ) .
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Kulturkontakte und Diskurse
Horum receptione,57 Die Übereinstimmungen zwischen beiden Gliederungen sind bemerkenswert und lassen den Schluß zu, daß Carpinis Beobachtungen durch einen ähnlichen, wenngleich umfangreicheren und präziseren Fragenkatalog gesteuert wurden, wie den, nach dem der russische Erzbischof befragt wurde. Die Reihenfolge und die Zusammenstellung der einzelnen Themenkomplexe sind zwar nicht gänzlich identisch, aber es zeigen sich doch deutliche Übereinstimmungen. Der ersten Frage über die Herkunft der Tartaren entsprach bei Carpini die Beschreibung des Landes der Tartaren und seiner Bewohner, der zweiten Frage und dritten Frage über ihren Glauben und ihre religiösen Riten entsprach das dritte Kapitel, der vierten Frage über ihre Lebensweise entsprachen die Kapitel über ihre Sitten und ihre Herrschaft, der fünften und sechsten Frage über ihre Stärke und ihre Zahl entsprach das sechste Kapitel über ihre Kriege. In der Reihenfolge vertauscht sind bei Carpini gegenüber dem Fragenkatalog von Lyon die Frage nach der Behandlung von Verbündeten oder unterworfenen Völkern und die Frage nach den weiteren Absichten der Tartaren, wobei diese Frage auch inhaltlich modifiziert ist, denn Carpini behandelt sie unter der Überschrift, welche Maßnahmen man gegen die Absichten der Tartaren ergreifen müsse. Die neunte Frage schließlich, de nuntiorum receptione, beantwortete Carpini mit dem Bericht über seine eigene Gesandtschaftsreise, ihren Verlauf und seine Aufnahme auf den Stationen des Weges und am Hofe des Großkhans. Carpini fungierte hier selbst als der exemplarische Fall der Gesandtenaufnahme, an dessen Behandlung sich das Verhalten der Tartaren gegenüber den Gepflogenheiten des Völkerrechts ablesen ließ. 58 Die Fragenkomplexe, die auf dem Konzil von Lyon nur grob und mittels eines Zeugen, der kein eigener Vertrauter war, beantwortet werden konnten, wurden von Carpini sehr viel gründlicher und systematischer behandelt. In seinem Bericht spezifizierte er die Fragen zu Beschreibungskomplexen, die in sich noch einmal systematisch gegliedert waren, und stellte diese Gliederung an den Anfang jedes Kapitels. So untergliederte er etwa das Kapitel über die Sitten der Tartaren in vier Abschnitte:
57 58
Vgl. ed. Dörrie, S. 187-194. Carpinis 9. Buch ist erst in der zweiten Fassung des Berichts überliefert und könnte daher auch, wie Reichert vermutet, als Beglaubigungselement der vorangehenden Historia mongalorum gedeutet werden (Vgl. Folker Reichert, Begegnungen mit China, S. 71). Zu den beiden Redaktionen vgl. Maria Cristina Lungarotti, Le due redazioni d e l H i s t o r i a Mongalorum, S. 7 9 - 9 2 sowie Enrico Menestö, Prolegomena, II. La Tradizione manoscritta, S. 105ff., beide in: ed. Menestö. Das neunte Kapitel muß aber sicher auch im Zusammenhang mit dem Fragenkatalog gesehen werden, dessen neunte Frage de nuntiorum receptione lautete. Auffallig ist jedenfalls, daß die Darstellung der Reise bei Rubruk und Carpini sehr viel breiteren Raum einnimmt als bei Marco Polo, Odorico und Mandeville, wo sie selbst kaum dargestellt wird. Carpini und Rubruk rücken damit nicht nur strukturell in die Nähe der humanistischen Apodemiken, deren Beglaubigungsmodus nicht zuletzt in der Darstellung der Reise als der Darstellung des Wissenserwerbs liegt. Zur ars apodemika vgl. Justin Stagl, Ars Apodemika: Bildungsreise und Bildungsmethodik von 1560 bis 1600.
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„Dicto de ritu, dicendum est de moribus, de quibus tractabimus isto modo: primo dicemus de bonis, secundo de malis, tertio de cibis, quarto de consuetudinibus."
In dieser Weise ging Carpini bei jedem einzelnen Kapitel vor und differenzierte zwischen einzelnen Aspekten des jeweiligen Gegenstandes, die er neben- und, wie bei den Sitten der Tartaren, teilweise gegeneinanderstellte, so daß die Einzelheiten wie Differenzen und Disparatheiten seiner Beobachtungen systematisch aufgenommen wurden. 60 Johannes Fried hat diese Form der Untergliederung mit den queastiones der scholastischen Philosophie verglichen, dabei aber meines Erachtens übersehen, daß die quaestiones zwar ebenfalls nach erstens, zweitens, drittens usf. untergliedert sind, im Gegensatz zu Carpinis Untergliederung aber auf einer agonalen Argumentationsstruktur beruhen, die im Dreitakt von der Eröffnung mit den Gründen für die Einwände (objectiones) gegen den zu beweisenden Satz und deren Widerlegung (sed contra) schließlich die thetische Antwort (responsio) präsentiert, von der aus dann ad 1, ad 2 usf. zu einzelnen Elementen der Einwände oder widersprüchlich scheinenden Aussageteilen zurückgekehrt und diese einzeln widerlegt oder als nicht widersprechend in die These integriert werden. Carpinis Untergliederung bezog sich dagegen auf qualitative Merkmale und distinkte Bestandteile des jeweiligen Oberbegriffs. Seine Beschreibung umfaßte nicht nur die Erscheinung und die auffälligsten Merkmale der Mongolen, sondern beschrieb mit ihrem Territorium, ihren Wirtschaftsformen und ihrer Herrschaftsorganisation sowohl ihre Zivilisation als auch, mit ihren Sitten, Lebensgewohnheiten und religiösen Riten, ihre Kultur. Carpini übertrug, was er gesehen und erfragt hatte, in die Ordnung einer Gliederung, die das Gesehene aus der Kontingenz der Einzelbeobachtungen in eine systematische Deskription überführte.
Die Systematik der Beschreibung und die aristotelische Kategorienlehre Auf die Frage nach der Systematik dieser Deskription und der sie steuernden Fragestellung ist erstmals Johannes Fried in seinem Aufsatz „Auf der Suche nach der Wirklichkeit" eingegangen. Fried hat zu Recht betont, daß der Fragenkatalog sehr präzise und umfassend die wesentlichen Kriterien zur Erfassung eines sozialen Großverbandes bereitstellt und von daher die Frage aufgeworfen, auf welcher Grundlage ein solcher Katalog entstanden sein könnte. Seine These ist, daß die Scholastik, der man wie wohl wenigen Wissenschaften Realitätsferne vorgeworfen hat, mit ihrer Methode der systematischen Zergliederung von Fragestellungen entscheidend zur Entwicklung des Beschreibungsrasters beigetragen habe. „Der 'Frageweg', die Methode eines von 'natürlicher Vernunft' gesteuerten Fragens oder die via rationis, wie Thomas von Aquin sie nennt, führt längst zu allen Wissenschaften und weit über diese hinaus." 61 „Man ahnt 59
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ed. Menestö, S. 245. „Nach den religiösen Gebräuchen soll über die Sitten berichtet werden, und das will ich in folgender Weise tun: Zuerst spreche ich über die guten, dann über die schlechten Sitten, drittens über die Speisen, viertens über die Gewohnheiten" (ed. Schmieder, S. 55). Vgl. Johannes Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit, S. 304. Zum Verfahren der quaestio vgl. Joseph Bernhart, Einleitung zu: Thomas von Aquin, Summe der Theologie, Bd. 1, S. LI. Johannes Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit, S. 305.
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im Hintergrund solchen Fragens durchaus die aristotelische Kategorienlehre, noch mehr die rhetorischen Fragemuster und die solche Fragen längst in einen Fächer von Unterfragen dividierende Zirkumstanzenlehre der Scholastik. (...) Die Scholastik erwies sich als höchst praktische Wissenschaft." 62 Fried veranschlagt m. E. die Funktion der aristotelischen Kategorienlehre jedoch als zu gering und übersieht ihre entscheidende Bedeutsamkeit für die Wissensorganisation über unbekannte Gegenstände, wie sie in der Scholastik vor allem in der Übernahme der aristotelischen Kategorienlehre bei Thomas von Aquin ausformuliert worden ist. Die Überschneidungen mit den rhetorischen Beweismitteln und den Topoi, deren Untergliederung schon bei Aristoteles den Akzidentien der Kategorienlehre gleicht, sind zwar unstreitig, aber während die rhetorischen Topoi eine argumentative Funktion haben, kommt den Kategorien eine sehr viel stärker wissensorganisierende Funktion zu. 63 In seiner Schrift Die Kategorien hatte Aristoteles die möglichen Aussagen über einzelne Gegenstände auf oberste, nicht auseinander ableitbare Aussageformen, die Kategorien, zurückgeführt, die ein Seiendes als Substanz, der bestimmte Prädikate zugeschrieben werden können, beschreibbar machten. Mit Hilfe von zehn Kategorien läßt sich nach Aristoteles jeder Gegenstand beschreiben, wobei die Kategorien keine ontologischen Gattungsbegriffe sind, sondern Aussageformen. Die Kategorien umfassen also das, was über einen bestimmten Gegenstand gesagt werden kann, sie bilden den Rahmen für Prädikationen i. S. eines Feldes, unter das die einem Gegenstand zuschreibbaren Prädikate subsumiert werden können. 64 Diese zehn Kategorien, 1. Substanz (substantia), 2. Quantität (quantitas), 3. Qualität (qualitas), 4. Relation (relatio), 5. wo? (ubi), 6. wann? (iquando), 7. Lage (situs), 8. Innehaben (habitus), 9. Wirken {actio) und 10. Leiden (passio), ermöglichen die Beschreibung eines jeden individuellen Gegenstandes durch seine Unterteilung in Substanz und Akzidentien, die eine individuelle, aber dennoch komplex strukturierte Substanz durch die Beschreibung ihrer Akzidentien und die Zuordnung zur zweiten Substanz einordenbar machen. Unter der zweiten Substanz verstand Aristoteles die Gattungs- und Wesensmerkmale der individuellen ersten Substanz, die untrennbar mit dieser verknüpft sind und mit dem Aussprechen von deren Namen immer schon mitgesagt werden. 65 So wird beispielweise mit der Aussage, „Piaton ist ein Philosoph" immer schon mitgesagt, daß es sich bei Piaton (erste Substanz) um einen Menschen (genus) und damit um ein Lebewesen (species) (beide zusammen bilden die zweite Substanz) handelt, während die Bestimmung „ist ein Philosoph" eine akzidentelle Aussage über seinen habitus macht. Durch die Unterscheidung von erster und zweiter Substanz sowie den Akzidentien konnte somit der Sinn von Seiendem bestimmt werden, ohne daß die Aussagen aus einem Prinzip oder Ursprung abgeleitet werden mußten. Was in Aussagen als seiend behauptet wird, fällt nach Aristoteles unweigerlich unter irgendeine der Kategorien, aber nicht alles Seiende wird systematisch durch alle Katogieren bestimmt. „Daher sind die Kategorien nicht Konstitutionsformen im Aufbau 62 63 64 65
ibid., S. 316. Zur rhetorisch-argumentativen Funktion der Topoi bei Aristoteles vgl. Lothar Bornscheuer, Topik, S. 2 6 - 6 0 . Vgl. Klaus Oehler, Einleitung zu: Aristoteles, Kategorien, S. lOOf. u. S. 110. Vgl. Aristoteles, Kategorien, 5, 2b, 8 f f „ S. 12.
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von vorliegendem Seiendem, sondern voneinander unabhängige Aussageklassen, die einen jeweils verschiedenen Sinn von Seiend-sein bestimmen." 66 Die Kategorien eigneten sich damit hervorragend für die Beschreibung von Gegenständen, die nicht aus gesetzten Prämissen abgeleitet werden konnten, über deren Substanz aber zutreffende Aussagen gemacht werden sollten. Die mittelalterliche Philosophie kannte die aristotelische Kategorienlehre durch Boethius, der sie ins Lateinische übersetzt und mit seiner Kommentierung der Isagoge des Porphyrius, dem Kategorienkommentar eines Aristotelesschülers, bekannt gemacht hatte. Mit der scholastischen Aristotelesrezeption wurde die aristotelischen Kategorienlehre in den Schulkanon der neu gegründeten Universitäten übernommen und so zu einem selbstverständlichen Bestandteil gelehrter Befragung einzelner Gegenstände. Dabei wurde immer wieder auch die Relation zwischen Substanz und Akzidentien im Hinblick darauf erörtert, ob die Prädikation, d. h. die Zuschreibung der Akzidentien, der hinzukommenden Eigenschaften, zu einem Subjekt, hinreichend waren, um über dessen substantielle Beschaffenheit Schlußfolgerungen ziehen zu können. Aristoteles selbst hatte dieses Problem in den Kategorien nicht diskutiert, aber mit der ebenfalls auf ihn zurückgehenden Unterscheidung zweier modi, in denen etwas von einem anderen prädiziert werden kann, war die Möglichkeit der Bestimmung eines Subjekts aus den ihm beigelegten Prädikaten zumindest nahegelegt. Was von einem Subjekt per se oder primo modo nicht gesagt werden konnte, konnte demnach daraus abgeleitet werden, welche Prädikate dem Subjekt secundo modo zugeschrieben werden konnten, so daß das Subjekt der Definition des Prädikats zugeordnet und damit einordenbar wurde. Über die einem Gegenstand inhärierenden Eigenschaften konnten daher Schlußfolgerungen hinsichtlich seiner Identität gezogen werden, auch wenn ihnen nicht dieselbe Gewißheit zukam, wie der Prädikation primo modo. So unterscheidet etwa Thomas von Aquin die bei ihm als praedicatio per identitatem bezeichnete substanzielle Prädikation von der praedicatio per denominationem sive informationem,61 Eine solche praedicatio per informationem sollten die Berichte der päpstlichen Gesandten über die Tartaren ermöglichen. Weil man die Frage: „Wer sind die Tartaren?", nicht beantworten konnte, beschrieben die Gesandten, allen voran und mit der größtmöglichen Systematik Carpini, ihre Akzidentien: ihre Zahl (Quantiät), ihr Aussehen (Qualität), ihr Gebiet (Ort), die Zeit, zu der sie in die Geschichte traten (wann), ihre Lage (situs, etwa: sie leben in Zelten, ziehen umher), ihr Tun (actio: wovon leben sie, aber auch, wie führen sie Krieg), ihr Leiden (passio, d. h. wie verhielten sie sich gegenüber Einwirkungen von außen) und vor allem ihr Innehaben (habitus, welche Sitten, Gebräuche und Riten haben sie). Über die Prädikation der Akzidentien, d. h. über jene der Substanz zukommenden Eigenschaften, die einzeln beobachtbar waren, sollten die Tartaren in die Ordnung des Seins eingeordnet werden. Die Scholastik erwies sich in der Tat als „höchst praktische Wissenschaft", indem sie ein Diskursfeld strukturierte, das die
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H. M. Baumgartner, G. Gerhardt, K. Konhardt, G. Schönrich: Art. Kategorie, Kategorienlehre, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, S. 717. Vgl. In tertium librum sententiarum Magistri Petri Lombardi 5, expos. textus; vgl. auch H. Weidemann, Art. Prädikation, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Sp. 1202.
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descriptio ausgesandter Augenzeugen in die praedicatio eines unbekannten Volkes überführte.
Die 'Seinen' den Tartaren aussetzen Auf solche genauen Informationen durch einen zuverlässigen Augenzeugen hatte man offenkundig in den wissensorganisierenden Kreisen des Ordens und der Höfe gewartet, denn wie aufnahmebereit das Kommunikationssystem war, innerhalb dessen der Bericht verbreitet und sehr rasch rezipiert wurde, zeigen die in verschiedenen Chroniken enthaltenen Mitteilungen über Carpinis Rückkehr von den Tartaren: Bereits vor der offiziellen Unterrichtung des Papstes berichtete Carpini auf der Rückreise bei mehreren Gelegenheiten von seiner Begegnung mit den Tartaren und beantwortete Fragen über ihre Herkunft, ihre Absichten, ihren Glauben und ihre Herrschaft. Auch Carpinis Dolmetscher Benedikt von Polen gab nach einer Mitteilung der Annalen von St. Pantaleon zu Köln einem mit der Geschichte vertrauten (hystoriarem non ignaro) Geistlichen einen genauen Bericht über ihren Weg zu den Tartaren, über die Mühen und Gefahren, denen sie ausgesetzt waren, und erläuterte ihm den Brief des Großkhans, den Carpini dem Papst zu überbringen hatte.68 Auf den verschiedenen Stationen der Rückreise in Polen, Böhmen, Deutschland, Flandern und der Champagne wurden teilweise eigens Versammlungen einberufen, damit der Nuntius sein Wissen weitergeben konnte.69 Unmittelbar nachdem er den Papst unterrichtet hatte, reiste Carpini zum König von Frankreich weiter, der sich gerade zu einem neuen Kreuzzug rüstete, um ihm ebenfalls Bericht zu erstatten.70 Zweimal, so berichtete der franziskanische Chronist Salimbene de Adam, sei er Carpini begegnet und habe erlebt, wie dieser seine Mitbrüder in franziskanischen Konventen über die Tartaren, ihren wirklichen Namen, ihre Herkunft, ihr Land und seinen Aufenthalt am Hofe des Großkhans unterrichtet habe. Wenn er, von den drängenden Fragen seiner Zuhörer erschöpft, keine weiteren Auskünfte mehr zu geben bereit gewesen sei, habe er auf sein Buch, die Historia Mongalorum, verwiesen, in dem er alles niedergeschrieben habe, und man las dann daraus vor, so daß der Nuntius sich auf die Erklärung dessen beschränken konnte, „ubi mirabantur vel non intelligebant legentes".71 Nach den Aussagen des neunten Buches der Historia Mongalorum, das erst in einer zweiten Fassung des Berichts hinzugekommen und nur in einem Teil der Handschriften enthalten ist,
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Vgl. Folker E. Reichert, Begegnungen mit China, S. 141.
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Ob Carpini auf seiner Rückreise auch mit Béla IV. von Ungarn zusammentraf, wie Denis Sinor angenommen hat (John of Plano Carpini's Return, S. 199f.), ist nicht gesichert. Ungarn lag jedenfalls nicht auf seiner weitgehend rekonstruierbaren Reiseroute (anders, aber ohne Beleg, Reichert, Begegnungen mit China, S. 140); die Ungarn dürften aber zweifellos größtes Interesse an seinem Bericht gehabt haben.
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Möglicherweise begegnete Carpini bereits bei dieser Gelegenheit Wilhelm von Rubruk, der Ludwig von Frankreich aus ins Heilige Land begleitete. Vgl. Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 149. Vgl. auch Wyngaert, ed. Wyngaert, S. 5f. und S. 148f. Salimbene de Adam, Chronica, S. 298. „(...), worüber sie verwundert waren oder das Gelesene nicht verstehen konnten."
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riß man ihm seinen noch nicht abgeschlossenen schriftlichen Bericht förmlich aus den Händen. 72 „Sed quia illi per quos transitum fecimus, qui sunt in Polonia, Boemia et Teutonia et in Leodio et Campania, suprascriptam historia libenter habebant, iccirco eam rescripserunt antequam esset completa et etiam plene contracta, quia neque dum tempus habueramus qietis, ut eam possemus plene complere." 7 3
Carpini war weiter vorgedrungen als alle anderen Gesandten, denn im Unterschied zu Ascelin hatte er sich den diplomatischen Gepflogenheiten der Mongolen, bei denen die Kontakte mit fremden Mächten ausschließlich am Hof des Großkhans selbst abgewickelt wurden, angepaßt und sich von diesen bis zum Großkhan nach Karakorum geleiten lassen. Dieses diplomatisch geschickte Verhalten, das ihn nahezu durch das gesamte mongolisch beherrschte Gebiet führte, eröffnete ihm erheblich größere Informationsmöglichkeiten, als sie die anderen Gesandten erlangt hatten, und ließ seinen Bericht zur erstrangigen Informationsquelle werden. Ascelin gelangte nur bis in das Heerlager des mongolischen Feldherrn Baidschu in der Nähe von Tiflis. Dort entging er, nach dem Bericht Simons de St. Quentin, nur knapp dem „Märtyrertod", weil er als Spion verdächtigt wurde und sich weigerte, die von den Mongolen geforderten Demutsgesten, wie den Kniefall vor Baidschu, zu vollziehen. Als man ihm nach dem Eintreffen eines Beauftragten des Großkhans, der den Brief des Papstes entgegennahm, die Rückreise gestattete, übergab man ihm ein ähnliches Schreiben an den Papst wie das, was Carpini bereits überbracht hatte. Erneut wurde der Papst aufgefordert, sich persönlich zu Baidschu und dem Großkhan der Mongolen, dem Weltherrscher, wie der Brief betonte, zu begeben, um sich zu unterwerfen. 74 Ascelin traf als letzter der Gesandten erst 1248 wieder in Europa ein, und da er, anders als Carpini, dessen Bericht bereits vorlag, nicht bis zum Großkhan gereist war, dürften seine Informationen von vergleichsweise geringem Wert gewesen sein. Ein Bericht über seine Reise, seine Beobachtungen und die daraus resultierenden Schlußfolgerungen über die Tartaren wurde von Simon de St. Quentin abgefaßt, der Ascelin wahrscheinlich wegen seiner Sprachkenntnisse von Zypern oder Akkon bis zu ihrer gemeinsamen Rückkehr zum Papst begleitet hatte; er ist jedoch lediglich in Auszügen
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In der Forschung wird allgemein davon ausgegangen, daß Carpini seinen auf der Rückreise noch in Asien abgefaßten Bericht nach seiner Rückkehr um das neunte Buch, das eigentliche Itinerarium seiner Reise, ergänzte. Vgl. M. Christina Lungarotti, Le due redazionie dell' Historia Mongalorum; Enrico Menestö, La tradizione manoscritta, beide in: ed. Menestö; Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 52; Denis Sinor, John of Piano Carpini's Return from the Mongols.
73
ed. Menestö, S. 332f. „Weil aber die Leute, bei denen wir in Polen, Böhmen und Deutschland, in Lüttich und der Champagne vorbeikamen, die Erzählung [historia] gerne mochten, haben sie sie abgeschrieben, bevor sie fertig und gänzlich geordnet war, weil ich damals nicht genug Ruhezeit fand, sie gänzlich zu vollenden" (ed. Schmieder, S. 121).
74
Vgl. Karl-Emst Lupprian, Die Beziehungen der Päpste, S. 191f. Der Brief ist bei Simon/Vinzenz sowie in einer Turiner Handschrift, die vermutlich auf Vinzenz zurückgeht, überliefert. Vgl. auch Eric Voegelin, The Mongol Orders of Submission, S. 390ff.
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bei Vinzenz von Beauvais überliefert. 75 Auch Andreas von Longjumeau gelang es nicht, weit in das mongolische Territorium vorzudringen, und entsprechend hinterließ er keinen eigenen Bericht über seine Gesandtschaftsreise. Er überbrachte bei seiner Gesandtschaftsreise zunächst zahlreiche Briefe des Papstes an verschiedene Ayubidenherrscher, in denen der Papst sie bat, seinem Gesandten die Weiterreise zu den Tartaren über ihr Territorium zu gestatten. Die erhoffte Unterstützung für die Weiterreise zu den Tartaren wurde ihm jedoch nicht gewährt. 76 Von seinen Beobachtungen ist ein wahrscheinlich auf mündliche Mitteilungen des Gesandten zurückgehender Bericht bei Matthaeus Parisiensis überliefert, der sich jedoch auf wenige Abschnitte beschränkt, weil Andreas nur bis in die Peripherie des mongolischen Großreichs vordrang. 77 Aber auch an den bei Matthaeus Parisiensis und Simon de St. Quentin überlieferten Berichten läßt sich ein kategorialer Fragenkatalog aufzeigen, der die Aussagefelder der Berichte rastert. Die Themen folgen, darauf hat Felicitas Schmieder bereits hingewiesen, weitgehend dem Fragenkatalog des Konzils von Lyon, „jede Frage ist, wenn auch oft sehr kurz, beantwortet; selbst die Reihenfolge ist gegenüber den Annales de Burton nur wenig verschoben". 78 1248 reiste Andreas von Longjumeau noch einmal zu den Tartaren, diesmal jedoch im Auftrag Ludwigs IX. von Frankreich. Ludwig hatte 1245 das Kreuz genommen und war 1248 nach Zypern aufgebrochen. Dort suchte ihn Ende des Jahres eine nestorianische Gesandtschaft des mongolischen Statthalters für den Kaukasus auf und überbrachte ihm ein Schreiben, in dem dieser im Namen des Großkhans die völlige Gleichberechtigung der Christen in seinem Land verkündete, ihnen Steuerfreiheit und den Schutz ihrer Güter zusagte und versprach, die zerstörten christlichen Kirchen wiederaufzubauen. Der Großkhan stehe dem christlichen Glauben sehr nahe, so hieß es weiter, und er bitte Ludwig deshalb, eine Versöhnung der christlichen Kirchen untereinander zu ermöglichen. Überdies wurde Ludwig die Möglichkeit eines Bündnisses gegen die Sarazenen angedeutet. 79 Der Brief Eldschigideis und die Aussagen der Gesandten erschienen um so glaubwürdiger, als kurz zuvor in Zypern ein Brief des Marschalls von Armenien, Sem75
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Jean Richard hat Simons Text (unter Inkaufnahme des Risikos der nicht immer eindeutig möglichen Zuschreibung) aus Vinzenz ausgezogen und gesondert ediert (Simon de St. Quentin, Histoire des Tartars, ed. Jean Richard); der Text ist außerdem ediert bei Greogory G. Guzman, Simon of St. Quentin and the Dominican Mission to the Mongols. Vgl. zu Simon de St. Quentin auch: ders., Simon of St. Quentin and the Dominican Mission to the Mongol Baiju. Z u m Bild der Mongolen bei Vinzenz von Beauvais vgl.: ders., The Encyclopedist Vinzenz of Beauvais and his Mongol Extracts; Claude Kappler, L ' i m a g e des Mongols dans le Speculum historíale de Vincent de Beauvais, sowie Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 1 2 3 - 1 4 9 und S. 157-161. Ein Teil der Antwortschreiben, die Andreas dem Papst überbrachte, sowie die Geleitbriefe des Sultans für die Dominikaner sind bei Lupprian, Die Beziehung der Päpste, S. 158-169, abgedruckt. Chronica Maiora, VI, S. 113-116. Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 199, Fn. 8. Vgl. Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 81-83; Gian Andri Bezzola, Die M o n g o len, S. 150f. Der Text des Briefes ist, so weit er sich wiederherstellen ließ, bei Pelliot abgedruckt (Les Mongols et la papauté, S. 2 3 - 2 6 ) , eine deutsche Übersetzung nach der älteren A u s g a b e von Mosheim bietet Risch (Wilhelm von Rubruk, S. 3 - 5 ) .
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päd, der sich selbst auf der Reise zum Großkhan befand, an seinen Schwager Henry de Lusignan eingetroffen war, in dem er erklärte, der Großkhan und alle seine Angehörigen seien zum christlichen Glauben bekehrt worden. 80 Letzte Zweifel im Gefolge des Königs, die sich vor allem an der Frage entzündeten, warum einige der päpstlichen Gesandten von 1245 so schlecht behandelt worden seien, zerstreuten Eldschigideis Gesandte mit dem Hinweis, Baidschu sei Heide und habe sarazenische Berater, und deshalb habe er sie schlecht behandelt. Jetzt aber sei er Eldschigidei unterstellt und stelle deshalb keine Gefahr mehr dar.81 Angesichts dieser erfreulichen Perspektive schickte Ludwig im Januar 1249 eine Dominikanergesandtschaft unter der Führung von Andreas von Longjumeau mit reichen Geschenken, darunter einem Stück Holz vom Heiligen Kreuz, zu Eldschigidei. Dieser sandte sie, wie es den mongolischen Gepflogenheiten entsprach, zu Großkhan Güyük weiter. Güyük war jedoch bereits 1248 verstorben, und seine Witwe Ogul hatte die Regentschaft übernommen. Sie betrachtete die Geschenke als Zeichen der Unterwerfung, forderte in einem an Ludwig gerichteten Brief jährlichen Tribut vom König von Frankreich und drohte mit der Vernichtung seines Reiches, falls dieser nicht geleistet würde. 82 Als die Gesandtschaft des Andreas 1251 wieder in Caesarea eintraf, um die schockierenden Nachrichten von den Tartaren zu überbringen, hatte Ludwig bereits eine schwere militärische und moralische Niederlage erlitten. Bei Mansurah im Nildelta hatten die Truppen des ägyptischen Sultans das Kreuzfahrerheer geschlagen, und Ludwig selbst war in sarazenische Gefangenschaft geraten, aus der er sich mit einem hohen Lösegeld freikaufen mußte. Der Plan, das in den innerayubidischen Auseinandersetzungen 1244 gefallene Jerusalem wieder zu befreien, war damit gescheitert, und mit dem Schreiben, das Andreas aus Karakorum mitbrachte, wurde deutlich, daß nicht nur eine Allianz mit den Tartaren unmöglich, sondern auch jeder weitere diplomatische Kontakt mit ihnen überaus riskant war, weil sie die üblichen Gesandtschaftsgeschenke als Unterwerfungsgesten betrachteten. 83 In seiner Histoire de Saint Louis faßte Jean de
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Vgl. die dt. Übers, des Briefes bei Risch, Wilhelm von Rubruk, S. 5 - 1 1 . Den Inhalt beider Briefe übermittelte der päpstliche Legat im Heiligen Land, Odo de Châteauroux, an den Papst. Die Mutter des französischen Königs, Bianca von Kastilien, erhielt eine Abschrift, die sie ins Französische übersetzen ließ; Matthaeus Parisiensis erlangte ebenfalls Kenntnis von dem Brief und nahm ihn ausschnittsweise in seine Chronica Maiora auf: Auch hier lassen sich wieder die Verflechtungen des herrscherlich-klerikalen Informationssystems ablesen. Diese Auskunft bezog sich auf die Gesandtschaft Ascelins, der im Lager Baidschus nur knapp dem Tod entging. Der Inhalt des Briefes ist in der - freilich erst deutlich später entstandenen - Histoire des Saint Louis Jeans de Joinville wiedergegeben. Paul Pelliot hat den Inhalt, trotz des zweifellos nicht auf die Mongolenherrscherin zurückgehenden Hinweises auf den Priesterkönig Johannes, aufgrund der typischen mongolischen Wendungen für echt befunden. Der Ton, in dem die Unterwerfung des französischen Königs verlangt wird, entspricht jedenfalls dem der mongolischen Schreiben an den Papst von 1245. Vgl. Paul Pelliot, Les Mongols et la Papauté, S. 75f. Siehe auch Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abenländischer Sicht, S. 164. Zur Gesandtschaft des Andreas von Longjumeau, der 1245 bereits, wie oben erwähnt, als Gesandter des Papstes fungierte, und ihrem Ergebnis vgl. Paul Pelliot, Les Mongols et la papauté, S. 75ff.
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Joinville die Enttäuschung des Königs mit den Worten zusammen: „Et sachiez que Ii rois se repenti fort quant il y envoia."84 Aber die intensive Reisediplomatie der Mendikanten hatte nicht nur Unterwerfungsaufforderungen eingebracht, sondern auch kategoriales Wissen organisiert, das nicht nur innerhalb des geschlossenen Kommunikationssystems der Orden und der Höfe zugänglich war, sondern im narrativen Feld historiographischer Deskription diskursiviert wurde. Welcher Status den gezielt gesammelten Beobachtungen zugemessen wurde, läßt sich einem 1250 verfaßten Schreiben Bêlas IV. von Ungarn an Innozenz IV. entnehmen, in dem er sich gegen den Vorwurf des Papstes verteidigte, er unternehme nicht genug, um Informationen über die Mongolen zu beschaffen. Das päpstliche Schreiben selbst ist nicht erhalten, aber aus Bêlas Antwort lassen sich die vorangegangenen Vorhaltungen des Papstes erschließen: „Nos autem hec scribimus principaliter propter duo, ne possimus argui super possibilitate et neglegentia. Super possibilitatis articulo dicimus, quod quicquid ad esse possibilitatis nostrae super hoc per experientiam facti concludi potuit^nos concludimus. N o s et Nostra Tartarorum viribus et ingeniis nondum cognitis exponentes."
Die Rechtfertigung des ungarischen Königs ist weniger wegen ihres selbstgerechten Tonfalls, als vielmehr wegen ihrer methodischen Begründung bemerkenswert: Gewißheit über das unbekannte Volk zu erlangen, versprach man sich demnach aus den Schlußfolgerungen, die man aus der Kenntnis der Tatsachen zog (concludere per experientiam facti), und diese Kenntnis erlangte man, indem man 'die Seinen' den Tartaren aussetzte. 'Die Seinen' den Tartaren auszusetzen, war offenkundig jenes Programm der Aussendung von Gesandten, das Innozenz IV. seit 1245 mit Nachdruck betrieben hatte. Der geordnete Dreischritt von Augenzeugenschaft - Kenntnis der Tatsachen - Schlußfolgerungen bezeichnet vielleicht am prägnantesten die Methode, mittels derer neben dem Papst auch der ungarische und der französische König Gewißheit über das befremdliche Volk zu erlangen suchten.86 Man sandte die Seinen aus, damit sie kategoriales Wissen über die Fremden beibrachten, das es ermöglichte, Schlußfolgerungen zu ziehen, d. h. die so bedrohlich nahegekommenen Fremden anhand ihrer Akzidentien kategorial einordnen zu können.
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Jean de Joinville, Histoire de Saint Louis, hrsg. und übers, von N. de Wailly, Paris 1874, S. 270. „Und wißt, daß der König schwer bereute, sie gesandt zu haben."
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Augustin Theiner, Vetera monumenta histórica Hungariam, I, Rom 1859, S. 231 (Hervorhebung MM). „Wir schreiben dies aber vor allem aus zwei Gründen, damit wir nicht wegen Unfähigkeit und Pflichtvergessenheit getadelt werden können. Über die Frage der Fähigkeit sagen wir, daß wir, was auch immer in unserer Möglichkeit stand, über sie durch Erfahrung des Tatsächlichen erschließen zu können, erschlossen haben, indem wir uns und das Unsrige der Macht und den noch unbekannten Absichten der Tartaren aussetzten."
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Zur Deutung dieses Programms vgl. Johannes Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit, S. 302f., sowie Tomas Tomasek und Helmut G. Walther, Gens consilio et sciencia, S. 51.
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Der geheime Gesandte: Wilhelm von Rubruk 1253 wurde durch eine Gesandtschaft aus Konstantinopel, die Ludwig IX. im Heiligen Land aufsuchte und berichtete, Khan Sartaq, der im Bereich der mittleren Wolga regierte, sei Christ geworden, noch einmal die Hoffnung auf ein Bündnis gegen die Sarazenen geweckt. Zwar stand Ludwig nach den vorhergegangenen Erfahrungen Behauptungen von der angeblichen Bekehrung mongolischer Herrscher zum Christentum äußerst mißtrauisch gegenüber, aber er war auf Unterstützung gegen die Sarazenen angewiesen, und der flämische Ritter Balduin von Hennegau, der im Auftrag des byzantinischen Kaisers schon 1243 nach Karakorum gereist war, bestätigte die Informationen der Gesandten. 87 Ludwig entschloß sich daraufhin, noch einmal einen eigenen Vertrauensmann zu den Mongolen zu entsenden, diesmal aber nicht als offziellen Gesandte mit den üblichen Gesandtschaftsgeschenken, sondern nur mit einem Schreiben des Königs ausgestattet, in dem er bat, seinem Überbringer die Mission zu gestatten. 88 Die Gesandtschaft, die keine sein sollte, brach 1253 auf; an ihrer Spitze stand Wilhelm von Rubruk. Er gehörte wie Carpini dem Franziskanerorden an und hielt sich schon seit einiger Zeit im Heiligen Land auf, denn er hatte Ludwig IX. auf dessen erstem Kreuzzug begleitet, nachdem er zuvor vermutlich im Pariser Generalstudium des Ordens tätig war. 89 Zwei Jahre dauerte die Reise, und als Wilhelm 1255 nach Zypern zurückkehrte, traf er den französischen König, der zwischenzeitlich nach Frankreich zurückgekehrt war, nicht mehr an. Da ihm der Ordensprovinzial im Heiligen Land nicht erlaubte, nach Frankreich zu reisen, ließ er seinen Bericht an den König durch den Dolmetscher überbringen, der ihn auf seiner Reise begleitet hatte. Wilhelm reiste nicht im offiziellen Status eines Gesandten, und deshalb fällt es schwer, ihn in das Kontaktsystem der Diplomatie einzuordnen, zumal er in seinem Bericht betont, er habe auf seiner Reise bei verschiedenen Gelegenheiten öffentlich beteu87
Über den flämischen Ritter Balduin von Hennegau, der möglicherweise 1243/44 im Auftrag Kaiser Balduins II. von Konstantinopel eine Gesandtschaftsreise nach Karakorum unternommen hat, ist sehr wenig bekannt. Wilhelm erwähnt in seinem Bericht, daß er mit ihm in Konstantinopel zusammengetroffen sei, wo Balduin ihn über seine Beobachtungen unterrichtet habe (vgl. ed. Wyngaert, S. 268). Zu Balduin vgl. auch Folker E. Reichert, Begegnungen mit China, S. 71.
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Wilhelm zitiert das Schreiben, das er nach eigenen Angaben in Akkon ins Arabische und Syrische übersetzen ließ (vgl. ed. Wyngaert, S. 203), nicht vollständig, sondern gibt nur verkürzt an mehreren Stellen seinen Inhalt wieder: Danach bat der König Sartaq darum, er möge dem Überbringer des Schreibens erlauben, im Land zu bleiben (vgl. S. 204, 215), damit er der Regel seines Ordens gemäß die Menschen lehren könne, nach dem Gesetz Gottes zu leben (vgl. S. 250).
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Aus der Tatsache, daß Wilhelm neben einer Reihe anderer Bücher auch die „Sentenzen" des Petrus Lombardus mit auf die Reise nahm, könnte man vielleicht schlußfolgern, daß er als „Baccalaureus sententiarius" tätig war, der die zweite Stufe der universitären Lehrtätigkeit im Generalstudium der Mendikantenorden bildete. Die erste Lehrfunktion bestand i. d. R. darin, kursorisch die Bibel zu lesen, sie wurde vom „Baccalaureus biblicus" ausgeübt. Die zweite Stufe der theologischen Lehrtätigkeit war dann die Lektüre der Sentenzen des Petrus Lombardus , die der „Baccalaureus sententiarius" ausübte. Darauf folgte dann - bei Verbleib an der Universität die Zulassung zum Magister, d. h. die Ausübung der vollen theologischen Lehrtätigkeit auf einem Lehrstuhl des Ordens an der Universität.
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ert, er sei kein Gesandter des französischen Königs, sondern reise gemäß seiner Ordensregel zu den Ungläubigen, um ihnen den christlichen Glauben zu predigen. 90 Nahezu einhellig wird denn auch in der jüngeren Forschung die Annahme vertreten, Wilhelm sei als Missionar und nicht im Auftrag Ludwigs, sondern lediglich mit seiner Unterstützung gereist. 91 So schwierig es aber einerseits ist, Wilhelm eindeutig dem Kontaktsystem der Diplomatie zuzuordnen, so fraglich scheint es mir doch andererseits, Wilhelm dem Kontaktsystem der Mission zuzuordnen. Sein Bericht läßt eine so eindeutige Lesart nicht zu. Die Äußerungen Wilhelms lassen sich nämlich keineswegs nur in der Weise interpretieren, er sei auf eigenen Wunsch als Missionar zu den Mongolen gegangen. Wilhelm erklärt gegenüber dem Adressaten seines Berichts lediglich, öffentlich immer bestritten zu haben, sein Gesandter zu sein.92 An anderer Stelle erklärt er jedoch explizit, „stabamus ergo cum aliis nunciis" und erläutert Ludwig eingehend die unterschiedliche Behandlung der Gesandten an den Höfen Batus und Mangu Khans. 93 Bereits die Adressierung des Berichts wie auch die genaue Darlegung der Problematik seines Status deuten darauf hin, daß zwischen Wilhelm und Ludwig IX. ein clandestines Einverständnis darüber herrschte, daß er zwar nicht offiziell als Gesandter auftreten durfte, sehr wohl aber für seinen Auftraggeber die Funktion eines Gesandten als Berichterstatter über die Verhältnisse bei den Mongolen wahrnahm. In mindestens zwei zeitgenössischen Quellen wird überdies ausdrücklich berichtet, Wilhelm sei von Ludwig zu den Tartaren gesandt worden. So notiert Roger Bacon in seinem Opus maius, „atque frater Willielmus, quem dominus rex Franciae misit ad Tartaros anno Domini 1253, quando fuit ultra mare, scripsit regi (,..)." 94 In einer um 90
In der Ordensregel des Franziskanerordens, die 1223 von Papst Honorius III. genehmigt wurde (sog. Regula bullatä), heißt es in Kap. XII: „Wenn ein Bruder kraft göttlicher Eingebung den Drang in sich fühlt, zu den Saracenen oder den anderen Ungläubigen zu gehen, soll er seine Provinzial-Vorgesetzten um Erlaubnis bitten. Diese Vorgesetzten sollen aber keinem die Erlaubnis zum Gehen erteilen, außer wenn sie sehen, er sei geeignet, ausgesandt zu werden" (zit. nach Heinrich Böhmer, Analekten zur Geschichte des Franziskus von Assisi, Tübingen 1904, S. 35).
91
Die These, Rubruk sei als Missionar aus eigenem Antrieb zu den Mongolen gereist, vertreten unter anderem Michael Weiers, Die Mongolen, S. 209; Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 84f.; Folker E. Reichert, Begegnungen mit China, S. 73f.; Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 171; I. de Rachewiltz, Papal Envoys to the Great Khans, S. 125-143; Chrysologus Schollmeyer, Die missionarische Sendung des Fraters Wilhelm von Rubruk, in: Ostkirchliche Studien 4 (1955), S. 138-146; Jean Richard: La papauté et les missions d'Orient, S. 79; Peter Jackson, William of Rubruck, S. 95f. Dagegen bezeichnet Johannes Fried (Auf der Suche nach der Wirklichkeit, S. 304) Rubruk wie die päpstlichen Gesandten als „Agenten", was durchaus im Doppelsinn von Gesandtem und Spion zu verstehen sein dürfte. Explizit als Gesandter wird Rubruk lediglich von Steven Runciman (Geschichte der Kreuzzüge, S. 1073) sowie Helmut G. Walther bezeichnet (Gens consilio, S. 257). Vgl. ed. Wyngaert, S. 168, 188, 309. ed. Wyngaert, S. 253. Am Hofe Mangus (Möngke), so erläutert Wilhelm, könnten sich die Gesandten, die alle in einem iam untergebracht seien, gegenseitig sehen und besuchen, während sie am Hofe Batus gezielt voneinander separiert würden und nichts voneinander wüßten. Roger Bacon, Opus maius, S. 303. Bacon erwähnt noch an mehreren anderen Stellen, Wilhelm sei vom französischen König zu den Tarieren gesandt (missus) worden. Vgl. S. 268, 305, 356.
92 93
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1290 entstandenen franziskanischen Chronik wird Wilhelm ebenfalls als Gesandter Ludwigs bezeichnet, gleichzeitig aber unter Berufung auf den Bruder des armenischen Königs wegen seines ungeschickten Auftretens gegenüber Khan Batu kritisiert, den er mit der Androhung des Höllenfeuers zum christlichen Glauben habe bekehren wollen. 9 5 Wenn Rubruk gemäß seiner Ordensregel auch ernsthaft die Mission unter den Tartaren beabsichtigte - und tatsächlich beschreibt er an einigen Stellen seine Bemühungen um deren Bekehrung so ist der Tenor seines Berichtes doch das Gegenteil eines Missionsberichtes. Die Behauptungen der Armenier, der Khan bekenne sich zum christlichen Glauben, bezeichnete Wilhelm in seinem Bericht ausdrücklich als Lüge und führte zur Illustration das Beispiel eines armenischen Mönches an, der ihm angekündigt habe, der - nach anderen armenischen Informationen j a angeblich bereits getaufte - Khan werde sich am folgenden Tag von ihm taufen lassen. Deshalb habe er den Mönch gebeten, er solle doch auf jeden Fall dafür sorgen, daß er bei der Taufe zugegen sein könne, „ita quod possum perhibere testimonium de viso". 96 Das habe der Mönch ihm auch versprochen, ihn dann aber nicht rufen lassen, als die angebliche Taufe vorgenommen wurde. „Et dicebat michi m o n a c h u s quod solum credit christianis, tarnen vult ut o m n e s orent pro eo. Et ipse mentiabatur quia nullis credit sicut postea audietis; tarnen o m n e s sequuntur curiam suam sicut m u s c e mel, et o m n i b u s dat, et o m n e s credunt se e s s e familiares eius et o m n e s prophetant ei prospera."
Als er auf der Rückreise in Anii fünf Predigerbrüder traf, die auf dem Weg in die Mongolei waren, warnte er sie davor, zu den Tartaren zu gehen. Sie trugen einen Brief des Papstes mit sich, in dem, ähnlich wie in dem Brief, den Ludwig ihm mitgegeben hatte, der Khan gebeten wurde, ihnen den Aufenthalt bei den Tartaren und die Mission zu gestatten, und Wilhelm wies sie darauf hin, daß sie damit zwar ihr Reiseziel erreichen könnten, daß ihnen die Tartaren aber, wenn sie keinen anderen Auftrag hätten, als ihnen 98
das Christentum zu predigen, keinerlei Aufmerksamkeit schenken würden. Nachdrücklich konstatierte er den vollständigen Mißerfolg jeglicher missionarischer Bemühungen und riet davon ab, noch einmal einen einfachen Mönch zu den Tartaren zu schicken:
95
Analecta Franciscana, Bd. I, A d Claras A q u a s 1885, S. 4 1 6 f .
96
ed. Wyngaert, S. 2 5 6 . (...), damit ich ein A u g e n z e u g n i s davon abgeben könne."
97
ed. Wyngaert, S. 256. „Der M ö n c h sagte mir, M a n g u glaube einzig den Christen, w o l l e aber haben, daß alle für ihn beten. Damit log er aber, denn M a n g u glaubt keinem, w i e Ihr später hören werdet; g l e i c h w o h l f o l g e n alle seinem H o f w i e die Fliegen d e m Honig, und er gibt allen und alle glauben seine Vertrauten zu sein und prophezeien ihm Glück."
98
Vgl. ed. Wyngaert, S. 3 2 6 .
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Kulturkontakte und Diskurse „Quod amplius vadat aliqius frater ad Tartaros, sicut ego ivi vel sicut vadunt fratres Predicatores, non videtur michi expedire; sed si dominus Papa, qui est capud omnium christianorum, vellet mittere honorifice unum Episcopum, et respondere stulticiis eorum, quas ipsis ter scripserunt Francis, - semel Pape Innocentio quarto bone memorie, et bis vobis: semel per David qui vos decepit, et nunc per me - ille posset illis dicere quecumque vellet et eciam facere quod ipsi redigerent in scriptis. Audiunt enim quecumque nuncius vult dicere et Semper querunt si vult dicere plura, sed oporteret quod haberet bonum interpretem, immo plures interpretes et copiosas expensas."
M i t dieser hinsichtlich der M i s s i o n g ä n z l i c h n e g a t i v e n B i l a n z s c h l o ß W i l h e l m s e i n e n B e r i c h t an den f r a n z ö s i s c h e n K ö n i g . S e i n e E m p f e h l u n g , der Papst s o l l e e i n e n B i s c h o f mit allen Ehren z u d e n M o n g o l e n s c h i c k e n , b e z o g sich b e z e i c h n e n d e r w e i s e nicht a u f d e s s e n größere M ö g l i c h k e i t e n , als M i s s i o n a r die S e e l e n der Tartaren z u g e w i n n e n , s o n dern darauf, daß er als Gesandter im N a m e n d e s Oberhauptes der g e s a m t e n Christenheit s p r e c h e n und ihre „Torheiten" („stulticiis eorum") z u r ü c k w e i s e n z u k ö n n e . D a ß d i e A u s s e n d u n g e i n e s e i n f a c h e n M ö n c h e s die Ü b e r r e i c h u n g einer U n t e r w e r f u n g s a u f f o r d e rung nicht verhindern konnte, hatte er selbst erlebt und d a z u n o c h die d e m ü t i g e n d e Erfahrung m a c h e n m ü s s e n , daß ihm aufgrund s e i n e s Status e i n e a n g e m e s s e n e E n t g e g n u n g nicht m ö g l i c h war, w e i l er nicht o f f i z i e l l im N a m e n d e s K ö n i g s oder d e s P a p s t e s sprec h e n k o n n t e . 1 0 0 Er selbst, s o betont er, w ü r d e w e g e n ihres H o c h m u t e s a m liebsten d e n K r i e g g e g e n die Tartaren predigen:
99
100
ed. Wyngaert, S. 331 f. „Es scheint mir aber keinen Zweck zu haben, daß inskünftig noch einmal ein Mönchsbruder zu den Tartaren geht, wie ich ging oder wie es die Brüder vom Predigerorden getan haben. Aber wenn der Papst, der das Oberhaupt der ganzen Christenheit ist, ihnen einen Bischof mit allem Pomp und allen Ehren senden und ihnen antworten lassen wollte auf die Torheiten, die sie schon dreimal an die Franken geschrieben haben - einmal an den Papst Innozenz IV. seligen Angedenkens und zweimal an Euch, nämlich einmal durch David, der ein Schwindler war, und jetzt durch mich - so könnte ein solcher ihnen sagen, was er wollte, und sie auch veranlassen, ihre Antwort aufzuschreiben. Denn sie hören alles an, was ein Gesandter zu sagen wünscht, und fragen immer, ob er nicht noch mehr auszurichten habe. Allerdings müßte der Betreffende einen oder mehrere gute Dolmetscher bei sich haben, über reichliche Mittel verfügen usw." (ed. Risch, S. 335f.). Mit den „Torheiten" sind die Unterwerfungsforderungen der Mongolen von 1245 (an den Papst) sowie von 1248 (an Ludwig IX.), und jene, die Wilhelm selbst mitbrachte, gemeint. Aus dieser und ähnlichen Erfahrungen hatte man neunzig Jahre später, als Johannes von Marignola als Missionar nach China ging, offenkundig gelernt: Johannes trat nach seinen eigenen Angaben vor dem Großkhan als päpstlicher Legat in reichem, bischöflichem Ornat auf und überbrachte als Gastgeschenk ein fränkisches Pferd. Damit gelang es tatsächlich, bei den Mongolen, die nur die sehr viel kleineren asiatischen Steppenpferde kannten, Eindruck zu machen: Der Khan befahl seinen Dichtern Lobpreisungen auf das Pferd zu schreiben, und eines dieser Gedichte ist erhalten geblieben. Vgl. Herbert Franke, Das »himmlische Pferd« des Johann von Marignola, in: Archiv für Kulturgeschichte 50 (1968), S. 3 3 ^ 0 sowie Rachewiltz, Papal Envoys to the Great Khans, S. 191-201.
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„Ipsi enim ¡am in tantam superbiam sunt erecti, quod credunt quod totus mundus desideret facere pacem cum eis. Et certe, si permitteretur michi, ego in toto mundo pro posse meo predicarum bellum contra eos." H ä t t e d i e F r a g e der M i s s i o n i m Z e n t r u m d e s B e r i c h t s g e s t a n d e n , s o w ä r e er z w e i f e l l o s n i c h t o d e r z u m i n d e s t n i c h t nur a n d e n f r a n z ö s i s c h e n K ö n i g adressiert g e w e s e n , s o n d e r n a u c h a n d e n O r d e n zur V e r w e n d u n g für d i e z u r M i s s i o n a u s z i e h e n d e n M i n d e r b r ü d e r , für d i e er e i n e e r s t r a n g i g e I n f o r m a t i o n s q u e l l e hätte s e i n k ö n n e n . E i n e N u t z u n g d e s B e r i c h t s d u r c h d e n O r d e n ist a b e r n i r g e n d s n a c h w e i s b a r , u n d W i l h e l m s O r d e n s p r o v i n z i a l
im
H e i l i g e n L a n d , d e n er bei s e i n e r R ü c k k e h r v o n d e n M o n g o l e n in Z y p e r n traf, s c h e i n t v o n s e i n e r R e i s e k e i n e s w e g s a n g e t a n g e w e s e n z u s e i n , w i e s i c h daran z e i g t , d a ß er i h m n i c h t erlaubte, s i c h z u r B e r i c h t e r s t a t t u n g z u m f r a n z ö s i s c h e n K ö n i g z u b e g e b e n , s o n d e r n ihn n a c h A k k o n s c h i c k t e . „Et diffinivit Minister quod legerem Acon, non permittens me venire ad vos, precipiens ut scriberem vobis ea que vellem per latorem presentium. Ego autem non audens reniti contra obedientiam, feci prout potui et scivi, postulans veniam a vestra i n v i d a mansuetudine et de superfluis vel diminutis vel minus prudenter immo stulte dictis, utpote ab homnine parum prudente nec consuetudo tarn longas hystorias dictare. Pax dei, que exuperat omnem sensum custodiat cor vestrum et intelligenciam vestram! Libenter viderem vos et quosdam amicos spirituales quos habeo in regno vestro; unde si non esset contrarium vestre maiestati, vellem supplicare vobis quatinus scriberetis Ministro ut dimitteret me venire ad vos, ad Terram Sanctam in brevi «102 reversurum. D a v o n , d a ß d e r f r a n z i s k a n i s c h e O r d e n s p r o v i n z i a l für d a s H e i l i g e L a n d ihn b e a u f t r a g t hätte, ü b e r s e i n e M i s s i o n s e r f a h r u n g e n z u b e r i c h t e n , w a s im F a l l e s e i n e r R ü c k k e h r v o n e i n e r M i s s i o n s r e i s e d o c h w o h l d a s n a h e l i e g e n d s t e g e w e s e n w ä r e , ist w e d e r b e i W i l h e l m s e l b s t n o c h in i r g e n d e i n e r a n d e r e n Q u e l l e d i e R e d e . Innerhalb d e s F r a n z i s k a n e r o r d e n s ist d e r B e r i c h t , a u ß e r v o n R o g e r B a c o n , der in Paris lehrte u n d W i l h e l m dort m ö g l i c h e r w e i s e traf, n a c h d e m d i e s e r a u f g r u n d v o n L u d w i g s B e m ü h u n g e n d o c h n o c h n a c h F r a n k r e i c h
101
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ed. Wyngaert, S. 244. „Denn sie sind bereits so aufgeblasen, daß sie meinen, alle Welt verlange mit ihnen Frieden zu schließen. Und gewißlich, wäre es mir nur verstattet, ich wollte in der ganzen Welt aus allen meinen Kräften Krieg gegen sie predigen" (ed. Risch, S. 187). ed. Wyngaert, S. 329f. „Der Provinzial bestimmte, ich sollte in Akkon Vorlesungen halten, und erlaubte mir nicht, zu Euch zu gehen. Er befahl mir, ich solle Euch, was ich auf dem Herzen hätte, durch den Überbringer dieses Briefes (Gösset) schriftlich mitteilen. Ich aber, nicht wagend, mich gegen das Gelübde des Gehorsams zu stellen, habe meine Sache so gut gemacht, wie ich es eben fertig brachte und verstand. Euere durch nichts zu erbitternde Milde bitte ich um Verzeihung, wenn meine Darstellung entweder allzu weitläufig oder aber zu kurz ausgefallen ist, und wenn ich nicht immer mit der nötigen Klugheit, sondern töricht geredet habe, wie es anders nicht zu erwarten ist von einem Manne, der nicht genug Weiseheit besitzt und der nicht gewohnt ist, so lange Berichte zu diktieren. Der Friede Gottes, der höher ist denn alle Vernunft bewahre Euer Herz und Eueren Sinn! [Philipper 4,7] Gerne würde ich Euch und einige geistliche Freunde, die ich in Eurem Land habe, sehen. Wenn es Euerer Majestät nicht zuwider wäre, möchte ich Euch demütigst bitten, Ihr wolltet dem Provinzial schreiben, er möge mich beurlauben, damit ich zu Euch kommen kann, um dann bald wieder in das Heilige Land zurückzukehren" (ed. Risch, S. 332).
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reisen durfte, nicht rezipiert worden. 103 Auch die geringe Verbreitung des Berichts - mit nur fünf Handschriften, die überdies alle auf englischem Boden entstanden sind und auf eine einzige Leithandschrift zurückgehen dürften, ist Wilhelms Bericht der mit Abstand am geringsten verbreitete - spricht dafür, daß er nicht für die Zirkulation im breiteren Kommunikationssystem des Ordens gedacht war. 104 Das Kommunikationssystem des Ordens war ihm aber immerhin insoweit von Nutzen gewesen, als er acht Jahre nach der Aussendung der ersten päpstlichen Gesandten für seine eigene Reise bereits auf zahlreiche Informationen aus erster Hand zurückgreifen konnte. Dazu standen ihm sowohl mündliche Informationen als auch die bereits vorliegenden Augenzeugenberichte zur Verfügung. Bei seiner offenkundig überaus gründlichen Vorbereitung las er Carpinis Bericht und ließ sich mündlich durch Andreas von Longjumeau und Balduin von Hennegau unterrichten. Daneben kannte er auch die bereits Ende der dreißiger Jahre entstandenen ersten kurzen Berichte ungarischer Predigerbrüder. 105 Damit war es ihm möglich, eigene Beobachtungen mit denen der anderen Gesandten zu vergleichen, Veränderungen im mongolischen Verhalten zu konstatieren und zugleich die vorliegenden Berichte gezielt zu ergänzen. Ähnlich wie Carpini bemühte er sich, die grundlegenden zivilisatorisch-kulturellen Besonderheiten der Mongolen, ihres Landes, ihrer Lebensweise, vor allem aber ihrer gesellschaftlichen Strukturen genau zu beschreiben. Insbesondere Elemente der gesellschaftlichen Ordnung, wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die soziale Rangordnung und der Umgang mit Krankheit und Tod fanden neben dem Glauben der Mongolen, deren schamanistische Praktiken er sehr viel genauer beschrieb als seine Vorläufer, sein besonderes Interesse. Wilhelms Bericht war zwar anders als der Carpinis nicht systematisch gegliedert, aber er übermittelte dem französischen König weiteres kategoriales Wissen über die Tartaren, deren habitus und deren actio immer noch als schwer durchschaubar erscheinen mußten. Wilhelm von Rubruk berichtete noch aus der Position eines ausgesandten Augenzeugen, der gezielt Beobachtungen bei einem Volk sammeln sollte, über das man nach wie vor zu wenig gesichertes wußte, auch wenn die apokalyptischen Ängste im Vergleich mit 103 104
105
In seinem Opus maius (ed. Bridges, S. 305) schreibt Roger Bacon, er habe Wilhelms Bericht gründlich gelesen „et cum eius auctore contuli". Vgl. die Liste der Handschriften bei Anastasius van den Wyngaert, in: ed. Wyngaert, S. 158f. u. 163 sowie die Beschreibung der Handschriften in der von Peter Jackson und David Morgan herausgegebenen englischen Rubruk-Ausgabe, S. XVIf. Wyngaert nennt sieben Handschriften; zwei davon sind j e d o c h Abschriften des Ende des 16. Jahrhunderts von Hakluyt edierten Druckes. Wilhelm erwähnt Johannes de Piano Carpini, Andreas von L o n g j u m e a u und Balduin von Hennegau an mehreren Stellen seines Berichts. Die meisten Informationen bezog er offenbar von Andreas, mit dem er in Akkon zusammengetroffen war; ihn erwähnte er am häufigsten (vgl. ed. Wyngaert, S. 207, 211 213, 241, 293, 301, 308). Carpini erwähnte er explizit nur einmal (vgl. ed. Wyngaert, S. 213), zweifellos hatte er seinen Bericht aber sehr gründlich gelesen, wie aus verschiedenen impliziten Verweisen ersichtlich ist. Mit Balduin von Hennegau traf er nach eigenen A n g a b e n in Konstantinopel zusammen (vgl. ed. Wyngaert, S. 268). Zu den ungarischen Predigerbrüdern vgl. ed. Wyngaert, S. 220. Vgl. auch Heinrich Dörrie, Drei Texte, sowie Johannes Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit, S. 287ff. Zu Wilhelms Informationsmöglichkeiten vgl. Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 169. Bezzola bescheinigt ihm „die damals bestmöglichen Informationen über Volk und Hof der Mongolen".
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den vierziger Jahren deutlich zurückgetreten waren. Mit Wilhelms Bericht lag der zweite ausfuhrliche Augenzeugenbericht über die Tartaren und die von ihnen beherrschten ostasiatischen Länder vor; er war zugleich der letzte, der im Zusammenhang mit einer im unmittelbaren Auftrag des Papstes oder eines europäischen Herrschers zum Zwecke der Erkundung unternommenen Reise entstand. Die Gesandtschaftskontakte der Kurie, des Kaisers und verschiedener europäischer Herrscher insbesondere mit den persischen IIkhanen wurden danach fortgesetzt und erweitert, aber die Phase der gezielten und mit Nachdruck betriebenen Informationsbeschaffung war mit Wilhelms Bericht zunächst abgeschlossen. 106 Was an Nachrichten weiterhin übermittelt wurde, ging nun wieder in Annalen und Chroniken ein, die die eintreffenden Informationen sammelten und den jeweiligen Jahren zuordneten. Der ausgesandte Augenzeuge als unmittelbarer Berichterstatter wurde nicht mehr benötigt, das Wissen über die Mongolen konnte wieder nach der Kontingenz seines Eintreffens gesammelt werden. Die Zeit der gezielten Beschaffung kategorialen Wissens war vorbei. Der Zusammenhang von militärischer Bedrohung durch die Tartaren mit apokalyptischen Deutungsmöglichkeiten einerseits und der Hoffnung auf militärische Kooperation mit den Tartaren andererseits, die durch die Mission begünstigt werden konnte, begründeten einen Willen zum Wissen, der nur durch eine auf Augenzeugenschaft gegründete Erfahrung befriedigt werden konnte. Die ersten Augenzeugenberichte aus der fremden Welt der Tartaren wurden jedenfalls von Gesandten geschrieben, die zu ihrem Publikum in einer besonderen Beziehung standen: Ihre Berichte entstanden nicht zufällig, weil sich ein Reisender dazu entschloß, seine Erfahrungen aufzuzeichnen, vielmehr wurden die Reisen unternommen, damit man Erfahrungen sammeln und sie aufzeichnen konnte. Der Bezug zwischen Schrift und Reise war ein Kausalverhältnis, in dem nicht die Reise die Schrift bedingte, sondern umgekehrt die Schrift die Reise. Damit war dieser Berichtstyp zugleich auf einen engen Zeitraum begrenzt, in dem die Bedrohung akut, die Hoffnungen im Zusammenhang der Kreuzzüge aktuell, die politische Lage unklar, die heilsgeschichtlichen Deutungen verworren und selbst ein Element des Machtkampfes innerhalb der Kirche geworden waren. Der Zwang zum Wissen produzierte zu einem Zeitpunkt Erfahrung, an dem Selbst- und Fremdbezug nicht voneinander zu trennen waren.
106
V g l . Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 2 0 0 .
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3. Die Erfahrung der europäischen Fernhandelskaufleute und die ausbleibende Diskursivierung instrumenteilen Wissens
Die Entstehung des euro-asiatischen Fernhandels Daß auch aus Handelskontakten Wissen über die Fremde resultieren konnte, hatte schon Matthaeus Parisiensis angemerkt. Aber als er um 1242 in seiner Chronica Maiora schrieb, die Tartaren seien bisher noch nicht durch allgemeine Handelskontakte hervorgetreten, durch die man einen Einblick in ihre Sitten und Gewohnheiten hätte gewinnen können, hatte er offenkundig trotz seiner Bemühungen, alle verfügbaren Nachrichten über die Tartaren zu sammeln, keine Kenntnis davon, daß solche Handelskontakte sehr wohl bereits bestanden.' 07 Im Verlauf der Kreuzzüge hatten sich die italienischen Seehandelsstädte Venedig und Genua fest in der Levante etabliert und in mehreren Städten der eroberten Gebiete Kaufmannsniederlassungen gegründet. Während die Kreuzfahrer seit der Eroberung Jerusalems 1099 im Heiligen Land, das keineswegs für alle Kreuzritter die erhofften Reichtümer und Lehensgüter bot, kamen und gingen, siedelten sich Kaufleute aus den italienischen Seehandelsstädten dort dauerhaft an. Die Kaufmannssiedlungen in den Kreuzfahrerstaaten des eroberten Küstenstreifens zogen sich von Beirut im Norden über Sidon, Tyrus, Akkon und Caesarea bis in den Süden von Palästina 108
nach Jaffa und Askalon hin. Seit dem dritten Kreuzzug stellten vor allem die Venezianer den Kreuzfahrerheeren gegen gute Bezahlung die Schiffe für die Überfahrt nach Palästina und wurden damit zum logistischen Rückgrat der „Wallfahrten", 109 die ihrerseits das ökonomische Rückgrat der Venezianer wurden. 110 Da die Kreuzfahrer völlig von den Schiffen der italienischen Seehandelsstädte abhängig waren, erhandelten sich diese im Gegenzug für die bereitgestellten Transportkapazitäten und die militärische Hilfe zur See mehrfach Stadtviertel in den eroberten Städten, die ihrem eigenen Recht
107 108 109
110
Vgl. Matthaeus Parisiensis, Chronica Maiora, IV, S. 119. Vgl. James W. Thompson, Economic and Social History, Bd. I, S. 399ff. Schon vor Beginn der Kreuzzüge hatten die Venezianer mit ihren Schiffen Pilger ins Heilige Land gebracht. Die Bezeichnung peregrinatio, also Wallfahrt oder Pilgerfahrt, war für die Kreuzfahrten sehr gebräuchlich und ist in zahlreichen Chroniken überliefert. Auch Rubruk bezeichnet Ludwigs Kreuzzug als peregrinatio, als er den Mongolen gegenüber erklärt, der „dominus Rex Francorum christianissimus, qui ibi peregrinatur et pugnat contra Sarracenos ut eripiat loca sancta de manibus eorum", habe ihm einen Brief an Khan Sartach mitgegeben (ed. Wyngaert, S. 169). Vgl. Allred Dören, Italienische Wirtschaftsgeschichte, Jena 1934 (= Handbuch der Wirtschaftsgeschichte, hg. von Georg Brodnitz, Bd. 7), S. 132f., der betont hat, daß der Aufschwung des italienischen Außenhandels auf den Kreuzzügen beruhte.
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unterstanden." 1 So erhielten die Venezianer für ihre Unterstützung bei der Eroberung von Tyrus im Jahre 1123 ein Drittel der Stadt, dazu Steuerfreiheit und das Recht, eigene 112 Maße und Gewichte zu verwenden. Mit den levantinischen Häfen etablierten sich die europäischen Kaufleute erstmals an den Endstationen der asiatischen Handelsrouten, die von der Mittelmeerküste über den Persischen Golf, Mesopotamien und Persien bis nach Indien und China reichten. Daneben unterhielten sie auch Handelskolonien im feindlichen Ägypten, die im Ostasienhandel jedoch weniger lukrativ waren, weil die ägyptischen Zwischenhändler einen Teil der erzielbaren Gewinne abschöpften. So bemühte man sich einerseits, die arabischen Zwischenhändler zu umgehen, pflegte jedoch andererseits weiterhin die bestehenden Kontakte, um nicht ausschließlich auf die Erfolge der Kreuzfahrer angewiesen zu sein. Insbesondere die Venezianer, die wegen ihrer Beziehungen zum ägyptischen Sultan wiederholt von der Kurie scharf kritisiert wurden, verfugten über gute Handelskontakte nach Ägypten und unterhielten eine große Kolonie in Alexandria. 1 3 Ein vollständiges Verbot des Handels mit Ägypten bestand immer nur vor und während neuerlicher Kreuzzüge, lediglich die Lieferung von Holz zum Schiffsbau und von christlichen Sklaven war durchweg streng verboten und wurde mit dem Bann geahndet." 4 Das hielt die Kaufleute jedoch nicht davon ab, beides nach Ägypten zu verschiffen, zumal weder die Kirche noch die Kreuzfahrerstaaten über die Ressourcen für eine wirksame Kontrolle verfügten. Die verbotenen Waren wurden allerdings in den Exportlisten nicht deklariert: Nach den überlieferten Genueser Notariatsregistern wurden aus Ägypten viele Waren importiert, aber kaum Waren dorthin exportiert; die Haupteinfuhrgüter der Ägypter waren aber tatsächlich Eisen, Holz und Pech, also Schiffsbaumaterial." 5 Beim vierten Kreuzzug 1204 gelang den Venezianern schließlich der entscheidende Schritt bei der Durchsetzung ihrer ökonomischen Interessen, als sie die Schiffe der Kreuzfahrer unter der Führung ihres Dogen Enrico Dandolo nicht nach Ägypten, son-
111
Dies gelang ihnen um so leichter, als keine der syrischen Seestädte von den Kreuzfahrern ohne die Hilfe der italienischen Flotten eroberten werden konnte. Vgl. Wilhelm Heyd, Geschichte des Levantehandels, Bd. 1, S. 160.
112
Vgl. James W. Thompson, Economic and Social History of the Middle Ages, Bd. I, S. 400ff, sowie Hans Eberhard Meyer, Geschichte der Kreuzzüge, S. 85f.
113
Vgl. Wilhelm Heyd, Geschichte des Levantehandels, Bd. 1, S. 452ff. Zur zunehmend schärfer werdenden Kritik der Kirche an den Kaufleuten vgl. S. Schein, From »milites christi« to »mali christiani«. Der Sklavenhandel, auch mit Ägypten, war jedoch keineswegs vollständig verboten, sondern wurde von der Kirche mehrfach ausdrücklich genehmigt, sofern es sich nicht um christliche Sklaven handelte. Allerdings kritisierten insbesondere die Kreuzzugspropagandisten, wie Ramon Lull, den Sklavenhandel wiederholt mit dem Argument, die Kreuzzüge gegen den ägyptischen Sultan und seine verweichlichten Mameluken hätten schon längst Erfolg gehabt, wenn nicht die italienischen Seehandelsstädte ihm fortwährend tartarische Sklaven verkauften, die dann in seinem Heer gegen die Kreuzfahrer kämpften. Vgl. S. Schein, From »milites christi« to »mali christiani«, sowie Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 161.
114
115
Vgl. Hans-Eberhard Meyer, Geschichte der Kreuzzüge, S. 164f.
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dem nach Konstantinopel steuerten. 116 Deutlicher als die überlieferten Handelsdokumente belegt diese Eroberung den Zusammenhang zwischen dem Aufschwung des venezianischen Fernhandels und den Kreuzzügen: Weil die Kreuzfahrer die vereinbarte Summe von 85.000 Silbermark für den Transport nicht aufbringen konnten, waren sie im Prinzip in der Hand der Venezianer, die den Kreuzzug sukzessive auf ein neues Ziel ausrichteten. Im April 1204 wurde Konstantinopel von den Kreuzfahrern erobert und geplündert; die venezianischen Forderungen an das Kreuzfahrerheer wurden mit drei Vierteln der Beute abgegolten. 117 Mit der Eroberung Konstantinopels, das bis 1261 unter venezianischer Herrschaft blieb, hatte Venedig das Tor zum Schwarzen Meer besetzt und kontrollierte damit einen weiteren zentralen Umschlagplatz für Waren aus dem Osten. Bereits 1206 dehnten die Venezianer ihren Handel bis nach Soldaia auf der Krim aus und konnten so den ägyptischen Zwischenhandel für Waren aus dem Osten teilweise umgehen und ihre Gewinnspannen erheblich vergrößern. 118 Gleichzeitig gelang es Venedig, seine inneritalienischen Konkurrenten im Levantehandel, insbesondere Genua und Pisa, zumindest vorübergehend zu schwächen, da es mit Konstantinopel die Zufahrt zum Schwarzen Meer kontrollierte. Um diesen Vorteil auch auf dem italienischen Festland wirksam werden zu lassen, untersagte der Senat von Venedig den venezianischen Kaufleuten, Waren aus Konstantinopel in anderen Adriahäfen als in Venedig zu löschen. 119 Es gelang den Venezianern jedoch nicht, die konkurrierenden Genuesen gänzlich aus dem Schwarzmeerhandel zu verdrängen, denn ihre Flotte war nicht groß genug - zumal ein großer Teil durch die Kreuzfahrer gebunden war - , um das gesamte Mittelmeer unter Kontrolle zu bringen. 120 Auch Genua etablierte sich im Schwarzmeerhandel, wobei es aber, anders als Venedig, keine direkte Kontrolle von Gebieten anstrebte, sondern durch Verträge mit den örtlichen Machthabern seinen Kaufleuten ungestörten Han-
116
Zur Geschichte des Vierten Kreuzzugs vgl.: Hans Eberhard Meyer, Geschichte der Kreuzzüge, S. 170-187, sowie Steven Runciman, Die Geschichte der Kreuzüge, S. 8 8 3 - 9 0 8 . Meyer unterscheidet hinsichtlich der Änderung des Kreuzzugszieles zwischen der „Zufallstheorie" und der „Intrigentheorie", die sich beide auf zeitgenössische Quellen stützen können: Der offiziöse Chronist des Kreuzzuges Godefroy de Villehardouin begründete die Zufallstheorie, wonach die Kreuzritter Konstantinopel nur durch die Verknüpfung unglücklicher Umstände erobert hätten, wohingegen der zypriotische Chronist Ernoul berichtete, die Venezianer hätten einen Handelsvertrag mit den Ägyptern geschlossen und ihnen dafür versprochen, den Kreuzzug nach Byzanz umzuleiten. Die Frage ist bis heute umstritten, hinsichtlich des ökonomischen Ertrages dieses Kreuzzuges besteht jedoch kein Zweifel: Profitiert haben von ihm in erster Linie die Venezianer.
117
Der Anteil von drei Vierteln der Beute entsprach genau jenem Anteil, der dem Kreditgeber bei der Finanzierung einer Handelsreise in der Form der colleganza zustand. Vgl. Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 153. Seinen Anspruch, in der Adria der einzige Stapelplatz zu sein, konnte Venedig weitgehend durchsetzen. 1308 kam es deswegen noch einmal zum Krieg mit Ferrara, den die Venezianer für sich entschieden. Vgl. Frederic Lane, Seerepublik Venedig, S. 106ff. Um die Vorherrschaft im Mittelmeer und im Schwarzen Meer haben Venezianer und Genuesen im 13. und 14. Jahrhundert mehrfach Krieg geführt, ohne daß eine der beiden Städte die Auseinandersetzung nachhaltig für sich entscheiden konnte. Vgl. Frederic Lane, Seerepublik Venedig, S. 125ff„ 137ff. und 265ff.
118 119
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del zu ermöglichen suchte. 121 1261 gelang den Genuesen der große ökonomische Gegenschlag, als sie Michael Palaiologos bei der Rückeroberung von Byzanz finanziell unterstützen und sich dafür neben den üblichen Privilegien den Ausschluß der Venezianer vom Schwarzmeerhandel ausbedangen. Doch auch sie konnten die Konkurrenz nur bis 1265 fernhalten, danach ließ der griechische Kaiser auch die Venezianer wieder 122
zu. Auf den Handelsrouten, die von den Kreuzfahrerstaaten ins Zweistromland, von Ägypten über das Rote Meer bis nach Indien sowie vom Schwarzen Meer aus im Norden bis nach Kiew, im Osten bis China und im Süden ebenfalls bis nach Indien reichten, wurden die Waren transportiert, die in den prosperierenden Städten und an den Höfen des christlichen Europa äußert begehrt waren und teuer bezahlt wurden: Gewürze, pharmazeutische Mittel, Farbstoffe, Seide, Organza (ein sehr feiner, duftiger Stoff, der nach der Stadt in der Nähe des Aral-Sees benannt ist, aus der er importiert wurde), Perlen, Edelsteine und Sklaven. 123 Der Gewürzhandel wurde in erster Linie von den Venezianern dominiert, während die Genuesen im Seidenhandel führend waren. Zur Weiterverarbeitung lieferten die Genuesen ihre Seide nach Lucca, das mit der chinesischen Seide zum bedeutendsten Seidenverarbeitungszentrum in Europa aufstieg. Die europäischen Kaufleute importierten jedoch nicht nur Waren aus dem Osten, sondern sie exportierten auch Waren in den Osten. Leerfahrten in eine Richtung verursachten unnötige Kosten, und sie bedingten außerdem eine negative Handelsbilanz, die man tunlichst zu vermeiden suchte - was freilich nie wirklich gelang. 124 Genuesen und Venezianer lieferten Woll- und Leinenstoffe, Getreide, Salz, Holz, Eisenerz, Waffen und Edelmetalle in den Osten; eine venezianische Exportspezialität waren auch die in Murano hergestellten Kristallwaren sowie mechanische Uhren. 125 Eine Reihe dieser Exportartikel geht aus dem 1264 in Täbris abgefaßten Testament des venezianischen Kaufmanns Pietro Vilioni 121
Zur Frühzeit des genuesischen Schwarzmeerhandels vgl. Georges Bratianu, Recherches sur le commerce génois dans la Mer Noire au XIII siècle, Paris 1929, bes. S. 157ff.
122
Im Vertrag von Ninfeo, den die Genuesen vor der Rückeroberung Konstantinopels mit Michael Palaiologos abschlössen, ließen sie sich für ihre Hilfe einen bevorzugten Status einräumen und die Ausweisung der Venezianer versprechen. 1265 wurden die Venezianer in Konstantinopel jedoch wieder zugelassen, nachdem der griechische Kaiser befand, daß die genuesische Flotte den Preis nicht wert war, den er dafür entrichten mußte. Vgl. Frederic Lane, Seerepublik Venedig, S. 127ff.
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Zu den Handelswaren vgl. immer noch Wilhelm Heyd, Geschichte des Levantehandels, Bd. 2, Anhang: Gegenstände des Austausches zwischen Morgenland und Abendland, S. 550ff. Vgl. auch U g o Tucci, II commercio veneziano, in: Marco Polo, Venezia e l'Oriente, S. 62ff.
124
Trotz der Bemühungen der europäischen Kaufleute, Importe und Exporte in der Balance zu halten, war die negative Handelsbilanz der Europäer eines der entscheidenden Probleme des Orienthandels. Da die gelieferten europäischen Waren meist von geringerem Wert als die eingekauften Luxuswaren des Orients waren, kam es zu einem massiven Gold- und Silberabfluß von Europa nach Asien. Vgl. Marc Bloch, Le problème de l'ôr au Moyen Age, in: Annales 5 (1933), S. 1 - 3 4 .
125
Zu den Kompensationsgeschäften vgl. Jean Favier, Gold und Gewürze, S. 191. Roberto S. Lopez hat die These vertreten, die Europäer hätten in dieser Phase des euro-asiatischen Handels erstmals vorwiegend Rohstoffe importiert und handwerkliche Produkte exportiert. Vgl. I successori di Marco Polo, in: Marco Polo, Venezia e l'Oriente, S. 290.
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hervor. Er hinterließ Stoffe aus Venedig und der Lombardei, Leinwand aus Deutschland und Flandern, Kelche, Kandelaber, Gläser sowie ein kristallenes Schachspiel aus Venedig. Daneben verfügte er aber auch über Perlen, die er vermutlich vor seiner Erkrankung und der Abfassung des Testaments bereits erworben hatte. 126
Reisende und Geldgeber: die Organisation des Fernhandels Die übliche Form der rechtlichen und wirtschaftlichen Organisation des Fernhandels war die in Venedig colleganza und in Genua und anderen Städten commenda genannte Handelsassoziation, die für die Dauer einer Reise gegründet wurde. 127 Dabei lassen sich zwei Formen der commenda unterscheiden: Die erste Form, die Luzzato als die bilaterale commenda bezeichnet hat, setzte sich aus zwei Gesellschaftern zusammen, von denen einer am Ort blieb (stans) und einer auf Handelsreise ging {procertans oder tractans). Der am Ort bleibende Teilhaber steuerte im 12. Jahrhundert zumeist zwei Drittel des eingesetzten Kapitals bei, und der reisende Kaufmann setzte das verbleibende Drittel ein. Mit dem gemeinsamen Kapital erwarb der reisende Partner Waren zum Weiterverkauf in seinem Zielland, und dort oder auf der Rückreise kaufte er die exotischen Waren ein, die er nach seiner Rückkehr verkaufen konnte. Der Gewinn wurde danach zwischen den Partnern zu gleichen Teilen aufgeteilt. Ab dem 13. Jahrhundert setzte sich zunehmend die unilaterale commenda oder commenda proprio durch, bei der der stans das gesamte Kapital beisteuerte und dafür drei Viertel des Gewinns erhielt. 128 Um sein Kapital zu erhöhen, schloß der tractans meist mit mehreren Partnern colleganze, während der stans, um sein Risiko zu minimieren, sein Kapital auf mehrere colleganze verteilte. Der Risikominimierung für den investierenden Partner diente auch die Gründung von Versicherungen, wie die Seeversicherung und die Karawanenversicherung, die bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts dokumentiert sind und im 14. Jahrhundert allgemein üblich wurden. 129 Auf Reisen gingen in der Regel die kleinen, kapitalschwächeren Kaufleute, während die großen, wohlhabenden Kaufleute ab dem 13. Jahrhundert weitgehend seßhaft waren und nur noch ihr Kapital in Bewegung hielten. Die commenda wandelte sich damit von einer gemeinsamen Handelsunternehmung weitgehend zu einer Kreditbeziehung, mit dem Unterschied, daß der Kreditnehmer dem Kreditgeber nicht einen festgesetzten Zinssatz zahlte, sondern drei Viertel des erzielten Gewinnes schuldete. 130 Um die Höhe des Gewinnes zu ermitteln, mußte der tractans dem stans eine Aufstellung über die eingekauften und verkauften Waren und den dabei erzielten Differenzgewinn erstel-
126
127 128 129 130
Testamento di Pietro Vioni veneziano fatto a Tauris, Persia, MCCLXIV, X Dicembre, hg. von B. Cecchetti, in: Archivio Veneto 26 (1883), S. 161-165. Vgl. auch Luciano Petech, Les marchands italiens, S. 560. Vgl. Luciano Petech, Les marchands italiens, S. 55Iff., Frederic C. Lane, Seerepublik Venedig, S. 93 ff. Vgl. Gino Luzzatto, La commenda nella vita economica. Vgl. Raymond de Roover, The Commercial Revolution of the Thirteenth Century, in: Bulletin of the Business Historical Society 16 (1942), S. 34f. Vgl. Luciano Petech, Les marchands italiens, S. 551.
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len und dies mit einem Eid beschwören. 131 Vom 13. Jahrhundert an gründeten bedeutendere Kaufmannsfamilien und die großen Handelsgesellschaften zunehmend ausländische Niederlassungen, über die der Handel bequemer abgewickelt und weitgehend der eigenen Kontrolle unterstellt werden konnte. Zumeist wurden diese Niederlassungen von den Söhnen des Kaufmanns oder nahen Verwandten geführt, die mit dem Hauptsitz der Gesellschaft in ständigem brieflichen Kontakt standen und ihren Umsatz gegenüber der Muttergesellschaft durch eine laufende Buchführung auswiesen, bei der Soll und Haben gegenübergestellt wurden. 132 Freilich ließ sich der Ausbau eines Filialnetzes in großem Stil nur innerhalb Europas realisieren und war eher eine Domäne der toskanischen Binnenstädte, wie Florenz, bei denen Handel und Bankwesen Hand in Hand gingen. Eine ähnliche Entwicklung zeichnete sich im 14. Jahrhundert jedoch auch im venezianischen Levantehandel mit Konstantinopel und Zypern ab, als der tractans der commenda zunehmend vom Kommissions-Agenten abgelöst wurde, der anstelle eines Anteils am Gewinn eine Umsatzprovision erhielt. Er war kein kreditnehmender merchant adventurer mehr, 133 sondern ein angestellter Handelsagent, der auf Rechnung und nach Anweisung der von ihm vertretenen Gesellschaft Waren kaufte und verkaufte. 134 Diese Form der Geschäftsorganisation setzte jedoch einen geregelten Briefverkehr zwischen den Gesellschaftern und ihren Agenten voraus und blieb daher weitgehend dem Handel mit den Küstenstädten des Mittelmeers vorbehalten, mit denen ein regelmäßiger Schiffsverkehr bestand. Nur bei geregeltem Briefverkehr nämlich war es möglich, dem Kommissionsagenten laufend Anweisungen zu erteilen und Frachten zum Verkauf an ihn zu schicken oder sich von ihm schicken zu lassen. 135 Im Schwarzmeerhandel waren solche Organisationsformen seit der Mitte des 13. Jahrhunderts üblich; so hatten die Venezianer in Soldaia auf der Krim und später in Tana an der Mündung des Don ins Asowsche Meer eine feste Kaufmannskolonie, und die Genuesen hatten in Caffa auf der Krim wohl die größte Schwarzmeerkolonie überhaupt. Auch in Täbris, im Reich der Ilkhane, dürfte spätestens seit Mitte des 13. Jahrhunderts eine genuesische Kaufmannskolonie bestanden haben. 131 132
133
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Vgl. Gino Luzzatto, La commenda nella vita economica. Raymond de Roover hat den Gesamtkomplex dieser Ende des 13. Jahrhunderts sich durchsetzenden Neuerungen als commercial revolution bezeichnet. Vgl. Raymond de Roover, The Commercial Revolution (wie Fn. 148). Der bis heute als Synonym für den wagemutigen und zugleich rational kalkulierenden Kaufmann verwendete Begriff des merchant adventurer geht ursprünglich auf die im 12. Jahrhundert gegründete englische Society of the Merchant Adventurers zurück. Wenn er jedoch bis in die jüngste Forschung als der Inbegriff des spätmittelalterlichen Fernhandelskaufmanns betrachtet wird, so verkennt dies, daß die zunehmende Prosperität des Handels in der Abgeschlossenheit des Kontors und nicht im Abenteuer der Seidenstraße begründet wurde: Die commercial revolution des 13. Jahrhunderts machte den merchant adventurer zu einer Randfigur des Handels. Vgl. Frederic Lane, Seerepublik Venedig, S. 217. Mit dem Einsatz von Kommissionsagenten ging die Entwicklung des Frachtbriefes (Konossement) Hand in Hand, der sicherstellte, daß die vom Kaufmann an den Agenten oder umgekehrt gesandten Waren auch wirklich ihren Empfänger erreichten. Vorwiegend aufgrund dieser Frachtbriefe lassen sich der Warenumschlag und das Geschäftsvolumen des Mittelmeerhandels rekonstruieren. Vgl. Frederic Lane, Seerepublik Venedig, S. 219.
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Der Fernostasienhandel blieb aber bis weit ins 14. Jahrhundert von der Verbindung zwischen reisendem und finanzierendem Kaufmann in der colleganza abhängig und war mit einem erheblich höheren Risiko verbunden. Dabei spielte neben der Unsicherheit der Handelswege und des Schiffsverkehrs nicht zuletzt der Umstand eine Rolle, daß es schwierig war, die Höhe der Gewinne, die der reisende Handelspartner tatsächlich gemacht hatte, zu kontrollieren. Aus Genua wie Venedig sind zahlreiche Gerichtsakten überliefert, in denen die stillen Partner einer colleganza/commenda ihren reisenden Partner verklagten, weil sie ihm unterstellten, er habe den wirklich erzielten Gewinn zu klein angegeben oder aber gänzlich unterschlagen, indem er fälschlich behauptete, er sei durch den Untergang seines Schiffes oder einen Überfall auf seine Karawane seiner Waren verlustig gegangen.136 Was für die kreditgebenden Kaufleute ein Problem gewesen sein mochte, ist für die historische Rekonstruktion der wirtschaftlichen Organisation des Fernhandels von unschätzbarem Vorteil: Der größte Teil der überlieferten Dokumente, denen Genaueres über solche Gesellschafterverträge und ihren Inhalt zu entnehmen ist, sind Gerichtsakten, die zustandekamen, weil der seßhafte Kaufmann seinen Handelspartner verklagte oder aber von dessen Nachkommen die Herausgabe seines Gewinnanteils verlangte, wenn der Kaufmann auf der Reise verstorben war. Während die teilweise in großem Umfang - soweit sie, wie in Genua, in den Staatsarchiven aufbewahrt wurden - überlieferten Notariatsakten zumeist nur sehr ungenaue Informationen über den Gegenstand der notariell beglaubigten commenda enthalten, weil häufig selbst vor dem Notar das Ziel der Reise wie die Handelswaren verschwiegen wurden, bieten die wenigen Gerichtsakten einen relativ genauen Überblick über die Höhe des eingesetzten Kapitals, die angestrebten Reiseziele, die Handelspartner etc.137 Sehr genau ist beispielsweise der Fall des venezianischen Kaufmanns Giovanni Loredan dokumentiert, der 1338 mit fünf anderen Kaufleuten von Venedig nach Delhi aufbrach, nachdem er erst kurz 138
zuvor aus China zurückgekehrt war. In einer gemeinsamen Unternehmung, bei der aber jeder von ihnen auf eigene Rechnung arbeitete, wollten die Kaufleute mit einem indischen Fürsten Handelsbeziehungen aufnehmen und nahmen zu diesem Zweck mechanische Wunderwerke, wie eine Standuhr und einen Springbrunnen, sowie Florentiner Stoffe mit, um sie dem Fürsten zu „schenken".139 Giovanni Loredan starb jedoch bereits auf der Hinreise, und so übernahm sein Bruder Paolo, der an der Unternehmung ebenfalls beteiligt war, seine Handelswaren und reiste mit den anderen weiter nach Delhi. Dort erfüllten sich ihre Hoffnungen auf einen großen Gewinn tatsächlich, denn der Sultan gab ihnen für ihre Waren einen Gegenwert von 200 000 Bezants, was einem Wert von 7 500 venezianischen Lire entsprach. Davon wurden zwar zehn Prozent als Steuern 136 137
138
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Vgl. Roberto S. Lopez, European Merchants, S. 180. Eine große Zahl solcher Notariatsakten ist dokumentiert in: Roberto S. Lopez/ Irving W. Raymond: Medieval Trade in the Mediterranean World. Illustrative Documents translated with introductions and notes, N e w York 1955. Vgl. Roberto S. Lopez, European Merchants, S. 174-180. Die nachfolgende Zusammenfassung des Falls stützt sich auf seine mit zahlreichen Zitaten aus den Originaldokumenten belegte Darstellung. Handelstransaktionen mit orientalischen Fürsten wurden in der Regel als Austausch von Geschenken dargestellt.
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einbehalten und ein weiteres Prozent mußte an den obersten Hofbeamten abgeführt werden, aber der Gewinn war dennoch enorm.140 Die Kaufleute erwarben für etwa 100 000 Bezants Perlen, die sie auf der Rückreise in Urgentsch, wo sie sich wahrscheinlich trennten, zu gleichen Teilen untereinander aufteilten, während das verbliebene Geld nach den Anteilen des eingesetzten Kapitals aufgeteilt wurde. Nach seiner Rückkehr zahlte Paolo Loredan den Erben seines Bruders dessen Anteil am Gewinn aus, und damit war die geschäftliche Transaktion beendet. Über sie wären außer aus einer vor der Abreise ausgefertigten belanglosen Notariatsurkunde niemals Einzelheiten überliefert worden, wenn nicht Giovannis Schwiegervater dessen minderjährige Söhne, also seine Enkel, auf die Herausgabe von drei Vierteln des erzielten Gewinnes verklagt hätte. Der entscheidende Streitpunkt war, ob Giovanni Loredan bei seinem Schwiegervater, Alberto de Calli, der ihm Geld für die Reise geliehen hatte, lediglich eine See-Anleihe aufgenommen hatte, die nur zur Rückzahlung des eingesetzten Kapitals mit einem festgesetzten Zins verpflichtete, oder ob sie eine colleganza begründet hatten, die dem Kreditgeber drei Viertel des erzielten Gewinns zusprach. Um die Höhe des tatsächlich erzielten Gewinns zu ermitteln, der von den Vormündern der noch minderjährigen Söhne als nur sehr gering angegeben worden war, wurden die beteiligten Kaufleute in den Zeugenstand gerufen, und auf diese Weise entstand eine relativ ausfuhrliche Darstellung der Handelsreise - ausführlich allerdings nur im Hinblick darauf, was wo ge- oder verkauft worden war, welche Gewinne erzielt worden waren, etc. Weitere Umstände der Reise, selbst die des Todes von Giovanni Loredan wurden - dem Grund des Verfahrens entsprechend - nicht der Erwähnung für Wert befunden. Alberto de Calli gewann den Prozeß, und so blieb den Erben nur ein Viertel des nach Abzug aller Unkosten ohnehin erheblich zusammengeschrumpften Gewinns.
Verschriftlichung, Schrifllichkeit und Beschreibung Die viel beschriebene „Verschriftlichung des Handels" im 13. und M.Jahrhundert brachte zwar eine enorm wachsende Zahl von Schriftstücken mit sich, aber diese Schriftstücke waren zum größten Teil Mittel des Tagesgeschäfts, wie Briefe mit Anweisungen an den Agenten einer Sozietät, ausgestellte Wechsel, die Eintragung von Soll und Haben in das Hauptbuch einer Sozietät, Frachtbriefe etc. Erhalten ist von diesen Schriftstücken fast nichts: Der Orderbrief konnte weggeworfen werden, wenn die Anweisung ausgeführt war, der Wechsel wurde vernichtet, wenn er gezogen war, der Frachtbrief verschwand, wenn die Fracht angekommen und überprüft war.141 Selbst von den berühmten Hauptbüchern, die der Einführung der doppelten Buchführung und der Kontokorrentfüh140 141
Zu den genannten Währungen und ihren Austauschrelationen vgl. Carlo Cipolla, Money, Prices and Civilisation in the Mediterranean World. Fifth to Seventeenth Century, Princeton/N. J. 1956. Die wohl bekannteste und bedeutendste Ausnahme bildet die Korrespondenz des Pratenser Kaufmanns Francesco di Marco Datini aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die fast vollständig überliefert ist und nahzu 150 000 Schriftstücke umfaßt, die von seinen Geschäftsbriefen und Handelsunterlagen bis zu seiner privaten Korrespondenz reichen. Vgl. Iris Origo, Im Namen Gottes und des Geschäfts, München 1985.
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rung zu verdanken sind und den gesamten Waren- und Geldverkehr einer Sozietät verzeichneten, ist erst aus dem späten 15. Jahrhundert ein Exemplar Uberliefert, obwohl sie mehr als hundertfünfzig Jahre früher bereits verwendet wurden. 142 Von den Notariatsurkunden, mit denen commende/colleganze beglaubigt wurden, ist nur ein erheblich geringerer Teil überliefert, als tatsächlich ausgefertigt wurden. Nach den ebenfalls nur zum Teil überlieferten Notariats-Imbreviaturen, in denen sämtliche ausgefertigte Urkunden verzeichnet sind, wurde eine erhebliche Zahl solcher Geschäfte beurkundet, aber da es sich um Termingeschäfte handelte, gab es, anders als bei Grundstücksgeschäften, keinen Grund für die längerfristige Verwahrung der Unterlagen. 143 Auch wo sie überliefert sind, lassen diese Urkunden weder einen Rückschluß auf die Erfahrungen der reisenden Kaufleute noch auf ihr Wissen über die bereiste Fremde zu. Ausführlichere Selbstauskünfte bieten zwar, wie das Beispiel von Giovanni Loredan zeigt, überlieferte Gerichtsakten, aber deren narrativer Gehalt beschränkt sich auf die Umstände des Streitfalles und gewährt daher nur einen überaus begrenzten Einblick in die Erfahrung der Fremde bei der Gruppe, die vermutlich im größten Umfang über solche Erfahrungen verfügte.' 44 Ob die mongolischen Eroberungen von 1235-1241 die europäischen Fernhandelskaufleute in ähnlichen Schrecken versetzten wie die kirchlichen Chronisten, den Kaiser, den Papst und die osteuropäischen Fürsten, ist nicht bekannt: Es gibt keine den Briefen der umherziehenden Mönche und den in die Chroniken aufgenommenen Berichten vergleichbaren Nachrichten aus den Kreisen europäischer Fernhandelskaufleute. Während im klerikal-herrscherlichen Informationsnetz die Zirkulation der Nachrichten nahezu die Dichte und das Tempo der mongolischen Reiterhorden erreichten, herrschte bei den Fernhandelskaufleuten Schweigen - jedenfalls müßte man das aus der Überlieferungslage schließen. Kein Brief, kein Bericht eines abendländischen Fernhandelskaufmanns ist überliefert, der über den Informationsstand, die Erklärungsmuster, die Ängste oder Erwartungen der Kaufleute um 1240 Auskunft geben könnte. Informationen über die kriegerischen Ereignisse im Osten muß es bei den Fernhandelskaufleuten aber zweifellos gegeben haben, denn über die Handelsstraßen, an deren Enden in Konstantinopel, der Levante und Ägypten sich die italienischen Kaufleute festgesetzt hatten, wurden neben den orientalischen Waren sicherlich auch Nachrichten transportiert, und wenn es nur die Erklärungen dafür waren, warum Karawanen ausfielen, warum bestimmte Waren plötzlich ausblieben, warum manche Routen derzeit nicht begehbar waren usf. Ab wann abendländische Kaufleute in direkten Kontakt mit den mongolischen Eroberern traten,
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Vgl. Jacques Bernard, Handel und Geldwesen im Mittelalter, S. 211. Die reguläre Führung eines Hauptbuches (libro mastro oder quaderno grande) mit täglichen Einträgen war eng an die Messung der Zeit gebunden. Vgl. Jacques Le Goff, Zeit der Kirche und Zeit des Händlers im Mittelalter, S. 401 f. Vgl. zum Problem der Überlieferung: Arnold Esch, Überlieferungs-Chance und ÜberlieferungsZufall. Esch weist in seiner Untersuchung am Beispiel der aus Lucca überlieferten Urkunden darauf hin, daß die archivalische Überlieferung den Handel unterrepräsentiert, während sie den Grundbesitz überrepräsentiert: „Urkundliche Überlieferung macht das Mittelalter noch agrarischer, als es ohnehin schon ist" (S. 44). Kaufleute dürften die zahlenmäßig stärkste Gruppe unter den Ausländern in China gebildet haben. Vgl. Herbert Franke, Westöstliche Beziehungen, S. 100.
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läßt sich aufgrund des Fehlens narrativer Dokumente nicht eindeutig feststellen. Daß es solche Kontakte aber bereits vor 1240 gegeben hat, ist sehr wahrscheinlich, da das auf der Krim gelegene Soldaia, wo seit 1206 venezianische Kaufleute urkundlich belegt sind, 1223 von den Mongolen erstmals geplündert und 1239 endgültig eingenommen wurde; seitdem entrichtete die Stadt Tribut an die Khane der Goldenen Horde. Vermutlich haben die Kaufleute unter den mongolischen Eroberungen aber kaum merklich gelitten; jedenfalls ging die Menge der nach Europa transportierten Waren, so weit sie sich rekonstruieren läßt, nicht zurück, und die italienischen Seehandelsstädte expandierten während des gesamten 13. Jahrhunderts ungebrochen. 145 Das hing zum einen mit der größeren Sicherheit der Wege nach Ostasien zusammen, zum anderen waren fremde Kaufleute bei den Mongolen gerne gesehen und genossen einen gewissen Schutz. Vielleicht war es dieser Schutz, auf den sich Eldschigidei in seinem Brief an Ludwig IX. bezog, als er betonte, daß er den Christen seinen Schutz gewähre und sie von Wegsteuern und Abgaben befreit habe. 146 Ob die häufig angeführte pax mongolica freilich der entscheidende Grund für den Aufschwung des europäischen Handels im 13. Jahrhundert war oder ob es vielmehr dessen effektivere Organisation durch die neuen Geschäftsmethoden war, läßt sich nicht mit Gewißheit klären; sicher ist jedoch, daß die Mongolen, die sich selbst nicht als Femhändler betätigten, eine überaus permissive Handelspolitik betrieben. 147 Schon unter Khan Ögödei betrachteten sie den Handel als eine der Hauptstützen des mongolischen Reiches, weil sie mittels eines gut organisierten Zoll- und Abgabensystems selbst erheblich davon profitierten. 148 Carpini begegnete bereits 1247 in Kiew genuesischen, venezianischen und pisanischen Kaufleute, die per tartaria dorthin gereist waren, und Rubruk war von abendländischen Kaufleuten bei den Mongolen angekündigt worden. 149 Sie hatten ihn auch beraten, welche Route er einschlagen und welcher Transportmittel er sich bedienen solle. Rubruk reiste nach diesen Ratschlägen von Konstantinopel über das Schwarze Meer nach Sol145
Vgl. Gino Luzzatto, Storia economica di Venezia, S. 205ff.; Jacques Bernard, Handel und Geld-
146
Mitgemeint waren daneben aber auch orthodoxe und nestorianische Christen, denn in dem Brief
wesen im Mittelalter, S. 186ff. war auch v o m Wiederaufbau zerstörter christlicher Kirchen die Rede und davon, daß die Gebetsbretter, w i e es bei den griechischen Christen und Nestorianern üblich war, wieder geschlagen werden sollten. D i e Gebetsbretter haben sowohl Carpini als auch Rubruk beschrieben; vgl ed. Menestò, S. 327; ed. Wyngaert, S. 209. 147
Vgl. Folker E. Reichert, Begegnungen mit China, S. 83f., der eher die commercial die pax mongolica
revolution
als
als Ursache für den A u f s c h w u n g der italienischen Handelsstädte betrachtet.
Alfred E. Lieber hat beides miteinander verknüpft und die These vertreten, daß die neuen Handelsmethoden ebenfalls aus dem Osten und aus Arabien importiert wurden. Vgl. Alfred E. Lieber, Eastern Business Practices and Medieval European Commerce, in: Economic History Rev i e w 21 ( 1 9 6 8 ) , S. 2 3 0 - 2 4 3 . Die positiven Effekte der pax mongolica
hat auch U g o Tucci (II
c o m m e r c i o veneziano e l'Oriente al tempo di Marco Polo, in: Marco Polo, Venezia e l'Oriente, S. 5 6 f f . ) hervorgehoben, während Herbert Franke (Westöstliche Beziehungen, S. 91 f.) sie als Klischee bezeichnet hat. 148
Vgl. Bertold Spuler, Die M o n g o l e n im Iran, S. 430ff.
149
Vgl. ed. Menestò, S. 332. Carpini führte diese Kaufleute als Zeugen dafür an, daß er wirklich bei den Tartaren g e w e s e n sei.
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daia und von dort aus auf einer der Handelsrouten nach Sarai an der südlichen Wolga und weiter zu Khan Sartaq. Der Minderbruder reiste im langsamen Tempo eines mit seinen Waren schwer bepackten Fernhandelskaufmanns, denn die Kaufleute hatten ihm auch empfohlen, er solle sich in Soldaia Wagen mit Ochsengespannen kaufen, damit er seine Sachen darin verstauen könne. Was für die Kaufleute vermutlich das übliche Transportmittel und insofern von Vorteil war, als sie ihre Waren bei der Benutzung von eigenen Wagen nicht mehrmals umladen mußten, war für einen - offiziellen oder inoffiziellen - Gesandten, der sein Ziel schnell erreichen wollte, jedoch von Nachteil: „Tunc acquivi consilio eorum, malo tamen, quia fui in itinere usque Sartach duobus mensibus, , , ... . cc 150 e quod potuissem confecisse uno mense si lvisssem cum equis.
Brauchbar war für den Bettelmönch dagegen ihr Rat, er solle aus Konstantinopel getrocknetes Obst, Muskatellerwein und Zwieback als Geschenk für die jeweiligen örtlichen Befehlshaber mitnehmen, damit ihm die Durchreise gestattet würde, „quia nullus apud eos respicitur rectis oculis qui venit vacua manu". 151 Aus solchen Hinweisen läßt sich einiges über den Handel und das daraus resultierende Wissen der Kaufleute erschließen: Sie kannten die Routen zu den Städten und den mongolischen Herrschern östlich des Schwarzen Meers; sie bereisten diese Routen offensichtlich selbst, denn die Empfehlung des Transportmittels mit der dazugehörigen Begründung, läßt auf eigene Reiseerfahrung schließen; sie standen in gutem Kontakt mit den Mongolen, denn sonst hätten sie Rubruk nicht ankündigen können; sie wußten, wie man mit den örtlichen Machthabern umgehen mußte, damit man ungehindert passieren konnte und welche Produkte bei den Mongolen beliebt, zugleich aber in Konstantinopel billig zu erwerben und leicht zu transportieren waren. Sie verfügten zu diesem Zeitpunkt also bereits über ein erhebliches Wissen im Umgang mit den Mongolen, das sie geschickt einzusetzen wußten und bei Nachfrage auch weitergeben konnten. Offensichtlich war es den Kaufleuten sehr rasch gelungen, sich an die Gegebenheiten unter den mongolischen Machthabern zu akkomodieren und unproblematisch funktionierende Kulturbeziehungen herzustellen. Aber das daraus resultierende Wissen war eben kaum ein Wissen über die Mongolen, sondern ein Wissen darüber, wie man sich gegenüber den Mongolen verhalten und den örtlichen Gegebenheiten anpassen mußte, um Handel treiben zu können. Dieses Wissen drängte nicht zur Verschriftlichung, es konnte innerhalb der Kompanie mündlich oder brieflich weitergegeben werden, weder seine Aufbewahrung in der Stabilität eines verregelten Diskurses noch seine Zirkulation waren erforderlich oder auch nur erwünscht. Die Kontinuität dieses praxisorientierten Wissens wurde nicht durch die Schrift, sondern durch die Ausbildung der nachfolgenden Kaufmannsgeneration gesi-
150
151
ed. Wyngaert, S. 169. „Also folgte ich ihrem Rat, der jedoch schlecht war, denn auf diese Weise war ich für die Strecke zu Sartach zwei Monate unterwegs, die ich in einem Monat hätte schaffen können, wenn ich zu Pferd gereist wäre." Zum unterschiedlichen Reisetempo von Kaufleuten und Gesandten vgl. James W. Thompson, Economic and Social History, S. Bd. 2, S. 574. Nachdem Khan Batu ihn an den Großkhan weiter verwiesen hatte, zog Rubruk es vor, zu Pferd zu reisen - was ihm die Ordensregel prinzipiell verbot. Vgl. ed. Wyngaert, S. 220. ibid. „...weil bei ihnen keiner mit rechten Augen angesehen wird, der mit leeren Händen kommt."
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chert, die ihr Geschäft nicht schriftgestützt-theoretisch, sondern praktisch in den Kontoren und Filialen oder durch die Mitnahme auf Geschäftsreisen erlernte. 152 Selbst in den Fällen, wo europäische Fernhandelskaufleute sich über ihre Geschäftspraktiken hinaus in der Vermittlung zwischen mongolischen und europäischen Herrschern betätigten, verschriftlichten sie selbst darüber nichts. Im September 1289 erschien der Genueser Kaufmann Buscarello dei Ghisolfi mit seinem Bruder Percivalle und seinem Neffen Corrado im Auftrag des persischen Ilkhans Arghun beim Papst. Als Gesandter des Ilkhans überbrachte er dem Papst ein Schreiben und unterbreitete ihm Vorschläge für ein Bündnis gegen die Sarazenen, um diese in einer gemeinsamen Aktion von zwei Seiten angreifen zu können. Der Papst schickte Buscarello zum englischen König weiter, der sich gerade zum Kreuzzug rüstete und deshalb ein geeigneter Adressat für den Vorschlag war. Buscarello begab sich aber zunächst nach Paris, wo er Philipp dem Schönen Arghuns Brief überreichte. Darüber hinaus unterrichtete er den König mündlich über die Details der Vorschläge, die gemäß den diplomatischen Gepflogenheiten in dem Anschreiben nicht enthalten waren. Danach begab er sich unverzüglich weiter nach England zu Eduard I. und unterbreitete auch ihm die Vorschläge des persischen Ilkhans. Die Antworten der europäischen Herrscher waren zunächst zurückhaltend und wurden erst mit dem Fall von Akkon im März 1291 entgegenkommender, ohne freilich tatsächlich in ein konkretes Bündnis zu münden. Zwischen 1295 und 1304 trat Buscarello wiederholt als Gesandter der Ilkhane in Europa auf, was in den Archiven der Höfe, die er aufsuchte, um die Botschaften des Ilkhans zu übermitteln, wohl dokumentiert ist.153 Von Buscarello dei Ghisolfi selbst aber ist keine Zeile überliefert, obwohl er doch zweifellos nicht nur über Kaufmanns-, sondern darüber hinaus über Herrschaftswissen im genuinen Sinne verfügt haben muß. Buscarello war vermutlich mit den Ilkhanen so vertraut wie nur wenige Kaufleute, aber Vertrautheit war offensichtlich keine hinreichende Bedingung für Beschreibung. Ähnliches gilt für den genuesischen Kaufmann Andalö da Savigone, der 1338 im Auftrag des Großkhans zum Papst reiste, um die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Papst und dem Großkhan zu erneuern. Der Papst reagierte auf die Bitte mit der Aussendung seines Gesandten Johannes von Marignola an der Spitze einer größeren diplomatisch-missionarischen Delegation, für die der Genueser Kaufmann in Venedig Pferde und Kristallwaren als Gastgeschenke erwarb und sich um die zu ihrer Ausfuhr erforderlichen Exportgenehmigungen beim venezianischen Senat kümmerte. In Neapel traf er danach mit Johannes von Marignola zusammen und begleitete ihn und seine Delegation auf ihrer Reise in den Osten. 154 Andalö über-
152
Zur Ausbildung des mittelalterlichen Fernhandelskaufmanns vgl. Erich Maschke, Das Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Fernhandelskaufmanns, in: Die Stadt des Mittelalters, hg. von Carl Haase, Bd. 3, Darmstadt 1973, S. 177-216, hier S. 212, sowie Hanns-Peter Bruchhäuser, Kaufmannsbildung im Mittelalter, Köln/Wien 1989, bes. S. 115ff. Bruchhäuser, dessen vornehmlicher Untersuchungsgegenstand zwar die norddeutschen Kaufleute, insbesondere die Hanse, sind, dessen Ergebnisse sich aber weitgehend verallgemeinern lassen, zeigt, daß sich formale, schriftgestützte Qualifizierungsprozesse in der Kaufmannsausbildung erst im 15. Jahrhundert durchzusetzen beginnen.
153 154
Vgl. Luciano Petech, Les marchands italiens, S. 563f. Vgl. ibid., S. 554f.
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brachte, kaufte, organisierte - aber über seine Kontakte zu den mongolischen Herrschern hinterließ er keine einzige Zeile. Sein Name ist nur überliefert, weil er in päpstlichen und venezianischen Archiven auftaucht. Was das Wissen der päpstlichen und königlichen Gesandten von dem der Kaufleute am stärksten unterscheidet, ist daher weniger der wagende Geist des Kaufmanns gegenüber dem ängstlichen Festhalten der Mönche am biblischen Buchstaben oder die Unkenntnis ökonomischer Gegebenheiten bei den Mönchen als vielmehr die spezifische Beziehung zur Schrift: Während die ausgesandten Mönche Wissen sammelten, um es zu verschriftlichen und zu verbreiten, erwarben die Kaufleute Wissen, um es anzuwenden. Die Mönche transportierten Wissen, die Kaufleute transportierten Waren. Das heißt einerseits, daß die Kaufleute ein begründetes Interesse daran hatten, ihr Wissen geheimzuhalten, andererseits aber auch, daß sie nicht an jenem Diskurs partizipierten oder gar zu seiner Formierung beitrugen, in dem das Wissen über die Fremde verschriftlicht und tradiert wurde. Zweifellos verfügten die Kaufleute über ein erhebliches Maß an Erfahrung im Umgang mit den Mongolen, was auch ein Wissen über deren Herrschaftsorganisation, die Sitten und Gebräuche der bereisten Länder sowie dem gegenüber abendländischen Reisenden zu erwartenden Verhalten einschließen mußte, aber diese Erfahrung wurde nicht narrativiert und läßt sich nur aus wenigen juristischen Dokumenten erschließen oder indirekt aus den Berichten der Gesandten und Missionare. 155 Kaufmannshandbücher, die einen genaueren Einblick bieten könnten, sind von reisenden Fernhandelskaufleuten selbst nicht überliefert. Das einzige Exemplar eines Kaufmannshandbuches, das unter anderem die Route nach Cathay beschreibt, ist die Pratica della Mercatura des Florentiners Francesco Balducci Pegolotti. 156 Pegolotti selbst aber hat diese
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Roberto S. Lopez hat bereits in einer frühen Untersuchung darauf hingewiesen, daß unsere Kenntnisse über den Orienthandel bis hin zu den Namen von Fernhandelskaufleuten abgesehen von wenigen juristischen Dokumenten in erster Linie auf den Berichten von Gesandten und Missionaren beruhen. Als Ausnahmen betrachtet er Marco Polo und Francesco Balducci Pegolotti und konstruiert von da aus eine merkwürdige Differenz zwischen venezianischen und florentinischen Kaufleuten einerseits und genuesischen Kaufleuten andererseits: „The reason, 1 believe, lies in the différence between the open and talkative Venetians and Florentines, fond of any social gatherings, and the individualistic, taciturn, and reserved Genoese" (European Merchants, S. 168). Luciano Petech (Les marchands italiens, S. 551) hat ebenfalls betont, daß das Fehlen des narrativen Elements bei den Orientkaufleuten bemerkenswert sei, dies jedoch auf den Charakter der überlieferten Dokumente zurückgeführt:„A peu d'exception près, ce qui fait défaut dans les chartes vénitiennes et génoises c'est l'élément narratif, qui d'ailleurs reste exclu par la nature m ê m e du document." Vgl. zum Problem der Quellen in der jüngsten Forschung insbesondere die A u s f ü h r u n g e n von Folker E. Reichert, Begegnungen mit China, S. 80f. und Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 152f. Reichert spricht explizit von „den sogenannten Überresten" (S. 152) als den nahezu einzigen Quellen für unsere Kenntnisse des Ostasienhandels. Den Aspekt der gezielten Geheimhaltung des Wissens als Grundlage des Handels haben alle gleichermaßen und sicherlich zu Recht betont. Vgl. hierzu auch Mary Helms, Ulysses' Sail, S. 242.
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Pegolottis Handbuch ist in einer einzigen Handschrift von 1472 überliefert, die von einem Mitglied der Familie Frescobaldi aus einer früheren Kopie abgeschrieben wurde. Vgl. Allan Evans, Introduction zu: Francesco Balducci Pegolotti, La Pratica della Mercatura, ed. Allan Evans, S. XI. Roberto S. Lopez hat bereits d a r a u f h i n g e w i e s e n , daß die Cathayroute in der Beschreibung
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Route niemals begangen, er war einer der leitenden Bevollmächtigten des mächtigen Florentiner Bank- und Handelshauses der Bardi, einem der größten Bank- und Handelshäuser Europas, dessen Filialen in England und Zypern er nacheinander leitete. 1331 wurde er in Florenz zum Gonfaloniere di compagna gewählt und gehörte damit der Signoria der Stadt an. Offensichtlich war er bei den Bardi eher für den Handel als für die finanziellen Transaktionen zuständig, zu denen enorme Kredite für den englischen König gehörten, deren einseitige Annullierung 1345 schließlich zum Zusammenbruch des Bankhauses führte. Pegolotti verfaßte sein Handbuch zwischen 1310 und 1340, als die Bardi auf dem Höhepunkt ihrer finanziellen und ökonomischen Macht standen und überall in Europa und der Levante kauften, verkauften und finanzierten. Sein Handbuch gibt einen umfassenden Überblick über den italienischen Handel vom Ostufer des Schwarzen Meeres bis nach England und verzeichnet die Handelswaren, Preise, Zölle, Umrechnungskurse von Maßen, Gewichten und Währungen sowie die Handelsrouten. Zu diesen Handelsrouten gehörte auch die Route von Tana nach China, die Pegolotti wohl als die äußerste Ausdehnung des Levantehandels begriff und in einer knappen Auflistung der Stationen und Wegstrecken verzeichnete. Im Anschluß daran gab er zwar noch einige Hinweise für den reisenden Kaufmann, aber diese Hinweise beschränkten sich auf die wenigen für Kaufleute relevanten Besonderheiten, wie das Problem der Wegesicherheit und das in China gebräuchliche Papiergeld. 157 Die Reisewege, so hob er hervor, seien überaus sicher, außer in den Zeiten, wenn der Herrscher gestorben und sein Nachfolger noch nicht bestimmt worden sei. Problematisch sei es auch, wenn der Kaufmann auf dem Weg sterbe, weil sein Geld und seine Waren dann von staatlichen Stellen eingezogen würden - wenn aber sein Bruder oder einer seiner Gefährten, der sich als sein Bruder ausgebe, bei den entsprechenden Stellen vorspreche, bekomme er alles wieder ausgehändigt. Der Abschnitt steht unter der Überschrift „cose bisognevoli a mercatanti che vogliono fare il sopradetto viaggio del Gattaio", „was Kaufleute wissen müssen, die die obengenannte Reise nach Cathay machen wollen". Für Pegolottis Verzeichnis von Handelsrouten, -waren und -plätzen gilt damit, was Jochen Hoock auch noch für die Kaufmannsmanuale des 16. Jahrhunderts konstatiert hat: „Die Informationen zu den Usancen an den einzelnen Plätzen oder in bestimmten Provinzen lieferten eine Fülle von Orientierungshilfen, aber keine umfängliche Beschreibung des betroffenen Raums."' 5 8 Das Wissen, das Pegolotti ausbreitete, war instrumentelles, kein kategoriales Wissen. Es richtete sich gezielt an die Kaufleute — vermutlich die mit der eigenen Sozietät verbundenen - , die den Weg nach China machen wollten, um Handel zu treiben, und die dazu nur so viel zu wissen brauchten, wie für diesen Zweck erforderlich war. Für die Mönche und Gelehrten wäre solches Wissen völlig unbrauchbar gewesen, denn mit seiner Hilfe hätten sie nichts von der Fremde begreifen können, weil es tatsächlich gar
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Pegolottis nicht auf Marco Polo, sondern auf einen unbekannten genuesischen K a u f m a n n zurückgeht. Vgl. I successori di Marco Polo e la febbre della seta, in: Marco Polo, Venezia e l'Oriente, S. 289. Vgl. Pegolotti, S. 22. Jochen Hoock, Entdeckungen und kaufmännische Manuale vom 16. bis ins 18. Jahrhundert, in: Weltbildwandel, S. 163-178, hier S. 163f.
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keine Aussagen darüber machte. Kaufmännisches Wissen war für den kategorial orientierten Diskurs der diplomatisch-klerikalen Wissensorganisation uninteressant, was jedoch nicht heißt, daß das Wissen der Kaufleute ignoriert wurde; es wurde gerne abgeschöpft, wo es durch unmittelbaren Kontakt mit ihnen zuhanden war. Mit dem Wissen von Kaufleuten ließ sich aber nur dann etwas anfangen, wenn man es selbst instrumenteil nutzte, um wie Rubruk seine Reise in den Osten vorzubereiten. Für den Diskurs über die Fremde aber war das Wissen der Kaufleute auch als ausformuliertes Wissen zu instrumentell, um dem theologisch-klerikalen Kontaktsystem Erfahrungen vermitteln zu können, aus denen man, wie im Programm des ungarischen Königs vorgesehen, Schlußfolgerungen hätte ziehen können. Konnte man den Kaufmann mündlich befragen, ließ sich manches erfahren, was anders schwerlich in Erfahrung zu bringen gewesen wäre; schrieb der Kaufmann aber sein Manual, dann bekamen der Chronist oder der Gelehrte es nicht in die Hand, weil es nur im geschlossenen Kommunikationssystem der eigenen Kompanie oder vergleichbaren Kommunikationssystemen zirkulierte. Aber selbst wenn sie zu Gesicht bekommen hätten, wäre es für sie uninteressant gewesen, denn es stand nichts darin, was zu wissen sich gelohnt hätte: Für das diplomatisch-klerikale Kontaktsystem ging es um die kategoriale Erfassung der Fremde, für das merkantil-ökonomische Kontaktsystem dagegen um eine Praxis, die ein hohes Maß an Akkomodation erforderlich machte, dazu aber keiner systematischen Deskription bedurfte. Was Kaufleute wissen mußten, war nach den schriftlich überlieferten Quellen zu urteilen sehr wenig - und entsprechend wenig teilte die Reiseanleitung für den fahrenden Kaufmann mit. Tatsächlich aber war wenig nicht unbedingt das, was Kaufleute wissen, sondern das, was ihnen schriftlich vermittelt werden mußte. Der Kaufmann lernte nicht schriftgestützt, sondern bei der Ausübung seiner Geschäfte, und das war auch weitgehend die Weise, in der er innerhalb der Familie oder der Sozietät sein Wissen weitergab. Wenn hier von „instrumentellem" Wissen die Rede ist, so ist damit nicht die dem kaufmännischen Wissen gerne postitiv zugeschriebene „Zweckrationalität" gemeint. Mit der Zuschreibung von Zweckrationalität an Kaufleute argumentiert etwa Volker Rittner, der Kulturkontakte in erster Linie unter dem Aspekt des sozialen Wandels betrachtet. 159 Bei seiner Untersuchung der Histoire de Saint Louis Jeans de Joinville grenzt Rittner die „innovatorischen Eliten" des Kontaktsystems Fernhandel als Vorrreiter sozialen Wandels vom Kontaktsystem der Kreuzzüge ab, das er in Kriegführung und Diplomatie unterteilt. 160 „Zum sozialen Wandel des europäischen Mittelalters sind, sowohl was auflösende Impulse aus Kulturkontakten angeht, als auch was das Personen-Reservoir 159
Vgl. Volker Rittner, Kulturkontakte und soziales Lernen im Mittelalter, S. 206ff. Rittners Thesen wurden vor allem von Friederike Hassauer aufgegriffen, die sich in ihrem Aufsatz über „Volkssprachliche Reiseliteratur" stark an Rittner orientiert hat und auf seine Überlegungen ihre Interpretation Marco Polos stützt. Dieser Ansatz hat sich dann vor allem in literaturwissenschaftlichen Arbeiten als sehr prägend erwiesen. Vgl. hierzu meine Ausführungen unten in Kapitel 111,1.
160
Mit dem Begriff der „innovatorischen Eliten" orientiert sich Rittner an Shmuel Noah Eisenstadt, der ihn geprägt hat. Vgl. dazu etwa Eisenstadts Aufsatz „Soziologische Betrachtungen zum historischen Prozeß", in: Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 2: Historische Prozesse, hg. von Karl-Georg Faber und Christian Meier, München 1978, S. 4 4 1 - 4 5 9 .
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innovatorischer Eliten betrifft, andere Gruppen als die der Ritter-Kaste zu benennen. Verantwortlich sind sehr viel eher Kaufleute als Vorboten bürgerlicher Rationalisierungs- und Differenzierungs-Leistungen, die zu allgemeinen Strukturen gerinnen." 161 Nach Rittners These zeichnet sich das Kontaktsystem des Fernhandels durch eine Reihe von Kriterien aus, die es den anderen Kontaktsystemen voraus hat. Dazu gehören in erster Linie die „Notwendigkeit der Differenzierung des Gegenübers", „die Kenntnisnahme externer Systemzusammenhänge", „die Kenntnisnahme der Eigenarten des Gegenübers", „schriftliche Fixierung" sowie „das Operieren mit Rationalität, die, bei Verzicht auf kulturellen Über-Anspruch, Probleme löst." 162 Ein Vergleich mit den vier „Lern-Hemmnis-Komplexen" der Kreuzfahrer erweist nach Rittners Überzeugung, daß diese bei den Fernhandelskaufleuten nicht zutreffen. „Die Eingeübtheit der Metiereigenschaften und Techniken entfällt. Der Regressions-Prozeß der 'self-fullfilling prophecy' wird außer Kraft gesetzt. Statt dessen spielt sich, mit ähnlichem Folge- und Implikationscharakter, der Mechanismus des Rationalität-Erfolg-Profit-Musters ein." 163 Die Notwendigkeit der Differenzierung, die Kenntnisnahme externer Systemzusammenhänge und der Eigenarten des Gegenübers ergeben sich jedoch keineswegs minder, wie ich oben zu zeigen versucht habe, aus dem Kontaktsystem der Diplomatie, das darin vielmehr eine seiner hervorragendsten Aufgabe erfüllt. 164 Hinsichtlich der schriftlichen Fixierung des Erfahrenen ist die Diplomatie dem Kontaktsystem Fernhandel nicht nur überlegen, vielmehr unterscheidet sie sich zuallererst darin vom Fernhandel, der seine Erfahrungen gerade nicht schriftgestützt vermittelt. Die „Verschriftlichung des Handels" ist eben keine Verschriftlichung von Erfahrung, sondern die Verschriftlichung von Eingängen und Ausgängen, von Soll und Haben. 165 Auch Zweckrationalität kann nicht das Kriterium sein, mittels dessen das Wissen der Kaufleute von dem der Kleriker-Diplomaten und Missionare zu unterscheiden ist. Zweckrationales Wissen bringen alle drei Kontaktsysteme hervor, rational ist dieses Wissen aber eben immer in Relation zu den je bestimmten Zwecken, die mit den einzelnen Kontaktsystemen verknüpft sind. Kaufmännisches Wissen unterscheidet sich nicht durch seine Zweckrationalität, sondern vielmehr durch seine Instrumentalität vom Wissen der Gesandten. Der instrumentelle Charakter kaufmännischen Wissens aber war in doppelter Hinsicht folgenreich hinsichtlich seiner Diskursivierung: Für die Kaufleute selbst war ihr Wissen zu instrumenteil, um von ihnen in einer Weise verschriftlicht zu werden, die eine eigene Wissenstradition hätte bilden können und nicht mit dem Untergang der Handelskompanie verloren gegangen wäre; für die Chronisten und Gelehrten war es zu instrumentell, um zur paradigmatischen Diskursivierung beitragen zu können.
161 162
Volker Rittner, Kulturkontakte und soziales Lernen im Mittelalter, S. 209. ibid., S. 206f.
163 164
ibid., S. 208. Das gilt grundsätzlich auch für die herrscherliche Diplomatie im allgemeinen. Zur Funktion der Informationsbeschaffung und Beschreibung in der mittelalterlichen Diplomatie vgl. Dennis Queller, The Office of the Ambassador in the Middle Ages, Princeton 1967. Rittner vermag denn auch keine Quellen für diese Behauptung anzugeben. Das Kontaktsystem Fernhandel, das nicht seinen eigentlichen Untersuchungsgegenstand bildet, dient ihm lediglich als die positiv besetzte Folie, von der aus er den Bericht Jeans de Joinville betrachtet.
165
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Z u m W i s s e n s d i s k u r s gehört aber z w e i e r l e i : eine traditionsbegründete w i e traditionsstift e n d e V e r s c h r i f t l i c h u n g einerseits und andererseits die Zirkulation d e s W i s s e n s über e i n g e s c h l o s s e n e s K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m hinaus. W e n n die K a u f l e u t e auch w a h r s c h e i n l i c h die e n g s t e n B e z i e h u n g e n z u den M o n g o l e n unterhalten haben, die Kontakte z u ihnen als erste a u f n a h m e n und a m längsten aufrechterhielten, s o standen sie d o c h a m R a n d d e s D i s k u r s e s : K a u f m ä n n i s c h e s W i s s e n b e w e g t e sich unterhalb der S c h w e l l e der Diskursiv i e r u n g , e s bildete zu k e i n e m Zeitpunkt e i n e n e i g e n s t ä n d i g e n Strang d e s D i s k u r s e s , in d e m das W i s s e n über d i e Fremde verschriftlicht wurde.
4. Die Mongolen als Missionsvolk: Operatives Wissen und die Narrativierung der Mission
Die Neubegründung der Mission im 13. Jahrhundert A l s R o g e r B a c o n z w i s c h e n 1 2 6 6 und 1 2 6 8 für Papst C l e m e n s IV. sein Opus maius abfaßte, in d e m er s e i n e W i s s e n s c h a f t s l e h r e und den N u t z e n der e i n z e l n e n W i s s e n s c h a f t e n und K ü n s t e für d i e T h e o l o g i e darlegen sollte, begründete er im Kapitel über die G e o g r a p h i e den b e s o n d e r e n N u t z e n g e o g r a p h i s c h e n W i s s e n s für die Kirche damit, daß d i e zur Verbreitung d e s christlichen G l a u b e n s in die F r e m d e z i e h e n d e n M i s s i o n a r e K e n n t n i s s e über die Länder s o w i e d i e Riten und Sitten der M i s s i o n s v ö l k e r b e n ö t i g t e n . 1 6 6 166
Roger Bacon, der 1257 dem Franziskanerorden beigetreten war, unterlag seit 1260 einem von der Ordensleitung unter Bonaventura gegen ihn ausgesprochenen Schreibverbot, weil er heftig gegen die allein spirituelle Nutzung der weltlichen Wissenschaften durch die Theologie polemisiert und auf deren in sich selbst gründender Nützlichkeit beharrt hatte, von der die Kirche erst wirklich profitieren könne, wenn sie sie nicht mehr als Mägde der Theologie betrachtete. Sein Opus Maius schrieb Bacon zwischen 1266 und 1268 im Auftrag des 1265 gewählten Clemens IV., der dafür das gegen Bacon ausgesprochene Schreibverbot aufhob. Clemens IV. starb jedoch im November 1268, und Bacon war danach wieder ohne Schutz. Seine Schriften wurden innerhalb des Ordens nicht verbreitet und stießen, wenn sie überhaupt gelesen wurden, wegen ihrer Vorliebe für astrologische Themen auf scharfe Kritik. Diese Vorliebe zeigte sich auch an Bacons Beschreibung der Religionen, die er im vierten Teil seines Opus maius im Zusammenhang mit dem Einfluß der Sterne auf die gegenständliche Welt darstellte. Den Nutzen astrologischer Kenntnisse begründete er hier damit, daß die Einflüsse der Sterne nicht nur, wie schon Porphyrius gezeigt habe, die regionalen Unterschiede der Dinge bewirkten, sondern auch Unterschiede in den menschlichen Sitten, den Künsten und den Wissenschaften. So stehe etwa das Land der Tartaren unter dem Einfluß des Mars, woraus sich ihre kriegerische Natur erkläre, während die Sarazenen unter dem Einfluß der Venus stünden und deshalb das ewige Leben gegenüber den sinnlichen Freuden vernachlässigten. Anders als die Überzeugung von der Notwendigkeit der „cognitio locorum mundi" für die Mission waren seine astrologischen Thesen aber höchst umstritten; nachdem sie in die Verurteilungen von 1277 einbezogen worden waren, wurde Bacon zu Klosterhaft verurteilt und bis 1289 eingekerkert. Zu Bacons Werk und den innerfranziskanischen Auseinan-
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„Deinde qui loca mundi ignorat, nescit non solum quo vadat, sed quo tendat; et ideo sive pro conversione infidelium proficiscatur, aut pro aliis ecclesie negotiis, necesse est ut sciat ritus et conditiones omnium nationum (,..)." 1 6 7
Mit der Feststellung, wer nicht wisse, wohin er gehe, könne auch nicht wissen, wonach er streben, d. h. wie er verfahren solle, formulierte Bacon eine Überzeugung, die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in den beiden Mendikantenorden immer häufiger vertreten wurde. Durch die im Verlauf der Kreuzzüge intensivierten Kulturkontakte mit dem Islam und insbesondere durch die nach den ersten Kulturzusammenstößen mit den Mongolen entstandenen Kulturkontakte setzte sich die Überzeugung durch, daß die Missionare zunächst etwas über die zu missionierenden Völker und ihre Länder lernen müßten, bevor sie dort den christlichen Glauben verbreiten könnten. Die Mission, die seit der Gründung der Bettelorden überhaupt erst wieder zu einer der zentralen Aufgaben des Mönchtums geworden war, erhielt damit eine theoretische Fundierung, die sie zum Ort der kognitiven Aneignung des Fremden werden ließ. Seit den ersten Eroberungen im Heiligen Land und der Errichtung des Königreichs Jerusalem erlangte die Mission, die von der Kirche zwar seit jeher als eine ihrer zentralen Aufgaben betrachtet, spätestens seit dem 8. Jahrhundert aber zunehmend vernachlässigt worden war, wieder jene Bedeutung, die sie zur Zeit der Kirchenväter gehabt hatte. Während im Frühmittelalter nach dem Untergang des römischen Reiches die Missionierung Europas für die römische Kirche noch eine Existenzfrage gewesen war, hatte die Etablierung des Christentums und in ihrer Folge das Seßhaftwerden der Mönche durch die Gründung von Klöstern und deren Einbindung in die feudalen Strukturen die Mission immer stärker in den Hintergrund gerückt. Erst die Konfrontation mit den Sarazenen, deren militärische Überlegenheit die Befreiung des Heiligen Landes sehr viel schwieriger machte, als man in der ersten Kreuzzugsbegeisterung geglaubt hatte, führte dazu, daß die Verbreitung des christlichen Glaubens bei allen Völkern und mit ihr die friedfertige Aneignung des Fremden wieder in den Vordergrund rückte. Diese Aneignung des Fremden durch die Mission stand nicht unbedingt in einem prinzipiellen Gegensatz zu den Kreuzzügen, deren Ziel ja nicht die gewaltsame Bekehrung der Sarazenen, sondern die Befreiung der geheiligten Stätten der Christenheit war. Kreuzzüge und Mission standen zunächst relativ unproblematisch nebeneinander und ergänzten sich. 168 Ein Gegensatz zwischen beiden sollte sich erst auftun, als die weltlichen Interessen der Kreuzfahrer immer offensichtlicher wurden, militärische Erfolge aber ausblieben und missionarische Erfolge nicht zuletzt aufgrund des Verhaltens der Kreuzritter zunichte gemacht wur-
dersetzungen vgl. Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart S. 3 4 8 - 3 5 4 .
1986,
167
Roger Bacon, Opus maius, S. 3 0 l f . „Ferner, wer die Örtlichkeiten (loca) der Welt nicht kennt, weiß nicht nur nicht, wohin er geht, sondern auch nicht, wohin er streben soll; und daher ist es für alle, die aufgebrochen sind, um die Ungläubigen zu bekehren, wie für alle anderen Angelegenheiten der Kirche notwendig, die Riten und Verhältnisse aller Nationen zu kennen (...)."
168
Vgl. hierzu Benjamin Z. Kedar, Crusade and Mission. European Approaches towards the Muslims, Princeton 1984, S. 24ff.
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den. 169 Dem Anspruch nach bestand das eigentliche Missionswerk für die Kirche aber immer in der Lehre des Glaubens, die sich im Auftrag des Auferstandenen an seine Jünger gründete: „Euntes ergo docete omnes gentes baptizantes eos in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti/ docentes eos servare omnia quaecumque mandavi vobis".
Die Predigt, von der das Markusevangelium explizit sprach („euntes in mundum universum praedicate evangelium omni creaturae", Marc. 16,15), stand daher im Zentrum der Missionsarbeit, und mit ihrer Wiederbelebung wurde auch die Mission neubelebt. Die beiden zu Beginn des 13. Jahrhunderts gegründeten Mendikantenorden hatten neben dem Armutsideal von Anfang an die Predigt in den Mittelpunkt ihres Wirkens gestellt und sich nicht nur die Büß-, sondern auch die Missionspredigt zur Aufgabe gemacht. Damit grenzten sie sich in doppelter Weise vom zurückgezogen lebenden Mönchsklerus der seßhaften Orden ab, dem sie vorwarfen, in der vita contemplativa allein für das eigene Heil Sorge zu tragen: Sie machten sich mit der Bußpredigt in den prosperierenden Städten und bei den christlichen Häretikern eine Aufgabe zu eigen, die der Mönchsklerus bis dahin dem Weltklerus überlassen hatte, und sie gaben die Sicherheit der Klostermauern auf und wandelten in der Nachfolge Christi als peregrini et advenae, als Pilger und Fremde, durch die Welt. 171 Der Missionsgedanke richtete sich damit im Grunde bei beiden Orden sowohl auf die Christenheit selbst als auch auf die nicht-christlichen Völker: Bußpredigt und Missionspredigt standen in einer unmittelbaren Beziehung zueinander, insofern beide den Aufruf zur Umkehr implizierten. 172 Während sich die Franziskaner bezüglich der christlichen Gemeinschaft vor allem an die reich gewordenen Stadtbürger wandten und sie zur Umkehr aufriefen, zielten die Dominikaner auf die Wiedereingliederung der in Südfrankreich verbreiteten häretischen Be-
169
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Vgl. ibid., S. 159ff. Helmuth G. Walter hat dagegen betont, daß es in der Kreuzzugspropaganda seit dem 2. Konzil von Lyon einen deutlichen Wandel gegeben habe, bei dem man mit dem Konzept des passagium generale wieder auf die militärische Überlegenheit gesetzt habe. Dem hätten sich später auch die Missionstheoretiker wie Ramon Lull angeschlossen. Vgl. Gens consilia, S. 248f. sowie 255ff. Vgl. auch Sylvia Schein, Fideles Crucis. The Papacy, the West and the Recovery of the Holy Land 1274-1314, Oxford 1991, S. 22-44, die ebenfalls das Konzept der Rückeroberung des Heiligen Landes mit Hilfe des passagium generale als entscheidenden Umschwung gegenüber den früheren Konzepten ansieht. Ob das Konzept des passagium generale tatsächlich, wie von Walther angenommen, auf der Überzeugung beruhte, die Abendländer seien den Sarazenen zur See logistisch wie navigatorisch und damit letzlich zivilisatorisch überlegen, und von daher auch die Missionstheorie nachhaltig beeinflußt hat, erscheint mir jedoch eher zweifelhaft zu sein. Die Idee eines passagium generale begann sich m. E. erst durchzusetzen, seit man mit dem Fall von Akkon 1291 in Palästina über keine Stützpunkte mehr verfügte und deshalb die Kreuzzüge und die Versorgung des Heeres ausschließlich von See planen mußte. Matthaeus 28, 19-20. „Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe." So die Formulierung der Regula bullata, c. 6. Vgl. Kaspar Elm, Franz von Assisi: Bußpredigt oder Heidenmission?, S. 96ff. sowie V. J. Koudelka, Dominikus, S. 15ff.
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wegungen der Katharer und Waldenser. Aus diesen unterschiedlichen Zielrichtungen ergaben sich, jedenfalls in den Anfängen der Ordensgründungen, gegensätzliche Einstellungen gegenüber dem Studium: Franziskus, der sich selbst gerne als simplex et idiota bezeichnete, betrachtete die sancta simplicitas als eine der Grundtugenden eines gottgefälligen Lebens und räumte ihr den Vorrang vor dem Lernen und Lehren ein, wohingegen Dominikus die Predigerbrüder von Anfang an auf das Studium verpflichtete. Anders als Franziskus, der selbst keine theologische Ausbildung hatte und die intellektuelle Bemächtigung des Glaubens für ein Zeichen des Hochmuts hielt, argumentierte Dominikus, Predigt und Theologie gehörten zusammen, weil nur so die Irrlehren der Häretiker widerlegt werden könnten. Beide aber waren der Überzeugung, daß die Mönche sich dorthin begeben müßten, wo die Abkehr vom Glauben drohte, wo Häresien und Irrlehren den wahren Glauben verleugneten oder wohin der christliche Glaube noch nicht gelangt war. 173 Die Bettelorden lösten das monastische Ideal der stabilitas durch die Idee der peregrinatio ab, indem sie das apostolisch-frühmittelalterliche Ideal des homo viator, des Wanderers in der Welt, neu belebten, der nicht im irdischen, sondern im himmlischen Reich seine eigentliche Heimstatt hatte. Wer Christus nachfolgte, war auf der Erde ein Pilger, „omnis homo in hac vita peregrinus est", wie Augustinus formuliert hatte. 174 In seinen Auslegungen der Apostelbriefe hatte er im Sinne seiner Zwei-Reiche Lehre die Christen als die „Hausgenossen Gottes" beschrieben, die auf Erden als alienigenae, in der Fremde Geborene, keine festen Häuser hatten, sondern die Beschwernisse der Pilgerschaft auf sich nahmen, während die terrigenae, die Hausgenossen Babylons, den Weg vergaßen und sich im Diesseits häuslich einrichteten. 175 Auf diese frühmittelalterliche Idee der peregrinatio griffen die Bettelorden für das angestrebte Missionswerk zurück. „Within the monastic order a shift from the stationary to the wayfaring and missionary habitus repeats itself on a vast scale between the eleventh and the thirteenth centuries, supplementing and in part replacing Benedictine stabilitas by various forms of ascetic and apostolicperegrinatio." l76 Die 1217 (Ordo Fratris Praedicatoris) und 1223 (Ordo Fratris Minoris) genehmigten Ordensregeln der Mendikanten schufen mit der unmittelbaren Unterstellung der Orden 173
Vgl. Kaspar Elm, Franziskus und Dominikus. Zur Missionstätigkeit der Franziskaner und D o m i nikaner, zwischen denen zum Teile eine scharfe Konkurrenz um die Missionsgebiete herrschte, vgl. Berthold Altaner, D i e Dominikanermissionen des 13. Jahrhunderts; Luciano Petech, I francescani nell' Asia centrale; s o w i e Jean Richard, Les missions chez les m o n g o l s aux 13e et 14e siècles.
174
Enarratio in Psalmos 118,1, zit. nach: Cornelius Meyer, 'Peregrinatio' bei Augustinus, in; Reisen
175
Vgl. ibid., S. 79f.
und Reiseliteratur in Mittelalter und früher Neuzeit, S. 79. 176
Gerhart B. Ladner, H o m o Viator, S. 245. Ladner verweist andererseits darauf, daß auch der Begriff der stabilitas
im Sinne des Fremdseins in der Welt gedeutet werden konnte (vgl. S. 240).
Bei den Benediktinern b e z o g sich stabilitas
auf die Weltabgeschiedenheit des Klosters; der
Mönch sollte sich den Belangen der Welt entfremden (saeculi actibus
se facere
alienum).
Insbe-
sondere die Zisterzienzer betonten diesen Aspekt in der Konkurrenz mit den neuen Bettelorden. 1245 beschlossen sie, sich selbst nicht an den beginnenden Missionsreisen zu beteiligen, sondern für die ausziehenden Minder- und Predigerbrüder zu beten.
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unter den Papst, der Erlaubnis, überall predigen zu dürfen - was die teilweise scharfe Kritk des Weltklerus hervorrief, dem bis dahin das Privileg der Predigt vorbehalten war - sowie dem Aufbau der Ordensorganisationen als ortsunabhängigen Personalverbänden die organisatorischen Voraussetzungen für das missionarische Wirken der Ordensbrüder an jedem von ihnen ausgewählten Ort. Die räumlich und nicht hierarchisch gegliederte Organisation der Orden folgte dieser Prämisse: Bei Franziskanern wie Dominikanern entstanden nach den anfänglich kleinen, um die Ordensgründer geschalten Gemeinschaften sehr rasch großräumig verbreitete Ordensniederlassungen, die zu Ordensprovinzen zusammengefaßt wurden. Da die Ordensmitglieder nicht an ein bestimmtes Kloster, sondern direkt an den Orden gebunden waren, konnten sie überall dort wirken, wo der Orden sie hinschickte oder sie aus eigenem Antrieb hingehen wollten, sie konnten von einer Ordensprovinz in die nächste ziehen, neue Provinzen aufbauen und überall predigen. 177 Im 16. Kapitel der franziskanischen Regula non bullata von 1221 wurden die Brüder aufgefordert, in radikaler Nachahmung Jesu und seines unsicheren Wanderlebens sich den Ungläubigen wehrlos auszusetzen und damit Zeugnis für Christus abzulegen. Demgemäß wurde den zu den Sarazenen und anderen Ungläubigen ziehenden Brüdern geboten, keine Auseinandersetzungen zu beginnen, sondern sich untertänig zu verhalten und in erster Linie durch das eigene Bekenntnis zu Christus zu wirken. Daraus ergaben sich die Besonderheiten der Missionspredigt, die, anders als die Bußpredigt, nicht in aufrüttelnden Worten, sondern in der Vorbildlichkeit des Missionars, der Liebenswürdigkeit seines Auftretens und der Demut seines Herzens ihren genuinen Ausdruck finden sollte. Erst an zweiter Stelle wurde die Wortpredigt genannt, die aber nur gehalten werden sollte, wenn die Brüder sähen, daß dies Gott gefalle. Das Hauptgewicht der Mission wurde damit auf den Vorbildcharakter des Missionars gelegt, der durch sein bis zur völligen Selbstverleugnung demütiges Leben auf die zu Missionierenden wirken sollte. Das Werk der Glaubensverbreitung sollte aus dem Verlangen der Brüder hervorgehen, aus Liebe zu Christus ihren Leib den sichtbaren und unsichtbaren Feinden auszusetzen (Matth. 5,10; 10, 23,28) und überall für ihn Zeugnis abzulegen. 178 Mit diesen Bestimmungen gründete die Regula non bullata die Erfolgsaussichten der Mission allein in der Vorbildhaftigkeit des Missionars, ohne die besondere Problematik interkultureller Verständigung wie interkulturellen Verstehens auch nur anzudeuten. Der spiritus zelus des Missionars machte Überlegungen hinsichtlich der Problematik fremdkulturellen Verstehens überflüssig, weil der Missionar allein durch sein Vorbild auf andere wirken sollte, ohne sich dazu erlernter Vermittlungsformen bedienen oder auf ein vorgängiges Wissen zurückgreifen zu müssen. 179
177
Zum organisatorischen Aufbau der Mendikantenorden vgl. W. A. Hinnebusch, The History of the Dominican Order, 2 Bde., N e w York 1966 u. 1973, bes. Bd. 1, S. 36ff.; Kajetan Esser, Anfange und ursprüngliche Zielsetzung des Ordens der Minderbrüder, Leiden 1966, S. 74ff., sowie Kaspar Elm (Hg.), Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen, Berlin 1989.
178 179
Vgl. Christian W. Troll, Die Chinamission im Mittelalter, S. 25. Vgl. Helmut Feld, Franziskus von Assisi, S. 301.
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Schon die unter Mitwirkung des späteren Papstes Gregor IX. abgefaßte und mit Bibelzitaten gespickte Regula bullata von 1223 hat die Ausführungen der Regula non bullata über die „Mission der Tat" aber nicht mehr aufgenommen, sondern sich auf die Verkündigung durch das Wort konzentriert. Die Worte des Missionars sollten durchdacht und lauter sein (Ps. 11,7) und in der „Kürze des Wortes" (Rom. 9,28) von den Lastern und den Tugenden, der Strafe und der Herrlichkeit künden. In dieser letztgültigen Fassung der regula des Franziskanerordens wurde die praedicatio auf die Wortverkündung zentriert, die im Ordo Fratris Praedicatoris von Anfang an im Zentrum gestanden hatte. Damit wurde auch bei den Franziskanern der Weg für die Begründung operativen Wissens über die zu Missionierenden frei gemacht.180 Die Missionierung mittels der praedicatio durch das Wort setzte in der Fremde nämlich zweierlei voraus: zum einen die Verstehbarkeit der Rede des Missionars und damit Fremdsprachenkenntnisse, zum anderen Kenntnisse über die Missionsorte und den Irrglauben, dem das Missionsvolk anhing. Der Erfolg der Mission wurde nicht mehr allein in der Vorbildlichkeit des Missionars, sondern in seiner Fähigkeit gegründet, interkulturelle Anknüpfungspunkte für die Vermittlung des wahren Glaubens aufzufinden. Vor die Aneignung des Fremden durch die Mission sollte die Aneignung von Wissen über die Fremden für die Mission treten.
Die Tartaren als Missionsvolk und die Grundlagen der Missionsarbeit Ab der Jahrhundertmitte entstanden in beiden Orden eine Reihe von Traktaten, in denen die Religionen der Missionsvölker beschrieben und den Missionaren Argumente zur Verfügung gestellt wurden, mit denen sie die Ungläubigen von der Wahrheit des christlichen Glaubens überzeugen sollten. Diese Traktate widmeten sich sowohl den Sarazenen und ihrem falschen Glauben als auch den Mongolen, die schon bald in den Mittelpunkt des missionarischen Interesses traten. 1253 nannte Innozenz IV. die Tartaren erstmals namentlich in einer der mit dem Incipit Cum (iam) hora undecima anhebenden Missionsbullen, in denen die Päpste ihre Verantwortung für die Mission bekräftigten und die gesamte Kirche an die Aufgabe gemahnten, „populis et gentibus, Unguis Regibusque denuo prophetare".181 Die erste dieser Bullen hatte Gregor IX. 1237 anläßlich der Abreise des Dominikaners Guillaume de Montferrat zu den Sarazenen ausgefertigt.182 Als Adressaten der Mission nannte die Bulle jedoch nicht nur die Sarazenen, sondern eine 180
Die Differenzen zwischen der regula non bullata und der régula bullata sind in der Forschung zur Geschichte des Franziskanerordens stark umstritten. Während ein Teil der Forschung die regula non bullata und ihre Vorformen als den eigentlichen Willen des Ordensgründers betrachtet, der schon mit der regula bullata verfälscht worden sei, versucht ein anderer Teil der Forschung, die Gegensätze einzuebnen. Die schon bald nach Franziskus' Tod im Orden ausbrechenden Streitigkeiten um den wahren Willen des Ordensgründers, die sich vorwiegend an seinem Testament entzündeten, sprechen jedoch eher für die erstere Annahme. Vgl. Helmut Feld, Franziskus von Assisi, S. 306ff. sowie S. 486ff.
181 182
Zit. nach Christian W. Troll, Die Chinamission im Mittelalter, S. 25. Vgl. Jean Richard, La papauté et les missions d'Orient, S. 140.
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ganze Reihe von Völkern, von den Ungarn und Kumanen bis zu Indern und Äthiopiern. Zu ihnen sollten alle Ordensangehörigen ziehen, die sich zur Mission berufen fühlten, damit vor dem Ende der Zeiten alle Menschen zum Christentum bekehrt würden. Seit 1237 waren die Missionsbullen von allen nachfolgenden Päpsten in kurzen Abständen erneuert und die Liste der Völker, zu denen Missionare ziehen sollten, verändert und ergänzt worden. 183 Bei der von Innozenz IV. 1245 ausgefertigten Cum hora undecimaBulle fehlten freilich die Tartaren noch in der Liste der Missionsvölker, denn zu diesem Zeitpunkt sandte der Papst noch keine Missionare, sondern Gesandte. Als er aber 1253 erneut eine Cum hora undecima-Bulle erließ, nannte er die Tartaren unter den Völkern, denen das Wort Gottes verkündet werden sollte. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, daß die Gesandten bei aller negativen Beurteilung der Mongolen, die sich insbesondere am mongolischen Weltherrschaftsgedanken entzündete, die eschatologischen Ängste relativiert und die Tartaren nicht länger als apokalyptisches Volk, sondern als ein Volk von Heiden oder Götzenanbetern beschrieben hatten. So hatte Carpini über den Glauben der Tartaren geschrieben: „Unum Deum credunt, quem credunt esse factorem omnium visibilium et invisibilium, et credunt ipsum tarn bonorum, in hoc mundo, quam penarum esse datorem; non tarnen orationibus vel laudibus aut ritu aliquo ipsum colunt. Nichilominus habent idola quedam de filtro ad imaginem hominis facta, et illa ponunt ex utraque parte ostii stationis, et subtus illa ponunt quiddam de filtro in modum uberum factum et illa credunt esse pecorum custodes, ac eis beneficium (actis et pullorum prestare."
Zwar hatte er bei seiner Beschreibung des Glaubens der Tartaren auch davon berichtet, daß diese einen russischen Fürsten hingerichtet hätten, weil er sich geweigert habe, vor einem der Götzen niederzuknien, grundsätzlich aber konstatiert, „et quia de cultu Dei nullam legem observant, neminem adhuc, coegerunt suam fidem vel legem negare". 185 Ähnliche, wenngleich weniger präzise Beschreibungen der heidnischen Praktiken der Mongolen und ihrer Indifferenz gegenüber dem Glauben ihrer Untertanen hatten auch die anderen Gesandten geliefert und damit die Grundlage für die Aufnahme der Tartaren in die Liste der Missionsvölker geschaffen. 186 Zwar war das bedeutungsstiftende »r« mit 183
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Vgl. Jean Richard, La papauté et les missions d' Orient, S. 139, Fn. 66 (Völkerlisten und ihre Varianten) sowie Anna Dorothee von den Brincken, Die »Nationes Christianorum Orientalium«, S. 45ff. ed. Menestö, S. 236. „Sie glauben an einen einzigen Gott, von dem sie glauben, daß er der Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren sei und alle guten wie auch schlechten Dinge in dieser Welt gebe. Doch sie verehren ihn nicht durch Gebete, Lobgesänge oder irgendeine Zeremonie, haben aber nichtsdestoweniger Abgötter, aus Filz nach menschlichem Bild geformt, die sie zu beiden Seiten der Tür ihrer Behausung aufhängen. Darunter befestigen sie ein Gebilde aus Filz, das wie ein Euter geformt ist, und sie glauben, jene Abgötter seien die Wächter des Viehs und opfern ihnen Milch und junge Tiere" (ed. Schmieder, S. 47). ed. Menestô, S. 238. „Und weil sie beim Gottesdienst keinem Glaubensgesetz folgen, zwangen sie, soweit wir erfahren konnten, bisher niemanden, seinen Glauben oder sein Gesetz zu verleugnen, (...)" (ed. Schmieder, S. 49). Vgl. Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 134-138. Bezzola zitiert eine Stelle aus dem bei Mattheaus Parisienis zitierten Bericht Andreas' von Longjumeau, in der
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seiner apokalyptischen Konnotation im Völkernamen Tartaren noch nicht verschwunden, und das sollte auch bis zum Ende der europäisch-mongolischen Kulturkontakte mit dem Untergang des mongolischen Reiches so bleiben, aber seine Bedeutsamkeit blieb nur noch im Hintergrund präsent. Innerhalb von nur acht Jahren hatte das Kontaktsystem der Gesandten genügend Informationen zur Verfügung gestellt, um die Tartaren aus einem apokalyptischen Volk in ein Missionsvolk zu verwandeln. Mit dem Schwinden der apokalyptischen Befürchtungen wuchs andererseits der Informationsbedarf, denn jetzt stellten sich andere Fragen als in den Jahren zwischen 1241 bis 1245. Da beide Kontaktsysteme fest in der Hand der Mendikanten waren, konnten die Informationen der Gesandten für die Mission aber sehr rasch rezipiert werden, zumal die Fragestellungen der Gesandten mit den Fragen nach dem Glauben und den religiösen Riten der Mongolen sich mit den Fragestellungen der Missionare überschnitten. Das Wissen, das das diplomatische Kontaktsystem hervorgebracht hatte, mußte für das Kontaktsystem der Mission allerdings systematisiert und operationalisiert werden, weil für die Missionare, anders als für die Gesandten, die Frage nicht mehr darin bestand, wer die Tartaren waren, sondern darin, wie sie bekehrt werden konnten. Wie Völker bekehrt werden konnten, machte man in der Missionstheorie in erster Linie davon abhängig, welchem Glauben sie anhingen. Bei ihrer Missionsarbeit sollten die Missionare vom falschen Glauben der Missionsempfänger ausgehen, dessen Widersprüchlichkeiten aufzeigen und so auf die Erkenntnis des wahren Gottes hinführen. Der falsche Glaube des Missionsvolkes spielte somit eine zentrale Rolle, denn er war nicht nur das, was abgelehnt wurde und durch die Mission überwunden werden sollte, sondern bildete auch den entscheidenden Anknüpfungspunkt für die Überzeugungsarbeit des Missionars, die von der natürlichen Vernunft und der natürlichen Religiosität der Heiden oder Ungläubigen ausgehen sollte. Durch die Systematisierung der unterschiedlichen Glaubensformen als Ausgangspunkt der missionarischen Arbeit wurden die vorliegenden Beschreibungen der Gesandten freilich komprimiert, auf religiöse Aspekte reduziert und damit gegenüber dem vom Kontaktsystem der Diplomatie hervorgebrachten kategorialen Wissen deutlich fragmentiert. Das Kulturkontaktsystem der Gesandten, das über das geringste Vorwissen verfügt hatte, hatte umfassendere Fragen gestellt und differenziertere Antworten erbracht, während das Kulturkontaktsystem der Mission dieses Wissen auf die operationalisierbaren Elemente zurückführte. Ramon Lull schlug in seinem Tractatus de modo convertendi infideles vor, eine Liste der verschiedenen Sekten zu erstellen und eigene Traktate über jede von ihnen zu verfassen. Ein System der Religionen, das diesen Anforderungen entsprach, hatte schon vor Ramon Lulls programmatischem Vorschlag Roger Bacon in seinem Opus maius und seiner kleineren Schrift Moralis philosophia aufgestellt. Bacon ordnete die Religionen hierarchisch nach den Kriterien Monotheismus, Vorhandensein religiöser Gesetze und klar zwischen dem Weltherrschaftsanspruch und dem Anspruch auf religiöse Machtausübung bei den Tartaren unterschieden wird. „Denn der König der Tartaren strebt einzig nach der Gewalt über alle Menschen und der Alleinherrschaft über die ganze Welt, und er dürstet nicht nach dem Tod eines einzelnen, sondern er gestattet einem jeden, seinem Glauben anzuhängen, nachdem er ihn unterworfen hat. Und niemanden zwingt er zu einem ihm widerstrebenden Glauben." (Matthaeus Parisiensis, Chronica Maiora, 6, S. 114, zit. nach Bezzola, S. 137).
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dem Verhältnis von irdischer und religiöser Zielsetzung. An unterster Stelle rangierten die pagani, die Heiden, die nur wenig oder gar nichts von Gott wußten, keine religiösen Gesetze und kein Priesteramt kannten, so daß ihre - immerhin vorhandenen - religiösen Vorstellungen sehr ungeordnet waren und jeder sich seinen eigenen Gott schuf, den er verehrte und fürchtete. Auf der zweiten Stufe folgten die Götzenanbeter (ydolatri), die zwar Priester und Heiligtümer hatten und auch Glocken, mit denen sie zum Gebet läuteten, aber an viele Götter glaubten und das ewige Leben nicht kannten. Die dritte Stufe nahmen dann die Tartaren (secta tartarica) ein, die zwar an einen Gott glaubten, der die Welt erschaffen habe, aber dennoch in der Weise der Götzenanbeter das Feuer und die Türschwelle verehrten und ihnen magische Kräfte zuschrieben.187 „In tercio gradu sunt Tartari qui unum Deum adorant omnipotentem et colunt, set nichilominus tarnen ignem venerantur et limen domus; nam omnia traducunt per ignem: unde res suspectas et exennia et nuncios ducunt inter ignes et alia, ut purificentur. Nam lex eorum dicit omnia expiari per ignem; quicumque eciam calcat super limen domus, dampnatur ad mortem. Et in hiis duobus et quibusdam aliis sunt brutales multum."
Als hervorstechendstes Merkmal der secta tartarica begriff Bacon neben den religiösen Merkmalen die Herrschsucht (libido dominandi) der Mongolen, die sie glauben ließ, sie seien die Herrscher der Welt und alle Völker müßten sich ihnen unterwerfen. Um ihrer Machtgier willen würden sie selbst auf irdische Freuden verzichten, Pferdemilch trinken und ekelerregende Speisen essen.189 Darin unterschieden sich die Tartaren von den auf der vierten Stufe folgenden Sarazenen, die zwar an einen Gott glaubten und religiöse Gesetze hatten, aber in Wirklichkeit ihr Heil nur in dieser Welt suchten und sich sinnlichen Freuden hingaben, ohne sich darum zu kümmern, daß sie damit das ewige Leben verloren und der Verdammnis anheimfielen. Auf der fünften und damit höchsten Stufe unter den nicht-christlichen Religionen standen schließlich die Juden, die auf der Stufenleiter der Religionen der christlichen Religion zwar am nächsten standen, sie andererseits aber am hartnäckigsten leugneten, weil sie in Christus einen falschen Messias sahen. Bacon hatte für die Darstellung der secta tartarica in erster Linie den Bericht Wilhelms von Rubruk benutzt, daneben aber auch Johannes de Piano Carpini und mögli-
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Die Systematik ist in ihren Einzelheiten bei Bacon allerdings nicht widerspruchsfrei und teilweise schwankend. An manchen Stellen ersetzt Bacon die Sarazenen durch die secta lex Antichristi (so im Opus maius II, S. 370), an anderen Stellen fehlen die idolatri, und die Chaldäer nehmen den Platz der Tartaren ein (vgl. Opus tertium, S. 272f.). Roger Bacon, Moralis philosophia, S. 192. „Auf der dritten Stufe stehen die Tartaren, die an einen allmächtigen Gott glauben und zu ihm beten, aber nichtsdestoweniger das Feuer und die Türschwelle verehren; sie führen nämlich alles am Feuer vorbei, ihnen verdächtige Gegenstände ebenso wie Geschenke und Gesandte und andere, um sie zu reinigen. Denn ihr Gesetz besagt, daß alles durch das Feuer gereinigt werde; es besagt auch, daß jeder, der die Türschwelle berührt, zum Tode verurteilt werden soll. Und in diesen beiden und ähnlichen Dingen sind sie sehr grausam." Vgl. auch Opus maius II, S. 370. Vgl. ibid., S. 190.
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cherweise Andreas von Longjumeau herangezogen.190 Durch sie hatte er Kenntnis vom Glauben der Tartaren an einen Gott, von ihren Reinigungvorschriften, die das Hindurchtragen von Gegenständen zwischen zwei Feuern vorschrieben, um böse Geister zu vertreiben, und von dem Tabu, die Türschwelle zu berühren. Da der Glaube an einen Gott mit den heidnischen magischen Praktiken nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen war, schrieb Bacon den Tartaren eine eigene Stufe der Religiosität zu, die sie sowohl von den Heiden als auch von den Gesetzesreligionen der Muslime und Juden abhob. Eine so differenzierte Einordnung des Glaubens der Tartaren blieb jedoch die Ausnahme; in der Regel wurden sie, zumal in den optimistischeren Missionstraktaten, undifferenziert den pagani zugeordnet. Damit ging eine durchaus optimistische und positive Sicht der Heiden einher, denn gerade weil sie auf der untersten Stufe der Religiosität standen, galten pagani und idolatri als besonders empfänglich für die Mission. So betonte Ricoldo da Montecroce, der sich auf eigene Missionserfahrungen in Bagdad berufen konnte, die Tartaren seien von allen Völkern am leichtesten zu bekehren, weil sie der christlichen Religion am fernsten stünden, während die schismatischen Christen am schwersten zu bekehren seien.191 Auch Ramon Lull führte die Missionierbarkeit der Tartaren nicht nur darauf zurück, daß sie die Predigt des christlichen Glaubens in ihrem Land gestatteten, sondern vor allem darauf, daß sie selbst kein religiöses Gesetz hätten.192 Neben der Systematisierung des in den ersten Kontakten gewonnenen Wissens begründete die Institutionalisierung der Mission bei fremden Völkern auch die Systematisierung der Argumente, mittels derer eine operative Kontinuität der Mission hergestellt werden sollte. Der Ordensgeneral der Dominikaner Humbert de Romans bezeichnete es deshalb in seiner Abhandlung De officiis ordinis als eine der wichtigsten Aufgaben des Ordens, Traktate auszuarbeiten, in denen die Missionare mit Argumenten bewaffnet würden, um die barbarischen Nationen, die Heiden, Sarazenen, Juden, Häretiker und Schismatiker zu überzeugen.193 In die Reihe dieser Traktate gehört auch die zwischen 1260 und 1264 entstandene Summa contra Gentiles des „doctor angelicus" Thomas von Aquin. Thomas ging vom natürlichen Erkenntnisvermögen (lumen naturale) aller Menschen und dem ebenfalls natürlichen Verlangen (desiderium naturale) nach Gott aus. „Gott zu erkennen", betrachtete er als das natürliche Ziel aller verständigen Substanz, und dieses Ziel drückte sich nach seiner Überzeugung selbst noch im Irrglauben der Heiden aus; auch wenn ihr Glaube falsch war, so offenbarte er doch, daß sie von dem
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Dagegen geht Bezzola davon aus, daß Bacon sich nahezu ausschließlich auf Wilhelms von Rubruk Bericht stützte, während er den Bericht Johannes' de Piano Carpini kaum ausgewertet und den von Simon de St. Quentin überlieferten Bericht des Dominikaners Andreas von Longjumeau nicht verwendet habe. Da sich deren Informationen, etwa über das Türschwellentabu, jedoch überschnitten und Wilhelm sich zumal auf beide Vorläufer explizit berief, kann davon nicht sicher ausgegangen werden. Wilhelm bildete aber zweifellos Bacons Hauptquelle, aus der er einige Teile nahezu wörtlich abschrieb. Vgl. Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 201 f.
191 192 193
Vgl. Libeilus ad nationes orientales, S. 163. Vgl. Jean Richard, La papauté et les missions d' Orient, S. 119f. Vgl. Jean Richard, La papauté et les missions d'Orient, S. 117.
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Wunsch beseelt waren, Gott zu erkennen. Da das desiderium naturale aber nur zu erkennen erlaubte, daß Gott sei, sollten die Missionare, ausgehend von der sinnlichen Erkenntnis, mit vernunftgemäßen Argumenten erläutern, was Gott sei, und so zum wahren Glauben fuhren. Auf der via rationis, dem Weg rationaler Begründung, sollte die Annahme des christlichen Glaubens auf der Grundlage der natürlichen Vernunft der Heiden Schritt für Schritt vorbereitet werden. 194 Die Worte der Heiligen Schrift spielten deshalb in der Missionstheorie als Mittel der Glaubensverbreitung keine besonders große Rolle, denn ihr Sinn erschloß sich nur für den, der glaubte. Die natürliche Vernunft dagegen erlaubte zwar keine unmittelbare Erkenntnis Gottes, aber sie konnte den Weg dahin weisen. Deshalb, so Thomas, sei es notwendig, auf die natürliche Vernunft zu rekurrieren, auch wenn diese in Fragen des Glaubens defizitär sei. Mit ihrer Hilfe könnten aber Irrlehren widerlegt und so die Wahrheit des christlichen Glaubens demonstriert werden. 1 9 5 Ramon Lull zufolge konnte der christliche Glaube deshalb rational einsichtig gemacht werden, weil es in allen Religionen gelehrte Männer gebe, deren Streben auf die Ergründung der religiösen Wahrheit gerichtet sei.196 Mit diesen und ähnlichen Argumenten entwickelte sich eine positive Betrachtung der Heiden wie auch der Sarazenen, welche die Missionstheoretiker der Mendikantenorden zusehends von den Kreuzzugspropagandisten entfernte. In beiden Mendikantenorden wurde immer wieder das Verhalten der Kreuzritter im Heiligen Land kritisiert, das der Ausbreitung des christlichen Glaubens eher hinderlich als förderlich sei. In Abgrenzung von den Kreuzfahrern berichtete Ricoldo da Montecroce vom echten Tugendstreben vieler Sarazenen und verurteilte den Geist jener Christen, „qui nolunt facere pro lege vitae, quod damnati (sc. Saraceni) faciunt pro lege mortis". 197 Der in Akkon im Konvent seines Ordens lehrende Dominikaner Wilhelm von Tripolis trat ebenfalls für eine Missionsarbeit „sine militantibus armis" auch gegenüber den Sarazenen ein und beschrieb in seiner Schrift De statu saracenorum die Grundlehren des Islams und wies auf Anknüp198
fungspunkte für die christliche Mission hin. Diese relativ positive Sichtweise der Sarazenen und des islamischen Gesetzes beschränkte sich freilich auf jene Texte, die ihrer Missionierung das Wort redeten. Wenn die Sarazenen dagegen als Missionskonkurrenten auftraten, wie bei den Tartaren, deren Islamisierung im Ilkhanat und dem Reich der Goldenen Horde seit 1260 rasch vorankam, wurden sie sehr viel negativer beschrie194 195 196
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Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, qu. 88, sowie Summa contra Gentiles, III, 17, 25. Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, 1,2. Vgl. Berthold Altaner, Glaubenszwang und Glaubensfreiheit in der Missionstheorie des Raymundus Lullus, in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft 48 (1928), S. 5 8 6 - 6 1 0 , hier S. 593. Ricoldo da Montecroce, Libellus ad nationes orientales, S. 129. (...) „die nicht bereit sind, für das Gesetz des Lebens zu tun, was jene Verdammten für das Gesetz des Todes zu tun bereit sind." Damnati waren die Sarazenen für Ricoldo nur, weil sie nicht dem Stand der Getauften angehörten, womit kein moralisches Urteil verbunden war. Vgl. M. Voerzio, Fra Guglielmo da Tripoli, orientalista domenicano nel secolo XIII, in: Memorie Domenicane 71 (1954), S. 73-113, 141-170, 2 0 9 - 2 5 0 sowie 72 (1955), S. 127-148. Die Schrift De statu saracenorum Wilhelms von Tripoli war eine der Hauptquellen für die Darstellung der Sarazenen und ihres Glaubens bei Mandeville.
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ben.199 Nahezu einhellig wurde von den Missionstheoretikern der Mendikantenorden aber die in der Kreuzzugsproganda vertretene „Bekehrung mit dem Schwert" abgelehnt, weil sie dem schon von Augustinus vertretenen Prinzip der Willensfreiheit widersprach, auf der allein die wahrhafte Annahme des Glaubens beruhen könne.200 Humbert de Romans, der für das zweite Konzil von Lyon 1274 die Argumente der Kreuzzugskritiker in seinem Opus tripartitum zusammengestellt hatte, beantwortete die aufgeworfene Frage, „quae utilitas est in impugnatione Saracenorum?", mit einer klaren Verneinung jeglichen Nutzens der Kreuzzüge für die Christenheit. „Per hoc enim non provocantem ad conversionem, sed potius provocantur contra fidem christianam. Item quando vincimus et eos occidimus, mittimus eos ad infernum, quod videtur esse contra charitatem."
Mit dem Argument, daß selbst ein Sieg über die Sarazenen und ihre Vernichtung einer Niederlage des Christentums gleichkomme, weil er die Sarazenen der Hölle überantworte, reklamierte Humbert unter Verweis auf die christliche Caritas eine Verantwortung für das Heil der „Anderen". Diese Verantwortung ließ nur die Überzeugung durch die Verkündigung des Wortes und vernunftgemäße Argumente zu, denn unfreiwillig konnte das Heil niemals erlangt werden. Mit der Zuversicht, daß die Ungläubigen allein durch rational nachvollziehbare Argumente vom christlichen Glauben überzeugt werden könnten, trat freilich ein Problem in den Mittelpunkt, das bis dahin zwar in den komplementären biblischen Erzählungen vom Turmbau von Babel und dem Pfingstwunder narrativiert und durch das ganze Mittelalter hindurch erörtert worden war, praktisch aber keine vergleichbare Rolle gespielt hatte: das Problem der Fremdsprachen.202 Im Hinblick auf die Sarazenen war dieses Problem relativ leicht lösbar, weil viele der im Heiligen Land lebenden Mendikanten arabisch sprachen und es auch lesen konnten. Hier stellte sich für die Mission eher das Problem, daß die Sarazenen, wie Humbert de Romans gemeint hatte, durch die Kreuz199
Vgl. Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 117ff. Entgegengesetzte Positionen hinsichtlich des richtigen Verhaltens gegenüber den Sarazenen konnten, wie sich etwa an Ramon Lull zeigen läßt, durchaus von ein und demselben Autor vertreten werden. Vgl. hierzu Helmut G. Walter, Gens consilio, S. 247ff. Der Funktionsaspekt war für die jeweils vertretene Argumentation offensichtlich entscheidender als festgefugte Überzeugungen oder ein dichotomisches Weltbild. Die Bedeutung des Funktionsaspektes für die Darstellung der Sarazenen in der höfischen Literatur hat Rüdiger Schnell bereits differenziert dargestellt und begründet. Vgl. Rüdiger Schnell, Die Christen und die »Anderen«, bes. S. 192ff.
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Kreuzzüge wurden in den Mendikantenorden nur dann gerechtfertigt, wenn die Mission behindert wurde oder als völlig aussichtslos galt. Zum Konzept der freiwilligen Konversion vgl. Randolph E. Daniel, The Franciscan Concept of Mission, passim. Humbert de Romans, Opus tripartitum, zit. nach Rüdiger Schnell, Die Christen und die »Anderen«, S. 197. „Dann damit bewegt man sie nicht dazu, sich zu bekehren, sondern bringt sie gegen den christlichen Glauben auf. Wenn wir sie aber besiegen und töten, schicken wir sie in die Hölle, was gegen das Gebot der Nächstenliebe verstößt." Zur Geschichte der Erklärung der Sprachenvielfalt ist nach wie vor Arno Borsts Turmbau von Babel unverzichtbar. Vgl. insbesondere die Kap. III, 7: Weltordnung und Heilsgeschichte im 12. Jahrhundert und III, 8: Scholastik und Volksglaube im 13. Jahrhundert.
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züge gegen die Christen aufgebracht worden waren und die Predigt des christlichen Glaubens nicht gestatteten, sondern christliche Missionare verfolgten. Sein Optimismus, daß die babylonische Sprachverwirrung überwunden werden könne, weil Gott den Predigern Christi die genera linguarum omnium verliehen habe, gründete sich in erster Linie auf das bei den Dominikanern von Anfang an propagierte Studium. Heute, so meinte Humbert, könne durch das Studium erreicht werden, was Gott den Aposteln einst im 203
Pfingstwunder geschenkt habe. Im Umgang mit den Tartaren freilich war das Wunder des Studiums nicht leicht zu erlangen, weil ihre Sprache dem Abendland gänzlich unbekannt war und es überdies in ihrem riesigen Herrschaftsgebiet keine einheitliche Sprache, erst recht keine leicht erlernbare einheitliche Schriftsprache gab.204 Die Problematik der sprachlichen Verständigung hatten schon die ersten Gesandtschaftsberichte hervorgehoben, darunter aber in erster Linie das Problem der richtigen Auswahl von Dolmetschern begriffen. So berichtete Johannes de Piano Carpini im neunten Buch seiner Historia mongalorum, sein aus Kiew stammender Dolmetscher „non erat sufficiens" und habe bei einer der Zwischenstationen bei den Tartaren den Inhalt des päpstlichen Briefes nicht erläutern können.205 Und Wilhelm von Rubruk, der in seinem Epilog empfahl, der Papst möge einen Gesandten mit allem Pomp zum Großkhan schicken, damit er dessen törichte Weltherrschaftsansprüche im Namen der gesamten Christenheit zurückweisen könne, vergaß nicht zu betonen, daß er dafür mehrerer gut ausgebildeter Dolmetscher bedürfe.206 Die Anforderung an die Missionare waren aber noch sehr viel höher als die Anforderungen an die Gesandten, denn sie sollten sich nicht nur verständigen, sondern sie sollten auch überzeugen. In nahezu allen missionstheoretischen Schriften wurde der defectus linguarum als unhaltbarer Zustand beschrieben und die Forderung erhoben, die Missionare müßten die Sprachen der Missionsvölker selbst erlernen.207 Es ist daher kein Zufall, wenn der dominikanische Missionar und Missionstheoretiker Ricoldo da Montecroce in seinem Libellus ad nationes orientales die Kenntnis der Landessprachen an erster Stelle der Anforderungen nannte, die von den Missionaren unbedingt erfüllt werden müßten.208 Missionare, so betonte er, dürften auf keinen Fall mit Hilfe von Dolmetschern predigen, weil diese nicht in der Lage seien, ihre Worte richtig wiederzugeben, denn die Dolmetscher beherrschten zwar die üblichen Worte zum Kaufen, Verkaufen und Zusammenleben, aber sie könnten die Inhalte des Glaubens nicht richtig ausdrükken.209 Ramon Lull schlug zur Lösung des Problems in seinem Tractatus de modo con203 204 205
Vgl. Arno Borst, Der Turmbau von Babel, Bd. II/2, S. 774. Vgl. zum Problem der mongolischen Sprachen Michael Weiers, Herausbildung und Entwicklung mongolischer Sprachen, in: Die Mongolen, S. 2 8 - 6 9 , hier bes. S. 58ff. Vgl. ed. Menestö, S. 308f. Zum Problem der Sprachkenntnisse und des Dolmetscherwesens vgl. Berthold Altaner, Sprachkenntnisse und Dolmetscherwesen; Jean Richard, L'enseignement des langues orientales en occident.
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Vgl. ed. Wyngaert, S. 331. Vgl. Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 139f.
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Daneben forderte er eine solide Kenntnis der Heiligen Schrift, die grundlegende Kenntnis der Lehren der orientalischen Christen sowie Demut und Hochachtung gegenüber den NichtGläubigen. Vgl. Jean Richard, La papauté et les missions, S. 107f.
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Vgl. Ricoldo da Montecroce, Libellus ad nationes orientales, S. 168f.
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vertendi infideles vor, an verschiedenen Orten studia einzurichten, in denen die Missionare die Sprachen der Missionsländer erlernen konnten. Unter diesen Orten befanden sich, neben osteuropäischen Städten und Universitätsstädten wie Paris, auch Genua und Venedig, weil die dortigen Kaufleute nach Lulls Überzeugung gute Kontakte zu den Tartaren unterhielten und ihre Sprache beherrschten. Ob freilich die Kaufleute in Genua und Venedig, wegen deren Sprachkenntnis Lull studia für Missionare in den beiden Fernhandelszentren einrichten wollte, den Missionaren tatsächlich hätten von Nutzen sein können, darf bezweifelt werden, denn auch für sie galt zweifellos, was Ricoldo da Montecroce über die Dolmetscher geschrieben hatte: Sie kannten die Worte, die zum Kaufen und Verkaufen nützlich waren und waren auch der Sprache soweit mächtig, daß sie sich in der fremden Umgebung bewegen konnten, aber sie hätten sicherlich keine Sprachkenntnisse vermitteln können, die auch nur annähernd für die Vermittlung der Glaubensinhalte geeignet gewesen wären. Sprachliche Kompetenz war freilich nur ein Problem bei der Vermittlung des wahren Glaubens mittels vernunftgemäßer Argumente. Felicitas Schmieder hat zu recht darauf hingewiesen, daß selbst bei exzellenter Fremdsprachenkenntnis das Problem der Übertragung der christlich-theologischen Terminologie bestehen blieb. „Bei ihren Klagen über die Unfähigkeit der Übersetzer verkennen die meisten Missionare, daß ein Volk, das keine abstrakten Religionsvorstellungen entwickelt hat, auch nicht über die sprachlichen Möglichkeiten verfugt, diejenigen einer Hochreligion auszudrücken."210 Neben die kulturellen Grenzen der Sprachfähigkeit und der Denkweisen trat m. E. freilich noch ein anderes Problem: die kulturellen Grenzen der Kommunikationsformen. Deren Grenzen waren auch in einer face-to-face Kommunikation unter besten sprachlichen Bedingungen und bei größtmöglicher begrifflicher Annäherung unüberwindlich, weil Rede und Gegenrede, selbst wenn sie dasselbe besagten, nicht unbedingt denselben kommunikativen Status bezeichneten. Das galt erst recht für die Methode der gelehrten Disputation mit den Vertretern anderer Religionen, bei der es nicht nur auf Sprachkenntnisse und die Vermittelbarkeit der Terminologie ankam. Wilhelm von Rubruk hatte das Verfahren der gelehrten Disputation zum Zwecke der Mission bereits lange vor der Abfassung der ersten Traktate erprobt und sein Scheitern beschrieben. Seine Skepsis bezog sich dabei freilich nicht auf die Möglichkeit, mit Vernunftgründen die Überlegenheit des christlichen Glaubens zu beweisen, als vielmehr darauf, die Kraft des Beweises in der Fremde auch tatsächlich zur Anwendung bringen zu können. Zweifellos war auch Wilhelm wie Thomas von Aquin der Überzeugnung, „Deus non facit contra naturam", was nichts anderes hieß als „Deus non facit contra rationem". Aber gerade die Schärfe der dialektischen Beweisführung, die die Glaubensinhalte begrifflich zerlegte und nach dem Modell der scholastischen quaestiones zergliederte, erwies sich in der Fremde als stumpfes Schwert, denn sie war nicht nur auf exzellente Sprachfähigkeit und hohe Abstraktionsfähigkeit angewiesen, sondern auch auf die Herstellung einer kommunikativen Situation, in der die Überzeugungskraft der Argumente in einem anschließenden Bekenntnis meßbar wurde. Gerade daran aber fehlte es: Wilhelms Methode der scharfsinnigen Argumentation, die auf hohe begriffliche Präzision angewiesen war, zerstob nicht nur im Gestammel seines - häufig betrunkenen 210
Vgl. Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 142.
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Dolmetschers, sie wurde auch nicht nur das Opfer ihrer eigenen Komplexität, sondern war schon gescheitert, bevor das erste Wort gesprochen war. 11 Wilhelms Darstellung machte freilich die Nestorianer für das Scheitern der logischdisputatorischen Beweisführung verantwortlich, denn als er am Hofe Möngke Khans mit dem Sohn Meister Wilhelms, einem verschleppten französischen Goldschmied, endlich einen guten Dolmetscher zur Verfügung hatte, fielen ihm die Nestorianer ins Wort und machten die Beweiskraft seiner Argumente zunichte. Bei einer von Möngke angeregten Disputation der an seinem Hof vertretenen Glaubensrichtungen hatte Wilhelm nach seiner Auffassung die Vielgötterei der Götzenanbeter (Tuinen) mit dem Argument widerlegt, es sei selbstwidersprüchlich, einerseits von der Konkurrenz vieler Götter auszugehen und andererseits von ihrer Macht Hilfe zu erhoffen, da doch ein Gott die Macht des anderen zunichte machen könne. Wenn es aber einen allmächtigen Gott gebe, der über allen anderen stehe, sei es überflüssig, noch andere Götter anzubeten. Argumentativ hatten die ydolatri dem nichts mehr entgegenzusetzen, und die Sarazenen quittierten ihr betretenes Schweigen mit lautem Gelächter. Als Wilhelm sich nach seiner Darstellung aber anschickte, die Argumente der Sarazenen zu widerlegen, hätten die Nestorianer, mit denen er gemeinsam auftreten mußte, weil die Mongolen zwischen lateinischen und nestorianischen Christen keinen Unterschied machten, das Wort ergriffen und alles verdorben: „Et cum vellem reddere rationes de unitate divine essentie et trinitate in audientia omnium, dixerunt michi nestorini de terra quod sufficeret, quia ipsa volebant loqui. (...) Erat ibi quidam senex sacerdos de secta Iugurum, qui dicunt unum Deum, tamen faciunt ydola, cum quo multa loquti sunt, narrantes omnia usque ad adventum Christi ad iudicium, et etiam per similitudes ostendentes ei et sarracenis Trinitatem. Omnes audierunt absque ulla contradictione, nullus tamen dixit: «Credo, volo fieri christianus». Hiis peractis nestorini pariter et sarrraceni cantaverunt alte, tuinis tacentibus, et postea biberunt omnes copiose."
Während Wilhelm überzeugende rationes über Einheit und Dreifaltigkeit der göttlichen Substanz anfuhren wollte, ergingen sich die Nestorianer in langatmigen Erzählungen {narrantes omnia) und Vergleichen (similitudes), denen keiner der Teilnehmer widersprach, die aber auch kein Bekenntnis argumentativ „erzwangen".213 Die Disputation, von der sich der scholastisch geschulte Minderbruder so viel erhofft hatte, endete mit
211 212
Vgl. ed. Wyngaert, S. 249. ed. Wyngaert, S. 297. „Als ich nun die Beweisgründe für die Einheit des Wesens Gottes und die Dreifaltigkeit vor allen Zuhörern erbringen wollte, sagten mir die dortigen Nestorianer, daß es genug sei und daß sie jetzt reden wollten. (...) Bei der Disputation war auch ein alter Priester der Uiguren anwesend, die an einen Gott glauben, sich aber dennoch Götzenbilder machen. Mit ihm sprachen sie sehr viel und erzählten ihm alles bis zur Ankunft Christi und legten ihm, ähnlich wie sie dies bei den Sarazenen in der Frage der Dreieinigkeit getan hatten, alles durch Gleichnisse dar. Und alle hörten ihnen widerspruchslos zu, aber keiner sagte: 'Ich glaube, ich will Christ werden'. Nachdem sie dies beendet hatten, sangen die Nestorianer und die Sarazenen laut, während die Tuinen schwiegen, und danach tranken alle reichlich."
213
Vgl. Johannes Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit, S. 312.
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Gesängen und einem Trinkgelage - was Wilhelms Zorn über die Nestorianer erregte und seine Skepsis gegenüber der Missionierbarkeit der Tartaren begründet haben mag. 214 Wilhelms Beschreibung des Ereignisses war sicherlich korrekt, aber sie übersprang die kulturellen Sinnsystemdifferenzen nicht, in denen die gleichen Worte nicht das Gleiche bezeichneten. Die sogenannte Glaubensdisputation, auf die in der Missionstheorie so große Hoffnungen gesetzt wurde, ähnelte nämlich eher einer höfischen Performance als einem argumentativen Wettbewerb. Bekehrung war wohl kaum ihr Ziel, und nichts war ihr daher weniger angemessen als die kommunikativen Vermittlungsformen der scholastischen quaestio und ihr argumentativer Duktus. Die Worte der Glaubensvertreter erfüllten hier weitgehend die Funktion, die an den europäischen Höfen dem Liedvortrag des Sängers zukam, nämlich in einer spezifischen Form kunstvoll-elaborierter Kommunikation als Teil der höfischen Selbstrepräsentation zu fungieren. Bei den Mongolen dürfte diese Art der Kommunikation der integrativen Stabilisierung ihrer Fremdherrschaft gedient haben, indem sie verdeutlichte, daß alle Religionen unter ihrer Herrschaft Platz finden und im prachtvollen Rahmen einer höfischen Performance um die Gunst des Herrschers wetteifern konnten. Die Berücksichtigung der konkreten kommunikativen Situation, in der der Missionar seine Argumente vortragen mußte, fehlte freilich in den Traktaten, die den Missionaren die vernunftgemäßen Argumente für die Mission zur Verfugung stellten. Während das Problem der Dolmetscher und das Problem der Anpassung der Missionare an die Konventionen und Riten der fremden Herrschaft immer wieder hervorgehoben wurden, blieb die kommunikative Situation bei der Glaubensdisputation weitgehend unberücksichtigt. Wilhelms Bericht, der darüber - freilich bloß implizit - Aufschluß hätte geben können, zirkulierte, wie oben dargestellt, nicht im Kommunikationssystem des Ordens, sondern wurde allein von Roger Bacon benutzt, der durch den Orden selbst mit einem Schreibverbot belegt war und deshalb keinerlei Widerhall fand. Die früheste Quelle aus dem Franziskanerorden, die Wilhelms von Rubruk Reise überhaupt erwähnt, ist eine um 1300 entstandene franziskanische Sammlung von Predigtexempla, in der Frater Gulielmus Flandricus für sein Auftreten vor Khan Batu heftig kritisiert wurde, weil er dem König der Tartaren ewige Strafen angedroht und so dessen Bekehrung eher verhindert als gefordert habe. „Dixit frater Iacobus de Iseo, se vidisse Tripoli in domo fratrum regem Armeniae referentem, se sie audivisse a rege Tartarorum, culpante et non approbante modum, quem tenuerat coram ipso frater Gulielmus flandricus lector. Cum enim missus (Fr. Gulielmus) a domino rege Franciae cum litteris suis ante illum magnum regem Tartarorum venisset, coepit ei suadere fidem christianam, et dixit, quod tarn ipse tartarus quam omnes infideles morte perituri erant aeterna et igne perpetuo damnandi. Respondit ille quasi admirans de modo eius, quem tenebat, volens illi suadere fidem christianam. 'Nutrix, inquit, primo in os pueri stillare ineipit guttas lactis, ut puer dulcedinem sentiens alliciatur ad sugendum; postea praebet ei mamillam: sie primo debueras plane et rationabiliter suadere nobis, qui videmur omnino ab hac doctrina alieni. Sed statim
214
Vgl. ed. Wyngaert, S. 331.
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comminasti poenas aeternas.' Et dicebatur per regem illum Armeniae, quod ille religiosus, qui aliter processerat, habuit gratiam coram rege illo Tartarorum."
Die Notiz bezieht sich auf Wilhelms Empfang bei Batu, bei dem er nach seinen Angaben den Khan mit den Worten aus Markus 16,16 ermahnte: „Noveritis pro certo quod celestia non habebitis nisi fueritis christianus. Dicit enim Deus: Qui crediderit et baptizatus fuerit, salvus erit. Qui vero non crediderit condempnabitur."
Daß ausgerechnet Wilhelm dafür kritisiert wurde, nicht versucht zu haben den Mongolenkhan „plane et rationabiliter" zu überzeugen, hängt vermutlich damit zusammen, daß die Informationen, auf die sich die Textstelle bezieht, nicht auf seinem Bericht, sondern ausschließlich auf den Erklärungen des armenischen Königs beruhten, der über die Tartaren verbreitet hatte, sie seien dem christlichen Glauben sehr zugeneigt. 217 Vom kommunikativen Status der Disputationen wußte sie ebensowenig wie von der Politik der Armenier, die unter völlig anderen Prämissen agierten als die politischen Mächte Westeuropas. Der deutlich kritische Ton der franziskanischen Exempla-Sammlung und die geäußerte Überzeugung, der Khan hätte Wilhelm gnädig aufgenommen, wenn er anders vorgegangen wäre, verweisen vielmehr auf die nicht unerheblichen Spannungen innerhalb des Franziskanerordens hinsichtlich der Form der Mission. Die dem Khan in den Mund gelegten Worte, die Amme träufele dem Knaben zunächst einige Tropfen der süßen Milch in den Mund, damit er zu trinken verlockt werde, und so hätte auch Wilhelm klar und verständig mit dem Mongolenkhan sprechen müssen, anstatt ihm gleich mit ewigen Strafen zu drohen, setzte offenbar auf die in der Regula non bullata geforderten Demut des Missionars, wohingegen sie sich davon distanzierte, daß der Missionar von den Tugenden und den Strafen sprechen sollte, wie es die Regula bullata vorschrieb. Solche Auseinandersetzungen über die Weise, wie der Missionar den fremden Herrscher ansprechen sollte, ob mit süßen, mahnenden oder tadelnden Worten, spielten sich 215
Analecta Franciscana, I, S. 416f. „Bruder Iacobus de Iseo berichtet, er sei im D o m zu Tripolis beim Bericht des Bruders des armenischen Königs zugegen gewesen, der v o m König der Tartaren gehört habe, welch tadelnswerte und ungeeignete Haltung der Lektor Bruder Wilhelm aus Flandern eingenommen habe. Als dieser nämlich vom französischen König mit Briefen zum großen König der Tartaren gesandt worden war, habe er nach seiner A n k u n f t versucht, diesen v o m christlichen Glauben zu überzeugen, und gesagt, daß die Tartaren wie alle Ungläubigen zum ewigen Tod und dem ewigen Feuer verdammt seien. Darauf antwortete dieser, erstaunt über die Art, mit der er ihn vom christlichen Glauben überzeugen wollte: » W e n n die A m m e « , so sagte er, » den Knaben stillt, so beginnt sie damit, ihm einige Tropfen in den M u n d zu träufeln, damit der Knabe die Süße schmeckt und verlockt wird zu saugen; erst danach reicht sie ihm die Brust. So hättest du uns, denen diese Lehre völlig fremd scheint, zuerst klar und verständlich überzeugen müssen. Stattdessen aber hast du sogleich mit ewigen Strafen gedroht.« Und er ließ durch j e n e n König der Armenier sagen, daß seine Religion, wenn er anders vorgegangen wäre, am H o f e des Königs der Tartaren a n g e n o m m e n worden wäre."
216
ed. Wyngaert, S. 215. „Seid dessen gewiß, daß ihr der himmlischen Güter nicht teilhaftig werdet, wenn ihr nicht den christlichen Glauben annehmt. Denn so spricht der Herr: Wer da glaubt und getauft sein wird, der wird erlöst werden. Wer aber nicht wahrhaft glaubt, der wird verdammt werden." Vgl. dazu Kap. 1,2.
217
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freilich weitgehend im luftleeren Raum ab. Weit entfernt davon, die Bedingungen der Mission bei den Mongolen wie anderen fremden Völkern auch nur annähernd zu beschreiben, waren sie lediglich Vehikel für Auseinandersetzungen innerhalb des Ordens, bei denen es um die Bewahrung des franziskanischen Erbes und den „wahren" Willen des Ordensgründers ging. Für das Verhalten der Missionare im Missionsland waren sie ebenso unerheblich wie für die Diskursivierung der Mission. Das Kontaktsystem der Mission war realiter vielmehr darauf angewiesen, daß die Missionare sich möglichst unproblematisch an ihre fremde Umgebung akkomodierten und ihren Glauben sinnlich erfahrbar repräsentierten. Papst Clemens V. verlangte in einem Rundschreiben an die Mendikantenorden von den Missionaren denn auch nicht die Anwendung der ausgearbeiteten Theorien, sondern ließ ihnen freie Hand zu missionieren „sicut pro loco et tem218 pore videritis expedire".
Missionare bei den Mongolen Die angewandten Missionsverfahren, soweit sie überhaupt rekonstruierbar sind, unterscheiden sich denn auch erheblich von den ausgearbeiteten Missionstheorien und lassen sich am ehesten den Briefen von Missionaren an ihre Ordensoberen und die Kurie entnehmen. Missionarsbriefe sind freilich nur in sehr geringer Zahl überliefert; je länger die Missionare in den Missionsgebieten blieben und je weiter diese von Europa entfernt waren, desto loser wurde der Kontakt der Missionare in ihre Heimat und zu der sie aussendenden Institution. Teilweise hatten die Missionare vermutlich auch kein Interesse an allzu engen Kontakten nach Europa, weil einige von ihnen sprichwörtlich ihr Heil in der Fremde suchen mußten. Für die Franziskanerspiritualen, die 1317 aus dem Orden ausgeschlossen wurden und deren Lehre von der völligen Besitzlosigkeit Christi und der Apostel als häretisch verurteilt wurde, waren die Missionsgebiete ein Fluchtraum, in dem sie sich der Verfolgung entziehen und 219 erhoffen konnten, ihre im Abendland verbotenen Lehren weiterverbreiten zu können. Andererseits ging offensichtlich ein erheblicher Teil der Missionarsbriefe nicht nur auf dem langen Weg nach Europa verloren, sondern auch in den Untiefen der Überlieferung, weil sie nur für den internen Gebrauch innnerhalb der Orden bestimmt waren und als Gebrauchstexte selten archiviert oder in Chroniken aufgenommen wurden. Dafür sprechen zumindest jene Dokumente, in denen Briefe von Missionaren220aus China und anderen Gebieten erwähnt werden, die selbst nicht überliefert sind. Einige der überlieferten Missionarsbriefe blieben nur deswegen erhalten, weil sie in Briefsteller aufgenommen oder von Chronisten abgeschrieben wurden, die zufällig von ihnen Kenntnis erlangt und sie an passender Stelle in ihre Chroniken 218 219
Vgl. Christian W. Troll, Die Chinamission im Mittelalter, S. 25. Aus Persien zumindest sind darüber Nachrichten in den Westen gedrungen. A b 1319 führte der Dominikaner Guillaume de Cigiis als Bischof von Täbris eine scharfe Auseinandersetzung mit dem dortigen Franziskanerkonvent, dem er vorwarf, den Spiritualen anzuhängen. Der Konvent weigerte sich daraufhin, seine bischöfliche Autorität anzuerkennen und verlangte seine Absetzung. Vgl. hierzu Jean Richard, La papaute et les missions d'Orient, S. 175ff.
220
Vgl. Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 49.
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eingefügt hatten. 221 Bereits diese Überlieferungslage macht deutlich, daß die Mitteilungen der Missionare in aller Regel nicht für die operative Wissensorganisation des Kontaktsystems eingesetzt, sondern als Teil der internen Nachrichtenübermittlung verstanden wurden, die nur kurzfristig verarbeitet wurden oder auf die man ad hoc reagierte. Dagegen betrachtete man es offensichtlich nicht als erforderlich, für die weitere Aufbewahrung der Briefe zu sorgen oder sie in das Memorialsystem der Ordenschronistik und den Wissensdiskurs über die Fremde einzuspeisen. Von Johannes de Montecorvino, der 1289 über Täbris und Indien nach China reiste, wo er bis zu seinem Tod insgesamt mehr als 35 Jahre als Missionar verbrachte, sind nicht mehr als drei Briefe überliefert, was deutlich weniger ist als die Zahl der von der Kurie im Zusammenhang mit seiner Missionsreise ausgestellten Briefe. 222 Bei den von ihm überbrachten Papstbriefen handelte es sich um offzielle Urkunden, für deren Aufbewahrung in den päpstlichen Registern institutionell Sorge getragen wurde. Auch seine 1307 erfolgte Ernennung zum Erzbischof von Khanbaliq und die im Zusammenhang damit ausgefertigten Briefe der Kurie wurden in den entsprechenden Regesten aufbewahrt. Dagegen wurden seine Briefe offensichtlich nicht immer zuverlässig übermittelt und archiviert. Von den drei überlieferten Briefen ist der erste, der auf der Hinreise nach China in Indien abgefaßt worden sein soll, nur in einer italienischen Übersetzung überliefert, die der Dominikaner Bartolomeo da Santo Conchordio an seinen Confrater Menentillo da Spoleto übermittelte. 223 Er bietet eine rein geo- und kosmographische Beschreibung Indiens, seiner Fauna und Flora und seiner Bewohner, ohne die Mission auch nur mit einem Wort zu erwähnen. 224 Die beiden späteren Briefe dagegen widmen sich nahezu ausschließlich der Missionsarbeit und verzichten weitgehend auf die Be221 222
223
224
Vgl. ibid., S. 4 6 - 4 8 . Vgl. das von Nikolaus IV. für Johannes de Montecorvino am 13. Juli 1289 in Rieti ausgestellte und an Großkhan Khubilai adressierte Beglaubigungsschreiben bei Lupprian, Die Beziehungen der Päpste, S. 2 5 5 - 5 7 (Nr. 54) sowie die Schreiben an Khan Khaidu und Ilkhan Arghun (ibid., Nr. 55 u. 56, S. 258-264). Weitere Briefe richteten sich an die Patriarchen, Erzbischöfe und Prälaten der Ostkirche, an den Bischof Dionysios von Täbris, den König von Armenien sowie dessen Schwester u. a. (vgl. Ernest Langlois, Les registres de Nocolas IV., Nrr. 2218-2227). Ob Johannes all diese Briefe tatsächlich übergeben konnte, erscheint jedoch zweifelhaft. Die Authentizität dieses Briefes war lange Zeit umstritten. Anastasius von den Wyngaert hat ihn im Anschluß an Moules Nachweis einer früheren Quelle, die sich unabhängig von der italienischen Übersetzung auf einen Brief des „Iohannes Cordelarius ex regione Mohabar Indie" (ed. Wyngaert, S. 338, Fn. 2) bezieht, jedoch als echt eingestuft und zusammen mit den beiden anderen Briefen Johannes' de Montecorvino in seine Sinica Franciscana aufgenomen. Alle drei Briefe dort, S. 340-355. Unklar bleibt jedoch, ob es sich um die Aufzeichnung mündlicher Mitteilungen eines Dritten oder um die Übersetzung eines vorliegenden lateinischen Briefes handelt, denn während der Dominikaner am Ende des Prologs behauptet „lo messo viddi e parlai chollui (...) e chosi testificava" (ed. Wyngaert, S. 340), was auf die Aufzeichnung mündlicher Mitteilungen schließen ließe, lautet das Explicit „iscritta fu questa lettera in Mabar cittade della provincia di Sitia dellindia di sopra, die XX dicienbre, anno Domini MCCX" (ed. Wyngaert, S. 345). Das angegebene Datum ist in jedem Falle falsch, denn aus Johannes' erstem Brief aus China geht hervor, daß er Indien bereits 1293 verlassen hat. Vgl. ed. Wyngaert, S. 340-345.
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Schreibung des Landes und seiner Bewohner. Seinen ersten überlieferten Brief aus China an die „patri Vicario et fratribus provincie Gazzarie" faßte Johannes de Montecorvino erst 1305 in Khanbaliq (Peking) ab, zwölf Jahre nachdem er dort eingetroffen war und seine Missionsarbeit bei Khubilai aufgenommen hatte.225 In dem Brief bat er die Brüder eindringlich, das Schreiben unter allen Umständen an den Papst, die Kardinäle und den Ordensprokurator der Franziskaner an der Kurie weiterzuleiten, zu denen er bis dahin offenbar keinerlei Kontakt mehr hatte. Bitter beklagte er sich, daß er die Missionsarbeit elf Jahre lang völlig allein und auf sich gestellt habe leisten müssen und selbst ohne geistlichen Beistand gewesen sei, so daß er nicht einmal die Beichte ablegen konnte. „Ego vero solus in hac peregrinatione fui sine confessione annis undecim, donec venit ad me frater Arnoldus Alamannus de provincia Colonie, nunc est annus secundus. Unam ecclesiam edificavi in civitate Cambaliech, ubi est precipua residentia Regis, quam ante sex annos complevi, ubi etiam feci campanile et ibi tres campanas posui. Battizavi etiam ibidem, ut existimo, usque hodie, circa sex millia personarum."
Die Übersendung dieses Schreibens war ihm nach seinen Aussagen nur möglich geworden, weil eine Gesandtschaft des persischen Ilkhans Ghasan Khan an den Hof des Großkhans kam, in deren Gefolge sich ein Freund („amicum nostrum") des Johannes befand, dem er ein Schreiben mitgeben konnte. Als ein Jahr später eine weitere Gesandtschaft des Ilkhans eintraf, der „bonas personas" angehörten, nutzte er die Gelegenheit, einen weiteren Brief an die Kurie zu richten.227 Danach ist kein Brief mehr von ihm überliefert, obwohl er noch weitere 25 Jahre bis zu seinem Lebensende in Peking blieb. Erneut beklagte er in dem zweiten Brief die Isolation, die er in der Fremde erleiden mußte und den fehlenden Kontakt zu den Mitbrüdern und der Kirche, um derentwillen er die peregrinatio auf sich genommen habe: „Ordo exigit caritatis ut longe lateque distantes et maxime qui peregrinantur pro lege Christi, cum revelata facie se invicem videre non possunt, saltem verbis et licteris consolentur. Cogitavi vos non sine causa mirari, quod tot annis in provincia tarn longinqua consistens nunquam meas
225
226
227
Christian W. Troll ist davon ausgegangen, daß Johannes de Montecorvino zahlreiche Briefe an die Kurie und an Mitglieder seines Ordens geschrieben habe (vgl. Die Chinamission im Mittelalter, S. 140). Da Johannes in dem auf 1305 datierten Brief jedoch seine Missionsbemühungen für den gesamten vorangegangenen Zeitraum von 12 Jahren beschreibt und seine Isolierung von allen Nachrichtensystemen des Abendlandes beklagt, scheint mir diese Annahme überzogen zu sein, vermutlich hatte er jedoch auch schon früher versucht, Briefe zu übermitteln, ohne jedoch j e eine Antwort zu erhalten, was erklären könnte, weshalb er über seine Tätigkeit für den gesamten vergangenen Zeitraum Rechenschaft ablegte. ed. Wyngaert, S. 347. „Auf dieser Pilgerschaft habe ich nun elf Jahre ganz allein und ohne die Beichte ablegen zu können verbracht, bis der Bruder Arnold der Deutsche aus der Provinz Köln zu mir gekommen ist, der jetzt im zweiten Jahr hier ist. In der Stadt Khanbaliq (Peking), wo sich die Residenz des vorgenannten Kaisers befindet, habe ich vor sechs Jahren den Bau einer Kirche vollendet, und ich habe auch einen Glockenturm dazugebaut und drei Glocken darin aufgehängt. Und ich habe dort bis zum heutigen Tage schätzungsweise 6000 Personen getauft." Vgl. ed. Wyngaert, S. 351. Von diesen „bonas personas" hatte er vermutlich erfahren, daß sein erster Brief weitergeleitet und beim Vikariat der Dominikaner in Persien angekommen war; ein Antwortschreiben hatten sie jedoch nicht mitgebracht.
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Kulturkontakte und Diskurse licteras recepistis, sed miratus sum non minus quod nunquam, nisi anno isto, recepi ab aiiquo fratre vel amico licteram vel salutationem, nec videtur quod aliquis recordatus fuerit mei, et maxime quia audivi quod rumores ad vos pervenissent quod ego mortuus essem."
In d e n b e i d e n B r i e f e n legte J o h a n n e s de M o n t e c o r v i n o R e c h e n s c h a f t über s e i n e bisherig e m i s s i o n a r i s c h e Tätigkeit ab, d i e er als den V e r s u c h beschrieb, die k a t h o l i s c h e K i r c h e in der U m g e b u n g des G r o ß k h a n s z u etablieren und durch den B a u v o n K i r c h e n u n d die Einrichtung v o n f e s t e n N i e d e r l a s s u n g e n zu institutionalisieren. In d e m S c h r e i b e n v o n 1 3 0 5 berichtet er, daß er in den ersten s e c h s Jahren s e i n e s A u f e n t h a l t e s in Khanbaliq e i n e K i r c h e mit e i n e m C a m p a n i l e errichtet und e t w a s e c h s t a u s e n d M e n s c h e n g e t a u f t habe. D a er die tartarische Sprache und Schrift gut beherrsche, habe er das g e s a m t e N e u e T e s t a m e n t und d e n Psalter übersetzt und in s c h ö n e n Lettern a u f s c h r e i b e n l a s s e n . 2 2 9 D a n e b e n berichtete er, er habe v o n den H e i d e n e t w a dreißig K n a b e n im Alter z w i s c h e n s i e b e n und e l f Jahren gekauft, die er getauft und in den christlichen Ritus eingeführt habe. I n s b e s o n d e r e habe er sie gelehrt, christliche Lieder z u s i n g e n , deren W o h l k l a n g d e m Großkhan viel Freude bereite. 2 3 0 In s e i n e m nächsten B r i e f berichtete J o h a n n e s v o n der Errichtung e i n e s weiteren G o t t e s h a u s e s , für das ihm der „ f i d e l u s christianus et m a g n u s mercator" Petrus de L u c a l o n g o e i n Grundstück g e s c h e n k t habe, das nur e i n e n S t e i n w u r f v o m Palast d e s Großkhans entfernt sei. 2 3 1 „Et nos in oratorio nostro secundum usum, officium cantamus solempniter quia notas non habemus. Dominus Chaam in camera sua potest audire voces nostras, et hoc mirabile factum lon-
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ed. Wyngaert, S. 351. „Die Ordnung der Barmherzigkeit gebietet, daß alle, die lang und weit entfernt sind und besonders diejenigen, die für das Gesetz Christi die Pilgerschaft auf sich genommen haben, zumindest durch Worte und Briefe getröstet werden sollten, wenn sie ihre Brüder schon nicht von Angesicht zu Angesicht sehen können. Ich habe oft gedacht, daß ihr Euch nicht ohne Grund wundern würdet, warum Ihr niemals Briefe von mir, der ich mich seit vielen Jahren in einem so fernen Land aufhalte, erhalten habt. Aber ich selbst habe mich nicht weniger darüber gewundert, warum ich bis zu diesem Jahr von keinem Bruder oder Freund Briefe oder Grüße erhalten habe, so daß ich den Eindruck hatte, als ob niemand mehr an mich denken würde, besonders nachdem ich vernommen hatte, zu Euch seien Gerüchte gedrungen, wonach ich tot sei."
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Welche Sprache er damit meinte ist nicht ganz klar, da es keine eigentlich „tartarische" Sprache gab. Christopher Dawson (The Mongol Mission, S. 227) hat vermutet, daß Johannes dje uighurische Sprache und Schrift meinte. Vgl. ed. Wyngaert, S. 347. Dieser Hinweis ist einer der Belege dafür, daß die Verbindungen zwischen den Missionaren und den Fernhandelskaufleuten in Ostasien relativ eng waren. Über den „magnus mercator" weiß man außer den Hinweisen Johannes' nichts. Von ihm selbst sind - wie bei Kaufleuten üblich keinerlei Dokumene überliefert. Die Annahme von Geschenken, auch wenn sie für die Kirche bestimmt waren, untersagte die Regula bullata ausdrücklich unter Verweis darauf, daß die Brüder wie Pilger und Fremde durch die Welt ziehen sollten. Für die Brüder, die in den Osten gepilgert waren, spielte diese Bestimmung aber offensichtlich keine Rolle mehr; Andrea da Perugia hatte sich von genuesischen Kaufleuten sogar die Unterhaltssumme, die der Großkhan ihm jährlich gewährte, in Florentiner Golddukaten umrechnen lassen und betont, sie belaufe sich auf mehr als einhundert Goldflorin (vgl. ed. Wyngaert, S. 376).
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ge lateque divulgatum est inter gentes, et pro magno erit sicut disponet et adimplebit divina dementia." Für d i e A k k o m o d a t i o n v o r Ort spielte die A b h a l t u n g v o n G o t t e s d i e n s t e n mit d e m damit v e r b u n d e n e n Läuten der K i r c h e n g l o c k e n und d e m feierlichen G e p r ä g e der Liturgie o f f e n s i c h t l i c h e i n e sehr v i e l größere R o l l e als die in d e n Missionstraktaten mit A r g u m e n t e n unterfutterten D i s p u t a t i o n e n . Mit d e m A u s s c h m ü c k e n der errichteten Kirchen mit B i l dern, d e m Läuten der G l o c k e n , d e m G e s a n g der Chorknaben und der f e i e r l i c h e n Liturgie s o l l t e n die A u g e n und O h r e n der M o n g o l e n und i n s b e s o n d e r e d e s m o n g o l i s c h e n Herrs c h e r s für d e n w a h r e n G l a u b e n g e ö f f n e t werden. Während T h o m a s v o n A q u i n und Ram o n Lull h o f f t e n , d e n Verstand der H e i d e n mit A r g u m e n t e n erreichen zu k ö n n e n , vers u c h t e J o h a n n e s d e M o n t e c o r v i n o ihre S i n n e z u affizieren, i n d e m er d e m w a h r e n G l a u b e n , der d e n Verstand w i e die S i n n e überstieg, eine sinnliche P r ä s e n z v e r s c h a f f t e . J o h a n n e s de M o n t e c o r v i n o berichtete n e b e n s e i n e n M i s s i o n s e r f o l g e n , aber auch v o n d e n H i n d e r n i s s e n , die der M i s s i o n in den W e g g e l e g t wurden, w o b e i er i n s b e s o n d e r e die Intrigen der a m m o n g o l i s c h e n H o f e i n f l u ß r e i c h e n N e s t o r i a n e r anführte. In s e i n e m ersten B r i e f berichtete er, daß d i e N e s t o r i a n e r ihn b e i m Großkhan v e r l e u m d e t und damit nahez u s e i n e n T o d v e r s c h u l d e t hätten. „Nestoriani quidem christianitatis tytulum preferentes, sed a christiana religione plurimum deviantes, tantum invaluerunt in partibus istis quod non permiserunt quempiam christianum alterius ritus habere quantu[m]libet parvum oratorium, nec aliam quam nestorianam publicare doctrinam. Ad has siquidem terras nec aliquis Apostolus, nec Apostolorum discipulus pervenit, et ideo prefati nestorini per se et per alios pecunia corruptos, persecuciones michi gravissimas intulerunt, asserentes quod non essem missus a domino Papa sed essem explorator, magus et dementator hominum. Et facto aliquo intervallo temporis, produxerunt alios falsos testes, dicentes quod alius nuntius fuerat missus, deferens Imperatori maximum thesaurum et quod ego illum occiderim in Yndia et abstulerim que portabat. Et duravit hec machynatio circiter quinque annis, ita quod sepe ad judicium fui tractus cum ignominia mortis. Tandem per quorumdam confessionem, Deo disponente, Imperator cognovit meam innocentiam et malitiam emulorum, et ipsos cum uxoribus et liberis exilio relegavit."
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ed. Wyngaert, S. 353. „Und in unserem Oratorium singen wir - weil wir keine Noten haben, nur aus dem Gedächtnis - feierlich die Liturgie. Der Khan kann unsere Stimmen in seiner Kammer vernehmen, und diese wunderbare Tatsache (mirabile factum) ist weit und breit unter den Völkern bekannt geworden und trägt viel zur Erfüllung von Gottes Gnade bei." ed. Wyngaert, S. 346f. „Die Nestorianer jedoch, die sich gerne Christen nennen, aber weit davon entfernt sind, Christen zu sein, sind in jenen Ländern so erstarkt, daß sie keinem Christen irgendeines anderen Ritus auch nur das ärmlichste Gebetshaus zugestehen oder erlauben, daß er eine andere Lehre verbreitet als ihre eigene, denn in diese Länder ist keiner der Apostel oder ihrer Nachfolger gelangt. Die genannten Nestorianer aber haben selbst oder mit Hilfe anderer, die sie mit Geld bestochen haben, schwerste Anschuldigungen gegen mich vorgebracht, indem sie behaupteten, ich sei nicht vom Papst gesandt worden, sondern sei ein Spion [explorator], Magier und Betrüger. Und einige Zeit später verleumdeten sie mich erneut und behaupteten, ein anderer Nuntius sei mit einem großen Schatz zum Kaiser gesandt worden und ich hätte ihn in Indien ermordet und die Geschenke gestohlen. Und diese Intrigen dauerten nahezu fünf Jahre, in denen ich mehrfach vor Gericht gebracht wurde und in der Gefahr stand, einen schändlichen Tod zu
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Die Konkurrenz der Nestorianer war ein sowohl in den Gesandtschaftsberichten als auch in anderen Missionarsbriefen, wie etwa denen Ricoldos de Montecroce, bereits wiederholt angesprochenes Problem. In der Regel wurden die Nestorianer negativer dargestellt als die pagani oder idolatri, und Wilhelm von Rubruk hatte über sie geurteilt: „Sunt solliciti pro uxoribus et parvulis, unde non intendunt dilatationi fidei sed lucro. Unde contingit, cum aliqui eorum nutriant aliquos filios nobilium Moal, quamvis doceant eos Evangelium et fidem, tarnen per malam vitam et cupiditatem magis elongant eos a ritu christianorum, quia vita ipsorum Moal et etiam tuinorum, hoc est ydolatrarum, innocentior est quam vita ipsorum."
Die christlichen Nestorianer wurden von den Gesandten und katholischen Missionaren keineswegs als Brüder in Christo, sondern als schismatische Häretiker beschrieben, die nur darauf aus seien, ihre einflußreiche und einträgliche Stellung bei den mongolischen Herrschern zu wahren, und der katholischen Mission deshalb erhebliche Schwierigkeiten 235
bereiteten. Auf Johannes' zweites Schreiben aus China, in dem er noch einmal die Mühen und Erfolge seiner Missionsarbeit darstellte, reagierte Clemens V. 1307 mit seiner Ernennung zum Erzbischof von Kahnbaliq und der Aussendung von sieben weiteren Franziskanern, die ihn als seine Suffraganbischöfe unterstützen sollten. Nur von zweien dieser Bischöfe sind Briefe überliefert, je ein Brief von Peregrinus de Castello vom Januar 1318 und von Andrea da Perugia vom Januar 1326, beide aus Zayton, wo Johannes de Montecorvino neben Khanbaliq eine weitere Niederlassung der katholischen Missionare mit einem Bischofssitz begründet hatte.236 Eine gezielte Organisation permanenter Berichterstattung durch die Missionare aus den Missionsgebieten und ihre Rückkopplung an die Missionstheorie, die deren teilweise Revision zur Folge hätte haben müssen, fand offensichtlich nicht statt. Das hing, wie Johannes' de Montecorvino Bemerkungen über die Übermittler seiner beiden Schreiben verdeutlichen, zum großen Teil auch damit zusammen, daß die Kirche in den außereuropäischen Territorien nicht über hinreichende organisatorische Voraussetzungen verfugte, um einen regelmäßigen Briefverkehr zwischen den Missionsgebieten und der Kurie sicherstellen zu können. Daneben wirkte sich aber auch die räumliche Organisationsstruktur der Bettelorden, die für die Nachrichtenübermittlung innerhalb Europas von
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sterben. Aber schließlich erkannte der Kaiser durch das Eingeständnis einiger Leute aufgrund Gottes Vorsehung meine Unschuld und ihre Bosheit und ließ sie mit ihren Weibern und ihren Kindern vertreiben." ed. Wyngaert, S. 238. „Ihre einzige Sorge gilt ihren Frauen und ihren Kindern und deshalb erstreben sie nicht die Ausbreitung des Glaubens, sondern nur ihre eigene Bereicherung. Deshalb geschieht es, daß einige von ihnen, die die Söhne vornehmer Mongolen erziehen, diesen wohl das Evangelium und das Glaubensbekenntnis lehren, sie durch ihren üblen Lebenswandel und ihre Habgier aber von der christlichen Religion fernhalten, weil selbst die Mongolen und die Tuinen, das sind Götzendiener, ein aufrichtigeres (innocentior) Leben führen als sie."
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Wilhelm von Rubruk bezeichnete sie als unwissende Simonisten, deren heilige Bücher in syrischer Sprache abgefaßt seien, die sie selbst nicht verstünden, „et hinc est quod totaliter sunt corrupti" (vgl. ed. Wyngaert, S. 238).
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Vgl. ed. Wyngaert, S. 3 6 5 - 3 6 8 (Peregrinus de Castello) und S. 3 7 3 - 3 7 7 (Andrea da Perugia).
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großem Vorteil war, bei sehr weiten Entfernungen eher nachteilig aus, weil sie nicht erzwang, daß die Brüder sich immer wieder an die Ordenshierarchie zurückwandten, weshalb Johannes die Brüder in Persien ausdrücklich dazu auffordern mußte, seinen Brief an die Kurie weiterzuleiten. Die Einrichtung eigenständiger Vikariate in den Missionsgebieten konzentrierte die Nachrichten eher an Ort und Stelle, als daß sie ihre Distribution gefordert hätte. 237 Was man 1245 erstmals gezielt eingesetzt hatte, die Reise zum Zwecke des Beschreibens, wurde im Kontaktsystem der Mission, in dem Reisen zum Zwecke der Glaubensverbreitung unternommen wurden, nicht zu einer ständigen Einrichtung erhoben. Die Missionare arbeiteten in den Missionsgebieten, ohne daß sie über ein „Nachrichtendispositiv" mit den sie aussendenden Institutionen permanent verbunden blieben. 238 Während im Kontaktsystem der Gesandten Reisen und Beschreiben ein eng gekoppelter Vorgang war, läßt sich Vergleichbares im Kontaktsystem der Mission nur dann beobachten, wenn sich die Missionare, ähnlich wie die Gesandten, nur relativ kurz in den Missionsgebieten aufhielten, um den Glauben, den religiösen Kultus und die Sitten der Missionsvölker zu beschreiben und sich der Mission eher nebenbei zur Erprobung ihrer Methoden widmeten. Wer jedoch, wie Johannes de Montecorvino, für immer in der Fremde blieb, mochte missionarisch erfolgreicher sein, aber er prägte weder die Diskursivierung der Fremde noch die Diskursivierung der Mission. 239 Der entscheidende Grund für die geringe Zahl von Missionarsbriefen dürfte deshalb nicht zuletzt darin zu sehen sein, daß die Missionare sich mit ihrem Auszug in die Fremde von den Zentren der Diskursivierung der Fremde verabschiedeten. Lange Berichte, die in den Diskurs über die Fremde eintreten konnten, schrieb nicht wer in der Fremde blieb, sondern wer von dort zurückgekehrt war. Die Beschreibung war eine retrospektive Angelegenheit, die den Berichterstatter nur in seiner Funktion als Augenzeuge noch einmal in die Fremde zurückversetzte, die er hinter sich gelassen hatte.
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Die Franziskaner gründeten für die Fernostmission zwei Vikariate, die vicaria de Tartaria aquilonaris mit den beiden custodie Gazzarie et Saray und die vicaria de Tartaria orientalis mit Cathay als Hauptsitz. Der Zeitpunkt ihrer Gründung ist nicht genau bekannt, die vicaria aquilonaris dürfte wohl um 1260 gegründet worden sein, die vicaria Cathay sicherlich später. Vgl. Christian W. Troll, Die Chinamission im Mittelalter, S. 34.
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Ich übernehme den Begriff „Nachrichtendispositiv" von Bernhard Siegert, der ihn in Anlehung an Foucault geprägt hat. Die präkolonialen Kontaktsysteme unterscheiden sich auch dort, wo sie, wie die Mission, auf Dauer ausgerichtet waren, von den kolonialen Kontaktsystemen darin, daß sie keine permanente Informationsbeschaffung organisieren. Nach der Eroberung der karibischen Inseln wurde mit der Einrichtung einer Behörde, der Casa de la Contratación, die Herstellung und Verstetigung von Nachrichten gezielt organisiert. Vgl. hierzu Bernhard Siegert, Die Verortung Amerikas im Nachrichtendispositiv um 1500, in: Gutenberg und die Neue Welt, S. 3 0 7 325.
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Anders als Odorico hatte er auch keine Chance, als Heiliger verehrt zu werden. Folker Reichert hat in der Einleitung zu seiner Übersetzung von Odoricos „Reise" insofern zu Recht auf das „bemerkenswerte" Faktum hingewiesen, daß Johannes de Montecorvino, „der sich 35 Jahre lang in der schwierigen Ostasienmission bemüht hatte, (...) nie zur Ehre der Altäre erhoben wurde" (ed. Reichert, S. 12).
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Odorico de Pordenone und die Narrativierung der Mission Der einzige ausführliche Missionarsbericht über Indien und China ist denn auch in einem Paduaner Franziskanerkloster entstanden, nachdem der Missionar aus Indien und China zurückgekehrt war und von seinem Ordensprovinzial den Auftrag erhalten hatte, alles aufschreiben zu lassen, was er mit eigenen Augen gesehen habe. Dieses Itinerarium des Odorico de Pordenone, der nach den Angaben einer später über ihn verfaßten Vita etwa sechzehn Jahre als Missionar in Fernostasien unterwegs war, war nach mehr als 70 Jahren Ostasienmission durch Mönche des Ordens der Minderen Brüder der erste Bericht eines Missionars über seine peregrinado in die Länder und Reiche des Ostens. Odorico de Pordenone diktierte 1330 seinen Bericht aber nicht nur für seine Mitbrüder, sondern für alle, die von den Wundern und Merkwürdigkeiten dieser Welt sowie den Taten der Minderbrüder in der Fremde hören wollten. „Licet multa et varia de ritibus et condicionibus huius mundi a multis enarentur, tarnen est sciendum quod ego frater Hodoricus de foro Iulii volens transfretare et ad partes infidelium volens iré ut fructus aliquos lucrifacerem animarum, multa magna et mirabilia audivi atque vidi que possum veraciter enarrare."
Mit dieser an ein breites Publikum gerichteten Adressierung eröffnete Odoricos Bericht der franziskanischen Ostasienmission den Weg in ein Diskursfeld, das weit über den Spezial- und Spezialistendiskurs der Missionstheorie und die Wissensorganisation des Ordens hinausreichte: die narrative Diskursivierung der Fremde. Für die Franziskaner war die Fremde als Ort der Bewährung und des Opfers zweifellos von großer Bedeutsamkeit, denn sie war der Raum, in dem der spiritus zelus des Missionars sich erweisen, in dem durch die peregrinatio des Missionars der Weg des ewigen Heils und der Heiligung des irdischen Weges miteinander verknüpft werden konnten. Dazu hatten weder die Missionstraktate noch die Missionarsbriefe einen Beitrag geleistet; ihre Aneignung der Fremde war operativ-reduktiv oder pragmatisch-akkomodativ, aber nicht narrativ: In den Missionstraktaten war der Osten nur in der fragmentierten Form operationalisierbarer Information beschrieben und nach den vorhandenen Glaubensformen hierarchisch systematisiert worden, und die Missionarsbriefe hatten sie in der gedrängten Form des Rechenschaftsberichts lediglich als ihr Arbeitsfeld skizziert. Die Theologen und Missionare der Mendikantenorden hatten sich den Raum der Fremde operativ angeeignet, ihn organisatorisch unterteilt und sich erwandert, ihn sogar mit Kirchen und Ordensniederlassungen besiedelt, aber sie hatten ihn nicht narrativ besetzt. Die Missionare waren gleichsam nicht nur in die Fremde gezogen, sondern sie waren in der Fremde verschwunden. Der Bruder Odoricus de Portu Naonis aber kehrte zurück und berichtete; nicht von den konkreten Missionaren, mit denen er in China gewesen war, sondern vom Wirkungsraum der Mission und ihren Wundern. Mit mehr als einhundert überlieferten 240
ed. Wyngaert, S. 413. „Obwohl schon von manchen so Vieles und Verschiedenenes über die Riten und Verhältnisse dieser Welt berichtet worden ist, sollte man doch wissen, daß ich, Bruder Odoricus von Friaul, als ich die Länder der Ungläubigen aufsuchen wollte, um dort Seelen zu erretten, viel Großartiges und Wunderbares gehört und gesehen habe, wovon ich wahrheitsgemäß berichten kann."
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Handschriften und mehreren italienischen sowie französischen und mittelhochdeutschen Übersetzungen überschritt der Bericht die Grenzen des Kontaktsystems und des chronikalischen Memorialsystems des Ordens bei weitem und wurde zum Lesestoff eines nicht nur klerikalen Publikums. Der Bericht erlangte damit eine Verbreitung, die diejenige von Carpinis Bericht und erst recht die der Missionstraktate bei weitem übertraf. 241 In der Forschung ist über Odoricos Bericht wiederholt geäußert worden, es handele sich gar nicht um einen Missionsbericht „im eigentlichen Sinne", weil von der Missionsarbeit selbst kaum die Rede sei. Odorico sei nicht wirklich als Missionar zu betrachten, sondern vielmehr als ziellos umherziehender Mönch, der eher einem Vagabunden als einem Missionar ähnele. 242 Tatsächlich berichtete Odorico von Religionsdisputationen nur dort, wo sie in seiner Darstellung eine narrative Funktion hatten, während er den franziskanischen Kirchenbau nur am Rande und die Heranziehung eines einheimischen Klerus überhaupt nicht erwähnte. Er berichtete vielmehr vom Martyrium vierer Minderbrüder in Thana, das die wunderbare Bekehrung zahlreicher Heiden nach sich zog und noch weitere Wunder bewirkte, von der Ehrfurcht des Großkhans vor dem Kreuz Christi und von den wunderbaren Gegenständen, die ihm auf seiner Reise in Indien und China begegneten. Folker Reichert hat daraus geschlußfolgert, „seine Interessen richteten sich - den Beteuerungen der Hagiographen zum Trotz - gar nicht so sehr auf die Bekehrung der Heiden als vielmehr auf die Beobachtung des ihm Neuen und Außergewöhnli chen". 243 In seiner Einleitung zu dem von ihm übersetzten Bericht Odoricos hebt Reichert diese Gegenüberstellung von Reise- und Missionsbericht noch deutlicher hervor, wenn er schreibt: „Die Lektüre der Anekdoten und Mirabilien, aus denen der Bericht zusammengesetzt ist, hinterläßt den Eindruck, daß Odorich am Reisen interessierter als an der Werbung für das Christentum, eher ein Beobachter als ein Prediger war." 244 Diese Einschätzung verwechselt jedoch die Funktion von Odoricos Reise mit der Funktion seines Berichts, weil sie die narrative Repräsentation des Berichtssubjekts mit dessen missionarischer Funktion identifiziert. Richtig ist an der Einschätzung Reicherts und 241
Eine Liste der überlieferten Handschriften bietet Giulio Cesare Testa, Bozza per un censimento dei manoscritti Odoriciani, in: Odorico de Pordenone e la Cina, S. 121 ff.; Folker Reichert hat sie stellenweise korrigiert und um einige Handschriften ergänzt (vgl. Begegnungen mit China, S. 165f.).
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Vgl. Jean Richard, La papauté et les missions d'Orient, S. 191. Auch I. de Rachewiltz, der Odorico als „roving friar" (vgl. Papal Envoys to the Great Khans, S. 179) bezeichnet hat, äußerte die Überzeugung, er sei „as much by his adventurous spirit as by religious zeal" zu seiner Reise nach China veranlaßt worden. Vgl. auch Nigel Cameron, Barbarians and Mandarins, S. 107. Solche im Sinne eines an curiositas orientierten Fortschrittsparadigmas durchaus positiv konnotierten Anmerkungen hat achtzig Jahre früher Henry Yule in seiner englischen Ausgabe des Textes mit einem empörten Unterton versehen: „Odoric's narrative again gives one decidedly the impression of a man of little refinement, with a very strong taste for roving and seeing strange countries, but not much for preaching and asceticism. (...) Had the simple and hardly bestead Jordanus of Séverac, or that zealous patriarch John of Montecorvino striving for the faith at the world's end to the age of fourscore years, been made a saint of, one could have understood it better" (Cathay and the Way Thither, Bd. II, S. 11).
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Folker Reichert, Begegnungen mit China, S. 120. Einleitung zu: Die Reise des seligen Odorich von Pordenone, S. 8. Vgl. auch ibid., S. 12.
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anderer sicherlich, daß Odoricos Darstellung weder eine spezifisch wissensorganisierende Funktion für das Kontaktsystem der Mission erfüllte noch eine Darstellung der angewandten Missionsmethoden bot — das läßt auf sein tatsächliches Wirken aber keine Rückschlüsse zu. Als diskursiver Repräsentant war Odorico für die Mission und den Franziskanerorden wichtiger als jeder andere mittelalterliche Fernostasienmissionar vor oder nach ihm. Mit seinem Bericht leistete er einen Beitrag, der für den Orden der Minderen Brüder nicht minder bedeutend war als die missionarische Aufgabe selbst: die narrative Beschreibung ihres Wirkens und die deskriptive Erfassung ihres Wirkungsraumes. Was sich bei Odorico in der Beschreibung der fremden Welt des fernen Ostens entfaltete, war nicht mehr die kategorial erfassende Deskription der Tartaren, wie in den frühen Gesandtschaftsberichten, sondern die deskriptive Repräsentation eines Raumes, der als erwanderter Raum beschrieben wurde. Durch diese Beschreibung konnte in der Geschichte des Franziskanerordens und für dessen Selbstrepräsentation der besondere Stellenwert der missionarischen Arbeit diskursiv gesichert werden. Die Fremde wurde darin zu einem eigenständigen Beschreibungsfeld, weil sie, um als der Wirkungsraum der Mission diskursive Repräsentanz zu erlangen, dem Pergament der Buchseite eingeschrieben werden mußte. Wenn die Missionare nicht mehr einfach in der Fremde verschwinden sollten, mußte die Fremde im Augenzeugenbericht eines Missionars auf die Seiten eines Buches gebannt werden. In der Repräsentation der Fremde durch das Itinerar eines Missionars wurden die Orte der Mission anschaulich greifbar, ohne daß dazu die labores der missionarischen Arbeit dargestellt werden mußten. An ihre Stelle trat der Bericht vom Martyrium der Missionare und von den Bekehrungswundern, die der Herr bei den Fremden geschehen ließ. Der als Itinerarium strukturierte Bericht repräsentierte die peregrinatio des Missionars und erschloß über den Beschreibungsraum die von der Mission erreichten Orte. Das zeigt sich insbesondere daran, daß Odoricos Bericht nach einem Wegstreckenschema geordnet ist, in dem die einzelnen Kapitel häufig mit den Einleitungsstereotypen „de ista contrata recedens..." 245 oder „exinde exiens ivi in..." 246 verbunden werden, auf die dann die Beschreibung der jeweiligen Reisestation folgt. 247 Dieses den Bericht gliedernde Wegstreckenschema läßt sich aber - was der geographiegeschichtlichen Forschung nicht unerhebliche Mühen bereitet hat - kaum zu einer tatsächlichen Reiseroute zusammensetzen, sondern strukturiert vielmehr die Gegenstände
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ed. Wyngaert, S. 417. Gelegentlich ersetzt Odorico „contrata" durch „civitate" (vgl. etwa S. 418), „insula" (vgl. S. 455), oder auch durch „provincia" (vgl. S. 484).
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ed. Wyngaert, S. 421. Ich übernehme den Terminus des Wegstreckenschemas hier von Dietrich Huschenbett, der ihn für die Beschreibung der Jerusalem-Pilgerberichte geprägt hat, um deren Verknüpfung von Pilgerstrecke und Ortsbeschreibung zu bezeichnen, die nicht immer dem tatsächlichen Reiseverlauf folgt, sondern nach unterschiedlichen Kriterien geordnet sein kann. Vgl. Dietrich Huschenbett, Von landen und ynselen, S. 190ff. Siehe auch meine Ausführungen in Kap. 111,3.
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des Berichts, indem es sie als Wegstationen der missionarischen peregrinatio zusammenbindet.248 An Odoricos Beschreibung des Martyriums von vieren seiner Ordensbrüder in Thana läßt sich diese Verknüpfung von Itinerarium, Ortsbeschreibung und Wunder relativ genau nachvollziehen und in ihrer narrativen Differenz gegenüber den Missionarsbriefen verdeutlichen. Das Martyrium von Thana, das in Odoricos Bericht das zentrale Ereignis bildete und mehr als ein Viertel seines Umfangs ausmachte, war 1326 von Andrea da Perugia in seinem Brief aus Zayton erwähnt worden. „De sanctis fratribus: quatuor nostri fratres martirizati fuerunt in India a sarracenis, quorum unus bis in ignem copiosum iniectus illesus evasid. Et tarnen ad tarn stupendum miraculum nullus est a sua perfidia permutatus."
Die Knappheit der Darstellung und die lapidare Feststellung, selbst ein so erstaunliches Wunder habe niemanden von seinem Unglauben bekehrt, steht in deutlichem Gegensatz zu Odoricos ausufernder Narration des Ereignisses, das in seine Wegstrecke integriert war. Odoricos Weg in den Osten führte ihn nach den Aussagen seines Berichts vom Schwarzen Meer über Bagdad nach Hormus am persischen Golf und von dort per Schiff nach Thana in Oberindien, wo vor seiner Ankunft vier seiner Ordensbrüder von den Sarazenen hingerichtet worden waren. Das Martyrium der vier Minderbrüder erwähnte er zum ersten Mal im Zusammenhang mit dieser Schiffreise, indem er es en passant in die Deskription der Schiffe, der geographischen Besonderheiten des Landes und seiner Geschichte einfließen ließ. „In hac contrata homines utuntur navigio, quod vocatur iasse, suto solo spago. In unum istorum navigiorum ego ascendi, in quo nullum ferrum in aliquo loco potui reperire; in quod dum sie ascendissem, in viginti octo dietis me transtuli usque ad Tanam, in qua pro fide Christi gloriosum martirium passi fuerunt IIII o r nostri fratres Minores. Hec terra multum bene est situata. In ea magna copia panis, vini et arborum reperitur. Hec terra antiquitus fuit valde 'na^na, nam ipsa fuit terra Regis Pori, qui cum Alexandra Rege prelium magnum iam commisit."
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Vgl. Henry Yules Ausführungen zu seiner englischen Ausgabe von Odoricos Bericht, in: Cathay and the Way Thither, Bd. 2, S. lOf. sowie die passim gegebenen Anmerkungen zu den einzelnen Stationen. ed. Wyngaert, S. 376. „Über die heiligen Brüder: Vier von unseren Brüdern erlitten durch die Sarazenen in Indien das Martyrium; einer von ihnen wurde zweimal in ein großes Feuer geworfen, aus dem er unverletzt wieder hervorkam. Aber trotz dieses erstaunlichen Wunders wurde keiner von seinem Unglauben bekehrt." Von dem Martyrium wurde auch von anderen berichtet. Vgl. Cajus Othmer, Das Martyrium von vier Franziskanern, S. 72ff. ed. Wyngaert, S. 422f. „In dieser Gegend benutzen die Leute einen Bootstyp, der Jasse genannt wird und nur mit Pech zusammengefugt ist. Eines dieser Schiffe, an dem nirgends ein Stück Eisen zu finden ist, bestieg ich und fuhr dann zwanzig Tage über See bis nach Thana, wo vier unserer Brüder aus dem Franziskanerorden das glorreiche Martyrium erlitten haben. Dieses Land hat eine sehr gute Lage; man findet dort Brot, Wein und Bäume in großen Mengen. In alter Zeit war es sehr groß; denn es gehörte dem König Porus, der sich mit Alexander eine bedeutende Schlacht lieferte (ed. Reichert, S. 34)."
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Der ausführliche Bericht über das Martyrium der Franziskaner folgte dieser Erwähnung aber erst, nachdem Odorico seine Beschreibung mit der Fauna und Flora des Landes fortgesetzt und ihn die deskriptive Folge bis an den Ort des Ereignisses gebracht hatte. Die vier Minderbrüder, so berichtete er dann, die eigentlich nach Polumbum ziehen wollten, aber gegen ihren Willen per Schiff nach Thana gebracht worden waren, nahmen dort im Hause eines Nestorianers Unterkunft, der eines Abends seine Frau verprügelte. Als diese daraufhin ihren Mann vor dem örtlichen Kadi verklagte - dessen Funktion Odorico mit der eines Bischofs verglich - , führte sie die vier Mönche als Zeugen an, die daraufhin vor dem Kadi erscheinen mußten. Diese Anklage bildet lediglich den narrativen Ausgangspunkt des Berichts und spielt im weiteren Verlauf der Erzählung keine weitere Rolle; sie ist aber nichtsdestoweniger funktionslos, denn sie involviert die Nestorianer „qui sunt scismatici et heretici" 251 in die Ermordung der Franziskaner und fungiert mit der Mißhandlung der Ehefrau als Exempel ihres üblen Charakters. Nachdem sie vor dem Kadi erschienen waren, wurden die Minderbrüder nach Odoricos Bericht nicht als Zeugen gehört, sondern aufgefordert, über den christlichen Glauben zu disputieren. 252 „Et dum sie essent coram Cadi, ipse cum eis disputare cepit de fide nostra. Cum autem i 1 Ii infideles sie disputarent cum fratribus, dieebant Christum solum purum hominum esse et non Deum. Cum autem sie dixissent, ille Fr. Thomas Christum esse verum Deum et hominem probavit rationibus et exemplis, et in tantum eos confudit saracenos, quod penitus ipsi contradicere non valebant."
Anders als bei Wilhelm von Rubruk und in den Missionstraktaten werden die Argumente des Missionars hier aber nicht entwickelt, weil sie keine argumentative, sondern eine narrative Funktion erfüllen: Der argumentative Sieg des Bruders Thomas in der Glaubensdisputation bildet nur den Auftakt für die Beschreibung des Martyriums. Als der Kadi nämlich sah, daß er „coram populo toto" derart in Verlegenheit gebracht wurde, nötigte er die Brüder, sich über Mohammed zu äußern. An diesem Punkt der Disputation unterbricht Odorico die Narration, wechselt vom Präteritum der Erzählung in das Präsens der Beschreibung, und fügt eine Bemerkung über die „consuetudines" der Sarazenen ein, die sich als erläuternder Einwurf des Erzählers unmittelbar an den Leser wendet: „Nunc autem istam consuetudinem habent saraceni, quod si se verbis defendere non possunt se ensibus tuentur et pungnis."
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ed. Wyngaert, S. 424. Vgl. ed. Wyngaert, S. 424ff. ed. Wyngaert, S. 426. „Als die vier Minderbrüder also vor den Kadi gebracht worden waren, (...) da begann dieser mit ihnen über unseren Glauben zu disputieren. Indem aber die Ungläubigen mit den Brüdern stritten, behaupteten sie, Christus sei bloß ein einfacher Mensch und nicht Gott. Als sie dies gesagt hatten, bewies ihnen Bruder Thomas mit Gründen und Beispielen, daß Christus der wahre Gott und zugleich auch Mensch sei, und er verwirrte auf diese Weise die Sarazenen so sehr, daß sie ihm überhaupt nicht mehr widersprechen konnten (ed. Reichert, S. 36)."
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ed. Wyngaert, S. 426. „Nun haben aber die Sarazenen die Angewohnheit, sich mit Kampf und Schwertern zur Wehr zu setzen, wenn sie sich mit Worten nicht mehr zu helfen wissen (ed. Reichert, S. 36)."
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Damit wird der weitere Fortgang der Ereignisse, die jetzt unaufhaltsam auf das Martyrium der Minderbrüder zulaufen, aus den „consuetudines" der Sarazenen erklärt. Auf die Erklärung des Missionars, Mohammed sei die Ausgeburt des Teufels, werden die Brüder ergriffen und in die Sonne gezerrt, damit sie in der Gluthitze einen schändlichen Tod erleiden. Auch hier fügt Odorico wieder einen erläuternden Satz im Präsens ein, der diesmal zum geographischen Deskriptionsparadigma gehört: „(...) cum illic sit tantus calor ut si quis per spatium misse perseveraret in sole ipsa penitus moreretur."
Solche deskriptiven Sätze verknüpfen die Erzählung des Martyriums mit den Besonderheiten des Berichtsraumes, die dadurch nicht notwendig negativ konnotiert werden diese Besonderheiten könnten ebensogut als mirabilium mitgeteilt werden - , aber das Martyrium der Missionare fest im Missionsland verankern und gleichzeitig den Raum für ein miraculum eröffnen. Die Brüder, die von der dritten bis zur neunten Stunde in der Sonne standen und den Herrn lobten und priesen, blieben nämlich heil und unversehrt. Als die Sarazenen sahen, daß ihr Plan gescheitert war, erklärten sie den Brüdern, sie wollten sie ins Feuer werfen, und wenn ihr Glaube der wahre sei, so werde ihnen das Feuer nichts anhaben; wenn er aber falsch sei, so würden sie verbrennen. Darauf antworteten die Mönche, sie seien bereit ins Feuer zu gehen, wenn sie aber verbrennen würden, so beweise das nicht die Falschheit ihres Glaubens, sondern geschehe nur wegen ihrer Sünden. Diese Argumentation ist bemerkenswert, und zwar nicht wegen des Wunders, das der Leser nach dieser narrativen Vorbereitung erwarten darf, oder weil sie sich für die Missionspraxis hätte eignen können, sondern weil sie nahezu wörtlich an den Bericht anschloß, den Bonaventura von der Feuerprobe gab, die Franziskus dem ägyptischen Sultan angeboten haben soll. Franziskus' Auftritt vor dem Sultan wurde in der franziskanischen Chronistik breit ausgesponnen und hat für die hagiographische Verarbeitung seines Lebens eine große Rolle gespielt. 256 Nach dem Bericht der ersten legendarischen Darstellung seines Lebens durch Thomas von Celano 257 war Franziskus 1219 in den Orient gereist, um den Anhän258
gern Mohammeds das Evangelium zu predigen und das Martyrium zu erlangen. Per Schiff reiste er nach Ägypten, wo er den Kreuzfahrern, die die Festung Damiette belagerten, eine Niederlage weissagte, die bald darauf tatsächlich eintrat. Während der anschließenden Waffenruhe begab sich Franziskus in das Lager der Sarazenen zu Sultan Melek el-Kamil. Auf dem Weg dorthin wurde er von den arabischen Posten grausam verprügelt, da er aber ständig „Soldan, Soldan" schrie, brachten sie ihn schließlich zum 255 256 257
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ed. Wyngaert, S. 427. „Die Hitze ist dort nämlich so groß, daß jemand, der sich für die Dauer einer Messe in der prallen Sonne aufhält, sterben muß (ed. Reichert, S. 38)." Die verschiedenen Quellen über den Aufenthalt Franziskus' in Ägypten sind bei Girolamo Golubovich, Bioblioteca bio-bibliografica, S. 1-104, zusammengestellt. Die Vita prima des Thomas von Celano, die erste ausführliche Biographie des Ordensgründers, entstand zwischen 1228 und 1229 im Auftrag Papst Gregors IX. unmittelbar nach Franziskus' Kanonisation. Vgl. Helmut Feld, Franziskus von Assisi, S. 3 lf. Vgl. Helmut Feld, Franziskus von Assisi, S. 295ff.
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Sultan „et sie ad ipsum perduetus gloriose est ab ipso reeeptus et in infirmitate humane pertractatus". 259 Sämtliche Quellen berichten, daß der Sultan lange mit Franziskus gesprochen habe und von seiner Liebenswürdigkeit sehr eingenommen gewesen sei. Bonaventura führte in seiner Legenda maior die Aufgeschlossenheit des Sultans darauf zurück, daß der Heilige mit seiner glühenden Begeisterung und seiner Tugend den Sultan zutiefst beeindruckt habe, und präsentierte damit an Franziskus selbst jenen spiritus zelus, den der Ordensgründer von allen Brüdern, die zur Missionierung zu den Ungläubigen gingen, verlangt hatte. 260 Wie die anderen Quellen mußte Bonaventura freilich eingestehen, daß der Sultan sich letztlich nicht bekehrt, sondern Franziskus lediglich mit der Bitte entlassen habe, er solle Gott bitten, daß er ihm jenen Glauben offenbare, der ihm am besten gefalle. In einer seiner späteren Predigten über das Leben des Heiligen verbesserte Bonaventura jedoch dessen Erfolg und betonte, nach den Gesprächen mit Franziskus habe der Sultan den christlichen Glauben heimlich in seinem Herzen getragen, es aber nicht gewagt, dies öffentlich kundzutun, da er befürchtete, von seinen eigenen Leuten gesteinigt zu werden. 261 Bonaventura berichtete erstmals auch von der in früheren Quellen nicht erwähnten Feuerprobe. Als der Sultan seine muslimischen Gelehrten mit Franziskus darüber disputieren lassen wollte, welcher Glaube der richtige sei, habe Franziskus ihm geantwortet, der Glaube stehe über der Vernunft, die nur dem zugänglich sei, der den rechten Glauben habe, und es mache deshalb keinen Sinn zu argumentieren. Wenn er aber ein Holzfeuer anzünden lasse, so wolle er mit den muslimischen Gelehrten hineingehen, und wer von ihnen verbrenne, beweise damit die Falschheit seines Glaubens. Da die Gelehrten des Sultans sich darauf nicht einlassen wollten, habe Franziskus schließlich angeboten, allein in das Feuer zu gehen, um die Richtigkeit seines Glaubens unter Beweis zu stellen. Wenn er dem Feuer unversehrt entsteige, so erklärte er dem Sultan, beweise dies die Überlegenheit des christlichen Glaubens, wenn er aber verbrenne, dann sei das nicht auf seinen Glauben, der allein der wahre sei, sondern auf seine Sündhaftigkeit zurückzuführen. Mit dieser Narrativierung rückte Bonaventura zu einem Zeitpunkt, als die beiden Mendikantenorden miteinander um die Abfassung von Missionstraktaten wetteiferten, die Zeichenhafitigkeit des Bekenntnisses, ganz wie der Ordensgründer es gefordert hatte, in den Mittelpunkt der Mission. Der Heilige überbot die Macht der Argumente, weil in ihm das überwältigende Feuer des Glaubens brannte, das ihn furchtlos vor dem Feuer machte und unerschrocken für seinen Glauben Zeugnis ablegen ließ. Als Visualisierung des missionarischen spiritus zelus eignete sich die Feuerprobe natürlich besonders für die Visualisierung des Missionswerkes und die herausragende Rolle, die dabei dem Ordensgründer zukam. Giotto hat in seinen Freskenzyklen über das Leben des Franziskus in der Oberkirche von San Francesco in Assisi und in der Bardi-Kapelle von Santa Croce in Florenz Bonaventuras Bericht zweimal visualisiert, und das Ereignis, obwohl auf beiden Bildnissen neben Franziskus ein weiterer Minderbruder, nämlich der ihn 259
260 261
So berichtete jedenfalls Jordan von Giano. Vgl. Chronica fratris Jordani, ed. H. Boehmer, Paris 1908, S. 11. „(...) und nachdem sie ihn zu diesem gebracht hatten, wurde er von diesem ehrenvoll empfangen und mit großer Freundlichkeit behandelt." Vgl. Bonaventura Legenda maior, IX,8, in: Analecta Franciscana, Bd. 10, S. 5 5 5 - 6 7 8 . Vgl. Helmut Feld, Franziskus von Assisi, S. 299f.
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begleitende Bruder Illuminatus, abgebildet ist, ganz auf Franziskus zentriert. Auf dem Fresko von Assisi sitzt der Sultan am rechten Rand, umgeben von einigen Soldaten auf einem erhöhten Thron und deutet mit der geöffneten Handinnenfläche auf das vor ihm lodernde Feuer. Zwischen ihm und dem Feuer steht Franziskus und hinter diesem, halb verdeckt, sein Gefährte. Während Franziskus auf den Sultan blickt und dabei mit der Linken auf sich selbst und mit der Rechten auf das Feuer deutet, blickt sein Gefährte auf die am linken Bildrand vor dem Feuer zurückweichenden sarazenischen Gelehrten, von denen einer eine ablehnende Geste macht. Auf der Darstellung in der Florentiner BardiKapelle dagegen ist der Sultan auf seinem erhöhten Thron in das Zentrum gerückt, wodurch die Gegenüberstellung der am linken Bildrand plazierten sarazenischen Gelehrten und des am rechten Bildrand stehenden Franziskus verschärft wird. Das Feuer, auf das der seine sarazenischen Gelehrten streng anblickende Sultan deutet, lodert unmittelbar vor Franziskus, der soeben seine Kutte geschürzt hat und mit erhobenem Zeigefinger die Bereitschaft bekundet, in das Feuer zu steigen, wohingegen die Vertreter der Muslime, die von den schwarzen Knechten des Sultans zum Feuer geführt werden sollen, ängstlich zurückweichen und sich mit ihren Umhängen selbst noch vor seinem Widerschein zu schützen versuchen. Während auf dem ersten Fresko der Sultan beiden Kontrahenten den Weg in das Feuer weist, gilt seine Aufforderung auf dem zweiten Bild allein den Muslimen, denn Franziskus, dessen Begleiter dieses Mal mit gefalteten Händen hinter ihn gekauert am rechten Bildrand zu sehen ist, brennt von sich aus darauf, die Kraft seines Glaubens unter Beweis zu stellen. Die Dramatik des Geschehens ist in dieser zweiten Darstellung deutlich gesteigert und stärker auf Franziskus zugeschnitten, obwohl er an den Rand des Bildes gerückt ist. Franziskus überragt alles, auch den in seinem Schatten stehenden Ordensbruder, der für das Ereignis selbst keine Rolle zu spielen scheint. Seine Anwesenheit im Bild ist dennoch nichts weniger als überflüssig: Er dient nicht nur dazu, den Ordensgründer und dessen Heiligkeit auch von seinen Brüdern abzuheben, sondern ist zugleich der visualisierte Zeuge des Geschehens und damit der Garant seiner Wirklichkeit. Er ist der, der gesehen hat, indem er gesehen werden kann. Die Darstellung der Feuerprobe vor dem Sultan war aber nicht nur ein zentrales Element in der Ikonographie des Heiligen, sondern auch dazu angetan, die Narrativierung der Mission zu besetzen. 262 Das angestrebte oder erhoffte Martyrium bildete den Konnex zwischen dem Erdulden des Fremdseins und dem Erhoffen der Umkehr, zwischen der Repräsentation der Fremde und der Selbstrepräsentation des Ordens. Dieses Programm hatte Franziskus in der Mission mit der Überschneidung von Heilsverkündung und Selbstheiligung von Anfang an verfolgt, und Adam de Morisco hatte es in seinem Tractatus politicus-religiosus in die prägnanten Worte gefaßt:
262
In den g e g e n Ende des 14. Jahrhunderts entstandenen Fioretti
wurde die G e s c h i c h t e v o n der
wunderbaren Bekehrung des Sultans folgerichtig mit der Erzählung fortgesetzt, w i e sich der Sultan später von vier Minderbrüdern taufen ließ, die Franziskus vor s e i n e m T o d noch zu ihm gesandt hatte. V g l . Actus, c. 27: „ Q u o m o d o Soldanus Babilonie fuit conversus ad f i d e m et baptizatus per fratres m i s s o s a b. Francisco", in: A c t u s Beati Francisci et sociorum eius. N u o v a ediz i o n e p o s t u m a di Jaques Cambell a cura di Marino Bigaroni e Giovanni B o c c a l i , Santa Maria degli A n g e l i , A s s i s i 1988, S. 3 1 4 - 3 2 3 .
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An diese Narrativierung und Funktionalisierung der Mission, so meine These, knüpfte Odoricos Bericht an. Die vier Minderbrüder von Thana bekundeten nicht zufällig ihren festen Glauben mit denselben Worten, mit denen Franziskus dem Sultan den möglichen Ausgang der Feuerprobe erläutert hatte. Sie bildeten die narrative Fortsetzung seines missionarischen Programmes, indem sie an die Narrativierung seiner eigenen Missionsreise anschlössen. Auf diese Weise repräsentierten sie die Kontinuität der missionarischen Arbeit und die nicht versiegende Kraft des Glaubens, in dem die Kirche wurzeln und blühen konnte. In der Darstellung der Feuerprobe überbot Odorico den Bericht Bonaventuras allerdings beträchtlich, denn der Bruder Jacobus, wurde zweimal ins Feuer geworfen und entstieg ihm zweimal unversehrt. 264 Die Distanz zwischen dem heiligen Ordensgründer und den einfachen Missionaren wurde aber zumindest dadurch gewahrt, daß Franziskus dem Sultan die Feuerprobe selbst anbot, während sie bei den Märtyrern von Thana von den Sarazenen in heimtückischer Absicht verlangt wurde. Die Brüder erlangten das glorreiche Martyrium denn auch nicht durch das Feuer, wie überhaupt ihr Tod narrativ sorgsam begründet werden mußte, um die gefährliche Klippe des Scheiterns der Wunder zu umschiffen. Als narratives Paradigma waren Martyrien nicht einfach zu strukturieren, denn sie mußten einerseits das Erleiden des Martyriums und dessen Qualen möglichst eindrucksvoll schildern, andererseits durften sie aber auch keinen Zweifel daran wecken, daß Gott denen beistand, die für den wahren Glauben eintraten. So wurden die Brüder bei Odorico denn auch zunächst vom übergeordneten Melik, „id est potestas" 265 , entlassen, der ihnen - den Worten des Sultans an Franziskus ebenfalls nicht unähnlich - bekannte, daß er insgeheim ihre Religion für die wahre hielt. Die Feuerprobe wurde auf diese Weise vor dem Makel bewahrt, den Tod der Missionare verursacht zu haben. Die Brüder starben schließlich durch das Schwert, nachdem sie selbst in ihre Tötung eingewilligt hatten. Der Kadi nämlich hatte ihnen nach ihrer Entlassung durch den Melik Männer nachgeschickt, die sie töten sollten. In ihren Tod willigten sie letztlich aus Caritas gegenüber ihren Mördern ein, denn der Kadi hatte diese dazu gezwungen und ihnen gedroht, andersfalls sie selbst, ihre Frauen und ihre Kinder zu töten. Nach dem Tod der Brüder ereigneten sich zahlreiche Wunder, die ein Zeichen von der Wahrhaftigkeit ihres Glaubens gaben: der Himmel verdunkelte sich und der Mond zeigte sich in vollem Glanz, ein gewaltiges Beben erschütterte die Erde und das Schiff, das die Brüder gegen ihren Willen nach Thana gebracht hatte, versank in der Tiefe des Meeres. Das Martyrium und all die anschließenden Wunder und Zeichen, die etwa ein Viertel von Odoricos Bericht ausmachen, ereigneten sich freilich vor seiner eigenen Ankunft -
263
264 265
Tractatus politicus-religiosus Fr. Adami de Morisco, Ordinis Minorum, ad Dominum Papam, zit. nach Christian W. Troll, Die Chinamission im Mittelalter, S. 30. „Worin wurzelt, wächst und blüht die Kirche, wenn nicht im Kreuz Christi, wenn nicht im Blut der Apostel, wenn nicht in den Wunden der Märtyrer?" Vgl. ed. Wyngaert, S. 428f. ed. Wyngaert, S. 430. Odorico gibt hier, wie unschwer zu merken ist, einen weiteren ethnographischen Einschub.
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Odorico präsentierte sich nicht als Augenzeuge der Ereignisse.266 Er selbst kam nach Thana, um die Leichen der Brüder zu bergen, von deren glorreichem Martyrium er gehört hatte. „Tunc ego Fr. Hodoricus de suo sciens martirio glorioso, illuc ivi, et sua corpora accepi que iam tradita fuerunt sepulture, qma per sanctos suos Deus multa et magna miracula operatur, per istos voluit potissime operari."
Da er ihr Martyrium nicht selbst als Augenzeuge beglaubigen konnte, mußte die Wahrheit des Ereignisses narrativ in anderer Weise gestützt werden: Die Wahrhaftigkeit des Wunders erwies sich durch die Wunder, die ihm nachfolgten. Als Odorico nämlich die Gebeine zu einer Niederlassung des Minoritenordens nach „Indiam superiorem" brachte, um sie in der Umgebung ihrer Ordensbrüder beizusetzen, widerfuhren ihm nach seinen Aussagen selbst zwei Wunder, die symbolisch an die vorhergehenden Ereignisse anknüpfen. Als er unterwegs Station machte, wurde das Haus, in dem er übernachtete, von den Sarazenen angezündet, aber die Gebeine der Brüder, „ymo sancte reliquie debent"268, verhinderten, daß das Feuer ihm schadete. Während das gesamte Haus niederbrannte, kauerte er sich in eine Ecke, und das Feuer loderte über ihm in der Form eines Kreuzes, ohne ihm das geringste anzuhaben. Und als er weiter mit den Gebeinen über das Meer nach Polumbum fuhr, „ubi piper nascitur habundanter"269, jene Stadt, in die die Brüder ursprünglich fahren wollten, geriet das Schiff in eine Windstille und die an Bord versammelten Mitglieder der unterschiedlichen Glaubensrichtungen begannen, um Wind zu beten. Ganz in der Reihenfolge der in den Missionstraktaten entwickelten Glaubenshierarchie, beteten zuerst die Götzenanbeter zu ihren Göttern um Wind, den diese ihnen aber nicht geben konnten. Als nächste mühten sich die Sarazenen, Wind herbeizubeten, ebenfalls ohne Erfolg. Dann waren Odorico und sein Gefährte an der Reihe, aber zunächst gelang auch ihnen nicht, durch ihre Gebete Wind zu entfachen. Erst als Odorico an der Spitze des Schiffes die Knochen der Brüder in die gewünschte Richtung hielt, kam ein günstiger und starker Wind auf, der sie heil nach Polumbum brachte. Bis zur endgültigen Beisetzung der Brüder ereigneten sich noch weitere Wunder, und noch heute, so versicherte Odorico, stünden die Brüder bei den Götzenanbetern und Sarazenen im Ruf der Heiligkeit. Wer an irgendeiner Krankheit leide, nehme sich etwas von dem Erdreich, auf dem sie ihr Blut vergossen hatten, löse es in Wasser, trinke es und werde sofort und dauerhaft von seiner Krankheit befreit. Mit diesem letzten Satz, der die Wirkungskraft des Wunders bis in die Erzählzeit des Berichts prolongierte, schloß Odorico seine Schilderung des Martyriums der Minderbrüder in Thana und setzte übergangslos seine peregrinatio mit der Beschreibung des Pfef266 267
268 269
Das wäre freilich auch schwierig gewesen; als Confrater konnte Odorico schlecht als Augenzeuge auftreten, denn dann hätte er selbst ebenfalls das Martyrium erleiden müssen. ed. Wyngaert, S. 436. „Ich, Bruder Odorich, erfuhr damals von ihrem ruhmreichen Martyrium; ich begab mich an jenen Ort und ließ mir ihre Leichen übergeben, die bereits beigesetzt waren. Weil aber Gott durch seine Heiligen viele und große Wunder tat, wollte er auch durch diese Herausragendes bewirken (ed. Reichert, S. 47)." ed. Wyngaert, S. 436, „(...) die man eigentlich heilige Reliquien nennen muß". ed. Wyngaert, S. 437, „(...) w o der Pfeffer reichlich wächst".
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fers von Polumbum fort.270 Die Route seiner Wegbeschreibung nahm er genau dort wieder auf, wo er sie für die Narration der Wunder des Martyriums unterbrochen hatte. Auf die miracula der Mission folgen die mirabilia des Berichtsraumes: Odorico beschrieb die Gewinnung von Pfeffer, den Reichtum der Stadt Polumbum, den Götzenglauben ihrer Einwohner, Jungfrauenopfer und Witwenverbrennung, die Vertauschung der Geschlechterordnung und versicherte, es gebe dort noch „multis aliis mirabilibus"271, die zu beschreiben aber nicht lohne. Von Oberindien führte ihn sein Weg an vielen wunderbaren und merkwürdigen Gegenständen vorbei weiter in das Reich des Großkhans der Tartaren, wo er an mehreren Orten Niederlassungen der Franzikaner erwähnte. In Taydo, der Residenz des Großkhans, blieb er nach seinem Bericht drei Jahre bei den dortigen confratres, die einen festen Platz am Hof einnahmen. Über seine dortige alltägliche Missionsarbeit und die seiner Mitbrüder schwieg sich der Bericht aus. Die Dauer dieser Station gab ihm vielmehr Gelegenheit, die Herrschaft des Großkhans, seinen Hof und sein Gefolge, die Städte seines Reiches und ihren Reichtum zu beschreiben.272 Sein Rückweg führte Odorico dann durch das Reich des Priesterkönigs Johannes, durch Tibet und das Land, das ehemals der Alte vom Berge beherrscht hatte, bevor die Tartaren es eroberten. Trotz des eingeschlagenen Rückwegs endete der Bericht aber nicht mit Odoricos Heimkehr, sondern mit der aus ihrem geographischen Zusammenhang herausgelösten Narration zweier weiterer Ereignisse: der Durchquerung des finsteren Tales und der Ehrfurcht, die der Großkhan dem Kreuz erwies, als der Bischof und die franziskanischen Brüder ihn in Khanbaliq empfingen.273 Diese beiden Ereignisse bringen noch einmal die Gefahren und die Erfolge der Mission zusammen und setzen so den narrativen Schlußpunkt für eine peregrinatio, die nicht an einem bestimmten Ort an ihr Ziel gelangt, sondern sich erst nach der Abfassung des Berichts mit der Heimkehr Odoricos „ex hoc seculo (...) ad Dominum"274 vollendet. Mit dem Ende von Odoricos peregrinatio endeten freilich noch lange nicht die Wunder, die der Herr um seinetwillen geschehen ließ. Odorico starb kurze Zeit nach der Abfassung des Berichts, aber er entfaltete dafür ein umso lebendigeres Nachleben, das mit den sich bei seiner Beisetzung ereignenden Wundern begann, sich in einer Vita des heiligmäßigen Minderbruders fortsetzte und bis zu seiner Seligsprechung im Jahre 1775 reichte.275 Als er sich wegen der „Wirren im Orden" zum Papst begeben wollte und in Pisa Station machte, erschien ihm, so berichtete seine Vita, der heilige Franziskus und 270
Vgl. ed. Wyngaert, S. 440f.
271
ed. Wyngaert, S. 441.
272 273
Vgl. ed. Wyngaert, S. 457ff. Berichte von Bekehrungswundern bei den Tartaren wurden im 14. Jahrhundert immer häufiger verbreitet und sowohl in Chroniken als auch in Romanen, wie dem King of Tars, narrativiert. Vgl. Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 2 1 8 - 2 2 0 .
274
ed. Wyngaert, S. 495. Dieser Hinweis kann natürlich nicht vom Berichtssubjekt stammen, sondern wird als Hinweis seines Confraters Wilhelm da Solanga ausgewiesen, dem Odorico den Bericht diktierte.
275
Folker Reichert hat Odoricos Nachleben eingehend dargestellt und die vor 1369 entstandene Vita des Missionars an seine Übersetzung des Berichts angefügt. Vgl. Folker Reichert, Begegnungen mit China, S. 2 1 2 - 2 1 6 ; deutsche Übersetzung des Textes der Vita in: Die Reise des seligen Odorich von Pordenone, S. 149-159.
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sagte, er solle zu seinem Nest zurückkehren, denn er werde sterben, und die Stadt sei nicht würdig seinen Leichnam zu besitzen.276 Odorico kehrte nach Udine, dem Ausgangspunkt seiner Reise zurück, wo er seine irdische peregrinatio beendete. Seine Mission aber erzählte sich selbst fort in den Berichten von den Wunderheilungen, die sich bei seiner Beisetzung und an seinem Grab ereigneten, und den immer weiteren Wundern, die er auf seiner peregrinatio erlebt haben soll. Sein missionarisches Wirken und sein Bericht wurden schließlich auch ikonographisch verdichtet: Odoricos Grabmal in einer Seitenkapelle der Kirche Santa Maria del Carmine in Udine, das der Rat der Stadt von dem venezianischen Bildhauer Filippo de Santi schon 1332 anfertigen ließ, zeigt ihn bei der Predigt vor den Ungläubigen, die ergeben seinen Worten und den durch den erhobenen Zeigefinger der rechten Hand symbolisierten Ermahnungen lauschen.277 Der barfüßige Minderbruder, der die dicht gedrängten Gläubigen weit überragt, hält in seiner linken Hand ein Buch, bei dem es sich vermutlich um seinen Bericht handelt.278 Durch seinen Bericht wurde Odorico zu dem Missionar, dessen Ruhm den aller anderen Missionare in den Schatten stellte und dessen Bedeutung für die Mission innerhalb der Geschichte des Franziskanerordens der des Ordensgründers selbst am nächsten kam. Über ihn ging das Martyrium der Franziskanermissionare von Thana auch in die Ikonographie der Mission ein: Ambrogio Lorenzetti hat es in einem Fresko für die Kirche San Francesco in Siena dargestellt.279 Odorico ist als Zeuge oder Erzähler des Ereignisses auf dem Fresko nicht zu finden, aber sicherlich hat er es geprägt und der Bildlichkeit der Mission damit ein weiteres Element hinzugefugt. Das Kontaktsystem der Mission brachte vielleicht nicht die differenziertesten Darstellungen, aber die differenziertesten Verschrifitlichungsformen hervor, die sich vor allen Dingen über ihren Beschreibungsmodus unterscheiden. Wie ich zu zeigen versucht habe, kann man relativ deutlich drei Verschriftlichungsformen unterscheiden, die drei Funktionselementen im Kontaktsystem der Mission entsprechen: erstens die auf den 276
Vgl. ibid., S. 154.
277
Vgl. Paolo Lino Zovatto, II beato Odorico de Pordenone e il sarcofago di Filippo de Sanctis, in: Memorie storiche forogiuliesi 47 (1966), S. 119-128. Mit dieser Einschätzung des Buchinhalts schließe ich mich Folker Reichert an, der gegen Paolo Lino Zovattos These, Odorico halte das Evangelium, die Ansicht vertreten hat, Odorico halte seinen Liber de mirabilibus mundi im Arm. Diese Auffassung ließe sich durch zahlreiche Autorenporträts und deren Ikonographie belegen, die in aller Regel den Autor mit seinem Werk abbilden, hier genügt jedoch bereits die genauere Betrachtung des Reliefs: Es findet sich auf dem Relief nämlich noch ein weiteres Buch, das, deutlich kleiner abgebildet, doch den Ursprung von Odoricos Buch bildet: In der Mitte des Bildes ganz oben neigt ein Engel sich dem Missionar zu, als verleihe er ihm die Worte in der fremden Sprache, die aus dessen geöffneten Mund strömen. Auch er hält ein Buch im Arm, zweifellos jenes Buch, das den Bericht von Christi Menschwerdung beinhaltet. Das Evangelium hält nicht Odorico, sondern der Engel, der Odorico so den Predigttext vorgibt. Der Engel hält den Bericht von Christi Menschwerdung in Händen, Odorico aber den Bericht von seinem Weg zu Christus: Auf seinem Grabmal ist der homo viator am Ursprung und am Ziel seines Weges angekommen. Vgl. Folker Reichert, Begegnungen mit China, S. 213.
278
279
Vgl. G. H. Edgell, Le martyre du frère Pierre de Sienne et de ses compagnons à Tana, fresque de Ambrogio Lorenzetti, in: Gazette des Beaux-Arts 71,2 (1929), S. 3 0 7 - 3 1 1 .
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ersten Gesandtschaftsberichten gründenden Traktate, in denen den Missionaren argumentative Grundlagen für ihre Aufgabe zur Verfügung gestellt und die Religion der Tartaren im Vergleich mit anderen Religionen dargestellt wurde; zweitens die Briefe der Missionare aus den Missionsgebieten, die ihr Vorgehen, ihre Erfolge oder Mißerfolge rechtfertigten; drittens die Narrativierung der Mission, in denen die peregrinatio der Missionare zu den Ungläubigen, das bereiste Land, seine Sitten und Merkwürdigkeiten beschrieben und das Wirken ihres Ordens in den Missionsgebieten dargestellt wurden. Während in der Missionstheorie in gelehrten Traktaten die Religion der Missionsvölker beschrieben und in den Missionarsbriefen die Probleme und Mühen der missionarischen Arbeit geschildert sowie die Erfolge und Mißerfolge gerechtfertigt wurden, rückte die Narrativierung der Mission das Bekehrungswunder und das Martyrium der Missionare in den Mittelpunkt. Der Weg des Missionars in die Fremde nahm dabei den Charakter einer symbolischen peregrinatio an, in der die Beschreibung der Fremde als Schauraum des Wunderbaren den sichtbaren Hintergrund für die Wirklichkeit der Wunder bildete. Die beiden Pole dieser Narrativierung der Mission bildeten einerseits die Beschreibung des Missionslandes, seiner Bevölkerung und der mirabilia, die der Missionar gesehen oder von denen er gehört hatte, und andererseits die miracula der Bekehrung und des Martyriums. Für die Narrativierung der Mission, die über das Kontaktsystem hinaus in die Diskursivierung der Fremde einging, spielte allein diese dritte Form eine Rolle, während die erste Form operatives Wissen für das Kontaktsystem zur Verfügung stellte, dessen Zirkulation auf die spezialisierten subdiskursiven Felder begrenzt blieb, und die zweite Form - mit mäßigem Erfolg - ausschließlich der internen Kommunikation und Nachrichtenübermittlung diente. Die Berichte, wie der Odoricos, hatten dagegen keine missionstheologische oder wissensorganisierende Funktion, sondern narrativierten die Mission, indem sie die Wunder der Mission (miracula) und die Wunder der Fremde 0mirabilia) zusammenbrachten.
5.Die Disjunktion von Kontaktsystemen und Diskursen: Marco Polo und John Mandeville Der stumme Kaufmann und die Stimme des Erzählers: Marco Polo In der bisherigen Darstellung der spätmittelalterlichen Kontakte mit den Mongolen und der aus den Kontaktsystemen hervorgegangenen Berichte über Ostasien fehlen zwei Berichte, die bis heute den größten Bekanntheitsgrad von allen Fernostasienberichten für sich in Anspruch nehmen können: Der Bericht Marco Polos und der John Mandevilles. Daß der Bericht John Mandevilles oder Jeans de Mandeville, wie er auch genannt wird, bisher nicht vorkam, mag nicht verwundern, denn er wird in der jüngeren Forschung nahezu ausschließlich - mit der bemerkenswerten, aber nicht sehr einflußreichen Ausnahme von Christiane Deluz - als „Reiseroman" interpretiert und damit aus dem Feld
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der spätmittelalterlichen Reiseberichte exkludiert. Allenfalls wird Mandeville als schlagendes Beispiel für die Leichtgläubigkeit des mittelalterlichen Publikums und seine Unfähigkeit angeführt, zwischen „Fiktion" und „Realität" zu unterscheiden. Das Fehlen von Marco Polos Bericht dagegen, der lange Zeit als das Beispiel des „merchant adventurer" betrachtet wurde und als Repräsentant des im Bereich des Fernhandels verbreiteten Wissens gegolten hat, bedarf einer gesonderten Begründung, auch wenn die These von „Marco Polo mercante"280 nicht mehr unumstritten ist. Dabei läßt sich kaum bestreiten, daß der Venezianer Marco Polo in den Zusammenhang des durch den Fernhandel geprägten Kontaktsystems gehört; andererseits läßt sich aber auch kaum eindeutig belegen, daß sein Bericht aus der Perspektive eines venezianischen Fernhandelskaufmanns abgefaßt sei.281 Für diejenigen Interpreten, die in Marco Polos Bericht das Weltbild eines Fernhandelskaufmanns erkennen wollten, war die Information, daß es sich bei Marco Polo um das Mitglied einer venezianischen Kaufmannsfamilie handelte, von entscheidender Bedeutung, denn sie stützt die Interpretation, er habe die Welt aus der Perspektive eines rationalen Fernhandelskaufmanns beschrieben, der sich durch besondere Rationalität und Nüchternheit auszeichne und wohltuend von dem fabulös-mythischen Bericht eines John Mandeville abhebe.282 Am nachdrücklichsten ist diese These in der jüngeren Forschung noch von Franco Borlandi, Michel Mollat und Friederike Hassauer, freilich mit unterschiedlichen Ausgangspunkten, vertreten worden. Während Franco Borlandi im überlieferten Bericht Marco Polos die Überreste eines „manuale di mercatura" erblickte, das Marco bereits abgeschlossen hatte und das dann durch Rustichello da Pisa lediglich in eine literarisch ansprechende Form gebracht wurde, aus der sich aber die ursprünglich kaufmännische Handschrift noch rekonstruieren lasse, stützten sich Michel Mollat und Friederike Hassauer in erster Linie auf die Realistik und Toleranz der Beschreibung des „Anderen" und das Selbstbewußtsein des Autors, das sie auf die Mentalität einer in den 283
italienischen Städten aufstrebenden bürgerlichen Kaufmannschaft gründeten. Daraus ergab sich eine Reihe von Erklärungserfordernissen: Zum einen wurde versucht zu erklären, warum Marco Polo sich selbst nicht als Kaufmann bezeichnete und so vieles berichtete, was mit der behaupteten rationalen Perspektive eines Fernhandelskaufmanns nicht in Einklang zu bringen war. Anders nämlich als in der Pratica della mercatura Francesco Balducci Pegolottis ging Marco Polo weit über das sich auf Waren, Preise und Handelsrouten ohne jegliche narrative Gestaltung verschriftlichende instrumenteile Wissen der Kaufleute hinaus und beschrieb den Aufstieg der Tartaren, ihre Kriege und Schlachten, die gute Herrschaft des Großkhans, die Pracht seiner Städte und 280 281 282 283
Mit dieser Formel hat Franco Borlandi (Alle origini dell libro di Marco Polo, S. 105) Marco Polo und seinen Bericht charakterisiert. Zu den Dokumenten, die über die Familie Polo und ihre Tätigkeit im euro-asiatischen Fernhandel überliefert sind, vgl. Marina Münkler, Marco Polo, S. 32-37. So etwa Michel Mollat, Les explorateurs du XlIIe XiVe siècle, S. 31, der Marco Polos Reisebericht mit der Pratica della Mercatura Pegolottis vergleicht. Vgl. Franco Borlandi, Alle origini del libro di Marco Polo; Rodolfo Gallo, Marco Polo, la sua famiglia e la sua opera; Michel Mollat, Grands voyages du monde, S. 126f., sowie Friederike Hassauer, Volkssprachliche Reiseliteratur, S. 280ff.
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seines Reiches, die merkwürdigen Gepflogenheiten seiner Bewohner und andere mirabilia, als deren Augenzeuge er sich vorstellte. Von Kaufleuten sprach er dagegen, außer in Formulierungen wie „a ceste isle vienent grant quantité de nes de mercaanz, que hi acatent de maintes mercandies et hi font grant profit et grant gaagne"284, nur wenig; weder behauptete er, selbst Handel getrieben zu haben, noch gab er an, andere europäische Kaufleute zu kennen, die zu seiner Zeit mit den Mongolen Handel trieben. Zwar zählte er in seinem Bericht bei der Beschreibung von Städten häufig die dort gehandelten Waren auf und nannte ihre Preise, teilweise auch deren Umrechnungskurse in europäische Währungen und die Höhe der Zollraten, aber seine Informationen waren hinsichtlich der Handelsbedingungen zu unpräzise und hinsichtlich der genannten Preise zu unaktuell, um für das Kontaktsystem des Fernhandels wirklich nutzbringend zu sein.285 Überdies fehlten Beschreibungen von Handelsrouten, Wegstrecken und geeigneten Transportmitteln, die für das Kontaktsystem Fernhandel und sein instrumentelles Wissen von zentraler Bedeutung waren. Schwerer als das Fehlen genuin kaufmännischer Informationen wiegen jedoch jene Teile, die sich nicht mit der unterstellten kaufmännisch-rationalen Perspektive in Einklang bringen lassen, wie etwa die, in denen Marco Polo den goldglänzenden Hof des Großkhans, den Aufstieg und Fall des Priesterkönigs Johannes, den Sonnen- und Mondbaum, den Vogel Roch und andere mirabilia beschrieb. Wer Marco Polo als Kaufmann sehen wollte, mußte jene Teile des Berichts, die nicht in das Schema vom realistischen und zweckrationalen Kaufmann paßten, in ihrer Bedeutsamkeit abwerten, um vertreten zu können, daß sein Bericht, wenn er sich auch nicht offen als der eines Kaufmanns zu erkennen gab, doch die Weltsicht eines Kaufmanns repräsentiere. Um die „Kontamination" des Berichts mit „unrealistischen" Elementen zu erklären, wurde deshalb als zweite Ebene der Interpretation häufig angeführt, daß der „Schreiber" des Berichts, Rustichello da Pisa, der mehrere höfische Romane kompiliert hatte, diesen mit literarischen Mustern durchsetzt habe, die eigentlich in Widerspruch zu Marco Polos nüchterner Weltsicht stünden.286 Dem Bericht wurde damit eine gebrochene Perspektive 284
ed. Benedetto, S. 169. „Viele Schiffe kommen nach Java und die Händler kaufen und verkaufen riesige Warenmengen mit hohem Gewinn" (ed. Guignard, S. 289).
285 286
Vgl. Folker Reichert, Begegnungen mit China, S. 114. Zu Rustichello da Pisa, dessen bekanntestes Werk seine Adaption des Meliadus-Romans ist, vgl. Luigi Foscolo Benedetto, Einl. zu: ed. Benedetto, S. Xlllf.; ders., Non Rusticiano ma Rustichello, in: ders., Uomini e tempi, S. 6 3 - 7 0 . Im Zusammenhang mit der Zusammenarbeit Marco Polos und Rustichellos da Pisa wurde auch immer wieder die Frage diskutiert, ob Marco Polo bereits selbst schriftliche Aufzeichnungen angefertigt habe, oder ob der Bericht auf ein mündliches Diktat oder auch einen vergleichsweise losen mündlichen Erzählzusammenhang zurückzuführen ist. Luigi Foscolo Benedetto (vgl. ed. Benedetto, S. X X X ) und B. Terracini (vgl. Ricerche ed appunti) sind davon ausgegangen, daß Marco Polo bereits schriftliche Aufzeichnungen angefertigt hatte, die er Rustichello zur Verfügung stellte, der sie dann bearbeitete, während t'Serstevens von einem mündlichen Diktat im venezianischen Dialekt ausging, das Rustichello beim Niederschreiben zugleich ins Franko-Italienische übersetzte (vgl. Le Livre de Marco Polo, S. 1 lf.). Aus einer lexikalischen Untersuchung der Venezianismen in der franko-italienischen Fassung ist Theodor Gossen zu dem Schluß gekommen, Rustichello habe nach venezianischen oder frankovenezianischen schriftlichen Aufzeichnungen Marco Polos gearbeitet (vgl. Marco Polo und Rustichello da Pisa, S. 136ff.).
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unterlegt, mit deren Hilfe man die Sperrigkeit des Textes für eindeutige perspektivische Zuordnungen überwinden zu können meinte. Indem man den Anteil des „Schreibers" des Divisament dou monde, Rustichello da Pisa, stark machte, meinte man, die unrealistischen und als „literarisch" ausgemachten Elemente relativieren zu können, von denen sich angeblich jene realistischen Elemente abhoben, die Marco Polos eigener Sichtweise entspechen sollten. 287 Die einzige personale Angabe des Berichts über Rustichello da Pisa bezieht sich auf die gemeinsame Gefangenschaft mit Marco Polo in einem Genueser Gefängnis im Jahre 1298, ohne daß aber irgendwelche weiteren Angaben über diesen Rustichello und seine Fähigkeit, einen so außergewöhnlichen Bericht über die Fremde aufzuschreiben, gemacht würden. 288 Die Tatsache, daß dieser Rustichello sich im Umkreis des englischen Prinzen Eduard bewegte, den er 1270 ins Heilige Land begleitet hatte, und daß er mit Kompilationen von Artusromanen bereits eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte, wird mit keinem Wort erwähnt. Auf die Bedeutung von Rustichellos Anteil am Divisament dou monde hat als erster Luigi Foscolo Benedetto hingewiesen, der für den von ihm edierten franko-italienischen Text der Pariser Handschrift BN, MS fr. 1116, die nach seiner Einschätzung dem verlorenen Original am nächsten kommt, die „fortuna del testo" grundlegend aufgearbeitet hat.289 Benedetto erbrachte den Nachweis, daß der Anteil Rustichellos, jedenfalls an der franko-italienischen Fassung des Berichts, sehr viel größer ist, als der Schlußsatz des Prologs mit wenigen dürren Worten andeutet: „Le quel puis, demourant en le chartre de Jene, fist retraire toutes ceses chouses a messire Rusticiaus de Pise, que en celle meisme chartre estout, au tens qu'il avoit MCCXCVIII ans que Jesucrit nesqui." 2 9 0
287
288
289 290
Vgl. Jaques Heers, Marco Polo, S. 289, Leonardo Olschki, Marco Polo's Asia, S. 356f., Folker Reichert, Begegnungen mit China, S. 148f., Helmuth G. Walter, Gens consilio et sciencia, S. 259, Gerhard Wolf, Die deutschsprachigen Reiseberichte des Spätmittelalters, S. 104f. sowie jüngst Frances Wood, Marco Polo kam nicht bis China, S. 57. Umstritten ist freilich sowohl, wann Marco Polo in genuesische Kriegsgefangenschaft geraten sein könnte, als auch, wie man sich diese Gefangenschaft vorzustellen habe. Jacques Heers geht davon aus, daß Marco Polo gemeinsam mit anderen Gefangenen von Rang, wie dem Pisaner Rustichello, bei einer Genueser Familie unter Hausarrest gestellt worden sei (vgl. Marco Polo, S. 277f.). Diese These kann sich auf den Bericht Jacopo d'Aquis stützen, wonach Marco Polo seinen Vater während seiner Gefangenschaft gebeten habe, ihm seine Aufzeichnungen und Papiere zu schicken, damit er sein Buch schreiben könne (vgl. Luigi Foscolo Benedetto, Einl. zu: ed. Benedetto, S. CXCVI), was wohl kaum denkbar wäre, wenn er sich in Kerkerhaft befunden hätte. Insgesamt bleibt fraglich, ob der Bericht tatsächlich in einem wie auch immer gearteten Genueser Gefängnis entstanden ist oder ob mit dieser Behauptung nicht eher der Topos vom hortus clusus evoziert wird. Zu den Problemen der Entstehung und Datierung des Berichts vgl. Marina Münkler, Marco Polo, S. 56-59; Folker Reichert, Begegnungen mit China, S. 143; Leonardo Olschki, Marco Polo's Asia, S. 103f. sowie Jacques Heers, Marco Polo, S. 275f. Vgl. Luigi Foscolo Benedetto, Einl. zu: ed. Benedetto, S. XI-CCXXI. ed. Benedetto, S. 4. „Später, im Jahre 1298 nach Christi Geburt, als er zusammen mit Messer Rusticiaus von Pisa im selben Gefängnis zu Genua saß, bat er diesen, alles aufzuschreiben, was er ihm erzähle" (ed. Guignard, S. 8).
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Anhand genauer Stellenvergleiche zwischen den ältesten Handschriften der Weltbeschreibung Marco Polos und Rustichellos Adaption des Meliadus konnte Luigi Foscolo Benedetto zeigen, daß zum Teil ganze Passagen aus Marco Polos Text sich in den höfischen Epen Rustichellos wiederfinden lassen, oder anders gesagt: ganze Passagen aus Rustichellos Epen sind in Marco Polos Weltbeschreibung eingegangen.291 So hat Benedetto beispielsweise belegt, daß Rustichellos Meliadus mit nahezu denselben Worten anhebt, wie Marco Polos Bericht. 292 Und mehr noch: Der Großkhan spricht mit den Gebrüdern Polo so, wie König Artus mit Tristan spricht; er empfangt Marco Polo mit den gleichen Worten, mit denen Artus den jungen Tristan empfängt, der an seinen Hof kommt, und ihn dann wieder ziehen läßt, als er zurückkehren will; die Kriege und Schlachten der Tartaren werden mit genau den gleichen Worten beschrieben, mit denen von den Schlachten europäischer Ritter gesprochen wird.293 Interpretiert man dies nun als die gleichberechtigte Zusammenarbeit zweier gegensätzlicher Autortypen, nämlich des höfischen Dichters und des rationalen Kaufmanns, um dem einen die „literarischen" und dem anderen die „realistischen" Teile zuzuschreiben, so erhebt sich doch die Frage, wie diese beiden - neben dem Zufall, möglicherweise zur gleichen Zeit Kriegsgefangene in einem Genueser Gefängnis zu sein - haben zusammenkommen können. Denn welche „rationale" Weltsicht eines Kaufmanns sollte das sein, die sich so mit literarischen Mustern durchsetzen ließe, daß sie sich in ihr Gegenteil verkehrt? Welcher Kaufmann mit einem nahezu abgeschlossenen „manuale di mercatura" sollte sich zu seiner Abfassung an einen höfischen Dichter gewandt und ihm überdies so freie Hand bei der Abfassung desselben gelassen haben, daß eine Beschreibung des Ostens dabei herauskam, die für Kaufleute weitgehend unbrauchbar war? Wenn man andererseits unterstellt, Rustichello habe Marcos ursprünglichen Text verändert und in eine literarische Tradition integriert, so müßte man auch erklären können, weshalb diese Integration auf halbem Weg stehen blieb und weshalb Marco Polo unter diesem Zugriff nicht eindeutiger zum Helden seines Textes avancierte. Aufschlußreicher als die kontrastierende Gegenüberstellung einer kaufmännischrationalen und einer höfisch-literarisch geprägten Mentalität aber ist die Frage, wie jene so gegensätzlich scheinenden Mentalitäten sich amalgamieren können, wie es möglich ist, daß zwei so unterschiedliche Subjekte im diskursiven Raum eines Textes nebeneinander stehen und mit einer Stimme sprechen können, ohne daß der Raum gesprengt wird und die Kakophonie der Stimmen ihre Rede unverständlich werden läßt. Einen derartigen methodischen Zugriff versperren aber gerade jene Interpretationsansätze, die auf ein Autorenbewußtsein und eine sich darin ausdrückende Mentalität rekurrieren, weil sie 291
Vgl. Luigi Foscolo Benedetto, Einl. zu: ed. Benedetto, S. XIXff.
292
Sowohl die Publikumsadressierung („Seignors emperaor et rois, dux et marquois, cuens, Chevaliers et borgios") als auch die Empfehlung, sich das Buch vorlesen zu lassen, stimmen wörtlich überein, was schon insofern bemerkenswert ist, als Marco Polos Bericht damit an die Vermittlungsform des mündlichen Vortrags angeknüpft wurde, die für einen Bericht zumindest ungewöhnlich war. Vgl. ed. Benedetto, S. 3. „Kaiser, König und Fürsten, Ritter und Bürger...". (Guignard, S. 7).
293
Siehe die eingehenden Stellenvergleiche bei Benedetto, S. XXIff. sowie Marina Münkler, Marco Polo, S. 6 0 - 6 3 .
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immer an deren Zuordenbarkeit zu sozialen Gruppen und damit letztlich an einer „Eindeutigkeit" des Textes festhalten müssen, um ihren eigenen Deutungsanspruch nicht 294
zu negieren. Das gilt letztlich auch für jene Interpretationsansätze, die versucht haben, die Heterogenität des Berichts durch den Verweis auf Marco Polos Tätigkeit am Hofe Khubilai Khans zu relativieren. So geht etwa Jacques Heers davon aus, daß Marco Polo Teile seines Berichts zur Unterhaltung für den Herrscher, in dessen Diensten er stand, geschrieben habe: „Marco apparaît ici homme de cour, passioné par cette civilisation de la cour mongole, par l'organisation de l'État; fidèle serviteur, il s'applique avant tout à plaire à son souverain, à lui rapporter les merveilles et étrangetés rencontrées sur son chemin; il s'y attarde, en donne de vivants tableaux, embellis d'anecdotes et de fables." 295 Heers erklärt aus dieser Mentalität die anekdotischen und „fabulösen" Elemente des Berichts, während er die „realistischen" Teile darauf zurückfuhrt, daß Marco Polo als Steuerbeamter im Dienste des Großkhans tätig gewesen sei: „Les curiosités de l'auteur ne sont pas celles d'un négociant, mais d'un agent du fisc (,..)". 2% Marco Polo, so meinte auch Paul Demiéville, habe als Beauftragter und Vertrauter des mongolischen Großkhans die Welt nicht aus der Perspektive eines Fernhandelskaufmanns, sondern aus 297
der Perspektive eines enkulturierten mongolischen Verwaltungsbeamten gesehen. Diese Deutung kann sich im Gegensatz zur Kaufmannsthese nicht auf überlieferte Urkunden, dafür aber auf die Aussagen des Textes stützen, in denen es heißt, Marco Polo habe während seines Aufenthaltes im Dienst des Großkhans gestanden, sei als sein Gesandter durch das Riesenreich gereist 298 und habe sogar für drei Jahre als Verwalter der chinesischen Stadt Yanghzou gedient. Diese These ist freilich mit ähnlichen Problemen behaftet, wie die These von der Kaufmannsperspektive: Ein Marco Polo oder auch ein anderer Fremder wird in keiner chinesischen Quelle der Zeit als Verwalter der Stadt genannt, und gerade soziale Organisationsformen und Administrationen, die zur Stütze einer solchen Interpretation im Zentrum stehen müßten, spielen bei Marco Polo nur eine
294
Der hier vertretene Einwand richtet sich in erster Linie gegen jenen eng an die Sozialgeschichte angelehnten Teil der Mentalitätsgeschichte, der Texte in erster Linie als Dokumente für Bewußtseinsformen und soziale Zugehörigkeit liest, was bei der Interpretation von Reiseberichten, deren literarischer Status nicht eindeutig ausgemacht ist, nicht eben selten der Fall ist. Daß Texte nicht nur literarische - eine sehr viel komplexere Beziehung zur Realität unterhalten und deshalb nicht als Dokumente historischer Prozesse gelesen werden dürfen, ohne diskursive Muster, Schreibsituationen und ihre mediale Vermittlung zu berücksichtigen, ist von literaturwissenschaftlicher Seite wiederholt eingewandt worden. Vgl. Roger Chartier, Intellektuelle Geschichte und Geschichte der Mentalitäten, in: Freibeuter 29 (1986), S. 2 2 - 3 1 , und 30 (1986), S. 2 1 - 3 5 . Grundsätzlich zur Frage der Verbindung zwischen literarisch-narrativem Diskurs und Mentalitätsgeschichte vgl. Werner Röcke, Literaturgeschichte-Mentalitätsgeschichte, bes. S. 640f.
295 296 297
Jacques Heers, Marco Polo, S. 252. ibid., S. 258. Vgl. Paul Demieville, La Situation religeuse, S. 223f. Folker Reichert hat sich dieser These mit der Bemerkung, Demidvilles Schluß scheine ihm ebenso einleuchtend wie anregend zu sein, vorsichtig angeschlossen. Vgl. Begegnungen mit China, S. 117.
298
Vgl. ed. Benedetto, S. 137.
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untergeordnete Rolle und fungieren als Ausweis der guten Herrschaft des Großkhans. 299 Überdies findet die Auffassung, Marco Polo habe Khubilai Khan als Gesandter gedient, ihre stärkste Stütze im Text in eben jenen Passagen, von denen Luigi Foscolo Benedetto nachgewiesen hat, daß sie wörtlich aus Rustichellos Epen übernommen sind. Das ist sicherlich allein kein Grund, an ihrer faktischen Richtigkeit zu zweifeln, es verweist aber darauf, daß der Gesandtschaft hier eine konstitutive Funktion für die Situierung des Berichtssubjekts zukommt, die zunächst zu untersuchen wäre, bevor man versucht, sie auf ihre angenommene Faktizität zu reduzieren. 300 Gewiß wäre es denkbar, daß Marco Polo in mongolischen Diensten stand, wenn auch wohl kaum als Verwalter der Stadt Yanghzou, aber durchaus als Gesandter und Berichterstatter des Großkhans. 301 Und ebensogut könnte er sich als Kaufmann längerfristig in China niedergelassen oder gar eine Filiale des väterlichen Geschäfts gefuhrt haben. 302 Zu beiden Gruppen, der der Verwaltungsbeamten wie der der übergesiedelten Kaufleute, könnte Marco Polo gehört haben, wobei das eine und das andere sich durchaus nicht ausschließen, wie die Beispiele der Kaufleute Buscarello dei Ghisolfi und Andalö da Savignone zeigen, die sowohl als Kaufleute als auch als mongolische Gesandte tätig waren und ihre Reisewege so doppelt nützlich machten. Von entscheidender Bedeutung ist aber gar nicht, was Marco Polo wirklich getan hat, sondern warum es nötig ist, ihm eine bestimmte Tätigkeit zu unterlegen. Im Schritt von den sozio-biographisch zuordenbaren Dokumenten zur Perspektive eines Autors liegt das eigentliche Problem jener Deutungen, die in Marco Polos Bericht den Bericht eines Fernhandelskaufmanns oder eines enkulturierten mongolischen Hofbeamten sehen wollten. Denn selbst wenn Marco Polo ein Fernhandelskaufmann war, so heißt das weder, daß sein Bericht spezifisch kaufmännisches Wissen übermitteln und für Kaufleute besonders nützlich sein müßte, noch, daß er aus der Perspektive eines Fernhandelskaufmanns geschrieben sein muß. Es scheint mir daher auch nicht nötig zu sein, wie Folker Reichert in Abgrenzung von Borlandinis These zu erklä-
299
Vgl. John W. Haeger, Marco Polo in China, S. 23.
300
Frances Wood hat dagegen diese und ähnliche Elemente als Stütze für ihre These angeführt, daß Marco Polo niemals bis nach China gekommen sei, sondern seinen Bericht aus persischen und anderen Quellen zusammengeklaubt und mit Hilfe Rustichellos da Pisa in eine erfolgsträchtige Form gebracht habe. Vgl. Marco Polo kam nicht bis China, bes. S. 58ff. und S. 133f. Rolf Trauzettel hat diese Verfahren als charakteristisch für die mongolische Herrschaft in China bezeichnet. „Die Mongolen hatten schon in Nordchina die wichtigsten Aufgaben im Verwaltungssystem einer nichtmongolischen Bürokratie übertragen, die sich vorwiegend aus Iranern, Arabern, Uiguren und Kitan zusammensetzte, zu denen dann nach und nach Chinesen hinzukamen. Sie selbst verstanden sich in erster Linie als die Nutznießer, was dokumentiert wird in den Apanagen für die Mitglieder des Herrscherhauses, wozu große Gebiete Nordchinas dienten." (Rolf Trauzettel, Die Yüan-Dynastie, in: Die Mongolen, S. 23 lf.). Alvise Zorzi hat die These vom Fernhandelskaufmann variiert und sie mit der vom mongolischen Gesandten verknüpft, indem er beide in der „Venezianität" des Autors aufhob, die nach seiner Auffassung in einer typisch venezianischen Mischung von Kaufmanns- und Herrschaftswissen bestand. Vgl. Alvise Zorzi, Marco Polo, S. 353.
301
302
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ren, „Marco Polo war kein Kaufherr". 303 Einige Dokumente sprechen durchaus dafür, daß Marco Polo ein Kaufmann war, denn er beteiligte sich nach seiner Rückkehr an verschiedenen Kaufmannscolleganzen als stans, als der seßhafte Partner einer Handelsfahrt, der den größten Teil des eingesetzten Kapitals stellte.304 Wenn Marco Polo dagegen ein enkulturierter Europäer am mongolischen Hof gewesen sein sollte, der dem Großkhan als Berichterstatter diente, so heißt das ebenfalls nicht, daß seine Beschreibung Chinas und Indiens dieser Perspektive verhaftet sein muß. Was auch immer Marco Polo dem Großkhan berichtet haben mag, dürfte kaum mit dem identisch sein, was er in seinem Bericht für die Kaiser, Könige und Herren des Abendlands aufschreiben ließ. Khubilai hätte wohl kaum eines Marco Polo bedurft, um vom Aufstieg seiner eigenen Dynastie, von den Kriegen und Eroberungen Dschinghis Khans, vom Scheitern seines eigenen Heeres bei dem Versuch, Japan zu erobern, oder von der Schönheit seines Palastes zu erfahren. 305 Die Methodik, dem die scheinbar so unterschiedlichen Deutungen gleichermaßen verhaftet sind, braucht die Zuordenbarkeit des Autors, weil das Ziel ihrer Interpretation die Aufdeckung seiner Perspektive, seiner Weltsicht und seines Bewußtseins ist. Die scheinbar einander widersprechenden Interpretationen gleichen sich darin, daß sie dem Bericht eine bestimmte Perspektive unterstellen, die allein durch das dem Text vorgeordnete Subjekt begründet ist, weil diese Perspektive die Interpretation des Textes steuert. Damit verstricken diese Deutungsansätze sich aber in Tautologien, die auch durch skrupulöseste Quellenkritik nicht auflösbar sind, denn sie versuchen, aus dem Text ein ihm vorgängiges Bewußtsein zu rekonstruieren, das dann die Interpretation des Textes begründen soll. An die Stelle der Frage nach dem Autor und seinem Bewußtsein soll dagegen hier die Frage nach den Bedingungen des Diskurses als dem Formationsfeld möglicher Aussagen stehen, die Foucault in der „Archäologie des Wissens" folgendermaßen beschrieben hat: „Die Analyse der Aussagen vollzieht sich also ohne Bezug auf ein Cogito. Sie stellt nicht die Frage dessen, der spricht, der sich manifestiert oder sich in dem, was er sagt, verbirgt, der, indem er spricht seine souveräne Freiheit ausübt oder sich, ohne es zu wissen, den Zwängen unterwirft, die er schlecht wahrnimmt. Sie stellt sich tatsächlich auf die Ebene des »man sagt«, und darunter braucht man keine Art gemeinsamer Meinung, kollektiver Repräsentation zu verstehen, die sich jedem Individuum auferlegte. Man darf darunter keine große anonyme Stimme verstehen, die notwendig durch die Diskurse eines jeden spräche, sondern die Menge der gesagten Dinge, die Relationen, die Regelmäßgkeiten und Transformationen, die darin beobachtet werden können, das Gebiet, das mit bestimmten Figuren, mit bestimmten Schnittpunkten, den besonderen Platz eines 303
Folker Reichert, Begegnungen mit China, S. 80. An anderer Stelle merkt Reichert an, daß Marco Polo zwar „gewisse ökonomische Sachverhalte nicht fremd waren", „als Kaufmann aber scheint er sich niemals betätigt zu haben, weder vor noch nach seiner Zeit in China"(S. 114).
304
Marco Polos Tätigkeit als Kaufmann nach seiner Rückkehr wird unter anderem, ganz wie bei Kaufleuten üblich, durch eine Reihe von Gerichtsakten belegt. 1305 verklagte er einen Agenten, weil dieser ihm eineinhalb Pfund Moschus nicht bezahlt hatte. Vgl. Leonardo Olschki, Marco Polo's Asia, S. 104f.
305
Vgl. etwa ed. Benedetto, S. 62f„ 70f. und 84.
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sprechenden Subjekts anzeigt, das den Namen eines Autors erhalten kann. »Egal, wer spricht«, doch was er sagt, sagt er nicht von irgendwo aus. Er ist notwendig in das Spiel einer Äußerlichkeit eingefangen."306 Um sich Marco Polos Bericht in dessen Verästelungen, Wucherungen und Variationen zu vergegenwärtigen, muß man auf die Perspektive des Autors verzichten und stattdessen die Perspektivierung des Autors betrachten. Diese Perspektivierung des Subjekts ist innerhalb der handschriftlichen Überlieferung aber keineswegs eindeutig, sondern äußerst vielgestaltig; Marco Polo sowie sein Vater und sein Onkel werden abwechselnd als Gesandte, Missionare, edle Bürger Vendigs und schließlich - in späteren Textfassungen - als Forschungsreisende beschrieben.307 Als perspektiviertes Subjekt springt Marco Polo damit zwischen den Kontaktsystemen hin und her, ohne einem Kontaktsystem und seiner Wissensformation eindeutig zugeordnet werden zu können. Marco Polo ist vielmehr die Personifizierung jenes Moments, als das Wissen über die fremde Welt des Ostens nicht mehr nur in Spezial- und Spezialistendiskursen aufgehoben wurde, sondern sich einem breiten Publikum mit unterschiedlichen Interessen und ohne eindeutig zuordenbare Zwecke öffnete. Ob Marco Polo ein Kaufmann war oder nicht, ob er ein mongolischer Hofmann war oder nicht, ist letzlich unwesentlich - sein Bericht jedenfalls ist darüber in den Wissensdiskurs eingegangen, daß er weder der Bericht eines Fernhandelskaufmanns noch der Bericht eines kulturellen Überläufers war. Er ist, mit anderen Worten, in den Diskurs eingegangen, weil er den Bereich kaufmännisch-instrumentellen Wissens überschritten hat und in den Bereich diskursivierungsfähigen Wissens vorgedrungen ist, das Erfahrungen über die Tartaren und die fremde Welt des Ostens zu vermitteln vermochte. Diese Überschreitung war gleichbedeutend mit der Überschreitung eines geschlossenen Kommunikationssystems, die seinem Bericht den Eingang in den zeitgenössischen Wissensdiskurs öffnete. Daß ein venezianischer Kaufmann namens Marco Polo zu dem Marco Polo werden konnte, „que tant seust ne cherchast de les deverses partie dou monde et de les grans mervoilles", begründet sich darin, daß seine Beschreibung der östlichen Länder zwar aller Wahrscheinlichkeit nach durch das Kontaktsystem des Fernhandels ermöglicht wurde, aber nicht im Bereich dieses Kontaktsystems aufging. Als Marco Polo sich als Berichterstatter präsentierte, war die Beschreibung der Tartaren, ihrer Reiche und von dort aus der Länder und Völker des gesamten Ostens offenkundig bereits so weit aus den Funktionsbestimmungen der Kontaktsysteme herausgetreten, daß ein Autor, der keine institutionelle Legitimation besaß und keinen anderen Grund für seine Beschreibung präsentieren konnte als die Fülle seines Wissens, in das Zentrum der Diskursivierung des Fremden treten konnte.
306 307
Michel Foucault, Archäologie des Wissens, S. 178. Die Beschreibung als Gesandte ist die am häufigsten vorkommende. Als „nobile cittadino" wird Marco Polo in den toskanischen Varianten des Textes beschrieben, was man in den oberitalienischen Städten auch als dem Patriziat angehöriger Großkaufmann lesen konnte (vgl. ed. Bertolucci Pizzorusso, S. 1 u. S. 321). In mindestens zwei Handschriften werden die Gebrüder Polo in den beigefügten Illustrationen in einem Habit abgebildet, der der Ordenstracht der Dominikaner (Paris, BN, Ms. fr. 2810) bzw. der Franziskaner (London BL, MS. Royal 19.D.I) ähnelt. Vgl. Leonardo Olschki, Marco Polo's Asia, S. 116; Folker Reichert, Begegnungen mit China, S. 195.
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Den Weg dahin wies ihm Rustichello da Pisa: Er öffnete Marco Polo den Zugang zum kategorial geprägten Diskurs über die Fremde, weil in den literarischen Mustern, über die er verfugte, jene Funktionselemente enthalten waren, die nicht nur das Gerüst einer fiktionalen Erzählung, sondern auch das Gerüst einer kategorialen Beschreibung der Fremde bilden konnten. Fiktional sind an den höfischen Romanen ja nicht unbedingt die Orte, an denen sie handeln, die Herrschaftsmuster, die sie beschreiben, oder die Gegenstände, die dem Helden begegnen, sondern die Ereignisse, die um sie herum angeordnet werden. Um der Fiktion Raum zu verschaffen, werden im „Akt des Fingierens" Elemente des „Realen" selegiert und zu topisch vermittelten Erzählmustern kombiniert, deren fiktionaler Fokus in den höfischen Epen und Romanen die aventure 308des Helden ist.309 Ohne die Fokussierung auf die aventure eignen sich diese Elemente des Realen, die topisch vermittelt sind, aber auch als Elemente einer Deskription der Fremde, denn sie umfassen in der Regel die Topographie eines Erfahrungsraumes, die Soziographie einer Herrschaft, mit ihren höfischen Lebensformen, ihren Kriegen sowie ihrer dynastischen Folge, und auch die Merkwürdigkeiten am Wegesrand, die mirabilia der Fremde. Vergleicht man die beiden Prologanfange von Rustichellos Meliadus und Marcos Divisament, so wird die narrative Umbesetzung von aventure und merveille deutlich, deren gemeinsame Grundlage die mnemotechnischen Topoi bilden. Der Meliadus hebt an mit den Worten: „Seigneur enperaor et rois et princes et dux et quenz et baronz, civalier et vauvassor et borgiois et tous les preudome de ce monde que avés talenz de delitier voz en romainz, ci prenés ceste, et le feites lire de chief en chief; si i troverés toutes le granz aventures...".
Nur in wenigen Elementen verändert eröffnet Rustichello Marco Polos Bericht mit den Worten: „Seignors enperaor et rois, dux et marquois, cuenz, chevaliers et bourgeois, et toutes gens que volés savoir les deverses jenerasions des homes et les deversités des deverses région dou monde, si prennés cestui livre et le feites lire. Et qui trovererés toutes les grandismes mervoil les...". 11
Der Prolog braucht lediglich die Umbesetzung vom delitier zum savoir und von der aventure eines Romanhelden zu den mervoilles der Fremde zu leisten, um das topische 308 309
310
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Zur Funktion der aventure-Fahrt des epischen Helden vgl. nach wie vor Erich Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik, Tübingen 1970, S. 66ff. Zum hier angewandten Fiktionsbegriff mit den Aspekten der Selektions- und Kombinationsstruktur durch die der „Akt des Fingierens" das Reale und das Imaginäre miteinander verknüpft, vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 20ff. ed. Benedetto, S. XIX. „Ihr Herren Kaiser und Könige, Fürsten und Herzöge, Grafen und Barone, Ritter und Vasallen und Bürger und all ihr tapferen Männer dieser Welt, die ihr die Fähigkeit habt, euch an Romanzen zu erfreuen, nehmt dieses Buch und laßt es euch Zeile für Zeile vorlesen. Und ihr findet darin all die großen Abenteuer...". ibid., S. 3. „Kaiser, Könige, Fürsten, Ritter und Bürger - und ihr alle, ihr Wißbegierigen, die ihr die verschiedenen Rassen und die Mannigfaltigkeit der Länder dieser Welt kennenlernen wollt nehmt dies Buch und laßt es euch vorlesen. Merkwürdiges und Wunderbares findet ihr darin... (ed. Guignard, S. 7).
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Gerüst des Romans für die Beschreibung der Fremde handhabbar machen zu können. Neben diesem Deskriptionsgerüst und seiner Selektions- und Kombinationsstruktur gegenüber der Wirklichkeit verfugte Rusticheilo aber auch über die Redeformen des die Narration steuernden Erzählers, mit deren Hilfe ein Berichtssubjekt entworfen werden konnte, das die Deskription der Fremde als Augenzeuge zu beglaubigen vermochte. Meine These ist daher, daß Rusticheilo da Pisa nicht etwa Marco Polos realistische Beschreibung „literarisierte", sondern daß er mit den erzähltechnischen Mustern, die er beherrschte, Marco Polo überhaupt erst zum Sprechen bringen konnte. Zugespitzt auf die Person des Reisenden könnte man sagen, Marco Polo hatte vieles gesehen, aber ohne Rusticheilo hätte er, wie sein Vater, sein Onkel und so viele Kaufleute vor und nach ihnen, nichts zu sagen gehabt. Diskurstheoretisch gesprochen heißt dies, daß mit den Selektions- und Kombinationstechniken des höfischen Romans ein Berichtssubjekt konstituiert, eine Erfahrung narrativiert und ein Wissen diskursiviert werden konnte, das andernfalls im Schweigen einer instrumenteilen Praxis untergegangen wäre. Dieses Wissen war weder spezifisch kaufmännisch noch genuin durch eine höfisch-literarische Tradition geprägt, sondern topisch vermittelt. Was für die Gesandtschaftsberichte die aristotelische Kategorienlehre als wissensorganisierendes Instrumentarium zu leisten vermochte, konnte für Marco Polo die über die rhetorische Tradition in der Poetik verankerte Situierung von Personen, Gegenständen und Ereignissen innerhalb eines Erzählraumes leisten, den die Topik strukturierte. 312 Die Gegenstände von Marco Polos Bericht waren zweifellos nicht mit der Systematizität erfragt und angeordnet wie bei Carpini, Rubruk und den übrigen Gesandten, aber wenn man die Fragen, ubi, quando, quantitas, qualitas, relatio, situs, habitus, actio und passio an seinen Bericht anlegt, kann man feststellen, daß sie alle - wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung - beantwortet sind. Zu jeder der Fragen findet sich eine Vielzahl von beschriebenen Einzelheiten, die von der Flora und Fauna, der Topographie des Berichtsraums, den Sitten und Gebräuchen, dem religiösen Ritus seiner Bewohner, der herrschaftlichen Organisation des ostmongolischen Reiches, seiner Repräsentation, seinem Herrscher und der Geschichte seiner Dynastie, seinen Kriegen und seinem Reichtum reicht. Das ist weniger verwunderlich, als es auf den ersten Blick mit der scheinbar selbstverständlichen Entgegensetzung von literarischen Topoi und wissensvermittelnden Kategorien erscheinen mag. Die von Aristoteles in seiner Kategorienlehre entwickelten Kategorien und die in der Topik erörterten Topoi sind bis auf die Kategorie der Substanz identisch, auch wenn ihnen unterschiedliche Funktionen zugewiesen werden. Stärker als die fragenden Kategorien erfüllen die Topoi eine mnemotechnische Funktion, beide aber dienen dazu, die Kontingenz der Beobachtung zu überwinden und die Fülle des Wissens zu strukturieren. So wie sich in der Kategorienlehre ein Gegenstand in die Vielzahl seiner Einzelaspekte zerlegen und auf diese Weise beschreibbar machen ließ, konnte ihn die Topik durch die Fülle 312
Lothar Bornscheuer hat dem Topos-Begriff eine methodisch-theoretische Basis verschafft, die ihn von der Verkürzung auf den „Gemeinplatz" befreit und in einer Theorie der „gesellschaftlichen Einbildungskraft" verankert hat. Von besonderer Bedeutung ist dabei seine Betrachtung der aristotelischen Topik, die gegenüber der durch Cicero geprägten rhetorischen Tradition stärker den mnemotechnischen Aspekt der Topik heraushebt. Vgl. Lothat Bornscheuer, Topik, S. 44ff.
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seiner unterschiedlichen, einzeln abrufbaren Aspekte im Gedächtnis verankern und strukturieren, ihn erzählbar machen. Lothar Bornscheuer hat bei seiner Untersuchung der aristotelischen Topik auf diese Strukturähnlichkeiten zwischen Kategorien und Topoi hingewiesen: „Ebensowenig wie die Topoi sind die aristotelischen »Kategorien« und sonstigen Prinzipienbegriffe untereinander oder aus einem Begriffssystem ableitbar. Das topische Instrumentarium der dialektisch-rhetorischen Argumentation intendiert die Fülle des Heterogenen und erreicht nur dort seinen vollen Wirkungsgrad, wo es von einer kombinatorischen Ingeniosität gehandhabt wird." 313
Von Kaufmann zum Gesandten: Die narrative Umbesetzung der Kontaktsysteme Neben der topischen Präsentation des Gegenstandes dienten die durch Rustichello in den Text eingebrachten Elemente eines narrativen Gerüstes aber auch dazu, das Berichtssubjekt Marco Polo als Garanten der Beschreibung zu konstituieren und innerhalb seines Berichtsraumes zu situieren. Die Konstituierung des Subjekt erfolgt zunächst, indem ihm mit der Vorläuferschaft seines Vaters und seines Onkels als Reisende und Gesandte eine Genealogie und eine präsentable Identität zugewiesen wird. Die in den neun ersten Kapiteln des Berichts dargestellte Reise von Niccolö und Maffeo Polo verwandelt diese von Kaufleuten, die sich auf eine Handelsreise begeben, in Gesandte des Großkhans, die für diesen mit dem Papst in Kontakt treten und ihn um die Übersendung von einhundert Lehrern der Sieben Freien Künste bitten sollen. 314 Während zu Beginn des Berichts noch davon die Rede ist, die beiden seien von Konstantinopel aufgebrochen „por gaagner et por fair leur profit" 315 , wird schon die erste Beschreibung eines Tauschhandels am Hofe Berke Khans, des Herrschers der Goldenen Horde, ganz in den Zusammenhang courtoisen Gabentausches gestellt. Nicht vom Austausch von Waren, sondern vom Austausch von Geschenken ist hier die Rede, auch wenn mit dem Hinweis auf den Tauschwert der Gaben („bien deus tant que le joiaus valoient") noch ein Aspekt der an kaufmännisches Profitstreben gebundenen Rechenhaftigkeit vermittelt wird. 316 Im weiteren Verlauf der Narration ihrer Reise verschwindet jegliches Profitstreben jedoch völlig aus der Darstellung und das Zusammentreffen mit dem Großkhan wird zunächst ganz auf die Ebene des courtoisen, interkulturellen Kontakts gerückt. Auch auf dieser quasi-diplomatischen Ebene bleibt die Darstellung jedoch nicht stehen, sondern begibt sich von da aus weiter auf das Feld der Mission. Beeindruckt von den Erzählungen über die Sitten und Lebensgewohnheiten der Lateiner, so fahrt der Bericht fort, habe der Großkhan sie damit betraut, dem Papst ein Schreiben zu überbringen, in dem der Großkhan ihn bat, ihm Öl von der Lampe des Heiligen Grabes in Jerusalem und einhundert Gelehrte zu schicken, die die Sieben Freien Künste beherrschten, damit sie den Tartaren beweisen könnten, daß die von ihnen angebeteten Götzenbilder allesamt Werke des Teufels seien. Die Kauf313 314
Lothar Bornscheuer, Topik, S. 54. Vgl. die ausführliche Darstellung in: Marina Münkler, Marco Polo, S. 3 7 - 4 6 .
315 316
ed. Benedetto, S. 4. ibid.
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leute wurden damit in Gesandte des Großkhans verwandelt, die der Mission den Weg ebnen sollten. Als sie 1269 schließlich das Heilige Land erreichten, hätten sie jedoch erfahren, daß Papst Clemens IV. verstorben und ein Nachfolger noch nicht gewählt worden sei. Daraufhin hätten sie sich in Akkon an den Kardinallegaten im Heiligen Land, Tedaldo Visconti da Vicenza, gewandt und ihm von ihrem Auftrag berichtet. „Et quant le légat ot etendu ce que les deus frers li avoient dit, si n'a grant mervoie et li senble que ce soit grant bien et grant honor de la crestenté."
Der Legat habe ihnen empfohlen, auf die Neuwahl des Papstes zu warten, und so seien sie zunächst nach Venedig gereist. Dort erfuhr Niccolö, daß seine Frau verstorben war und ihm einen fünfzehnjährigen Sohn mit Namen Marco hinterlassen habe, „et ce fui celui Marc de cui cestui livre paroile". 318 Zwei Jahre hätten sie unverrichteter Dinge auf die Neuwahl des Papstes gewartet, bis sie sich 1271 entschlossen, ohne die erbetenen einhundert Gelehrten nach China zurückzukehren, nur unter Mitnahme eines Briefes des Kardinallegaten, dem Öl, das sie selbst in Jerusalem geholt hatten und von Niccolös Sohn Marco. Kurz nach ihrer Abreise wurde eben jener Kardinallegat Tedaldo Visconti da Vicenza zum Papst gewählt und so seien sie auf einem Schiff, das ihnen der König von Armenien dazu zur Verfugung stellte, zu Papst Gregor X. zurückgekehrt, der zwei Dominikanerbrüder mit einem Gesandtschaftsbrief an den Großkhan und kirchlichen Privilegien ausstattete und sie in Begleitung der Gebrüder Polo zum Großkhan sandte. Die Predigerbrüder hätten jedoch in Armenien wegen der dortigen kriegerischen Ergeignisse so große Angst um ihr Leben gehabt, daß sie den Polos ihren Gesandtschaftsbrief und ihre Privilegien aushändigten und umkehrten. 319 Diese aber seien weiter zum Großkhan gereist, der sie mit großer Freude empfing und ihnen zu Ehren ein großes Fest veranstaltete. Sie überreichten ihm den Brief des Papstes und das Öl von der Heiligen 320 Lampe, worüber er sehr glücklich war, „denn es bedeutete ihm sehr viel". „Et por coi vos firoie lonc cont? Sachiés tout voiremant que mout fu grant la joie et la feste que fait le grant Kaan et toute sa corte de la venue de ceste mesajes. Et moit estaient servi et honorés de tuit. Il demorent en la cort et avoient honor sor les antres barons."
317
ed. Benedetto, S. 7. „Aufmerksam und erstaunt hört der Legat den zwei Brüdern zu, und es leuchtet ihm sogleich ein, wie vorteilhaft und ehrenvoll die Angelegenheit für die Christenheit wäre" (ed. Guignard, S. 15).
318 319
ibid. Ein Teil der Handschriften spezifiziert den Inhalt dieser Privilegien als das Recht, in Stellvertretung des Papstes Priester und Bischöfe zu weihen und die Absolution zu erteilen. Vgl. Benedetto, S. 8f., Lesarten L,V,R. Ugo Tucci, I primi viaggiatori, S. 649, hat diese Behauptung jedoch als überaus seltsam bezeichnet, weil derartige Priviligien auf keinen Fall an Laien weitergegeben worden wären. Folker Reichert geht offenbar davon aus, daß es sich bei dem Inhalt des Briefes um ein päpstliches Hilfsersuchen gegen die Muslime gehandelt habe (vgl. Begegnungen mit China, S. 75), worauf sich diese Überzeugung allerdings stützt, bleibt unklar, da weder im Bericht Marco Polos noch in einer anderen Quelle davon die Rede ist.
320 321
Vgl. ed. Benedetto, S. 9. ed. Benedetto, S. 9f. „Ich will nicht in die Breite gehen. Ich bezeuge wahrheitsgetreu, die Ankunft der Venezianer war ein Freudenfest für den Großkhan und seine Hofgesellschaft. Alle er-
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D a m i t w ä r e d i e G e s a n d t s c h a f t i m Prinzip a b g e s c h l o s s e n g e w e s e n , aber der B e r i c h t lenkt n u n d i e A u f m e r k s a m k e i t d e s Großkhans w i e d e s Zuhörers/Lesers a u f den j u n g e n M a r c o , der b i s l a n g nur e i n e N e b e n r o l l e g e s p i e l t hat. N a c h d e m sich der G r o ß k h a n n ä m l i c h v o n der K l u g h e i t und G e l e h r i g k e i t d e s j u n g e n M a r c o überzeugt hatte, habe er ihn z u m G e sandten ernannt und in e i n e seiner P r o v i n z e n gesandt. D e r k l u g e und u m s i c h t i g e M a r c o h a b e d i e s e A u f g a b e zur größten Zufriedenheit des Herrschers erfüllt, d e n n er habe g e wußt, worauf es diesem ankomme: „Li jeune baçaler fait sa enbasec bien et sajement; et por ce qu'el avoit veu et oi plusors fois que le grant kan, quant les mesajes qu'il mandoit por les diverses partes dou monde, quant il retornoient a lui et li disoient l'anbasee por coi il estoit aies et no Ii savoient dir autres noveles de les contrees ou il estoient alés, il disoit elz qu'il estaient foux et non saiçhans et disoit que miaus ameroit oir les noveles et les costumes et les usajes de celle estra[njjcs contree qu'il ne fasoit oir celz por coi il li avoit mandé, et Marc, que bien savoie tout ce, quant il ala an cele mesajarie, toutes les nuvités et tûtes les stränge chauses qu'il avoit, mettait son entent por coi il le seust redire au grant kaan." A l s G e s a n d t e r d e s G r o ß k h a n s habe M a r c o P o l o danach 17 Jahre lang d i e entferntesten Länder s e i n e s Herrschaftsbereiches bereist und ihm stets z u seiner Z u f r i e d e n h e i t ausfuhrlich berichtet. U n d d i e s sei der Grund, w a r u m M e s s e r M a r c o m e h r über den O s t e n w i s s e als i r g e n d j e m a n d sonst, „qu'il c h e r [ c ] e plus de c e l e s estranges parties q u e n u l z o m e s que u n q u e s nasquist". 3 2 3 M i t d e m Bericht v o n der Rückkehr der drei P o l o n a c h V e n e d i g , a u c h d i e s m a l w i e d e r im Z u s a m m e n h a n g mit einer G e s a n d t s c h a f t , bei der s i e e i n e Prinzessin nach G r o ß a r m e n i e n g e l e i t e t e n und v o n dort aus über Laias und Acri n a c h V e n e d i g zurückkehrten, schließt die Narration v o n den G e s a n d t s c h a f t e n der drei P o l o , u n d d i e B e s c h r e i b u n g der Länder, Sitten und G e b r ä u c h e d e s O s t e n s hebt an. 3 2 4 D e r
322
323 324
wiesen ihm Ehre und boten ihre Dienste an; die drei Polo blieben am Hofe und wurden höher geachtet als die Barone" (ed. Guignard, S. 20). ibid., S. 10. „Geschickt und umsichtig entledigt sich der junge Mann seiner Aufgabe. Es war ihm nämlich nicht entgangen, daß der Großkhan diejenigen Gesandten, die bei ihrer Rückkehr aus fernen Ländern nur über ihren Auftrag und nichts über Land und Leute berichteten, für dumm und beschränkt hielt. Er hatte bemerkt, daß dem Herrscher die Mission wohl wichtig war, ihm aber Nachrichten über Zustände, Ereignisse und Lebensgewohnheiten in den bereisten Gebieten noch wichtiger waren" (ed. Guignard, S. 20f.). ibid., S. 11. „... er nützte die Gelegenheit, die fremden Gebiete besser auszukundschaften als jeder Sterbliche vor ihm" (ed. Guignard, S. 22). Diese letzte Episode des Berichts über die Reise einer mongolischen Prinzessin, die mit dem Ilkhan verheiratet werden sollte, wird durch zwei unabhängige Quellen bestätigt: Die offizielle chinesische kaiserliche Chronik Yongle dadian berichtet von dem Vorhaben des Großkhans, eine seiner Töchter mit Ilkhan Arghun zu verheiraten. Mit großem Gefolge trat sie die Reise von China nach Persien an, aber als sie dort ankam, war Arghun verstorben und sie mußte daher seinen Nachfolger Ghasan heiraten. Eine übereinstimmende Darstellung dieses Ereignisses findet sich auch in der Weltgeschichte des Rashid al-Din, die dieser im Auftrag Ghasans zwischen 1306 und 1307 abfaßte. Vgl. Francis W. Cleaves, A Chinese Source, S. 182ff. Dadurch wird zwar die faktische Richtigkeit des Ereignisses belegt, Marco Polos Teilnahme daran kann jedoch nicht verifiziert werden, da weder der chinesische noch der persische Text einen Polo oder irgendeinen anderen Europäer nennen, der die Prinzessin begleitet habe. Cleaves hat dies auf die allgemeine
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Kaufmann tritt demgegenüber völlig zurück, nirgends im Text ist mehr die Rede davon, daß Marco Polo oder auch sein Vater und sein Onkel sich noch weiter als Kaufleute betätigten. Ein ängstliches Verschweigen von Profitstreben, wie verschiedentlich behauptet wurde, muß hierin, wie der anfangliche deutliche Hinweis auf den Grund des Aufbruchs nach Osten belegt, nicht gesehen werden: Kaufmannschaft konnte durchaus zum Bereisen der Welt legitimieren, aber sie legitimierte nicht zu ihrer Beschreibung. Dazu bedurfte es des herrscherlichen (oder päpstlichen oder Ordens-) Auftrags, der Anordnung von Erfahrung, deren narrative Gestaltung der Prolog leistet. Bemerkenswert ist daran weniger, daß die Akten der Kurie nichts von einer Gesandtschaft der Gebrüder Polo, von einem Briefwechsel zwischen dem Großkhan Khubilai und Papst Gregor X. wissen, daß sämtliche Informationen über diese Gesandtschaft allein auf dem Bericht Marco Polos beruhen, sondern vielmehr, daß die Gesandtschaft hier eine legitimatorische Funktion für die Beschreibung der Fremde übernommen hat: Von einem Instrument zum Verstehen der Welt per experientiam facti ist die Gesandtschaft hier zu einem narrativen Funktionselement geworden, das einem erzählenden Subjekt den Platz zuweist, von dem aus es zur Beschreibung der Welt legitimiert ist. 325 Was Marco Polo im Gegensatz zu den Gesandten an institutioneller Legitimation und daraus resultierender Glaubhaftigkeit fehlt, schreibt ihm der Prolog narrativ zu. Danach findet sich in Marco Polos Bericht kein vergleichbar narrativer Einschub mehr, das Berichtssubjekt verschwindet wieder hinter seiner Beschreibung, nachdem ihm der lange narrative, quasi einen zweiten Prolog bildende Teil eine Identität zugeschrieben hat, die sowohl seine Beschreibungsfähigkeit als auch seine Zuverlässigkeit und Wahrhaftigkeit repräsentiert. Mit dem Aufbruch als Kaufleute, der Rückkehr als Gesandte und der Wiederkehr zum Großkhan als Gesandte mit missionarischen Würden, präsentierte Rustichello Marco Polo als Inhaber eines Wissens, das seine Beschreibung legitimierte und in den Strom der Diskursivierung der Fremde einspeiste. Diese Funktionszuschreibung des wahrnehmenden Subjekts ist der Beschreibung der Fremde vorangestellt und sowohl formal als auch strukturell von ihr unterschieden: Formal bildet sie einen zweiten Prolog (und wird in einem Großteil der Handschriften auch so bezeichnet), der der nachfolgenden Deskription der Fremde vorangestellt ist, strukturell unterscheidet sie sich von der nachfolgenden, weitgehend im Präsens gehaltenen Deskription durch die präteritale Narration, in der Marco Polo abwechselnd in der ersten Person des berichtenden Subjekts und der dritten
Fremdenfeindlichkeit chinesischer Quellen und die Vorurteile muslimischer Geschichtsschreiber gegenüber den „barbarischen" Europäern zurückgeführt (vgl. S. 192). 325
Lupprian hat die Probleme und Widersprüche des Prologs hinsichtlich der Begegnung mit Tedaldo de Vicenza, der zur fraglichen Zeit nachweislich nicht im Heiligen Land weilte und den Briefen und Privilegien, die der Papst ausgestellt haben soll, erörtert und die Vermutung geäußert, Marco Polo seien hier wohl Übertreibungen zuzutrauen. Vgl. Karl Ernst Lupprian, Die Beziehungen der Päpste, S. 72f. Vgl. auch ed. Moule/Pelliot, Marco Polo, S. 23, Fn. 2. Denkbar wäre, daß die Gebrüder Polo, wie andere Kaufleute vor und nach ihnen, Briefe übermittelten, deren fehlende Überlieferung dann aber darauf hinweisen würde, daß ihr Status geringer war, als er in der Darstellung erscheint. Vgl. auch C. W. Connell, Marco Polo as Diplomat? in: Marco Polo and His Book, S. 11 ff.
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Person des Erzählhelden auftritt. 326 Diese narrativen Schemata werden jedoch nur für die Situierung des Berichtssubjekts mobilisiert, das danach nur noch als Garant der Deskription auftritt, durch die Publikumsanreden jedoch stets präsent bleibt. Mit Rustichello befreite sich Marco Polo aus den Strängen kaufmännischer Kommunikationssysteme und besetzte einen der herausragendsten Plätze in einem Diskurs, der sich über die Kontaktsysteme hinaus in den Bereich der gesellschaftlichen Selbstrepräsentation öffnete. Ein entscheidener Teil dieser Diskursöffnung zeigt sich nicht zuletzt daran, daß die Verbindung zwischen Marco Polo und Rustichello da Pisa den Text nur zum Teil geprägt hat. Rustichello hat dem Text eine Bahn geöffnet, auf der er sich dann unabhängig von ihm bewegte, und manches spricht dafür, daß er sich auch unabhängig von der Person Marco Polos bewegte. Der Reisebericht nämlich, der unter dem Namen Marco Polos überliefert wird, ist kein stabiler, einmal festgeschriebener Text, sondern er ist ein komplexes Konglomerat von etwa 150 Handschriften, von denen keine mit einer anderen völlig identisch ist. Von Marco Polos Bericht gibt es, das ist jedenfalls bis heute der Stand der philologischen Forschung, weder Autograph noch Apograph des Textes, die eine eindeutige Identifizierung des Autortextes ermöglichen könnten. Selbst die Hierarchisierung der Handschriften nach ihrer Nähe zum Urtext in einem einheitlichen Stemma ist bisher nicht überzeugend gelungen, weil die Variationen zwischen den Textzeugen so groß sind, daß ihre Rückführung auf einen ursprünglichen Orignialtext, auf den sämtliche Varianten zurückgehen, unmöglich ist.327 Man kann die Handschriften zwar in Gruppen unterteilen, aber auch innerhalb dieser Handschriftengruppen finden sich nicht unerhebliche Varianten des Textes. Relativ eindeutig lassen sich sechs Gruppen voneinander unterscheiden: Die erste Gruppe bildet die Familie der franko-italienischen Manuskripte
326
Vgl. hierzu Dietmar Rieger, Marco Polo und Rustichello da Pisa. Der Reisende und sein Erzähler. Rieger hat das permanente Schwanken der Erzählerapostrophierung zwischen ,je", „nous" und „il" eingehend beschrieben, dies jedoch auf den Prozeßcharakter des Werkes und die unabgeschlossene Entstehung im Genueser Gefängnis zurückgeführt (ibid., S. 307). Vgl. auch Valeria Bertolucci Pizzorusso, Enunciazione e produzione del testo nel »Milione«, bes. S. 15ff.
327
Luigi Foscolo Benedetto, der die Verästelungen der handschriftlichen Überlieferung in seiner Textausgabe detailliert beschrieben hat, hat freilich mit Entschiedenheit am Begriff des Originals festgehalten und deshalb nur Kürzungen als Signum der Überlieferung gelten lassen. Bei Textstellen jedoch, die sich nur in einer Handschriftengruppe oder auch nur einer einzelnen Handschrift finden, ging er immer davon aus, daß sie auf ein verlorenes Original und ebenfalls verlorene Zwischenstufen zurückgingen. Hinzufugungen schloß er demgegenüber aus, obwohl seine stupende Kenntnis der Handschriften ihn zu der Überzeugung hätten gelangen müssen, daß der Text nicht nur gekürzt, sondern auch erweitert wurde, was seine eigene Beschreibung der Pipino-Übersetzung mehr als deutlich macht. Vgl. ed. Benedetto, bes. S. XXV(Stemma der Handschriften) sowie S. CXXXVII(Pipino-Version). Ein ähnliches Vorhaben wie Benedetto verfolgte Arthur Christopher Moule, der bei seiner Ausgabe des Textes das Programm umsetzte, „to weave together all, or nearly all, the extant words, which have ever claimed to be Marco Polo" (Arthur Christopher Moule/Paul Pelliot, Marco Polo: The Description of the World, S. 5). Vgl. auch Ronald Latham, Einl. zu: Marco Polo. The Travels, S. 24.
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(F)328, die aus etwa 20 Handschriften besteht, als deren „besterhaltene" der von Luigi Foscolo Benedetto edierte cod. fol. 1116 der Bibliothèque Nationale in Paris gilt, der dem verlorenen Original am nächsten kommen soll.329 Diese Gruppe ist durch den Tonfall Rustichellos da Pisa gekennzeichnet, der die Präsenz des Erzählers in jedem Kapitel des unter dem Titel Divisament dou monde überlieferten Berichts imaginiert. Die Familie der französischen Handschriften (FG), zu der eine Reihe wundervoll illustrierter Prachthandschriften für den französischen König sowie den Herzog von Burgund gehören, bildet die zweite Gruppe. Es handelt sich um etwa 15 Handschriften, von denen in einigen behauptet wird, es handele sich bei ihnen um Kopien jener Handschrift, die Marco Polo selbst 1307 dem Beauftragten der Herzogin von Valois, Thibauld de Chepoy, gegeben habe, also um unmittelbare Abschriften des Originals.330 Im Text, oder vielmehr in dieser Variante des Textes, wird dieser also mit der Dignität der besonderen Nähe zum Autor ausgestattet. Diese Varianten werden nach dem im Text angegebenen Namen des Übersetzers auch als Grégoire-Version bezeichnet; jener Grégoire hat den Bericht im Auftrag Thibaulds in ein überaus elegantes höfisches Französisch übertragen und ihn dabei vor allem stilistisch geglättet und stärker zu einem Lese- und Anschauungsbuch als zu einem Vorlesebuch gemacht. Die Familie der toskanischen Übersetzungen (TA) aus dem frühen 14. Jahrhundert, sind dagegen sämtlich unillustriert, auf einfachem Papier geschrieben und bieten den Text im Vergleich zu den franko-italienischen Manuskripten zum Teil um einiges kürzer.331 Im Vergleich zu den illustrierten Foliobänden der französischen Übersetzung, sind die toskanischen Handschriften kleinformatig, und in einer Schrift geschrieben, die gemeinhin als „mercantesca" bezeichnet wird. Es ist eine enge, flüssige Schreibschrift, die eher für Gebrauchstexte Verwendung findet.332 Auch der Sprachstil ist ein anderer: Anders als in den franko-italienischen und einem 328
329 330
Ich fuge hier und im folgenden die von Benedetto geprägten Signaturen für die Handschriftengruppen in Klammern an. Zur handschriftlichen Überlieferung vgl. auch Marina Münkler, Marco Polo, S. 8 6 - 9 3 . Vgl. Luigi Foscolo Benedetto, Einl. zu: ed. Benedetto, S. CCXX. Vgl. ibid., S. X X X I V - L X X I X . Die Behauptung, Thibauld de Chepoy habe von Marco Polo „la premiere coppie de son dit livre" (S. X X X I X ) erhalten, hat Benedetto aufgrund paläographischer Evidenzen widerlegt, ohne darüber freilich die Fiktion aufzugeben, die Behauptung gehe auf ein Zusammentreffen zwischen Marco Polo und Thibauld de Chepoy zurück. Vgl. ibid., S. LVII.
331
Vgl. ibid., S. L X X X - X C I X . Valeria Bertolucci Pizzorusso, die eine kritische Ausgabe des toskanischen Textes nach der Florentiner Handschrift Bibl. Naz. di Firenze, Ms. IV, II, 136 ediert hat, geht wie Benedetto davon aus, daß die toskanische Übersetzung nach einem franko-italienischen Manuskript gefertigt wurde, das dem ms. fr. 1116 sehr nahe kommt. Vgl. Valeria Bertolucci Pizzorusso, Einleitung zu: ed. Bertolucci Pizzorusso, S. XV. Die toskanischen Varianten galten in Italien bis zu Benedettos Arbeit als die dem Original am nächsten kommenden Textzeugen, weil man lange Zeit selbstverständlich davon ausging, daß der Text von Marco Polo ursprünglich italienisch abgefaßt worden sei. Die Academia della Crusca hat folgerichtig die in ihrem Auftrag von G. B. Baldelli Boni 1827 herausgegebene toskanische Fassung nach der Handschrift der Bibl. Naz di Firenze, Ms. II, IV, 88 als „Ottimo" bezeichnet. Vgl. dagegen die Beschreibung der Handschriften bei Bertolucci Pizzorusso (ed. Bertolucci Pizzorusso, S. 3 2 5 - 2 2 5 ) , die für ihre Edition einer anderen Handschrift den Vorzug gegeben hat.
332
Vgl. Valeria Bertolucci Pizzorusso, Nota al testo, in: ed. Bertolucci Pizzorusso, S. 351 f.
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Teil der lateinischen Varianten wird fast niemals direkte Rede verwendet, etwa bei den Gesprächen Marcos mit dem Großkhan, so daß bei geringen inhaltlichen Abweichungen dem Text doch das höfisch-statuarische Gepräge fehlt, das ihm Rustichello da Pisa verliehen hatte. Darüberhinaus zeichnet diese Handschriften aber noch etwas anderes aus, nämlich daß sie alle den Text unter dem Titel „II Milione" präsentieren, unter dem er noch heute in Italien figuriert. Weitere Varianten finden sich in der venezianische Tradition (VA), die jedoch lediglich in sechs Handschriften überliefert ist, was kaum darauf schließen läßt, daß man den Berichten des venezianischen Heimkehrers in der Fernhandelsmetropole herausragende Bedeutung beigemessen hat.333 Die venezianische Fassung scheint sich aus verschiedenen Handschriftenvarianten bedient zu haben, sie stellt gegenüber dem franko-italienischen Text teilweise eine andere Anordnung der Kapitel her und läßt die in Rustichellos Fassung häufigen Anreden der Zuhörer/Leser durch den Erzähler weg. Der Text wird damit als Lesetext flüssiger, zugleich aber auch stärker entpersonalisiert, weil die Anredeformen des mündlichen Vortrags verschwunden sind.334 Diese teilweise Entpersonalisierung der venezianischen Varianten zeigt sich auch darin, daß in keinem der Manuskripte behauptet wird, der in Venedig lebende Autor habe einen besonders engen Bezug zu dieser Textgestaltung, obwohl ein Teil der Manuskripte noch zu seinen Lebzeiten entstanden sein muß. Eine solche enge Bindung zum Autor behauptet vielmehr wieder die lateinische Übersetzung des Dominikaners Francesco Pipino da Bologna (P), die Anfang des 14. Jahrhunderts entstanden ist und auf einer der venezianischen Varianten beruht.335 Pipino berichtet an anderer Stelle, er sei von Bologna aus nach Venedig gereist und habe dort von Marco Polo selbst, den er als „klugen, gläubigen und frommen Edelmann, den ehrsame Gesittung auszeichnet", beschreibt, den Text in „lombardischer Sprache" erhalten.336 Er habe ihn dann im Auftrag des Generalkapitels seines Ordens ins Lateinische übersetzt. Dieser lombardische Text aus Marcos Polos eigener Hand ist nie gefunden worden, und die lateinische Übersetzung zeichnet sich durch eine Reihe von Abweichungen sowohl gegenüber den venezianischen als auch gegenüber den franko-italienischen Varianten aus, die den Bericht in anderer Weise zum Sprechen bringen: Der in den incipites der franko-italienischen und venezianischen Varianten als Divisament dou Monde bezeichnete Bericht wird hier zu 333
Vgl. Luigi Foscolo Benedetto, Einleitung zu: ed. Benedetto, S. C-CIV. Aus der venezianischen Fassung, teilweise in Vermischung mit anderen Fassungen, sind jedoch eine Reihe von erneuten Übersetzungen hervorgegangen: eine lateinische, eine weitere toskanische Übersetzung, die lateinische Pipino-Übersetzung, eine spanische sowie eine portugiesische Übersetzung und schließlich die mittelhochdeutsche Übersetzung. Zur mittelhochdeutschen Übersetzung vgl. Horst Tscharner, Einleitung zu: Der mitteldeutsche Marco Polo, S. XVIII.
334 335
Vgl. Benedetto, Einl. zu: ed. Benedetto, S. Cff. Vgl. ibid., S. CXXXIII-CLVII. Auch die Pipino-Übersetzung ist ihrerseits mehrfach in die Volksprachen rückübersetzt worden, ins Französische, Irische, Böhmische und Venezianische. Vgl. ibid., S. CXLIVff. Relativ spät, nämlich 1582, ist sie für Herzog Wilhelm von Bayern auch noch einmal ins Deutsche übersetzt worden, von Simon Schwartz, Stadtschreiber von Straubing. Der sprachenkundige Philologe Benedetto hat sich über diese späte Version vernichtend geäußert: „Le versione e mediocre: troppo spesso il traduttore lascia intatta la parola latina, o per snobismo umanistico, o per non averlo pienamente compresa (ibid., S. CXLIX)."
336
Vgl. ed. Benedetto, S. CXXXVII.
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einem Liber de consuetudinibus et conditionibus orientalium regionum, der in drei Bücher von etwa gleicher Länge unterteilt ist.337 Das erste Buch behandelt die Reise der Gebrüder Polo, die Länder West- und Zentralasiens und den Aufstieg der Mongolen. Das zweite Buch, das mit der Überschrift De potentia et magnificentia Cublay regis maximi Tartarorum betitelt ist, widmet sich ganz dem Großkhan, seiner Herrschaft und seinem Reich. Das dritte Buch beschreibt die Länder Indiens sowie die im Südwesten und Norden Asiens gelegenen Länder, die nicht zum Reich des Großkhans gehören; es endet mit dem Bericht von der Rückkehr der Polos. Neben dieser Systematisierung des Berichts findet sich noch eine Vielzahl anderer Texteingriffe, die einigermaßen bezeichnend zu sein scheinen: Alle Aussagen über die Religionen werden entweder mit aufoder abwertenden Zusätzen versehen, der Name Mohammeds wird grundsätzlich mit verächtlichen Adjektiven versehen. Ob man diesen Text nun als Verfälschung des ursprünglichen Autorenwillens ansieht oder nicht, es ist jedenfalls der Text, der in der gelehrten Welt gelesen wurde, von dem es mit mehr als fünzig Exemplaren die meisten Handschriften gibt und der die nachhaltigste Wirkung ausübte. Es ist Pipinos Textfassung, die Christoph Columbus gelesen und vermutlich auf der Santa Maria mit in die neue Welt genommen hat. Das mit seinen Anmerkungen versehene Exemplar eines Frühdrucks der lateinischen Übersetzung wird in Sevilla aufbewahrt.338 Diese späte Rezeption unterstreicht aber nur das Gewicht, das der Pipino-Fassung schon früher zukam. Für die Dominikaner war der Bericht offensichtlich von einiger Bedeutung, denn er wurde wiederholt in dominikanischen Schriften angeführt.339 Der Dominikaner Philippo da Ferrara präsentierte in seiner Predigt- und Gesprächslehrschrift Liber de introductione loquendi verschiedene mirabilia Asiens, von denen Marco Polo berichtet habe, und empfahl seinen Lesern, bei welchen Gelegenheiten sie als Exempla vorgestellte werden könnten. Nicht alle dieser Marco Polo zugeschriebenen mirabilia finden sich jedoch in einer der überlieferten Varianten, woraus Benedetto den Schluß gezogen hat, daß Philippo einen Teil der Erzählungen anderen Texten entnommen, und sie wegen dessen Be-
337
Eine Ausgabe, die der handschriftlichen Überlieferung folgt, gibt es von Pipinos Text leider nicht, sondern nur die Faksimile-Ausgabe eines 1485 erschienen Druckes (ed. by The National Diet Library, Tokyo), der weitgehend mit dem cod. lat. 131 der Biblioteca Estense in Modena übereinstimmt. Vgl. auch Folker Reichert, Begegnungen mit China, S. 161 f. Die Ausgabe der Diet Library enthält allerdings nur Marco Polos Bericht, der im Original des 1485 in Antwerpen erschienen Druckes gemeinsam mit Mandeville und Ludolph von Sudheim abgedruckt war. Vgl. Shinobu Iwamura, Manuscripts and Printed Editions, S. 8.
338
Vgl. Benedetto, S. CLVII. Columbus hat sein Exemplar mit zahlreichen Marginalnoten versehen, von den Benedetto einen großen Teil verzeichnet. Vgl. auch die italinische Übersetzung: II Milione. Con le postille di Cristoforo Colombo, a cura di Luigi Giovannini. Dagegen geht Friederike Hassauer von unterschiedlichen Kommunikationsräumen für die Berichte aus, in denen die einander entgegengesetzten Wissensformen nicht korreliert und in ihrer wechselseitigen Ausschließbarkeit erfahren worden seien (vgl. Volkssprachliche Reiseliteratur, S. 270f.). Gerade ihr Beispiel Marco Polo greift hier aber nicht, da durch die Übersetzung Francesco Pipinos da Bologna, die bereits wenige Jahre nach dessen Erscheinen erfolgte, der Bericht innerhalb des Kommunikationsraums der Orden präsent war und dort überdies, wie die Zahl der Handschriften belegt, seine breiteste Rezeption erfahren hat.
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kanntheit Marco Polo zugeschrieben hat.340 Unter den besonders eindrücklichen Exempla befand sich auch der Bericht von der wunderbaren Bekehrung des Kalifen von Baudac, der von den in seinem Reich lebenden christlichen Nestorianern und Jakobiten verlangte, daß sie mit ihren Gebeten einen Berg verrückten, um die Überlegenheit ihres Glaubens zu beweisen.341 Die Erzählung dieses Wunders entstammt tatsächlich Marco Polos Bericht und ist nicht nur in der Pipino-Übersetzung, sondern auch in allen anderen Varianten enthalten. Sie bildet einen jener im Präteritum erzählten narrativen Einschübe, in denen die deskriptive Berichtsform überschritten wird. In die Rahmenerzählung ist eine weitere Erzählung integriert, in der dargestellt wird, wie der fromme Schuhmacher, dessen Gebete schließlich das göttliche Wunder bewirkten, sich einst selbst geblendet hatte, um den Versuchungen durch weibliche Schönheit zu entgehen. Nach dem Wunder der Bergverrückung, so berichtete Marco Polo, hätten sich zahlreiche Sarazenen bekehrt und insgeheim sei sogar der Kalif Christ geworden, der den Christen eine Falle hatte stellen wollen: Nach seinem Tode habe man ein Kreuz gefunden, das er auf seiner Brust trug. Exempel wie dieses waren sowohl für eine Predigtlehre als auch für die Narrativierung der Mission überaus geeignet. Der Dominikanerorden konnte daher mit der PipinoÜbersetzung nicht nur seinen zur Mission gen Osten ziehenden Ordensmitgliedern eine Beschreibung der östlichen Länder und Völker zugänglich machen, sondern er konnte sich auch einen Platz in der Narrativierung der Fremde sichern, die bis dahin weitgehend von den Franziskanern beherrscht wurde. Die Pipino-Übersetzung war jedoch nicht die einzige lateinische Übersetzung. Neben ihr gibt es noch eine weitere lateinische Übersetzung (Z), die nur in wenigen Handschriften überliefert ist, vermutlich aber noch vor der Pipino-Übersetzung entstand. Wie sich an der Übereinstimmung der Prologe zeigen läßt, hatte sie vermutlich einen Rustichello-Text als Vorlage, ist aber keine einfache Übersetzung des Textes, denn sie enthält eine Reihe von Absätzen und Kapiteln, die in keiner anderen Fassung der franko-italienischen Handschriften oder einer anderen mittelalterlichen Version enthalten sind.342 Diese Abschnitte sind außer im Zelada-Codex nur in der 1559 entstandenen Ausgabe von Ramusios Navigazioni e viaggi (R) wiederum erweitert enthalten, der im Übrigen dem Pipino-Text folgt.343 Dennoch werden sie in der Forschung für authentisch gehalten, weil sie eine Reihe von Einzelheiten enthalten, die als sachlich zutreffend gelten und nur von einem Augenzeugen erfahren sein können - wobei man freilich unterstellen muß, daß dieser Augenzeuge mit Marco Polo identisch ist. Neben diesen Varianten und Übersetzungen gibt es aber noch weitere irische, französische, böhmische, mittelhochdeutsche und spanische Übersetzungen, in denen der Text immer wieder gekürzt, ergänzt, umgestellt und verändert worden ist. Während die letzt340
Vgl. Luigi Foscolo Benedetto, Einl. zu: ed. Benedetto, S. CCXIVff.; vgl. auch Folker Reichert, Chinas Beitrag zum Weltbild der Europäer, S. 43f.
341
Vgl. ed. Benedetto, S. 20f. (ed. Guignard, S. 34ff); vgl. auch Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 220, Fn. 116.
342
Vgl. Marina Münkler, Marco Polo, S. 91 f.
343
Vgl. ed. Benedetto, S. CLI; ders., Ancora qualche rilievo, S. 529ff.; B. Terracini, Ricerche ed appunti sulla più antica redazione, S. 418ff. sowie Folker Reichert, Begegnungen mit China, S. 155f.
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genannten Übersetzungen aber relativ leicht als Übersetzungen bestimmter vorliegender Varianten auszumachen sind, ist nach wie vor umstritten, welche Version für sich in Anspruch nehmen darf, dem angenommenen verlorenen Original am nächsten zu stehen. Während Benedetto der franko-italienischen Version den Vorzug gab und die These vertrat, daß alle überlieferten Varianten auf eine Urfassung zurückgingen, die man mit Hilfe von vergleichenden Konjekturen der einzelnen Varianten rekonstruieren könne, haben andere Forscher die Überzeugung geäußert, Marco Polo selbst, sein Vater oder Onkel, könnten den Text ergänzt und fortgeschrieben, aber auch andere Mitgefangene im Genueser Gefängnis könnten ihn nach seinen Erzählungen aufgeschrieben haben, so daß man nicht von einer, sondern von mehreren Originalfassungen ausgehen müsse. 344 Nichtsdestotrotz hielten alle Deutungen letztlich an der Grundüberzeugung fest, daß der Text grundsätzlich auf Marco Polo zurückgehe und insgesamt als der Ausdruck seines Bewußtseins interpretierbar sei. Konsequenterweise müßte man aber gerade wegen des Nebeneinanders der unterschiedlichen Varianten das hermeneutische Grundprinzip der Betrachtung des Textes als Ausdruck des Bewußtseins seines Autors verabschieden, und stattdessen versuchen, das Regelsystem zu finden, das die Wucherung des Berichts erklären könnte, ohne Teile des Textes suspendieren zu müssen. Die entscheidende Frage an den unter dem Namen Marco Polo überlieferten Reisebericht wäre dann etwa so zu stellen: Wie muß die Form des Wissens beschaffen sein, die es ermöglicht, daß in einem Text, dessen Erfahrungshintergrund in jeder seiner Varianten wiederholt betont wird, zugleich permanent Veränderungen, Hinzufügungen, Kürzungen etc. vorgenommen werden? Mit der Beantwortung dieser Frage, so denke ich, müßte man einerseits die Variationsfähigkeit von Marco Polos Reisebericht erklären können, andererseits aber auch, wie überhaupt überliefertes Wissen und Erfahrung sich zueinander verhalten. Unterhalb dieser Frage nach dem Verhältnis von überliefertem Wissen und Erfahrung könnte man sich dann vielleicht auch sinnvoll der Frage zuwenden, welche institutionellen und gesellschaftlichen Vermittlungsinstanzen bei der kollektiven Arbeit am Text im Spiel sind. Bei diesem Spiel scheint mir etwas gegeben zu sein, was ich als die Aneignungsfähigkeit des Textes bezeichnen möchte: Das Zeugnis der überlieferten Handschriftengruppen legt den Befund nahe, daß Marco Polos Beschreibung so offen war, daß sie von unterschiedlichsten Gruppen, von toskanischen Kaufleuten, burgundischen Herzögen und dominikanischen Klerikern, gleichermaßen angeeignet werden konnte. Die Aneignungsfähigkeit des Textes aber muß durch den Diskurs hindurch betrachtet werden, der sie selbst mitkonstituiert, innerhalb dessen sich aber kulturelle, soziale, politische Transformationen abspielen, die den Text in unterschiedlicher Weise zum Sprechen bringen.
344
Vgl. Luigi Foscolo Benedetto, Einl. zu: ed. Benedetto, S. CCXX; dagegen: Léon Dieu, Marco Polo. Quel est le texte authentique de sa relation?, in: Revue d' histoire ecclésiastique 42 (1947), S. 110-119; Shinobu Iwamura, Manuscripts and Printed Editions, S. 5.
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Il Milione Das zeigt sich auch an der Diskussion um den Titel Milione, der immer wieder als Beleg für Marco Polos Unglaubwürdigkeit angeführt wird. Alle italienischen Handschriften und Drucke tragen diesen Titel - aber nur diese, während der früheste franko-italienische Text als Divisament dou Monde bezeichnet wird und die lateinischen, französischen und anderen Übersetzungen mit wechselnden incipites bezeichnet werden. Gegen die Behauptung, am Titel Milione lasse sich die Unglaubhaftigkeit Marco Polos ablesen, hat Luigi Foscolo Benedetto bereits eingewandt, die italienische Bezeichnung „milione" gehe auf das venezianische Sestiere „Emilione" zurück, aus dem Marco Polos Familie stammte, und sei, wie er aus verschiedenen Urkunden zeigen konnte, schon vorher als Beiname der Familie geführt worden.345 Dieser Argumentation Benedettos stimmt auch die Herausgeberin der kritischen toskanischen Textausgabe Valeria Bertolucci Pizzorusso hinsichtlich der Herkunft des Namens zu, sie geht jedoch von einer Verselbständigung des Titels im Hinblick auf die bei Marco Polo beschriebenen Reichtümer des Ostens aus: „Se mai esistette un titolo originario (il manoscritto più autorevole porta quello di Divisament dou monde), esso non riusci a fissarsi, e fu sostiuito via via da altri, tra i quali Milione, costante nella tradizione italiana, dal sopranome (per afersi da Emilione) della famiglia Polo, passato all'opera di Marco non senza arrichirsi, per falsa etimologia, del riverbo delle ricchezze in essa narrante."346 In dieser Weise deutete schon Giovanni Battista Ramusio, der 1559 Marco Polos Bericht in die von ihm unter dem Titel Navigazioni e Viaggi edierte Sammlung von Reiseberichten aufnahm, die Bezeichnung Milione'. „E perché nel continuo raccontare ch'egli faceva più e più volte della grandezza del gran Cane, dicendo l'entrate di quello esser da 10 in 15 millioni d'oro, e così di molt' altre richezze di quelli paesi riferiva tutte a milioni, lo cognominarono messer Marco Millioni, che così ancora ne' libri publici di questa República, dove si fa menzion di lui, ho veduto notato; e la corte della sua casa a S. Giovan Crisostomo, da quel tempo in qua, è ancora volgarmente chiamata del Millioni."
Aus dem Bezug auf die Reichtümer des Ostens, ob dieser nun ursprünglich war, wie Ramusio behauptet, oder erst später so gedeutet wurde, läßt sich der Titel Milione freilich kaum als Beleg für die Unglaubwürdigkeit Marco Polos verwenden: Die Existenz solcher Reichtümer in der Nähe des irdischen Paradieses war ganz unbestrittenes Allge345 346 347
Vgl. Luigi Foscolo Benedetto, Perché fu chiamato Milione il libro di Marco Polo, sowie ders., Ancora del nome Milione. Valeria Bertolucci Pizzorusso, Einleitung zu: Marco Polo, Milione, S. XI. Giovanni Battista Ramusio, Di messer Giovambattista Ramusio prefazione sopra il principio del libro del magnifico messer Marco Polo, in: ders., Navigazioni e viaggi, ed. Marica Milanesi, voi. III, S. 30f. „Und weil er bei seinen Erzählungen immer wieder vom Reichtum des Großkhans sprach und behauptete, seine Einnahmen beliefen sich auf zehn bis fünfzehn Millionen Golddukaten, und auch von den anderen Reichtümern jener Länder immer in Millionen sprach, nannte man ihn Messer Marco Millioni, wie ich es auch in den amtlichen Verzeichnissen dieser Republik, w o er erwähnt wird, gefunden habe. Und der Hof seines Hauses in San Giovanni Chrisostomo wird seither del Millioni genannt".
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meinwissen, und ob die in Ramusios Erklärung nahegelegte Zahlenbesessenheit mehr als eine nachträglich bemühte Erklärung für den Titel bietet, scheint mir fraglich zu sein. Sicher ist nur, daß der Titel II Milione fortgesetzt Anlaß zu Spekulationen über seine Bedeutung gab, in denen die Forschung bis in die jüngste Zeit weiterfuhrt, was bereits bald nach Erscheinnen des Berichts begann. Anfang des 14. Jahrhunderts hatte der Florentiner Chronist Giovanni Villani den Titel Milione denn auch noch nicht auf die beschreibenen Reichtümer zurückgeführt, sondern auf die „milione di favole", die sich in dem Bericht fänden. 348 Wenn Benedetto mit seiner dokumentarisch gut begründeten Auffassung recht hat, daß der Titel ursprünglich nichts anderes als ein Zusatz zum Familiennamen war, so ist doch sicherlich Valeria Bertolucci Pizzorusso darin zuzustimmen, daß der Name bald als ein Zahlwort gelesen wurde. Als Zahlwort konnte er sich im Zusammenhang mit der fernen Welt des Ostens und der Relation des Augenzeugen zu ihr mit einer Vielzahl von Deutungen anreichern, die von den angeführten Reichtümern, den Steuereinnahmen des Großkhans, über die „millione di favole" bei Giovanni Villani immer weiter narrativiert werden konnten. II Milione wurde, obwohl nur ein kleiner Teil der Marco Polo-Handschriften diesen Titel trägt, zu einem paradigmatischen Titel, der die überbordende Bedeutsamkeit der Fremde aufsaugen und integrieren konnte. Diese Funktion hat er letztlich bis heute beibehalten, die Forschung unterscheidet sich in dieser Hinsicht strukturell nicht von der Narrativierung der Zeitgenossen und der Tradierung des Textes, er erfüllt nur eine andere Funktion: Jetzt dient der Titel als Paradigma für den unglaubwürdigen Realisten, der von seinen Zeitgenossen der Lüge und exorbitanten Übertreibung bezichtigt wurde, weil man in einer Zeit der Mythengläubigkeit den Realitätssinn für irreal gehalten habe. So konstatierte selbst Michael Seymour, einer der besten Kenner des Mandevilleschen Berichts und Herausgeber verschiedener Varianten: „It is perhaps ironical that this exotic book should overshadow the popularity of Marco Polo's Divisament dou monde, and that the genuine and thoughtful traveler should be dubbed II Milione, a liar who described everything in millions, while the fictious »Mandeville« should be believed by all. For Mandeville's Travels is a compilation of second hand of other men's travels and contains a sufficient number of inaccuracies and inconsistencies to make it extremely improbable that its author ever left his native Europe."349 Die Gegenüberstellung des „genuine and thoughtful traveler" und des „second hand"-Kompilators verkennt jedoch, daß Marco Polo zwar wirklicher gereist ist als John Mandeville, daß sein Bericht aber nicht minder eine Narrativierung der Fremde und des berichtenden Augenzeugen ist als der Bericht des „armchair traveler".
Peregrinatio mundi und die Belesenheit des Augenzeugen: John Mandeville Gegen John Mandeville oder Jean de Mandeville und seine Behandlung in einer Untersuchung über spätmittelalterliche Orientreiseberichte spricht vieles, vor allem aber eines: daß er nicht wirklich gereist ist. Dennoch gibt es keine Untersuchung über spätmittelal348 349
Vgl. Giovanni Villani, Cronica, Buch 5, Kap. 29. Vgl. auch Placido Zurla, Di Marco Polo e degli altri viaggiatori più illustri, Venedig 1818, S. 67f. Michael C. Seymour, Einleitung zu: Mandeville's Travels, S. XIV.
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terliche Reiseberichte, in der Mandeville nicht ein bedeutender Platz eingeräumt wird, und sei es nur, um zu begründen, warum er eigentlich nicht dorthin gehört. Dafür, ihn ernsthaft als Reisebericht gemeinsam mit den Berichten eines Johannes de Piano Carpini, Wilhelm von Rubruk, Marco Polo oder Odorico de Pordenone zu lesen und auf derselben Diskursebene anzusiedeln, spricht zunächst vorwiegend eines: daß er von seinen Zeitgenossen so gelesen worden ist. Bis ins 16. Jahrhundert gibt es keinen Hinweis darauf, daß John Mandevilles Bericht nicht als der Bericht eines Augenzeugen gelesen worden wäre, der sein Wissen auf langen Reisen von Palästina, durch das Reich des Großkhans sowie des Priesterkönigs Johannes bis an die Mauern des im äußersten Osten der Erde gelegenen irdischen Paradieses gewonnen hatte. Noch Friedrich von der Hagen bemerkte zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Mandevilles Buch sei „eines der wichtigsten und umfassendsten über die mittlere Erd- und Völkerkunde" und überaus zuverlässig: „Montevilla bemerkt gewöhnlich ausdrücklich, was er selber gesehen und erfahren habe, und ist dann selten übertrieben oder fabelhaft, bis etwa auf die zwanzigfüßigen Riesen und das dunkle Höllental mit dem furchtbaren Teufelshaupt. Besonders ist er über die heiligen Örter im gelobten Lande glaubwürdig."
Josef Görres bezeichnete Mandeville gar als den „Odysseus der neueren Zeit, der vom fernen Fabellande Kunde brachte und wahrhaften Bericht, wie er es befunden". 351 Er war auch einer der ersten, der Handschriften- und Übersetzungsvergleiche anstellte und von daher zu einem vernichtenden Urteil kam - nicht über Mandeville, sondern über dessen deutschen Übersetzer Otto von Diemeringen: „Nie ist ein Schriftsteller so misshandelt worden; außer dem, daß nach der grundlosesten Willkühr alles verrenkt und verschoben ist, daß man die ganze Ordnung des Buches umgekehrt hat, hat der Übersetzer sich jede Art von freventlicher Verstümmelung erlaubt... gleich als hätte es ein Nachtwandler auf seinen nächtlichen Wanderungen, ungeschickt herumtappend, und beständig von confusen Rückerinnerungen aus dem Tage geirrt, geschrieben, so muß es jedem erscheinen, der es in seiner gegenwärtigen Gestalt erblickt. Immerhin würde er verdienen, daß irgend jemand sich seiner annähme und ihn edierte; die Geographie des Mittelalters hat kaum ein interessanteres Denkmal aufzuweisen."
Erst seitdem Henry Yule den Verdacht ausgesprochen hatte, Mandeville sei unter Umständen gar nicht gereist, sondern habe seinen Bericht auf verschiedene Quellen gestützt, ohne Europa je verlassen zu haben, verwandelten sich die Einschränkungen, die Autoren wie Görres im Hinblick auf gewisse „unrealistische" Elemente gemacht hatten, in einen Generaleinwand. Nach Mandevilles „Enttarnung" als Plagiator durch die nahezu zeitgleich erschienenen Untersuchungen von Albert Bovenschen (1888) und George F. Warner (1889), die einen großen Teil der Quellen aufdeckten, wurde aus Mandevilles
350
351 352
Friedrich von der Hagen, Beitrag zur Geschichte der deutschen Volksbücher, in: Museum für altdeutsche Literatur und Kunst, Bd. 1, Berlin 1809, S. 252f., zit nach: Eric John Morrall, Einl. zu: Sir John Mandevilles Reisebeschreibung, S. XVII. Josef Görres, Die teutschen Volksbücher, Heidelberg 1807, S. 54f., zit. nach: ibid., S. XVII. ibid., S. XVIII.
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Bericht ein Text, dessen Einordnung problematisch war und es bis heute geblieben ist. 353 Bovenschen betrachtete Mandevilles Bericht als „zusammengeleimtes Machwerk" und gestand ihm lediglich für Ägypten eigene Kenntnisse zu. „Alles andere hat er in unverzeihlicher Gewissenlosigkeit anderen Schriftstellern geraubt und als die Frucht eigener Anschauung und Kenntnis herausgegeben. Am Hofe des Sultans fand er großen Geschmack an orientalischem Wesen und Treiben, daher leimte er die verschiedensten Berichte über den Orient, die ihm unter die Hände kamen, zusammen und sein Werk war fertig. Unter der Flagge eines falschen Namens segelte dann dieses Machwerk durch den Strom von mehreren Jahrhunderten hindurch, von einem sensationssüchtigen Publikum als das erhabene Zeugnis eines kühnen, gewaltigen Geistes angestaunt."
In der Tat ist Mandevilles Reisebericht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen zusammengeschrieben, von denen möglicherweise, trotz intensiver Bemühungen der Mandeville-Forschung, immer noch nicht alle aufgedeckt sind. 355 Mandevilles Hauptquellen bildeten zwei Reiseberichte: für Palästina der Pilgerbericht Wilhelms von Boldensele und für Ostasien der Orientbericht Odoricos da Pordenone, denen er weitgehend die Wegstruktur für seinen Bericht verdankt. Daneben verwendete er aber noch eine Vielzahl anderer Quellen, deren bloße Aufzählung bereits monströs wirkt. Doch nicht nur die Vielzahl der verwendeten Quellen, sondern auch ihre Vielfältigkeit ist beeindruckend. Mandeville verwendete: Marco Polo, La Divisament dou monde; Hayton: La Flor des Estoires de la Terre d'Orient; Johannes de Piano Carpini: Historia Mongalorum; (Pseudo)-Odorico: De Terra Sancta; Jacob von Vitry: Historia Orientalis sive Hierosolymitanae; Isidor von Sevilla: Etymologiae; Vinzenz von Beauvais: Speculum Historiale und Speculum Naturale; Plinius Secundus: Naturalis Historia; Solinus: Collectanea rereum memorabilium; Brunetto Latini: Livres dou Tresor; Johannes de Sacrobosco: De Sphaera, Wilhelm von Tripolis: De Statu Sarracenorum; Jacopo da Voragine, Legenda Aurea, Gervasius von Tilbury: Otia Imperialia; die Littera Presbyteris Iohannis; Beda Venerabiiis: De Natura Rerum, 353
354 355
Vgl. Albert Bovenschen, Johann von Mandeville und die Quellen seiner Reisebeschreibung, sowie George F. Warner, The Buke of Sir John Mandeville. Bovenschen und Warner arbeiteten völlig unabhängig voneinander und kamen weitgehend zu denselben Ergebnissen, wobei Warner häufiger französische Quellen oder Übersetzungen heranzog, wohingegen Bovenschen weitgehend mit lateinischen Quellen arbeitete. Während Bovenschen seine Quellenuntersuchung als Monographie vorlegte, präsentierte Warner sie als erläuternde Fußnoten zu der von ihm eingerichteten Ausgabe des Textes. Micheal C. Seymour ergänzte diese Quellenuntersuchungen durch den Nachweis einer Reihe von Verbindungen zwischen Mandevilles Reisebericht und bestimmten Versionen des Alexanderromans, aus denen er schloß, daß Mandevilles Bericht nicht in England, sondern auf dem Kontinent entstanden sei, weil ein Teil dieser Texte in England zum fraglichen Zeitpunkt nicht vorlag. Vgl. The Cotton-Version of Mandeville's Travels, ed. by Michael Seymour, S. 277. Albert Bovenschen, Johann von Mandeville und die Quellen, S. 306. Die beste und gründlichste Zusammenstellung der Quellen bietet jetzt die Arbeit von Christiane Deluz, die in einem umfangreichen Tableau die einzelnen Textstellen und ihre Quellen bzw. das, was sie als Originalpassagen ansieht, nebeneinandergestellt und eine Referenzliste zu den jeweiligen Äußerungen der Forschung beigefügt hat. Vgl. Christiane Deluz, Le Livre de Jehan de Mandeville, S. 429-491.
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die Historia Alexandri Magni sowie die Epistola Alexandri Magni ad Aristotelem; Macrobius: Commentarius in Somnio Scipionis - und das ist noch keine vollständige Liste der benutzten Quellen. 356 Seit der Entdeckung, daß Mandeville alles nur abgeschrieben hatte, sprach auch sein Erfolg gegen ihn: Ein Bericht, von dem es so viel mehr Handschriften gab, als von allen anderen Orientberichten, nämlich mehr als 280, was selbst noch die ca. 150 Handschriften von Marco Polos Bericht weit in den Schatten stellte, konnte nur dem Zeitgeschmack eines „sensationssüchtigen Publikums" geschuldet sein. 357 Daran hat sich bis in die jüngste Forschung nichts geändert: Kein Hinweis auf Mandeville, in dem nicht erwähnt würde, daß es von seinem Bericht mehr Handschriften gebe als von den „echten" Reiseberichten. Die Zahl der Berichte wurde und wird als das Paradigma für Mandevilles Traditionalität und die Mythengläubigkeit des spätmittelalterlichen Publikums betrachtet, das lieber einem Fabelerzähler glauben wollte als einem wirklichen, nüchternen Reisenden wie Marco Polo. Dabei ist die Zahl der Handschriften immer wieder maßlos übertrieben und Mandevilles Bericht völlig unbegründet mit dem Superlativ „meistgelesen" versehen worden. Folker Reichert etwa sprach vom „nachhaltigen Erfolg dieses Machwerks, das in mehr als 400 Handschriften überliefert ist"- wie er auf diese Zahl kommt, ist völlig unklar. 358 Dabei relativiert sich die Bedeutsamkeit auch der tatsächlichen Handschriftenzahlen erheblich, wenn man zwei naheliegende, aber entscheidende Aspekte bedenkt: Erstens partizipierte Mandeville an zwei Berichtstypen, dem Pilgerbericht und dem Orientbericht, so daß er zwei sich teilweise überschneidende, teilweise aber auch getrennte Interessengruppen bedienen konnte, was die Zahl der Handschriften zwangsläufig vergrößern mußte; und zweitens entstand sein Bericht deutlich später als die vorhergehenden Berichte, nämlich erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, als sich die Handschriftenproduktion längst aus den Klöstern und von den Höfen in die professionellen Schreibstuben der städtischen Zentren ausgedehnt bzw. verlagert hatte. Dadurch wurden die Handschriften sehr viel billiger und konnten von einem erheblich größeren Publikum erworben werden, das mit der zunehmenden Literalisierung zahlenmäßig ohnehin deutlich angewachsen war. Allein das Material der Mandeville-Handschriften spricht in dieser Hinsicht Bände: Viele der Handschriften sind keine Pergament-, sondern Papierhandschriften, die Kennzeichen eines entstandenen literarischen Marktes sind, auf dem Bücher wie andere Waren auf Messen gehandelt wurden. Wenn diese Art von Handschriften illustriert ist, wie etwa ein Teil der Diemeringen-Handschriften, weisen sie in der Regel aquarellierte Federzeichnungen auf, die das Papierbuch als Repräsentationsobjekt deutlich aufwerteten, aber dennoch schnell
356 357
Vgl. Christiane Deluz, Le Livre de Jehan de Mandeville, S. 57f. Josephine W. Bennett hat als erste die handschriftliche Überlieferung gründlich aufgearbeitet (vgl. The Rediscovery of Sir John Mandeville, S. 2 6 5 - 3 3 4 ) . Ihre Arbeit wurde später ergänzt durch die Untersuchung Guy de Poercks, der ihre Liste um eine Reihe von Handschriften erweiterte. Vgl. ders., La tradition manuscrite. Für die deutsche Übersetzung Michel Velsers ist die Untersuchung von Eric John Morrall maßgebend (vgl. Sir John Mandevilles Reisebeschreibung, S. XXVII-CXVIII) und für die Übersetzung Ottos von Diemeringen die Untersuchung von Klaus Ridder, Jean de Mandevilles »Reisen«, S. 270150143.
358
Vgl. Folker Reichert, Einleitung zu: Die Reise des seligen Odorich, S. 15.
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und preiswert gefertigt werden konnten. An manchen Handschriften läßt sich auch das Fertigungsverfahren deutlich ablesen: So sind in einer Handschrift der Diemeringenschen Übersetzung die aquarellierten Federzeichnungen gegenüber dem Text teilweise verschoben, und zwar so, daß der Text den Bildern hinterherhinkt. 359 Diese Verschiebung wird in der Abfolge der Handschrift immer größer, so daß sie von wenigen Zeilen am Anfang bis zu zwei Seiten am Ende reicht. Das heißt, daß der Leser Illustrationen sah, zu denen erst ein oder zwei Blatt später der zugehörige Textabschnitt folgte, der die Illustrationen lesbar machte. Die Blätter wurden also, nachdem sie in Lagen aufgeteilt waren, in den Raum zwischen Text und Bild untergliedert und dann zunächst nach einem wahrscheinlich vorgefertigten Bildmuster illustriert. Erst danach wurde in die Zwischenräume der Text eingeschrieben. Da er aber - ob durch Hinzuftigungen oder eine mangelhafte Berechnung - mehr Platz benötigte als vorgesehen war, verschob sich der Text gegenüber den Illustrationen immer weiter nach hinten. Das Herstellungsverfahren, auf das diese Textgestalt schließen läßt, ist die professionalisierte, arbeitsteilige Produktion von Handschriften für einen florierenden Markt, auf dem Handschriften zwar immer noch Repräsentationsobjekte waren, aber nicht mehr als einzelne, extrem kostbare Folianten mit größter Sorgfalt, sondern schnell und effektiv gefertigt wurden. 360 Andererseits waren Bücher natürlich immer noch teuer - was war da naheliegener, als einen Bericht zu kaufen, der so viele andere in sich enthielt und ersetzen konnte. Die statistische Auswertung der Handschriften bei Christiane Deluz nach der Einzelüberlieferung oder der gemeinsamen Überlieferung mit anderen Texten bestätigt diesen Befund: Von den lateinischen Handschriften sind nur 22,8 % einzeln überliefert, während von den englischen 44,1 %, von den französischen 54,3 % und von den deutschen 55,6 % alleine überliefert sind. 361 Die Zahl der Handschriften und ihre Materialität ist also durchaus aussagekräftig, aber nicht einfach in der Weise, daß Mandeville so viel beliebter bei mittelalterlichen Lesern war, weil er das tradierte mythische und fabelhafte Wissen transportierte, sondern weil sein Text in einen entstehenden Handschriftenmarkt hineinkam, den er als volkssprachlicher Text besser bedienen konnte als seine lateinischsprachigen Vorgänger, und dem er mehr bieten konnte als diese, weil er alles das präsentierte, wovon sie nur Teilbereiche dargestellt hatten. Auch die Mitüberlieferung in Sammelhandschriften spricht eine relativ eindeutige Sprache: Am häufigsten wurde sein Bericht zusammen mit anderen Pilger- oder Reiseberichten sowie historiographisch-politischen und naturkundlichastrologischen Werken überliefert; insgesamt ist er, prozentual gesehen, nicht häufiger mit historisierenden Romanen, wie dem Alexanderroman, überliefert als Marco Polos Bericht. Überdies kann auch die gemeinsame Überlieferung mit dem Alexanderroman und anderen historisierenden Romanen keine Gewähr für die Wahrnehmung des Textes
359
Wien, ÖN, Bibl. Pal. Vind., cod. 2838. Zur Beschreibung der Handschrift vgl. Klaus Ridder, Jean de Mandevilles »Reisen«, S. 110f., der auf die Illustrationen allerdings nicht eingeht. Ich habe die Handschrift neben anderen in Wien eingesehen.
360
Extrem kostbare Handschriften gab es natürlich auch noch, und sie wurden umso bedeutsamer, je verbreiteter die Produktion von Handschriften wurde. Der berühmte Livre de Merveilles, den Johann Ohnefurcht seinem Taufpaten, Jean Due de Berry, schenkte, ist das berühmteste Beispiel dafür. Vgl. Christiane Deluz, Le Livre de Jehan de Mandeville, S. 289.
361
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als fiktionalen Text bieten, denn auch dessen Betrachtung als fiktional oder nichtfiktional ist ungeklärt.362 Aus der Mitüberlieferung kann daher auf eine zeitgenössische Identifizierung des Textes als Reiseroman nicht geschlossen werden, und selbst die wenigen bekannten Äußerungen, in denen Mandevilles Glaubhaftigkeit angezweifelt wurde, ließen gelten, daß sein Bericht ein Reisebericht sei, auch wenn er manches enthalte, was übertrieben oder fabulös sei. Was Mandeville gegenüber allen anderen Pilger-und Orientberichten auszeichnet, ist in erster Linie Vollständigkeit: Abstrahiert man von der Tatsache, daß Mandeville alles abgeschrieben hat, so unterscheidet er sich von den bisher behandelten Reiseberichten vor allem dadurch, daß der Raum, den er beschrieb, sehr viel größer war und daß der Bericht durch den Einschluß des Heiligen Landes, dessen Beschreibung den ersten Teil bildete, eine zumindest ungewöhnliche Kombination von Pilgerbericht und Orientbericht war. Betrachtet man ihn von der Seite der Pilgerberichte her, so erscheint sein Bericht als Ausbruch aus deren traditioneller Weg- und Berichtsstruktur, in der das Pilgerziel Jerusalem den Höhe- und Endpunkt bildete. Bei Mandeville bildete das Ziel der Pilger nur eine Zwischenstation, von der aus er weiter nach Osten reiste. Christian K. Zacher hat dies als Dezentralisierung Jerusalems und als Verwandlung des Pilgers in den neugierigen Reisenden gedeutet: „Within this one book pilgrim piety is replaced by confessed curiosity. And that curiosity leads Mandeville to a perception of the cultural and religious diversity of the world - a world gradually seen to be larger, stranger, and more deserving of investigation, the world that in the fifteenth and sixteenth centuries thinkers and travelers (often spirited by his book) began to uncover."363 Die Verwandlung Mandevilles in einen Vorläufer der neuzeitlichen Entdecker unter dem Aspekt einer sich durchsetzenden curiositas steht freilich merkwürdig quer zu dem factum brutum, daß Mandeville eben nicht durch die Welt, sondern durch die Bücher gereist ist. Die Welt, die für Mandeville „deserving of investigation" war, war die Welt der Bücher, die er in einem Buch vereinte. Vergleicht man ihn mit den Orientberichten, so scheint sein Weg in den Osten merkwürdig unbegründet, weil er nicht einmal versuchte, sich an eines der Kontaktsysteme anzuschließen, indem er sich als Gesandter, Missionar oder Fernhandelskaufmann ausgab. Dabei wäre, wie das Beispiel Marco Polos zeigt, die Übernahme einer Gesandtschaftsrolle für einen der europäischen Fürsten - Marco Polo hatte sich immerhin bis an den Papst herangewagt - oder einen außereuropäischen Herrscher relativ unproblematisch gewesen. Noch einfacher wäre es gewesen, sich in die Rolle des Missionars zu begeben, denn als solcher hätte er durchaus nicht, wie er aus Odoricos Bericht selbst wissen konnte, von der Missionsarbeit und missionarischen Erfolgen berichten müssen. Was also bot die Pilgerrolle, das die anderen möglichen Roilenzuschreibungen nicht hätten bieten können?
362
Vgl. die eingehende Untersuchung der Mitüberlieferung bei Ernst Bremer, Spätmittelalterliche Reiseliteratur - ein Genre?, S. 349ff.
363
Christian K. Zacher, Curiosity and Pilgrimage, S. 132.
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Der Weltpilger als homo
viator
Betrachtet man die komplexen Strukturideale mittelalterlicher Pilgerschaft und die Polysemie des Pilgerbegriffs im Mittelalter, so wird deutlich, daß Mandeville die Idee der Pilgerfahrt nicht völlig auf den Kopf stellen mußte, um die Pilgerstrecke von Europa nach Jerusalem auf den gesamten Osten auszudehnen. Eine seiner Quellen, nämlich Odorico de Pordenone, bot für die Kombination von Orient- und Pilgerbericht überdies ein zeitnahes Beispiel: Von Odorico war nicht nur sein Orientbericht, sondern auch ein Liter de Terra Sancta, überliefert, den Mandeville ebenfalls kannte und benutzte.364 Zwar gilt dieser Bericht seit den Erwägungen Girolamo Golubovichs nicht mehr als echt und firmiert daher nur noch als Pseudo-Odorico, aber Mandeville konnte ihn als einen weiteren Bericht Odoricos betrachten, der personal zumindest die Verbindung zwischen Pilger- und Orientfahrt herstellte.365 Zudem konnte er an die frühmittelalterliche Idee der peregrinatio als Weg durch die Welt anschließen, der gerade durch das Nicht-Erreichen eines bestimmten Ziels der Weg zu Gott war. Peregrinatio war etwa bei Augustinus nicht unbedingt mit dem Erreichen eines Ziels verbunden: peregrinari bedeutet ursprünglich nämlich nicht, zu einem Ziel pilgern, sondern „in der Fremde zu sein", in der Emigration zu leben. „Ein 'peregrinus' hat im Unterschied zum Pilger nicht einen Weg und ein Ziel, dem er ferner oder näher sein kann, dem er näherkommen will und näherkommt. Dem Fremdling ist das In-der-Fremde-Sein nicht Weg, sondern allenfalls Unterwegssein (aber nicht zu etwas), Unbehaustsein. Statt eines von der Zukunft her bestimmten Seins, Wollens und Handelns lebt er die Existenz der Heimatferne. Der Fremde als Fremder tut nichts; Fremder-Sein, In-der-Fremde-Sein ist keine Tätigkeit, sondern ein Zustand, ein Geschick."366 Peregrinus in der Welt und Pilger zu heiligen Orten war für Augustinus allerdings kein Gegensatz, denn wenn er auch das gesamte irdische Dasein im Symbol der Pilgerschaft versinnbildlicht hat, so hat er peregrinatio doch nicht nur symbolisch, sondern durchaus auch körperlich verstanden: Der homo viator, dessen ganzes irdisches Leben als Weg in der Fremde gedacht wurde, sollte sich als peregrinus auch tatsächlich in die Fremde begeben, um an geheiligten Orten Gott näher kommen. In seinem Bischofssitz Hippo ließ Augustinus ein Xenodochium (Herberge) für die Pilger einrichten, die zu den Reliquien des Heiligen Stephanus pilgerten.367 „The topoi of xeniteia and peregrinatio, of pilgrimage, of homelessness, of strangeness in this world are among the most wi-
364
Der Bericht ist (noch unter dem Namen Odoricos) abgedruckt in: Peregrinatores medii aevi quatuor, S. 143-158. Vgl. dazu Girolamo Golubovich, Biblioteca bio-bibliografica, Bd. 3, S. 391.
365
Auch von Marco Polos lateinischem Übersetzer Francesco Pipino da Bologna gibt es einen Pilgerbericht, der mehrfach mit seiner Marco Polo-Übersetzung gemeinsam überliefert wurde (vgl. ed. Benedetto, S. CLIIIf.). Eine Verbindung zwischen beiden Textgruppen wurde also offenkundig als durchaus naheliegend betrachtet. Ernst A. Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin, S. 85. Vgl. Cornelius Meyer, 'Peregrinatio' bei Augustinus, in: Reisen und Reiseliteratur, S. 76f.
366 367
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despread in early Christian ascetic literatur, and not a few ascetics, monastic and otherwise, praticed it by voluntary and migratory exile." 368 Schon früh hatte die Kirche versucht, Pilgerreisen zu institutionalisieren und auf bestimmte geheiligte Orte auszurichten. Insbesondere nachdem das Christentum in Rom unter Kaiser Konstantin stark begünstigt und, wenn auch noch nicht offiziell so doch institutionell, nahezu in den Rang einer Staatskirche erhoben worden war, gab es einen Widerstreit zwischen dem Ideal der pilgernden Kirche und dem Ideal der institutionalisierten Kirche. Beide konnten nur verbunden werden im Ideal der temporären Pilgerschaft, in der die Gläubigen nicht mehr permanent, sondern zu bestimmten Zeiten - und in der Regel einmalig - pilgerten, und zwar unter institutioneller Aufsicht entlang institutionalisierter Strecken an institutionalisierte Orte und mit institutionalisierter Ausrüstung. 369 Konstantin und seine Mutter Helena förderten nachdrücklich die temporäre Pilgerschaft zu bestimmten heiligen Zielen und grenzten sie so auf eine zeitweilige Übung ein. Helena ordnete die Freilegung des Ölberges an, und Konstantin ließ dort über dem Grab des Auferstandenen die Grabeskriche erbauen. Sie begannen damit, die Plätze zu markieren, an denen sich die zentralen Ereignisse der Heilsgeschichte abgespielt hatten und schufen so die Gedächtnisorte, die man aufsuchen konnte. 370 Gleichzeitig begannen sie aber auch, Reliquien zu produzieren. Ironisch könnte man die Kaiserin Helena als die bedeutendste Archäologin aller Zeiten bezeichnen, denn sie grub nicht nur das Kreuz Christi und der beiden Schächer aus, sie fand auch die Nägel, die durch Christi Hände und Füße getrieben worden waren, die Dornenkrone, die Lanze des Longinus, den Heiligen Rock, den Christus auf dem Weg zum Ölberg trug und anderes mehr. Die Christusreliquien wurden in der im Auftrag Konstantins errichteten Grabeskirche aufbewahrt und konnten von den Pilgern dort angeschaut und berührt werden. 371 Im 5. Jahrhundert erreichte die frühe Beliebtheit Jerusalems als Pilgerziel bei lateinischen wie bei byzantinischen Pilgern ihren ersten Höhepunkt. 372 Mit der Lehre des Prudentius und des Eunodius, denen zufolge die körperlichen Überreste der Heiligen Wunder wirken konnte, verstärkte sich der Pilgerstrom, und daneben begann der Reliquienhandel. Ab dem 368 369
Gerhard B. Ladner, Homo viator, S. 237. Nach wie vor zentral für die mittelalterlichen Vorstellungen von Pilgerschaft und Pilgerreisen ist Jonathan Sumption, Pilgrimage. An Image of Medieval Religion. Die kennzeichnende Ausrüstung für den Pilger bestand im Pilgerstab, dem Pilgerbeutel und dem Pilgerranzen. Friederike Hassauer hat die durch diese Utensilien gekennzeichnete Verwandlung des Körpers in einen Pilgerkörper und ihre Kontrollfunktion sehr genau beschrieben. Vgl. Friederike Hassauer, Santiago, S. 1 3 1 - 1 3 8 .
370
Zur Funktion des Raumes und geheiligter Orte für das kollektive Gedächtnis vgl. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 141ff.; vgl. auch Glenn Bowman, Christian Ideology and the Image of the Holy Land, in: Contesting the Sacred. The Anthropology of Christian Pilgrimage, ed. by John Eade and Michael J. Sallnow, London and N e w York 1991, S. 9 8 - 1 2 1 .
371
Als Mandeville das Kreuz, die Dornenkrone, die Lanze und die Nägel beschrieb, erwähnte er, daß die Kaiserin Helena sie ausgegraben habe. Vgl. ed. Letts (Paris-Text), S. 234 (ed. Morrall, S. 8). Zur Geschichte der Pilgerreisen im Mittelalter vgl. Ludwig Schmugge, Kollektive und individuelle Motivstrukturen im mittelalterlichen Pilgerwesen; ders., 'Pilgerfahrt macht frei'.
372
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6. Jahrhundert riß jedoch infolge des Niedergangs der Schifffahrt und der geldvermittelten Ökonomie der Pilgerstrom ab; viele potentielle Pilger hatten nicht mehr genug Geld, um die schwierige und teure Fahrt zu bestreiten. Die große Zeit der hochmittelalterlichen Pilgerfahrten begann erst im 10. Jahrhundert: Ab 961, nachdem die Araber Kreta und ihre letzten Seeräubernester in Italien und Südfrankreich verloren hatten, beherrschte die byzantinische Flotte das Mittelmeer wieder, und venezianische Schiffe konnten von Venedig aus ungehindert durch das Mittelmeer fahren. In dieser Zeit begann die Kirche, sich der Pilgerbewegung ideologisch und organisatorisch unter anderen Vorzeichen zu bemächtigen: Von nun an pilgerte man nicht mehr aus religiöser Sehnsucht, um an den Lebens- und Leidensstationen Christi, der Apostel und der Heiligen mit ihnen in mystische Verbindung zu treten, sondern aus Reue. Die Pilgerfahrt wurde zur Bußfahrt, durch die man einen Sündenablaß erlangen konnte. Sowohl die Kirche als auch weltliche Gerichte erlegten häufig Pilgerfahrten als Buße auf und veränderten damit den Charakter der Pilgerfahrt gegenüber dem Frühmittelalter entscheidend: Hatten Augustinus und Hieronymus geglaubt, die Tugenden der Heiligen könnten sich an den Stätten ihres Wirkens und im Angesicht der Reliquien auf die Pilger übertragen, so setzte die Kirche nunmehr die Sündenvergebung an deren Stelle. 373 Freilich beließ man es nicht immer beim Auffinden und Zurschaustellen an Ort und Stelle: Immer häufiger wurden die aufgefundenen Reliquien nach Europa gebracht, um die Gedächtniszeichen ins Eigene zu transponieren. Allerdings erwies es sich später flir die römische Kirche als Problem, daß Konstantin viele Reliquien nach Byzanz hatte bringen lassen, das er zur neuen Hauptstadt des Römischen Reiches erhoben und in Konstantinopel umbenannt hatte. Um der neuen Hauptstadt seinen Stempel aufzuprägen, brauchte er christliche Gedächtniszeichen, die er in großem Umfang aus Palästina dorthin bringen ließ. Durch die Spaltung zwischen Ost- und Westrom waren diese Reliquien flir die römische Kirche de facto verloren (jedenfalls bis zur Eroberung Konstantinopels im Vierten Kreuzzug 1204). Immerhin gelang es ab dem 7. Jahrhundert zunehmend, Reliquien nach (West-) Rom zu schaffen: Daß Rom neben Jerusalem später überhaupt eines der wichtigsten Pilgerziele werden konnte, hatte nicht zuletzt mit diesem Heranschaffen von Reliquien zu tun, das aus einer heidnischen Stadt einen christlichen Gedächtnisort machen konnte. Auch andere europäische Städte sowie Kaiser, Könige und Fürsten brauchten Reliquien, um ihre Herrschaft zu heiligen und ihr soziales Gedächtnis in die Heilsgeschichte zu prolongieren. Spätestens seit dem 8. Jahrhundert entstand ein schwunghafter Reliquienhandel, von dem die italienischen Seehandelsstädte enorm profitierten. 374 Als heilsgeschichtliche Gedächtniszeichen konnten Reliquien auch als Zeichen höchster Anerkennung fungieren und wurden deshalb gerne verschenkt: Die Gebeine der Heiligen Drei Könige schenkte Kaiser Friedrich I. seinem Reichskanzler Rainald von Dassel aus Dankbarkeit für dessen unschätzbare Dienste bei der Niederschlagung des kaiserfeindlichen Veroneser Bundes; der wiederum schenkte drei Finger 373
374
Vgl. N. Paulus, Bonifatius IX. und der Ablaß von Schuld und Strafe, in: Zeitschrift für katholische Theologie X X V (1901), S. 3 3 8 - 3 4 3 ; Bernd Poschmann, Der Ablaß im Lichte der Bußgeschichte, Bonn 1948. Zum Reliquienhandel und dem immer erfolgreicher betriebenen Reliquiendiebstahl vgl. P. J. Geary, Furta Sacra. Thefts of Relics in the Central Middle Ages, Princeton N. J. 1978.
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der Heiligen Drei Könige dem Kloster Hildesheim, wo er aufgewachsen war, und dessen Prior Johannes von Hildesheim bedankte sich einhundertfünfzig Jahre später dafür, indem er unter anderem seinem Gedächtnis ein Buch widmete, die Historia Trium Regum, das die Geschichte der Heiligen drei Könige von ihrem Auszug bis zu Rainald von Dassel und ihrer Überfuhrung nach Köln und Hildesheim erzählte. Die Geschichte der Heiligen Drei Könige und ihrer Reliquien war damit fast so etwas wie eine kleine Weltgeschichte, denn die Heiligen Drei Könige waren von der Geburt Christi bis zu ihrer Überführung nach Mainz nahezu durch ganz Asien, Afrika und Europa gekommen.375 Zu beiden Elementen des spätmittelalterlichen Pilgerwesens, den Ablässen wie dem Reliquienhandel, und der daraus resultierenden Störung der Beziehung zwischen den Gedächtniszeichen und den Gedächtnisorten zeigt Mandevilles Bericht deutlich kritische Distanz. Anders als seine Quelle Wilhelm von Boldensele, der stets daruf hingewiesen hatte, an welchem Ort man welchen Ablaß erlangen könne und die Ablässe in seinem Text durch Kreuze markiert hatte, erwähnte Mandeville nicht einen einzigen Ablaß, sondern beschrieb die Orte und die dort zu schauenden Zeichen, erzählte deren Geschichte und ordnete sie in die Heilsgeschichte ein, ohne sie auf die Sündenvergebungsfunktion zu reduzieren. Auf die Zerstreuung der Reliquien über Europa und den Nahen Osten und die aus ihrer Zerteilung und Vervielfachung resultierenden Echtheitsprobleme wies Mandeville seine Leser wiederholt hin. So bemerkte er über die Lanze des Longinus, daß mehrere Herrscher für sich reklamierten, Teile von ihr zu besitzen: „Et la hanste de la lance ha lempereur dalemaigne; mais le fer est a Paris. Et mesemes lempereur de Constantinople dist que il a le fer de la lance. Je lay veu, et est plus large assez que celui de Paris."
Während Mandeville hier in der Schwebe ließ, wer die echten Teile der Lanze besaß, erklärte er als sicher, daß das Kreuz Christi in Konstantinopel aufbewahrt werde. Diese Feststellung diente ihm jedoch in erster Linie dazu, diejenigen zu verurteilen, die falsche Kreuze als das Kreuz Christi ausgaben, um daraus Gewinne zu schlagen: „A Constantinople est la crois nostre seigneur Ihesu Christ, et vne siene cote senz cousture, et la sponge et la rondine a quoy on ly donna a boire fiel et aigre vin en la crois. Aucunes genz cuident que la moitié de la crois nostre seigneur soit en Cypre a vne abbaye de moines. Celle crois en Cypre est celle ou Dimas le bon larron fu pendu, mais chascun ne le scet mie. Et ce est de necessite de sauoir, car pur le proffit des offrandes il la font honnorer, et donnent a entendre que ce soit de la crois nostre seigneur."
375
Vgl. Johannes von Hildesheim, Historia Trium Regum, ed. C. Horstmann, London 1886 (lat. Text u. altenglische Übersetzung). Der Text ist u. a. auch mit Odoricos und Mandevilles Bericht überliefert, die er beide auch als Quellen benutzt haben könnte. Vgl. ed. Horstmann, S. XVII.
376
ed. Letts (Paris-Text), S. 236. „Das yßen an dem spieß da got mit gestochen ward, das hatt der kayser von tütschen landen. So maint der küng von Paryß, er habß. So spricht ouch der kayßer von Constantinopel für war, er habs. Und daz hon ich gesenhen, und es ist vil braytter denn daz zuo Paryß, wann ich sie bayde gesenhen hon" (ed. Morrall, S. 9f.).
377
ed. Letts (Paris-Text), S. 233. In Michel Velsers Übersetzung fehlt der Hinweis, daß das echte Kreuz Christi in Konstantinopel sei: „Zuo Constantinopel ist unsers herren rock, der da nit geneyget ist, und der badschwam da mit im die juden gaben zetrincken an dem hailigen crütz mit
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In ähnlicher Weise relativierte Mandeville an mehreren Stellen die Funktion der von ihren Ursprungsorten entfernten Reliquien als Gedächtniszeichen, indem er ihre Echtheit in Zweifel zog oder darauf hinwies, daß sie zerstückelt oder über ganz Europa zerstreut seien.378 Da er überdies die an den Aufbewahrungsorten der Reliquien zu erlangenden Ablässe nicht erwähnte, knüpfte er mit seinem Programm der Pilgerfahrt nicht an die hoch- und spätmittelalterliche Tradition der Bußpilgerfahrt mit ihren entlang der Ablaßorte festgelegten Strecken, sondern an die frühmittelalterliche Tradition der Pilgerschaft auf Erden an, die, wie ich oben gezeigt habe, einen sehr viel weiteren Begriff von Pilgerschafit hatte. Pilgern war hier, wie bei Augustinus, sowohl das Aufsuchen der geheiligten Orte als auch das Pilgern durch die Welt: Mandeville wanderte, ganz wie die Kirchenväter es gefordert hatten, als ein Fremder durch die Welt, deren Zentrum der Ort der Erlösung aller Menschen war. Durch die unmittelbare Verknüpfung des Pilgerziels Jerusalem mit der Pilgerschaft auf Erden machte er sichtbar, was die Festlegung von Pilgerstrecken, die Uniformierung des Pilgers und die auf die Gnadenorte fixierten Pilgerberichte eigentlich gerade verdeckten: daß auch die Fahrt zu den heiligsten Stätten der Christenheit, ins Zentrum der eigenen Heilsgewißheit, eine Reise in die Fremde war. Das Fortfuhren des Pilgerweges vom nahen in den fernen Osten machte nicht nur deutlich, daß das Heilige Land der Anfang der Fremde war, sondern machte auch deutlich, daß wahre Pilgerschaft die Pilgerschaft auf Erden war. Heilsgewißheit ließ sich für Mandeville nicht erlangen, indem man sich zu vorgeschriebenen Orten begab und Ablässe sammelte, sondern indem man sich der Fremde aussetzte, indem man durch die Fremde pilgerte, die überall Zeichen für das Wirken Gottes in der Welt bot. Das erlaubte ihm auch die Ausdehnung der Pilgerstrecke und des Beschreibungsraumes unter dem Vorzeichen der Pilgerschaft von Jerusalem auf den gesamten Osten, denn überall, bei allen Völkern und in allen Kulturen, konnte, wer als Pilger und Fremder durch die Welt wanderte, die Zeichen erblicken, mit denen ihr Schöpfer sie durchwaltet hatte. Die von Klaus Ridder im Anschluß an Christian K. Zacher formulierte Frage, „ob Mandevilles Bericht diesen theologischen Weltentwurf bereits relativiert, indem im Unterschied zum Pilgerbericht, der im wesentlichen nur die lineare Erzählführung mit narrativem Beschluß in Jerusalem kennt, die Reise in Jerusalem nicht endet, sondern der Leser zu einem erneuten Aufbruch, zur Entdeckung der ostasiatischen mirabilia mundi gefuhrt wird", kann m. E. daher nur mit einem Nein beantwortet werden.379 Mandeville relativierte nicht einen theologischen Weltentwurf oder die Funktion Jerusalems als dessen sakrales Zentrum, sondern die Einschränkung dieses Weltentwurfs auf festgelegte Strekken und Teilbereiche: Bei Mandeville wurde der gesamte Osten bis an die Pforten des irdischen Paradieses wieder als das sichtbar, was er bei einem konsequent theologisch-
gallen und mit essich. Es ist vil volckes die wenent es sy das hailig crütz in Cypren in ainer abbty, die haissent sy des Hailigen Crütz berg. Es ist aber nit also, wann das crütz das sie hond, daz ist das crütz da der rechte schächer ane hieng, der da Dysmas hies. Und da tuond di münch groß sünd, wann sie sprechent es sy daz hailig crütz da Cristus durch unserent willen sinen tod an layd, dar umb das in vil geopfret werde" (ed. Morrall, S. 6). 378 379
Vgl. ed. Letts (Paris-Text), S. 234; 236; 247. Vgl. Klaus Ridder, Jean de Mandevilles »Reisen«, S. 14f.
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christologischen Weltentwurf immer sein mußte: der einheitliche Raum, in dem das Schöpfungs- wie das Erlösungswerk an allen Orten sichtbar war. Dem Erlösungsort Jerusalem, der die erste Hälfte des Berichts beschließt und damit zugleich in der Mitte des Textes wie in der Mitte der Welt liegt, entspricht deshalb am Ende des Berichts der Ort, in den Gott nach der Schöpfung das erste Menschenpaar gesetzt hatte: das irdische Paradies. Der Zugang zum Paradies aber blieb dem frommen Pilger ebenso verschlossen wie allen anderen Menschen. Bis zu den Tagen des Jüngsten Gerichts blieb er wie alle anderen darauf verwiesen, als ein Fremder durch die Welt zu pilgern, an deren Gütern, von denen der Osten ein so überreiches Beispiel bot, er sich aber nicht festhalten durfte. Als Metonymie dieses Pilgerideals fungiert die unmittelbar vor dem irdischen Paradies plazierte Schilderung des val perilleus. Wie fast alles andere hat Mandeville die Schilderung des Teufelstals übernommen, sie aber räumlich verlagert und breiter ausgestaltet. Odorico hatte das gefahrliche Tal ebenfalls an das Ende seines Berichts gerückt, aber er hatte es nicht geographisch zugeordnet, sondern als ein bemerkenswertes Erlebnis beschrieben, das er deshalb für den Schluß aufgespart hatte und mit dem Satz ankündigt „alliud terribile magnum ego vidi".380 Mandeville dagegen verlagerte das Teufelstal an die linke Seite des Phison, einen der vier Flüsse, die im irdischen Paradies entsprangen. Grundsätzlich war die Beschreibung eines solchen Gefahrenortes in der Fremde keine Seltenheit. Auch Wilhelm von Rubruk und Marco Polo hatten von gefährlichen Tälern berichtet.381 Durch seine Plazierung am Schluß des Berichts hatte das finstere Tal aber bei Odorico bereits besondere Bedeutung erlangt, die über die übliche Schilderungen der Gefahren der Fremde hinausging: Es fungierte hier als Metonymie für die Gefahren, denen sich die Missionare in der Fremde aussetzten, aus denen sie aber durch die Festigkeit ihres Glaubens unbeschadet hervorgingen. Anerkennung für die Durchquerung des Tales kam deshalb nicht zuletzt von den potentiellen Missionsempfangern: Als die Sarazenen davon hörten, daß er das finstere Tal unbeschadet durchquert habe, so endet Odoricos Beschreibung, hätten sie ihn für einen heiligen Mann gehalten, jene aber, die darin zu Tode kamen, als Anhänger eines höllischen Dämons betrachtet.382 Bei Mandeville dagegen erwies sich im Teufelstal nicht die Überlegenheit des christlichen Glaubens vor den anderen Religionen, sondern die Überlegenheit des wahrhaften Glaubens, an dessen Anforderungen Christen ebenso wie die Ungläubigen scheitern konnten. Odorico hatte bei der Beschreibung des finsteren Tales vor allem den Höllenlärm und das in einer Felswand an einer Seite des Tales zu sehende schauerliche Teufelsgesicht beschrieben, das er mit den Worten überwand: Verbum caro factum est. Am Ende des 380
ed. Wyngaert, S. 491. „Noch etwas anderes sehr Schreckliches habe ich gesehen." Odorico hatte nur festgestellt das Teufelstal liege beim „flumen deliciarum", den er jedoch nicht genau lokalisierte. In einer späten Version seines Berichts wird diese Lokalisierung jedoch den Vorgaben Mandevilles angepaßt, der zuvor Odoricos Angaben umgeändert hatte. Vgl. Folker Reichert, Eine unbekannte Version, S. 548.
381
Zu Wilhelm von Rubruk vgl. ed. Wyngaert, S. 240; zu Marco Polo vgl. ed. Benedetto, S. 43. Zur Darstellung des finsteren Tales in spätmittelalterlichen Reiseberichten vgl. Helga Neumann, „ein gar wunderlich dinckch."
382
Vgl. ed. Wyngaert, S. 491.
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Tales habe er dann große Mengen von Gold und Silber liegen sehen, von denen er zunächst etwas aufgehoben, es dann jedoch wieder weggeworfen habe, weil es ihn nicht kümmere und er nicht sicher gewesen sei, ob es sich nicht nur um Gaukeleien der Dämonen gehandelt habe, „et sie dante Deo, inde illesus exivi." Mandeville präsentierte dagegen die Schätze als die eigentliche Gefahr, die in dem Tal lauerte: „II a en celle valee moult dor et dargent, pour quoy mains mescreanz et pluseurs Crestiens aussi y entrent pour la conuoitise du trésor qui est si grant. Mais pou en retournent, especialment des mescreants et des Crestiens qui ny vont fors que pour la conuoitise de lor ou de largent a auoir; car il sont tantost estranglez des dyables."
Erst nachdem er mit dieser deutlichen Veränderung in der Beschreibung das Tal und seine Gefahren vorgestellt hatte, brachte er sich selbst ins Spiel, aber nicht als Einzelnen, wie Odorico, sondern gemeinsam mit anderen Gefährten, die wie er bereits wußten, welche Gefahren das Tal barg. „Et sachiez, quant mes compaignons et moy fumes en celle valee, nous y fumes en moult grandes pensees, assauoir mon se nous oseriesmes mectre nos corps en auenture et enz entrer en la protección et en la garde de nostre Seigneur. Les aucuns des compaignons lacorderent et les aucuns estoient au contraire. Si auoit auec nous deux preudommes freres meneurs, qui estoient de Lombardie, qui disoient que, si il auoit nuls de nous qui voulsist entrer enz, quil se meist en bon estât et il enterraient auec nous. Et quant les preudommes eurent ce dit, sur la fiance de Dieu et de euls nous feismes dire messe et fumes confesses et acommichies et y entrasmes nous "385
xiiii. compaignons. Mais a lissir nous [n'Jestiemes que nous ix. compaignons."
383
ed. Wyngaert, S. 4 9 2 . „Und so kam ich dank Gottes Gnade unversehrt wieder heraus."
384
ibid., S. 3 8 9 . „In dem tal da ist großer schätz von gold und edlem gestain. Und da von ist menig mensch umb sinen hals kommen von gyttigkait wegen und des ungelobens den sie hond zuo dem guot, wan sie durch anders willen ir leben nit gewagt hönd wann nun durch des guttes willen, wann die tüfel wirgend sie all zuo hand" (ed. Morrall, S. 160).
385
ed. Letts (Paris-Text), S. 3 9 0 f . „Item ir soellend wissen, do ich und min gesellen wärend vor dem tal, do wärend wir in grossem zwiffel ob wir uns woeltend durch das tal waugen u f f gottes erbarmhertzikait, etlichem was es lieb und etlichem nit, und künden nit über ain kumen. D o komenn zuo unß zwenn barfuoßen der münder brueder, die wärend von Lamparten, und die wärend recht mann irs libes, und sprauchend zuo uns, wer unser kainer der muot durch das tal hett, den woeltent sie wisen und leren wie er sich halten soelt, und woeltend mit in hin durch gon. D o die brueder das gesprochen hettend, do sprachen wir: ' W i r woellend es wägen u f f gottes erbarmhertzikait und u f f üwern guotten trost.' Und sie sprachend uns messe, und wir bichtetend und namend all gottes fronlichnam, und also beraittend wir unß u f f den weg. (...) Item ir soellend wissen, do zögtend wir in das tal, do warend unser dryzehen; ob wir durch das tal kommend, do wurdent unser nun nun" (ed. Morrall, S. 160ff.). In der in Klammern gesetzten Auslassung erläutert Michel Velser in einem langen Einschub, er habe „diß matery" bei der Lektüre als „ungelöblich" angesehen, aber er könne jetzt bestätigen, daß es wahr sei, denn er habe kürzlich ein B u c h gesehen, das j e n e r Mönch, der mit Mandeville und seinen Gefährten durch das Tal gegangen sei, geschrieben habe, und weil beide übereinstimmend davon berichteten und der M ö n c h von seinen Ordensbrüdern als seliger Mann betrachtet werde, glaube er, daß der Bericht wahr sei.
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M a n d e v i l l e und s e i n e G e f ä h r t e n geraten a l s o nicht u n v e r s e h e n s in das Tal oder w i e O d o rico „ut v i d e r e m quicquid h o c esset", 3 8 6 sondern sie beraten, o b s i e sich der P r ü f u n g a u s s e t z e n sollen, d i e das Tal bietet. V i e r z e h n v o n ihnen e n t s c h l i e ß e n sich dazu, n a c h d e m z w e i a n w e s e n d e Minderbrüder sie d a z u aufgefordert haben, sich im Vertrauen a u f Gott der G e f a h r a u s z u s e t z e n , und ihnen die B e i c h t e a b g e n o m m e n haben. D i e D u r c h q u e r u n g d e s T a l e s stellt M a n d e v i l l e dann g a n z in das Z e i c h e n der v e r l o c k e n d e n S c h ä t z e , v o n d e n e n größere G e f a h r a u s g e h e als v o n den T e u f e l n und d e m Höllenlärm: „(...) et ainsi passames nous la dicte valee et veismes leenz moult de biens, or et argent, ioyaux, pierres precieuses a grant foison de ca et de la, ce nous sembloit. Mais sil estoit ainsi quil nous sembloit, ce ne sauiens nous mie, car ie nen touchie onques riens. Car les dyables sont si subtilz quil semble estre voir ce quil nest mie, pour les genz deceuoir. Et pour ytant ne vouloie ie mie touchier a chose que ie veisse, et aussi pour tant que ie ne me vouloie mie oster de ma deuocion; car ie estoie adont moult deuot, tant pour la contenance des ennemis que ie veoie en pluseurs figures comme pour les corps des mors, dont ie veoie tant gésir par toute la valee que, sil eust eu vne guerre de toute la puissance de ii. roys les plus poissans du pays et toutes leurs gens y fussent desconfis de lune partie et de lautre, si ny deust mie auoir tant des mors comme il auoit en celle valee, qui estoit moult hideuse chause a veoir. Et ie mesmerueilloie moult comment les corps pouoient estre si entiers, car il semble quil ne pourrissent point. (...) Et sen y auoit pluseurs en habit de Crestiens, mais ie pensay bien quil auoient este deceus pour lauoir [le trésor] quil auoient veu, dont il auoient conuoitise, ou il auoient eu le euer trop foible et quil ne pouoient endurer la pueur." M a n d e v i l l e v e r s c h i e b t durch d i e s e B e s c h r e i b u n g die G e f ä h r d u n g d e s M e n s c h e n g a n z a u f d e n A s p e k t der Habgier, die für Christen nicht minder b e d e u t s a m ist als fur S a r a z e n e n und H e i d e n : W e r sein H e r z an irdische Güter hängt, wird den T e u f e l n verfallen, g l e i c h o b er Christ, S a r a z e n e oder H e i d e ist. D i e narrative Konstitution d e s E r l e b n i s s e s erfolgt
386 387
ed. Wyngaert, S. 491. ed. Letts (Paris-Text), S. 391. „In dem tal sauhend wir grossen schätz von gold und von silber und von edelm gestain, als uns ducht; ob im also waere, das waiß ich nit, wann ich geruert sin nie an. Wann die tüffel sind gar listig und falsch und erzoegend och das nit enist, dar umb das sie die lüt wellen feilen und betriegen. Und dar umb wolt ich sin nit anrueren und dar umb das ich nit kaem uß minem andaucht, wan ich mich nie als ser besorget vor dem töd und achtat gar wenig des goldes. Und sach man groß jämer und not von erschlagen ltiten ligen; und waerend zwayer küng her erschlagen gewesen, sin waer genuog gewesen und ain jaemerlich ding zesenhend. Und mich wundert sere wie die lichnam als lang moechtend da beliben und geligen, das sie nit fuletend. (...) und sach vil da ligen in cristens wiß. Und sicher do ward mir eng umb das hertz und machet das ich muost andaechtig sin" (ed. Morrall, S. 162).Velser hat hier relativ deutlich in den Text eingegriffen, dessen Ausrichtung auf die Gefährdung durch das Gold damit zwar nicht verschwindet, aber doch weniger deutlich ist als im französischen Text. Entschieden weicht er aber hinsichtlich der umherliegenden Leichen ab: Sein „und sach vil da ligen in cristens wiß" ist sehr vage und die Erläuterungen des französischen Textes, die Christen seien in erster Linie wegen ihrer Habgier unter den Toten zu finden, fehlt ganz. Dafür erhielt Mandeville aber bei ihm ein Zeichen durch einen Teufelsstreich, das sechzehn Jahre lang an seinem Hals zu sehen gewesen sei, bis „ich von miner üppiger wiß ließ" (S. 163). Vgl. zu Mandeville-Velsers Beschreibung des finsteren Tals und der Ausrichtung auf den Erzähler Helga Neumann, „ein gar wunderlich dinckch", S. 43f.
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hier durch die Beschreibung des Ortes, in die der Autor dann weniger als Erzähler eines eigenen Erlebnisses eintritt, denn als Beispiel dafür, daß man dem Teufel entgehen kann, wenn man frei von der Habgier nach verlockenden Gütern das irdische Jammertal durchschreitet. Mandeville ist hier kein Ritter, der sich im Abenteuer bewährt, wie Josephine Waters Bennett betont, die gerade die Beschreibung des Teufelstals als Beweis für Mandelvilles „literary genius" gelesen hat, sondern der fromme Pilger, der als Fremder in der Welt wandelt, ohne sich von ihren Gütern verlocken zu lassen oder sich an einem festen Ort einzurichten.388 Er ist damit aber nicht nur, wie Stephen Greenblatt ihn genannt hat, der „Ritter der Besitzlosigkeit", sondern auch der Fremde, der nirgendwo eine Heimstatt hat, der Pilger des unendlichen Weges, der nirgendwo ankommt, nirgends stehenbleibt, nichts erwirbt und über alle Beschränkungen institutionalisierter Pilgerstrecken hinausgehen kann.389 Damit setzt er sich selbst in eine Beziehung zum Fremden, die sich fundamental von der der Kontaktsysteme unterscheidet: Mandeville begegnet der Welt nicht mit Fragen nach dem Status des Fremden in Relation zum Eigenen, sondern mit der Frage nach der Relation des Eigenen zum Fremden. Seine Beschreibung findet nicht nur, wie die Missionstheorie, die Anknüpfungspunkte für die Unterweisung im christlichen Glauben, sondern sie weiß um die Zeichen des Schöpfers wie des Erlösers, die in der Fremde ebenso auffindbar sind, wie an den Gedächtnisorten der eigenen Kultur und die zu lesen vermag, wer genau hinschaut, und die anderen lesbar zu machen vermag, wer genau beschreibt. Dafür aber mußte er seine Quellen korrigieren, ergänzen, erweitern und zu einer Weltbeschreibung ausdehnen. Mandeville schrieb nämlich nicht nur ab, wie ihm Bovenschen und andere vorgeworfen haben, sondern er schrieb auch um, und stellte Zusammenhänge her, die in seinen Quellen zu kurz gekommen oder ganz beiseite gelassen worden waren. Vieles kürzte er auch, vor allem aber ergänzte er, was seine Hauptquellen beschrieben: Wenn er auch nichts gesehen haben mag, so wußte er doch viel mehr als sie zu berichten. Während Odorico beispielweise über Trapezunt nur erwähnte, hier ruhe über dem Stadttor der Leichnam des Heiligen Athanasius, der den Psalm Quicumque vult geschrieben habe, erzählte Mandeville dessen Entstehungsgeschichte.390 Häufig korrigierte er seine Quellen aber auch, und zwar vor allem die Reiseberichte, die seine Hauptquellen bildeten. Dabei reduzierte er ihre Aussagen in der Regel auf den Status 388
Vgl. Josephine Waters Bennett, The Rediscovery o f John Mandeville, S. 53. Auch Ernst Bremer deutet die Teufelstalepisode als Ausdruck literarischer Gestaltung. So schreibt er: „Erzählerischer Höhepunkt dieses zweiten Teils des Romans ist die Wanderung Mandevilles durch das Teufelstal, die durch die Schilderung des irdischen Paradieses (...) kontrastiv eingeleitet wird. In einem Szenarium des Schreckens im Teufelstal entfaltet Mandeville gegenüber den Quellen seine erzählerischen Ambitionen in vielfältigen Pointierungen literarischer Gestaltung" (Spätmittelalterliche Reiseliteratur - ein Genre?, S. 342). Daß Mandeville die Beschreibung des Tals deutlich ausdehnt ist unstreitig, ebenso daß er eine andere Funktion damit verbindet - worin allerdings die „literarische Gestaltung" bestehen soll, die die Bezeichnung als „Roman" rechtfertigen könnte, bleibt m. E. unbegründet.
389 390
Vgl. Stephen Greenblatt, Marvellous Possessions, S. 28. Vgl. ed. Letts (Paris-Text), S. 311.
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von on dits. Wilhelm von Boldensele hatte geschrieben, die ägyptischen Pyramiden seien die ehemaligen Grabstätten der Ägypter, Mandeville hingegen erklärte, einige würden sagen, daß es sich bei den merkwürdigen Gebäuden Ägyptens um Grabstätten handele, in Wirklichkeit aber seien sie die Schatzhäuser Josephs.391 Mandevilles Zugriff auf die Quellen ist also sehr viel komplexer als die allgemein formulierten Aussagen der Forschung nahelegen, die Mandevilles spezifische Leistung in der Regel auf die Literasierung der Beschreibungen seiner Quellen reduzieren. Das zeigt sich auch bei der Erwähnung der Heiligen Drei Könige, bei der Mandeville Ergänzungen, Korrekturen, Kürzungen und Umstellungen miteinander verband. Odorico hatte über Cassam folgendes berichtet: „De ista civitate recedens (...) ivi versus Indiam superiorem, ad quam dum sie irem per multas dietas, applicui ad unam civitatem Regum Magorum que vocatur Cassam, civitatem regalem et magni honoris. Verumtamen Tartari eam multum destruxerunt. Hec civitas multum habundat pane, vino et multis aliis bonis. Ab hac civitate usque Ierusalem, quo Magi iverunt non virtute humana sed miraculosa cum sie cito venerint, sunt bene quinquaginta diete."
Mandeville kürzte, ergänzte, korrigierte, präzisierte und verteilte die Elemente der Darstellung neu. „Puis vient on le chemin vers Inde par maintes iournees et par maint pays iusques a vne cite qui a nom Cassath, qui est moult noble cite et mult plentereuse de bles, de vins et de tous autres biens. Cest la cite ou les trois roys se trouuerent et assemblerent par la grâce de Dieu pour aler en Bethleem pour veoir nostre Seigneur et pour lui aourer et faire presenz dor, dencens et de mirre. Et de celle cit iusques a Bethleem a liii. iournees."
Zunächst änderte er sowohl den Chronotopos als auch die personale Zuschreibung. Odorico hatte im Präteritum und in der Ich-Form („ivi") geschrieben, während Mandeville im Präsens und auktorial („on vient") sprach, d. h. er gab durch die Narrationsform nicht vor, vom Verlauf seiner eigenen Reise zu berichten, sondern gleichsam als autoritativer Führer seinen Leser zu informieren. Dann führte er zuerst den Namen der Stadt ein, noch ohne die Heiligen Drei Könige zu erwähnen, die bei Odorico an erster Stelle gestanden hatten, und ließ bei der Beschreibung die Zerstörungen durch die Tartaren weg, sondern erwähnte nur den Reichtum der Stadt an Brot, Wein und allen anderen Gütern. Erst da-
391 392
393
Vgl. ibid., S. 256. ed. Wyngaert, S. 418f. „Von dieser Stadt zog ich (...) in Richtung Oberindien. Auf dem Weg dorthin (der viele Tage dauerte) gelangt ich in zur Stadt der Heiligen Drei Könige namens Cassam, eine königliche Stadt von hohem Ansehen. Dennoch haben die Tartaren große Verwüstungen in ihr angerichtet. Diese Stadt hat reichlich Wein, Brot und viele andere Güter. Von hier nach Jerusalem sind es gut 50 Tagesreisen. Als aber die Heiligen drei Könige den Weg in so kurzer Zeit zurücklegten, taten sie das nicht dank menschlichen Verögens, sondern durch wundersame Fügung" (ed. Reichert, S. 28f.). ed. Letts (Paris-Text), S. 314. „So fert man denn manig tagwaid gen India und kumpt man denne zuo einer statt, die haisset Casath, daz ist gar ein schoen statt von win und kornes gnuog und waz man bedarff. Das ist die statt da die hailigen try küng sich samnottent, do sie woltent gen Bethleem und unsern herren senhen und im opffern. Und von der selben statt sind gen Bethleem try und fünftzig tagwaid" (ed. Morrall, S. 97).
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nach erklärte er, dies sei die Stadt, in der sich die Heiligen Drei Könige getroffen hätten und fügte hinzu, zu welchem Zweck sie nach Bethlehem reisen und welche Geschenke sie dem Herrn überreichen wollten. Damit korrigierte er Odorico, der von Jerusalem als der Stadt gesprochen hatte, zu der die Heiligen Drei Könige gereist seien, und er präzisierte ihn überdies, indem er erwähnte, daß die Heiligen drei Könige nicht alle aus der Stadt Cassath kämen, sondern sich dort durch die Gnade Gottes gefunden hätten, um nach Bethlehem zu ziehen, das dreiundfunzig Tagesreisen entfernt liege. Damit präzisierte er erneut, und zwar Odoricos Tagesentfernungsangaben, denn dieser hatte von ungefähr fünfzig Tagen gesprochen. Odoricos Feststellung, die Heiligen Drei Könige hätten die Entfernung durch ein göttliches Wunder sehr viel schneller überwunden, übernahm er hier aber nicht. Das brauchte er auch nicht mehr, denn er hatte sie schon früher eingefügt, nämlich bei der Beschreibung Bethlehems. „Et assez près est le puis ou lestoile cheyt qui avoit conduit les iii. roys, Iaspar, Balthasar, Melchiou, iusques la. [Mes ly Iuyes appellent les iii. rois autrement en ebreu, car ils les appellent Appelius, Amerius et Damasus; et ly Griecz les appellent Galgalath, Malgalath et Saraphi.] Ces trois roys offrirent a nostre seigneur or, encens et mierre. Et si ne vindrent mie la par iournees, mais par miracles de Dieu; car ilz se entretrouuerent en Ynde a vne cite qui a nom Cassat, qui est a liii. journees de Bethleem, et il furent les xiii. iours. Et si estoit ia le quart iour que il auoient veu lestoille, quant ilz sencontrerent en celle cite; et ainsi ilz furent en ix. iours de celle 394 cite en Bethleem, qui fut grant miracle."
Mandeville sprach nicht wie Odorico von ungefähr, sondern er rechnete genau und verband in den Zahlen die einzelnen Elemente der Erzählung: Die Entfernung betrug 53 Tagesreisen, die Heiligen Drei Könige aber kamen dreizehn Tage nach der Geburt des Herrn an; da sie sich aber erst vier Tage nach dem Erscheinen des Sterns in Cassat zusammengefunden hatten, legten sie die Strecke von dort folglich in neun Tagen zurück, was errechenbar ein großes Wunder war. Mandeville überbot Odorico damit, freilich weder indem er dessen Beschreibung literarisierte noch indem er sie rationalisierte, sondern indem er die einzelnen Elemente in sich geschlossener gestaltete, sie sinnvoller aufeinander bezog und semantisch bedeutsamer verräumlichte. Die Stadt Cassath konnte natürlich nicht die Stadt sein, aus der die Heiligen Drei Könige kamen, deren Dreizahl j a alle drei Erdteile symbolisierte, sondern nur die Stadt, in der sie zusammengetroffen waren, was innerhalb von vier Tagen seit Erscheinen des Sterns zweifellos auch ein 394
ibid., S. 266. Der in eckige Klammern gesetzte Satz über die fremdsprachlichen Namen der Heiligen Drei Könige ist im Paris-Text nicht enthalten, Letts zitiert ihn in der Fußnote nach Warners Ausgabe, die vorwiegend auf dem MS Harley 4383 der British Library, London, basiert. Michel Velser hat diesen Satz ebenfalls: „Und nach da by da ist die statt da der stern hin kam der die try küng fuort, Caspar, Balthaser und Melchior, byß dar. Item die juden nement die hailigen try küng in ebraysch und sie haissent sie Amplius, Ammonis, Damasus. Item die Kriechen haissent sie also, Nagaltat, Malgaalt, Sarphin. Nun soellent ir wissen, als sie unserm herren sin opffer brauchtent, daz sie nit dar kernen von rittens wegen daz sie mochtend hon geton, wann besunder von gottes crafft, wan sie koment in tryzehen tagen. Wann sie warent in Yndia in ainer stat hies Cassath, die ist von Bethlehem try und fünffzig tagwaid, und warent sie vier tag da, e das sie den stern sahend. Also koment sie von Cassath in nün tagen gen Bethlehem try und fünfftzig tagwaid" (ed. Morrall, S. 47f.).
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Wunder war. Die Erzählung des Wunders gehörte aber nicht in die Stadt Cassat, sondern nach Bethlehem, wo sich seine Wirkursache befand. Mandeville verstärkte damit die raum-zeitlichen Beziehungen zwischen den Memorialorten der Christenheit und den Orten der Fremde, die Odorico nur kurz angerissen hatte. Das Erzähler-Ich spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle und Mandeville konnte es deshalb durch die deklarative Stimme des Autors ersetzen, der nicht in erster Linie seine eigenen Erlebnisse schilderte, sondern die Erfahrbarkeit der Welt schauend nachvollzog. Das Ersetzen des „Ich"-Erzählers durch die deklarative Stimme des Autors ist denn auch grundsätzlich kennzeichnend für Mandevilles Verfahren. 395 Seine beiden Hauptquellen erzählten in der präteritalen Ich-Form von ihrer Reise und bildeten deren Verlauf zumindest erzählperspektivisch ab. Das heißt zwar nicht unbedingt, daß sie persönliche Erlebnisse in den Mittelpunkt rückten, aber sie beschrieben die besuchten Orte nach dem Verlauf ihrer Reise - stilistisch jedenfalls, was nicht gleichbedeutend ist mit realiter, denn sowohl Wilhelm von Boldensele als auch Odorico de Pordenone haben die Orte nicht unbedingt in der Reihenfolge ihrer eigenen Reise beschrieben. Mandeville dagegen verwendete Formeln wie „on vient", „on va" oder wie „il y a", „de ca"; häufig verband er Orte und Geschichten auch einfach durch ein „item". Als „Ich" taucht er im Text nur an wenigen Stellen auf, etwa zur Beglaubigung einzelner Beschreibungen mit dem formelhaften „et ce fu voir par ce que je le voit", bei Gesprächen mit den Herrschern der fremden Länder und an wenigen narrativ gestalteten Erlebnispunkten, wie der Durchquerung des finsteren Tals. Dennoch war das Erzähler-"Ich" in Mandevilles Bericht nicht verzichtbar: Mandeville beschrieb zwar mit enzyklopädischem Anspruch, aber nicht in enzyklopädischer Manier. 396 Christiane Deluz, die neben Donald Howard in der jüngeren Forschung am entschiedensten die These vertreten hat, daß Mandeville keine „romance of travel" geschrieben habe, hat ihn in der Mitte zwischen Reiseberichten und enzyklopädisch-kosmologischen Werken angesiedelt, aus denen er eine neue Form der Weltbeschreibung kompiliert habe: „Ainsi, tant par le langage que par la composition, l'oeuvre de Mandeville semble se situer à mi-chemin entre les récits de voyage et de pèlerinage, qu'elle reprend, mais en s'éncartant de façon notable, et les Images du Monde qu'elle tente de renouveler. (...) Deux siècles plus tard, on parlera de Théâtre de l'Univers, de Cosmographie, avant d'oser trouver assez d'intérêt à notre terre pour en faire l'objet de la géographie." 397 Dabei unterschätzt sie freilich die Funktion der Pilgerschaft für die Weltbeschreibung: Mandevilles gelehrte Kompilation fungierte nicht als eine Aneignung und Zusammenfassung von Reiseberichten mit geographischkosmologischen Theorien, die er zu einer Kosmographie mit szientifischem Anspruch verband, sondern als eine Aneignung des Fremden und eine Narrativierung der Pilgerschaft, die nicht auf ein erfahrendes Subjekt verzichten konnte. Was Mandeville beschrieb, mußte er als Augenzeuge ebenso selbst gesehen haben wie die von Innozenz IV. ausgeschickten Gesandten, der von Ludwig IX. beauftragte spionierende Mönch, der franziskanische schreibende Missionar und der Gesandte des Großkhans: Die Kontakt395 396 397
Vgl. Christiane Deluz, Le Livre de Jehan de Mandeville, S. 34. Dagegen hat Donald Howard die These vertreten, Mandevilles Stil sei am ehesten mit den Enzyklopädien vergleichbar.Vgl. Donald R. Howard, The World of Mandeville's Travels, S. 2. Christiane Deluz, Le Livre de Jehan de Mandeville, S. 36f.
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systeme hatten Asien als einen riesigen Raum der Fremde erwiesen und beschrieben; Mandeville stellte, nachdem dieses Wissen mit Marco Polo bereits aus den Funktionsbedingungen der Kontaktsysteme herausgetreten war, dessen Relation zum Eigenen neu her, indem er selbst als ein Fremder fungierte, der die Fremde nicht beobachtete, um sie einordnen, begreifen und aneigenen zu können, sondern der sie schaute, um in ihrer deskriptiv-narrativen Aneignung die menschliche Identität als Pilger in der Welt bestimmen zu können. An dieser Identität partizipierten alle Menschen, alle waren unterwegs und auf der Suche, auch die Nicht-Christen, die die Fremde bevölkerten. Überall aber gab es auch Spuren und Zeichen des Christentums, denn die Apostel waren einst sehr viel weiter gelangt als die römische Kirche reichte. So betonte Mandeville, daß es in Indien, dem Land des Priesterkönigs Johannes, viele Christen gebe, die der ursprünglichen Lehre der Apostel anhingen: „II y a en sa terre moult de Crestiens et de bonne foy et de bonne loy, et mesmes de ceulz de son pays. Et tout communément les chappellains qui chantent la messe deuant lui font le sacrement de lautel de pain leue, ainsy comme font le Gries, mais il ne dient pas tant de choses ne de parolles a la messe comme on fait par deca. Car il ne dient seulement fors ce que Saint Thomas lapostre leur enseigna, si comme les apostres chantèrent la messe, en disant la Pater Nostre et les paroles dont le corps nostre Seigneur est sacre. Mais nous auons pluseurs addicions, que les papes ont depuis faites et adioustees en la messe, dont il ne sceuent riens."
Ob Mandeville damit den Bereich des Fremden zu einer proto-reformatorischen Kritik an der institutionalisierten römischen Kirche und an den Päpsten nutzte, die für ihn ganz offenkundig nicht mit der christianitas identisch waren, läßt sich eindeutig nicht erweisen, aber zweifellos präsentierte er die Fremde als den Raum, der zur Überprüfung des eigenen Standortes geeignet war, ohne daß bereits vorher das Ergebnis feststand. In seinem Gespräch mit dem ägyptischen Sultan konnte daher der muslimische Herrscher als derjenige auftreten, der erklärte, nicht wegen der militärischen Stärke der Sarazenen, sondern wegen ihrer eigenen Sündhaftigkeit hätten die Christen das Heilige Land verloren.399 Mandeville widersprach ihm nicht, sondern er fand, gestützt auf den Tractatus de Statu Sarracenorum Wilhelms von Tripolis, im muslimischen Glauben jene Anknüpfungspunkte, in denen die Frömmigkeit des Muslims ebenso als Erweis der göttlichen 398
399
ed. Letts (Paris-Text), S. 402. „In diesem Land gibt es viele Christen von gutem Glauben und und guten Gesetzen, insbesondere die aus seinem Land [dem des Priesterkönigs Johannes, MM]. Und ihre Priester singen die Messe und vollziehen das Sakrament mit Brot so wie die Griechen. Aber sie sagen nicht so viele Dinge und Worte wie man es hier tut. Denn sie sagen nur das, was sie der Apostel Thomas gelehrt hat und singen die Messe wie die Apostel und sagen das Pater Noster und das Sakrament auf. Aber wir haben sehr viele weitere Hinzufügungen, die die Päpste gemacht und der Messe hinzugefugt haben, von denen sie nichts wissen." Auch die CottonVersion hat diese Passage (vgl. ed. Seymour, S. 232) aber sie nennt neben dem Apostel Thomas auch noch den Apostel Petrus und entschärft so den problematischen Charakter der Hinzufügungen durch die Inhaber des Stuhles Petri, indem sie den Apostel Petri einbezieht. Michel Velser hat von der ganzen Passage nur den ersten Satz übersetzt: „Item ir soellend wissen das guot cristen sind in sinem land und begond die mesß als die Kriechen mit erhabem brott" (ed. Morrall, S. 170). Den springenden Punkt der Passage hat er ausgelassen. Vgl. ed. Letts, S. 305.
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Wahrheit gelten konnte wie der christliche Glaube, auch wenn beide auf einer hierarchischen Stufenleiter angesiedelt blieben, wie in Roger Bacons Religionsschema, das den Rang des christlichen Glauben unangetastet ließ - wenn er wahrhaftig gelebt wurde. 400 Mandeville rückte damit auch theoretisch in die Nähe der Missionstraktate, deren Verständnis der Pilgerschaft des Missionars seiner Beschreibung der Pilgerschaft ohnehin sehr nah kam. Mandevilles vielgerühmte „Toleranz" wie auch seine differenzierte Unterscheidung von Religionen resultiert nicht zuletzt aus seiner Rezeption von Missionstraktaten, die, wie ich oben gezeigt habe, die Welt längst nicht mehr nur in Christen und Heiden aufspaltete. 401 Mandevilles Text bot damit zugleich vielfaltigste Möglichkeiten der Aneignung, von denen seine Überlieferung ähnlich deutlich geprägt ist, wie Marco Polos Bericht. Die etwa 280 Handschriften und mehreren Frühdrucke seines Berichts unterteilen sich in fünf große Handschriftengruppen, die wiederum in mehrere Untergruppen untergliedert werden können. 402 Prinzipiell unterscheidet man in der Forschung fünf Handschriftengruppen: die französischsprachigen Handschriften, die englischen Versionen, die lateinischen Übersetzungen, die deutschen und niederländischen Versionen sowie die weiteren Übersetzungen in mehrere europäische Nationalsprachen, zwischen denen es aber vielfaltige Überschneidungen und Wechselbeziehungen gibt, so daß die Einteilungen nach den Überlieferungssprachen nur erste Anhaltspunkte für die Einordnung der Textzeugen bieten kann. Ähnlich wie bei Marco Polo gilt auch hier, daß die Unterteilung in Handschriftengruppen nur eine ungefähre Einschätzung der jeweiligen Textgestalt erlaubt, denn in allen Handschriften haben Redaktoren, Übersetzer und Schreiber fortwährend in den Text eingegriffen, wobei Interpolationen und Umstellungen der Textfolge eher die Regel als die Ausnahme sind. Die erste Gruppe bilden die französischsprachigen Manuskripte, die sowohl in England als auch in Frankreich überliefert sind, und nach allgemeiner Überzeugung der Forschung der ursprünglichen Textgestalt am nächsten stehen. Sie unterteilen sich in
400 401
402
Vgl. Eric John Morrall, Der Islam und Muhammed im späten Mittelalter. Das könnte auch seine antijudaischen Invektiven erklären, die Stephen Greenblatt (vgl. Marvelous Possessions, S. 50f.) so unerklärlich findet. In der Missionstheorie wurden die der christlichen Religion am nächsten stehenden Juden am negativsten gesehen, weil sie die Wahl gehabt hätten, sich für den Messias zu entscheiden. Die Verwendung eines Begriffs wie Toleranz ist in diesem Zusammenhang jedoch schlicht anachronistisch. Die handschriftliche Überlieferung wurde grundlegend von Josephine W. Bennett untersucht, die sich um die „Wiederentdeckung" des Textes sehr verdient gemacht hat, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts fast nur noch als uninteressantes Plagiat betrachtet wurde. Vgl. diess., The Rediscovery of Sir John Mandeville, Appendix I, S. 256-334. Ihre Untersuchung der handschriftlichen Tradition wurde ergänzt durch die Arbeiten Guy de Poercks (La tradition manuscrite des »Voyages« de Jean de Mandeville), der ihre Überlegungen in einem Element wesentlich korrigierte: Während Josephine Waters Bennett davon ausging, daß der Text in England entstanden sei, konnte de Poerck zeigen, daß er höchstwahrscheinlich auf dem Kotinent entstanden ist, weil eine Reihe der von Mandeville herangezogenen Quellen zum Zeitpunkt der Entstehung in England nicht vorgelegen hat. Vgl. dazu auch Michael C. Seymour, The Cotton Version of Mandeville's Travels, S. XIII.
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drei Untergruppen, die Kontinentale, die Insulare und die Lütticher Version. 403 Die französischsprachige Kontinentale Version, die heute als die ursprüngliche Version des Textes gilt, besteht aus 27 Handschriften, und gibt als Entstehungszeitpunkt des Berichts 1357 an; zu ihr gehört auch das älteste überlieferte Manuskript von 1371, das von Maurice Letts ediert worden ist. Die zweite Gruppe bilden die in England überlieferten französischsprachigen Handschriften, die von Josephine W. Bennett als Norman-FrenchGroup bezeichnet worden sind, jetzt jedoch im Anschluß an de Poerck als Insulare Version firmieren. Zu ihr gehören 23 der insgesamt 57 französischsprachigen Handschriften. 404 Die Insulare Version zeichnet sich gegenüber der Kontinentalen in erster Linie dadurch aus, daß sie einen Zusatz über die Klimata der Welt bietet und eine Reihe der stärker narrativ gestalteten Textelemente, wie die Schilderung des finsteren Tals, verkürzt wiedergibt. Eine Untergruppe der Kontinentalen Version bildet die Lütticher Version, die sich vor allem durch enge Bezüge zum Entstehungsort und eine Reihe von Interpolationen in den Text auszeichnet, die in keiner anderen französischen oder englischen Version zu finden sind. Die Interpolationen integrieren in erster Linie die Geschichte des karolingischen Helden Ogier le Danois in den Text, der auf seinen Eroberungszügen ähnlich wie Alexander der Große bis nach Indien gekommen sein soll. 405 Für die Autordiskussion hat diese mit 7 Handschriften kleine Untergruppe eine große Rolle gespielt, denn sie macht Angaben über die Entstehungsumstände des Berichts, die sich in keiner anderen Version finden. In den Lütticher Versionen wird Mandeville mit einem Arzt namens Jean de Bourgogne identifiziert, der nach seinen langen Reisen in Lüttich gelebt und den Bericht dort abgefaßt haben soll. 406 Die Lütticher Version schreibt Mandeville außerdem eine Reihe anderer Werke zu, wie einen Pesttraktat und ein lateinisches Lapidarium. Sie macht damit aus Mandeville am entschiedensten einen naturforschenden Arzt, obwohl sie andererseits durch die umfangreichen OgierInterpolationen, die stärker als Erzählzusammenhang gestaltet sind als die Textteile, die
403
Diese Bezeichnungen folgen dem Vorschlag Guy de Poercks, der sich in der Forschung allgemein durchgesetzt hat. Josephine W. Bennett hatte die französischsprachigen Handschriften in die Paris-French-Group (=Kontinental), die Normann-French-Group (= Insular) und die LiegeGroup unterteilt. Vgl. The Rediscovery, S. 135-146. Vgl. auch Luc Schepens, Quelques observations sur la tradition manuscrite du Voyage de Mandeville.
404
Vgl. Michael C. Seymour, The Scribal Tradition of Mandeville's Travels: The Insular Version, sowie Luc Schepens, Quelques observations sur la tradition manuscrite, der Seymours Überlegungen in einigen Punkten korrigiert hat. Vgl. hierzu Klaus Ridder, Jean de Mandevilles »Reisen«, S. 156-159. Vgl. ibid., S. 147-155. Ridder geht auch auf die Fragen der Autordiskussion ein (vgl. S. 1 5 1 156), die ich gänzlich beiseite lasse. Ähnlich wie Christane Deluz (vgl. Le Livre de Jehan de Mandeville, S. 3 - 2 4 ) bin ich der Auffassung, daß die Autordiskussion, die die Forschung lange Zeit beherrscht hat, letztlich keine weitere Erkenntnis über den Bericht vermittelt, sondern in dem Bemühen um eine eindeutige Zuschreibung eher einem an der Autorsubjektivität orientierten interpretatorischen Zugriff orientiert ist, als daß sie entscheidende Erkenntnisse über den Bericht zu vermitteln vermag. Ähnliche Positionen vertreten Stephen Greenblatt (Marvelous Possessions, S. 33f.) sowie Iain Higgins (Imagening Christendom, S. 95f.).
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sich auf Alexander den Großen beziehen, als die Version gilt, die den Bericht am deutlichsten „literarisiert". 407 Die zweite Gruppe bilden die englischen Manuskripte, die sich nach den Namen der jeweiligen Leithandschriften in die Cotton-Version, die Egerton-Version, die BodleyVersion und den von Pynson edierten Frühdruck unterteilen. In einem Teil der englischen Versionen, wie etwa der Bodley-Version, wird der Bericht deutlich gekürzt und umgestellt, wobei insbesondere die Umstellung der Reihenfolge zwischen der Schilderung der Reiche des Priesterkönigs Johannes und des mongolischen Großkhans bedeutsam ist: Während in der Kontinentalen Version das Reich des Priesterkönigs Johannes mit seinen Wundern den Höhepunkt und Schluß des Berichts bildet, ist hier der mongolische Großkhan an diese Stelle getreten. 408 Die englischen Versionen bemühen sich aber nicht zuletzt auch um die Nationalisierung des Autors, der dafür mit seiner Behauptung, in St. Albans aufgewachsen und von England aus zu seiner Reise aufgebrochen zu sein, hinreichend Anknüpfungspunkte bot. In der Cotton-Version etwa erklärt Mandeville, er habe sein Buch Lateinisch verfaßt und es dann selbst ins Englische übersetzt, „that every man of my nation may understand it". 409 Die lateinischen Übersetzungen bilden schließlich die dritte Gruppe der handschriftlichen Überlieferung. Diese Gruppe ist jedoch ebenfalls nicht einheitlich, denn während ein großer Teil der insbesondere in England überlieferten Handschriften auf der Insularen Version basiert, die sich häufig aber als lateinische Originalfassung präsentieren, beruht die sog. Vulgata-Version auf der Lütticher Version des französischen Textes. 410 Die größte und mittlerweile am besten erforschte Gruppe der überlieferten MandevilleHandschriften bilden die mittelhochdeutschen Übersetzungen Michel Velsers (38 Mss.) und Ottos von Diemeringen (ebenfalls 38 Mss.).Während die Velsersche Übersetzung auf einer französischen Handschschrifit der Kontinentalen Version beruht, geht Otto von Diemeringens Übersetzung auf die Lütticher Version zurück. 411 Beide mittelhochdeut-
407
Als Arzt und Naturforscher wird in manchen späten Versionen seines Berichts auch Marco Polo beschrieben. Vgl. ed. Bededetto, S. CXLII. Vgl. allgemein zur Bedeutung des Arztes als Welterforscher im späten Mittelalter Hannes Kästner, Der Arzt und die Kosmographie.
408
Vgl. The Bodley Version o f Mandevilles Travels, ed. by Michael Seymour, bes. S. XHIf. (Einleitung), sowie S. 129ff.
409
Mandeville's Travels, ed. Seymour, S. 4. Diese Behauptung ist bereits von George Warner (vgl. The Buke of Sir John Mandeville, S. X X X I V ) widerlegt worden. Wichtig ist jedoch nicht, daß die Angabe falsch ist, sondern daß sie von der Aneignung des Autors zeugt. Zu den lateinischen Übersetzungen der Insularen Versoin vgl. Michael Seymour, The scribal Tradition o f Mandeville's Travels; zur Vulgata-Version und ihren Bearbeitungstendenzen vgl. Klaus Ridder, Jean de Mandevills »Reisen«, S. 164-178.
410
411
Die Velsersche Übersetzung liegt in der hervorragend aufbereiteten Ausgabe von Eric John Morral vor, der die handschriftliche Überlieferung in der Einleitung eingehend beschreibt. Vgl. Sir John Mandevilles Reisebeschreibung, S. XXVIII-CXIX. Otto von Diemeringens Übersetzung ist dagegen nur in der von Ernst Bremer und Klaus Ridder (Jean de Mandeville, Reisen) herausgegebenen Faksimile-Ausgabe eines Baseler Frühdruckes greifbar, die daneben noch einen bei Anton Sorg erschienen Frühdruck der Velserschen Übersetzung bietet. Die Überlieferungsgeschichte der Diemeringen-Übersetzung und deren Bearbeitungstendenzen ist dagegen mit Klaus
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sehe Übersetzungen, insbesondere aber die Ottos von Diemeringen, wurden in einen entstehenden literarischen Markt „hineinproduziert", in dem Reiseberichte, die lehrhaftes und erbauliches miteinander verknüpften, wie wenige andere Textsorten geeignet waren, Weitläufigkeit, Kenntnisreichtum und Frömmigkeit zu repräsentieren. Neben diesen großen Handschriftengruppen gibt es, wie im Falle Marco Polos, Übersetzungen in nahezu alle europäischen Nationalsprachen, die von der Aneignung der Welt durch die Aneignung ihrer Beschreibung zeugen. In allen diesen Versionen bildete Mandevilles abgeschriebene und umgeschriebene Weltbeschreibung die Grundlage für weitere Interpolationen, Umstellungen, Erörterungen und Beschreibungen, denen er seinen Namen lieh. Wenn Mandeville log, dann taten es auch alle diejenigen, die seinen Text überlieferten, denn sie setzten fort, was Mandeville begonnen hatte: Die Aneignung der Welt unter dem Namen eines Augenzeugen, dessen Körper so unabgeschlossen war wie sein Text und dessen Augen, von denen die frühe Forschung mit so großer Empörung registriert hatte, daß sie überhaupt nichts gesehen hätten, immer mehr gesehen und durch sein „ich habe es selbst gesehen" beglaubigten hatten. 412 Darin unterscheidet sich Mandeville nicht von Marco Polo, der ebenfalls nur als angeeigneter Autor zu dem Reisenden werden konnte, der sich die Welt angeeignet hat. Während aber bei Marco Polo die Interessen der einzelnen Kontaktsysteme noch relativ deutlich ablesbar sind, trat mit Mandeville das Wissen über den Osten völlig aus den Kontaktsystemen heraus und wurde zu einer Form der Weltaneignung, in der nicht bestimmte Gruppen das Wissen über die Fremde für sich zu monopolisieren suchten, sondern in dem das Wissen über die Fremde zu einer Form des Selbstbezugs geworden war. Was Mandevilles Bericht repräsentierte war nicht mehr nur ein Wissen über Fremdes, dem große Bedeutsamkeit für die eigene Stellung in der Welt zugemessen wurde, sondern eine Form der Selbstvergewisserung, in der das Fremde vom Eigenen nicht mehr zu trennen war, weil der Reisende sich selbst in einen Fremden verwandelte, dem das Eigene überall begegnen und fremd werden und das Fremde überall vertraut werden konnte.
Ridders gründlicher Studie (Jean de Mandevilles »Reisen«) jetzt ebenfalls gründlich aufgearbeitet. 412
Zur Art des Umgangs mit dem Text und den Wandlungen des Autors vgl. den sehr instruktiven Aufsatz von C. W. Moseley, The Metamorphoses of Sir John Mandeville.
II. Paradigmen der Fremdbeschreibung
1. Modi der Fremderfahrung Bisher war die Rede von Kontaktsystemen und vom Zugang ihrer Mitglieder zum Diskurs über die Fremde als einem Feld seriöser Sprechakte. Dabei ist deutlich geworden, daß die verschiedenen Berichte sich in Bezug auf die Kulturkontaktsysteme, denen sie zum großen Teil ihre Entstehung verdanken, nicht unerheblich voneinander unterscheiden. Das Kulturkontaktsystem der Gesandten wurde eingesetzt, um eine Beschreibung der Fremden zu leisten, die in hohem Maße für die Wahrnehmung des eigenen Standortes bedeutsam war: Die Gesandten mußten in die Fremde gehen, um den Status der Fremden innerhalb der eschatologisch gedachten Geschichte zu bestimmen und damit die eigenen Zukunftserwartungen zu ergründen. Die Kaufleute dagegen bewegten sich und agierten in der Fremde, ohne sich oder anderen Rechenschaft über den Status der Fremden abzulegen, sie bestimmten die Fremde nicht im Verhältnis zu sich selbst, sondern nutzten sie, um Gewinne zu erzielen oder zu maximieren. Langer Aufenthalt und Agieren innerhalb der Fremde kennzeichnet auch das Kontaktsystem der Mission: Während die Gesandten, die sich relativ kurz zum Zweck der Informationsgewinnung in der Fremde aufhielten, mit der kategorialen Erfassung der Tartaren die Voraussetzungen für deren Einordnung in die Heilsgeschichte schufen, ging das Kontaktsystem der Mission bereits von dieser Einordnung aus und setzte die Fremden in eine funktionale Beziehung zu sich selbst. Daraus resultierte ein äußerst komplexes Verhältnis zur Fremde und den Fremden: Einerseits sollten die Fremden bekehrt und damit eingegliedert werden, andererseits aber sollten sie als Fremde die Überzeugungskraft der christlichen Wahrheit belegen. Dazu genügte die Mitteilung von Missionserfolgen nicht; vielmehr mußte die Fremde beschrieben werden, um die Länder und Orte der Mission im kollektiven Gedächtnis sowohl der mit der Missionsaufgabe betrauten Mendikantenorden als auch der Laien zu verankern. Die Mission näherte sich damit einer Aneignung der Fremde, deren zentrale Funktion gerade in ihrer Beschreibung bestand: Für die Repräsentation der missionarischen Aufgabe war es wichtig, einen Raum des Fremden zu errichten, dessen Divergenz den Wert der Aufgabe erfahrbar machte. Von den Funktionsbestimmungen der Kontaktsysteme löste sich die Beschreibung der Fremde aber zunehmend ab und wurde zu einem Wert an sich. Die Beschreibung der Fremde signalisierte eine Verfügung über den Zugang zur Welt, dessen Exklusivität durch die Beschreibung sinnfällig gemacht werden konnte. Das mochte in der Zeit der Furcht vor den mongolischen Eroberungszügen noch keine repräsentative Relevanz
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haben, aber mit dem Ende dieser Bedrohung konnten die Mongolen in einen Raum der Repräsentativität übergehen, in dem das Wissen über die Mongolen nur noch als Herrschaftswissen im Sinne der Verfugung über außergewöhnliches Wissen fungierte. Die Verfugung über eine Beschreibung, über ein Buch oder einen Berichterstatter war daher gleichbedeutend mit der Teilhabe an einem Wissen, das durch seine Exklusivität die Exklusivität des Teilhabenden belegte. In welcher Relation das Fremde damit zur eigenen Kultur gedacht wurde, war damit noch keineswegs festgelegt. Als Unvertrautes war das Fremde grundsätzlich offen für unterschiedliche Formen der Zuschreibung und die sich damit ergebenden Relationierungen gegenüber dem Eigenen. Häufig jedoch, so etwa bei Paul Zumthor, ist die Identifikation von fremd und anders als ein Spezifikum der mittelalterlichen Wahrnehmung des Fremden begriffen worden: „Foncièrement, 1'»autre« est tel par suite de l'alterité de l'espace où il existe. Rien, dans la mentalité des voyageurs médiévaux, ne distingue clairement l'autre et Tailleurs. Cependant, des perceptions différentes interviennent et rendent plus complexe cette relation: du proche, touchant Y ici, se distingue le lointain, qui ne peut être qu'ailleurs. L'ailleurs nie Y ici. Il menace d'abolir le proche, il semble lui refuser le droit d'exister et ériger en norme - effroyable - le lointain."' Diese eindeutige Festlegung von Fremdheit auf Andersheit scheint mir jedoch auch im Hinblick auf das Mittelalter fragwürdig zu sein: Das Fremde zeichnet sich zweifellos durch eine strukturelle Nähe zum Anderen aus, aber es ist deshalb doch nicht damit identisch. Nicht alles, was anders ist, ist fremd, und nicht alles, was fremd ist, ist anders. Was das Fremde dem Anderen annähert ist die zwischen zwischen eigen und fremd gezogene Grenze, weil auch in der binären Entgegensetzung von gleich und anders eine Grenze besteht; was es vom Anderen unterscheidet, ist die Tatsache, daß die Grenze zwischen eigen und fremd nicht klar definiert ist, weil das Fremde stets außerhalb des Bereichs habitualisierten Wissens angesiedelt ist. Die Bezeichnung von Personen, Gruppen oder Kulturen als fremd geht zwar häufig mit einer vermuteten Andersheit einher, aber eben nicht im Sinne einer Gewißheit, die eine so eindeutige Identifikation zulassen würde. Was fremd ist, kann also anders, aber es muß nicht anders sein. Im Vergleich zum Wissen über den Anderen zeichnet sich Wissen über das Fremde dadurch aus, das in ihm die Unvertrautheit thematisch wird, und es seine besondere Relevanz daher erst durch die Beschreibung gewinnt. Das Fehlen von Wissen muß, spätestens dort, wo es durch die Konfrontation mit dem Fremden unausweichlich erfahrbar geworden ist, durch die Deskription des Fremden „wegerzählt" werden. Beschreiben und erzählen bilden somit eine spezifische Form der Konstitution wie auch der Aneignung des Fremden. Insofern ist fremd ist keine Spielart des Anderen, so wie anders keine Spielart des Frem1
Paul Zumthor, La Mesure du monde, S. 259. Ähnlich hat auch Peter J. Brenner kulturelle Unvertrautheit in erster Linie als Andersartigkeit beschrieben, wobei er jedoch nicht vom Begriff des Fremden, sondern von dem des Anderen ausgegangen ist: „Nicht alles, was unvertraut ist, muß darum auch schon in einem kulturtheoretisch relevanten Sinne als »fremd« erscheinen. Eine einfache Abweichung vom Bekannten reicht nicht aus, um etwas schon als kulturell fremd darzustellen. Die Andersartigkeit wird erst konstituiert durch Komplettierungen, durch die sich das eigentlich nur fragmentarisch Andere zu einem geschlossenen System fugt" (Peter J. Brenner, Die Erfahrung der Fremde, S. 15).
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den ist, sondern fremd ist das, was jenseits der Grenze angesiedelt sind, bis zu der man weiß, wer gleich und wer anders ist. Um das Fremde zur Erscheinung zu bringen, muß daher sowohl die Grenze zwischen eigen und fremd errichtet als auch durch die Beschreibung überschritten werden; überschritten freilich nicht in dem Sinne, daß die Grenze eingerissen, sondern in dem Sinne, daß ihr „Jenseits" repräsentiert wird. Das wird besonders deutlich wenn man eine Äußerung Wilhelms von Rubruk betrachtet, in der die spezifische Relation von anders und fremd thematisiert wird. Als er von Konstantinopel aus nach zweimonatiger Reise schließlich auf die ersten Tartaren gestoßen sei, so schrieb Wilhelm auf den ersten Seiten seines Berichts an den französischen König, „visum fuit michi recte quod ingrederer quoddam aliud seculum".2 „Aliud seculum" bezeichnet hier nicht ein anderes Zeitalter, sondern eine „andere Welt", eine Welt, die innerhalb des göttlichen ordo der geschöpflichen Welt, aber außerhalb des christlichen ordo des Abendlandes steht und als der Bereich des Fremden erscheint, das zu begreifen es ebensowohl eines geschulten Blicks und Festigkeit im Glauben wie genauer Beobachtung bedarf. Bezeichnet der Begriff der „anderen Welt" im engeren Sinne ein Jenseits, in das man zu jeder Zeit und an jedem Ort geraten kann, das aber nicht mehr Teil dieser Welt ist, so umfaßt er im weiteren Sinne einen zwar zur diesseitigen Welt gehörigen Teil derselben, der aber jenseits der Grenzen seiner religiösen wie seiner sozialen Ordnung liegt.3 In der Formulierung „visum fuit michi quod ingrederer quoddam aliud seculum", „mir war als ob ich in eine andere Welt gekommen wäre", fungiert der metaphorisch gebrauchte Verweis auf die andere Welt als Ausdruck extremer Befremdlichkeit, die durch das „als ob" aber deutlich relativiert wird, denn die Kultur der aufgesuchten Tartaren erscheint eben nur, „als ob" sie eine andere Welt wäre. Die Äußerung vermittelt seinen ersten, spontanen Eindruck und ist keine Kennzeichnung der Fremden, sondern Ausdruck der eigenen Befremdetheit. Sie errichtet durch die Kennzeichnung der eigenen Befremdetheit zunächst eine Grenze des Fremden, um sogleich anzuschließen, „quorum vitam et morem vobis describo prout possum".4 Die anschließende Beschreibung der Mongolen und ihrer Kultur dient genau dazu, dieses „als ob ich in eine andere Welt gekommen wäre" wegzuerzählen, indem sie die andere Welt als eine fremde Kultur beschreibt, deren Regeln fremd, aber nicht völlig anders sind. Durch die Beschreibung und das Bemühen um Verstehen wird aber niemals Vertrautheit erreicht, insofern Vertrautheit habituelles Wissen impliziert.5 Hier liegt vielleicht eine der größten Differenzen zwischen dem Kontaktsystem der Kaufleute und den übrigen Kontaktsystemen: Möglicherweise verfügten gerade Fernhandelskaufleute über habitualisiertes Wissen über die Fremde, aber das war eben genau jenes Wissen, das 2 3
4 5
ed Wyngaert, S. 171. „Mir war, als ob ich in eine andere Welt gekommen wäre." Zum Begriff der „anderen Welt" sowie seiner Verwendung im engeren Sinne in der höfischen Epik vgl. Claude Lecouteux, Zur anderen Welt, in: Wolf-Dieter Lange (Hrsg.), Diesseits- und Jenseitsreisen im Mittelalter. Voyages dans l'ici-bas et dans l'au-delà au moyen âge, Bonn 1992, S. 79-89; zur Begriffsklärung insbesondere S. 79ff. ed. Wyngaert, S. 171. „..., deren Lebensweise und deren Sitten ich Euch, so gut ich es vermag, beschreiben will." Zum Begriff des habitualisierten Wissens vgl. Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1974, bes. S. 126f.
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nicht verschriftlicht wurde. Vermutlich hatten solche Kaufleute im Umgang mit den Fremden so viel Routine entwickelt, daß sie keine Beschreibung benötigten. Beschrieben wurde nicht das Vertraute, sondern das Unvertraute. Das Fremde zeichnet sich also weniger durch Andersheit als durch Distanz aus. Den Distanzbegriff hat denn auch Jürgen Osterhammel verwendet, um den Begriff der Fremde zu umschreiben. Ein Vorzug des Distanzbegriffes besteht darin, daß er räumliche und zeitliche ebenso wie soziale und kulturelle Abstände zu erfassen vermag und sich weniger für die Identifizierung mit dem Begriff des Anderen anbietet.6 Osterhammel beschreibt das Fremde als „kategoriale Prägung der Distanzerfahrung", d. h. das Fremde wird hier ebenso zuschreibend (i. S. des Sprechens über andere, insofern fremd immer eine Fremdzuschreibung ist) wie zuordnend (wer oder was fällt unter diese Kategorie) begriffen, aber darin zunächst weder positiv noch negativ besetzt oder auf die Kategorie der Andersheit festgelegt - die Untersuchung wie der Begriff des Fremden je besetzt ist, wäre dann erst in einem weiteren Schritt zu leisten. Osterhammel fordert daher, „neben - und vielleicht vor - die Untersuchung der 'Bilder', die sich Individuen, wissenssoziologisch bestimmbare Trägerschichten oder geschlossene Kollektive von anderen Zivilisationen machen, muß eine Geschichte des Begreifens treten, nicht der abbildenden Perzeption, sondern Humesch geprochen, der produktiven Leistung der Einbildungskraft."7 „'Bilder' des Fremden 'entstehen' nicht in der unmittelbaren Gegenüberstellung des individuellen Beobachters und des reinen Objekts seiner Beobachtung. Sie werden kulturell produziert."8 Das heißt andererseits auch, daß mit den Bildern oder der Beschreibung des Fremden, d. h. dem Versuch, das Fremde zu verstehen, das Fremde nicht verschwindet. Die Aneignung von Wissen über die/das Fremde ist daher nicht gleichzusetzen mit der Aneignung des Fremden i. S. Sinne seiner Auflösung. Sofern das Bemühen um Verstehen in die Deskription mündet, beseitigt es gerade nicht die Fremdheit, sondern bekräftigt sie, denn das, was das Bemühen um Verstehen ausmacht, ist eben das, was auch die Fremdheit ausmacht. Fremdheit aber wird durch die Beschreibung nicht überwunden, sondern auf eine höhere Ebene expliziten Wissens gehoben. Die Aneignung der Fremde durch die Repräsentation von Wissen über die Fremde bildet nämlich nur die eine Seite der Auseinandersetzung mit dem Fremden. Die Beschreibung des Fremden zieht andererseits Grenzen und gehört insofern zu den Kulturabgrenzungspraktiken. Schon die Beschreibung selbst, die nur von denen geleistet werden kann, die sich nicht völlig an die fremde Umgebung akkomodiert haben, signalisiert eine Distanz zum Beschriebenen. Die Orientberichte dienten daher nicht in erster Linie dazu, die Fremdheit zwischen den Kulturen zu überwinden, sondern sie darzustellen. Um Fremdes auch für jene erfahrbar zu machen, denen eigene Erfahrung fehlte, mußten die Berichte das Fremde deshalb immer als Fremdes kenntlich machen. Als Innozenz IV. seine Gesandten aussandte, tat er das, weil man nicht wußte, wer die plötzlich aufgetauchten Fremden waren, und sie nicht verstehen und einordnen konnte. Das Ziel der Operation war jedoch nicht, ihre Fremdheit aufzuheben, sondern zu klären, wie die Fremden einzuschätzen waren. Nach der Frage, was 6 7
Vgl. Jürgen Osterhammel, Distanzerfahrung. Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert. ibid., S. 40f.
8
ibid., S. 21.
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unter fremd zu verstehen ist, erhebt sich daher als nächstes die Frage, wie das Fremde begriffen werden kann, das heißt, wie die Relation zum Eigenen bestimmt wird. Dem Mittelalter wird in der Regel attestiert, das Fremde nur im Sinne einer ausschließenden Gegenbildlichkeit begriffen zu haben. So beschreibt Harry Kühnel im Anschluß an die Überlegungen Peter Brenners als allgemeinen Forschungsstand der Mediävistik, daß im Mittelalter das Fremde prinzipiell als Gegenbild zum Eigenen gedacht worden sei: „Übereinstimmung herrscht darüber, daß der fundamentale Gegensatz von 'Eigenem' und 'Fremdem' von der Antike bis zum Mittelalter sich 'als eine starre soziale, kulturelle und vor allem auch religiöse Entgegensetzung' manifestiert."9 Diese starre Entgegensetzung führte nach Kühneis Überzeugung im Mittelalter zur prinzipiellen Abwertung der Fremden: „Das ethnozentrische Weltbild, das dem Mittelalter eigen war, tendierte dahin, 'alle nicht zum eigenen Kulturkreis zählenden Menschen abzuwerten'. Die Mitglieder dieser Gesellschaft nahmen ihre eigene Kulturform absolut."10 Sowohl in ihrer totalisierenden Epochensicht als auch in ihrem dichotomisierenden Zugriff ist diese Einschätzung unangemessen: Weder kennt das Mittelalter eine für den unter dem Epochenbegriff gefaßten gesamten Zeitraum gültige Festlegung des Fremden, noch lassen sich die unterschiedlichen Fremd-Zuschreibungen allesamt als negativ besetztes Gegenbild zum christlichen ordo beschreiben. Betrachtet man den zentralen Begriff für die Beschreibung der Fremde, nämlich den Begriff des mirabile, der in den Orientberichten immer wieder auftaucht, so wird vielmehr deutlich, daß das Fremde jenseits aller binären Schemata wahrgenommen wurde. Wo das Fremde beschrieben wurde, waren die Begriffe mirabilialmirabile mit den unterschiedlichsten Bezugspunkten immer wiederkehrende Ausdrücke der Beschreibung. Als Bezeichnung des Unvertrauten und des Erstaunens darüber hielt der Begriff des Wunderbaren das Fremde in der Schwebe zwischen dem Wahrnehmen und dem Beurteilen und damit jenseits aller binären Schemata." Mirabilis ist alles, was unerklärlich erscheint, was im Wortsinne merkwürdig und bemerkenswert ist, weil es nur beschrieben, aber nicht erklärt werden kann. In dieser Weise deutet etwa Gervasius von Tilbury in seinen Otia Imperialia den Begriff: „Mirabilia vero dicimus quae nostrae cognitioni non subiacent etiam cum sint naturalia."
12
In der Fremde als dem Raum des Unvertrauten, in dem die schlechthinnige Gewißheit der Alltagswelt ihre Gültigkeit verlor, fanden sich deshalb besonders viele mirabilia, die sich der unmittelbaren Erklärbarkeit entzogen und nur darüber bezeichnet werden konnten, daß sie unerklärlich schienen. Wunder (miraculum) und Wunderbares (imirabilia) sind damit freilich nicht identisch: Während es sich bei einem miraculum um einen un9
Harry Kühnel, Das Fremde und das Eigene: Mittelalter, S. 415, mit Zitat aus Brenner, Die Erfahrung der Fremde, S. 19.
10 11
ibid., S. 418, mit Zitat aus Karlheinz Ohle, Das Ich und das Andere, S. 94. Zur Relation zwischen miraculum und mirabile vgl. auch Lorraine Daston und Katharine Park, Wonders and the Order of Nature, bes. S. 121 f. Daston und Park begreifen mirabilium als intermediäre Kategorie zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen.
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Zit. nach: Jacques Le Goff, Phantasie und Realität des Mittelalters, S. 50. „Mirabilia nennen wir jene Dinge, die nicht unserem Verständnis zugänglich sind, obwohl sie natürlich sind."
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mittelbaren Eingriff Gottes in die Natur als kurzfristig-punktuelle Außerkraftsetzung der Naturgesetze handelt, sind mirabilia solche Gegenstände, die sich dem unmittelbaren Nachvollzug durch den menschlichen Verstand entziehen. Das miraculum bezeugt die unmittelbare Anwesenheit Gottes, während das mirabile die Undurchdringlichkeit seines Schöpfungsplanes belegt - „a Domine factum est istud/ hoc est mirabile in oculis nostris", wie es in Psalm 117,23 der Vulgata heißt.13 Die phonemische wie semantische Nähe von miraculum und mirabilia begründet sich darin, daß beide nicht vollständig erklärbar sind, weil sie den menschlichen Verstand übersteigen. Während das miraculum aber immer ein Ereignis ist, kann mirabile (wunderbar) alles mögliche sein: Naturerscheinungen, Pflanzen, Tiere, von Menschenhand gemachte Gegenstände, Verhaltensweisen und Ereignisse - eben alles, was den Bereich des Vertrauten überschreitet. Es ist deshalb von zentraler Bedeutung, zwischen dem mirabile und dem miraculum, zwischen dem Wunderbaren und dem Wunder zu unterscheiden, denn während das miraculum, das Wunder einen unmittelbaren Eingriff Gottes in die Natur bezeichnet, der sich überall ereignen kann, wird mit dem mirabile, jenes durchaus dem Plan des Schöpfers Entsprechende bezeichnet, das die Begrenztheit des eigenen Wissens verdeutlicht.14 Beides wird in den Reiseberichten deutlich auseinandergehalten: Das Wunder von Thana beschrieb Odorico als ein miraculum, weil Gott hier unmittelbar in den Ablauf der Naturgesetze eingegriffen hat, während viele Dinge, die er auf seiner Reise gesehen hatte, mirabilia waren, Gegenstände also, die er als unvertraut kennzeichnen wollte, um darin sein eigenes Staunen zu symbolisieren wie das des Lesers zu evozieren. Wohl kein Begriff belegt deutlicher als dieser, daß das Fremde nicht im Sinne einer bestimmten Entgegensetzung gedacht wurde, sondern als der Raum des Unvertrauten, das gerade nicht festlegbar war. Wenn das Fremde in den spätmittelalterlichen Orientberichten nicht als negativer Gegensatz des Eigenen begriffen wurde, erhebt sich die Frage, in welcher Weise es in Relation zur eigenen Lebenswelt gesehen werden konnte. Denn auch ohne Gegenbegriff kann das Fremde immer nur relational gedacht werden. Für sich genommen ist der Begriff des Fremden nämlich gar nicht zu bestimmen, fremd kann etwas nur in Relation zu etwas anderem sein. Fremd ist keine Eigenschaft von Personen oder Gegenständen, sondern eine Form des In-Beziehungsetzens. Um einen Gegenstand als fremd zu qualifizie13
14
Das Matthaeusevangelium nimmt diese Stelle wörtlich auf. Vgl. Mt. 21,42. Die Vulgata übersetzt hier den griechischen Text richtig, während die deutsche Einheitsübersetzung die Differenz von miraculum und mirabilium einebnet, wenn sie mit „das hat der Herr vollbracht,/vor unseren Augen geschah dieses Wunder" übersetzt (Ps. 118,23 nach der allgemeinen Zählung; die Vulgata hat eine andere Zählung). Luther übersetzt dagegen „das ist vom HERRN geschehen/ vnd ist ein Wunder für vnseren Augen", und deutlicher noch Zwingli, „von dem Herrn ist das gewirkt, es ist ein Wunder in unsern Augen". Auch in der modernen Übersetzung Jörg Zinks wird der Sinn von mirabilium sehr genau transportiert: „Das ist nach Gottes Willen geschehen und ist ein Wunder für unser Verständnis." Von daher scheint mir andererseits auch Jacques Le Goffs Einschätzung des mirabile als Überrest heidnisch-magischen Denkens, dem das christliche miraculum gegenübersteht, nicht zutreffend zu sein (vgl.ders., Phantasie und Realität des Mittelalters, S. 44f.) Nach Le Goffs Überzeugung versuchte die Kirche mit dem miraculum das mirabile zum Verschwinden zu bringen. Diese erstaunliche Fehleinschätzung beruht m. E. darauf, daß Le Goff mirabile in eine keineswegs selbstverständliche Nähe zu magicum rückt.
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ren bedarf es immer eines Vergleichspunktes, fremd kann etwas nur in Relation zu einem anderen sein, das nicht fremd ist. Nach Ortfried Schäffter 15 ist Fremdheit daher „keine Eigenschaft von Dingen oder Personen, sondern ein Beziehungsmodus, in dem wir externen Phänomenen begegnen". Dafür gibt er vier Modi möglicher Fremderfahrung an, die er vier systemspezifischen Ordnungsschemata zuordnet: 1. Fremdheit als Resonanzboden des Eigenen (Ordnungen transzendenter Ganzheit), 2. Fremdheit als Gegenbild (Ordnungen perfekter Volllkommenheit), 3. Fremdheit als Ergänzung (Ordnungskonzepte dynamischer Selbstveränderung), 4. Fremdheit als Komplementarität (Konzeptionen komplementärer Ordnung). Schäffter begreift diese Modi i. S. einer Phänomenologie der Fremdheit und fragt im Anschluß an Luhmann danach, auf welcher „Leitdifferenz" sich eine Ordnung herausbildet und welche Konsequenzen dies für den Modus der Fremderfahrung hat. Im ersten Modus erscheint Fremdheit als „abgetrennte Ursprünglichkeit", als ein „Spannungsverhältnis auf der Grundlage basaler Gemeinsamkeit". 16 „Fremdheit wird hier nicht als schroffe Entgegensetzung, sondern als 'Schwellenerfahrung' erlebbar." 17 Im zweiten Modus „erhält das Fremde den Charakter einer Negation der Eigenheit, und zwar im Sinne von gegenseitiger Unvereinbarkeit." 18 „Insofern gerät das Fremde zum Ausgegrenzten, das dem Eigenen 'wesensmäßig' nicht zugehörig ist und als Fremdkörper die Integrität der eigenen Ordnung zu stören und in Frage zu stellen droht. Jenseits dieser Grenze jedoch erfüllt es die Funktion eines signifikanten Kontrasts, der als Gegenbild gerade die Identität des Eigenen verstärken kann." 19 Die Stärke der hier implizierten dualen Entgegensetzung kann freilich ihre eigene Negation produzieren, wenn das Fremde zum „positiven Gegensatz einer negativ erlebten Eigenheit" umschlägt. Den dritten Modus ordnet Schäffter komplexeren Sinnsystemen zu, weil sich in ihnen die schematischen Deutungsmuster einer dualen Ordnung schwerer aufrechterhalten ließen. Sie sind durch „Assimilation und Akkomodation" (Piaget) gekennzeichnet, das Fremde erhält so die „Funktion eines externen Spielraumes", die Fremde wird zum Lernumfeld. 20 Fremderleben wird nach Schäffter hier weitgehend auf die Funktion der Informationsbeschaffung reduziert, wobei sich für das aneigende System möglicherweise die eigene Verarbeitungskapazität für Neues und Ungewohntes als Problem stelle. „Die zentrifugal nach außen drängenden 'Assimilationsgelüste' finden ihren Gegenpol in der zentripetalen Bewegung einer Sicherung der internen Verarbeitungsmöglichkeiten." 21 Im vierten Modus schließlich erscheinen Ordnungsstrukturen nicht mehr als ambivalent, sondern als polyvalent, insofern sie „komplementäre Ordnungen wechselseitiger Fremdheit" zulassen. „Praktischer Ausgangspunkt ist hierbei die unübersehbare Erfahrung, daß sich wirklich Fremdartiges auch beim besten Willen nicht verstehen läßt und daß die interne Verarbeitungsfähigkeit in Konfrontation mit immer zahlreicheren komplexen 15 16 17 18
Ortfried ibid., S. ibid., S. ibid., S.
Schäffter, Modi des Fremderlebens, S. 13. 16. 17. 19.
19 20 21
ibid., S. 21. Vgl. ibid., S. 23. ibid., S. 24.
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Außenbereichen schnell überfordert wird." 22 Fremdheit erscheint in diesem Fall als gegenseitige Fremdheit und mündet daher in die Anerkennung der gegenseitigen Differenz, weil man sich der eigenen Perspektivität bewußt bleibt. Mit diesen vier Modi möglicher Fremderfahrung umgreift Schäffter m. E. relativ umfassend die definitorischen Möglichkeiten der Relationalität des Fremden. Indem er sie freilich unterschiedlichen Ordnungssystemen zuordnet, erscheinen sie als einander wechselseitig ausschließend, insofern sie einer je anderen Ordnung zugeordnet werden. Das aber läßt sich m. E. an den spätmittelalterlichen Reiseberichten über den Fernen Osten so gerade nicht zeigen; vielmehr lassen sich in ihnen, wie ich bereits an einigen Punkten zu zeigen versucht habe, alle vier Modi mehrfach und quer durch die Texte hindurch auffinden.
Die Rhetorik der Fremdbeschreibung Als Beschreibende blieben die Reisenden, auch wenn sie sich innerhalb semiinstitutionalisierter Kontaktsysteme bewegten, Einzelne, deren Beobachtungen von den Beobachtungen eines Einzelnen in eine Beschreibung überfuhrt werden mußten, die einerseits nachvollziehbar war und andererseits eine gewisse Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen konnte. Das gilt insbesondere für die Gesandten: Wer ausgesandt wurde, um Wissen über die Fremden zu sammeln, sollte ja nicht kontingente Erlebnisse mitteilen, sondern Charakteristika übermitteln, die aufzeigten, was die Fremden auszeichnete. Die Einschränkung war hierbei nicht, was man beschreiben konnte, sondern wie man beschreiben mußte, um Schlußfolgerungen zu ermöglichen. Ähnliches gilt aber auch für die Berichte, die ohne einen gezielten Auftrag entstanden; auch sie mußten, um einen Raum des Fremden auszuweisen, die Relation zwischen eigen und fremd sprachlich vermitteln. Gerade das aber stellte besondere Anforderungen, denn die Beschreibung mußte einerseits gerade das evozieren, was das Fremde als Fremdes auszeichnete, andererseits aber mußte sie es nachvollziehbar und damit einordenbar machen. Hierzu bedurfte es in erster Linie des Rekurses auf das, was den potentiellen Lesern der Berichte vertraut war. Die Beschreibung des Fremden war von daher ein notwendig paradoxes Unterfangen: Das Fremde sollte beschrieben werden, weil und insofern es fremd war; da es aber fremd war, konnte es nur beschrieben werden durch den Rekurs auf das, was nicht fremd war. Die Relation zu etwas, das nicht fremd war, und damit das Fremde erst zum Fremden machte, bildete daher auch die Grundlage seiner Beschreibung, sie linderte die Not der Beschreibung, indem sie das Mittel des Vergleichs zur Verfügung stellte. 23 In allen Berichten findet sich daher eine Vielzahl von Vergleichen, die darauf verwiesen, etwas sei „genau so wie", „ähnlich wie" oder auch „anders als". Damit mußte keineswegs eine Wertung in dem Sinne gegeben sein, daß Ähnliches positiver betrachtet wurde als Verschiedenes. Der diskriminierende Vergleich war nicht unbedingt ein Mittel 22 23
ibid., S. 26. Mit der Darstellung fremder Wirklichkeit in Reiseberichten mittels des Vergleichs hat sich erstmals Arnold Esch in einem sehr instruktiven Aufsatz beschäftigt. Vgl. ders., Anschauung und Begriff, bes. S. 71f.
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der Diskriminierung, ebenso wie der egalisierende Vergleich nicht unbedingt ein Mittel der Anerkennung war. Diskriminierende und egalisierende Beschreibung bildeten vielmehr die beiden Pole des Vergleichs, die das Gewicht der Relationalität in der Balance hielten. Daher schwankte die Beschreibung mittels des Vergleichs immer zwischen der Konstatierung von Ähnlichkeit und der Konstatierung von Verschiedenheit. Verglichen wurden insbesondere Größenverhältnisse. In einer Gesellschaft, in der das Vermessen keine selbstverständliche Übung war und die Abschätzung von Maßeinheiten nicht zum Jedermannswissen gehörte, wurden Größen häufiger verglichen, als in Zahlen geschätzt. 24 Der Don, so meinte Wilhelm von Rubruk, sei an der Stelle, an der er übergesetzt habe, etwa so breit wie die Seine bei Paris, die Wolga dagegen sei viermal so groß wie die Seine und jeder ihrer Arme sei so groß wie der Fluß von Damiette. 25 Dienten solche Größenvergleiche bei Flüssen und Landschaften eher der Vorstellbarkeit, so war im Hinblick auf Städte häufig eine Wertung mit ihnen verbunden. Wilhelm von Rubruk etwa meinte über die mongolische Hauptstadt Karakorum, sie sei nicht einmal so stattlich wie der Marktflecken von St. Denis und das Kloster von St. Denis sei wohl zehnmal bedeutender als der Palast des Khans. 26 Odorico de Pordenone dagegen notierte bewundernd, in der Provinz Man?i gebe es mehr als zweitausend Städte, die so groß seien, daß weder Vicenza noch Treviso ihnen gleich kämen, 27 und in Camsay seien allein die Vorstädte größer als Venedig und Padua. 28 Odoricos Übersetzer Konrad Steckel fugte dem Vergleich mit Vicenza und Treviso noch Neustadt und Brünn an, um so seinen Lesern vertrautere Vergleichspunkte als die beiden norditalienischen Städte zu bieten, und spitzte den Vergleich überdies paradigmatisch zu: „Die sagtn mir gleich all mit ainem mund, daz daß land Mansy wol zwo tawsnt oder noch mér grosser stett hab, die alß grosß sind, daß man Terueiß oder Vincencz oder die Newnstatt in Österreich oder Brün [in Márichern] nicht zu jn [mócht] graittn, daß w é m nur dórffer."
Verglichen werden konnte prinzipiell alles mit allem, aber die Vergleiche kamen nicht immer zu dem gleichen Ergebnis. Während Johannes de Piano Carpini fand, daß sich die Tartaren in ihrem Äußeren von allen übrigen Menschen unterschieden, meinte Wilhelm von Rubruk, Khan Batu sehe dem verstorbenen Sire Jean de Beaumont sehr ähnlich. 30 Marco Polo bemerkte, in Bagdad residiere das Oberhaupt aller Sarazenen, so wie der Papst in Rom residiere, und Wilhelm von Rubruk verglich die Priesterkleidung der Götzendiener mit der der katholischen Diakone. 31 Offenbar wurden solche Vergleiche zwischen der muslimischen und der christlichen geistlichen Hierarchie und ihren Gepflogenheiten nicht als anstößig betrachtet; der Vergleich diente zwar der Verdeutlichung,
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Vgl. Arnold Esch, Anschauung und Begriff, S. 72f.
25 26 27 28
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
29 30 31
ed. Strasmann, S. 81. Vgl. Carpini: ed. Menestö, S. 232; Rubruk: ed. Wyngaert, S. 214. Vgl. Marco Polo: ed. Benedetto, S. 205; Rubruk: ed. Wyngaert, S. 265.
ed. ed. ed. ed.
Wyngaert, Wyngaert, Wyngaert, Wyngaert,
S. S. S. S.
197 (Seine), S. 303 (Wolga). 285. 458. 464.
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aber er stellte damit durchaus noch keine Vergleichbarkeit im Sinne der Gleichrangigkeit her. Neben den Vergleichen aus der vertrauten Gegenwart bediente sich insbesondere Wilhelm von Rubruk oftmals des Vergleichs mit Beschreibungen, die ihm aus der Bibel vertraut waren, oder kombinierte mehrere Vergleichspunkte miteinander, wie etwa bei der Beschreibung von Batus Hoflager, in dem er auf der Hinreise Halt machte. „Quando ergo vidi curiam Baatu expavi, quia videbantur proprie domus eius quasi quedam magna civitas protensa in longum et populis undique circumfusa usque ad tres vel quatuor leucas. Et sicut populus Israel sciebat unusquisque ad quam regionem tabernaculi deberet figere tentoria, ita ipsi sciunt ad quod latus curie debeant se collocare quando ipsi deponunt domus." 3 2
Häufig wurde auch aus mehreren Vergleichselementen Unbekanntes zusammengesetzt, was besonders bei der Beschreibung exotischer Tiere der Fall war: So verglich John Mandeville - in der Sprache Michel Velsers - den Körper einer Giraffe mit dem eines Turnierpferds und seine Brust mit der eines Hirschs. Nur für den langen Hals der Giraffe fiel ihm kein passender Tiervergleich ein, hier diente ihm der Vergleich mit der Höhe eines Hauses, den der Hals der Giraffe wohl leicht überrage, als Maßstab.33 Marco Polo verglich das Einhorn mit einer ganzen Reihe von Tieren und setzte es gleichsam aus der Statur und den Füßen eines Elefanten, dem Fell eines Büffels und dem Kopf eines wilden Ebers, aus dessen Kopf in der Mitte ein schwarzes Horn rage, neu zusammen.34 Ein solches Vergleichspuzzle mochte in seinem Bemühen um Detailgenauigkeit zwar eher verwirrend als beschreibend wirken, aber in seiner eklektizistischen Vielfalt beschrieb es eben doch, was fremdartig war. Dabei spielte die Signifikanz des Vergleichs eine wichtige Rolle. Um nämlich seine Funktion wirklich erfüllen zu können, mußte der Vergleich seinen Gegenstand nicht nur in Beziehung setzen, sondern er mußte auch selbst bezeichnend sein; er mußte genau das beschreiben, was den Gegenstand in seiner Fremdheit ausmachte, und eben diese Funktion erfüllte der Vergleich dort, wo er durch seine Überfülle ein Monstrum gebar. Als weiteres Mittel der Beschreibung fungierte in erster Linie das Beispiel, mittels dessen eine zuvor gegebene Beschreibung erläutert oder eine Annahme belegt werden konnte. Als spezifische argumentative Form galt das Beispiel oder Paradigma schon in der aristotelischen Rhetorik und wurde von den römischen Rhetorikern als besonderes Schlußverfahren übernommen. Aristoteles hatte das Paradigma als Schlußverfahren in der Analytica priora neben die Induktion und den apodiktischen Syllogismus gestellt und es von diesen durch die Beziehung unterschieden, die zwischen Teil und Ganzem besteht. 32
ed. Wyngaert, S. 212f. „Als ich nun das Zeltlager Baatüs sah, war ich ganz erstaunt. Denn seine eigenen Jurten machten auf mich den Eindruck einer weithin in die Länge ausgedehnten großen Stadt, in der es im Umkreis von drei bis vier Stunden [leuca] von Menschen wimmelte. Und wie bei dem Volk Israel ein jeder wußte, in welcher Richtung von der Stiftshütte aus gerechnet er sein Zelt aufzuschlagen hatte [IV. Moses 2, 1-31], so wissen sie es auch hier, nach welcher Seite des Lagers sie sich, wenn sie ihre Jurten vom Wagen herunternehmen (und aufstellen), niederlassen dürfen" (ed. Risch, S. 122f.).
33 34
Vgl. edMorrall, S. 169. Vgl. ed. Benedetto, S. 171.
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„Ein Paradigma liegt vor, wenn gilt, daß der obere Begriff dem mittleren zukommt, und zwar durch ein dem dritten [unteren] Ähnliches. Es muß dabei aber bekannt sein, daß der mittlere dem dritten und der obere Begriff dem Ähnlichen zukommt. (...) Man sieht also, daß sich das Paradigma weder wie ein Teil zum Ganzen, noch wie das Ganze zu einem Teil verhält, sondern wie ein Teil zu einem Teil, wenn beides unter einem begriffen und das eine davon bekannter ist. Und es unterscheidet sich von der Induktion dadurch, daß diese aus allem Unteilbaren [Einzelnen] zusammen den oberen Begriff für den mittleren nachwies und an den oberen keinen weiteren Schluß knüpfte, während das Paradigma diese Verknüpfung wohl vornimmt und nicht aus allen Einzelfällen beweist."
Als Schlußverfahren, das aus Ähnlichem, dem eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben wurde, darauf schließen konnte, daß diese Eigenschaften auch auf den vorliegenden Fall zutrafen, eignete sich das Paradigma besonders für die Beschreibung des Unbekannten. Die Funktion der Identifikation des Unbekannten durch Zuschreibung von Eigenschaften hat Aristoteles dem Paradigma denn auch in der Rhetorik zugewiesen, wenn er schreibt: „Seine [des Paradigmas] Relation ist aber nicht die eines Teils zum Ganzen, noch die eines Ganzen zu einem Teil, noch die eines Ganzen zu einem Ganzen, sondern die eines Teiles zu einem Teil, einer Ähnlichkeit zu einer Ähnlichkeit: Wenn nämlich beide zu derselben Klasse ge36 hören, das eine aber bekannter ist als das andere, dann handelt es sich um ein Beispiel."
Das Paradigma war daher nicht einfach ein Beispiel, sondern die Art, wie man Sätze in exemplarischer Weise miteinander verknüpfte, um ihre Zugehörigkeit zu einem Obersatz zu belegen. Paradigmatische Beschreibung beruhte auf der Herstellung von Ähnlichkeiten, die eine Identifikation ermöglichten, d.h. auf der prinzipiellen Vergleichbarkeit von Namen, Gegenständen, Handlungen und Ereignissen. Dazu bedurfte es aber sowohl des Festhaltens des Beobachteten als auch eines bekannten Vergleichspunktes. Paradigmatisches Wissen hatte damit einen spezifischen Bezug zur memoria als dem Medium, in dem sowohl die Beobachtungen der unbekannten Fälle festgehalten, als auch die ähnlichen, bekannten Fälle bereits aufgehoben waren. Um nämlich zur Beurteilung unbekannter Fälle herangezogen werden zu können, mussten die bekannten Fälle im kollektiven Gedächtnis verankert sein, damit sie als Beispiel dienen konnten. Den sich daraus ergebenden Bezug auf die Geschichte hat Quintillian in seiner Institutio Oratoria bei der Behandlung des Paradigmas als einem der rhetorischen Beweismittel an die erste Stelle gerückt: „Tertium genus ex iis, quae extrinsecus addunctur in causam, Graeci vocant paradeigma, quo nomine et generaliter usi sunt in omni similium adpositione et specialiter in iis, quae rerum gestarum auctoritate nituntur."
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Aristoteles, Analytica Priora, II, 24, 68b-69a. Aristoteles, Rhetorik, I, 19, 1357b. Marcus Fabius Quintiiianus, Institutionis Oratoriae Libri XII, V,11,1. „Die dritte Art dessen, was von außen dem Fall zugeführt wird, nennen die Griechen paradeigma, die sowohl im allgemeinen Sinn üblich ist für die Nebeneinanderstellung von Ähnlichem als auch im besonderen für solche Ähnlichkeiten, die ihre maßgebliche Bedeutung auf geschichtliche Vorgänge gründen."
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Die Geschichte bildete damit einen Hort von ähnlichen Gegenständen und Ereignissen, aus dem neu auftauchende Gegenstände und aktuelle Ereignisse begriffen werden konnten. Weil das Paradigma aber ein deiktisches und kein deduktives oder induktives Verfahren war, mußte es, wenn es als beweisfiihrendes oder wissensorganisierendes Verfahren eingesetzt wurde, immer auch die Verschiedenheiten berücksichtigen. Es bewegte sich dabei zwischen dem so wie und dem anders als, formulierte ein dauerndes einerseits-andererseits, bis es schließlich genügend deiktische Anknüpfungspunkte beigebracht hatte, die die Subsumption erlauben. „Omnia igitur ex hoc genere sumpta necesse est aut similia esse aut dissimilia aut contraria."
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Von daher ergab sich eine enge Beziehung zwischen Paradigma und Vergleich, denn ein Paradigma konnte sowohl unmittelbar als Vergleich fungieren als auch zur Bestätigung oder Widerlegung bestimmter Vorannahmen oder von Behauptungen dienen. In letzterer Weise setzten insbesondere Johannes de Piano Carpini und Wilhelm von Rubruk das Paradigma ein. Johannes etwa, als er sich mit der Frage beschäftigte, ob die Mongolen, besiegten Völkern ihren Glauben aufzwangen, und Wilhelm, als er sich mit den Behauptungen der Armenier auseinandersetzte, verschiedene mongolische Khane hätten sich zum christlichen Glauben bekehrt.39 Das hing bei Johannes de Piano Carpini und Wilhelm von Rubruk nicht zuletzt mit ihrem Auftrag zusammen, eine kategoriale Beschreibung der Mongolen zu leisten, die sie einordenbar machen sollte. In gewisser Weise bestand die Problematik einer an den aristotelischen Kategorien orientierten Erfassung sozialer Großverbände ja darin, daß sie zwar grammatisches Subjekt möglicher Aussagen sein konnten, nicht jedoch im strengen Sinne eine erste oder zweite Substanz. Als Großverband waren sie nämlich weder ein individuelles Einzelnes, worauf sich der Begriff der ersten Substenz bezog, noch ein übergeordnetes Allgemeines, wie Art oder Gattung, worauf sich der Begriff der zweiten Substanz bezog, sondern vielmehr eine Vielheit, von der nicht mit Gewißheit gesagt werden konnte, ob allen ihr zugehörenden einzelnen Individuen dieselben Bestimmungen inhärierten. Wer zu den Tartaren reiste, traf ja nicht die Tartaren, sondern nur einzelne Tartaren; er sah ja nicht, daß alle Tartaren immer betrunken waren, sondern nur, daß einzelne es bei verschiedenen Gelegenheiten waren;40 es verlangten auch nicht alle Tartaren Geschenke von ihm, sondern nur einzelne, etc. Um aber, wie Wilhelm von Rubruk, sagen zu können, die Tartaren seien trunksüchtig und habgierig, mußten die Einzelfälle als beispielhaft für den habitus der Tartaren begriffen werden. Dies führte er im Falle der mongolischen Bettelei freilich nicht auf die Armut des Steppenvolkes, sondern auf dessen Weltherrschaftsanspruch zurück: „Verum est quod nichil auferunt vi, sed importune valde et impudenter petunt quod vident, et si dat eis homo perdit, quia sunt ingrati. Repundant enim se dominos mundi, et videtur eis quod
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ibid., V, 11, 5. „Alle Beweisstücke dieser Art müssen also entweder ähnlich, unähnlich oder entgegengesetzt sein."
39 40
Vgl. Carpini: ed. Menestò, S. 237f.; Rubruk: ed Wyngaert, S. 256. Als trunksüchtig beschrieben Johannes de Piano Carpini und Wilhelm von Rubruk die Tartaren wiederholt. Vgl. ed. Menestò, bes. S. 247 u. 320; ed. Wyngaert bes. S. 176 u. S. 297.
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nichil debeat eis negari ab aliquo; si non dat et postea indigeat servitio eorum, male ministrant ei." 41
Neben und unter Umständen vor die Signifikanz des Vergleichs trat daher die Paradigmatik des Einzelfallwissens und der Beschreibung. Was der Augenzeuge an Einzelnem erfahren und durch den Vergleich zu Vertrautem in Beziehung gesetzt hatte, mußte er als paradigmatisches Wissen in eine Beschreibung überführen, die die Relation fixierte und zur essentiellen oder akzidentellen Zuschreibung gerinnen ließ. Diese Paradigmatik gab der Beschreibung ihr Tempus vor, sie überführte die Narration eines Ereignisses in die Beschreibung eines Zustandes: Aus dem Präteritum der Reise wurde so das Präsens der ethnographischen Beschreibung. Auch Marco Polo bediente sich verschiedentlich des Paradigmas, in erster Linie, um die großartige Herrschaft Khubilai Khans zu rühmen, zu deren Illustration er zahlreiche Beispiele anführte. 42 Odorico dagegen führte besonders häufig Beispiele für die missionarischen Erfolge der franziskanischen Missionare an. 43 Mit dem Verweis auf bekannte Beispiele konnten nicht zuletzt aber auch Beschreibungen beglaubigt werden, die unglaublich zu sein schienen. Odorico etwa rechtfertigte mit dem Verweis auf ein bekanntes Beispiel den Bericht von einer im Königreich Caoli wachsenden wundersamen Art von Melonen, von der er von glaubwürdigen Gewährsleuten gehört habe: „Unde ut dicitur in eis nascuntur pepones valde magni, qui quando sunt maturi ipsi aperiuntur, et intus invenitur una bestiola, ad modum unius agni parvi. Unde ipsi illos pepones habent et illas carniculas que sunt ibi. Et quamquam istud forte incredibile videatur, tarnen ista possunt esse vera, sicut verum est quod in Ibernia sunt arbores facientes aves."
Mandeville hingegen kehrte an verschiedenen Stellen die Funktion des Paradigmas als beweiskräftiges Verfahren um, und nutzte es beispielsweise, indem er fremden Völkern Beispiele aus dem christlichen Glauben zur Rechtfertigung ihres eigenen Glaubens in den Mund legte und diese dann wiederum als Beispiel für die Funktion der Heiligenund Marienbilder in der christlichen Religion als biblia pauperum, als Bibel der Laien, verwendete. „Et des simulacres et des ydoles quil ont il dient que bien que nulles gens ne sont [f. 95 r ] qui naient simulacres; et ce dient il pour nous Crestiens, qui aourons ymages de nostre Dame et
41
ed. Wyngaert, S. 189. „Gewaltsam, das muß ich sagen, nehmen sie einem nichts weg, aber sie betteln sehr zudringlich und unverschämt um alles, wa sie sehen; und gibt man ihnen, so ist man eben darum gekommen, da sie ein undankbares Volk sind; denn sie sehen sich als die Herren der Welt und meinen, von niemandem dürfe ihnen etwas abgeschlagen werden" (ed. Risch, S. 80).
42 43
Vgl. Marina Münkler, Marco Polo, S. 79f. Vgl. ed. Wyngaert, S. 490 u. S. 493
44
ed. Wyngaert, S. 482f. „Dort sollen sehr große Melonen wachsen, die, wenn sie reif sind, sich von selbst öffnen, und darinnen findet man ein Tierlein, das aussieht wie ein kleines Schaf. Auf diese Weise hat man beides, Melonen und etwas Fleisch. Und obwohl dies vielleicht unglaubwürdig klingt, so kann es doch wahr sein, so wie es ja auch wahr ist, daß man in Irland Bäume findet, die Vögel hervorbringen" (ed. Reichert, S. 110f.). Dieses vergleichende Paradigma hat Mandeville übernommen und daran weitere Beispiele von wunderbaren Gewächsen angefügt. Vgl. ed. Letts (Paris-Text), S. 380; ed Morrall, S. 151.
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dautres sains que nous aourons. Mais il sceuent que nous naourons pas les ymages de pierre ne de bois, mais les sains en quel nom elles sont faites; car car toute aussi comme le lectre aprent les clercs quoy et comment il douient croire, tout ainsi les ymages aprennent les laies gens a penser et aourer les sains en quel nomes elles sont faites."
Das Paradigma eignete sich damit ähnlich wie der Vergleich dafür, die Grenzen zwischen eigen und fremd durchlässig zu machen. Was durch den Vergleich mit einem vertrauten Gegenstand oder einer bekannten Verhaltensweise paradigmatisch vereindeutigt oder beglaubigt werden konnte, wurde damit zwar nicht selbst vertraut, aber es verlor den Charakter des bloß Befremdlichen.
2. Welt-Bild-Ordnung: Mappae mundi und die Beschreibung der Fremde Was die verschiedenen Reiseberichte zunächst verbindet und vergleichbar macht, ist der beschriebene Raum. Zusammengenommen beschreiben die Orientberichte einen geographischen Raum, der nahezu den gesamten Osten der Erde umfaßt, von Rußland über das Schwarze Meer, Kleinasien, das Kaspische Meer, die russisch-mongolische Steppe, das iranische Hochland bis nach Japan und China, Vorder- und Hinterindien und die Inseln des malaiischen Archipels. Anders - und mittelalterlicher Raumwahrnehmung vielleicht angemessener gesagt: der beschriebene Raum reichte vom Mittelpunkt der Welt in Jerusalem bis an die Mauern des irdischen Paradieses im äußersten Osten. Während die frühen Berichte der franziskanischen Gesandten aber nur einen kleinen nordöstlichen Teil bis in die Mongolei beschrieben, wurden die durchmessenen Räume immer größer, je später die Berichte entstanden. Nahezu den gesamten Osten beschrieb schließlich Mandeville, der ein umfassendes Raumbild entwarf. Innerhalb eines guten Jahrhunderts, von ca. 1250 bis 1360 wurde dem geographischen Wissen der Europäer über den Osten, das sich bereits aus einer langen Überlieferung speiste, eine Vielzahl an neuen Städten, Ländern, Völkern, Flüssen und Gebirgen hinzugefügt. Namen wurden erfragt und aufge45
ed. Letts (Paris-Text), S. 410. „Und von den Götzenbildern und Idolen, die sie haben, sagen sie, es gebe kein Volk auf der Welt, das keine Götzenbilder habe; und das sagen sie wegen uns Christen, weil wir Bilder von unserer lieben Frau und von anderen Heiligen haben, die wir anbeten. Aber sie wissen nicht, daß daß wir nicht die Bilder aus Stein oder aus Holz anbeten, sondern die Heiligen, in deren Namen sie gefertigt sind; denn so wie die Priester aus der Schrift lernen, was und wie man glauben müsse, so lehren die Bilder die Laien, jener Heiligen, in deren Namen sie gefertigt sind, zu gedenken und sie anzubeten." Der letzte Satz fehlt in den meisten anderen Varianten, auch Michel Velsers Übersetzung hat ihn nicht. Auch sonst unterscheidet sich der Abschnitt in der Velserschen Version: „Aber von der bibly und von den prophecien wissent sy das die creatur die sie an bettend sind nit gott. Sie bettend sy aber an von der grossen tugend wegen die sie hond. Sie sprechent das kain volck nit syg oder es bett abgoett an. Und daz sprechend sie och uff uns Christen, dar umb das wir an bettend unser frowen bild und ander haiigen. Sie wissend aber nit das wir nit an bettend das hültzin und das stainin bild, besunder das wir an bettend den den es bezaichnet und betüt" (ed. Morrall, S. 177).
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schrieben, von denen man in Europa noch nie gehört hatte, topographische und geographische Gegebenheiten beschrieben und nach Orten gesucht, die aus der Überlieferung bekannt waren. Auf diese Weise wurde in der Beschreibung Bekanntes mit Unbekanntem vermischt und in einem einheitlichen Beschreibungsfeld angesiedelt. Der Größe des beschriebenen Raumes angemessen, ergaben die Berichte aber kein uniformes oder identisches Bild des Ostens: Von öden Steppen und bitterer Kälte war da ebenso die Rede wie von sengender Hitze und fruchtbaren Gartenlandschaften, von armseligen Zeltlagern ebenso wie von prachtvollen Städten, von Flüssen, die Gold und Edelsteine heranschwemmten und von goldgedeckten Palästen, aber auch von Wüsten und gefährlichen Tälern, von menschenfressenden Völkern und frommen Heiden. Alle diese Beschreibungen, nicht nur diejenigen, die einem Berichtsauftrag folgten, konnten schon allein deshalb mit der gesteigerten Aufmerksamkeit eines interessierten, sowohl geistlichen als auch weltlichen Publikums rechnen, weil sie über den Osten berichteten. Der Osten war im Mittelalter der Erwartungshorizont des Westens: Im Osten ging die Sonne auf, gen Osten war der Herr in den Himmel aufgefahren, und er würde aus dem Osten auch die Erlösung bringen. Bis ins 16. Jahrhundert, als der Westen den Osten ablöste, weil man schließlich erkannte, daß man auf dem Weg in den Osten ungewollt einen fernen Westen entdeckt hatte, bündelte der Osten die Hoffnungen, Erwartungen und Ängste des abendländischen Europa, die sich mit Ferne verbanden. Mit seinen Rändern rührte der Osten an die Bereiche der Dunkelheit des Nordens und der Gluthitze des Südens, so daß sich an seinen Endpunkten auch die Bedrohlichkeiten und die Merkwürdigkeiten gegenüberstanden. Wenn die spätmittelalterlichen Reisenden den Osten beschrieben, beschrieben sie aber nicht nur den Raum der Fremde, sondern auch einen Raum, der für die Wahrnehmung des Eigenen ein zentraler Raum war, der in dreifacher Hinsicht heilsgeschichtlich bedeutsam war: Die fremde Welt des Ostens war zugleich der Raum der Vergangenheit, der Gegenwart wie der Zukunft: Hier waren die Menschen aus dem irdischen Paradies vertrieben worden, hier befand sich der Berg Ararat mit der Arche Noah, unter dessen Söhne Harn, Sem und Japhet die Welt aufgeteilt worden war, hier hausten aber auch die apokalyptischen Völker Gog und Magog, deren Hervorbrechen das Erscheinen des Antichrists und damit das Ende der diesseitigen Welt einleiten würde. Die Beschreibung des Ostens wird jedoch erst dann verstehbar, wenn man sie mit dem in den mappae mundi entwickelten Bild in Beziehung setzt, das als Deutungsvorgabe der Raumbeschreibung fungierte.
Das Bild der Welt in Bildern: mappae mundi In einem System sich überlagernder Ähnlichkeiten und ablesbarer Zeichen war die Raumbeschreibung immer auch eine Deutungsvorgabe. Wer also den Raum der Fremde beschrieb, eröffnete nicht nur neue Horizonte des Unvertrauten, sondern auch Deutungshorizonte, in denen die Elemente der Beschreibung zu Aspekten der Deutung werden konnten. Nur selten wurden solche Deutungshorizonte freilich in den Reiseberichten selbst expliziert. Die Berichte fungierten in der Regel als Deutungsvorgaben, ohne sich
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selbst weit in das Feld der Deutungen vorzuwagen. Um die in den Raumbeschreibungen der Berichte möglicherweise verzeichneten Signaturen aufdecken zu können, ist es daher notwendig, zunächst einen Blick auf jene Weltbilder zu werfen, die eine Raumordnung aus ablesbaren Signaturen entwarfen. Ein geschlossenes Zeichensystem, das die Welt in einem Raum-Zeitkontinuum aufschrieb, boten in erster Linie die mappae mundi. Sie bildeten die Welt nicht als vermessenen Raum ab, sondern als einen Raum, der von der Zeit durchdrungen war und in dem die Signaturen niedergelegt waren, die ihn narrativierbar, memorierbar und deutbar machten. Die raum-zeitliche Konzeption der mappae mundi wird bereits durch ihre Orientierung deutlich, denn der zeitliche Anfang wird an den höchsten Punkt des Raumes ge legt.46 Die Ostung der Karten gab nicht nur eine Raumordnung, sondern auch eine Zeitfolge vor, denn vom irdischen Paradies im äußersten Osten der Welt hatte der Lauf der Geschichte seinen Ausgang genommen. Dieser räumlich begründete Zeitenlauf wiederholte sich, für jeden ablesbar, im Lauf der Sonne und den daraus entstehenden Jahresund Tageszeiten.47 Die Ostung der Karten drückte aber auch eine Gewichtung der Himmelsrichtungen aus, denen spezifische Wertungen zugeschrieben wurden:48 Der Osten war der Bereich des Lichts und der Wärme, in dem Gott seinen Garten für den von ihm geschaffenen Menschen angepflanzt hatte. Als Ort des Sonnenaufgangs war er zugleich Spender des Lebens wie des Heils, er war die Himmelsrichtung, aus der die Erlösung erwartet wurde. Die Ausrichtung mittelalterlicher Weltkarten nach Osten war denn auch, wie Jörg-Geerd Arentzen betont hat, keine kontingente Entscheidung: „Die Ausrichtung der mittelalterlichen mappae mundi nach Osten, die dem Betrachter im Rahmen des Kartenbildes dieselbe Blickrichtung ermöglicht, die ihm als Mitglied der Gemeinde im Gottesdienst vertraut ist, folgt weder dem Zufall noch kartographischen Notwendigkeiten, sondern ist von den Wahrnehmungskonventionen bestimmt, die ihrerseits den Deutungen der Himmelsrichtungen und ihrer Eigenschaften folgen."49 Durch den Lauf der Sonne fiel von diesem Licht auch etwas in den Westen, der somit durch die Achse des Sonnenlaufs ebenfalls positiv besetzt werden konnte. Dieser Achse des Sonnenlaufs entsprach der Lauf der Geschichte, der sich in den vier Weltreichen von Osten nach Westen fortsetzte.50 Durch die Wärme und das Licht konnte auch der Süden positiv besetzt werden, da er jedoch, anders als der Osten, nicht der Spender, sondern nur der Empfänger des Lichts war, wurde er diesem gegenüber abgewertet. Durch die Stärke der Sonneneinstrahlung war menschliches Leben im Süden allerdings nicht uneingeschränkt möglich und stark den klimatischen Bedingungen unterworfen, was sich nicht zuletzt an den monströsen Völkern zeigte, die größtenteils am Südrand der von den Menschen 46 47 48
49 50
Der Begriff „Orientierung", den wir nur noch im übertragenen Sinn kennen, hat seine ursprüngliche wörtliche Bedeutung eben von der Ausrichtung des Kartenbilds nach Osten. Vgl. U w e Ruberg, Mappae Mundi, S. 563. Zur Bedeutung der Himmelsrichtungen vgl. Barbara Maurmann, Die Himmelsrichtungen im Weltbild des Mittelalters, München 1976, bes. S. 26ff.; Anna Dorothee v. d. Brincken, Fines Terrae, S. 163-178. Jörg-Geerd Arentzen, Imago Mundi Cartographica, S. 163. Vgl. zu den vier Weltreichen der Daniel-Version und ihrem Einfluß auf die Weltkarten Anna Dorothee v.d. Brincken, Mappa mundi und Chronographia, S. 136.
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bewohnten Oekumene angesiedelt wurden. Der Süden bildete aber den Gegenpol zum Norden, dem Reich der Kälte und der Finsternis. Der Norden war die negativ besetzte Himmelsrichtung schlechthin: Er war der Ort des Teufels, der Verdammten, der absoluten Hoffnungslosigkeit, der Ort von dem die apokalyptischen Völker aufbrechen würden, um die Welt zu verheeren. Mit dem System der Himmelsrichtungen gaben die Weltkarten also bereits einen Deutungshorizont vor, der es ermöglichte, Dinge nach ihrer Zuordnung im Raum zu beurteilen. Allerdings waren nicht alle Weltkarten geostet; neben den geosteten gab es auch genordete wie gesüdete Weltkarten. Der Bedeutsamkeit der Himmelsrichtungen entschlug das aber nichts, denn die genordeten oder gesüdeten Karten bildeten nicht den Raum der menschlichen Geschichte, sondern die nach kosmologischen und klimatologischen Apekten unterteilte Weltkugel ab. Diese Gruppe von Karten, deren Hauptmerkmal die Einteilung in Klimazonen, Oekumene und Anti-Oekumene ist, ging wahrscheinlich auf den Globus des Krates von Mallos zurück, der sich die Oberfläche der Erdkugel als viergeteilt vorgestellt hatte. Die Vierteilung ergab sich durch die zwei ringförmig um die Pole und den Äquator verlaufenden Ozeane, die senkrecht zueinander standen und so die Erde in vier gleich große Teile unterteilten. Bei der Darstellung dieses Weltbildes auf der ebenen Fläche des Pergaments konnte freilich nur eine Hemisphäre abgebildet werden, die in zwei durch den Ozean getrennte Halbkreise zerfiel. Überlagert wurde dieses Bild von der Aufteilung der Erde in fünf Klimazonen, von denen nur eine als bewohnbar galt. Diese Aufteilung wurde teilweise auf die gesamte Karte ausgedehnt, wie in den Zonenkarten und den Macrobius-Karten, die stark schematisiert waren und oft nur noch einen in fünf unterschiedlich große Zonen aufgeteilten Erdkreis ohne weitere Ausführung des Inhalts zeigten. Macrobius hatte um 400 n. Chr. seinem Cicerokommentar Interpretatio in Somnium Scipionis eine gesüdete Karte mit der Einteilung in fünf Klimazonen beigefügt, von denen die beiden Polarzonen wegen ihrer Kälte als unbewohnbar galten, während die Äquatorialzone wegen ihrer Hitze als unüberwindlich angesehen wurde. Bewohnbar waren nur die beiden temperierten Zwischenzonen, deren nördliche sich in Europa, Asien und Afrika unterteilte, wobei Asien und Afrika aber schon in die Bereiche der kalten Polarzone und der heißen Äquatorialzone hineinragten. Die südliche temperierte Zone wurde dagegen von den Antipoden bewohnt, die „nobis incognitum" waren.51 Die Gruppe der geosteten mittelalterlichen Weltkarten bildeten die sogenannten T-O Karten, jene als mappae mundi bezeichneten und als „typisch" mittelalterlich angesehenen Karten, die nicht die ganze Welt abbildeten, sondern nur den bewohnten Teil in der nördlichen Hemisphäre, die Oekumene. Diese Welt menschlichen Daseins auf der Erde war auf den mappae mundi durch das in den Kreis eingeschriebene T in drei unterschiedlich große Teile unterteilt: Asien, der größte der drei Erdteile, nahm die ganze obere Hälfte des Kartenbildes ein, Europa und Afrika teilten sich die untere Hälfte, so daß Europa insgesamt nur ein Viertel der Fläche ausfüllte. Der Bereich der Christenheit war auf den mappae mundi also relativ klein, während Asien, der Raum der in den Reiseberichten beschriebenen Fremde, den größten Teil der Fläche einnahm. Gemeinsam
51
David Woodward, Medieval
Mappaemundi,
S. 300 mit Abb. 18.10.
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mit der Ostung der Karten und der heilsgeschichtlichen Bedeutsamkeit des Ostens marginalisierte diese Darstellung den Raum des Eigenen im Erdenrund.52 Die Begründung für die Aufteilung des Erdkreises in drei unterschiedlich große Teile war die Aufteilung der Erde unter die drei Söhne Noahs nach der Sintflut: „Tres isti sunt filii N o e et ab his disseminatum est omne hominum genus super universam terram."
Jedem der drei Erdteile wurde ein Sohn Noahs zugeordnet: Europa Japhet, Asien Sem und Afrika Ham, weswegen die T-Karten in der älteren Forschung auch als NoachidenKarten bezeichnet wurden.54 Geographisch wurde das T gebildet aus dem Tanais (Don), der Asien von Europa trennte, dem Nil, der Asien von Afrika trennte und dem Mittelmeer, das Europa und Afrika trennte. Das in das O eingezeichnete T gab aber auch die Siglen der Bezeichnung orbis tripartitus wieder. Auch hier regierte die Ähnlichkeit: Was sich auf der Karte sehen und in der Geschichte begründen ließ, spiegelte sich bis in die Buchstäblichkeit des Wortsinnes hinein wider. Das T war in seiner Deutbarkeit damit aber noch nicht erschöpft: Es hatte auch symbolische Bedeutung, denn es entsprach der crux commissa und symbolisierte so die Erlösung der Menschheit durch das Kreuz Christi.55 Welt- und Kreuzsymbol zugleich, bot das T-Schema ein geographisch fixiertes Weltordnungsschema, das räumlich, zeitlich und symbolisch definiert war. Auch ohne Längen- und Breitengrade wies diese semantisch fixierte Geographie den Völkern der Welt einen bestimmbaren, weil deutbaren Ort zu. Das T-Schema war deshalb auch wichtiger als die Kreisform, die durch das O des orbis nicht unbedingt vorgegeben war, auch wenn der Kreis aufgrund seiner vollkommenen Form bevorzugt wurde. Neben den kreisförmigen Karten gab es aber auch ovale, rechteckige und mandelförmige Weltkarten, die ebenfalls nach dem T-Schema unterteilt waren.5 Mit diesem Schema war die Aufteilung der Welt symbolisch wie historisch begründet und eine lose Rahmung für das Kartenbild vorgegeben, die aber keine inhaltliche Festlegung hinsichtlich dessen implizierte, was konkret innerhalb des Kartenrunds abgebildet werden konnte. Teilweise wurden die Karten nur schematisch zur Kennzeichnung der Weltaufteilung und der Himmelsrichtungen aufgezeichnet, wobei dann ein exaktes T
52
53 54 55 56
Gelegentlich wurde offenkundig die Notwendigkeit empfunden, das Übergewicht Asiens zu begründen. So schrieb Gervasius von Tilbury in seinen Otia Imperialia, daß es gerecht gewesen sei, Sem als dem Erstgeborenen Sohn den größten Teil des Landes zuzugestehen. Vgl. Medieval Mappaemundi, S. 296. Liber Genesim 9,19. Vgl. Jörg-Geerd Arentzen, Imago Mundi Cartographica, S. 113-117. Vgl. Jonathan T. Lanman, The Religious Symbolism of the T in T - O maps, S. 18-22. Vgl. Jörg-Geerd Arentzen, Imago Mundi Cartographica, S. 3 0 - 6 2 . Arentzen hat darauf hingewiesen, daß etwa bei den Karten zum Apokalypsenkommentar des Beatus von Liebana rechtekkige, kreisförmige und ovale Kartenbilder gleichermaßen vertreten waren (vgl. S. 5 5 - 5 7 ) . Dasselbe Phänomen zeigt er an den Karten zu Ranulf Higdens Polychronicon, die überlieferungsgeschichtlich sehr dicht zusammenliegen und dennoch sowohl mandelförmige als auch ovale und runde Kartenbilder zeigen (vgl. S. 5 8 - 6 0 ) .
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den Kreis dreiteilte.57 David Woodward hat diese Untergruppe der T-Karten als „schematic tripartite" bezeichnet, die sich wiederum in mehrere Untergruppen unterteilen lassen. Die schematischen T-Karten waren insbesondere historiographischen Werken beigegeben; in ihrer einfachsten schematischen Form wurden sie insbesondere mit den Etymologiae Isidors von Sevilla verknüpft; zusätzlich beschriftet mit Länder- und Völkernamen wurden sie häufig zusammen mit Sallusts De hello Jugurthino überliefert.58 Die ausgemalten Karten gehörten dagegen zu der Untergruppe, die David Woodward als „nonschematic tripartite" bezeichnet hat. Sie stützten sich auf unterschiedliche historische Quellen und waren gegenüber geschichtlichen wie bildlichen Umbesetzungen relativ offen. Im Laufe des Mittelalters war der Karteninhalt denn auch einigen Veränderungen unterworfen, und die einzelnen Erdteile wurden je nach ihrer Bedeutsamkeit für die Christenheit unterschiedlich gewichtet.59 Afrika veränderte sich kaum, während Palästina mit Jerusalem, das im Zeitalter der Kreuzzüge in den Mittelpunkt des Interesses trat, auch in den Mittelpunkt der Welt gerückt wurde. Bereits im 4. Jahrhundert hatte Hieronymus in seinem Hesekiel-Kommentar die Forderung erhoben, Jerusalem gemäß den Aussagen des Propheten im Mittelpunkt der Welt zu verorten: „Haec dicit Dominus Deus ista est Hierusalem in medio gentium posui eam et in circuitu eius terras.
Die Einlösung dieser durch die Bibel bekräftigten Forderung erfolgte jedoch erst in der Kartographie des 12. Jahrhunderts: Die früheste bekannte Karte, auf der Jerusalem im Mittelpunkt der Welt liegt, ist eine kleinere T-Karte aus Oxford, die um 1110 entstanden sein dürfte, also etwa 15 Jahre nach der Ausrufung des ersten Kreuzzuges. Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts überwog die Darstellung Jerusalems als Zentrum der Welt, nach wie vor es gab aber Karten, die Jerusalem nicht im geographischen Mittelpunkt der Welt verzeichneten.61 Abgesehen von Palästina blieb die Darstellung Asiens, das häufig als mit Afrika verbundene Landmasse dargestellt wurde, wodurch sich das T zu einem Y verschob, das ebenfalls als Kreuzsymbol gedeutet werden konnte, relativ unverändert. Fast immer wurde das irdische Paradies im äußersten Osten, also am höchsten Punkt der Karte, eingezeichnet; es bildete die kontinuierlichste Signatur der nicht-schematischen Weltkarten.62 In der Regel wurde es als von der asiatischen Landmasse durch Mauern, hohe Berge oder Feuerringe abgetrennt gezeigt. Das Paradies war damit eine geographische Realität, ein - wenn auch abgeschlossener - Ort, der nicht nur ein Ort der Vergangenheit war. Während die Antike im Idealbild des Goldenen Zeitalters ihr „Paradies" allein in
57 58 59 60 61 62
David Woodward bezeichnet diesen Kartentyp als „schematic tripartite". Vgl. Medieval Mappaemundi, S. 343. Vgl. ibid., S. 343f. Zu den bedeutungsperspektivischen Abmessungen vgl. Anna Dorothee v. d. Brincken, Mappae mundi, S. 143. Hiezechiel Propheta, 5,5. Luther übersetzt: „So spricht der HERR/ Das ist Jerusalem/ die ich vnter die Heiden gesetzt habe/und rings umb sie her Lender." Vgl. David Woodward, Medieval Mappaemundi, S. 340f. Vgl. Christiane Deluz, Le paradis terrestre, S. 145f.
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die Vergangenheit verlagert hatte, war das irdische Paradies der mappae mundi auf allen drei Zeitebenen angesiedelt: Es war der Ort einer verlorenen, unwiederbringlichen Vergangenheit, einer gegenwärtigen unerreichbaren Ferne und einer verheißenen himmlischen Zukunft. Die Fülle und Komplexität der ausgemalten mappae mundi läßt sich am ehesten anhand der beiden größten überlieferten mittelalterlichen Weltkarten verdeutlichen: der Ebstorfer Weltkarte und der Weltkarte von Hereford. Beide Karten gehören zu den geosteten T-Karten mit dem Paradies im äußersten Osten und Jerusalem im Mittelpunkt der Welt. Sie unterscheiden sich von anderen bekannten T-Karten vor allem durch ihr außergewöhnlich großes Format - die Ebstorfer Weltkarte mißt 3,58 x 3,56 m, und die Hereforder Weltkarte ist immerhin 1,65 x 1,34 m groß - und den dadurch ermöglichten außergewöhnlichen Inhaltsreichtum der Karten.63 Der Karteninhalt speist sich im wesentlichen aus drei Quellentypen: mittelalterlichen, antiken und biblischen Quellen. Die biblisch-theologischen Signaturen entstammen vor allem den historischen Büchern des Alten Testaments sowie dem Evangelium und der Apostelgeschichte sowie den Apostellegenden; die zoologischen und ethnographischen aus Plinius und insbesondere Solinus; die legenden- und sagenhaften aus dem Alexanderroman und der Brandanslegende; die zeitgenössischen aus Chroniken, Pilgerberichten und Kreuzzugsberichten. Die zeitgenössischen Quellen waren jedoch fast ausschließlich auf Europa und Palästina beschränkt. Beide Karten enthielten sowohl Bild- als auch Textsignaturen, wobei die Texteinträge sowohl Bilder erläutern als auch allein stehen konnten, so wie auch viele Bildsignaturen ohne erläuternden Text auskamen. Auf der Ebstorfer Karte sind die Texte ausschließlich lateinisch abgefaßt, während auf der Hereforder Karte außerhalb des Erdkreises neben den lateinischen auch altfranzösische Einträge stehen.64 Auf beiden Karten wird die kreisförmige Oekumene rings vom Ozean umspült, in dem auf der Karte von Hereford noch eine Vielzahl von Inseln liegen. Während die Hereforder Karte das kreisrunde irdische Paradies außerhalb der Oekumene im umfließenden Ozean plaziert, und auf der angrenzenden Seite des Festlandes die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies durch den Cherubim mit dem gezückten Schwert zeigt, erscheint das Paradies auf der Ebstorfer Karte rechteckig innerhalb des Erdkreises, aber auf einem Berg gelegen und von einer hohen Mauer umgeben. Beide Signaturen zeigen die Quelle der vier Paradiesflüsse Gyon, Nil, Euphrat und Tigris im irdischen Paradies und bilden die Flüsse dann noch einmal in ihrem Verlauf durch Asien ab. Neben den Flußläufen bilden die gewellten Signaturen für Bergzüge das entscheidende topographische Eingrenzungselement. Eingeschlossen von Bergen bzw. einer Mauer 63
64
Sie waren mit Sicherheit jedoch nicht die einzigen großformatigen Karten. Von einer weiteren englischen Karte, der sog. Duchy of Cornwall Map, ist ein kleiner Abschnitt erhalten, der darauf schließen läßt, daß die ganze Karte ungefähr die Größe der Hereforder Karte gehabt haben dürfte (vgl. Medieval Mappaemundi, Abb. 14). Marcia Kupfer hat daneben auf eine erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts zerstörte Fresko-ma^pa mundi in Burgund hingewiesen, die einen Durchmesser von sechs Metern gehabt haben soll und, nach Beschreibungen des 19. Jahrhunderts zu urteilen, inhaltlich der Ebstorfer und der Hereforder Weltkarte stark ähnelte. Vgl. Marcia Kupfer, The Lost Mappamundi at Chalivoy-Milon, in: Speculum 66, 3 (1991), S. 5 4 0 - 5 7 1 . Vgl. Rudolf Simek, Erde und Kosmos im Mittelalter, S. 154.
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sind auf beiden Karten im äußersten Nordosten die Völker Gog und Magog eingezeichnet, die durch den beigefugten Text als menschenfressende Endzeitvölker beschrieben werden.65 In der Nähe der apokalyptischen Völker sind aber noch andere schreckenerregende menschenfressende Völker eingezeichnet: Massagetae und Derbees, Anthropophagi und Turci.66 „Allenthalben vermerken die Bildlegenden den Kannibalismus recht nüchtern als ein ethnographisches Charakteristikum. Doch der Ausstrahlungsbereich der Endzeitvölker fügt dem Menschenfressertum eine heilsgeschichtlich-theologische Valenz hinzu, macht es zum Indiz dafür, daß die asiatische Nordregion Aufmarschgebiet des Antichrist seih kann. Das hat Folgen für die Bewertung des nördlichen Grenzgebietes zwischen Asien und Europa. Hier stoßen nicht einfach zwei Erdteile aneinander. Die Grenze ist mit Bedeutung aufgeladen."67 In der Nähe des irdischen Paradieses wurden dagegen die friedfertigen indischen Brahmanen oder Gymnosophisten und die Seres eingezeichnet, während im Südosten und Süden entlang des rechten Kartenrandes, jeweils von Mauern umschlossen die monströsen Völker Indiens und Utopiens wie in kleine Kästchen gesetzt aufgereiht werden. Auf der Ebstorfer Karte folgt, wie Uwe Ruberg gezeigt hat, ihre räumliche Verteilung von Südosten bis Südwesten der Abfolge ihrer Behandlung in Isidors Etymologiae; das gilt auch für die zahlreichen dargestellten Tiere, wie den Panther, das Einhorn und das Krokodil.68 Während die ethnographischen und zoologischen Signaturen in Asien sehr häufig und vielfältig sind, sind Stadt- und Gebäudesignaturen relativ selten. An Städten ist neben Jerusalem und anderen Städten des Heiligen Landes im Osten nur Babylon mit dem Turm eingezeichnet. Dafür sind aber sowohl Orte aus der Bibel wie aus der Alexandergeschichte vorhanden: die Arche Noah auf dem Berg Ararat, der Sonnen- und Mondbaum, die Tauchfahrt Alexanders usf. In ihrer Mischung der unterschiedlichen Quellen und Signaturen bilden beide Karten die Geschichte im Raum ab und den Raum in der Geschichte. Die Geschichte reicht vom Anbeginn der Welt mit der Abbildung des irdischen Paradieses, den Stätten des Alten Testaments über die Zeitenwende mit der Kreuzigung Christi zu den Wirkungsstätten der Apostel bis zu den Tagen des Jüngsten Gerichts. Nicht von ungefähr nannte der Zeichner der Hereford-Karte, Richard von Haldingham, deshalb seine Karte eine estoire: „Tuz ki cest estoire ont ou oyront ou lirront ou verront prient a Jhesu en deyte De Richard de Haldingham et de Lafford eyt pit e ki la fet e compasse ki ioie en cel Ii seit done."
In der Hereforder wie der Ebstorfer Weltkarte bildet sich der Raum in seiner Zeitlichkeit ab und die Zeit in ihrer Räumlichkeit. Zugleich vermochten die Karten abzubilden, was in der linearen Darstellungsweise der Historiographie nur schwer zur Darstellung ge65
Vgl. Konrad Miller, Mappae Mundi, S. 32b-33a; Bevan/Philott, Medieval Geography, S. 58.
66 67 68 69 70
Vgl. Haitmut Kugler, Die Ebstorfer Weltkarte, S. 20f. ibid., S. 21. Vgl. U w e Ruberg, Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte, S. 336ff. Vgl. ibid., S. 8. Zit. nach: W. L. Bevan/H. W. Philott, Medieval Geography, S. 2. „Alle, welche diese Geschichte besitzen, hören, lesen oder sehen, sollen zu Jesus um Erbarmen flehen für Richard von Haldingham und von Lafford, welcher sie gemacht und entworfen hat, daß ihm die Freude im Himmel zuteil werde."
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bracht werden konnte: Das komplizierte System von räumlichem Nebeneinander, Gegenüber, Untereinander, oben und unten, links und rechts, das ein komplexes Geflecht der Ähnlichkeiten knüpfte. Insbesondere die inhaltsreichen Varianten der mappae mundi waren damit der Ausdruck eines Denkens, das durch das den transzendentalen Bezug alles Seienden garantierende System der Signaturen nicht nur allen Dingen, den Orten und Zeiten, an denen sie sich ereignet haben, einen Sinn zu verleihen vermochte, sondern sie auch miteinander komplex verknüpfte. Geschichte brauchte zu ihrem Verständnis die räumliche Situierung, gleich ob sie weltliche Geschichte oder Heilsgeschichte war. Schon Orosius hatte betont, daß die Geschichte innerhalb des Raumes betrachtet und der Ereignisgeschichte die Raumbeschreibung vorangestellt werden müsse, und Fra Paolino Veneto, der selbst eine Reihe von Weltkarten gezeichnet hat, hob im 14. Jahrhundert den Nutzen der mappae mundi mit dem Argument hervor, ohne Weltkarten sei es nicht möglich sich vorzustellen, was über die Kinder und Enkel Noahs und die vier Reiche in den heiligen und weltlichen Schriften gesagt werde. Um sie zu verstehen, bedürfe es einer mappa mundi, die aus geschriebenen und gezeichneten Elementen bestehe. Eines ohne das andere sei nicht ausreichend, weil Zeichnen ohne zu Schreiben unklar lasse, welche Nationen in den unterschiedlichen Regionen lebten, und Schreiben ohne zu Zeichnen die Grenzen der Regionen nicht deutlich genug markiere, die auf den Karten mit einem Blick zu erkennen seien.71 Damit boten die mappae mundi in erster Linie eine Bedeutungsgeographie, für die Verortung wichtig, Vermessung aber unwesentlich war. Darin liegt denn auch die entscheidende Differenz zwischen mittelalterlicher und moderner Kartogaphie: Moderne Kartographie ist Vermessungsgeographie, mittelalterliche Kartographie ist Bedeutungsgeographie. Moderne Karten vermitteln die exakte Lage von Orten anhand von Längenund Breitengraden, mittelalterliche Karten die Bedeutung von Ortslagen anhand von Bildsignaturen. Für moderne Karten ist deshalb mathematische Maßstäblichkeit eines der wichtigsten Kriterien, während mittelalterliche Karten die Größe von Signaturen nach ihrer Bedeutung variieren können. Die Vertreter der modernen Vermessungskartographie haben die mappae mundi deshalb immer als defizient betrachtet: Vor allem schien es an Präzision zu mangeln, an der Fähigkeit, Orte richtig zu verorten, Dinge vom Kartenbild fernzuhalten, die nicht dazugehörten, wirkliche von fabulösen Orten und Gegenständen zu unterscheiden. Außerdem, und das war das hartnäckigste und vielleicht entscheidenste Argument gegen die mittelalterliche Geographie, war man lange der Überzeugung, die T-Karten würden die Erde als flache Scheibe abbilden. Mappae mundi galten nicht zuletzt deshalb als eine Mischung aus mythischen, fabulösen und religiös dogmatischen Elementen, die allem widersprachen, was moderne Geographen unter Kartographie verstanden. Symptomatisch für diese Auffassung ist das noch 1981 von John Noble Wilford geäußerte Verdikt: „Paradise, monsters, closed-minded ignorance. The West had slipped into its thousand-year slough of intellectual Stagnation, the Middle Ages. (...) Maps produced in Europe in the Middle Ages were more ecclesiastic than cartographic, more symbolic than realistic. They reflected Christian doctrine more than observed fact. The result was, with one important exception towards the end of the period [i. e. der Katalanische Atlas, MM] a millenium without a significant advance in the 71
Vgl. David Woodward, Medieval Mappaemundi,
S. 287.
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mapping of the world." Diese Gegenüberstellung von symbolisch und realistisch war auch kennzeichnend für diejenigen älteren Arbeiten, die versuchten, der mittelalterlichen Weltkartographie „gerecht" zu werden.73 Sie verwiesen in erster Linie darauf, daß die mappae mundi gar nicht versuchten, ein realistisches Bild der Welt zu zeigen, sondern vielmehr ein symbolisches Bild der Welt entwürfen, das den Anforderungen an die Abbildung der Wirklichkeit gar nicht zu genügen brauche. 'Symbolisch' ist aber keineswegs ein Gegenbegriff zu 'realistisch' oder ein Begriff, der den Anspruch auf Wirklichkeitstreue obsolet machen würde, und wenn es daher auch richtig ist, daß die Signaturen in den ausgemalten mappae mundi symbolische Bedeutung hatten, so war das Kartenbild doch ein Bild der Welt, das den Anspruch erhob, Wirklichkeit abzubilden. Nicht unwirkliche Symbolizität zeichnet mittelalterliche Weltkarten aus, sondern symbolisch deutbare Wirklichkeit. Seit Jörg-Geerd Arentzens Untersuchung der mittelalterlichen Kartographie kann überdies als eindeutig erwiesen gelten, daß diese symbolisch deutbare Wirklichkeit der Kartographie des Mittelalters nicht die Form einer Scheibe, sondern einer Kugel hatte und daß sich keineswegs ein hemisphärisches und ein scheibenförmiges Weltbild gegenüberstanden, die um den Anspruch konkurrierten, das wahre Bild der Welt zu zeigen. Die Kugelgestalt der Erde ist im Mittelalter nie verdammt worden, sondern findet sich in Texten des gesamten Zeitraums seit Augustinus und Isidor von Sevilla, der lange Zeit als der Begründer der angeblichen mittelalterlichen Erdscheibenvorstellung galt, obwohl er wiederholt explizit von der Erde als Globus sprach, der in der Mitte des Universums liege.74 Die dem Mittelalter hartnäckig unterstellte Verdammung der Kugelgestalt der Erde gehört in die Reihe jener - im schlechten Sinne - „Mythen", mit denen sich die Neuzeit seit der Aufklärung ein dogmatisch-verbohrtes Mittelalter zurechtgebogen hat, aus dessen über einer Scheibe gewölbtem Himmel mit seinem beschränkten Horizont es zu entkommen galt. Das angeblich hartnäckige Festhalten der mittelalterlichen Theologie an der Scheibenform der Erde war nichts anderes als die hartnäckige Mystifizierung 72
John Noble Wilford, The Mapmakers, S. 34 (Hervorhebung MM). Dieses vernichtende Urteil teilt Wilford mit einer langen Reihe von Kartographiehistorikern, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht müde wurden, den fabulösen, mythischen und dogmatischen Charakter der mappae mundi hervorzuheben. Vgl. etwa die ältere Arbeit von Charles Raymond Beazley, The Dawn of modern Geography, aber auch noch den jüngst erschienen Aufsatz von Dieter Neukirch, Das Bild der Welt auf Karten des Mittelalters, in: Reisen und Reiseliteratur. Neukirch hat eine Vielzahl von Ausrufezeichen über seinen Text verstreut, um seinem Erstaunen über eine solch unwissenschaftliche Kartographie hinreichend Ausdruck zu verleihen. Der Aufsatz zeichnet sich jedoch in erster Linie durch eine unglaubliche Ignoranz gegenüber der jüngeren Forschung und die Verwendung populärwissenschaftlicher Literatur für die Beschreibung mittelalterlicher Kartographie aus. Vgl. die Anmerkungen, die ich in meiner Rezension des Gesamtbandes zu Neukirchs Aufsatz gemacht habe, in: Mitteilungsblatt des Mediävistenverbandes 10, Nr. 2 ( 1 9 9 3 ) , S. 2 7 - 2 9 .
73
Vgl. etwa Konrad Miller, Mappae Mundi; Richard Uhden, Zur Herkunft und Systematik der mittelalterlichen Weltkarten; Michael C. Andrews, The Study and Classification of Medieval Mappae Mundi, in: Archaeology 75 (1926), S. 61-76; John Kirtland Wright, The Geographical Lore of the Times of the Crusades. Vgl. David Woodward, Medieval Mappaemundi, S. 320.
74
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jenes Zeitalters, das als Negativfolie dazu diente, das eigene Weltbild erstrahlen zu lassen.75 Daß sich Kugel und Scheibe auch keineswegs konkurrierend gegenüberstanden, hat Arentzen an einer Vielzahl mittelalterlicher Karten zeigen können, in denen die angeblich unvereinbaren Weltbilder miteinander vermischt wurden. Insbesondere an den Karten zum Liber floridus Lamberts von St. Omer konnte Arentzen zeigen, daß TKarten und Zonenkarten ineinandergeschrieben werden konnten und nicht zwei unvereinbare Weltbilder, sondern zwei unterschiedliche Ausschnitte der Welt abbildeten.76 Auf mehreren dieser Karten bildete die durch das T geteilte ovale Oekumene die linke Hälfte des Kreises, während in der rechten Hälfte der Antipodenkontinent eingezeichnet war. Die Widerlegung der bis in die jüngere Forschung noch vertretenen Überzeugung, das Mittelalter habe sich die Welt als flache Scheibe vorgestellt,77 hat den Blick dafür geöffnet, daß das mittelalterliche Weltbild keineswegs so realitätsfern und dogmatisch war, wie vor dem angenommenen Hintergrund einer scheibenförmigen Welt behauptet worden ist.78 Mappae mundi hatten sowohl eine raum-zeitliche als auch eine narrative Struktur und erfüllten von daher mnemotechnische wie raumorientierende Funktionen; aber sie unterschieden sich von der Vermessungskartographie nicht dadurch, daß sie von einem falschen Bild der Welt ausgingen, sondern daß sie eine sinnhafte Ordnung der bewahrenswerten Ereignisse des Weltgeschehens und der bemerkenswerten Gegenstände des orbis terrarum herstellten.79 Auch ohne Maßstäblichkeit und ohne Längen- und Breitengrade konnten mappae mundi deshalb Orientierung bieten: Mit ihrer Hilfe konnte man einordnen, wohin man reiste, und man konnte vermitteln, wovon man berichtete. Ihre semantische Raumordnungsstuktur ermöglicht daher auch nachzuvollziehen, wie die geographischen Beschreibungen der Reiseberichte gelesen werden konnten. Auf Karten, die den Berichten selbst beigefugt wurden, kann dafür allerdings kaum zurück75
Charles W. Jones hat in einem 1934 erschienen Aufsatz, als er mit seiner - im übrigen gut begründeten und mit zahlreichen Beispielen belegten - Meinung, das Mittelalter habe die Erde als Kugel gesehen, noch ziemlich allein stand, die Funktion des „Scheibenmythos" anhand seines eigenen Schulunterrichtes sehr hüsch beschrieben. Von seiner Lehrerin wie von Hunderten anderer Lehrer und Lehrerinnen wurde Columbus zum ersten großen Amerikaner ernannt, weil er an die Kugelförmigkeit der Welt geglaubt und diese gegen alle Widerstände unter Beweis gestellt habe. Die angebliche „flat earth" des Mittelalters, so Jones, wurde durch diese Art von Unterricht zu einem Bestandteil des Jedermannswissens, das keiner Überprüfung mehr bedurfte, sondern in heroischer Selbstwahrnehmung immer weiter narrativiert werden konnte. Vgl. ders., The Fiat Earth, S. 296ff.
76 77
Vgl. Jörg-Geerd Arentzen, Imago Mundi Cartographica, S. 88ff. So noch bei Randles, De la Terre plate au globe terrestre, Paris 1980; John Noble Wilford, The Mapmakers; Dieter Neukirch, Das Bild der Welt auf Karten des Mittelalters. Auch Paul Zumthor beschränkt das Wissen um die Kugelgestalt der Erde auf einen kleinen Kreis von Gebildeten (vgl. La Mesure du monde, S. 224).
78 79
Vgl. Rudolf Simek, Erde und Kosmos im Mittelalter, München 1992, S. 37ff. Zur demgegenüber völlig anderen Funktion der Vermessungskartographie, die für die Herstellung von Macht-Wissen von zentraler Bedeutung war, vgl. Bernhard Siegert, Die Verortung Amerikas im Nachrichtendispositiv um 1500, in: Gutenberg und die N e u e Welt, bes. S. 312 u. S. 317.
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gegriffen werden. Nur wenige Handschriften der Berichte haben Kartenbeigaben: Eine Sammelhandschrift der Königlichen Bibliothek Stockholm hat im Anschluß an den Text des Livre de Marco Polo auf der Verso-Seite des letzten Blattes eine Weltkarte; eine weitere Weltkarte findet sich in einer Handschrift der Diemeringen-Übersetzung von Mandevilles Bericht in der Österreichischen Nationalbibliothek. Bei ersterer handelt es sich um eine schematische Weltkarte in der Tradition der Karten des Uber Floridus Lamberts von St. Omer, auf der die linke Hälfte die nördliche Hälfte der Erdkugel abbildet, in die die Umrisse der Oekumene eingezeichnet sind.80 Die zweite Karte ist eine schematische T-Karte, bei der in der Mitte des durch das T dreigeteilten Kreises ein weiterer Kreis eingezeichnet ist, so daß innerhalb des Kreises die Grundform noch einmal wiederholt wird, die dann jedoch als Signum für Jerusalem fungiert.81 In den äußeren Kreis sind drei rechteckige, zweigeteilte Signaturen eingezeichnet, Asia-Sem in der oberen Hälfte, Affrica-Cham im linken unteren Drittel (das normalerweise für Europa vorbehalten ist) und Europa-Japhet im rechten unteren Drittel. In die obere Hälfte des dreigeteilten Mittelkreises ist Jerusale eingeschrieben.
Die Signaturen des Raumes in den Orientberichten Die erste Annäherung an das Fremde besteht in seiner Lokalisierung. Besonders deutlich wird das in Carpinis systematisch geordnetem Bericht, der mit der Beschreibung der Lage des Landes der Tartaren, seiner Bodenbeschaffenheit und seines Klimas beginnt. „Terra quidem predicta est in ea parte posita orientis, in qua oriens, sicut credimus, coniungitur aquiloni. A b Oriente autem est terra posita Kyatorum et etiam Solangorum; a meridie terra Saracenorum; inter occidentem et meridiem est posita Hyororum; ab occidente provincia Naimanorum; ab aquilone mari oceano circumdatur."
„In jenem Teil, wo der Osten und der Norden aneinanderstoßen" ist eine einfache geographische Lagebeschreibung, der Carpini noch anfügt, welche Länder östlich, südlich und westlich daran angrenzen. „Ab aquilone mari oceano circumdatur", im Norden wird das Land vom Ozean begrenzt. Carpini folgt mit dieser Art der Lagebeschreibung nach Himmelsrichtungen und angrenzenden Völkern dem seit der Antike üblichen Schema der Länderbeschreibung: Die Himmelsrichtung gibt die grobe Orientierung vor und die Namen anderer Ethnien die Begrenzung. Die Feststellung, das Land der Tartaren liege im äußersten Nordosten, ist freilich falsch, und sie läßt sich auch nicht mit Carpinis Reiseroute erklären, die ihn von Kiew aus ziemlich direkt nach Osten mit eher leicht südlichem Einschlag und nicht Richtung Nordosten führte. Nun wäre die Tatsache, daß Car80 81 82
Die Karte ist kurz beschrieben in: Mappemondes, ed. Destombes, S. 178. Zu den Karten Lamberts von Omer vgl. Jörg Geerd Arentzen, Imago mundi cartographica, S. 88ff. sowie Abb. 18. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Bibl. Pal. Vind. Cod. 12249, fol. 189v. ed. Menestö, S. 229f. „Das vorgenannte Land liegt in jenem Teil des Ostens, wo, wie wir glauben, der Osten und der Norden aneinanderstoßen. Östlich davon liegt das Land der Kitaier und auch der Solangen; südlich davon das Land der Sarazenen; zwischen Westen und Süden das Lander der Uighuren; im Westen die Provinz der Naiman; im Norden ist es vom Ozean umgeben."
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pinis Himmelsrichtungsangaben nicht korrekt sind, nicht weiter bemerkenswert, wenn die Himmelsrichtungen nicht semantisiert gewesen wären. In der semantischen Geographie des Mittelalters aber war die Himmelsrichtung eben nicht nur eine Richtungsangabe, denn der Norden galt als der Bereich der Finsternis und der Verdammnis, und die Region, wo Norden und Osten aneinanderstießen, war genau der Ort, an dem auf den großen Weltkarten die Völker Gog und Magog eingezeichnet waren. Wenn Carpini schrieb, das Land der Tartaren liege im äußersten Nordosten der Erde, dann bot das zumindest einen Anhaltspunkt dafür, daß sie eines der apokalyptischen Völker sein konnten, aber auch wenn sie sich nicht als eines der apokalyptischen Völker erweisen sollten, so war doch die convenientia zwischen den Mongolen und den Völkern Gog und Magog bezeichnend. Dieser ersten Zuordnung folgte die Beschreibung der Topographie und der Bodenbeschaffenheit, die ziemlich genau die Beschaffenheit der mongolischen Steppe wiedergibt: der Boden ist karg und wenig fruchtbar, es gibt kaum Wälder und noch weniger Flüsse, weshalb das Land nur als Viehweide taugt und keine Städte hervorgebracht hat. Die Erdkrume selbst hat Carpini offenbar genau untersucht, denn er bemerkte, daß der Boden überwiegend aus Sand bestehe, dem fast überall Kieselsteine beigemischt seien.83 Ausfuhrlicher als mit der Bodenbeschaffenheit beschäftigte sich Carpini aber mit dem Klima. Mit dem ersten Satz der Klimabeschreibung gab er erstmals einen persönlichen Eindruck wieder, bevor er mit der Beschreibung begann: „Aer in ipsa est mirabiliter inordinatus." 84
Für wen die Lage allein noch nicht aussagekräftig genug war, den mußte spätestens dieser Satz aufmerken lassen, denn Unordnung war deshalb bemerkenswert, weil sie zeichenhaft war. Mit dem Satz, das Klima im Land der Tartaren sei „mirabiliter inordinata", zog Carpini explizit eine Deutungsebene in seine Beschreibung ein, die auf die Möglichkeit der symbolischen Deutung exakter Beobachtung verweist. Die anschließende Beschreibung - deren sachliche Richtigkeit von modernen Geographen wiederholt bestätigt worden ist - diente dazu, diese Sinnebene durch Beobachtung zu bestätigen: Mitten im Sommer, wenn es in anderen Regionen heiß zu sein pflege, gebe es hier schreckliche Gewitter mit Donner und Blitz, von denen viele Menschen erschlagen würden, und große Mengen an Schnee. Auch der Hagel sei oft so heftig, daß viele Menschen dabei zu Tode kämen.85 Carpinis Beispiel für solche Hagelstürme ist besonders bemerkenswert: Bei der Inthronisation des neuen mongolischen Kaisers Güyük, bei der er selbst zugegen war, habe es so heftig gehagelt, daß dabei mehr als einhundertsechzig Menschen zu Tode gekommen seien. Unheilvolle Zeichen begleiteten also die Inthronisation des mongolischen Großkhans, und so eindeutig negative Zeichen wie bei seiner Inthronisation konnten nur eine eindeutige Bedeutung haben: Dieser Herrscher erregte in 83 84 85
Vgl. ibid., S. 230. ibid., S. 230. Damit soll nicht gesagt sein, daß Carpini Gewitter und Hagel nicht als natürliche Erscheinungen begriffen habe, wie sie in zeitgenössischen naturkundlichen Schriften, wie bei Albertus Magnus u. a. begründet wurden, sondern vielmehr, daß auch natürliche Erscheinungen zeichenhaft sein konnten. Zu den mittelalterlichen Erklärungen für Naturerscheinungen vgl. Rudolf Simek, Erde und Kosmos im Mittelalter, S. 137-140.
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hohem Maße den Zorn des Himmels. Carpini selbst freilich enthielt sich einer solchen Schlußfolgerung; er trug bei der Beschreibung des Landes der Mongolen lediglich die Signaturen und die paradigmatischen Beispiele zusammen. Ihre Deutung überließ er denen, für die sein Bericht bestimmt war. Zusammenfassend fällte er zwar ein negatives Urteil, das sich aber einer Deutung enthielt: „Et ut breviter de terra ipsa concludami magna est, sed aliter, sicut vidimus oculis nostris, quia per ipsam circumeundo quinque mensibus et dimidio ambulavimus, multo vilior est quam dicere valeamus."
Weitere Ortsangaben machte Carpini dann erst wieder im neunten Buch seiner Historia Mongalorum bei der Beschreibung seines Reiseweges. Auch hier ordnete er wieder Völker nach Himmelsrichtungen und benachbarten Ethnien. „Comania vero habet ab aquilone, immediate post Rusciam Morduinos, Byleros, id est magnam Bulgariam, Bascartos, id est magnam Hungariam; post Bascartos, Parossitas et Samogedos; post Samogedos, illos qui dicuntur habere faciem caninam, in oceani litoribus in desertis. A meridie autem habet Alanos, Circassos, Gazaros, Greciam, Constantinopolim, et terram Hiberorum, Tatos, Brutachios, qui dicuntur esse iudei, hi capunt radunt, et terram Siccorum, et Georgianorum, et Armenorum, et terram Turcorum. Ab occidente habet Hungariam et Rusciam. Terra predicata maxima est et longa."
In ihrer Kargheit erinnern diese Aufzählungen an jene schematischen mappae mundi, auf denen, wie auf den Sallust-Karten, in den orbis tripartitus die Namen von Völkern eingeschrieben sind. Carpini beschränkte sich aber mit seinen geographischen Beschreibungen weitgehend auf den die Mongolen betreffenden Ausschnitt, ohne auf eine „mental map" explizit Bezug zu nehmen. Aus seiner gleich am Anfang getroffenen Feststellung, das Land der Tartaren liege dort, wo der Norden und der Osten zusammenstoßen, dahinter aber komme der Ozean, läßt sich zwar schlußfolgern, daß er von einer vom Ozean umgebenen Oekumene ausging und aus einer Erwähnung des Schwarzen Meeres, das er mit dem in Nord-Süd Richtung fließenden Don zu einem Querarm verband, kann man schließen, daß er sich die Oekumene nach dem T-Schema dreigeteilt vorstellte, aber er selbst nahm explizit keinen Bezug auf eine Weltkarte. 88 Er konzentrierte sich ganz auf die Mongolen und ihr Land, aber dabei orientierte er sich mittels jenes semantischen 86
87
88
ed. Menestö, S. 231. „Kurz gefaßt kann man über das Land abschließend sagen: Es ist groß, aber ansonsten ist es, wie wir auf unserer fiinfeinhalbmonatigen Reise mit eigenen Augen sehen konnten, sehr viel wertloser, als wir sagen können." ed. Menestö, S. 228. „An Komanien grenzen hinter Rußland gen Norden die Morduinen, die Bilaren, das ist Groß-Bulgarien, die Baschkiren, das ist Groß-Ungarn, und hinter den Baschkiren die Parossiten, die Samogeten und hinter den Samogeten, jene, von denen man sagt, daß sie Hundsgesichter haben, die bis an die Küsten des Ozeans in einer ausgedehnten Einöde wohnen. Im Süden von Komanien sind dagegen die Alanen, die Tscherkessen, die Chassaren, Griechenland und Konstantinopel, das Land der Hiberer und der Brutachier, die Juden sein sollen, das Land der Ziehen, der Georgier und Armenier und das Land der Türken. Im Westen hat es die Ungarn und Rußland [als Nachbarn]. Das vorgenannte Land ist sehr groß und langgestreckt." Carpini bezeichnet das Schwarze Meer als mare magnum, das er mit dem Asovschen und dem Kaspischen Meer zu einem großen Meer verband. Vgl. ed. Menestö, S. 309, sowie die Anmerkungen dazu S. 483f.
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Systems der Himmelsrichtungen und klimatischen Beobachtungen, das auch die mappae mundi auszeichnet. Wilhelm von Rubruk entwarf dagegen ein deutlich umrissenes Gesamtbild Asiens, das sich explizit an Isidor von Sevilla orientierte. Anders als Carpini griff er öfter auf antike Namen zurück und verzeichnete die Namen nicht nur, sondern fugte sie in ein umfassendes Orientierungsschema ein, das er aber nicht systematisch präsentierte, sondern mit der Narration seiner eigenen Reise verband. So schrieb er beispielsweise über den Don, den er mit seinem antiken Namen Tanais bezeichnet: „Ambulavimus ergo cum magno labore de mansione in mansionem, ita quod paucis diebus ante festum beate Marie Magdalene pervenimus ad fluvium magnum Tanaim qui dividit Asiam ab Europa, sicut fluvius Egipti Asiam ab Affrica."
Von der konkreten Beschreibung, wann er den Tanais erreicht habe, ging er dabei nahtlos in die Präsentation eines Ordnungswissens über, aus dem deutlich das T-Schema der mittelalterlichen Weltkarten spricht, dessen Querbalken von Tanais und Nil gebildet wurde. Gleich darauf kam er aber wieder auf seine Reise zurück und schilderte, wie er mit seinen Begleitern in kleinen Fährbooten über den Tanais (Don) übergesetzt sei und anschließend drei Tage dort kampieren mußte, weil sein Dolmetscher die Lasttiere voreilig zurückgeschickt habe. Der Zwangsaufenthalt am Ufer des Flusses gibt ihm dann Gelegenheit, ein kumanisches Dorf und seine Ernährungsgewohnheiten zu schildern; von dort aus kommt er aber wieder auf den Tanais zurück: „Fluvius ille erat ibi tante latitudinis quante est Sekana Parisius. (...) Ille fluvius est terminus orientalis Ruscie, et oritur de paludibus Meotidis, que pertingunt usque ad Occeanum ad aquilonem. Fluvius vero currit ad meridiem faciens quoddam magnum mare, septingentorum millium antequam pertingat ad mare Ponti, et omnes aque quas transivimus vadunt ad illas partes."
Durch den Vergleich mit der Seine bei Paris holte er den Fluß in den Bereich der Erfahrung des französischen Königs und vermittelte ihm von diesem Anknüpfungspunkt aus eine erweiterte Erläuterung des geographischen Schemas, das die Unterteilung des Erdkreises beschrieb. Im so unterteilten Erdkreis verlagerte er allerdings im Vergleich zu Carpini das Land der Tartaren von Nordosten nach Osten und gab an, die Tartaren hätten das Land der Skythen, das sich von der Donau bis zum Aufgang der Sonne erstrecke, unter sich aufgeteilt.91 Diese Verlagerung ergab sich nicht zuletzt deshalb, weil Rubruk Isidor, dem er die geographische Einordnung des Landes der Skythen entnommen hatte, in einem Punkt korrigierte. Isidor und mit ihm die gesamte mittelalterliche Kartographie beschrie89
ed. Wyngaert, S. 196. „Wir zogen also unter großen Mühen von Station zu Station, so daß wir wenige Tage vor dem Fest der seligen Maria Magdalena zu dem großen Fluß Tanais gelangten, der Asien von Europa trennt, so wie der Fluß Ägyptens Asien von Afrika."
90
ed. Wyngaert, S. 197. „Der Fluß war dort so breit wie die Seine bei Paris. (...) Dieser Fluß ist die Ostgrenze Rußlands und entspringt in den Mäotischen Sümpfen, die sich nach Norden bis zum Ozean erstrecken. Der Fluß aber fließt nach Süden, w o er ein großes Meer von 700 Meilen Ausdehnung bildet, bevor er zum Pontischen Meer gelangt. Auch alle anderen Flüsse, die wir überquerten, fließen in diese Richtung."
91
Vgl. ed. Wyngaert, S. 172.
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ben nämlich das Kaspische Meer als eine Ausbuchtung des die Oekumene umfließenden Ozeans, so daß die Tartaren, deren Kerngebiet nach übereinstimmender Überzeugung aller frühen Reisenden hinter dem Kaspischen Meer begann, unter dieser Voraussetzung den nordöstlichen Rand der Oekumene besiedelten, in dem die mappae mundi die Völker Gog und Magog ansiedelten. Wilhelm von Rubruk erläuterte Ludwig IX. dagegen, daß das Kaspische Meer ein Binnenmeer sei, das aus der Wolga und mehreren anderen Flüssen gebildet werde. „Venimus ergo ad Etiliam, maximum flumen. Est enim in quadruplo maior quam Secena et profondissima, veniens de maiori Bulgaria, que est ad aquilonem, tendens in meridiem, cadens in quemdam lacum sive quoddam mare quod modo vocant mare Sircan,a quadam civitateque est super ripam eius in Perside, sed Ysidorus vocat illud mare Caspium. Habet enim montes Caspios et Persidem a meridie, montes vero Muliech, hoc est Haxasinorum ad orientem, qui continguantur cum montibus Caspiis, ad aquilonem vero habet illam solitudinem in qua modo sunt Tartari, prius vero erant ibi quidam Comani qui dicebantur Cangie, et ex ilio latere recipit Etiliam que crescit in estate sicut Nilus Egipti. Ad occidentem vero habet montes Alanorum et Lesgi ad portam ferream et montes Georgianorum. Habet ergo illud mare tria latera inter montes, aquilonare vero habet ad planitiem. Frater Andreas ipse circumdedit duo latera eius, meridionale scilicet et orientale: Ego vero alia duo, aquilonare scilicet in eundo a Baatu ad Manguchan et revertendo similiter; occidentale vero in revertendo de Baatu in Siriam; IIII o r mensibus potest circumdari, et non est verum quod dicit Ysidorus quod sit sinus exiens ab occeano. Nusquam enim tangit occeanum, sed undique circumdatur terra."
Zwar siedelte auch er die Tartaren nördlich des Kaspischen Meeres an, aber durch dessen Verschiebung in südöstlicher Richtung rückten auch die Tartaren weiter nach Südosten. Wilhelm rückte die Tartaren damit nicht mehr in die Nähe der apokalyptischen Völker, sondern wies ihnen das ebenfalls traditionelle, aber nicht mit der Apokalypse identifizierte Gebiet der Skythen zu. Das wirkte sich aber nicht nur auf die Verortung der Tartaren aus, sondern auch auf die Einschätzung der von Alexander dem Großen in den Kaspischen Bergen eingeschlossenen Völker, die häufig mit den biblischen Völkern Gog 92
ed. Wyngaert, S. 210f. „So erreichten wir endlich die Wolga, einen gewaltigen Strom. Sie ist viermal so groß wie die Seine und sehr tief. Sie kommt aus Groß-Bulgarien, das im Norden liegt und fließt nach Süden, wo sie in einen See oder ein Meer mündet, das jetzt Sircanmeer nach einer an seinem Ufer in Persien gelegenen Stadt heißt. Isidor aber nennt es das Kaspische Meer. Seine Grenzen bilden im Süden die Kaspischen Berge und Persien, im Osten die Berge der Mulihet, das sind die Assassinen, die an die Kaspischen Berge grenzen. Im Norden liegt die Steppe, die jetzt von den Tartaren bewohnt wird, während früher dort jene Kumanen lebten, die sich Kangle nennen. Und an dieser Seite nimmt das Kaspische Meer die Wolga auf, die im Sommer anschwillt wie der Nil in Ägypten. Auf der Westseite befinden sich die Berge der Alanen, der Lesgier, die Eiserne Pforte und die Berge der Georgier. Auf drei Seiten ist also dieses Meer von Bergen eingesäumt und nur nach der Nordseite von einer Ebene. Bruder Andreas reiste entlang zweier Seiten, nämlich der Süd- und der Ostseite. Ich dagegen reiste entlang der beiden anderen Seiten; auf der Hinreise von Batu zu Manghu Khan und ebenso zu ihm zurück; auf der Ostseite als ich von Batu nach Syrien zurückreiste. In vier Monaten kann man das Meer umkreisen, und es ist nicht wahr, was Isidor sagt, nämlich daß es auf einer Seite vom Ozean ausgeht. Vielmehr hängt es nirgendwo mit dem Ozean zusammen, sondern ist auf allen Seiten von Land umgeben." Der Andreas, von dem Rubruk hier spricht, ist Andreas von Longjumeau.
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und Magog identifiziert wurden. Da Wilhelm die von Alexander eingeschlossenen Völker nach wie vor in den Kaspischen Bergen ansiedelte, diese aber nicht mehr am nordöstlichen Rand der Oekumene verortete, identifizierte er auch sie konsequenterweise nicht mit den apokalyptischen Völkern: „Habebamus autem ad meridiem montes maximos, in quibus habitant, in lateribus versus solitudienem illam, Cherkis et Alani sive Aas qui sunt Christiani et adhuc pugnant contra Tartaros. Post istos prope mare sive lacum Etilie sunt quidam sarraceni qui dicuntur Lesgi qui similiter non obediunt. Post hos est porta ferrea, quam fecit Alexander ad excludendas barbaras gentes de Perside, de cuius situ dicam vobis postea, quia transivi per eam in reditu. Et inter ista duo flumina in illis terris per quas transivimus habitabant Comani Capchac, antequam Tartari occupant eos."
Für Wilhelm war das von Alexander errichtete „Eiserne Tor" lediglich eine imperiale Barbarengrenze und die darin eingeschlossenen Völker waren nomadisierende kriegerische Barbaren, wie die Hunnen und die Ungarn.94 Wilhelm säkularisierte damit aber nicht ein Weltbild, denn die Identifikation der von Alexander eingeschlossenen Völker mit den apokalyptischen Völkern war zwar weit verbreitet, aber nicht durchgängig der Fall, sondern er verschob lediglich ihren Platz im Deutungssystem der Himmelsrichtungen von Norden nach Osten, womit sie sich ganz selbstverständlich von apokalyptischen Konnotationen entfernten, die stärker an die negative Besetzung des Nordens als an ohnehin nie eindeutige Völkeridentifizierungen gebunden waren.95 Die Skythen waren auf den mittelalterlichen mappae mundi ebenso eingezeichnet wie die Völker Gog und Magog, nur eben weiter östlich, und deshalb konnte man sich auch bei gewissen Umbesetzungen nach den Karten orientieren. Als orientierende Welt-Sinn-Bilder boten sie immer hinreichend Platz für Einordnungen und Zuordnungen, die die Fremde verstehbar machten. Da Wilhelm von Rubruk seine Reiseroute weiter in den Osten verlegte als Carpini, konnte ihm auch begegnen, was die Weltkarten im Osten einzeichneten: die Paradiesflüsse Euphrat und Tigris und der Berg Ararat mit der Arche Noah auf dem Gipfel. Die Quelle des Euphrat, in deren Nähe er sich nach seiner Überzeugung auf der Rückreise 93
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ed. Wyngaert, S. 199f. „Nach Süden zu hatten wir hohe Berge vor uns, in denen, auf der zur Steppe gelegenen Seite hin, die Cherkis und Alanen oder Aas leben, die Christen sind und deshalb gegen die Tartaren kämpfen. Hinter ihnen leben nahe dem von der Wolga gebildeten Meer oder See [dem Kaspischen Meer] Sarazenen, die Lesgier genannt werden und den Tartaren ebenfalls nicht unterworfen sind. Nach ihnen kommt das Eiserne Tor, das Alexander errichten ließ, um die barbarischen Völker von Persien fernzuhalten. Über seine Lage werde ich Euch später noch genauer berichten, weil ich auf meiner Rückreise hindurchkam. Und zwischen diesen beiden Flüssen wohnten in jenen Ländern, durch die wir hindurchzogen, die Comani und die Capchac, bevor die Tartaren sie eroberten." Vgl. Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 181; zum Begriff der imperialen Barbarengrenze vgl. Jürgen Osterhammel, Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas, S. 109f. Vgl. Andrew R. Anderson, Alexander's Gate, Gog and Magog and the Inclosed Nations, Cambridge Mass. 1932, bes. S. 126f. (Identifizierung der von Alexander eingeschlossenen Völker mit den Skythen).
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befand, hätte er gerne besucht, so versicherte er, aber der Schnee habe so hoch gelegen, daß er nicht vom Weg abweichen konnte. 96 Die Quelle des Euphrat war nur für den von besonderem Interesse, der in ihm einen der vier im irdischen Paradies entspringenden Flüsse sah. Vom Euphrat wie vom Tigris, den Wilhelm ebenfalls erwähnte, nahm man nämlich an, daß sie vom irdischen Paradies aus zunächst unterirdisch flössen und dann in Armenien bzw. Georgien wieder aus der Erde entsprangen. So waren etwa auf der Karte von Hereford die beiden Flüsse eingezeichnet: einmal im irdischen Paradies und dann wieder in Armenien entspringend, in der Nähe des Berges Ararat mit der Arche Noah. 97 Von der Arche Noah sprach Wilhelm denn auch unmittelbar nach der Erwähnung der beiden Paradiesflüsse. Schon viele hätten versucht, den Berg zu erklimmen, auf dem die Arche Noah liege, aber noch keinem sei es gelungen, wie ihm ein armenischer Bischof versichert habe. Einem Mönch, der es immer wieder versucht habe und sehr betrübt gewesen sei, daß er die Arche nicht sehen dürfe, sei aber einmal ein Engel erschienen und habe ihm ein Stück Holz von der Arche übergeben, das die Armenier jetzt in einer Kirche aufbewahrten. Für Wilhelm schien diese Geschichte freilich zunächst nicht mit seinem eigenen visuellen Eindruck übereinzustimmen: „Non est mons ita altus secundum apparenciam quin bene possent homines ascendere. Et quidam senex dixit michi rationem satis bonam, quare nullus debeat illum ascendere. Illum montem vocant Massis et est femini generis secundum linguam eorum. 'Super Massis', inquit, 'nullus debet ascendere, quia est mater mundi'."
Wilhelm tat diese Erklärung nicht als abergläubisch ab: Sie war vielleicht keine Erklärung, die er gegeben hätte, aber in einer Welt, in der Gott sowohl in der Welt als auch in der Sprache - und das hieß auch in den fremden Sprachen - Signaturen niedergelegt hatte, konnten auch die Erzählungen armenischer Christen und ihre Erläuterungen in das Weltdeutungsschema eingeschlossen werden. Beobachtung und Erzählung waren durch die Allmacht Gottes immer integrierbar, und die Memorialzeichen, die er in der Welt niedergelegt hatte, waren auf allen Ebenen vermittelbar, wenn der Weg des Reisenden ihn daran vorbeifiihrte. Den Berg Ararat mit der Arche Noah sollten nach Wilhelm auch alle späteren Reisenden im Osten erwähnen, und alle gingen in unterschiedlicher Form auf die Frage ein, ob man den Berg, auf dem sie lag, besteigen könne. Marco Polo erwähnte die Arche Noah bei der Beschreibung Groß-Armeniens, was ganz ihrer traditionellen Verortung entsprach, und in der Zelada-Version fugte er hinzu, daß man den Berg nicht besteigen könne, weil auf ihm Schnee liege, der niemals schmelze. 99 Odorico dagegen erklärte, er hätte den Berg gerne bestiegen, wenn seine Reisebegleiter zugestimmt hätten:
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Vgl. ed. Wyngaert, S. 321. Vgl. W. Bevan/H. Phillott, Medieval Geography, S. 69f.
98
ed. Wyngaert, S. 323. „Der Berg erscheint (secundum apparencium) gar nicht so hoch, als daß man ihn nicht leicht besteigen könnte. Aber jener Alte nannte mir einen recht guten Grund dafür, warum ihn niemand besteigen konnte: Sie nennen den Berg nämlich Massis, und dieses Wort ist in ihrer Sprache weiblichen Geschlechts. 'Auf die Massis', so erklärte er, 'darf niemand steigen, denn sie ist die Mutter der Welt'."
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Vgl. ed. Benedetto, S. 15 mit Fn. XXII.
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„In hac contrata est mons ille in quo est archa Noe. in hac contrata est mons ille in quo est archa Noe. In quem libenter ascendissem si mea societas rae prestolari voluisset; et quamquam ascendere voluerim, tarnen gens illius contrate dicebat quod nullus unquam poterat ascender illum montem. Nam hoc videtur, ut dicitur, Deo altissimo non placere." 100
Mandeville schließlich griff dann wieder auf die Geschichte von dem Mönch zurück, dem in seiner Version jedoch nicht ein Engel am Fuße des Berges erschien, sondern der „par la grace de Dieu" auf die Spitze des Berges entrückt worden sei und von dort ein Stück Holz von der Arche mitgebracht habe. 01 Außer diesem Mönch habe aber kein Mensch den Berg besteigen können, und zwar wegen des immerwährenden hohen Schnees. Man könne aber bei klarem Wetter - und das war gegenüber seinen Vorläufern eine Neuerung - die Arche Noah von Ferne auf der Spitze des Berges liegen sehen. Der Reisende konnte damit nicht nur einen der wichtigsten Memorialorte des Ostens an einem Berg in Armenien lokalisieren und eine kurze Geschichte dazu erzählen, er konnte die Arche auch sehen - ohne ihr zu nahe zu kommen. Wilhelm von Rubruk hatte die Tartaren auf der mental map im Vergleich zu Carpini weiter nach Osten verlegt, und in diese Himmelsrichtung bewegten sie sich in den Beschreibungen der späteren Reisenden immer weiter. Dabei wurden sie nahezu zwangsläufig positiviert, weil sie an der positiven Besetzung der Himmelsrichtung partizipierten. Während Carpini und Rubruk noch die Ödnis der Steppe und die Armut ihrer nomadisierenden Bewohner beschrieben, sprach Marco Polo vom Reichtum eines Urbanen, durch große und reiche Städte geprägten Reiches. Zweifellos läßt sich diese Umbesetzung relativ einfach aus der tatsächlichen Verlagerung des Herrschaftsbereichs des mongolischen Großkhans von der Mongolei nach China erklären. 102 Als Carpini und Rubruk zu den Mongolen reisten, hatte der Großkhan seine Haupstadt noch in Karakorum in der inneren Mongolei. Die Mongolen herrschten zu diesem Zeitpunkt noch über die Steppe, lebten größtenteils nomadisierend in Zelten, und der Großkhan regierte ein Reich ohne große Städte, Paläste und Kirchengebäude. Als Marco Polo zum Großkhan kam, hatten die Mongolen in der Zwischenzeit Nordchina erobert, und der Großkhan hatte seine Residenz von Karakorum nach Khan-baliq (Peking) verlegt. Die Berichte beschrieben also, wenn sie übereinstimmend von den Mongolen sprachen, ganz unterschiedliche Mongolen, denn diese hatten nicht nur ihr politisches Zentrum geographisch verlagert, sondern sie hatten sich auch der neuen eroberten Kultur angepaßt und beherrschten jetzt, wie Marco Polo und Odorico nachdrücklich beschrieben, ein blühendes Reich mit riesigen Städten, mit denen sich europäische Städte nicht vergleichen konnten. Das war faktisch ebenso richtig wie es semantisierbar war: Heilsgeographisch machte diese Verlagerung Sinn, weil die Mongolen damit nicht mehr im Nordosten, sondern im Osten der Oekumene angesiedelt waren und so die positiv besetzten Bedeutungselemente dieser Himmelsrichtung auf sie übertragen werden konnten. Von den 100
ed. Wyngaert, S. 416. „In jener Gegend ist der Berg, auf dem die Arche Noah liegt. Ich hätte ihn gerne bestiegen, wenn meine Gefährten auf mich hätten warten wollen. Ich wollte den Aufstieg wagen, obwohl die Leute dieser Gegend sagen, daß niemand jenen Berg besteigen könne. Denn, so wurde gesagt, das gefalle Gott dem Höchsten nicht."
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Vgl. ed. Letts (Paris-Text), S. 313. Vgl. Folker Reichert, Begegnungen mit China, S. 96f.
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Kitaiern hatten schon Carpini und Rubruk positiv gesprochen, und die Mongolen konnten nun heilsgeographisch die Kitaier beerben. Gleichzeitig wuchs in den Reiseberichten die Zahl der auch in den mappae mundi verzeichneten Memorialorte enorm an: Marco Polo wie Odorico berichteten von der Stadt, aus der die Heiligen Drei Könige gekommen seien, beide erwähnten den Dürren Baum, das Grab des Apostels Thomas in Indien, Odorico sprach von einem See, der sich aus den Tränen gebildet habe, die Adam und Eva vergossen, nachdem sie aus dem irdischen Paradies vertrieben worden waren usf. Und auch die Tiersignaturen und die monströsen Völker, die auf den Weltkarten vorwiegend im Südosten angesiedelt waren, fanden sich in den Berichten immer zahlreicher wieder. Der öde Nordosten, der auf den mappae mundi immer nur wenige Signaturen aufgewiesen hatte, wurde abgelöst durch die Vielfältigkeit des Südostens mit der indischen Inselwelt, die vor bedeutsamen Elementen überbordete. Die Eindeutigkeit der Bedeutungen schwand dagegen mit ihrer Vielfalt und dem Wechsel der Himmelsrichtung. Während der Norden wertende Zuordnungen geradezu forderte, war der Südosten nicht eindeutig wertbesetzt. Er war die Himmelsrichtung der überlappenden Bedeutungsebenen, der Vielfältigkeit der Schöpfung und der Verwunderung, die vor der Bewertung stehen blieb. So wenig mappae mundi zur Reiseplanung taugen mochten, so sehr vermochten sie umgekehrt den Reisenden Orientierung zu bieten und die Vielfältigkeit der fremden Wirklichkeit in die Vielfältigkeit ihrer Beschreibung zu integrieren. Aber nur für das Verständnis von John Mandevilles Reisebericht hat man wiederholt auf die Bedeutung der mappae mundi hingewiesen. Schon Konrad Miller hatte bemerkt, daß die Übereinstimmungen zwischen Mandevilles Beschreibungen und der Ebstorfer Weltkarte vielfältig sind: „An diese Karte [die Ebstorfer] hat ja die deutsche Poesie angeknüpft, und wenn man die altdeutschen Sagen, das Alexanderlied, Herzog Ernst von Schwaben, Rudolf von Ems, Reinfrit von Braunschweig, Herrmann von Sachsenheim oder die Reisen des Mandeville und Johannes von Hese und viele ähnliche Werke ganz verstehen will, dann muß man die mappa mundi zur Hand nehmen."103 Miller zielte hier sicherlich nicht auf eine unmittelbare Verknüpfung in dem Sinne, daß Mandeville die Ebstorfer Weltkarte als direkte Vorlage benutzt habe, sondern verwies vielmehr auf die Ähnlichkeit zwischen der Ebstorfer Karte und Mandevilles Weltbeschreibung. Ähnlich argumentierte Hubertus Schulte-Herbrüggen, der auf die Nähe des Mandevilleschen Berichts zur Weltkarte von Hereford hingewiesen und dazu angemerkt hat, der Text lese sich „wie ein Kommentar zur Hereford-Karte, die Karte wie eine Illustration zu seinem Text".104 Malcolm Letts meinte sogar, die Weltkarte von Hereford als direkte Vorlage für Mandeville ausmachen zu können, wobei er jedoch von der falschen Voraussetzung ausging, daß es im Mittelalter keine vergleichbare Karte gegeben habe. „It is difficult to believe that an Englishman writing in the fourteenth Century of a Mappa mundi can have been thinking of any other map. Bevan and Philott give details of other medieval picture maps, but in point of size and elaboration of the pictorial illustrations and its ornamentation, the Hereford map is unsurpassed by anything that preceded it. This, of course, is 103 104
Konrad Miller, Mappae Mundi, Heft V: Die Ebstorfkarte, S. 79. Hubertus Schulte-Herbrüggen, Ite in mundum universum, in: Reisen in reale und mythische Ferne, S. 3 5 - 7 5 , hier S. 50.
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not conclusive, as the same wonders and marvels were part of the common stocks at the time, but there was nothing in England to equal the giant 'wheel' at Hereford."105 Wenn auch eine direkte Vorlage mehr als unwahrscheinlich ist und die Übereinstimmungen damit begründbar sind, daß Mandeville und die großen mappae mundi aus denselben Quellen schöpften, so sind die zahlreichen Übereinstimmungen doch zweifellos bemerkenswert und weitreichender als das, was die früheren Reiseberichte an semantischer Geographie transportiert haben. Wie die großen mappae mundi ging Mandeville davon aus, daß Jerusalem in der Mitte der Welt lag, und wie für die Karten war auch für den Welt-Pilger Mandeville die Mittelpunktlage Jerusalems nicht nur ein Orientierungspunkt, sondern ein Element der Weltordnung, dessen besondere Bedeutsamkeit durch die Heilige Schrift und die Worte der Philosophen verbürgt war. Bei Mandeville war darüber hinaus die Mittelpunktlage aber auch erfahrbar, begründbar und mit dem Alltagswissen eines jeden vermittelbar: „Et bien voult le Roy de gloire en celui plus quen vne autre terre passion et mort souffrir. Car qui voult aucune chose publier, si que chascun le sache, il le fait crier et prononcier en my la ville, si que la chose soit sceue de toutes pars. Ausssi le createur de tout le monde voult souffrir mort pour nous en Iherusalem, qui est en my le monde, a la fin que la chose fust publiee et sceue de tous les costes du monde, comment il auoit chierement compare les hommes, quil auoit faiz a son ymage, et comment il nous auoit rachetes chierement, pour la grant amour quil auoit vers nous senz ce que nous leussions desserui."
Auf diesen Mittelpunkt Jerusalem hin orientierte Mandeville den ersten Teil seiner Reise. Von diesem Mittelpunkt aus bewegte er sich dann durch den gesamten Osten bis an die Mauern des irdischen Paradieses. Der Orientierung von Jerusalem aus und auf Jerusalem hin folgte die Orientierung vom irdischen Paradies aus und auf das irdische Paradies hin, bis zu dessen Mauern Mandeville gelangte. Über das Paradies freilich, so teilt er seinen Lesern mit, könne er nicht als Augenzeuge berichten, denn es war auch fur den frommen Pilger bis zur Erlösung aller Menschen verschlossen, und er könne deshalb nur das darüber mitteilen, was er par delà darüber gehört habe: „De paradis terrestre ne vous saroi ie proprement parler, car ie ny fui onques. Ce poise moy, car ie ne fu mie digne de la aler. Mais ce que ien voy dire ou pays par delà, le plus ie vous en dirai moult volontiers. Paradis terrestre on dit que cest la plus haute terre du monde, et est en orient au commencement de la terre. Et est si haute quelle touche bien près du cercle de la lune, par le 105 106
Malcolm Letts, Sir John Mandeville, S. 102. ed. Letts, S. 229f. „Und da von daz es daz best was und das edlost und daz hailigost land was, do wolt got selbser sin leben da verschlissen durch unsern willen und uns da selbest erloesen von der oewigen pin und von oewigem tod, den uns berait hett unser erster vatter Adam und Eva. Das unser herre gott für uns starb zuo Jherusalem, das taette er darumb das es enmitten in der weit was, als ich vor gesprochen hon, das es solt dester e erschellen uff aller oert der weit. Wann ir wol wissent, wenn man etwas gebietten, beschrien oder ruoffen will, so tuot man es allweg enmitten uff dem platz oder mitten in der statt. Also wolt Cristus sinen tod liden mitten in der weit, das es yederman recht wissen oder hoeren und sehen moecht und solt innen werden der grossen trü und liebin die er zuo uns armen sünder gehept hatt, on das wir es umb in hetten verdienet" (ed. Morrall, S. lf.).
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quel la lune fait son tour. Car elle est si haute que le flueue de Noe ne la pot ataindre, qui couuri toute la terre du monde dessus et dessouz, fors que paradis tant seulement. Et si est paradis enclos tout dun mur, et si ne scet on de quoy il est; et si semble que les murs soient couuers de mousset, et ny perent pierres ne caillous ne autre maçonnerie de quoy les murs soient fais. Et si descent le mur de midy vers byse, et ny a que vne entree, qui est enclose de feu ardant, si que nuls homs mortels ny pourrait entrer." 107
Das Paradies blieb auch für den imaginär Reisenden unerreichbare Ferne, aber dennoch konnte er, wenn auch mit Abstrichen, ein Zeugenwissen präsentieren, das ihn von seinen Lesern und auch von seinen reisenden Vorgängern unterschied, die um die Lage des irdischen Paradieses zwar wußten und Zeichen für seine Nähe entdeckten, ohne aber selbst bis dorthin gelangt zu sein. Was Mandeville über das Paradies sagte - nämlich daß es auf einem so hohen Berg liege, daß dieser fast an die Umlaufbahn des Mondes stoße und es deshalb von der Sintflut nicht erreicht worden sei, daß die Mauer, die es umschloß, ganz mit Moos bedeckt sei, so daß man nicht sagen könne, aus welchem Stein sie gemacht sei, und schließlich, daß der einzige Eingang mit einer Feuerwand verschlossen sei - , präsentiert er als das, was dort, in der Nähe des Paradieses, gesagt wurde. 108 Mandeville verwendete von den bekannten Vorstellungen, wie das irdische Paradies für die Menschen verschlossen ist - auf einem hohen Berg, von einer unüberwindlichen Mauer umgeben, mit einer Feuerwand verschlossen - alle drei und steigert so durch die Quantität die Qualität des Ausschlusses der Menschen aus dem Paradies. Auf der Ebstorfer Weltkarte ist das Paradies von einem Mauerring umgeben, auf der Hereforder liegt es außerdem auf einer Insel und auf dem gegenüberliegenden Festland wacht der Cherubim mit dem Schwert. Sowohl die Ebstorfer als auch die Hereforder Weltkarte bilden im Paradies den Brunnen ab, aus dem die vier Paradiesflüsse entspringen, gemäß der Genesisstelle: „Et fluvius egrediebatur de loco vuluptatis ad inrigandum paradisum qui inde dividitur in quattuor capita/nomen uni Phison ipse est qui circuit omnem terram Evilat (...)/ et nomen fluvio
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ed. Letts, S. 405. „Von dem irdeschen paradyß da wolt ich uch gern aigenlich sagen. Das mag ich laider nit getuon, wan ich sin nit enwaiß, wan das ich da von gehoert sagen, das wil ich uch och gern kunt tuon. Da das paradyß ist, da ist das erterich hoecher wan es in der weit ienen und ist an dem anfang der weit gen Orient wert es, Und das erterich ist das als hoch das es nit vere ist von dem zirckel da der mön sinen gang inne hät. Wann es ist also hoch da, so allu weit bedeckt was mit wasser by Noes zytt, do ruort das wasser das paradyß nit. Das paradyß ist geschlossen in ein mur, es waiß aber nieman wa von die mur syge, wann sie ist gedeckt mit mieß, das von denn boemen wachset, und mag weder stein noch sül gesenhen. Man mag nun uff ain tail dar gon, das ist verschlossen mit fuer, also das kain toettlicher mensch nit hin in mag kommen" (ed. Morrall, S. 165f.). Als tatsächliche Quellen für die Lage des irdischen Paradieses auf einem hohen Berg kommen Petrus Commestors Historia Scholastica (Gen. XIV, col 1068) oder die Otia Imperialia des Gervasius von Tilbury (I, XI, S. 892f.) in Frage. Vgl. Christiane Deluz, Le Livre de Jehan de Mandeville, S. 490.
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secundo Geon ipse est qui circuit omnem terram Aethiopiae/ nomen vero fluminis tertii Tigris ipse vadit contra Assyrios fluvius autem quartus ipse est Eufrates."
Den Ursprung der vier großen Flüsse des Ostens im irdischen Paradies übernahm Mandeville nahezu wörtlich auch dem Buch Genesis: „Et ou plus haut de la terre de paradis en my lieu est la fontaine qui gete les iiii. fleues, qui queurent par diuerses terres. Dont le premier fleue si a a nom Phison ou Ganges, cest tout vn, et queurt par my Ynde ou Sinlac [Emlac]; (...). Et lautre riuiere si a a nom Nil ou Gyon, et qui va par my la terre de Ethyope et par my Egypte. Et lautre si a a nom Tygris, qui queurt pa my Asye la grande et par my Ermenie la Grande. Et lautre si a a nom Euffrate, qui queurt par my Medie et par Persyse et par la petite Ermenie."
Während die anderen Reisenden nur einen oder zwei der Paradiesflüsse beschrieben, von denen sie meinten, sie gesehen zu haben, beschrieb Mandeville den Verlauf aller vier Flüsse und unterteilte nach ihnen die Regionen Asiens. Mandeville aktualisierte und ergänzte gegenüber den mappae mundi, denen er auch hier an Vollständigkeit der Signaturen gleichkam, freilich die Namen der Länder und fügte außerdem noch die Bedeutung ihrer Namen in den fremden Sprachen der jeweiligen Länder bei. So erklärt er etwa bei doppelten Namen wie im Fall Phison/Ganges und Nil/Gyon deren Herkunft: Phison bedeutet „en leur langaige" Vereinigung, weil viele andere Flüsse in den Phison münden, „en autres lieux" nennt man ihn aber Ganges, wegen eines indischen Königs mit Namen Gangeres, dessen Land er umfließt. Der zweite Fluß ist der Nil, den einige aber Gyon nennen, weil er durch „Ethyope" und „Egypte" fließt - die Namen der beiden Länder fließen damit zu einem Flußnamen zusammen. Auch lassen sich nach Mandeville die Namen mit fremdsprachlichen Etymologien verbinden, denn die Wasser des Gyon/Nil seien stellenweise trübe, und Gyon bedeute in der Sprache der Äthiopier „trübe", während in der Sprache der Ägypter Nil „trübe" bedeute. „Tygris" bedeute sehr schnell, denn er sei der am schnellsten fließende von allen Flüssen, weshalb man auch das schnellste Tier, das es auf der Welt gebe, nach ihm „Tygris" benannt habe. Der Name des Euphrat schließlich bedeutet „bien pourtant", fruchtbar, denn an seinen Ufern gedeihen Früchte und Getreide und viele andere Dinge. Mandeville verknüpft in seiner Beschreibung der vier Paradiesflüsse also mehrere Elemente miteinander: Die Worte der Bibel mit den Worten der fremden Sprachen und die fremden Sprachen mit den Namen der fremden Tiere. Mandeville stellte damit gezielt Ähnlichkeiten nebeneinander, deren Zeichenhaftigkeit er immer wieder explizit machte. Er unterschied sich damit von früheren Reisenden nicht dadurch, daß er ein traditionelleres, von Erfahrung ungetrübtes Weltbild verkörperte, sondern dadurch, daß er deren Erfahrung vervollständigte, in der Erfahrbarkeit der Welt tief verankerte und explizierte, erläuterte und begründete, was in
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Lib. Gen. 2, 10-14. ed. Letts (Paris-Text), S. 405. Vgl. auch S. 309. „Und mitten in dem paradyß da ist der brunn da von die vier wasser komend die da iren loff hond durch menig land. Das erst haisset Physon oder Ganges, das ist alles ains, und das gät durch Yndia. (...) Das ander wasser haisset Nil oder Geon, das gät durch Moren land und durch Egypten. Das dryt wasser haisset Tygris, das gäz durch Asya und durch das groß Armenia. Das vierd wasser haisset Eufrates, und das gät durch Persya und das klain Armenia" (ed. Morrall, S. 166).
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den früheren Berichten meist nur angedeutet, für den geübten Leser aber lesbar war. Mandeville übertrug die Lesbarkeit der Welt in die Beschreibbarkeit der Welt, indem er von der Oberfläche der Dinge immer wieder in die Tiefe ihrer Bedeutungen vordrang. Mandeville ging jedoch in einem weiteren geographischen Aspekt über seine Vorläufer hinaus, der geeignet zu sein schien, den Ruf des Fabulierers wieder zu relativieren: die Erörterung der Kugelgestalt der Erde. Für die Interpretation Mandevilles hat die in seinem Text mehrfach erörterte Kugelgestalt der Erde eine ähnliche Rolle gespielt wie der Titel Milione in der Marco Polo-Forschung: So wie der angeblich generelle Lügenverdacht der Zeitgenossen gegenüber Marco Polo als Paradigma dafür galt, daß er seiner Zeit voraus war und man ihm deshalb keinen Glauben schenkte, diente die Kugelgestalt der Erde im Falle Mandevilles dazu, ihn vom Vorwurf der Lügenhaftigkeit oder der Mythengläubigkeit zu rehabilitieren und in einen kühn denkenden Vorläufer Columbus' zu verwandeln. Die Kugelgestalt der Erde und ihre Erfahrbarkeit hatten jedoch auch Marco Polo und Odorico de Pordenone konstatiert, denn sie bemerkten, daß man von der Höhe Samatras (Sumatra) aus, das bei Odorico Lamori heißt, also einem relativ südlichen Punkt des Ozeans, den Polarstern nicht mehr sehen könne, weil er von der Erde verdeckt werde.111 Diese Hinweise gingen ebenso selbstverständlich von einer Kugelgestalt der Erde aus wie Mandeville. Bei Carpini und Rubruk gibt es zwar keine vergleichbaren Hinweise, aber für die Landreisenden, die an keiner Stelle bis an die Küste des Ozeans vorstießen, gab es auch keinen Grund, auf die Sterne o. ä. hinzuweisen, die einen eindeutigen Zusammenhang mit der Kugelgestalt belegen könnten. Eine Bemerkung bei Wilhelm von Rubruk allerdings läßt doch darauf schließen, daß auch ihm die Kugelgestalt der Erde selbstverständlich war. Die Tartaren hätten nicht begreifen können, so berichtete er seinem König als Beispiel für deren unbedarfte, von der Steppe beherrschte Weltsicht, daß der Ozean rand- und grenzenlos sei.112 Dieser Hinweis macht nur Sinn, wenn Wilhelm wie sein König ganz selbstverständlich von der Kugelgestalt der Erde ausgingen, denn eine scheibenförmig gedachte Welt müßte immer Grenzen des Ozeans am Rand der Welt annehmen. Was man dem Mittelalter so lange und so hartnäckig unterstellt hat, war für Wilhelm nichs anders als die Auffassung von Barbaren, denen es an Büchern und Wissenschaft mangelte. Die im Text an mehreren Stellen eingehend erörterte Kugelgestalt der Erde, die man so lange als für das Mittelalter außergewöhnlich und modern betrachtete, wie man davon ausging, daß sie im Widerspruch zu der vorgeblichen Scheibenform mittelalterlicher mappae mundi stand, sollte aus Mandeville einen neuzeitlichen Literaten machen, der an die von ihm berichteten Wunderdinge selbst nicht geglaubt, sondern sie als fiktionale Elemente einer spielerischen Einbildungskraft begriffen habe.113 Für Josephine Waters 111
Vgl. ed. Benedetto, S. 172; ed. Wyngaert, S. 445. Odoricos deutscher Übersetzer Konrad Steckel konnte freilich mit der Bezeichnung „tramontana" offenkundig nichts anfangen, und ersetzte den Polarstern deshalb durch die Sonne - und seine eigene Verwirrung durch die Odoricos: „Da verlöß jch die mazz der sunnen gankch, also daß ich nicht west, wo ich waz" (ed. Strasmann, S. 63).
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Vgl. ed. Wyngaert, S. 222. So insbes. Josefine Waters Bennett: The Rediscovery of Sir John Mandeville, S. 36 u. 49.
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Bennett etwa war die bei Mandeville explizierte Annahme der Kugelgestalt der Welt von entscheidender Bedeutung für die Interpretation des Textes: „Mandeville's assumption that the laws of nature operate even on the other side of the world is a fundamental part of his belief that it is possible to sail all the way around it. In fact, his conception of natural law makes it highly improbable that he believed at all in the unnatural marvels which he retold from Odoric and Solinus and the letter of Prester John."114 Von einer ähnlichen Gegenüberstellung der flachen Scheibe der Weltkarten mit Mandevilles Globus ging auch noch Mary Campbell aus, die betonte, Mandevilles Annahme der Kugelgestalt habe aus der „anderen Welt" des Ostens eine Welt der Imaginationen und der Relativierungen gemacht, die er aus der Geographie des Realen gewonnen habe: „It is in his avoidance of the absolute and its closure that Mandeville is perhaps most new. His paradise is many things, including - figuratively - his destination. But it is not the end, nor even the end of the book. Geography, shapeless and real, must here part company with the shapely hierarchy of the theological map. The center of a spherical world can not be found on its surface, and the edge can not be found at all. Mandeville has used his geography symbolically, as did the makers of the mappae mundi and the biblical commentaries. But his method was an invention of theirs: they imagined a geography expressive of preordained ideas. He shaped ideas out of the geography of the real. Mandeville the artist was indeed 'ahead of his time', ahead, as good artists are, of any time."115 Diesem Versuch der Ehrenrettung Mandevilles liegt der aus der falschen Vorstellung, die Kugelgestalt der Erde sei im Mittelalter verdammt gewesen bzw. es habe einen Widerspruch zwischen den scheibenförmigen mappae mundi und den Sphärentheorien gegeben, resultierende Schluß zugrunde, wer ihr angehangen habe, müsse ein modernes Weltbild gehabt haben, und wer ein modernes Weltbild gehabt habe, könne die von ihm selbst berichteten Wunder nur als Bestandteile einer Fiktionalität der Toleranz verstanden haben. Mit der Widerlegung der Annahme, das Mittelalter habe sich die Erde als flache Scheibe vorgestellt, hätte nun eigentlich die These hinfällig werden müssen, Mandevilles Beschreibung der Erde als Kugel sei außergewöhnlich. Die Forschung hat jedoch von einer liebgewonnenen These nicht gerne Abschied nehmen wollen und deshalb an der Ausnahmestellung der Kugelgestalt der Erde bei Mandeville festgehalten, wobei sie diese entweder als Ausdruck seiner Modernität betrachtete oder aber als Teil seines literarisch-phantastischen Programms - mit zum Teil erheblichen argumentativen Schwierigkeiten. So hat Helmut G. Walther erklärt, Mandevilles Annahme der Kugelgestalt der Erde diene ihm dazu, mehr Platz für seine fabulösen Dartellungen zu bekommen: „Bei Mandeville ist es geradezu ausgemacht, daß die Erde eine per Schiff zu umfahrende Kugel ist, weil auf diese Weise genügend Platz für ungekannte und phantastische Völker auf der Gegenseite ist."116 Und Stephen Greenblatt hat betont, die Vorstellung der Kugelgestalt der Erde hebe die Vorstellung von einem heiligen Zentrum auf, so wie Mandeville selbst die Vorstellung von der Wirklichkeit aufhebe: „Es gibt keine mystische Mitte mehr, keine Stätte mit einem Monopol auf Würde: In der sphärischen Welt wird jede 114 115 116
ibid., S. 36. Mary Campbell, The Witness and the Other World, S. 161. Helmut G. Walther/Tomas Tomasek, Gens consilio, S. 259.
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Landschaft immer vom Schatten einer anderen begleitet; wenn man eines Artefakts ansichtig wird, so denkt man sich anderswo ein fremdes Pendant; wenn man sich auf einen Text beruft, hört man das Echo eines anderen. Auf der Reise vom Mittelpunkt zum Rand der Welt, vom Felsendom zur Umrundung der Kugel, vom Traum der Wiederaneignung zur endlosen Zirkulation, hat sich das Metonymische ins Metaphorische verwandelt." 117 Die merkwürdige Schlußfolgerung, die Greenblatt daraus zieht, nämlich Mandevilles Werk sei ein Sinnbild für das Fehlen des Menschlichen in der Geschichte und als Ausdruck unendlicher Zirkulationen, frönt jedoch selbst der Metaphorologie, die sie Mandeville unterstellt. 118 Mandevilles Ausfuhrungen über die Kugelgestalt der Welt sind durchaus nicht metaphorisch zu verstehen oder als Ausdruck einer Toleranz der Einbildungskraft, sondern als Ausdruck einer Verschränkung von theoretischem Wissen und Augenzeugenerfahrung, die ihn von den übrigen Reisenden abhebt, aber nicht in die Unverbindlichkeit literarischer Entwürfe verweist. Mandevilles Beschreibung der Kugelgestalt der Welt unterscheidet sich von den hingeworfenen Bemerkungen der übrigen Reisenden in erster Linie dadurch, daß er sie ausfuhrlich begründete. Er gab an, sie selbst vermessen zu haben, und übertrug die theoretischen Ausführungen seiner Quelle, Johannes' de Sacrobosco Traktat De Sphaera, in die Erfahrung des Reisenden, die von jedem Leser leicht nachvollzogen werden konnte. Daraus schlußfolgerte er die Umrundbarkeit der Erde per Schiff. Von der Erwähnung des Polarsterns bei Odorico, die er übernahm, ging Mandeville zu einer ausführlichen Erörterung über, in der er zunächst erläuterte, daß die Seeleute im Süden nicht nach dem „tremontaine", sondern nach einem anderen Stern, dem „antartique" navigierten, der im Norden „point a nous" nicht gesehen werden könne: „Pour quoy on puet apperceuoir que la terre et la mer sont de ronde forme; car la partie du firmament appartient a vn pays qui ne appartient point a autre. Et ce peu on apperceuoir par experience e subtile indication, que se on trouuoit passage de nef et gens qui vousissent aler et cherchier le monde, on pourroit aler a nauie tout entour le monde, et dessure et dessoubs."
Mit dem Astrolab habe er selbst in Europa die unterschiedlichen Höhen des Polarsterns gemessen und von Lybien aus, wo er erstmals den „Antartique" gesehen habe, habe er in Richtung Ethiopien dessen Höhenunterschiede gemessen, und wenn er denn Schiffe und Gefährten gehabt hätte, so würde er die Rundheit des Firmaments und die ganze Erde
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Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer, S. 71 f. ibid., S. 80f. Gegen diese merkwürdige Metaphorik hat auch Werner Röcke von einem anderen argumentativen Ausgangpunkt aus Einwände geltend gemacht. Vgl. ders., 'New Historicism', S. 220. ed. Letts (Paris-Text), S. 331. „Daran kann man erkennen, daß die Erde und das Meer rund sind: denn der Teil des Firmaments, der in einem Land zu sehen ist, ist in einem anderen nicht zu sehen. Und das kann man durch Erfahrung und subtile Anzeichen erkennen, und wenn man ein Schiff und Leute fände, die die Welt entdecken wollten, könnte man mit dem Schiff die ganze Welt, an der Oberseite und der Unterseite, umfahren." Michel Velser, der dem altfranzösischen Text sonst sehr nahe steht, weicht an dieser Stelle etwas ab: „Wann sicher wa ainer geselleschafft und schiff moecht gehön, der fuer umb und umb die weit als ich vorgesprochen hon, wann ich sin ain groß teil versuocht hon" (ed. Morrall, S. 113).
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vermessen haben, von der er aber von seiner Reise von England bis nach Indien immerhin drei Viertel gesehen habe. „Pour quoi ie di certainement que on pourrait enuironner toute la terre du monde, aussi bien par dessouz comme par desseure, et retourner arriéré en son pays qui auroit compaignie et conduit et nauie, et tousiours trouueroit en terres et pays et ylles, tout aussi bien comme en ce pays. Car vous savez que ceuls qui sont endroit de lantartique sont droitement pie contre pie de ceulz qui demeurent dessouz la tresmontaine, aussi bien comme nous et ceulz qui demeurent dessouz nous somme pie conte pie; car toutes le parties de mer et de terres ont leurs opposites habitables et trespassable et de ca et de la. Et sachies que, selon ce que ie puis appareceuoir ne comprendre la terre de Prestre Iehan, empereur dinde, est dessouz nous. Car en alant descoce et dangleterre vers Iherusalem on monte tousiours. Car nostre terre est en basse parités de la terre vers occident, et la terre de Prestre Iehan est en la basse partie vers orient. Et ont la le iour quant nous suons la nuit, et aussi au contraire il ont la nuit quant nous auons la nuit."
Mit dieser ausführlichen Erörterung ging Mandeville in der Tat weit über das hinaus, was die anderen Reisenden nur angedeutet hatten, und auch über das, was ihm seine theoretischen Quellen übermittelten. Sacrobosco ging in seinem Traktat De Sphaera zwar ebenfalls von der Umrundbarkeit der Erde aus, und Brunetto Latini hat in seinem Tresor du monde ebenfalls davon gesprochen, daß die Erde überall bewohnbar sei und auf der anderen Seite von den Antipoden bewohnt werde, aber Mandeville zog aus diesen Überlegungen neue Schlüsse. Die Antipoden, die anders als die Kugelgestalt der Erde tatsächlich umstritten waren, nahm Mandeville nicht mehr als ein völlig unbekanntes Volk auf der anderen Seite der Welt wahr, sondern dehnte die Oekumene konsequent über die Erdkugel aus, die damit nicht mehr nur, wie in den kosmologischen Schriften, ein Viertel, sondern drei Viertel der Erde einnahm. Damit wurden die Antipoden in die Oekumene integriert, die bei Mandeville recht eigentlich die Welt und nicht nur einen kleinen Teil davon bildete. Der Raum der Heilsgeschichte war damit mit dem Raum der Schöpfung identisch, und überall in ihr konnten sowohl Zeichen der Schöpfung als auch Zeichen der Erlösung aufgefunden werden. Mandeville dezentralisierte damit nicht Jerusalem als den Ort der Erlösung, sondern zentrierte die ganze Welt, die geographisch in der Vollendetheit des allumfassenden Kontinuums der Kugel beschreibbar war, auf die Erlösung. Ganz wie auf der Ebstorfer Weltkarte dehnte sich bei Mandeville das Kreuzzeichen des Erlösers auf die gesamte Oekumene aus, und die gesamte Oekumene war identisch mit der gesamten Welt, die Christus mit seinem Kreuzesopfer erlöst hatte. Christiane Deluz, die Mandevilles geographische Vorstellungen erstmals 120
ibid., S. 353. „Dar umb sprach ich sicherlich daz man mag faren umb und umb die weit und wider umb kumen in sin haimet, und man findet all weg ynselen und land. Da von soellent ir wissen daz die die da sind gelich in dem mittemtag die halten ir fueß wider fueß die da sind in septemtrione, und die von orient gen den die da sind inoccident. Wann ir soellent wissen daz Priester Johans von Yndia land daz ist in dem nidrosten tail, da die sunn uff gatt. Also ist Engelland in dem nidrosten tail, da die sunn zerast gatt. Da von wenn es in India tag ist, so ist es nach in Engelland; und wenn es tag ist in Engelland, so ist es nacht in Yndia. Und ist es da von wann die erd und daz mer sind sinwel, als ich üch vor geseyt hon" (ed. Morrall, S. 114f.). Otto von Diemeringen übergeht in seiner Übersetzung diese Ausfuhrungen ganz; vgl. dazu Klaus Ridder, Jean de Mandevilles 'Reisen', S. 249-253.
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einer wirklich gründlichen Untersuchung unterzogen und zu Recht die Bedeutung der Geographie für Mandevilles Buch hervorgehoben hat, hat daraus freilich geschlußfolgert, Mandeville mache die Welt zum Ort der Utopie.121 Das aber tut er gerade nicht: Es gibt keine Nicht-Orte bei Mandeville, keinen Entwurf einer vorbildlichen fremden Gesellschaft, die nach den Vorstellungen des positivierten Eigenen besetzt war, sondern vielmehr die Einheit der Welt, in der alle Menschen in einem einheitlichen Raum angesiedelt waren, weil alle die Zeichen der Schöpfung und die Zeichen der Erlösung in sich trugen. „Es gibt überall nur ein und dasselbe Spiel, das des Zeichens und des Ähnlichen und deshalb können die Natur und das Verb sich unendlich kreuzen und für jemanden, der lesen kann, gewissermaßen einen großen und einzigen Text bilden."122 Dieser Satz aus Michel Foucaults Ordnung der Dinge läßt sich auf Mandeville und seine Beschreibung der Welt übertragen: Es gibt überall in der Welt, in der Heimat wie in der Fremde, nur ein und dasselbe Spiel des Zeichens und des Ähnlichen, und deshalb können das Eigene und das Fremde sich unendlich kreuzen und für jeden, der lesen kann, einen einheitlichen Raum der Schöpfung und der Erlösung bilden.
3.Fremde Herrscher: Der Priesterkönig und der Große Khan „Narrabat etiam, quod ante non multos annos Iohannes quidam, qui ultra Persidem et Armeniam in extremo oriente habitans, rex et Sacerdos cum gente sua Christianus est, sed Nestorianus, Persarum et Medorum reges fratres, Samiardos dictos, bello petierit atque Ecbatanam cuius supra mentio facta est, sedem regni eorum expugnaverit.Cui dum praefati reges cum Persarum, Medorum et Assyriorum copiis occurrerent, triduo utris mori magis, quam fugere volentibus, dimicatum est; presbyter Iohannes - sic enim eum nominare solent - tandem versis in fugam Persis, cruentissima cede vistor exstitit. Post hanc vistoriam dicebat, praedictum Iohannem ad auxiliam Hierosolimitanae ecclesiae procinctum movisse, sed dum ad Tygrim venisset, ibique nullo vehiculo traducere exercitum potuisset, ad septentionalem plagam, ubi eundem amnem hiemali glacie congelari didicerat, iter flexisse. Ibi dum per aliquot annos gelu exspectaret, sed minime hoc impediente aeris temperie obtineret, multos ex insueto caelo de exercitu amittens, ad propria redire compulsus est. Fertur enim iste de antiqua progenie illorum, quorum in Evangelio mentio fit, esse magorum eisdemque, quibus et illi, gentibus imperans tanta gloria et habundantia frui, ut non nisi seeptro smaragdino uti dicatur. Patrum itaque suorum, qui in cunabulis Christum adorare venerunt, accensus exemplo Hierosolimam ire proposuerat, sed praetaxata causa impeditum fuisse asserunt."
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Vgl. Christiane Deluz, Le Livre de Jehan de Mandeville, S. 235ff. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 66. Ottonis Episcopi Frisingensis, Chronica sive historia de duabus civitatibus, VII, 33, S. 556f. „Er [der Bischof von Gabala in Syrien, MM] erzählte auch, vor wenigen Jahren habe ein gewisser Johannes, ein König und Priester, der im äußersten Orient, jenseits von Persien und Armenien wohne und wie sein Volk Christ, aber Nestorianer sei, zwei Brüder, die Könige der Perser und Meder, Samiarden genannt, angegriffen und ihre Hauptstadt, das oben erwähnte Ekbatana, er-
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Dieser Bericht in der Chronik Ottos von Freising bildet den Anfang aller Spekulationen, Hoffnungen und Berichte über eine der langlebigsten Gestalten in der mittelalterlichen Beschreibung des Ostens, jenen berühmten Priesterkönig Johannes, der bis ins 16. Jahrhundert von den Europäern gesucht und an verschiedenen Orten immer wieder gefunden wurde und den alle Reiseberichte zumindest erwähnten. Ottos Bericht ging auf eine Zusammenkunft des Papstes mit dem Bischof von Gabala in Syrien zurück, die 1145 in Viterbo stattgefunden hatte und den französischen König sowie den deutschen Kaiser dazu bewegen sollte, das kurz zuvor gefallene Edessa zurückzuerobern. 124 Faktischer Hintergrund des vom Bischof von Gabala Berichteten war nach heute allgemeiner Forschungsmeinung eine Schlacht, die 1141 bei Samarkand stattgefunden und in der die Seldschuken durch das Turkvolk der Karakitai eine vernichtende Niederlage erlitten hatten. 125 Der Sieger von Samarkand war jedoch kein nestorianisch-christlicher König und noch weniger war er ein Priester, er war vielmehr Herrscher des Stammes der Karakitai, der von Ost-Turkestan aus versuchte, sein Herrschaftsgebiet zu vergrößern und das zu Anfang des 12. Jahrhunderts verlorene Nordchina wieder zu erobern. 126 Die Nachricht von dieser gewaltigen Schlacht, die auch durch chinesische und arabische Quellen verbürgt ist, bildete wohl die realhistorische Grundlage für den Bericht Ottos von Freising vom christlichen Priesterkönig, der im Osten gegen die Sarazenen kämpfte und sich die Befreiung Jerusalems zum Ziel gesetzt habe. Daß man den Nachrichten Glauben schenkte, bei dem Sieger über ein großes muslimisches Heer handele es sich
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obert. Als sich ihm dann die beiden Könige mit den Streitkräften der Perser, Meder und Assyrer zum Kampf stellten, wurde drei Tage gekämpft, da beide Gegner lieber sterben als fliehen wollten. Dann endlich wandten sich die Perser zur Flucht, und der Presbyter Johannes - so nämlich pflegt man ihn zu nennen - ging aus dem blutigen Gemetzel als Sieger hervor. Nach dem Siege, so berichtete er, unternahm Johannes einen Feldzug, um der Kirche von Jerusalem zu Hilfe zu kommen, als er aber an den Tigris kam und nicht ein einziges Schiff vorfand, um sein Heer überzusetzen, marschierte er nach Norden, wo, wie er gehört hatte, der Strom in der Winterkälte zufror. Dort hielt er sich einige Jahre auf und wartete auf Frost, aber infolge der milden Temperatur kam keiner, und da sein Heer durch das ungewohnte Klima schwere Verluste erlitt, sah er sich genötigt, in sein Land zurückzukehren. Er soll dem alten Geschlecht der Magier entsprossen sein, die im Evangelium erwähnt werden, und als Herrscher über dieselben Völker wie jene solchen Ruhm und Überfluß genießen, daß er sich nur eines smaragdenen Szepters bediene. Durch seiner Vorfahren Beispiel also begeistert, die kamen, Christus in den Windeln anzubeten, hatte er sich vorgenommen, nach Jerusalem zu ziehen, und man versichert, nur aus dem angegebenen Grunde sei er daran gehindert worden" (ibid., S. 557f.). Der Fall von Edessa am Weihnachtsabend 1144 bildete den Anlaß für die Ausschreibung des 2. Kreuzzuges durch den Papst. Vgl. Hans Eberhard Meyer, Geschichte der Kreuzzüge, S. 95f. sowie Steven Runciman, Geschichte der Kreuzzüge, S. 540ff. Vgl. Charles E. Nowell, The Historical Prester John, S. 439ff. Richard Hennig vertrat noch die Überzeugung, Ye-lüh-ta-shih sei tatsächlich nestorianischer Christ gewesen (vgl. ders., Das Christentum im mittelalterlichen Asien, S. 246). Charles E. Nowell (The Historical Prester John, S. 444) hat dagegen jedoch eingewandt, Hennig verwechsle die Kerait, die in der Tat vermutlich vornehmlich dem nestorianischen Christentum anhingen, mit den Quara-Kithai. Nach seiner Überzeugung war Ye-lü-ta-shih Buddhist. Vgl. auch Vesvolod Slessarev, Prester John, S. 28.
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um einen christlichen König, hatte seinen Grund nicht zuletzt in den Kreuzzügen, die nach der anfanglichen Begeisterung und den ersten erfolgreichen Unternehmungen im Heiligen Land längst ins Stocken geraten waren. Bei realistischer Betrachtung der politisch-militärischen Lage in Palästina mit den ungelösten logistischen Problemen der Überfahrt und der Unterhaltung eines Heeres im Heiligen Land mußte jedem Teilnehmer klar sein, daß das Heilige Land den Muslimen nicht ohne Unterstützung von außen dauerhaft zu entreißen war. Die historisch ja durchaus zutreffende Nachricht von einem gewaltigen Heer, das im Osten ein nicht minder großes Heer der Sarazenen vernichtet habe, mußte deshalb als hochwillkommene Aussicht auf einen Verbündeten angesehen werden, von dem man fast selbstverständlich annahm, daß es sich bei ihm um einen christlichen König handelte. Die genaue Ausformung der Beschreibung dieses christlichen Königs, die Verbindung von Priester- und Königtum, der Name Johannes sowie die Abstammung von einem der Heiligen Drei Könige geht dagegen vermutlich auf ein früheres Ereignis zurück, das unter anderem von Odo von Reims berichtet wurde. Im Jahre 1122 war der angebliche Patriarch der nestorianischen Christen des Ostens in Begleitung byzantinischer Priester zu einer Unterredung mit dem Papst in Rom eingetroffen. 127 Sein Aufenthalt erregte großes Aufsehen, denn er berichtete von den Wundern, die sich am Grab des Apostels Thomas im indischen Malipur zutrügen, von der Größe, Bedeutung und dem Reichtum der dortigen nestorianischen Christengemeinde und ihren Missionserfolgen bei den Völkern des Ostens. Der Name dieses angeblichen Patriarchen war Johannes, und als Otto von Freising etwas mehr als zwanzig Jahre später vom Sieg des nestorianischen Priesterkönigs berichtete, floß möglicherweise aus diesen früheren Nachrichten der Name Johannes in den Bericht ein. Wie Franz Kampers in einer älteren Untersuchung gezeigt hat, taucht der Name Johannes jedoch schon sehr viel früher in Kaisersagen und Prophetien als Überwinder des Bösen und Verteidiger des Heils auf. 128 Dem ist jedoch in der Priesterkönig-JohannesForschung fast keine Beachtung geschenkt worden, vielmehr wurde lange Zeit versucht, den Namen auf phonemische Ähnlichkeiten oder Übersetzungen mongolischer Titel zurückzuführen. 129 Insbesondere in der französischen Forschung wurde auch eine Verbindung mit dem Titel des äthiopischen Königs Zan, der dann in Jean umgewandelt worden sein soll, hergestellt, die sich jedoch frühestens in Texten des 14. Jahrhunderts nachweisen läßt und von daher für die Begründung des Namens schwerlich angeführt werden kann. 130 Zugunsten dieser Argumentation hat man zwar unterstützend angeführt, Äthiopien sei als das Reich des Priesterkönigs Johannes angesehen worden, doch die früheste überlieferte Quelle hierfür ist ein Brief Jourdains de Severac vom 127
Vgl. Friedrich Zarncke, Der Priester Johannes ( 1879), S. 831 ff.
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Vgl. Franz Kampers, Die deutsche Kaiseridee, S. 78ff.
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Häufig wurde der Name von dem mongolischen Titel 'Ung khan' abgeleitet. So bei Friedrich Zarncke, Der Priester Johannes (1879), S. 869f.; Richard Hennig, Das Christentum im mittelalterlichen Asien, S. 244f.; Jean Richard, L'Extrême Orient légendaire, S. 230f. und Vessvolod Slessarev, Prester John, S. 83ff. Vgl. Charles E. Nowell, The Historical Prester John, S. 437; Leonardo Olschki, Marco Polo's Asia, S. 384f.
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12. Oktober 1321, in dem die Rede vom Kaiser von Äthiopien ist, „quem vos vocatis presbyterem Johannem". 131 Die Vermischung des Berichts des Bischofs von Gabala über den Sieg von Samarkand mit dem Auftritt des nestorianischen Patriarchen Johannes in Verbindung mit den Prophezeiungen der Kaisermythen kann dagegen die Herkunft des Namens schlüssig erklären. 132 Ihren Kulminations- und Höhepunkt erreichte die Geschichte vom Priesterkönig Johannes schon bald nach dem Bericht Ottos von Freising mit einem in herablassendwohlwollendem Ton abgefaßten lateinischsprachigen Brief, den angeblich der Priesterkönig Johannes im Jahre 1165 an den Kaiser von Byzanz, den deutschen Kaiser Friedrich I. und Papst Alexander III. geschrieben hatte. 133 Der Brief trägt relativ eindeutig eine europäische Handschrift; er wurde jedoch als echt betrachtet, und es ist auch der Forschung nicht gelungen, seinen wahren Autor zu ermitteln. Er beschrieb die Wunder des Ostens, schilderte ausführlich den unermeßlichen Reichtum und die gute Regierung des Priesterkönigs Johannes und kündigte an, der Priesterkönig Johannes wolle das Heilige Land von den Sarazenen befreien. Als das Herrschaftsgebiet des Priesterkönigs wurde Indien angegeben: „In tribus indiis dominatur magnificentia nostra, et transit terra nostra ab ulteriore India, in qua corpus sancti Thomae apostoli requiescit, per desertum et progreditur ad solis ortum, et redit per declivum in Babilonem desertam iuxta turrim Babel."
Die in dem Brief präsentierte Beschreibung Indiens geht auf eine Vielzahl von Quellen zurück, unter ihnen den Alexanderroman, Plinius, Solinus, Augustinus und Isidor, daneben Lapidarien und Bestiarien etc. 135 Zum Inhalt des Briefes bemerkte schon Leonardo Olschki: „In der Tat findet man in dieser wirren und schmucklosen Aufzählung der Wunder Indiens nichts, was uns nicht schon aus der spätantiken, byzantinischen, arabischen Literatur, aus Plinius, Solinus, Isidor von Sevilla, aus den Summen und Kompendien des Mittelalters bekannt wäre, oder was man nicht bereits in den Tier- und Steinbüchern gleicher Herkunft finden könnte. Aber gerade diese Wiederkehr vermeintlich beglaubigter, gelehrter und bestätigter Angaben im Presbyterbrief erhöhte seine Glaubwürdigkeit und seinen Überzeugungswert." 136
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Zit. nach Richard Hennig, Neue Forschungen zur Sage vom Priesterkönig, in: Universitas, Tübingen 1949, S. 1264. Der Anschluß an die Kaisermythen scheint mir auch plausibler zu sein als die von Knefelkamp hergestellte Verbindung des Namens zum Apostel Johannes (vgl. ders., Die Suche nach dem Reich, S. 49). Zur Geschichte und Überlieferung des Briefes vgl. Dietrich Huschenbett, Priesterkönig Johannes, Sp. 8 2 8 - 8 4 2 . Friedrich Zarncke, Der Priester Johannes, Bd. 17, S. 910. „In den drei Indien herrscht unsere Hoheit, und unser Land reicht vom oberen Indien, w o der Leib des heiligen Apostels Thomas ruht, über die Wüste bis hin zum Aufgang der Sonne und hinab durch abschüssiges Gelände bis zum verödeten Babylon in der Nähe des Turms von Babel." Vgl. Anna-Dorothee von den Brincken, Presbyter Johannes, Dominus Dominantium, S. 92; Ulrich Knefelkamp, Die Suche nach dem Reich, S. 35ff. Leonardo Olschki, Der Brief des Presbyters Johannes, S. 5.
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Der Brief, von dem bald Übersetzungen in mehrere europäische Sprachen angefertigt wurden, festigte und vollendete die Vorstellungen vom indischen Priesterkönig und seinem Reich. 137 Im Jahre 1177 schrieb Papst Alexander III. dann einen Brief an den Priesterkönig, in dem er seine Freude darüber zum Ausdruck brachte, daß Johannes sich zum christlichen Glauben bekenne. Sodann forderte er ihn aber auf, dem wahren apostolischen Glauben zu folgen und die päpstliche Oberhoheit anzuerkennen. 138 Der Stuhl Petri, dem er, Alexander, ohne eigenes Verdienst vorstehe, sei durch den Herrn selbst als Oberhaupt und Lehrer aller gläubigen Christen eingesetzt worden. Nicht ohne Grund habe der Herr Petrus allen anderen Aposteln vorgezogen und ihm die höchste Gewalt übertragen, denn er habe es unter allen Aposteln am meisten verdient, „accipere potestam". 139 Mit deutlichen Worten ermahnte Alexander den indischen Herrscher, nicht einfach sich Christ zu nennen, sei ausschlaggebend für das Heil, sondern allein der wahre, apostolische Glaube. „Non enim vere potest de Christiana professione sperare salutem qui eidem professioni verbo et opere non concordat, quia non sufficit cuilibet nomine Christiano censeri, qui de se sentit aliud quam catholica et apostolica habeat disciplina, iuxta illud quod Dominus in Evangelio dicit: N o n omnis qui dicit mihi Domine, Domine intrabit in regnum Coelorum, sed qui facit voluntatem patris mei, qui in Coelis est."
Diese Ermahnungen zeigen, daß Alexanders Reaktion auf den christlichen Priesterkönig aus Indien äußerst zurückhaltend und er keineswegs begeistert von dessen Auftauchen und seiner Ankündigung war, Jerusalem befreien zu wollen. Der Grund für den angeblichen Brief des indischen Priesterkönigs wie auch für die distanzierte Antwort des Papstes könnte möglicherlicherweise im Suprematiestreit zwischen Kaiser und Papst zu sehen sein.141 Zu dem Zeitpunkt, als der Brief des Priesterkönigs um 1165 auftauchte, hatte die Auseinandersetzung zwischen Friedrich I. und Alexander III. einen neuen Höhepunkt erreicht. Das Schisma zog sich infolge des von Friedrich gestützten Gegenpapstes nicht nur durch die Kirche, sondern spaltete ganz Europa in die päpstliche und die kaiserliche Partei. Ludwig VII. von Frankreich unterstützte den Papst, dem sich 1164 noch der kaiserfeindliche Veroneser Bund angeschlossen hatte, während Friedrich I. mit Heinrich II. von England, dem mächtigsten Kronvasallen Ludwigs, verhandelte und auf dem Reichstag von Würzburg die deutschen 137
Die französischen und italienischen Übersetzungen liegen jetzt in neueren Ausgaben vor. Vgl. Le lettre du Prêtre Jean, edité par M. Gosman, Groningen 1982; La lettera del Prete Gianni, a cura di Gioia Zaganelli, Parma 1990.
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Vgl. Friedrich Zarncke, Der Priester Johannes, Bd. 18, S. 16-20.
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ibid., S. 17. ibid., S. 18, mit Zit. aus Matth. VII, 21. „Es kann nämlich derjenige vom christlichen Bekenntnis kein Heil erwarten, der den Worten und den Werken dieses Bekenntnisses nicht folgt, denn es genügt nicht, sich einfach einen Christen zu nennen, der sich selbst anders wahrnimmt, als er durch die katholische und apostolische Lehre gehalten ist, gemäß dem, was der Herr im Evangelium spricht: Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr! wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt."
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Vgl. M. Gosman, La Lettre du Prêtre Jean, S. 36f.; Ulrich Kefelkamp, Die Suche nach dem Reich, S. 52.
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Fürsten zwang, ausschließlich den kaiserlichen Papst anzuerkennen. 142 1177, kurz bevor Alexander den Brief an den Priesterkönig Johannes schrieb, war die Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst vorerst beigelegt, das Schisma beendet worden, und der Papst kehrte aus Frankreich, wohin er geflohen war, nach Rom zurück. Alexander diktierte sein Schreiben in Venedig, also noch vor seinem Eintreffen in Rom. 143 Es scheint ihm wichtig gewesen zu sein, mit dem Wiedererstarken seiner Macht auch gegenüber dem Priesterkönig Johannes seinen Suprematieanspruch deutlich zu machen und, nachdem er die Auseinandersetzung mit dem Kaiser überstanden hatte, klarzustellen, daß er keine vergleichbare sakrale Macht neben sich duldete. Ähnelte der Machtanspruch des Priesterkönigs doch in einer für den Papst fatalen Weise dem des Kaisers, der ebenfalls eine große Neigung gezeigt hatte, durch die Sakralisierung seiner Macht die des Papstes einzuschränken. Daß der Brief des Priesterkönigs Johannes vor dem Hintergrund des abendländischen Schismas entstand, hat bereits Leonardo Olschki behauptet; seine Schlußfolgerung freilich, bei dem Brief und seiner Darstellung der Priesterkönigsherrschaft handele es sich um eine politische Utopie, interpretiert die Aussagekraft des Briefes m. E. anachronistisch, weil er mit einem Begriff der politischen Utopie operiert, der sich in dieser Form wohl nicht vor den großen Gesellschaftsutopien der frühen Neuzeit sinnvoll anwenden läßt.144 Die Beschreibung der Regierung des Priesterkönigs harmonierte vielmehr in auffälliger Weise mit der wenig utopischen staufischen Reichsidee, die die Macht des Papstes hinter die des Kaisers immer weiter zurückzudrängen suchte. 145 Die Nähe des Briefes zu staufischen Machtansprüchen und deren Tendenz zur Sakralisierung weltlicher Herrschaft dürfte Alexander III. kaum entgangen sein, und sie könnte ihn veranlaßt haben, in seinem Brief an den fremden Herrscher die Suprematie des päpstlichen Stuhles und dessen Definitions- und Lehrkompetenz für den wahren Glauben hervorzuheben. Freilich zeigt die von Friedrich Zarncke aufgearbeitete Textgeschichte des Briefes, daß die bei den Abschriften und Übersetzungen des Presbyterbriefes hinzugefügten zahlreichen Interpolationen zum ursprünglichen Text vor allem die Beschreibung des Reichtums des Priesterkönigs und der Wunder Indiens zunehmend ausdehnten. 146 Die 142 143
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Vgl. Horst Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 174ff. Ob Alexanders Brief an den Priesterkönig Johannes als Antwort auf dessen Schreiben anzusehen ist, ist in der Forschung umstritten, weil der Brief des Priesterkönigs nicht sicher zu datieren ist. Vgl. hierzu Ulrich Knefelkamp, Die Suche nach dem Reich, S. 57f. Vgl. Leonardo Olschki, Der Brief des Presbyters Johannes, S. 13. Als Utopie ist der Presbyterbrief im Anschluß an Olschki noch öfter interpretiert worden. Vgl. K. F. Helleiner, Prester John's Letter: A Medieval Utopia. Anna Dorothee v. d. Brincken hat dagegen allgemeiner davon gesprochen, der Brief drücke die „Wunschvorstellung einer einheitlichen christlichen Welt und die weitgehende Identität von Staat und Kirche" aus (vgl. diess., Presbyter Johannes, Dominus Dominantium, S. 95f.). Ulrich Knefelkamp hat den Brief dagegen in die Nähe der Fürstenspiegel gerückt (vgl. ders., Die Suche nach dem Reich, S. 51). Vgl. Horst Fuhrmann, Deutsche Geschichte, S. 170ff. Friedrich Zarnckes Aufarbeitung der lateinischen Überlieferung, von der er 96 Handschriften zählte, und seine kritische Ausgabe des Briefes sind noch heute verbindlich und wurden nur um wenige Handschriften von Slessarev ergänzt. Vgl. Dietrich Huschenbett, 'Priesterkönig Johannes' (Presbyterbrief), Sp. 8 3 3 - 8 3 6 .
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Beschreibung seiner Herrschaft und der sakralen Macht trat dabei immer mehr in den Hintergrund und jeder Bezug zur Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst ging in der weiteren Tradierung des Briefes verloren - der Priesterkönig Johannes wurde zu einem fremden, aber christlichen Herrscher in Indien, dem Land nächst dem irdischen Paradies. Mit dem Erlöschen der ersten Kreuzzugsbegeisterung trat selbst die Funktion des Priesterkönigs Johannes als Unterstützer bei der Befreiung des Heiligen Landes in den Hintergrund; sie geriet allerdings nie völlig aus dem Blickfeld und konnte je nach der politisch-militärischen Lage in Palästina wieder aktualisiert werden. Der Priesterkönig Johannes wurde zu etwas wie einem externen Spielraum des Eigenen in der Fremde, der j e nach Situation und Interessenlage in der einen oder anderen Weise ausgeformt werden konnte. Anfang des 13. Jahrhunderts, als der Brief bereits relativ weit verbreitet war, überflutete eine Welle konkreter Hoffnungen auf die Hilfe des Priesterkönigs Europa und die Kreuzfahrerstaaten. Im Jahre 1219, nachdem die Heere des 5. Kreuzzuges Damiette erobert hatten, verbreitete sich das Gerücht, der Priesterkönig Johannes oder sein Sohn David sei in Indien aufgebrochen, um die Kreuzfahrer bei der Eroberung Jerusalems zu unterstützen. Jakob von Vitry, der Bischof von Akkon, schrieb einen begeisterten Brief an Papst Honorius III., in dem er die baldige vollständige Rückeroberung des Heiligen Landes mit Hilfe des Priesterkönigs ankündigte. 147 Immer neue Nachrichten über die militärischen Erfolge des Prieserkönigs drangen nach Europa und schürten hochfliegende Erwartungen. Diese Hoffnungen wurden jedoch jäh zerstört, als man begriff, daß es sich bei dem Heer, das in den zwanziger sowie gegen Ende der dreißiger und zu Anfang der vierziger Jahre wie ein Wirbelsturm die Länder des Ostens verheerte, nicht um die Kriegsmacht des Priesterkönigs handelte, sondern um die neue teuflische Macht, der man den Namen Tartaren gab. Auf diese Macht richtete sich, wie ich oben bereits ausführlich dargestellt habe, das gesamte Interesse. Nicht mehr Hoffnungen, sondern apokalyptische Ängste regierten für die nächsten Jahre die Erwartungen, die man mit dem Osten verband. Als die Gesandten des Papstes 1245 in den Osten aufbrachen, reisten sie zu den Mongolen, um herauszufinden, wer sie waren, nicht zum Reich des Priesterkönigs Johannes, um dessen Hilfe zu erbitten. Nebenbei erkundigten sie sich aber offensichtlich auch nach dem Priesterkönig Johannes und versuchten zu ergründen, ob er der gewaltigen tartarischen Macht ebenfalls zum Opfer gefallen war, die alles zu zermalmen schien, was sich ihr in den Weg stellte, oder ob er im äußersten Osten nach wie vor regierte und möglicherweise sogar den Europäern zu Hilfe kommen konnte. Daß Carpinis Bericht über den Priesterkönig Johannes nur wenig mitzuteilen hat, kann bei dessen Zentrierung auf die Tartaren und ihre Positionierung am Nordostrand der Oekumene nicht verwundern. Das Gebiet, in dem er sich aufhielt, mußte nach Carpinis Einschätzung relativ weit vom Land des Priesterkönigs Johannes entfernt sein, der über das ganz im äußersten Osten gelegene Indien herrschte (in extremo Oriente, wie Otto von Freising geschrieben hatte). Angesichts des mongolischen Sturmwinds, der bis nach Europa geweht hatte, und der eschatologischen Vorstellungen, nach denen die apokalyptischen Völker die ganze Welt verheeren würden, lag es jedoch nahe anzunehmen, daß auch der Priesterkönig Johannes in irgendeiner Weise mit den Tartaren in Konflikt 147
Vgl. Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 21.
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geraten war oder von ihnen angegriffen worden sein könnte - mit ungewissem Ausgang. Carpini erwähnt den Priesterkönig Johannes denn auch in seiner Darstellung der mongolischen Geschichte im fünften Buch seines Berichts, das den Aufstieg des tartarischen Reiches und seiner Herrscher behandelte. Nach den ersten Eroberungen unter der Herrschaft des Chingiscan, „robustus venator coram Domino" 148 , hätten sich die Mongolen, so berichtete er, schließlich auch gegen Indien gewandt. Über das Volk der Klein-Inder, das man auch Äthiopier nenne, hätten sie einen vollständigen Sieg errungen. Danach habe sich das Heer der Mongolen gegen die Christen gewandt, die Groß-Indien bewohnten. Der König dieses Reichs war nach Carpinis Darstellung der Priester Johannes: „Hic autem exercitus contra christianos, qui sunt in India Maiori, ad pugnam processit. Hoc autem audiens, rex terre illius, qui vulgo Iohannes Presbyter appellatur, venit contra eos exercitu congregato, et faciens imagines hominum cupreas, in sella posuit super equos, ponens ignem interius, et posuit hominem cum folle post imaginem cupream super equum; et cum multis imaginibus talibus et equis taliter preparatis venerunt contra predictos Tartaros ad pugnandum. Et cum ad locum prelii pervenissent, istos equos unum iuxta alium premiserunt; viri autem qui erant retro poserunt, nescio quid, super ignem, qui erat in predicta imagine et cum follibus fortiter sufflaverunt. Unde factum est quod ex igne greco homines comburebantur et equi, et ex fumo aer est denigratus; et tunc super Tartaros iecerunt sagittas, ex quibus multi homines vulnerati fuerunt et interfecti, et sie cum confusione eos de suis finibus eiecerunt, nec unquam au149 divimus quod ultra ad ipsos redierint."
Carpini lokalisierte das Reich des Priesterkönigs Johannes also ganz der historischen Tradition entsprechend in Indien, wobei er ihm aber nur die Herrschaft über Groß-Indien und nicht, wie der Brief behauptet hatte, über alle drei Indien zusprach, wozu auch Äthiopien gehört hätte. Seinen klingenden Namen allerdings, der Carpini offenbar allzu europäisch klang, reduzierte er darauf, als identifizierende Zuschreibung zu fungieren, und gab an, der König jenes Landes, der im allgemeinen Priester Johannes genannt werde, sei den Tartaren entgegengezogen, als er von ihrem bevorstehenden Angriff gehört habe. Mittels einer Kriegslist habe er die Mongolen geschlagen und sie aus seinem Land gejagt. Und niemals mehr seien sie, soweit er gehört habe, zurückgekehrt. Carpinis Bericht ging zwar nicht auf die außergewöhnlichen Attribute ein, die sich der Priesterkönig Johannes in seinem Brief selbst zugeschrieben hatte, aber sie waren an148 149
ed. Menestö, S. 252. Die Bezeichnung Dschingis Khans als „robustus venator coram Domino" („gewaltiger Jäger vor dem Herrn") ist eine wörtliche Anspielung auf Nimrod (Lib. Gen. 10,9). ed. Menestö, S. 258f. „Als das der König jenes Landes, der im Volk Priesterkönig Johannes genannt wird, hörte, zog er ihnen mit einem Heer entgegen. Er ließ kupferne Menschenfiguren machen, setzte sie in Sättel auf die Pferde, legte Feuer in ihrem Inneren und ließ Männer mit Blasebälgen hinter die kupfernen Bilder auf die Pferde steigen, und mit vielen so präparierten Bildern und Pferden zogen sie gegen die Tartaren in die Schlacht. Als sie auf das Schlachtfeld kamen, sandten sie die Pferde eins neben dem anderen voraus, die Männer aber, die hinten auf ihnen postiert waren, gaben, ich weiß nicht was, in das Feuer in den beschriebenen Figuren und heizten es mit den Blasebälgen heftig an. So geschah es, daß Menschen und Pferde vom Griechischen Feuer verbrannt wurden und die Luft sich von Rauch schwarz verfärbte. Dann schössen sie ihre Pfeile auf die Tartaren, von denen viele verwundet und getötet wurden, und vertrieben sie so in völliger Auflösung aus ihrem Gebiet; nie habe ich gehört, daß sie jemals wieder zurückgekehrt wären" (ed. Schmieder, S. 65f.).
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schlußfahig an die Vorstellungen, die sich mit dem Herrscher Indiens verbanden und ließen hinreichend Platz für Hoffnungen auf die Unterstützung der europäischen Christenheit gegen die Tartaren durch den christlichen Priesterkönig, der sie schon einmal geschlagen hatte. Für Carpinis Darstellung gilt daher nicht, was Leonardo Olschki allgemein über die Beschreibung des Priesterkönigs bei den Chronisten des 13. Jahrhunderts konstatiert hat: „Only his name remained, applied now to a historical personage in Altaic Asia who lacked the attributes of power and glory that had made the priest-king famous throughout the Christian world."150 Carpini ging zwar auf den Priesterkönig Johannes nur an dieser einen Stelle innerhalb seiner Darstellung der mongolischen Geschichte ein, und er verlor kein Wort über seinen gewaltigen Reichtum, aber er beschrieb seinen nachhaltigen Sieg über die Mongolen, der ihn für den Kampf gegen die Tartaren, den Carpini als unausweichlich ansah, zumindest als Vorbild erscheinen ließ. Mit dem christlichen indischen König, dem es neben den ebenfalls christlichen Kitai als einzigem gelungen war, die Mongolen zu schlagen, konnte Johannes vor allem belegen, woran in Europa zu diesem Zeitpunkt, wenige Jahre nach den bitteren Erfahrungen von 1241, kaum jemand wirklich glaubte: daß es möglich war, die Mongolen zu schlagen. Carpini nutzte den Priesterkönig daher ebenso als Hoffnungsträger wie als Paradigma für die Überwindbarkeit der Mongolen: So wie der christliche Priesterkönig trotz unterlegener Kräfte mittels einer Kriegslist die Mongolen geschlagen und dafür gesorgt hatte, daß sie sein Reich nie mehr angriffen, so konnten auch die Europäer die Tartaren schlagen, wenn sie ähnlich geschickt vorgingen. Wilhelm von Rubruk, der Carpinis Bericht gut kannte, teilte dessen Optimismus hinsichtlich des Priesterkönigs Johannes bereits nicht mehr. Er rückte die in den Priesterkönig Johannes gesetzten Hoffnungen jedoch nicht in die Vergangenheit, sondern ins Reich der Fabel. Damit bezeichnete er freilich nicht das Reich literarischer Legenden, sondern die Lügen der Nestorianer. Zu der Zeit, da die Franken Antiochien eroberten, so Rubruk, war die Herrschaft über die nördlichen Gegenden in den Händen eines Mannes namens Cor-Cham. Cham, so erklärt Rubruk, bedeute so viel wie Wahrsager, und die nördlichen Völker würden ihre Fürsten Cham nennen, weil sie das Volk mittels der Wahrsagekunst regierten. Im Gebiete dieses Chor-Cham habe ein Nestorianer gelebt, ein mächtiger Hirte (pastor potens) und Herr über das nestorianische Volk der Naiman. Dieser habe sich nach dem Tode Cor-Chams zum Herrscher aufgeschwungen und sich selbst König Johannes genannt: „Mortuo Coirchan elevavit se ille nestorinus in Regem et vocabant eum nestoriani Regem Johannem, et plus dicebant de ipso in decuplo quam veritas esset. Ita enim faciunt nestoriani venientes de partibus illis, de nichilo faciunt magnos rumores.Unde desseminaverunt de Sartach quod esset christianus et de Manguchan et de Keuchan, quia faciunt maiorem reverentiam christianis quam in aliis populis. Et tarnen in veritate christiani non sunt. Sic ergo exivit magna fama de illo Rege Iohanne. Et ego transivi per pascua eius, nullus aliquid sciebat de eo, nisi
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Leonardo Olschki, Marco Polo's Asia, S. 392.
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nestoriani pauci. In pascuis eius habitabat Keuchan, apud cuius curiam fuit frater Andreas, et ego etiam transivi per eam in reditu."
Jener Nestorianer, der bei Wilhelm nicht einmal einen Namen hatte, sondern nur von den Nestorianern König Johannes genannt wurde, war für ihn weder ein mächtiger indischer Herrscher noch ein Christ, sondern ein Nestorianer, dessen Name so wenig heilsgeschichtliche Bedeutung hatte wie sein angebliches Priesterkönigtum. Johannes Fried hat über diese Beschreibung bei Wilhelm von Rubruk geäußert, keiner habe die Sage vom Priesterkönig Johannes so radikal „entmythologisiert" wie Wilhelm, aber auch er habe nicht erkannt, daß es einen Priesterkönig Johannes niemals gegeben habe und er eine bloße Sagengestalt sei. 152 Fried zieht daraus den Schluß: „Erfahrung vermag nur die Dimensionen des Erfahrbaren zurechtzurücken. Um unerfahrbares Wissen, um die Zusammenhänge zwischen den Phänomenen als Wirklichkeit zu bestätigen oder als Legende zu verwerfen, bedarf es anderer Kriterien und eines geschärften Blickes für den Umgang mit Erfahrung." 153 So recht Fried im allgemeinen mit dieser Feststellung haben mag, so sehr verdeckt sie ihm hier doch den Blick dafür, warum Wilhelm den Priesterkönig Johannes nicht einfach ins Reich der Sage verweisen konnte. Die Orientierung an der „Wirklichkeit" der Gestalt ignoriert nämlich, daß die Frage der Entmythologisierung nicht daran hängt, ob die „wahren Fakten", die hätten lauten müssen: der Priesterkönig Johannes ist eine europäische Erfindung, aufgedeckt wurden, sondern vielmehr an der narrativen Funktion, die der Gestalt des Priesterkönigs zukam. Von den Informationen her betrachtet, die Wilhelm seinem König übermittelte, könnte man ohne weiteres sagen, daß er die Gestalt des Priesterkönigs Johannes als Erfindung, als bloße Sagengestalt ausgemacht habe, denn er beließ ihm keines der Attribute, das den Priesterkönig ausmachte: weder sein nächst dem irdischen Paradies gelegenes indisches Reich, noch seinen unermeßlichen Reichtum, noch die Priesterfunktion, nicht einmal den christlichen Glauben. Betrachtet man diese Zusammenballung von Entlarvungen, dann hätte Wilhelm sicherlich auch sagen können, daß es einen Priesterkönig Johannes niemals gegeben habe - darauf liefen alle seine Argumente hinaus. Für Wilhelm war der Priesterkönig Johannes aber dennoch wichtig, weshalb er nicht auf ihn verzichten wollte und ihn
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ed. Wyngaert, S. 206. „Und auf einer Ebene in diesem Gebirge lebte ein gewisser Nestorianer, ein mächtiger Hirte und Herrscher über ein Volk, das sich Naiman nennt. Diese sind nestorianische Christen. Nach dem Tod Coir-chans schwang sich dieser Nestorianer zum König auf. Die Nestorianer aber nannten ihn König Johannes und erzählten von ihm zehnmal mehr, als der Wahrheit entsprach. So machen es nämlich die Nestorianer, die aus diesen Gebieten kommen: Aus einem Nichts machen sie ein großes Geschrei. So verbreiteten sie auch über Sartach, er sei Christ, und gleichermaßen über Mangu-Khan und Kuyuk-Khan, nur weil diese den Christen mehr Ehre erweisen als anderen Völkern. Dennoch sind sie in Wahrheit keine Christen. So ging also auch von jenem König Johannes ein großer Ruhm aus. Ich aber zog durch seine Weidegebiete, und niemand wußte irgendetwas über ihn, außer ein paar Nestorianern. Auf seinen Weideplätzen lebte Keuchan, an dessen Hof Bruder Andreas war, und ich habe sie auf der Rückreise besucht".
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Vgl. Johannes Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit, S. 325f. ibid., S. 326. Auch Friedrich Wolfzettel betrachtet Wilhelm von Rubruks Äußerungen über den Priesterkönig Johannes als Entmystifizierung. Vgl. ders., Die Suche nach Cathay, S. 54.
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mit einem kleinen Herrscher über ein Land identifizierte, in dem er ihn, geographisch betrachtet, niemals hätte suchen müssen: Er diente ihm als Paradigma für die Verlogenheit der Nestorianer. Gerade weil der Priesterkönig so bekannt war, weil man bei ihm, im Gegensatz zu den verschiedenen mongolischen Herrschern, über die das Gerücht umging, sie hätten sich zum christlichen Glauben bekehrt, bis dahin keinerlei Zweifel daran gehegt hatte, daß er wirklich ein christlicher Herrscher sei, war sein Beispiel schlagender als alles, was man über jeden mongolischen Herrscher aufdecken konnte. Bei Wilhelm hatte der Priesterkönig Johannes keine narrative Funktion für die Bewältigung des Fremden, sondern eine argumentative Funktion für die Erledigung der Nestorianer. Alles was in Europa jemals über den Priesterkönig Johannes verbreitet worden war, rechnete Wilhelm implizit den Nestorianern zu, und je großartiger der Priesterkönig in den europäischen Erzählungen beschrieben worden war, als desto verabscheuungswürdiger erschienen die Nestorianer und ihre Lügen. Schlimmer als selbst die unchristlichen Fremden bedrohten sie die Stabilität der eigenen Identität, weil sie unter dem Deckmantel des Christentums dessen Grenzen ins Bodenlose verzerrten und die Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge, Freund und Feind unterminierten, die für jede Grenzziehung zwischen eigen und fremd unerläßlich war. An einer vollständigen Verabschiedung des Priesterkönigs konnte Wilhelm deshalb gar nicht gelegen sein, denn mit den Mongolenkhanen, deren angebliches Christentum Ludwig schon in so peinliche und gefahrliche Situationen gebracht hatte, blieb er nur vergleichbar, wenn er einen gewissen Anknüpfungspunkt in der Wirklichkeit hatte. Der Priesterkönig Johannes mußte, um als argumentatives Paradigma zu taugen, mindest so real sein wie ein barbarischer Steppenherrscher, der sich vom großen Hirten zum kleinen König aufschwang, damit die Nestorianer große Lügen über ihn verbreiten konnten. Argumentativ erfüllte diese „Entmythologisierung" des Priesterkönigs Johannes möglicherweise ihre Funktion: Ludwig der Heilige versuchte nie wieder mit einem Herrscher des Ostens Kontakt aufzunehmen. Als der persische Ilkhan Hülägü 1262 Gesandte mit einem Brief zu ihm sandte, in dem er ihm ein Bündnis gegen die Sarazenen anbot und betonte, welch gutes Verhältnis die mongolischen Herrscher zu den orientalischen Christen hätten und ihm sogar die Rückgabe Jerusalems anbot, beantwortete Ludwig das Schreiben nicht. 154 Da Wilhelms Bericht aber nicht verbreitet wurde, konnte seine Entmythologisierung des Priesterkönigs Johannes auch nicht die europäischen Vorstellungen vom christlichen König im Wunderland Indien zerstören. Aber es wäre ihm auch kaum gelungen, wenn 154
Ein Antwortschreiben ist jedenfalls nicht überliefert. Das ist, wie Felicitas Schmieder betont hat, zwar allein noch kein Beweis, denn die Überlieferungslage der Briefe französischer Herrscher an die Mongolenkhane ist allgemein ungünstig, aber es hat doch einige Plausibilität für sich. Felicitas Schmieder, die gleichfalls der Überzeugung ist, daß Ludwig sich gegenüber den Mongolen nach den Demütigungen von 1248 äußerst zurückhaltend verhielt, jedoch keinen Bezug zu Rubruk herstellt, verweist auf den Bericht in einer franziskanischen Chronik von Erfurt über den Auftritt der Gesandten des Ilkhans am französischen Hof, in dem nicht von den orientalischen Christen und der Möglichkeit eines Bündnisses die Rede ist, sondern von einer erneuten Aufforderung an den französischen König, sich den Tartaren zu unterwerfen. Vgl. dies., Europa und die Fremden, S. 92.
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der Bericht weiter verbreitet worden wäre, denn der Priesterkönig Johannes war über literarische Entwürfe längst in die Tiefen der höfischen Repräsentation eingesickert, wie seine relativ frühe Aufnahme in Wolframs von Eschenbach um 1205 entstandenem Parzival belegt. Albrechts von Scharfenberg um 1270 entstandener Jüngerer Titurel, um nur eines der bekanntesten späteren Werke zu nennen, wäre von der „Aufklärungsarbeit" des franziskanischen Spions sicher ebenso unberührt geblieben wie die vielen anderen literarischen Entwürfe, in die der Priesterkönig Johannes einging.155 Solche Narrativierungen des Priesterkönigs bewegten sich in völlig anderen kommunikativen Systemen und Traditionen, und so wichtig es für sie war, daß der Priesterkönig Johannes einen Anknüpfungspunkt in der fremden Wirklichkeit hatte, so unbedeutend war es für sie, ihn als politischen Faktor in den europäisch-mongolischen Kontaktsystemen zu begreifen.156 Für Marco Polo, der sich am interdiskursiven Schnittpunkt verschiedener Kontaktsysteme bewegte, war der Priesterkönig Johannes mehreres zugleich: eine Gestalt der Vergangenheit, ein Element in der Narrativierung des mongolischen Aufstiegs und das Paradigma für einen ruhmreichen Herrscher, der seinen Ruf jedoch zu Unrecht genoß, weil ihn die mongolischen Großkhane sowohl an Macht als auch an Großmut bei weitem übertrafen. Marco Polo bezog den Namen des Priesterkönigs auf eine Gestalt in der Frühzeit des mongolischen Reiches, der jedoch nicht nur die Größe, die Macht und der christliche Glauben fehlte, die ihn im Presbyterbrief ausgezeichnet hatte, sondern auch die Zierde vorbildlicher Herrschaft.157 Er beschrieb den Priesterkönig als ehemaligen asiatischen Stammesfürsten, dem die Tartaren einst tributpflichtig waren, und erzählte in einem sehr langen, im Präteritum gehaltenen narrativen Einschub die Geschichte vom Aufstieg Dschinghis Khans und dem Niedergang des Priesterkönigs Johannes. „II fuit voir que les Tartars demoirent en tramontaine entor Ciorcia; et en cel contree es[toit] grant plaignes que ne avoit abitason com de cités et de castiaus, mes il hi avoit b[u]en pascor et grant flumes et aiguës assez. Il ne avoient seignors, mes bien est il voir qu'il fassoient rente a u[n] grant sire que estoit appelés en leur lengajes une Can, que vaut a dire en françois le grant sire - et ce fu le Prestre Johan de cui tout le monde en parolent de sa grant seignorie. Les Tartars les donoient rente d'ogne x bestes le une."
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Vgl. zur literarischen Bearbeitung des Priesterkönig-Johannes-Stoffs Elisabeth Schmid, Priester Johann oder die Aneignung des Fremden, in: Germanistik in Erlangen, hg. von Dieter Peschel, Erlangen 1983, S. 75-93. Zur relativen Abgeschlossenheit der kommunikativen Systeme von höfischem Roman und franziskanischen Reiseberichten vgl. Dietrich Huschenbett, Der tradierte und erfahrene Orient, bes. S. 304f. Vgl. Marina Münkler, Marco Polo, S. 75-78. ed. Benedetto, S. 50. „Es ist wahr, daß die Tartaren gen Norden in der Gegend von Ciorcia lebten; und in dieser Gegend gibt es ausgedehnte Ebenen, wo es keine Behausungen wie Städte oder Burgen gab, aber große Weiden, Flüsse und genügend Wasser. Die Tartaren hatten keine Herren, aber es ist wahr, daß sie einem mächtigen Herrn tributpflichtig waren, der in ihrer Sprache Unc Can hieß, was auf Französisch großer Herr bedeutet. Und das war jener Priester Johann, von dessen großer Herrschaft die ganze Welt spricht. Die Tartaren mußten ihm von je zehn Tieren immer eines abliefern."
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Im Jahre 1187 nach der Geburt des Herrn aber hätten sich die Tartaren einen König aus ihrer Mitte gewählt, der den Namen Dschinghis Khan trug. 159 „Cestui fui home de grant valor et de grant senz et de grant proesse."
Unter seiner guten und freimütigen (francement) Herrschaft sei das das Volk der Tartaren gewachsen und gediehen, und so habe er beschlossen sein Herrschaftsgebiet zu vergrößern und mit seinen Männern acht Provinzen erobert, deren Bewohner sich ihm, als sie gesehen hätten, daß er ihnen nichts zuleide tat und nichts wegnahm, gerne anschlössen. Nachdem er so viele Völker um sich versammelte hatte, habe Dschinghis Khan die Tochter des Priesterkönigs Johannes zur Frau begehrt. Dieser habe ihn jedoch mit den beleidigenden Worten zurückgewiesen, er sei nur sein Vasall und Diener, und eher werde er seine Tochter verbrennen, als sie ihm zur Frau zu geben. Dschinghis Khan habe sich ob dieser beleidigenden Worte das Herz so zusammengezogen, daß nicht viel gefehlt hätte und er wäre daran gestorben. Schließlich sei es zwischen den Heeren Dschinghis Khans und des Priesterkönigs zu einer langen und unbarmherzigen Schlacht gekommen, die Dschinghis Khans Truppen gewannen und in der der Priesterkönig zu Tode kam. Marco Polo integrierte in diese Erzählung mehrere Elemente aus der mongolischen Geschichte: Er identifizierte den Priesterkönig mit einer historischen Gestalt, nämlich mit Togrul, dem Herrscher der Kerait, auf den er den Namen des Priesterkönigs übertrug. 160 Tatsächlich erhoben sich die Mongolen unter Dschinghis Khan gegen die Kerait, denen sie zuvor tributpflichtig waren, weil Togrul die Verheiratung seiner Tochter mit Dschinghis Khans Sohn abgelehnt hatte. Die Schlacht in der Ebene von Tenduc freilich, die Marco Polo dann beschrieb, gehört nicht in den Rahmen dieser innermongolischen Kämpfe, sondern in den Kontext der ersten Eroberungen Dschinghis Kahns in China. 161 Entscheidender ist jedoch, daß Marco Polo sowohl den Priesterkönig Johannes völlig neu besetzte als auch den ersten Großkhan der Mongolen; er entmytholgisierte nicht eine Gestalt, sondern ersetzte sie durch eine andere und narrativierte damit die Geschichte der Mongolen neu. Stilistisch wie inhaltlich hat man diese Erzählung in der Regel auf den Einfluß Rustichellos da Pisa und seine literarische Phantasie zurückgeführt. Zum Stil der Erzählung hat etwa schon Friedrich Zarncke bemerkt: „Man sieht, es ist eine leichte, im italienischen Novellenstil angelegte Erzählung, wie sie jeder, auch im Abendlande, über das Thema: 'Dschinghis Khan, die Tochter des Priesters Johannes zur Ehe begehrend, empört sich gegen diesen und besiegt ihn', hätte schreiben können; (.,.)." 162 Sicherlich hätte eine ähnliche Geschichte tatsächlich jemand schreiben können, der nicht bei den Mongolen war, aber bei Marco Polo bekam sie ihre Funktion deshalb, weil er bei den Mon159 160
161 162
ibid. „Dieser war ein Mann von großer Tugend, hohem Sinn und großer Klugheit." Leonardo Olschki hat gemutmaßt, es handele sich hierbei um eine Verwechslung, deren phonetische Grundlage der chinesische Titel 'Wang-han'(= König) sei (vgl. Leonardo Olschki, Marco Polo's Asia, S. 321 f. u. 394f.). Das ist für die narrative Struktur und Funktion der Erzählung jedoch unerheblich. Vgl. ibid., S. 323f. Vgl. Friedrich Zarncke, Der Priester Johannes (1880), S. 108.
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golen war. Und ebenso gewiß, wie man in einer Novelle den Priesterkönig durch einen anderen Herrscher hätte ersetzen können, ebenso gewiß konnte Marco Polo nicht auf ihn verzichten. Marco Polo berichtete weder von einer beliebigen Auseinandersetzung zwischen zwei Herrschern noch vom tragischen Niedergang des christlichen Priesterkönigs, sondern vom Aufstieg Dschinghis Khans und der Mongolen, bei dem der Priesterkönig Johannes den Anfang zur Herrschaft über ganz Asien markierte, die unter Khubilai Khan, dem Idealherrscher Marco Polos, ihren Höhepunkt erreichte. Dafür aber brauchte er den Priesterkönig Johannes „de cui tout le monde en parolent de sa grant seignorie" und seine Bekanntheit in Europa. Wie Carpini plazierte er den Priesterkönig Johannes in den Anfangen der mongolischen Herrschaft, aber er nutzte ihn nicht als Vorbild und Hoffnungsträger, sondern als Legitimation für die Kriegszüge der Mongolen, die Europa einst in Angst und Schrecken versetzt hatten. Der Priesterkönig Johannes mußte abgewertetet werden, damit Dschinghis Khan seinen Platz einnehmen und die positiven Züge der Beschreibung des Priesterkönigs auf den Mongolenkhan übertragen werden konnten. Marco Polos Erzählung entmystifizierte den Priesterkönig, damit er die Mongolenkhane als die wahrhaft beispielhaften, vorbildlichen und gerechten Herrscher des Ostens beschreiben konnte. Es war daher wohl kaum literarische Freiheit, in der Marco Polo seinem Erzähler Rustichello die Zügel schießen ließ, damit dieser eine hübsche Geschichte erzählen konnte. Die Geschichte ist zu stark in die Realgeschichte des mongolischen Aufstiegs verwoben, als daß sie einfach als Element spielerischer Einbildungskraft betrachtet werden könnte. Es war vielmehr die narrative Aneignung des Fremden, die aus den Elementen des bekannten Fremden (der Figur des Priesterkönigs) und des vertrauten Eigenen (der Erzählstruktur) die Voraussetzungen schuf, um das Fremde als idealisierte Struktur einsetzen zu können. Marco Polo invented a tradition - er erfand eine Tradition für die Mongolen, deren Geschichte vom großartigen Begründer ihres Reiches bis zum gegenwärtigen Großkhan, in dessen Dienst er seinem Bericht zufolge stand, er als den kontinuierlichen Aufstieg einer Dynastie lesbar machte: „Sachié tuti voiramant que après Cinghis Can fui seignor Cui Can, le tierce Batui Can, le quart Oktai Can, le quint Mongu Can, le sexme Cublai Can, qui est le greignor e le plus poisant, que ne fu nul des autres. Car tuit les autres cinq fuissent ensemble, ne auront tant de po[o]ir com cestui Cublai. Et encore vos di greignor couse que le j e vos di: que tuit les enperaor dou monde et tous les rois de cristiens et de saraçin ne aront tant po[o]ir ne poroient il fair tant corne cestui Cublai grant can poroit il fair."
Nicht aus dem Dunkel ungewisser Anfänge oder aus den eisernen Pforten Alexanders waren die Mongolen hervorgebrochen, sondern aus der Unterdrückung durch einen ungerechten Herrscher, dessen Niedergang ihren Aufstieg begründete und ihre Macht über 163
ed. Benedetto, S. 53. „Und ihr sollt wahrhaftig wissen, daß nach Cinghis Can als zweiter Khan Cui Can herrschte, der dritte war Batui Can, der vierte Oktai Can, der fünfte Mongu Can und der sechste Cublai Can, der der größte und mächtigste Khan ist; und die anderen waren nichts im Vergleich zu ihm. Und mehr noch sage ich, als was ich euch bereits gesagt habe: Er ist der größte Herrscher der Welt, und alle christlichen und sarazenischen Könige haben zusammen nicht so viel Macht und könnten nicht so viel bewirken, wie jener Cublai der Große allein bewirken kann."
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Asien legitimierte. Der Priesterkönig Johannes gab den Anfängen der mongolischen Dynastie einen Namen und bildete einen glänzenden Ausgangspunkt; und deswegen mußte er dort sein und seinen eigenen Glanz einbüßen. An der Idealisierung des Großkhans und seines Reiches partizipierte auch Odorico de Pordenone, und folgerichtig ging es mit dem Ruf des Priesterkönigs Johannes ein weiteres Mal steil bergab. Begreift man die Aneignung oder Ablehnung des Priesterkönigs Johannes vorwiegend unter dem Aspekt der „ E n t m y t h o l o g i s i e r u n g " , dann erwiesen sich die Franziskaner, abgesehen von Carpini, hier ein weiteres Mal als große Entmythologisierer. Ähnlich wie Wilhelm von Rubruk äußerte sich auch Odorico de Pordenone ziemlich negativ über den Priesterkönig Johannes und minderte ihn zu völliger Bedeutungslosigkeit herab: „ D e isto Catayo recedens et veniens versus ponentem seu occidentem L dietis transeundo per multas civitates et terras veni versus terram Presticane, de quo non est centesima pars eius quod quasi pro certo dicitur de ipso. Eius civitas principalis Cosan vocatur, que tarnen Vincencia melior civitas diceretur quam illa civitas Cosan, sua civitas principalis; multas alias civitates sub se habet. Sed Semper pro pacto accipit in uxorem filiam magni Canis."
Allerdings ging seine Darstellung in eine andere Richtung: Davon, daß der Priesterkönig ein christlicher Herrscher sei, ob Nestorianer oder rechtgläubig, war hier überhaupt nicht mehr die Rede; die Nestorianer, über die negativ sich zu äußern, Odorico ansonsten keine Gelegenheit ausließ, wurden im Zusammenhang mit dem Priesterkönig nicht einmal erwähnt. Der Priesterkönig Johannes war hier vor allem eines: arm und unbedeutend. 165 Selbst Vicenza, das Odorico mehrfach für den Städtevergleich heranzog, um bei den chinesischen Städten stets hervorzuheben, daß sie unvergleichlich viel größer, schöner und reicher seien, war nach seinen Worten eine sehr viel bedeutendere Stadt als die Hauptstadt des Priesterkönigs, über dessen Charakterisierung er ansonsten kein Wort verlor. Als einziges von den bekannten Attributen blieb bei Odorico - ganz im Gegensatz zu Marco Polo - bestehen, daß er immer eine Tochter des Großkhans als Bekräftigung ihres Bündnisses zur Frau erhielt, was freilich angesichts der Bedeutungslosigkeit seines Reichs merkwürdig unbegründet bleibt. Odorico, der nach seiner Beschreibung gerade aus dem so unermeßlich reichen und prächtigen Reich des Großkhans kam, an dessen Hof die franziskanischen Missionare einen festen Platz einnahmen und in dessen überwältigenden Städten, mit denen sich nicht einmal Venedig vergleichen konnte, der Orden der Minderen Brüder mehrere Niederlassungen mit Kirchen und Ordenshäusern 164
ed. Wyngaert, S. 483. „Ich verließ Cathay und wandte mich gen Sonnenuntergang, nach Westen. 5 0 Tage lang durchreiste ich viele Orte und Länder und kam schließlich zum dem Land des Priesters Johannes, v o n dem nicht der hundertste Teil dessen stimmt, w a s man sich v o n ihm als sicher erzählt. Seine Hauptstadt heißt Cosan, im Vergleich mit der aber selbst Vicenza eine vornehmere Stadt genannt werden muß als jenes Cosan, seine Hauptstadt; zahlreiche andere Städte sind ihm Untertan. Aber stets erhält er anstelle eines Bündnisses eine Tochter des Großkhans zur Frau" (ed. Reichert, S. 111).
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Odoricos deutschen Übersetzer Konrad Steckel scheint das irritiert zu haben, denn er ließ den N a m e n Presticane
und den Städtevergleich einfach w e g , und erwähnte nur, e s g e b e in Cosan ei-
nen König, der immer die Tochter des „grossn hunt" zur Frau nehme (vgl. ed. Strasmann, S. 119).
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unterhielt, hatte tatsächlich keinerlei Interesse am Presticane, weder ein narratives noch ein argumentatives; er hakte ihn gleichsam als eine der Figuren ab, die nach allgemeiner Überzeugung etwas mit dem Osten und dem Großkhan der Mongolen zu tun hatten und plazierte ihn an der Peripherie von dessen Reich. Dort, wo die Reichtümer und die mirabilia sich paarten, in Oberindien, das in der Nähe des irdischen Paradieses lag, herrschte der mongolische Großkhan, und in Vorderindien, wo die vier Minderbrüder das glorreiche Martyrium erlitten hatten, herrschte der Kaiser von Dehli. Beide Reiche gehörten zum Missionsgebiet der Franziskaner, und darin war kein Platz für einen Presticane, weder für einen christlichen Idealherrscher noch für einen verstockten Nestorianer, denn das Ziel der Missionsarbeit waren die Tartaren, und mit ihrem Reich mußte das Wirken der Missionare in Zusammenhang gebracht werden. Der Presticane war hier indessen kein Beispiel für die Übertreibungen der Nestorianer, sondern für die Übertreibungen derer, die die Fremde nicht kannten. Odoricos Vergleich zwischen der Hauptstadt des Priesterkönigs und der Provinzstadt Vicenza, zielt auf die Rede von den Reichtümern des Priesterkönigs, und nicht, wie Wilhelm von Rubruk, auf die Rede von der christlichen Beispielhaftigkeit des Priesterkönigs. Darin wertete er ihn so deutlich ab, wie es nur möglich war, ohne den Namen ganz fallen zu lassen, denn die Macht und die Reichtümer mußten in der Missionsprovinz der Minderen Brüder versammelt sein, dem Reich des Großkhans, wo es aussichtsreich und wichtig war, sich der Mühe der missionarischen Arbeit zu unterziehen. Zur Narrativierung ihrer missionarischen Erfolge bemühte Odorico denn auch den Großkhan: Als der Großkhan einmal nach Cambalec gekommen sei, seien ihm die Franziskaner mit einem Kreuz entgegengezogen. „Et dum appropinquaremus ad eum, posuimus crucem super lignum ita quod publice videri poterat. Ego vero tenebam in manu turibulum quod mecum detuleram, et incepimus cantare alta voce dicentes: Veni Creator Spiritus etc. Et dum si cantaremus, audivit voces nostras, nosque vocari fecit et ad eum accedere nos iussit. Cum superius alias dictum fuit quod nullus audet currui suo appropinquare ad iactum lapidis nisi sit vocatus, exceptis custodientibus eum, et cum ivissemus ad eum cum cruce ellevata, deposuit statim gallerium suum sive capellum inextimabilis quasi valoris et fecit reverenciam ipsi cruci."
Diese Szene, die das letzte Kapitel von Odoricos Bericht bildete, narrativierte die Bedeutsamkeit des missionarischen Auftrags und symbolisierte die Erfolge der Franziskaner am Hofe des Großkhans, die - so viel wurde damit zumindest angedeutet - noch bedeutsamer werden konnten, wenn mehr Ordensbrüder in sein Reich aufbrachen. Für die Mission war der Priesterkönig Johannes nicht anschlußfähig, weder als Nestorianer, die, wie ich anhand der Briefe der christlichen Missionare und den Missionstheorien 166
ed. Wyngaert, S. 493. „Und als wir uns ihm näherten, setzten wir das Kreuz auf ein Brett, so daß man es in aller Öffentlichkeit sehen konnte. Ich aber hielt in meiner Hand ein Weihrauchgefäß, das ich mitgenommen hatte, und wir fingen an, mit lauter Stimme zu singen: Veni creator spiritus etc. Als wir so sangen, hörte er unsere Stimmen, ließ uns herbeirufen und hieß uns zu ihm treten. Wie oben schon in anderem Zusammenhang gesagt wurde, wagt niemand, sich seinem Wagen bis auf einen Steinwurf zu nähern, wenn er nicht gerufen ist, ausgenommen das Wachpersonal. A l s wir aber mit dem erhobenen Kreuz zu ihm traten, legte er sofort seine Kopfbedekkung ab, eine Kappe von unschätzbarem Wert, und erwies er dem Kreuz seine Verehrung" (ed. Reichert, S. 126).
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gezeigt habe, als die größten Hindernisse der katholischen Mission im Osten galten, noch als imaginärer Herrscher, denn dessen Position war inzwischen von einem anderen besetzt worden: vom Großkhan der Mongolen. Der einzige, der den Priesterkönig Johannes noch einmal ausfuhrlich als aktuellen Herrscher über Indien beschrieb, war Mandeville, und dafür mußte er seine Hauptquelle Odorico ein weiteres Mal erheblich korrigieren. Inhaltlich griff Mandeville für seine Darstellung auf den Presbyterbrief zurück und plazierte den Priesterkönig in seinem Bericht hinter dem Reich des Großkhans im äußersten Osten unmittelbar vor dem irdischen Paradies. Die ursprünglich entscheidenden Attribute des christlichen Herrschers über Indien, sein Priesterkönigtum und sein Wunsch, das Heilige Land von den Sarazenen zu befreien, erwähnte er jedoch nur noch am Rande oder stark abgeschwächt. Die Befreiung Jerusalems, die er in seinem Prolog als die große Aufgabe der Christenheit beschworen hatte, stellte er nicht mehr explizit als selbstgewählte Aufgabe des Priesterkönigs dar, und die an einer Stelle erwähnte Kriegführung im Zeichen des Kreuzes hatte zwar symbolischen Wert, aber sie wurde nicht mit dem Kreuzzugsgedanken in Verbindung gebracht: „Cilz empereur Prestre Jehan, quant il v a en bataille contre le Grant Cham, il ne fait porter nulle baniere ne aussi ne fait il contre nul autre prince marchissant a luy. Mais fait porter deuant lui xiii. crois grandes et de fin or et de pierres precieuses; et est chascune crois assise sur i. haut glaine et a chascune crois son chariot. Et sont bien gardees de x. mile cheualiers ou plus et de c m . h o m m e s de pie, en la maniéré que on garde par de ca lestendart dun grant prince, quant il guerroient. Et celle gent sont ordenez pour ces crois garder seulement, senz le principal et senz les eschielles ordenees pour la bataille."
Die Zahl dreizehn, die Christus und seine zwölf Jünger symbolisieren konnte, wie auch der besondere Schutz, den der Priesterkönig Johannes den Kreuzen angedeihen ließ, rückten ihn metonymisch in die Nähe zur Kriegführung im Zeichen des Kreuzes, aber religiöse Gründe für Kriege gegen den Großkhan wurden nicht dargelegt, ja nicht einmal angedeutet. 168 Die Darstellung des Auszugs des Priesterkönigs unter dem Zeichen des Kreuzes fungierte eher als allgemeines Zeichen für die quasi naturgegebene Nähe des östlichsten Herrschers zum christlichen Glauben, denn als Zeichen des Kreuzzugsgedankens. Auch das Priestertum und der Name Johannes waren in Mandevilles Beschreibung eher kontingent als genuin der Gestalt des Priesterkönigs zugehörig: Einst habe es in Indien einen mächtigen Herrscher gegeben, der viele christliche Ritter um sich gehabt habe, wie der jetzige Priesterkönig. Er habe aber sehen wollen, wie die Christen die 167
ed. Letts (Paris-Text), S. 385f. „Item der kayser v o n India wenn er zuo stritt zücht wider den Grossen Cham v o n Chatay, so fuert man im kain paner vor. Er haisset aber vor im fueren z w o e l f f grossü crütz v o n vinem gold und v o n edelm gestain uff hochen Stangen, und ietlich crütz hät sinen wagen. Und yetlicher w a g e n hät zehen tusend ritter die sin wartend, und w o l hundert tusend zefuoß, die behuettend sie in der wiß als man hie ains herren baner behuet. Und die hond wart uff die crütz on das volck das da den stryt an hebt (ed. Morrall, S. 156)".
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D i e heilsgeschichtliche Zahlensymbolik bordete bei Mandevilles Beschreibung des Reiches des Priesterkönigs förmlich über: Zweiundsiebzig Länder hatte der Priesterkönig unter seiner Herrschaft; z w ö l f K ö n i g e dienten ihm während z w ö l f Monaten abwechselnd an seiner Tafel, an der regelmäßig z w ö l f Erzbischöfe aßen; zweiundsiebzig Herzöge dienten den Königen usf.
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Messe abhielten, und sich deshalb in die christlichen Länder begeben, zu denen damals noch Armenien, Syrien, Jerusalem, Arabien und Ägypten gehört hätten. In Ägypten habe er schließlich an einem Sonntag nach Pfingsten einer christlichen Messe beigewohnt. „Si regarda cilz empereur et escouta le seruice et demenda queulx gens ce deuioent estre que le prélat auoit deuant lui, qui auoient tant de misteres a faire. Et vn cheualier li respondi que cestoient prestres. Et il dist quil ne vouloit plus estre roy ne empereur mais prestres, et voult auoir le nom du premier qui istroit de leglyse, le quel eut a nom Iehan. Et depuis cil empereur a tousiours este appelle Prestre Iehan en sa terre et en sa contree."
Damit waren bei Mandeville stärker noch als in den späten Versionen des Presbyterbriefes die ursprünglich entscheidenden Attribute des Priesterkönigs Johannes mit ihrer Verknüpfung von geistlicher und weltlicher Macht ebenso wie der Kreuzzugsgedanke deutlich zurückgenommen, um nicht zu sagen, gänzlich verschwunden. Das Priesterkönigtum ebenso wie der christliche Name Johannes bildeten bei Mandeville offenbar nicht mehr die bezeichnenden Bedeutungsträger des indischen Königs. Entscheidend war bei ihm aber wieder der christliche Glaube, der in den früheren Berichten, außer bei Carpini, so deutlich negiert worden oder einfach verschwunden war: „Cilz empereur prestre Iehan est Crestien et grant partie de son pays, mais toutes voies il nont mie les xii. articles de la foy ainsi comme nous auons. Il croient bien le Pere et le Filz et le Saint Esperit, et sont bien deuos et bien loiaus lun a lautre, et nont cure de barat ne de cautelle ne fraude nulle."
Mandeville spricht hier nur vom christlichen Glauben, während er die Präzisierung dieses christlichen Glaubens als nestorianisch, die ihm aus seinen verschiedenen Quellen sehr wohl bekannt sein mußte, unerwähnt läßt. Die Macht des Priesterkönigs spielt dagegen nicht die entscheidende Rolle. In den unterschiedlichen Varianten des MandevilleTextes ist überdies nicht eindeutig, welchem der Herrscher des Ostens der Ehrentitel zukam, der mächtigste Herrscher zu sein. Während in der kontinentalfranzösischen Version diese Ehre dem Priesterkönig Johannes zuteil wurde, nahm in einem Teil der englischen Versionen der Großkhan diese Stelle ein. „Under the firmament is not so great a lord, ne so mighty, ne so rich, as is the Great Caan; not Prester John, that is emperor of the high India, ne the sultan of Babylon, ne the emperor of Persia. All these ne be not in comparison to the Great Caan, neither of might, ne of noblesse, ne of royalty, ne of riches, for in all these he passes all earthly princes. Wherefore it is great harm that he believes not faithfully in God. And natheless he will gladly hear speak of God, and he 169
170
ed. Letts (Paris-Text), S. 402. „Und es ducht in gar wunderlich, und fraget was lüt sind die die vor dem prelauten stond, da man als viel mit zeschaffend hät. Do sprachend die ritter: 'Edler herre, es sind priester.' Do sprach er: 'Sicher ich wil nit me küng noch kayser haissen, ich wil och priester haissen, und wil das man mich nemme als der erst priester haisset, der uß der kirchen gat. Und der priester hieß Johans. Und dar nach alle wegen als wyt sin land was, da hieß er sich nemmen Priester Johan " (ed. Morrall, S. 170). ed. Letts (Paris-Text), S. 384. „Item Priester Johans der ist cristen und das maist tail sines landes, aber doch halt er nit die zwoelff artickel des globens als wir. Sie gelobent an den vatter und an den sun und an den hailigen gaist und sind gar andaechtig, und laichent nit an ander" (ed. Morrall, S. 155).
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suffereth well that Christian men dwell in his lordship, and that men of his faith be made Christian men, if they will, throughout all his country; for he defendeth no man to hold no law other than him liketh." 171
Bei Mandeville wogen der christliche Glaube und die Wunder im Reiche des Priesterkönigs die Macht des Großkhans auf. Beide standen nebeneinander als Paradigmen der Großartigkeit der göttlichen Ordnung, die in der weisen und gerechten Herrschaft zweier Kaiser ihren Ausdruck fand. Nach seiner Darstellung standen sich der Großkhan und der Priesterkönig, auch wenn sie gelegentlich „Streit gegeneinander suchten", nicht antagonistisch gegenüber, sondern als Beispiel für die Vielfältigkeit der wunderbaren Reiche des Ostens nebeneinander. Der Priesterkönig Johannes überragte den Großkhan aber insofern, als er den rechten Glauben in seiner ursprünglichen, apostolischen Form verkörperte. Deshalb nahm er hier noch einmal eine andere Rolle ein, und zwar die eines externen Spielfelds der christlichen imagined Community und als Korrektur gegenüber den pejorativen Entwicklungen in der eigenen institutionalisierten Christianitas. Das war weder fabulöser noch literarischer als bei seinen Vorläufern, es hatte nur eine andere Funktion, und es bediente sich anderer Funktionsmechanismen. Mandevilles Darstellung war aber ebenso eine narrative Aneignung des Fremden wie die Berichte der „wirklichen" Reisenden, nur vervielfachte er den Raum des Fremden und überbot seine vorhergehenden, immer gezielt auf einen Aspekt oder auf einen Herrscher gerichteten Darstellungen, weil er die Grenzen zwischen eigen und fremd neu ausbalancierte. Bei Mandeville erschien die am Paradigma des Priesterkönigs Johannes repräsentierte Fremde als „Spannungsverhältnis auf der Grundlage basaler Gemeinsamkeit" (Schäffters erster Modus), als „positiver Gegensatz einer negativ erlebten Eigenheit" (zweiter Modus) und schließlich auch als „komplementäre Ordnung wechselseitiger Fremdheit" (vierter Modus). Unter dem Primat des Wunderbaren mußte das Fremde nicht auf einen dieser Aspekte festgelegt werden, sondern konnte stets auf verschiedene Aspekte des Eigenen antworten.
171
ed. Letts (Cotton-Text), S. 169f. „Unter dem Firmament gibt es keinen so großen Herrn, weder einen so mächtigen noch einen so reichen, wie wie den Großen Khan; weder Priester Johann, der der Herrscher über Groß-Indien ist, noch der Sultan von Babylon oder der Kaiser von Persien. All diese sind nichts im Vergleich mit dem Großen Khan, weder an Macht, noch an Vornehmheit, noch an Königlichkeit, noch an Reichtümern, denn in all dem übertrifft er alle irdischen Fürsten. Deswegen ist es eine große Schande, daß er nicht rechtmäßig an Gott glaubt. Aber dennoch hört er gerne von Gott sprechen, und erlaubt gerne, daß Christen in seinem Land wohnen, und daß Menschen seines Glaubens zum Christentum bekehrt werden, denn er zwingt niemanden, ein anderes Gesetz zu halten, als das, was er will." In dem von Letts edierten Paris-Text wie auch dem Egerton-Text fehlt diese Passage. Sie dürfte aber in anderen französischen Versionen enthalten sein, denn Michel Velsers Übersetzung hat eine ähnliche Passage in Bezug auf den Glauben des Großkhans, freilich stellte er dessen Macht nicht eindeutig über die des Priesterkönigs Johannes. „Wie wol das ist daz er nit Christen sig, so gloubt er doch und all Tartar an den untoettlichen got und der allü ding vermag" (ed. Morrall, S. 137f.). „Und das ist groß schad und schand das er nit Cristen ist, aber doch hoert er gern von got sagen, und wil och das die cristen mügend farenn durch sin land mit guttem fryd on alle betrübsele. Wann er gan yederman wol in sinem land das er gloub was er welle glouben" (ed. Morrall, S. 144).
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4. Barbaren, Heiden, monstra Zur Klassifizierung fremder Völker standen seit der Antike und den Anfängen des Christentums drei Begriffe zur Verfügung: Barbaren, Heiden und monstra. Alle drei dieser Termini waren Abgrenzungsbegriffe, wobei die Grenzziehung jedoch unterschiedliche Ebenen bezeichnete. Während der Terminus „Barbar" den Gegensatz von eigen und fremd zunächst auf der Ebene der Sprache festmachte, siedelte ihn der Terminus „Heide" auf der Ebene der Religion an, und der Terminus monstra schließlich bezog Fremdheit in erster Linie auf die Ebene des Körpers. Der Terminus monstra war dabei entgegen der modernen, negativen Konnotation von „Monster" - der neutralste Begriff, wohingegen die Begriffe „Barbar" und „Heide" im Koselleckschen Sinne als asymmetrische Gegenbegriffe fungierten. Als „asymmetrische Gegenbegriffe" bezeichnet Koselleck jene Begriffe, die sich „auf ungleiche Weise konträr" gegenüberstehen, weil in ihnen der positiven Selbstbeschreibung die negative Fremdzuweisung entgegengesetzt wird.172 Die in der Gegenüberstellung durch das implizierte „Oder" erreichte syntaktische Relationierung auf gleicher Ebene (Binarität) bezeichnet semantisch eine schiefe Ebene oder ein Gefälle, das nach Koselleck die Asymmetrie auszeichnet. Deren Schärfe wird aber erst durch die syntaktische Symmetrisierung erreicht. Erst wenn einem als „Fremdes" Bezeichneten das Eigene als positives Gegenbild gegenübergestellt wird, entsteht eine Relationierung von Eigenem und Fremdem, in der dem Fremden per aliud negative Konnotationen eignen, die dann als negative Konnotationen per se erscheinen können. Koselleck hat sein Konzept asymmetrischer Gegenbegriffe anhand dreier binärer Begriffspaare von „universalem Anspruch" erläutert: Hellenen und Barbaren, Christen und Heiden, Mensch und Unmensch bzw. Übermensch und Untermensch. Koselleck versteht unter Begriffen von universalem Anspruch solche, die die Gesamtheit aller Menschen zu umfassen beanspruchen. Dieses Konzept asymmetrischer Gegenbegriffe ist häufig so verstanden worden, als habe Koselleck damit die grundlegende Form der Erfassung des Fremden als negativ besetztes Gegenüber beschrieben und durch die Gegenbegriffspaare Hellenen und Barbaren sowie Christen und Heiden zugleich Epochen und ihre Wahrnehmung des Fremden charakterisiert. Er selbst hat freilich seine asymmetrischen Gegenbegriffspaare weder als Beispiele dafür verwendet, daß das Fremde dem Eigenen prinzipiell abwertend gegenübergestellt werde, noch hat er sie mit dem Anspruch versehen, bestimmte Epochen zu kennzeichnen. Vielmehr handelt es sich bei seinen Begriffspaaren um spezifische Zuspitzungen der Fremdzuschreibung, die nur teilweise bestimmte Ausprägungen epochaler Zuschreibungen kennzeichnen. Überdies, und das ist ebenfalls häufig übersehen worden, hat Koselleck gezeigt, daß sich die asymmetrischen Gegenbegriffspaare in der Geschichte ihrer Verwendung durchaus nicht immer gleich bleiben, sondern unterschiedliche Konnotationen haben können, so daß zwar immer die Asymmetrie gewahrt bleibt, deren Besetzung aber nicht völlig eindeutig ist. Koselleck gliedert die drei Gegenbegriffspaare nach unterschiedlichen Kriterien. Beim 172
Vgl. Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 2 1 1 - 2 5 9 .
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Begriffspaar Hellenen und Barbaren handelt es sich nach seiner Überzeugung anfanglich um einander ausschließende Begriffe, deren Bezugsgruppen räumlich trennbar sind. „Die Fremden werden zwar negativ eingekreist, aber, was eine geschichtliche Leistung darstellt, als solche auch anerkannt."173 Auf die Territorialisierung der Begriffe erfolgte später ihre Spiritualisierung, indem die negative Zuschreibung Barbar nicht mehr nur auf eine Fremdgruppe bezogen wurde, sondern ein Abgrenzungskriterium innerhalb der Eigengruppe wurde. Damit verblaßte zugleich der Gegensatz von Hellenen und Barbaren, und der Barbarenbegriff verselbständigte sich zu einer Zuschreibung, die entweder neutral war, wie bei Cicero, oder als Abgrenzungsbegriff auf jede Gruppe angewandt werden konnte, unabhängig davon, ob sie fremd oder vertraut war. Mit dem Eintritt der Christen in die mittelmeerische Welt verlor nach Koselleck der Barbarenbegriff seine Stimmigkeit, denn zu den Christen gehörten bald auch Völker, die vordem als Barbaren bezeichnet worden waren. In seinen Briefen an die Kolosser (Kol. 3,11) und an die Galater (Gal. 3,28) verneinte Paulus ausdrücklich die herkömmlichen Gegenbegriffe: im Glauben an Christus sei man weder Hellene noch Barbar, Beschnittener oder Unbeschnittener, Barbar oder Skythe, Freier oder Knecht, noch Mann oder Frau. Die Christen, so Koselleck, standen jetzt allen anderen gegenüber, die eigentlichen Antithesen entsprangen von da an aus dem wahren Glauben: „Die paulinische Negation ist nicht mehr räumlich, sondern in erster Linie zeitlich aufzuschlüsseln. (...) Alle vorfindlichen Völker, die Hellenen, ethnai, gentes, die durch die christliche Ansprache zu 'Heiden', gentiles, pagani werden, gehören als solche der Vergangenheit an. Durch Christi Tod gehört die Zukunft den Christen. Sie bringt die neue Welt."174 Das Begriffspaar Christ und Heide war daher nicht in erster Linie territorial zu verstehen, wie das Begriffspaar Hellenen-Barbaren, sondern temporal. Der Hellene wurde damit ebenfalls zum Heiden - dessen war man sich bei der Lektüre des Philosophen (Aristoteles) schmerzlich bewußt. Andererseits war er als Heide, der in der Zeit vor der Ankunft Christi gelebt und gedacht hatte, ein anderer Heide als der Heide, der nach der Ankunft des Erlösers Heide war. Der Gegensatz Christ-Heide, so Koselleck, konnte nur territorialisiert werden, wenn der Begriff des Christen an die sichtbare Kirche zurückgebunden wurde. Dies drückt sich in der Mehrdeutigkeit des Begriffs christianitas selbst aus, der sowohl die Handlungseinheit der Gläubigen (Christenheit) als auch Umfang und Wesen des Glaubensinhalts (Christentum) bezeichnete.175 Augustinus hat nach Kosellecks Überzeugung die Schwierigkeiten, die sich zwischen der spirituellen, territorialen und eschatologischen Deutung des Gegensatzes von Christ und Welt auftaten, durch seine Lehre von den beiden civitates einer relativ geschlossenen und dauerhaften Lösung zugeführt. 176 Der Gegensatz von civitas terrena und civitas Dei war aber kein Gegensatz zwischen christlichen und heidnischen Reichen, sondern zwischen dem irdischen Reich der Gegenwart und dem himmlischen Reich der Zukunft. In den Kampf zwischen dem Bösen und dem Guten waren nach dieser Sicht alle Menschen gleichermaßen verwickelt, gleich ob sie Christen oder Heiden waren. Auch der Nicht-Christ war in die göttliche 173 174
Vgl. ibid., S. 217. ibid., S. 231.
175 176
Vgl. ibid., S. 232. Vgl. ibid., S. 234.
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Ordnung eingebunden, wie umgekehrt der Christ keine völlige Gewißheit der Errettung hatte. „Die Zwei-Reiche-Lehre war also formal genug, um jeder konkreten Erfahrung vordergründig eine dualistische Deutung angedeihen lassen zu können: ohne auf die Gespanntheit in die Zukunft des Heils zu verzichten, die die wahre Scheidung an den Tag bringt."177 Das augustinische Konzept der beiden civitates war daher vielseitig und in unterschiedliche Richtungen deutbar; es erschloß, in Kosellecks Worten, einen „stets elastischen Erwartungshorizont", in dem der Heide dem Christen zwar nicht gleichgestellt, aber auch nicht nur abwertend gegenübergestellt wurde. Der Barbaren-Begriff wurde aber durch den Begriff des Heiden keineswegs abgelöst, sondern mit unterschiedlichen Akzentuierungen weiterverwendet. Nach Arno Borst lassen sich drei Hauptbedeutungen des Barbaren-Begriffs unterscheiden, die seit der Antike nebeneinanderherliefen: die ethnographische, die politische und die ethische Bedeutung.178 In der ethnographischen Bedeutung bezieht sich barbaros in erster Linie auf die unverständliche Sprache fremder Völker und ahmt den Klang der unverständlichen Worte in der Bezeichnung dieser Völker onomatopoetisch nach, ohne damit jedoch ein Urteil über die Sitten und Gewohnheiten der Fremden zu verbinden. Darauf zielt jedoch die politische Bedeutung des Begriffs, die sich nicht in erster Linie auf die Sprache, sondern auf die politische Ordnung bezieht und in den Barbaren unfreie Sklaven einer orientalischen Militärdespotie sieht, die die Freiheit der Griechen bedrohen. In der dritten, ethischen Bedeutung wurde der Terminus zu einem Abgrenzungsbegriff, der nicht unbedingt an der Grenze zwischen eigen und fremd angesiedelt war, sondern sich auf die gesittete und gesellige Haltung der Menschen bezog, wobei barbaros alle rohen, zuchtlosen und grausamen Menschen bezeichnete. Diese drei möglichen Konnotationen des Barbaren-Begriffs blieben in ihrer Verwendung jedoch nicht deutlich voneinander geschieden, sondern verbanden sich zu einer unübersichtlichen Gemengelage, so daß die Verwendung des Barbaren-Begriffs an sich wenig aussagekräftig hinsichtlich der damit verbundenen Deutungen ist. In seiner Chronica erläuterte etwa Otto von Freising den Begriff des Barbaren damit, daß die Griechen und Latiner sich während der Herrschaft des Melanthus in Athen und des Äneas Silvius in Latium zunehmend aneinander angenähert und sich von Völkern minderer Kultiviertheit abgegrenzt hätten: „Exhinc Greci et Latini quasi in uno semine coalescentes quandam et morum et linguae affinitatem habere ceperunt aliasque gentes tamquam rationis acumine et oris venustate minus utentes barbaros vocare consueverunt."
Die Unverständlichkeit der fremden Sprachen verwandelte sich nach dieser Definition in einen Mangel an sprachlicher Ausdrucksfähigkeit, der zugleich einen Mangel an Ver177 178
ibid., S. 238. Vgl. Arno Borst, Barbaren, Geschichte eines europäischen Schlagworts, in: ders., Barbaren, Ketzer und Artisten, S. 20ff.
179
Ottonis Episcopi Frisingensis, Chronica, I, 27, S. 98. „Seitdem begannen die Griechen und die Latiner, gleichsam zu einem Stamm zusammenwachsend, eine gewisse Verwandtschaft der Lebensart und der Sprache zu zeigen, und sie pflegten die anderen Völker Barbaren zu nennen, weil sie es an Schärfe des Denkens und Anmut des Ausdrucks vermissen ließen" (S. 99).
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nunft signalisierte. Damit wurde eine Beziehung zwischen Sprache und Vernunft hergestellt, die auch eine Beziehung zwischen den Sitten und der Venunft implizierte, da die zwischen Griechen und Latinern behauptete Ähnlichkeit sowohl auf der Ebene der Sprache als auch auf der Ebene der Sitten festgemacht wurde. Mit der Bezeichnung barbaros belegten Griechen und Römer demnach nicht nur solche Völker, deren Sprache sie nicht verstanden, sondern sie signalisierten damit nach Otto von Freising zugleich, daß es sich um Völker mit minderer Vernunft und Sittlichkeit handelte. Dagegen erläuterte Albertus Magnus in seiner Auslegung des 113. Psalms, das Wort barbarus beziehe sich nicht auf die unverständliche Sprache der Ägypter, sondern auf ihre bestialische Rohheit in Sitten, Kleidung, Nahrung und Haartracht.180 Barbarus fungierte hier also nicht als eine Form der sprachlichen Diskriminierung, sondern als Metonymie für kulturelle und zivilisatorische Unterlegenheit, mit der sich insbesondere Rohheit und Grausamkeit verbanden. Es ist von daher nicht verwunderlich, daß die Bezeichnung der Mongolen als Barbaren in den Zeiten der Mongolenstürme in den chronikalischen Quellen immer wieder auftauchte, um das als niederträchtig, hinterlistig und grausam beschriebene fremde Volk zu klassifizieren.181 In den bei Matthaeus Parisiensis überlieferten Briefen des franziskanischen Provinzialoberen von Polen und Böhmen Frater Jordanus, die dieser zwischen 1241 und 1242 an alle Mitbrüder des Abendlandes gerichtet hatte, um sie eindringlich vor der drohenden Gefahr durch die Tartaren zu warnen, wurden Barbaren und Tartaren zu nahezu synonymen Begriffen; an einer Stelle sprach Jordanus explizit von „quidam barbari quos vulgariter Tartaros appellamus".182 Die in den Zeiten des Mongolensturms verbreiteten Ängste in Europa hätten es von daher nahe gelegt, die Mongolen auch in den ersten Berichten mit dem Begriff des Barbaren zu klassifizieren. In den Berichten der Gesandten findet sich der Barbaren-Begriff erstaunlicherweise jedoch so gut wie überhaupt nicht. Johannes de Piano Carpini verwendete ihn nur an einer einzigen Stelle, als er im neunten Buch seines Berichts bei der Beschreibung der Reisestationen bemerkte, von Kiew aus seien er und seine Begleiter bei klirrender Kälte weitergezogen „ad illas barbaras nationes".183 Auch Wilhelm von Rubruk sprach nur an einigen Stellen explizit von den Tartaren als Barbaren. So verwendete er den Barbaren-Begriff, um seiner extremen Befremdetheit über das Verhalten der Tartaren Ausdruck zu verleihen: „Quando ergo ingressi sumus inter istos barbaros, visum fuit michi, ut dixi superius, quod ingrederer aliud seculum."
Der Barbaren-Begriff hatte hier zweifellos eine zivilisatorisch-kulturelle Konnotation, denn er bezog sich auf das Verhalten der Tartaren, von denen Wilhelm unmittelbar im Anschluß an die zitierte Stelle bemerkte, sie bedrängten den Gast in der unverschämtesten Weise um Nahrung und Geschenke und verrichteten ihre Notdurft direkt neben dem Lager. Wilhelm bezeichnete mit dem Barbaren-Begriff also genau jene zivilisatorische 180 181 182 183 184
Vgl. Arno Borst, Der Turmbau von Babel, Bd. II/2, S. 808. Vgl. Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, bes. S. 68ff. Vgl. Mattaeus Parisiensis, Chronica Maiora, VI, S. 81ff., hier S. 83. ed. Menestö, S. 305. ed. Wyngaert, S. 187. „Wie wir denn also zu diesen Barbaren kamen, da war mir, wie ich schon oben gesagt, als ob ich in eine andere Welt gekommen wäre" (ed. Risch, S. 77).
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und kulturelle D e f i z i e n z , die Albertus M a g n u s den Ä g y p t e r n z u g e s c h r i e b e n hatte. Er w e i t e t e die s o v o r g e g e b e n e Form der Klassifikation j e d o c h nicht aus, s o n d e r n deutete s i e l e d i g l i c h z u A n f a n g seiner B e s c h r e i b u n g quasi leitmotivisch an. N u r an einer anderen Stelle v e r w e n d e t e er den T e r m i n u s Barbaren e i n w e i t e r e s Mal, n ä m l i c h als er d i e v o n A l e x a n d e r d e m G r o ß e n hinter den Eisernen P f o r t e n e i n g e s c h l o s s e n e n V ö l k e r als Barbaren b e z e i c h n e t e : „Post hoc est porta ferrea, quam fecit Alexander ad excludendas barbaras gentes de Perside, de cuius situ dicam vobis postea, qui transivi per eam in reditu." Hier diente ihm der B a r b a r e n - B e g r i f f freilich lediglich dazu, die im K a u k a s u s e i n g e s c h l o s s e n e n V ö l k e r v o n der verbreiteten Identifikation mit den a p o k a l y p t i s c h e n V ö l k e r n z u entlasten und sie durch die B e z e i c h n u n g als Barbaren h e i l s g e s c h i c h t l i c h g l e i c h s a m z u neutralisieren. D i e s w a r e n j e d o c h die b e i d e n e i n z i g e n V e r w e n d u n g e n d e s B e g r i f f s bei W i l h e l m v o n Rubruk, und in den übrigen Berichten tauchte er als B e g r i f f überhaupt nicht auf. Z w e i f e l l o s f i n d e n sich in den detailierten B e s c h r e i b u n g e n der m o n g o l i s c h e n Sitten und G e b r ä u c h e bei Carpini und Rubruk e i n e g a n z e R e i h e v o n E l e m e n t e n , d i e üblicherw e i s e mit d e m e t h i s c h e n Barbarenbegriff e i n h e r g i n g e n . S o h o b Carpini i m vierten K a pitel bei der B e s c h r e i b u n g der guten Siitten der Tartaren z w a r hervor, sie s e i e n untereinander friedfertig, g e r e c h t und o h n e N e i d , und e b e n s o g e n ü g s a m w i e g e d u l d i g . 1 8 6 A b e r als er im A n s c h l u ß a u f ihre s c h l e c h t e n Sitten z u s p r e c h e n k a m , führte er n a h e z u v o l l s t ä n d i g all das an, w a s als Inbegriff d e s Barbarischen galt. „Iracundi sunt hominibus aliis multum et indignatis nature, et etiam aliis hominibus sunt mendaces, et fere nulla veritas invenitur in eis. In principio quidem sunt blandi, sed ultimo pungunt ut scorpio. Subdoli sunt et fraudulenti et, si possunt, astutia circumveniunt omnes. Homines sunt immundi in sumendo cibum et potum et in aliis factis suis. Quicquid volunt facere hominibus aliis mali, miro modo occultant, ut sibi providere non possint, vel contra eorum astutias remedium invenire. Ebrietas honorabilis est apud eos, et cum aliquis multum biberit, ibidem reicit, nec propter hoc dimittit quin iterum bibat. Valde sunt cupidi et avari, exactores maximi ad petendum et tenacissimi retentores et parcissimi donatores. Aliorum hominum occisio pro nichilo est apud eos. Et ut breviter dicam, omnes mali mores eorum propter prolixitatem in scripto redigi minime possunt."
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ed. Wyngaert, S. 199f. „Nach ihnen kommt dann das eiserne Tor, das Alexander errichtete, um die barbarischen Völkerschaften vom Einfallen nach Persien abzuhalten. Von dessen Lage will ich Euch später erzählen, da ich auf dem Rückweg durch dasselbe kam" (ed. Risch, S. 101). Vgl. ed. Menestö, S. 245f. ed. Menestö, S. 247. „Gegen fremde Menschen sind sie extrem jähzornig, heftig und so lügnerisch, daß kaum ein Deut Wahrheit in ihnen zu finden ist. Zu Anfang schmeicheln sie zwar, doch am Ende stechen sie zu wie ein Skorpion. Hinterlistig sind sie und betrügerisch, und wenn sie können, umgarnen sie alle voll Verschlagenheit. Ihr Benehmen beim Essen und Trinken ist unappetitlich wie auch alles andere, was sie tun. Was auch immer sie fremden Menschen Übles antun wollen, verbergen sie in wunderbar geschickter Weise, damit die anderen sich nicht vorsehen oder gegen die Hinterlist zur Wehr setzen können. Trunkenheit ist bei ihnen ehrenhaft, und wenn einer so viel getrunken hat, daß er es wieder von sich gibt, hört er deshalb nicht auf, weiterzutrinken. Sie sind extrem gierig und raffsüchtig; höchst einnehmend bei Forderungen erstatten sie
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Dennoch verwendete Carpini den Barbaren-Begriff auch an dieser Stelle nicht explizit, sondern trug nur all die Elemente zusammen, die seine Akzidentien bildeten, um so die Schlußfolgerung, die er selbst zu ziehen vermied, vorzubereiten. Der Barbaren-Begriff taugte offenbar für die Berichte nicht dazu, das fremde Volk der Tartaren zu klassifizieren, was zunächst damit zusammenhängen dürfte, daß mit dem Namen Tartaren bereits eine „sprechendere" und zudem spezifischere Bezeichnung im Schwange war, die ausreichte, um negative Konnotationen wie Rohheit und Grausamkeit zu bedienen. Entscheidender für das Fehlen des Barbaren-Begriffs scheint mir jedoch zu sein, daß die Funktionsmechanismen der verschiedenen Kontaktsysteme diese Form der Klassifizierung aus unterschiedlichen Gründen ausschlössen. Eine vorschnelle Klassifikation konnte gerade bei den ersten Gesandten schon deshalb nicht nicht erwünscht sein, weil sie ja erst jenes kategoriale Wissen vermitteln sollten, daß eine solche Klassifikation ermöglichte. Dagegen stand der Barbaren-Begriff bei den Missionaren einerseits quer zum Programm der Missionierung, insofern er nicht als Gegenbegriff zum Christentum fungieren konnte, andererseits widersprach er dem Programm der Narrativierung der Mission, insofern er als asymmetrischer Gegenbegriff nicht den Hintergrund für eine Erfolgsgeschichte missionarischen Wirkens bilden konnte. Ähnliches gilt auch für Marco Polo und John Mandeville: Die von beiden vorgenommene Positivierung der Mongolen verbot es, mit einem asymmetrischen Gegenbegriff zu arbeiten, der dieser Umbesetzung entgegenstand. Marco Polo verschob die im Barbaren-Begriff mitschwingende Grenzziehung zwischen zivilisierten und barbarischen Völkern vielmehr dahingehend, daß er nicht die Tartaren, sondern vielmehr eine Reihe von ihnen unterworfener oder an den Rändern des mongolischen Reiches hausender Völker als bösartige und grausame J e n s moult sauvajes" beschrieb oder gar meinte, sie seien „come bestes sauvajes". 188 Die Grenzziehung erfolgte hier nicht mehr zwischen Abendländern und Mongolen, sondern zwischen den als hochzivilisiert beschriebenen Mongolen und Völkern, die an den Rändern des mongolischen Reiches lebten oder von ihnen unterworfen worden waren. Daraus ergab sich eine Verschiebung von Zentrum und Peripherie, in der nicht mehr das Abendland das Zentrum bildete, an dessen Peripherie barbarische Völkerschaften hausten, sondern das Reich des mongolischen Großkhans, das ein von Völkern mit barbarischen Sitten umgebenes Zentrum der Ordnung bildete. Auch der Begriff des Heiden (paganus) taugte nicht als einfacher asymmetrischer Gegenbegriff, um die Mongolen oder andere umliegende Völkerschaften negativ zu charakterisieren. Wie ich an den Missionstheorien des 13. Jahrhunderts gezeigt habe, hat der Begriff des Heiden keineswegs durchweg als Sammelbezeichnung für alle NichtChristen fungiert. Heide (paganus) bezeichnete in der Missionstheorie vielmehr die unterste Stufe der Religiosität und war in diesem Sinne nicht als Gegenbegriff zu Christ zu verstehen, sondern die Bezeichnung für eine spezifische Ausprägung des religiösen Bewußtseins, das selbst als naturgegeben begriffen wurde. Der Heide belegte daher noch in der Defizienz seiner religiösen Erfahrung die Wahrheit der Offenbarung, weil die Suche
188
minimal zurück und geben nur äußerst sparsam. Das Töten fremder Menschen gilt ihnen nichts mit einem Wort all ihre schlechten Sitten kann ich wegen des Ausmaßes kaum schriftlich wiedergeben" (ed. Schmieder, S. 57). Vgl. ed. Benedetto, S. 173 u. S. 176.
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nach Gott, auf welcher Stufe auch immer, der Ausdruck seiner permanenten Anwesenheit war. In den differenzierten Schemata der Religionen bildeten nicht die Heiden, sondern die Juden den negativ besetzten Gegenbegriff zum Christen, denn da Jesus aus ihrer Mitte hervorgegangen war, stand ihnen die Entscheidung für den wahren Glauben offen, während die Heiden von den Worten des Erlösers noch nicht erreicht worden waren. Negativer als die Heiden wurden deshalb aber auch diejenigen gesehen, die ihnen nicht die wahren Worte des Glaubens brachten, sondern ihre religiöse Suche durch häretische Irrlehren von Christus wegführten. Das zeigt sich deutlich bei der Einschätzung der nestorianischen Christen des Ostens, die keineswegs als Brüder im Glauben betrachtet wurden, sondern als Verderber der für den wahren Glauben eher aufnahmebereiten Heiden. Zur genaueren Erfassung dessen, zu welcher Art von Nicht-Christen die Mongolen gerechnet werden mußten, hatten ja insbesondere die Beschreibungen Johannes' de Piano Carpini und Wilhelms von Rubruk beigetragen.189 Sie hatten konstatiert, daß es sich bei den Mongolen nicht um pagani, sondern um idolatri handelte, die nichtsdestoweniger an einen Gott glaubten, den sie für den Schöpfer aller Dinge hielten. Das unterschied sie von anderen Götzenanbetern, die in der Regel an mehrere Götter glaubten.190 Sämtliche Berichte - auch die der religiösen Laien Marco Polo und John Mandeville - differenzierten sehr genau zwischen verschiedenen Formen der Religionsausübung und unterschieden pagani, idolatrifydolatri, mahomettani/saraceni und iudei. Der Begriff des Heiden war als bloß negativ besetzter Gegenbegriff selbst dort nicht hinreichend, wo es darum ging, den Ungläubigen den Besitz des Heiligen Landes streitig zu machen. Die Position des Heiligen Landes war für die Christen zweifellos ein prekäres Problem, denn es machte ihnen zwangsläufig ihren exzentrischen Standort innerhalb der Welt bewußt. Anders als andere Religionen nämlich hatte das Christentum sein sakrales Zentrum nicht in der Mitte seiner sozialen und kulturellen Lebenswelt, nicht einmal an der Peripherie seiner kulturellen Sphäre, sondern jenseits davon. Jerusalem lag in der Mitte der Welt, nicht aber in der Mitte der Christenheit. Wo der Begriff der Christenheit also territorialisiert wurde, mußte er zwangsläufig deren prekäre Situation in der Aufteilung der Welt offenlegen, denn während die Christenheit als imagined Community narrativ wie institutionell „the image of a communion" entwerfen und tradieren konnte, mußte sie, territorial gesehen, zerrissen und an den Rand gedrängt erscheinen.191 Wenn 189 190
191
Vgl. oben, S. 72. Das hatte Roger Bacon dazu veranlaßt, sie in seiner Stufenfolge der Religionen nicht den idolatri zuzuordnen, sondern ihnen eine eigene Stufe zuzuweisen, die er als secta tartarica bezeichnete. Vgl. oben S. 73ff. Den Begriff der imagined Community, der vorgestellten Gemeinschaft, hat Benedict Anderson für seine Beschreibung nationaler Identität geprägt. Vgl. ders., Die Erfindung der Nation, Frankfurt a. M./New York 1988 (amerik. Orig.: Imagined Communities, 1983), S. 15. Anderson hat den Begriff der imagined Community jedoch nicht nur auf die Nation bezogen, sondern auf alle Gemeinschaften, „die größer sind als die dörflichen mit ihren Face-to-face Kontakten" (S. 16). Das imaginäre Zentrum der religiösen Gemeinschaften wird nach Anderson durch ihre sakrale Sprache geprägt: „Alle klassischen Großgemeinschaften definieren sich über das Medium einer an eine überirdische Ordnung geknüpften heiligen Sprache und deshalb als im Zentrum des Kosmos stehend" (S. 21). Auch in dieser Hinsicht aber war die Position des Christentums problematisch: Der Herr hatte nicht lateinisch gesprochen, und die Heilige Schrift mußte erst übersetzt werden.
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daher in der Kreuzzugspropaganda öfter vom gerechten Krieg gegen die Heiden die Rede war, wurde damit nicht die Frage des rechten Glaubens, sondern die Frage des rechtmäßigen Besitzes tangiert.192 Die Bezeichnung als Heiden allein genügte daher nicht, um den Sarazenen das Heilige Land streitig zu machen, der Heide war nicht so eindeutig die Negation des Christen, daß sich damit alle seine Rechte negieren ließen. Innozenz IV. hat in seinem Dekretalenkommentar bei der Behandlung des gerechten Krieges denn auch keineswegs den infideles (den Terminus pagani verwendete er bezeichnenderweise nicht) grundsätzlich, weil sie Ungläubige waren, das Recht auf legitimen Besitz von Land und Herrschaft abgesprochen, sondern betont, daß alle Menschen, Gläubige wie Ungläubige gleichermaßen, rechtmäßige Herrschaft innehaben können. Der Krieg gegen die Ungläubigen war im Heiligen Land nach Innozenz nur deswegen legitim, weil die Christen dessen rechtmäßige Erben waren und die Ungläubigen sie von dort unrechtmäßig vertrieben hatten. Deswegen wurde das Heilige Land nach ihrem Selbstverständnis auch nicht erobert, sondern zurückerobert.193 John Mandeville hat das Problem der exzentrischen Position des sakralen Zentrums in Bezug auf die Christenheit offenkundig gesehen und in seinem im Prolog vorgetragenen Kreuzzugsaufruf thematisiert: „On the same wise he that was king of all the world would suffer death at Jerusalem, that is in midst of the world, so that it might be known to men of all the parts of the world how dear he bought man that he had made til his own likeness for the great love that he had til him. For more worthy chattel might not have set for us than his own blessed body and his precious blood, the which he suffered be shed for us. Ah, dear God! what love he had til his subjects when he that never did trespass would for trespassers suffer death! Right well ought men to love and serve such a lord, and worship and praise such a holy land that brought forth such fruit, through which ilk man is saved, but if it be his own default. This is the land that is hight til us in heritage; and in that land he would die seised therein to leave it to his childer. For the which land ilk a good Christian man that may and has whereof, should enforce him for to conquer our right heritage and chase out thereof them that are mistrowing. For we are called Christian men of Christ our father; and if we be right childer of Christ, we owe for to challenge the heritage that our father left to us, and for to do it out of strange men's hands. But now pride, envy and covetise have so inflamed the hearts of lords of the world that they are more busy for to disherit their neighbours than for to challenge or conquer their right heritage beforesaid. And the common people, that would put their bodies and their chattels in jeopardy for to conquer our heritage, they may nothing do without lords. For assembly of the people without lords that may govern them is a flock of sheep that has no shepherd, the which departs sunder and wots never whither they should go. But would God that there worldly Lords were at good accord and, with other of their common people, would take this holy voyage over the sea, I trow well that within a little time our right heritage beforesaid should be reconciled and put into the hands of the right heirs of Jesu Christ." 19
Auch Mandeville sprach aber nur von „them that are mistrowing" und davon, daß die Christen ihr Erbe „from strange men's hands" befreien müßten (der altfranzösische Text
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Vgl. Robert Bartlett, The Making of Europe, London 1994, bes. S. 243-255. Vgl. James Muldoon, The Nature of the Infidel, S. 117f. ed. Letts (Egerton-Text), S. If.
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spricht ebenfalls von „mescreants" und „mains estranges").195 Er begründete wie Innozenz IV. den Anspruch der Christen auf das Heilige Land deshalb auch nicht religiös, sondern sozial als rechtlichen Anspruch, indem er ihn mit dem Begriff des Erbes in Zusammenhang brachte. Über die „fremden Hände" war damit nicht mehr gesagt, als daß sie sich illegitimerweise auf einen Besitz legten, der ihnen nicht zukam. Für Mandeville, der in seinem Bericht später eine genaue Beschreibung sowohl der islamischen als auch verschiedener heidnischer Religionen bot, taugte der Begriff des Heiden auch dort, wo es um das christliche Territorium ging, nicht als Gegenbegriff. Neben den Begriffen Barbaren und Heiden fungierte als dritter Begriff zur Klassifizierung fremder Völker der der monstra. Anders als die Bezeichnung Barbaren und Heiden richtete sich die Bezeichnung fremder Völker als monstra vorwiegend auf körperliche Differenzen und siedelte damit die Grenzziehung in erster Linie nicht mehr auf der Ebene von Sprache, Sitte oder Religion, sondern auf der Ebene des Körpers an. Zwar wurden unter den monströsen Völkern verschiedentlich auch solche subsumiert, die sich durch merkwürdige Gewohnheiten auszeichneten, zentrales Merkmal war in der Regel jedoch die Deformation des Körpers. Beschreibungen monströser Völker hatten eine lange Tradition. Monströse Völker wurden seit der antiken Ethnographie am Rand der Ökumene angesiedelt, wo sie das Signum einer zu den Rändern hin abnehmenden Menschlichkeit durch den Verlust der Maßstäblichkeit gegenüber der im Zentrum angesiedelten Ordnung nicht nur der Gesellschaft, sondern auch des menschlichen Körpers repräsentierten. Dabei wurden die beschriebenen Völker allein auf die Deformation des Körpers reduziert und gleichsam in einer Ansammlung pathographischer Merkmale aufgehoben. Bei den pathographischen Merkmalen wurden, ausgehend vom Erscheinungsbild des Europäers, abweichende Größe, wie Riesenhaftigkeit oder Zwergenwuchs, und Hautfarbe und Doppelgeschlechtlichkeit als monströs beschrieben. Daneben traten Deformationen einzelner Körperteile oder die Vermischung von Menschen- und Tierkörpern. Gegen die Beschreibung der monströsen Völker regte sich zwar bereits bei den Griechen Widerstand, so etwa bei Strabo, der die meisten Autoren über Indien als Lügner bezeichnete, und bei Ptolemäus, in dessen mathematischer Geographie kein Platz für monströse Völker vorgesehen war, aber dieser Widerspruch blieb gegenüber der Tradition relativ wirkungslos und konnte sich schon bei den Römern nicht mehr durchsetzen. Ohne sich von den kritischen Einwänden seines Zeitgenossen Strabo beeindrucken zu lassen, übernahm Plinius im sechsten und siebten Band seiner siebenunddreißigbändigen Historia Naturalis in den Büchern „Geographie" und „Anthropologie" aus den Werken von Ktesias und Megasthenes die Beschreibung der monströsen Völker und verortete sie der griechischen Tradition entsprechend in Indien und Äthiopien. „Praecipue India Aethiopiumque tractus miraculis scatent."196 Bei Plinius finden sich Cyclopen, Sciapoden (Schattenflißler) Panotii (Großohrige), Struthopoden (Sperlingsfüßler) etc., Völker also, die sich in erster Linie durch Deformationen des Körpers auszeichnen. Für Plinius erklärte sich die Existenz monströser Völker aus der Macht der Natur: 195 196
Vgl. ed. Letts (Paris-Text), S. 230. Velser sprach dagegen in seiner Übersetzung von „unsaeligen haiden" (vgl. ed. Morrall, S. 2). Plinius Secundus, Naturalis historia, Bd. VII, S. 24.
Paradigmen der Fremdbeschreibung „Haec atque talia ex hominum genere ludibria sibi, nobis miracula ingeniosa fecit natura."
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Von daher wandte er sich auch gegen Versuche, die Erscheinung der monstra in irgendeiner Form beurteilen oder ihre Existenz in Zweifel ziehen zu wollen. „Quis enim Aethiopas ante quam cerneret credidit? aut quid non miraculo est, cum primum in notitiam venit? quam multa fieri non posse prius quam sunt facta iudicantur? naturae vero rerum vis atque maiestas in omnibus momentis fide caret, si quis modo partes eius ac non totam complectatur animo."
In dieser säkularisierten Art übernahm um die Mitte des 3. Jahrhunderts Caius Julius Solinus die Beschreibung der monströsen Völker in seine Collectanea rerum memorabilium, die im Mittelalter unter den Titeln Polyhistor oder De mirabilibus mundi bekannt waren. Solinus, dessen Hauptquellen Plinius und die De situ orbis des Pomponius Mela waren, kam es vor allem auf des Sensationelle an, das er als „fermentum cognitionis" betrachtete, und noch deutlicher als bei Plinius trat bei ihm jede Erklärung der Monster in den Hintergrund. 199 Bei Solinus, im Kern aber bereits bei Plinius, zählten nur die wundersamen Erscheinungen, eine Begründung für ihre Existenz lieferte das Spiel der mächtigen Natur, das zu verstehen das menschliche Wissen überstieg. Plinius und in seiner Nachfolge Solinus bemühten sich in ihren kompilatorischen Werken vor allem um eine möglichst vollständige Auflistung der bekannten monstra, die dem enzyklopädischen Anspruch ihrer Werke, die Welt aufzuschreiben, entsprach, während die Bedeutung der Dinge allenfalls eine untergeordnete Rolle spielte. Für das christliche Mittelalter erwiesen sich die Beschreibungen der monströsen Völker bei den antiken Autoren freilich als ein problematisches Erbe. Die Existenz monströser Völker warf nämlich in der christlichen Theologie die Frage auf, ob solche Völker von Gott geschaffen sein konnten, ob sie Menschen waren und damit von dem einen Paar abstammten, das der Ursprung aller Menschen war. 200 Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sich die mittelalterlichen Theologie eingehend mit dem Problem der monströsen Völker befaßte und wiederholt versuchte, die Bedeutung der monströsen Völker - wenn es sie denn gab - zu ergründen. Das hat keineswegs, wie bis in die jüngste Forschung häufig unterstellt, mit der behaupteten Mythengläubigkeit des Mittelalters zu tun, sondern vielmehr mit dem von den überlieferten antiken Beschreibungen aufgeworfenen Problem, daß man einerseits nicht über hinreichende Erfahrungen verfugte, um die tradierten Quellen widerlegen zu können, andererseits aber im Hinblick auf die Wohlgeordnetheit der Schöpfung Probleme hatte, die Existenz monströser, also körperlich de-
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ibid., S. 32. „Dies und ähnliches erschuf nur aus dem Menschengeschlechte die erfinderische Natur, sich zum Spiel, uns aber zum Wunder" (S. 33). ibid., S. 16. „Denn wer hat wohl an Äthiopier geglaubt, bevor er sie gesehen hat? Oder was erscheint nicht als Wunderding, wenn es erstmals zur Kenntnisgelangt? Wie vieles wird als unmöglich beurteilt, bevor es wirklich geschehen ist? Die Macht und Hoheit der Natur aber ist in allen Stücken unglaubhaft, wenn man sie nur in ihren Teilen und nicht in ihrer Gesamtheit im Geiste erfaßt" (S. 17). Vgl. Corrado Bologna, S. 196f. Vgl. hierzu eingehend: Marina Münkler/Werner Röcke, Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik der Fremde, bes. S. 730-735.
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fomierter Völker, zu akzeptieren. Im 16. Buch von De Civitate Dei diskutierte Augustinus die Frage, ob es monströse Völker gebe und ob sie von Gott geschaffen seien. „Quaeritur etiam, utrum ex filiis Noe uel potius ex ilio uno homine, unde etiam ipsi extiterunt, propagata esse credendum sit quaedam monstrosa hominum genera, quae gentium narrat historia, sicut perhibentur quidam unum habere oculum in fronte media, quibusdam plantas versas esse post crura, quibusdam utriusque sexus esse naturam et dextram mammam uirilem, sinistram muliebrem, uicibusque inter se coeundo et gignere et parere; aliis ora non esse eosque per nares tantummodo halitu uiuere, alios statura esse cubitales, quos Pygmaeos a cubito Graeci uocant, alibi quinquennes concipere feminas et octauum uitae annum non excedere. Item ferunt esse gentem, ubi singula crura in pedibus habent nec poplitem flectunt, et sunt mirabilis celeritatis; quos Sciopodas uocant, quod per aestum in terra iacentes resupini umbra se pedum protegant; quosdam sine ceruice oculos habentes in umeris (...) Quid dicam de Cynocephalis, quorum canina capita adque ipse latratus magis bestias quam homines confitetur? Sed omnia genera hominum, quae dicuntur esse, credere non est necesse. Verum quisquis uspiam nascitur homo, id est animal rationale mortale, quamlibet nostris inusitatam sensibus gerat corporis formarti seu colorem siue motum siue sonum siue qualibet ui, qualibet parte, qualibet qualitate naturam: ex ilio uno protoplasto originem ducere nullus fidelium dubitauerit."
Augustinus zog damit einerseits in Zweifel, ob die überlieferten Berichte über die Existenz monströser Völker zutreffend seien, andererseits integrierte er die monströsen Völker vom Rand der Erde in die gemeinsame Primogenitur aller Menschen. „Qualis autem ratio redditur de monstrosis aput nos hominum partubus, talis de monstrosis quibusdam gentibus reddi potest. Deus enim creator est omnium, qui ubi et quando creari quid oporteat uel oportuerit, ipse nouit, sciens uniuersitatis pulchritudinem quarum partium uel si-
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De Civitate Dei XVI, 8. „Man fragt sich auch, ob man glauben soll, daß gewisse monströse Menschenarten, von denen die Völkergeschichte berichtet, von den Söhnen Noahs oder vielmehr von dem einen Menschen, der auch ihr Urahn ist, abstammen. So soll es Leute geben, die nur ein Auge mitten auf der Stirn haben, andere, deren Füße umgekehrt stehen wie unsere; noch andere sollen doppelgeschlechtlich sein, rechts eine männliche, links eine weibliche Brust haben, im Wechselspiel sich begatten und bald erzeugen, bald gebären. Wiederum heißt es von anderen, sie hätten keinen Mund, sondern lebten vom Einatmen durch die Nase, und es gebe auch solche, die nur ellenlang seien - die Griechen nennen sie Pygmäen nach der Elle - , desgleichen solche, bei denen die Frauen schon mit fünf Jahren schwanger werden und deren Lebensdauer nur acht Jahre beträgt. Auch erzählt man von einem Volke, wo die Leute nur ein Bein an den Füßen haben und die Kniekehle nicht beugen können, aber wunderbar behende sind. Man nennt sie Skiopoden, Schattenfüßler, weil sie bei Sonnenhitze rücklings auf der Erde liegend ihre Füße als Schirm benutzen. Einigen fehlt, heißt es, der Nacken, und Augen haben sie an den Schultern. (...) Was vollends soll ich von den Kynokephalen sagen, deren Hundskopf und Hundegebell mehr tierisch als menschlich ist? Aber man muß nicht glauben, daß es alle diese Menschenarten, von denen man spricht, wirklich gibt. Doch wer irgend als Mensch, das heißt als sterbliches, vernunftbegabtes Lebewesen geboren wird, mag er an Leibesgestalt, Farbe, Bewegung oder Stimme uns noch so fremdartig vorkommen, mag er Kräfte, Teile, Eigenschaften haben, welche er will, er stammt in jedem Fall von jenem Ersterschaffenen ab; daran darf kein Gläubiger zweifeln." (ed. Thimme, Bd. 2, S. 293f.).
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militudine uel diuersitate contexat. Sed qui totum inspicere non^otest, tamquam deformitate partis offenditur, quoniam cui congruat et quo referatur ignorat."
In gewisser Weise ähnelt diese Argumentation der des Plinius, der dem Menschen gleichfalls mit dem Argument, er sehe immer nur einen Teil und könne daher das Ganze nicht begreifen, die Urteilsfähigkeit über die Existenz und den Status der monstra abgesprochen hatte. An die Stelle der Macht der Natur tritt bei Augustinus jedoch die Allmacht Gottes, die den menschlichen Verstand überschreitet und daher menschlicher Kritik entzogen ist. Anders als Plinius bezieht sich Augustinus auf einen durchkomponierten ordo, für den er die Metapher des aus zahlreichen Mustern gewebten Teppichs wählt, in dem nicht die Launen eines Schöpfers an die Stelle der Launen der Natur treten, sondern in dem der sinnvolle Plan des Schöpfers von den innerhalb dieses ordo angesiedelten Geschöpfen selbst nicht überblickt und durchschaut werden kann.203 Augustinus' Argument blieb für die gesamte enzyklopädische Literatur prägend. So beschrieb Isidor die monströsen Völker in seiner Enzyklopädie zwar unter der Überschrift „De portentis", merkte dann aber erklärend lediglich an, die monstra seien nicht „contra naturam", ohne auf ihre in der Kapitelüberschrift behauptete zukunftsweisende Bedeutung noch einmal einzugehen. Danach listete er die monstra lediglich auf und gab für jedes der monströsen Völker eine kurze Beschriebung, die sich weitgehend auf ihre ungewöhnlichen Merkmale beschränkte. Rudolf Wittkower hat unter Verweis auf diese pure Aufzählung die These vertreten, daß die Aufnahme der monstra in Isidors Werk nicht in dessen religiösem Charakter, sondern vielmehr in seinem enzyklopädischen Aufbau begründet sei. „And indeed, Isodore's reason for the discussion of monstrosities lay in the encyclopaedic plan of his work; from the book onwards the reader is lead from the Holy Trinity through the hierarchy of the Church to man himself, and here the fabulous races had to appear as inhabitants of the distant parts of the globe; after that the survey of the animal world begins."204 Tatsächlich finden sich in nahezu allen mittelalterlichen Enzyklopädien, den lateinischen etwa des Honorius Augustodinensis, Gervasius von Tilbury, Vinzenz von Beauvais und Roger Bacon, wie den volkssprachlichen des Gauthier von Metz und Brunetto Latintis die monströsen Völker in der Regel ohne weitere Erklärungen oder Erörterungen ihrer Deformiertheit aufgeführt. In dieser Sichtweise waren die monstra unveränderlich, sie waren rein phänomenologisch beschreibbar und bildeten eine Signatur des Fremden, die sich jeder weiteren Klassifikation entzog. Eine positive oder negative Signatur erhielten sie erst dann, wenn sie durch ihre räumliche Verortung an den symbolischen Besetzungen des Raumes partizipierten. „Während die Fabelvölker, die indifferent bis positiv gesehen werden, hauptsächlich im Süden 202
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De Civitate Dei, XVI, 8. „Ebenso nun wie man die bei uns vorkommenden Mißgeburten rechtfertigt, kann man auch etwaige mißgestaltete Völker rechtfertigen. Gott ist der Schöpfer aller und weiß am besten, wo und wann es angebracht ist oder war, etwas zu schaffen; er versteht sich auch darauf, bald aus gleichen bald aus verschiedenen Teilstücken das Teppichmuster des schönen Weltalls zu weben. Aber wer das Ganze nicht zu überschauen vermag, wird durch die vermeintliche Häßlichkeit eines Teilstückes beleidigt, weil er nicht erkennt, wozu es paßt und worauf es sich bezieht." (ibid., S. 294). Vgl. Marina Münkler/Werner Röcke, Der ordo-Gedanke, S. 730-733. Rudolf Wittkower, Marvels of the East, S. 169.
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eingetragen sind, trifft man im Norden auf die barbarischen Völker. Neben Gog und Magog befinden sich dort z. B. die Inseln Riphargica, deren Bewohner sich durch die Beherrschung der Kunst der Zerstörung auszeichnen, und Taracont, deren Bewohner ihre eigenen Kinder fressen. Im Gegensatz dazu ist das vom Mittelalter hochgeachtete Volk der Gymnosophisten, der Brahmanen, das sich durch Weisheit und Friedfertigkeit auszeichnet, im äußersten Osten, in unmittelbarer Nähe des Paradieses aufgeführt." 205 Monstra waren also in ihrer Besetzung, anders als Barbaren oder Heiden, vergleichsweise neutral, sie gehörten zu den mirabilia der Fremde und konnten deshalb als Signatur des mirabile relativ leicht in die Beschreibung integriert werden. Nicht zuletzt waren sie auch geeignet, um als eher positiv besetzt Gegenbilder der Tartaren fungieren zu können. Johannes de Piano Carpini berichtete an mehreren Stellen von monströsen Völkern, mit denen die Mongolen Krieg geführt und die sich ihnen aufgrund ihrer körperlichen Abweichungen als überlegen erwiesen hätten.206 Grundsätzlich skeptisch gegenüber den monstra zeigte sich allein Wilhelm von Rubruk, der seinen König wissen ließ, er habe sich ohne Erfolg nach den monströsen Völkern erkundigt: „Quesivi de monstris sive de monstruosis hominibus de quibus narrat Ysidorus et Solinus. Ipsi dicebant michi quod nunquam viderant talia, de quo multum mirarum si verum sit."
Wilhelm von Rubruk partizipierte damit an dem von Augustinus angerissenen Diskurs der Skepsis gegenüber den antiken Beschreibungen, der sich aus der Vorstellung der Primogenitur aller Menschen speiste und von daher der Festschreibung körperlicher Defizienz in der Beschreibung fremder Völker ablehnend gegenüberstand. Dagegen wurden die monströsen Völker im Hinblick auf die Mission nicht unbedingt als Problem betrachtet; hier fungierten sie vielmehr als Signatur der Grenzüberschreitung, weil der christliche Glaube allen Menschen, gleich welchen äußeren Makel sie auch haben mochten, den Weg zum Heil weisen konnte. Monstra wurden daher häufig auch auf Pfingstbildern abgebildet, um die Aussendung der Apostel zu allen Völkern unter dem Himmel zu symbolisieren. Berühmtestes Beispiel dafür ist die Darstellung der Mission in dem um 1122 entstandenen Relief im Tympanon der Kathedrale von Vezelay, das unter den Missionsvölkern Pygmäen, Panotii, Cynocephali, Sciapoden u. a. zeigte. So nimmt es denn auch nicht Wunder, daß Odorico de Pordenone in seinem Bericht Pygmäen beschrieb: „Hoc flumen per mediam terram pigmeorum, id est biduinorum transit, quorum civitas vocatur Tachara, que de maioribus et pulcrioribus civitatibus est que sint in mundo. Hii pigmei sunt magni tribus spannis, qui faciunt maiora opera gotomim, id est bombicis, quam aliqui homines qui sint in mundo. Homines autem magni qui ibi sunt, filios generant qui plus quam pro dimidietate similes illis pigmeis sunt, qui sunt ita parvi. Ideoque tot istorum parvorum ibi generantur et nascuntur, quod sine numero quasi sunt. Hii pigmei famosi sunt tam mares quam femine
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Jörg-Geerd Arentzen, Imago Mundi Cartographica, S. 190. Vgl. ed. Menestö, S. 260 und S. 272f. ed. Wyngaert, S. 269. „Ich erkundigte mich nach jenen Ungeheuern oder seltsamen Menschen, von denen Isidor und Solinus berichten. Man sagte mir, daß man niemals so etwas gesehen habe. Es wäre auch verwunderlich, wenn die Erzählung zuträfe." (ed. Risch, S. 226).
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secundum magnitudinem suam, et nubunt masculi in quinto anno. Et hii pigmei habent animam rationalem sicut nos." A u f der deskriptiven E b e n e siedelte O d o r i c o die P y g m ä e n , mit d e m H i n w e i s , daß sie in Städten lebten und B a u m w o l l e herstellten, zunächst a u f der E b e n e zivilisierter V ö l k e r an, d i e nicht unter das Kriterium barbarischer R o h h e i t fielen. S o d a n n begründete er ihre A b w e i c h u n g v o n der Maßstäblichkeit d e s Europäers mit der Feststellung, daß die dort g e b o r e n e n K i n d e r großer M e n s c h e n e b e n f a l l s sehr viel kleiner als üblich seien, und verl e g t e d i e U r s a c h e der A b w e i c h u n g damit in die Natur des L a n d e s und d e s K l i m a s , w o durch die D e f i z i e n z in den R a u m naturgegebener U n t e r s c h i e d e v e r s c h o b e n w u r d e . A l s Drittes aber, und das ist e n t s c h e i d e n d , erklärte er a u f der s o g e w o n n e n e n Grundlage, daß d i e P y g m ä e n „ s o w i e wir" e i n e vernunftbegabte S e e l e hätten und integrierte sie s o m i t in das genus humanuni. D i e P y g m ä e n w a r e n damit in der B e s c h r e i b u n g d e s M i s s i o n a r s e i n p o t e n t i e l l e s M i s s i o n s v o l k , das nur darauf harrte, d e n christlichen G l a u b e n verkündet z u b e k o m m e n . G e g e n ü b e r der rationalen S e e l e war die körperliche D e f i z i e n z l e d i g l i c h e i n e u n m a ß g e b l i c h e A b w e i c h u n g , die a u f die Z u r e c h n u n g z u m genus humanum k e i n e n Einf l u ß hatte. G a n z anders d a g e g e n hatte M a r c o P o l o betont, daß e s keine Z w e r g e n m e n s c h e n g e b e u n d daß jeder, der das G e g e n t e i l behaupte, e i n Lügner sei. „Et si vos vuoil dir et faire conoistre que celz que aportent les petit homes de Yndie est grand mensoigne e grant deceverie. Car je vos di que celz, que cil dient que sunt homes, se font en ceste ysle e vos dirai cornant. Il est voir que en ceste ysle a une mainere de singes que sunt mout pitetes et ont les vix que senblent homes. Or les homes prennent celz tiel singes; e le pellent toute et le laisent les poilz en la barbe et a[u] peterin; puis le font secher e le metent en forme e l'adobent con canfara e con autre couse en tiel maniéré qu'ele senblent que soient esté home. E ce est une grant deceverie; car il sunt fait en tel mainere com vos avés oi. Car en toute Yndie, ne en autre pars plus sauvajes, ne furent onques veu nul si peitet homes come celz senblent." 2 0 9
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ed. Wyngaert, S. 468f. „Dieser Fluß fuhrt mitten durch das Land der Pygmäen oder Biduinen; ihre Hauptstadt heißt Tachara und gehört zu den größten und ansehnlichsten der Erde. Diese Pygmäen sind nur drei Handbreit groß und sie produzieren größere Mengen gotomim (d. i. Baumwolle) als andere Leute in der Welt. Die großen Menschen, die dort leben, zeugen Söhne, die mehr als zur Hälfte den Pygmäen ähneln; sie sind daher von kleinem Wuchs. Und somit werden von diesen kleinen Leuten so viele gezeugt und geboren, daß sie gleichsam ohne Zahl sind. Männer wie Frauen sind die Pygmäen weitberühmt wegen ihrer Körpergröße; und die Jungen heiraten im fünften Lebensjahr. Sie haben eine vernunftbegabte Seele wie wir" (ed. Reichert, S. 92f.). ed. Benedetto, S. 171f. „Jetzt will ich euch über etwas aufklären. Merkt es euch: alle, die j e behauptet haben, sie brächten Zwergmenschen aus Indien, sind Lügner und Betrüger. Ich versichere euch, die sogenannten Zwerge werden auf dieser Insel hergestellt. Ihr werdet gleich hören, wie das vor sich geht. In Wahrheit lebt hier eine Rasse winziger Affen mit menschenähnlichem Gesicht. Die Einheimischen fangen solche Äffchen, scheren sie überall, nur die Brust- und Barthaare lassen sie stehen. Danach behandeln sie sie derart mit Kampfer und anderen Mitteln, daß sie zum Schluß das Aussehen von Menschen haben. Nun kennt ihr den Schwindel. Denn in ganz
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Marco Polo schloß sich damit ähnlich wie Wilhelm an den skeptischen Diskurs über die monstra an, aber er nutzte ihn in erster Linie dazu, sich selbst als wissenden Augenzeugen zu präsentieren, der seine Leser über Betrügerein aufklären konnte. Über die grundsätzliche Denkbarkeit monströser Völker war damit nichts ausgesagt, sondern lediglich jene Geschäftspraktiken verurteilt, die aus den mirabilia der Fremde Handelswaren machten und sich dazu der Unwissenheit ihrer europäischen Kunden bedienten. Marco Polo korrigierte damit keineswegs, wie von Peter Wunderli und anderen behauptet, den mythischen Glauben an monströse Völker, sondern nutzte sie lediglich, um seine eigene hervorragende Position als berichtender Augenzeuge zu unterstreichen.210 Marco Polo war aber keineswegs grundsätzlich skeptisch hinsichtlich der Existenz monströser Völker. An anderer Stelle berichtete er von Cynocephali (Hundsköpfen), behaarten Menschen mit Schwänzen und von Menschen, bei denen ein Bein ganz dick und das andere 211
ganz dünn sei. Diese wenigen Beschreibungen wurden in illustrierten Handschriften aber nicht selten von Abbildungen begleitet, auf denen monstra abgebildet wurden, die Marco Polo mit keinem Wort erwähnt hatte.212 Die Illustratoren taten damit, was auch bei Redaktoren und Schreibern gang und gäbe war: Sie ergänzten den Text an einer geeignet scheinenden Stelle und fugten hinzu, was sie als wichtige Signatur des fernen Fremden betrachteten. Vollständigkeit der Beschreibung auch im Hinblick auf die monströsen Völker konnte allein John Mandeville für sich beanspruchen. Die monstra, die er von Odorico übernommen hatte, ergänzte er um zahlreiche der monströsen Völker, die ihm aus der enzyklopädischen Literatur bestens vertraut waren, und verteilte sie entlang seiner imaginären Reiseroute über Ostasien, mit dem Schwerpunkt auf den indischen Inseln, die hinreichend Platz für eine solche Operation des Vervollständigens boten.213 Seine Beschreibung dieser Völker waren aber keineswegs mythengesättigt, wie man ihm bis in die jüngste Forschung unterstellt hat, sondern orientierte sich vielmehr an der rein seriellen Aufzählungsweise der Enzyklopädien.214 Freilich bezeichnete er im Gegensatz zu den Enzyklopädien die monstra zumeist nicht mit ihren geläufigen Namen, sondern beschrieb sie in der Regel lediglich nach ihren kennzeichnenden Merkmalen. Dieses Weglassen der Mandeville zweifellos geläufigen Namen stärkte den Eindruck des Gesehenen gegenüber dem Gelesenen; Mandeville übernahm von den Enzyklopädien zwar deren Informationen und die serielle Reihung, aber er transformierte sie in den Beschrei-
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Indien und ebenso in anderen Gegenden wurden nie solche winzigen Menschen angetroffen, wie man nach jenen Affenzwergen sich vorstellen könnte" (ed. Guignard, S. 294f.). Vgl. Peter Wunderli, Marco Polo und der Ferne Osten, S. 188f. Vgl. ed. Benedetto, S. 176 (Hundsköpfe), S. 174 (behaarte Menschen mit Schwänzen), S. 41 (Menschen mit dickem und dünnen Bein; nur in der Zelada-Version). Abbildungen von Monstern an Stellen, wo Marco Polo lediglich von wilden Völkern gesprochen hatte, finden sich beispielsweise im MS. fr. 2810 (fol. 29 v) der Pariser Bibliothèque Nationale, dem berühmten Livre des Merveilles, und im MS Bodley 264 (fol. 260 r) der Bodleian Library, Oxford. Vgl. John Block Friedman, The Monstrous Races, S. 154ff. sowie Rudolf Wittkower, Marco Polo und die Bildtradition. Vgl. ed. Letts, bes. S. 141ff. (Egerton-Text), S. 340ff. (Paris-Text). Vgl. Claude Kappler, Monstres, démons et merveilles, S. 71 f.
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bungsmodus des Augenzeugenberichts. Verschiedentlich verschob er aber auch die Akzente der Beschreibung, besonders dort, wo nicht Isidor von Sevilla oder Vinzenz von Beauvais, sondern Odorico de Pordenone seine Quelle war. So war es, wie oben gezeigt, Odorico bei der Beschreibung der Pygmäen in erster Linie um die Feststellung einer rationalen Seele gegangen, die die Pygmäen zu einem potentiellen Missionsvolk machten. Mandeville, der seine Beschreibung der Pygmäen weitgehend von Odorico übernommen hatte, nutzte sie hingegen, um die Relativität von Maßstäben im Vergleich zwischen eigen und fremd zu verdeutlichen, denn er betonte, die Pygmäen wunderten sich über die Riesenhaftigkeit der in europäischen Augen normal großen Menschen ebenso, wie diese über die Winzigkeit der Pygmäen. 215 Von einer rationalen Seele war bei ihm zwar keine Rede, aber die Wechselseitigkeit des Staunens setzte eine Gleichartigkeit der Rationalität ebenso voraus, wie sie die Relativität der Maßstäbe hervorhob. Auch hier erwies sich der von Mandeville errichtete Raum des Fremden als relationaler Korrekturpunkt der eigenen Selbstgewißheit. Die mirabilia der Fremde lösten nicht nur das Staunen über die Fremde, sondern auch das Staunen über das Eigene aus.
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Vgl. ed. Letts (Paris-Text), S. 348.
III. Reisen, Erfahrung und die Konstituierung des Subjekts
1. Zum Begriff der Erfahrung und den erkenntnistheoretischen Prämissen der bisherigen Forschung Die bisherige Untersuchung der Fernostasienberichte hat sowohl hinsichtlich der Kontaktsysteme, denen die Berichte zugeordnet werden können, als auch hinsichtlich der Diskursivierung der Fremde eine Reihe von Differenzen zwischen den Berichten und den einzelnen Strängen ihrer handschriftlichen Tradierung aufgezeigt, die in erster Linie aus ihrer interdiskursiven Funktionalisierung resultieren. Im Blick auf die handschriftliche Überlieferung der Berichte mit ihren Varianten, Kürzungen, Interpolationen, profunden Textumstellungen und -Umgestaltungen ist außerdem deutlich geworden, daß die Zuschreibung der jeweiligen Textgestalt an ein Autorbewußtsein zumindest fragwürdig ist. Dennoch kann die Funktion des Autors nicht vernachlässigt werden, weil sie sowohl für die Aussageformen des Diskurses selbst als auch für die Forschungsgeschichte von entscheidender Bedeutung gewesen ist. Mit dem Problem von Augenzeugenschaft, Autorschaft und Subjektidentität soll daher im dritten Teil ein zentrales Element des Diskurses thematisiert werden, das sowohl die Geltungsbedingungen der Reiseberichte als auch das Aussagefeld bezeichnet, dessen Formationsregeln sie unterliegen. Seit den Anfängen der Reiseliteraturforschung in der Mitte des 19. Jahrhunderts1 hat der Begriff der Erfahrung für die Untersuchung der Orientreiseberichte eine entscheidende Rolle gespielt und die Prämissen bestimmt, unter denen sie betrachtet wurden. Erfahrung wurde in der vorwiegend geographiehistorischen Forschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts in erster Linie als der Garant sachlich richtiger Informationen betrachtet und war damit zugleich das Kriterium für die Qualität der untersuchten Berichte. Im einleitenden Band zu seinem 1866 erstmals erschienenen dreibändigen Werk Cathay and the Way Thither beschrieb Colonel Sir Henry Yule,2 der wohl bedeutendste englische Geographiehistoriker des 19. Jahrhunderts, das seit der Antike über China/Cathay ange1
2
Bis zu diesem Zeitpunkt stand die Beschäftigung mit den spätmittelalterlichen Reiseberichten wesentlich in deren Tradition, d. h. sie war weniger Interpretation als Rezeption, während sie von da ab die Reiseberichte zu ihrem Untersuchungsgegenstand machte. Yules militärischer Titel verweist auf ein Phänomen, das für die Anfänge der Erforschung der Reiseberichte des Spätmittelalters einschließlich der Palästinaberichte grundsätzlich gilt: daß sie sich nämlich in engem Zusammenhang mit der europäischen Kolonialgeschichte des 19. Jahrhunderts formiert hat.
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sammelte Wissen der Europäer und hob bei der Darstellung der seit der Mitte des 13. Jahrhunderts verfaßten Reiseberichte stets den Aspekt der Beobachtungsgabe der Reisenden hervor. So bemerkte er über Rubruk, „that the author had a great deal of sagacity and observation" 3 , und vermerkte zu den einzelnen Autoren in der Regel, ob ihr Wissen aus eigener Anschauung stamme oder bloß von Dritten übernommen worden sei. Die Ehre des hervorragendsten Beobachters wurde dabei Marco Polo zuteil: „Indeed, all other travellers to that region are but stars of a low magnitude beside the full orb of MARCO POLO. There was a time when he fell into discredit; but that is long past, and his veracity and justness of observation still shine brighter under every recovery of lost or forgotten knowledge." 4 Die hier zugrundeliegende Prämisse, Beobachtung führe zu korrektem und nachprüfbarem Wissen, bestimmte lange Zeit die Kriterien der geographiegeschichtlichen Forschung und führte zu dem Umkehrschluß, was an den Berichten nicht nachprüfbar oder unkorrekt sei, könne nicht auf eigener Beobachtung beruhen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Yule als einer der ersten Wissenschaftler den Verdacht äußerte, Mandeville sei überhaupt nicht in Ostasien gewesen, sondern habe das, was er über Ostasien wisse, von Odorico gestohlen, wie man bei genauerer Betrachtung des Textes leicht erkennen könne: „Naturally Mandeville has often misunderstood what he appropriates, and that in a way which shows, that he never travelled in the countries spoken of; of this many instances might be given if it were worth while. He is crafty enough now and then to suggest the probability of his having travelled in company with Odoric, and having thus shared his experiences." 5 Nach Yules Auffassung mußten aus mangelnder Erfahrung zwangsläufig „Mißverständnisse" entstehen, weswegen „Mißverständnisse" mit fehlender Erfahrung erklärt werden konnten. Um Yules These zu untermauern, untersuchte der deutsche Literaturhistoriker Albert Bovenschen in einer umfangreichen Arbeit, worauf die vielen Mißverständnisse beruhten. Er deckte Mandevilles Quellen weitgehend auf und kam darüber zu dem vernichtenden Schluß: „Er hat in der That nie einen Fuß in die von ihm beschriebenen Länder gesetzt, sondern einfach die Werke ihm vorauf gegangener Reiseschriftsteller durch verbindende Sätze zusammengefügt, indem er dabei jedoch in so plumper Weise verfuhr, daß man ihm das Beiwort eines groben litterarischen Fälschers nicht ersparen kann." 6 Nur für Mandevilles Darstellung von Ägypten und die Verhältnisse am Hof des Sultans konnte Bovenschen keine Quelle finden und schloß daraus, dieser Abschnitt müsse wohl auf Mandevilles eigene Erfahrung zurückgehen: „Die nun folgenden Nachrichten [über den Hof des Sultans, MM], für die ich eine Quelle nicht angeben kann, sind sehr bemerkenswert, da sie in der Tat den Eindruck eigener Erlebnisse und Anschauungen machen und den Stempel inne-
3 4
Henry Yule, Cathay and the Way Thither, Bd. I: Preliminary Essay, S. 158. ibid., S. 165.
5
ibid., Bd. II: Odoric of Pordenone, S. 34. In einer Fußnote auf derselben Seite merkt Yule darüberhinaus an: „It might even prove on examination that his minute account of the Holy Land, the best part of his book, is stolen likewise." Vgl. auch Yules Ausfuhrungen in seiner Marco Polo-Ausgabe, The Book of Ser Marco Polo, Bd. II, S. 5 9 8 - 6 0 5 .
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Albert Bovenschen, Untersuchungen über Johann von Mandeville, S. 200.
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rer Wahrheit tragen."7 Diese Art der Schlußfolgerung ist in ihrem zirkulären Charakter wo keine Quelle angegeben werden kann, muß eigene Erfahrung vorliegen, und wo eigene Erfahrung vorliegt, trägt der Text „den Stempel innerer Wahrheit" - bezeichnend für ein Deutungsschema, das Erfahrung i. S. der Beobachtung der äußeren Welt mit Wahrheitsfahigkeit gleichsetzt. Daß Erfahrung zu korrekter Darstellung führe, war für Bovenschen wie für Yule eine unhinterfragbare Prämisse, die die Frage nach den Konstitutionsbedingungen von Erfahrung überflüssig machte. Wo „Fabelhaftes" und „Unglaubliches" in den Beschreibungen wirklicher Reisender auftauchte, führte Bovenschen dies entweder auf die auch ihm selbst unglaublich erscheinende Wirklichkeit primitiver Völker zurück, die aber doch von neueren Forschern bestätigt würde, oder aber auf die „sinnverwirrenden Verlockungen einer stark erregten Phantasie" des Reisenden, die der Erfindung den Weg ebne.8 Das Nebeneinander von res factae und res fictae erschien Bovenschen hingegen als ein relativ einfach zu lösendes Problem: „Es wird jedoch für den nur einigermaßen mit kritischer Beobachtungsgabe ausgerüsteten Forscher auch hier ein Leichtes sein, die rechte Grenze zu ziehen und die beiden Kategorien der erfundenen und der erlebten Geschichten gehörig auseinanderzuhalten."9 Die scheinbar unproblematische Trennung in res factae und res fictae, bei der das faktisch Richtige oder zumindest Wahrscheinliche der Erfahrung, das Falsche oder Unwahrscheinliche der Erfindung zugeschlagen wurde, die für das Interpretationsparadigma bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts bestimmend war,10 wurde mit der Entstehung eines stärker literaturwissenschaftlichen Interesses an den Reiseberichten seit Anfang
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ibid., S. 226. Die Tatsache, daß Bovenschen gerade die folgende Stelle als Beleg für den „Stempel innerer Wahrheit" betrachtet und wie er sie paraphrasiert, ist ein schönes Beispiel für jenen Diskurs, den Edward Said als „Orientalism" bezeichnet hat: „Mandeville erzählt nämlich hier von den vier Frauen des Sultans, von denen eine eine Christin ist, und die alle in verschiedenen Städten untergebracht sind. Außerdem aber wählt der Sultan sich seine Nebenweiber aus den Jungfrauen des Landes, indem er sämtliche an seinen Hof kommen läßt und die schönsten unter ihnen für sich zurückbehält. Derjenigen, welcher er für gewisse Augenblicke seine besondere Gunst zuwenden will, übergiebt er als Zeichen dafür einen Ring. Die Betreffende wird dann gebadet, in kostbare Gewänder gehüllt und ihm zugeführt. Es ist Vorschrift, vor dem Sultan in den prächtigsten Kleidern zu erscheinen; wenn man seiner ansichtig wird, fällt man auf die Knie nieder und küßt die Erde. Wenn Fremdlinge bei ihm eine Audienz haben, steht hinter denselben eine Schaar Bewaffneter, um denjenigen, der etwas Unziemliches, Beleidigendes wagt, sofort niederzuhauen. Die ganze Partie, die Mandevilles selbständiges Eigentum ist, macht einen so großen Eindruck von Wahrhaftigkeit, daß ich dieselbe als Beweis dafür, daß Mandeville sich längere Zeit in Ägypten am Hofe des Sultans aufgehalten haben muß, in Anspruch nehme" (S. 227). Tatsächlich stammt die Passage über die Ehefrauen des Sultans und seinen Harem aus Wilhelms von Tripolis Traktat De statu saracenorum (vgl. Christiane Deluz, Le Livre de Jehan de Mandeville, S. 435). Die Beschreibung der Gepflogenheiten von Audienzen beim Sultan, für die auch Deluz in Erwägung zieht, sie könnten eigener Beobachtung entstammen („Décrites comme témoin occulaire?"), weil auch sie ihre Herkunft nicht anzugeben vermag, könnten ebenso auf eine andere Quelle zurückgehen. Vgl. Albert Bovenschen, Untersuchungen über Johann von Mandeville, S. 291. ibid., S. 291. Vgl. etwa auch Richard Hennig, Terrae incognitae, Bde. 2 und 3, passim.
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d e s 2 0 . Jahrhunderts einer partiellen R e v i s i o n unterzogen. D i e e n t s c h e i d e n d e Frage w a r n u n nicht mehr, w i e v i e l R i c h t i g e s die Reiseberichte über O s t a s i e n mitgeteilt hatten, s o n dern in w e l c h e m M a ß e sich überhaupt in d e n Berichten Erfahrung dokumentierte, als Erfahrung der äußeren W e l t w i e als Selbsterfahrung d e s betrachtenden Subjekts. M i t der U n t e r s u c h u n g Martin S o m m e r f e l d s rückte bereits z u e i n e m frühen Zeitpunkt das historisch-literaturwissenschaftliche Interesse an einer G e s c h i c h t e der Gattung unter d e m A s p e k t der W i r k l i c h k e i t s w a h r n e h m u n g in d e n Mittelpunkt d e s F o r s c h u n g s i n t e r e s s e s . 1 1 Stärker n o c h als an anderen Textsorten s c h i e n sich hier der - v o n Jacob Burckhardt z u nächst als A b g r e n z u n g g e g e n ü b e r d e m Mittelalter für die R e n a i s s a n c e postulierte - Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n „der E n t d e c k u n g der W e l t und des M e n s c h e n " b e l e g e n und a u f das Spätmittelalter i m S i n n e v o n Vorläuferschaft oder einer sich a n b a h n e n d e n E n t w i c k l u n g a u s d e h n e n z u lassen. 1 2 B e i d e B e z u g s p u n k t e der berühmten Formel, W e l t und M e n s c h , w u r d e n w i e in e i n e m B r e n n g l a s im B e g r i f f der Erfahrung i. S. der Perzeption der A u ß e n w e l t w i e der S e l b s t w a h r n e h m u n g des betrachtenden Subjekts gebündelt. U n ter e x p l i z i t e m B e z u g a u f Burckhardt behauptete S o m m e r f e l d e i n e n inneren B e z u g z w i s c h e n A u t o b i o g r a p h i e und Reiseliteratur 1 3 s o w i e eine z u n e h m e n d e T e n d e n z zur Wahrn e h m u n g der äußeren Wirklichkeit, die zur Säkularisierung und i m m e r stärker w e r d e n d e n E p i s i e r u n g der Inhalte geführt habe. 1 4 11 12 13
14
Vgl. Martin Sommerfeld, Die Reisebeschreibungen der deutschen Jerusalem-Pilger, bes. S. 816ff. Vgl. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart 1 0 1976, S. 261f. Vgl. Martin Sommerfeld, Die Reisebeschreibungen der deutschen Jerusalem-Pilger, S. 827-838. Auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Autobiographie und Reisebericht hat in jüngerer Zeit auch Horst Wenzel hingewiesen und die - ebenfalls von Jakob Burckhardt nicht unbeeinflußte - These vertreten: „Beide Textformen sind notwendig miteinander verbunden, sie zeigen in all ihrer Gegensätzlichkeit die korrespondierenden Aspekte desselben Vorgangs: hier dominiert die Aneignung des eigenen gesellschaftlichen Seins, dort die Wahrnehmung der fremden Welt, - jeweils dargestellt durch einen Autor, der sich im Akt des Schreibens als vergesellschaftetes Ich manifestiert." (Reisebeschreibung und Selbsterfahrung, S. 249) Dagegen hat Wolfgang Neuber eingewandt, „eine historische Differenzierung (...) ist aufgrund des Marktes durchaus möglich. Denn der Reisebericht ist von der Antike über das Mittelalter in die Neuzeit hinein eine eigene Gattung, die nach eigenen Erwartungen produziert und rezipiert wird. Für das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit wenigstens läßt sich Gleiches von Tagebuch und Autobiographie nicht sagen: Im Gegensatz zum Reisebericht, der von vorneherein auf die Information Fremder abstellt, sind beide Gattungen entweder praktisch nicht vorhanden (Tagebuch) oder nicht zur öffentlichen Kommunikation bestimmt (Autobiographie)" (Zur Gattungspoetik des Reiseberichts, S. 65, Fn. 20). Für die Interpretation der Pilgerberichte blieb Sommerfelds These prägend, wie die jüngeren Arbeiten von Ludwig Schmugge, Christiane Hippler und Ursula Ganz-Blättler belegen, die übereinstimmend eine zunehmende Verweltlichung der Pilgerreisen und damit zugleich der Pilgerberichte behauptet haben. Vgl. Ludwig Schmugge, Kollektive und individuelle Motivstrukturen, insbes. S. 278f. sowie S. 281f.; vgl. auch ders., Die Pilger, in: Unterwegssein im Spätmittelalter, S. 17-47. Christiane Hippler, die mit ihrer Untersuchung Sommerfelds These stützen will, geht davon aus, daß sich vom 8. bis zum 13. Jahrhundert die Strukturschemata der Pilgerberichte ausgebildet haben, die sich erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts wandeln, als nicht mehr die heiligen Stätten in Palästina im Mittelpunkt des Berichts stehen, „sondern die Reise und die Reisesta-
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Der Terminus „Erfahrung" rückte damit unter anderen Vorzeichen in den Mittelpunkt der Forschung und bestimmte die an die Texte herangetragenen Fragen: Wie verarbeiteten die spätmittelalterlichen Reisenden ihre Erfahrungen? Wie versuchten sie zu verstehen, was sie wahrgenommen hatten? In welchem Maße präformierte ihr Vorwissen ihre Wahrnehmung? Versuchten sie ihr Vorwissen und ihre Wahrnehmungen zur Deckung zu bringen oder widersprachen sie explizit dem tradierten Wissen? Welcher Glauben wurde ihnen geschenkt, wenn sie von Erfahrungen berichteten, die im Gegensatz zum tradierten Wissen über den Osten standen? Der in diesen Fragen bereits angedeutete Gegensatz von „Erfahrung" und „tradiertem Wissen" wurde damit zum grundlegenden Deutungsinstrument für die Reiseberichte und löste den von der älteren Forschung behaupteten Gegensatz von „realistischen" gegenüber „fabulösen/phantastischen" Reiseberichten bzw. Elementen innerhalb der Reiseberichte ab.15 Damit ergab sich eine andere Relationierung von res factae und res fictae, in der nicht mehr die Erfindung, i. S. einer unzulässigen oder spielerischen Einbildungskraft,16 sondern die literarische Tradition, i. S. des schriftlich überlieferten Wissens, den Platz der res fictae besetzte.17 Die Unterscheidung zwischen res factae und res fictae i. S. der Unterscheidung von Realität und Irrealität, von wahr und falsch, von Wahrheit und Dichtung blieb im Hintergrund freilich weiter bestehen, wie sich nicht zuletzt in der fortdauernden Verwendung von Adjektiven wie „literarisch" und „mythisch" einerseits sowie „rational", „sachorientiert" und „nüchtern" andererseits zeigte. Insbesondere unter dem Begriff des „Mythischen" werden in der Forschung in aller Regel sehr unpräzise und unter gänzlicher Ausblendung dessen, was in der Mythenforschung zum Begriff des
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tionen, die Tatsache, das Mittelmeer überquert und die heiligen Stätten mit eigenen Augen gesehen zu haben" (Die Reise nach Jerusalem, S. 138f.). Das Hervortreten „weltlicher Beweggründe" zeichnet auch nach Ursula Ganz-Blättler (Andacht und Abenteuer. Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger 1320-1529) die Pilgerliteratur des 14.-16. Jahrhunderts aus; sie sieht darin jedoch - anders als Schmugge - eher ein „im Wandel begriffenes Selbstverständnis spätmittelalterlicher Literatur" als eine „sich wandelnde 'Reisemoral' der Pilger" (S. 333). Michel de Certeau hat die Interdependenz der Faktoren Tradition, Augenzeugenschaft und allgemeine Meinung als die grundlegenden Argumentationskriterien für die Beschreibung des Fremden dargestellt (vgl. Heterologies: Discourse on the Other, S. 71). Der Problemkomplex von Fiktion und Wirklichkeit, Erfahrung und Erfindung, Wahrheit und Lüge kann hier nur angedeutet werden. Vgl. hierzu u. a. Hans Robert Jauss, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 2 1984 (insbesondere S. 2 9 4 f f : Zur Genese der Unterscheidung von Fiktion und Realität); Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Nachahmung und Illusion, hg. von Hans Robert Jauss, München 1969 (= Poetik und Hermeneutik 1); Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Vgl. auch, mit besonderem Bezug auf spätmittelalterliche Reiseromane, Werner Röcke, Die Wahrheit der Wunder sowie ders., Wunder der Fremde und der Traum vom Reisen. Eine der jüngeren Darstellungen, die nach wie vor tradiertes Wissen mit Fiktionalität eng verknüpft, ist Peter Johaneks Aufsatz „Weltbild und Literatur", in dem er eine enge Verknüpfung zwischen höfischer Epik und Geographie aufzuzeigen versucht und daraus den Schluß zieht, die Verknüpfung der fiktiven Geographie der höfischen Epik mit der gelehrten Geographie mache „die Stärke dieser Traditionsbestände des Wissens aus, die sie einer Auflösung durch neu gewonnene Erfahrung widerstehen ließ" (S. 105).
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Mythos erarbeitet worden ist, als „sachlich unrichtig" klassifizierte Elemente verstanden. 18 So definiert etwa Reinhold Jandesek „als mythisch solche Erzähleinheiten", „die die Reisenden als gegenwärtig und existent schildern, die sich im nachhinein aber als nicht verifizierbar oder als erklärbar erwiesen haben". 19 Selbst Johannes Fried betonte, bei der Beschreibung der Tartaren habe immer wieder die Erfahrung den Mythos bestätigt; „die sinnlich erfahrbare Welt trifft in den Empiristen des 13. Jahrhunderts selbst auf mythisches Denken, das nicht einfach durch irgendwelche 'Erfahrungen' abzutragen ist". 20 Der Bezugspunkt des Gegensatzpaares factae und fictae waren dabei immer die res, die beschriebenen Gegenstände der fremden Welt des Ostens also, von denen man festzustellen versuchte, ob sie auf der Erfahrung des beschreibenden Subjekts oder auf der dem Subjekt vorgelagerten literarischen Tradition beruhten. Auf das beschreibende Subjekt selbst wurden die Oppositionsbegriffe dagegen nicht angewandt, seine Faktizität wurde als nicht weiter befragungsbedürftige Prämisse angenommen. Eine Ausnahme bildete lediglich Mandeville, den man als Person urkundlich nicht dingfest machen konnte und dessen 'nur literarische' Reise überdies mit den Mitteln der Quellenkritik nachgewiesen worden war. 21 Die mit der Wende zur Mentalitätsgeschichtsschreibung seit Anfang der achtziger Jahre auch für die Reiseliteraturforschung feststellbare Hinwendung zu den durch ein gesellschaftliches Weltbild und die Mentalität sozialer Gruppen begründeten Wahrnehmungsvoraussetzungen hat diesen Dualismus keineswegs relativiert, sondern eher verschärft. 22 Daß die Wahrnehmung anderer Kulturen grundsätzlich mentalitätsgeschichtliche Voraussetzungen habe und Reiseberichte daher als „Zeugnisse für die spezifische Denkungsart des Verfassers und indirekt für die Mentalität seines Heimatlandes" aussa18
Hans Blumenberg hat dagegen die Funktion des Mythos in der Depotenzierung der Wirklichkeit gesehen, dem sich seine Forterzählbarkeit verdanke. Vgl. ders., Arbeit am Mythos, S. 32 sowie S. 185. Zu dem seit der Aufklärung dominierenden Bemühen, den „Mythos" zu einem „asymmetrischen Gegenbegriff' zurechtzubiegen, hat Blumenberg geäußert: „Es ist dem Verständnis des Mythos oder dem, was noch Mythologie genannt werden kann, nicht gut bekommen, in diese Antithesen von Aufklärung und Romantik, von Realismus und Fiktion, von Glauben und Unglauben eingespannt zu werden" (Arbeit am Mythos, S. 69).
19 20 21
Reinhold Jandesek, Das fremde China, S. 169. Johannes Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit, S. 325. Die Suche nach dem Autor hat die Mandeville-Forschung lange beherrscht, ohne daß man zu einem einhelligen Ergebnis gekommen wäre. Vgl. die Zusammenfassung der Forschung bei Christiane Deluz, Le Livre de Jehan de Mandeville, S. 3 - 2 5 .
22
Die Termini „Weltbild" und „Mentalität" sind ihrer Verwendung freilich keineswegs einheitlich, sondern werden zur Bezeichnung äußerst widersprüchlicher Konzepte verwendet. Wird der Weltbildbegriff einerseits teilweise auf ganze Epochen angewandt, etwa wenn vom „Weltbild des mittelalterlichen Menschen" die Rede ist, so kann er andererseits aber auch stark differenziert verwendet und pluralisiert werden. In der Historiographie werden beide Konzepte freilich häufig angewandt, ohne daß die notwendige Differenzierung zwischen den „kulturellen Deutungssystemen" (Habermas) und den Schreibsystemen ins Blickfeld tritt. Vgl. hierzu Werner Röcke, Literaturgeschichte - Mentalitätsgeschichte, S. 646, sowie ders., 'New Historicism': Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik, bes. S. 217f.
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gekräftiger seien als für die beschriebene Kultur, relativierte zwar prinzipiell den Anspruch, Reiseberichte an der Faktizität ihrer Darstellung zu messen, rückte andererseits aber noch stärker die Frage in den Vordergrund, ob die jeweilige Mentalität die Aufnahme von Erfahrung ermöglichte oder nicht.23 Da man überdies das Festhalten an der Überlieferung und die Berufung auf Autoritäten als eines der grundlegenden Kennzeichen der Mentalität des mittelalterlichen Menschen ansah, blieb der Dualismus von tradiertem Wissen und Erfahrung für die Interpretation mittelalterlicher Reiseberichte weiterhin prägend, wenn er auch nicht mehr prinzipiell wertend angewendet wurde.24 So grenzte Wolfgang Neuber, obwohl er für seine eigene Interpretation frühneuzeitlicher Amerika-Berichte den Maßstab der „argumentativen Beglaubigung des Berichteten" anlegte und vor diesem Hintergrund die Kategorien fiktiv versus realitätskonform als obsolet bezeichnete, den mittelalterlichen dadurch vom neuzeitlichen Reisebericht ab, daß Erfahrung in ihm nur eine untergeordnete Rolle spiele. „Nicht der Gewinn neuer empirischer Kenntnisse ist das Ziel des Reiseberichts, da alles zu Wissende durch die Antike, vornehmlich die Bibel, bereits festgestellt ist."25 Diese Behauptung, die vorwiegend von der Unkenntnis der Gesandtenberichte und ihrer Funktion innerhalb eines ganz auf die Beschaffung neuen Wissens ausgerichteten Kontaktsystems zeugt, wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn sie nicht beispielhaft dafür wäre, daß der mittelalterliche Reisebericht häufig lediglich als die Negativfolie für den neuzeitlichen Reisebericht erscheint. Das erfahrungsfeindliche Mittelalter mit seinem „allegoretischen Realitätsbegriff' bildet in dieser Argumentation den Abgrenzungsraum für die Neuzeit, die als solche eben nur ausgewiesen werden kann, wenn vieles an ihr „neu" ist.26 Grundsätzlich ergaben sich unter dieser Prämisse zwei Interpretationslinien: Ein Teil der Forschung ging davon aus, daß auch die Reisenden „dem Erkenntnis- und Wissenschaftssystem ihrer Zeit, wozu auch die Akzeptanz der Mythen zählt, verhaftet" 27 gewesen seien und deshalb „immer wieder der Suggestion dessen [erlagen], worüber sie als festen Wissensbestand zu verfügen meinten".28 Als Augenzeugen hätten die Reisenden dann zwar zwangsläufig Erfahrungen gemacht, die diesen Kenntnissen widersprachen, 23
Vgl. Michael Harbsmeier, Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen, S. 1. In einer jüngeren Untersuchung (Wilde Völkerkunde, S. 66) merkt Harbsmeier an, daß Sommerfeld als einer der ersten auf die „mentalitätsgeschichtlichen Möglichkeiten" aufmerksam gemacht habe.
24 25
Vgl. etwa Jacques Le Goff, Phantasie und Realität des Mittelalters, S. 239. Wolfgang Neuber, Zur Gattungspoetik des Reiseberichts, S. 56. Vgl. auch ders., Fremde Welt im europäischen Horizont, S. 35f. Vgl. Wolfgang Neuber, Fremde Welt im europäischen Horizont, S. 28f. Neuber unterschreitet mit dieser Grenzziehung bei weitem sein eigenes Niveau einer topologisch orientierten Untersuchung argumentativer Erfahrungskonstitution, weil er die topischen Beschreibungs- und Beglaubigungsmuster auf die Neue Welt einschränkt, deren Beschreibung aufgrund der fehlenden Tradition besonderer topischer Beglaubigungsverfahren bedurft habe. Bei einer nicht nur auf der Sekundärliteratur beruhenden Kenntnis der spätmittelalterlichen Fernostasienreiseberichte müßten ihm zweifellos die Überschneidungen der topischen Beglaubigungsverfahren ins Auge fallen.
26
27
Reinhold Jandesek, Das fremde China, S. 170. Mit „Mythen" sind hier die homini gemeint. Siehe auch S. 366f.
28
Peter Johanek, Weltbild und Literaur, S. 98.
monstruosi
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ihre Skepsis habe sich aber dennoch „nicht gegen das Denkmodell, sondern einzelne Punkte" 2 9 gerichtet, die ihren Beobachtungen zuwiderliefen, und „selbst dem Gelehrten [Wilhelm von Rubruk] lenkte die Geographie des Phantastischen den Blick beim Einordnen des bislang Unbekannten in die eigene Erfahrungswelt". 30 Auch Friedrich Wolfzettel konstatierte eine „Gleichzeitigkeit historisch ungleichzeitiger Geisteshaltungen" und bezeichnete es als „mentalitätsgeschichtlich gesehen" verwirrend, wie „die 'Suche nach der Wirklichkeit' im Zeichen aristotelischer Rationalität mit älteren mythischen Vorstellungen Hand in Hand ging". 31 Der Rekurs auf die Tradition hatte hier die Funktion, die Widersprüche zu integrieren: „Eine vorurteilsfreie Sicht der Wirklichkeit wurde ja nicht allein durch die akute Bedrohung der westlichen Welt erschwert. Sie stand auch unter dem Druck zählebiger tradierter Denkmuster". 32 Das komplexe Wechselspiel zwischen einem angenommenen Vorverständnis und den Möglichkeiten der Erfahrung ist dabei, trotz der grundsätzlich hermeneutischen Orientierung der Forschung, zumeist nur als Einschränkung der Erfahrungsmöglichkeiten begriffen worden, während die mögliche produktive Kraft des Vorurteils, wie Gadamer sie in seiner Hermeneutik entwickelt hat, kaum in Erwägung gezogen worden ist.33 Gerade bei den frühen Gesandtschaftsberichten ist diese produktive Kraft des Vorurteils aber augenfällig: Welchen Realitätsstatus man den Endzeiterwartungen des 13. Jahrhunderts auch immer zubilligt, so war das anfängliche „Mißverstehen" der Mongolen als apokalyptisches Volk jedenfalls eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Beschreibung ihrer Kultur. Die Frage, ob sie die Vorboten des Weltendes seien, mochte irreführend sein und im Sinne von Blumenbergs Mythenbegriff auf mythologisch-narrativen Welterklärungsschemata beruhen, aber dieses wie auch immer falsche Weltverständnis war die Voraussetzung für die Intensität wie Extensität der Beschreibung, die mit paradigmatischen Zuschreibungen Klarheit schaffen sollte. Daß andererseits mit der Erkenntnis, daß die Mongolen nicht die Vorboten des Weltendes und nicht mit den Völkern Gog und Magog identisch seien, keineswegs das Ende eschatologischer Vorstellungen einherging, bedarf nicht des Rekurses auf eine „unüberwindliche" Tradition: Durch die Feststellung, daß es sich bei einem Volk, das zunächst verschiedene Anzeichen dafür geboten hatte, eines der apokalyptischen Völker zu sein, letztlich doch nicht um eines dieser Völker handelte, wird die Vorstellung selbst überhaupt nicht tangiert. Mythologisch-narrative
29
Reinhold Jandesek, Das fremde China, S. 171. Jandesek sieht daher keinen grundlegenden Unterschied zwischen den spätmittelalterlichen und den frühneuzeitlichen Chinaberichten: „Denn die Analyse der Chinabeschreibungen belegt eindeutig, daß Autoren beider Zeitstellungen sowohl kritisch als auch unkritisch mit den jeweiligen tradierten Wissenskonzepten umgehen. Wesentlich aber ist nicht, auf welches Wissenskonzept die Autoren im Einzelnen zurückgreifen, sondern in welcher Weise sie ihre eigenen Erfahrungen, die ja in Widerspruch dazu stehen können und teilweise müssen, darauf beziehen" (S. 383).
30 31 32 33
Peter Johanek, Weltbild und Literatur, S. 98f. Friedrich Wolfzettel, Die Suche nach Cathay, S. 51. ibid. 4 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1975, S. 418.
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Welterklärungsmuster sind empirisch nicht widerlegbar, sie können nur ihre Funktion verlieren.34 Ein anderer Teil der Forschung ging dagegen davon aus, daß bereits die Betonung der Augenzeugenschaft und die Widerlegung einzelner Elemente des tradierten Wissens als grundlegender Widerspruch gegen die mittelalterliche Traditionsgebundenheit des Wissens anzusehen seien, weswegen man den Berichten der Reisenden häufig keinen Glauben geschenkt habe. Ulrich Knefelkamp etwa hat die angeblich mangelnde Glaubhaftigkeit der Fernostasienreiseberichte daran festgemacht, daß sie die Aufnahmefähigkeit des Publikums überforderten: „Besonders deshalb, weil sie über alle bisher dagewesenen Horizonte hinausgingen. Sie beruhten also nicht mehr vorrangig auf antiken und mittelalterlichen Enzyklopädien, sondern vermittelten die empirischen Kenntnisse fremder Wirklichkeit nach Europa. Daher gerieten sie in Gefahr, vom Publikum abgelehnt zu werden, die Kommunikation zwischen Autor und Leser war gestört, wenn der Autor nicht die vertrauten Elemente lieferte."35 Die einzige Möglichkeit, die jenen Autoren geblieben sei, die sich auf eigene und völlig neue Beobachtungen stützten, ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen, habe darin bestanden, ihre Erfahrungen mit dem traditionellen Weltbild zur Deckung zu bringen oder zumindest neben ihren eigenen Beobachtungen auch Dinge mitzuteilen, die den durch dieses Weltbild geprägten Erwartungen entsprachen. Wer dies nicht hinreichend oder nicht überzeugend genug vermocht habe, sei der Lüge geziehen worden. Insbesondere Marco Polo diente hierbei immer wieder als Musterbeispiel des verleugneten Realisten, dessen Wahrhaftigkeit und Flexibilität ihm den Vorwurf der Lügenhaftigkeit eingetragen habe. So schreibt Harry Kühnel: „Marco Polo hat den geographischen Horizont der Epoche entscheidend erweitert, doch entsprach sein Reisebericht nicht dem Denkmuster seiner Leser und nicht der an Vorstellungen der Tradition, Erziehung und Weltordnung orientierten christlichen Gesellschaft, so daß viele seiner Zeitgenossen ihn als Lügner und Betrüger betrachteten."36 Beide Stränge der Forschung gingen also von einer Übermacht der Tradition aus, mit der die Erfahrung notwendig kollidieren mußte - ob sie nun auch den Reisenden selbst beherrschte oder aber seine Glaubhaftigkeit einschränkte. Damit stellte sich die Frage, worin die grundlegenden Elemente dieser Tradition zu sehen seien. Einen Versuch, diese grundlegenden Elemente terminologisch zu verdichten, unternahm Friederike Hassauer in ihrer Darstellung volkssprachlicher Reiseliteratur des Spätmittelalters, die sich jedoch lediglich auf zwei Texte, Jean de Joinvilles Histoire de Saint Louis und Marco Polos Divisament Dou Monde stützte. In einem erneuten „linguistic turn" ersetzte sie den Begriff des tradierten Wissens, der vormals an die Stelle der Fiktion getreten war, durch den Begriff des Toposwissens und stellte ihn dem Beobachtungswissen gegenüber. Die34
Johannes Fried hat zwischen diesen beiden Positionen in gewisser Weise zu vermitteln versucht, indem er einerseits betonte, daß der Augenschein als Wirklichkeitskriterium sich in der scholastischen Erfahrungswissenschaft des 13. Jahrhunderts noch nicht hinreichend durchgesetzt habe, andererseits aber die Zählebigkeit von Mythen als anthropologische Konstante behauptet und so hinsichtlich der Beurteilung mittelalterlicher „Wirklichkeitsfähigkeit" zu entschärfen versuchte. Vgl. Johannes Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit, S. 325ff.
35 36
Ulrich Knefelkamp, Der Reiz des Fremden, S. 297. Harry Kühnel, Das Fremde und das Eigene: Mittelalter, S. 422.
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ser „linguistic turn" erwies sich als sehr erfolgreich; insbesondere in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen wird das Begriffspaar sehr häufig verwendet. 3 7 Als „Toposwissen" definiert Hassauer „schriftlich überliefertes »geographisches« Wissen, vor allem aus der Antike und der Bibel, dessen Glaubhaftigkeit sich der Autorität der Tradition verdankt". 3 8 Gegen dieses Begriffspaar sprechen m. E. jedoch mehrere Argumente: Mit der Gleichsetzung von „Topos" und „Tradition" verkürzt Hassauer einerseits den Toposbegriff auf den der überlieferten Wendung, des Gemeinplatzes, während sie ihn andererseits auf alles Überlieferte ausdehnt. Zentral für den Topos ist aber nicht seine Traditionalität, sondern seine argumentative Funktion, die ihr Spannungsfeld, wie Bornscheuer gezeigt hat, zwischen der Habitualität, der Potentialität, der Intentionalität und der Symbolizität des Topos entfaltet. 39 Er läßt sich daher auch nicht quasiontologisch als Wissensbestand fassen, sondern zeichnet sich im Gegenteil dadurch aus, daß er als argumentatives Element der Vermittlung unterschiedlichster Wissensformen dienen kann. Noch weniger als sich der Begriff des tradierten Wissens in den des Toposwissens umformulieren läßt, kann er aber einem Beobachtungswissen gegenübergestellt werden. Zum einen unterliegt Beobachtungswissen allemal auch den Geltungsbedingungen des Diskurses, zum anderen bedarf gerade Erfahrung, um sich als Erfahrungswissen konstituieren und behaupten zu können, einer argumentativen Vermittlung, die nicht zuletzt im Bereich einer inventionellen Topik aufzusuchen wäre. 4 0 Die Behauptung heterogener Wissensbestände, unterschlägt aber gerade das, was sie zu erklären vorgibt, nämlich die Konstitutions- und Geltungsbedingungen von Erfahrung, und löst sie lediglich in die Erfahrungsmöglichkeiten unterschiedlicher Trägerschichten auf, die in unterschiedlichen Kontaktsystemen Alteritätserfahrung sammelten. Diese Sichtweise priviligiert aufgrund der ihr eigenen Perspektive - oder besser gesagt: aufgrund des sie steuernden Diskurses - die wegen ihres behaupteten säkularen und zweckrationalen Weltbildes als Hort der Fortschrittlichkeit geltenden Kaufleute, als deren Exponent Marco Polo fungiert. 4 1 Gemäß der darauf gestützten Interpretation habe sich im traditionsorientierten Weltbild des Mittelalters das neue Beobachtungs- oder Erfahrungswissen nur langsam und gegen erhebliche Widerstände durchsetzen können, wes-
37
Vgl. Klaus Ridder, Jean de Mandevilles »Reisen«, S. 9f. u. pass.; Peter Wunderli, Marco Polo und der ferne Osten, S. 187ff., sowie Harry Kühnel, Das Fremde und das Eigene: Mittelalter, S. 421.
38
Friederike Hassauer, Volkssprachliche Reiseliteratur, S. 269. Hassauer führt diesen Begriff in expliziter Abgrenzung von der älteren Unterscheidung von „realistisch vs. phantastisch" ein, der sie vorwirft, Realitätsprädikate historisch unangemessen normativ zu verteilen.
39
Vgl. Lothar Bornscheuer, Topik, insbes. S. 9 1 - 1 0 8 .
40 41
Vgl. hierzu Wolfgang Neuber, Fremde Welt im europäischen Horizont, S. 317, Fn. 2. Vgl. Friederike Hassauer, Volkssprachliche Reiseliteratur, S. 280f., die Marco Polo eine hohe „Differenzqualität" gegenüber den Erfahrungsmöglichkeiten der Zeit zuschreibt. Aus dieser „Differenzqualität" ist dann bei Harry Kühnel eine hohe „differenzierende Qualität" (Das Fremde und das Eigene, S. 422) geworden, ohne daß ihm die Differenz der Bezugspunkte zwischen beiden Formulierungen aufgefallen wäre. Während Hassauer damit bezeichnet, daß Marco Polo sich von seinen Zeitgenossen abhebe, wird diese Behauptung in der Übernahme durch Kühnel zu seiner Fähigkeit, die Fremde differenziert zu betrachten.
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wegen den wirklichen Beobachtungen der Reisenden häufig kein Glaube geschenkt worden sei.
Tradition oder Erfahrung? Die Plausibilität dieser Sichtweise hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß das Mittelalter im Gegensatz zur Neuzeit als erfahrungsfeindlich gilt. Als ein auf die jenseitige Welt gerichtetes Zeitalter habe es sich der Erkenntnis der diesseitigen Welt versperrt und lieber den überlieferten Texten als der eigenen Anschauung vertraut. Weil die eigene Anschauung durch den curiositas-QQgnii theologisch-moralisch diskreditiert worden sei, habe man nur denjenigen vertraut, deren Anschauung mit der Tradition übereinstimmte. Die cwnosztas-Diskussion in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie läßt es jedoch als fraglich erscheinen, ob der Zusammenhang zwischen Autopsie, curiositas-Verbot und der Unglaubwürdigkeit von Erfahrungsberichten tatsächlich so eindeutig ist, wie hier unterstellt wird. 42 Auf den ersten Blick legen die Bestimmungen der curiositas als concupiscentia occulorum bei Augustinus einen solchen Kausalzusammenhang sicherlich nahe, doch eine genauere Betrachtung der Begriffs-Verwendung im Zusammenhang seiner Theologie widerlegt die Annahme einer apriorisch im Begriff implizierten negativen Konnotation. 43 Zum einen verwendet Augustinus den curiositasBegriff, wie Gunther Bös gezeigt hat, nicht ausschließlich negativ, zum anderen fällt durchaus nicht jede Form der Weltschau unter das Verdikt der vana curiositas. Es ist nicht das Wissensstreben an sich, das Augustinus verwirft, sondern die Wissensgier, die dem Laster der superbia entspringt, weil ihr wahres Ziel nicht in der Erkenntnis der Schöpfung, sondern in der Selbstüberhebung des Menschen besteht. 44 Wo die Welterkenntnis als uti der Erkenntnis Gottes durch die Offenlegung des transzendenten Verweisungszusammenhangs der Schöpfung auf ihren Schöpfer dient, kann sie bei Augustinus aber auch als pia curiositas erscheinen, die Gott in seinen Werken zu erkennen sucht. 45 „Nicht der Gegenstand qualifiziert die Gefahr der philosophischen Einstellung, sondern die aus der Bewältigung des Gegenstandes gefolgerte authentische Mächtigkeit des menschlichen Intellekts, deren Natürlichkeit sich der Mensch selbst zuschreibt, ohne
42
Eine eingehende oder auch nur annähernd die uferlose Forschung aufnehmende Darstellung des c«Woj/iai-Begriffs und seiner Konnotationen in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie kann hier selbstredend nicht geleistet werden. Das ist auch nicht der Anspruch der nachfolgenden, naturgemäß verkürzenden Darstellung. Es geht mir lediglich darum, die Selbstverständlichkeit, mit der der curiositas-Begriff in einer diffusen Epochencharakterisierung argumentativ in Anspruch genommen wird, in Frage zu stellen. Für die Aufarbeitung der Spezialliteratur zum curiositas-Begriff und seiner Verwendung in der mittelalterlichen Philosophie verweise ich auf Gunther Bös, Curiositas.
43
Zur Definition der curiositas als concupiscentia occulorum bei Augustinus vgl. Günther Bös, Curiositas, S. lOlf. sowie Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 106f. Vgl. Heiko Augustinus Oberman, Contra vanam curiositatem, S. 19.
44 45
Vgl. Gunther Bös, Curiositas, S. 127f., sowie Heiko A. Oberman, Contra vanam curiositatem, S. 18.
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darin das Schöpfungsgeschenk seines Urhebers anzuerkennen."46 Die somit schon bei Augustinus erkennbar werdende Ambivalenz des curiositas-Begriffs bleibt für dessen Verwenung im theologischen Diskurs insgesamt kennzeichnend, auch wenn sich die argumentative Begründung teilweise verschiebt. Thomas von Aquin etwa, der in seiner Behandlung der cwr/os/to-Problematik Augustinus immer wieder zitiert, verbindet die negative Konnotation der curiositas nicht mit dem Anspruch des menschlichen Intellekts, Erkenntnisse in seiner eigenen Fähigkeit zu gründen, sondern mit der Ungeordnetheit menschlichen Begehrens nach gottähnlichem Wissen. Davon ist die sinnliche Erkenntnis noch weniger betroffen als bei Augustinus, denn alle Erkenntnis geht für Thomas im Anschluß an Aristoteles von den Sinnen aus. Nur wenn sich die sinnliche Erkenntnis auf die Augenlust beschränkt, die nicht der Erkenntnis, sondern allein der Zerstreuung dient, ist sie negativ besetzte curiositas, die der tugendhaften studiositas entgegengesetzt ist. Curiositas zeichnet sich hier durch eine Mischung von zu viel und zu wenig aus: Sie ist zu viel, wo der Mensch sich auf der Suche nach Zerstreuung im Übermaß der Gegenstände und ihrer Oberflächlichkeit verliert, aber sie ist zu wenig, wo sie die Mühen der Erkenntnis der Schöpfung scheut, die zur Erkenntnis des Schöpfers hinfuhrt.47 Wo der Betrachtung der Schöpfung und der Beschreibung ihrer Mannigfaltigkeit aber ein uti zugeordnet wurde, konnte curiositas durchaus positiv verstanden werden.48 Damit entfällt auch das entscheidende Argument für ihre Inanspruchnahme als Paradigma mittelalterlicher Erfahrungsfeindlichkeit, die in der Behauptung des curiositas- Verbots eine ihrer zentralen argumentativen Stützen hat. Wenn die spätmittelalterlichen Reiseberichte bis in die jüngste Forschung an der Frage gemessen werden, wieviel Erfahrung sich in ihnen mitzuteilen vermöge, so gründet sich dies nicht zuletzt im Selbstverständnis der Neuzeit, gegen den christlichen Dogmatismus des Mittelalters erst Erfahrung als Grundlage des Wissens durchgesetzt und damit zugleich den Bruch mit dem traditionellen Weltbild des Mittelalters vollzogen zu haben. Tradition wurde im Sinne eines seit der Aufklärung etablierten Modernitätsverständnisses als Widerstand gegen jede Form von Wandel und Ablehnung alles Neuen und Unbekannten gedeutet und damit negativ konnotiert.49 Die mediävistische Reiseliteraturforschung befand sich deshalb immer in dem Dilemma, einerseits den Zugewinn an Erfahrungsfähigkeit als Prüfstein für den Fortschritt der Gattung zu akzeptieren, andererseits aber die von ihr behandelten Texte gegen den pauschal erhobenen Vorwurf der
46 47
Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 104. Vgl. Summa theologiae II, 2q. 167a; vgl. auch Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 13lf.
48
Heiko Augustinus Oberman hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß die Philosophie des Nominalismus der Naturerforschung breiten Raum gelassen hat, weil sich in der Natur Gottes Allmacht offenbare, wohingegen sie die theologische Festlegung Gottes auf eine vernünftige Naturgesetzlichkeit ablehnte, die den Anspruch erhob, letzte religiöse Geheimnisse aufzudecken. Vgl. Contra vanam curiositatem, S. 37f.
49
Vgl. Brian Stock, Tradition and Modernity: Models from the Past, in: Ders., Listening for the Text: On the Uses of the Past, Baltimore 1990, S. 159-171.
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Erfahrungsfeindlichkeit des Mittelalters zu verteidigen. 50 Die Suche nach der Erfahrung in den - insbesondere spätmittelalterlichen - Reiseberichten diente daher in erster Linie der Auflösung dieses Dilemmas, die man dadurch zu erreichen suchte, daß man einzelnen Autoren und Berichten das Prädikat verlieh, den Primat der Erfahrung gegenüber dem tradierten Wissen zumindest teilweise vorwegzunehmen. Dabei kam man in der Forschung freilich zu völlig entgegengesetzten Ergebnissen, welche der Reiseberichte dieses Prädikat verdienten. Während Literaturwissenschaftler in der Regel den volkssprachlichen, laikalen Reiseberichten den Vorzug gaben, bevorzugten die Historiker mehrheitlich die Berichte der Franziskaner. So stellt etwa der Historiker Helmut G. Walther dem „durch experiencia und via rationis geprägten Asienbild der Mendikanten" wie Johannes de Piano Carpini und Wilhelm von Rubruk, ein „literarisches Orientbild" entgegen, „das nur partiell mit demjenigen der Erfahrungsberichte der Asienreisenden in Deckung zu bringen war". Mit merklichem Bedauern konstatierte er daher, daß sich diese literarischen Elemente auch im Devisement dou monde des Marco Polo wiederfanden und erklärte dies damit, „daß hier kein nüchterner Reisebericht eines Missionars oder eines im Asienhandel tätigen Fernkaufmanns vorliegt." 51 „Marco Polos Bericht über seine Reisen ist ja nur in der literarischen Umgestaltung durch den Pisaner Berufsdichter Rustichello erhalten, der sich dabei weitgehend der Topoi vom geheimnisvollen und wundermächtigen Osten bediente." 52 Während Walther also die positiv besetzte Erfahrungsseite den Gesandtschaftsberichten der Franziskaner zuschlägt, verfährt der Romanist Peter Wunderli umgekehrt und liest aus dem Bericht Wilhelms von Rubruk heraus, „mit welch proselytischem Eifer Wilhelm (ebenso wie seine Vorläufer) zu Werke ging", weswegen es nicht erstaunlich sei, daß „die engstirnigen Mönche" am Hofe des Großkhans „scheiterten". 53 „Vorurteile, Fanatismus, Buchstabengläubigkeit in Bezug auf die Heilige Schrift usw. sind auch dafür verantwortlich, daß diese Berichte in vielerlei Hinsicht wenig objektiv sind und an zahlreichen Stellen eher ein Zerrbild als ein Abbild der Verhältnisse lieferten, die die Ordensbrüder im fernen Asien angetroffen haben." 54 Dagegen könne das im Divisament vermittelte Wissen „mit gutem Recht als ein Erfah50
An der Selbstverständlichkeit, mit der der „Zugewinn an empirischer Erfahrungsfähigkeit" zum Prüfstein für den Fortschritt der Gattung Reisebericht genommen wurde, hat für die frühe Neuzeit Peter J. Brenner (Die Erfahrung der Fremde, S. 29) bereits grundlegende Kritik geübt, diese jedoch nicht auf das Mittelalter ausgedehnt.
51 52
Helmuth G. Walther, Gens consilio, S. 258 (Hervorhebung MM). ibid., S. 259. (Hervorhebung MM) Eine ähnliche Position vertritt Gerhard Wolf: „In diesem Werk stehen mit demselben Wahrheitsanspruch neben den 'realen' Erlebnissen Marco Polos die fabelhaften Geschichten von dem Priesterkönig Johannes, die der literarischen Tradition des Gralstoffes bzw. der christlichen Legenden angehören, und die Sagen von hundsköpfigen Menschen und Wüstengeistern. Ein Motiv für ihre Einfügung, die vielleicht von dem Redakteur des Werkes, Rusticello de Pisce, vorgenommen wurde, könnte sein, daß mit ihnen der 'reale' Bericht Marco Polos, der sich aber auf keine literarische Tradition stützen kann, an Glaubwürdigkeit gewinnnen soll." (Die deutschsprachigen Reiseberichte des Spätmittelalters, S. 104f.). Auch hier dient die angenommene Mitautorschaft Rustichellos da Pisa dazu, den Text in zwei Hälften aufzuspalten, deren eine 'literarisch' und deren andere 'realistisch' ist. Peter Wunderli, Marco Polo und der Ferne Osten, S. 129f. ibid., S. 130.
53 54
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rungswissen bezeichnet werden", denn „charakteristisch für diesen Bericht ist natürlich die Tatsache, daß Marco Polo nicht einfach irgendwelche Vorläufer abschreibt und vom Hörensagen berichtet. Vielmehr hat er die Dinge, die er für mitteilungswürdig hält, weitestgehend selbst gesehen und erlebt, er hat sie erfahren."55 Entsprechend diesen gegensätzlich verteilten Prädikaten von literarischer Tradition und Erfahrungswissen, bei dem der Erfahrung bei beiden gleichermaßen die Funktion der Korrektur des tradierten Wissens eingeräumt wird, kommen Walther und Wunderli zu gänzlich entgegengesetzten Ergebnissen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit dieser Reiseberichte bei ihren Zeitgenossen. So geht Walther davon aus, daß Marco Polos Bericht bei seinen Zeitgenossen als besonders glaubwürdig galt, und fuhrt dies auf die Verwendung literarischer Muster zurück: „Der besondere Erfolg bei den Lesern ergab sich nicht zuletzt daraus, daß diese die mirabilia mundi im Osten vermuteten, weil sie diese für wahr halten und als Gegenfolie zur sich entzaubernden Welt des Abendlandes erhalten wollten."56 Dagegen betont Wunderli, daß Marco Polo mit seiner „Strategie", durch die Aufnahme traditioneller topischer Elemente „das Neue, Unerhörte zu homologisieren, es in traditionelle Kategorien einzuordnen", zunächst „weitgehend gescheitert" sei. „Zwar erweckten Divisament bzw. Milione schon unmittelbar zu Beginn des 14. Jahrhunderts ein gewaltiges Interesse - aber geglaubt wurde das Berichtete kaum: Seine Geschichten galten als Märchen, er selbst wurde als der große Schwadroneur und Lügner angesehen, als eine Art Münchhausen seiner Zeit. Noch auf dem Totenbett soll man versucht haben, Marco Polo zu dem Eingeständnis zu veranlassen, seine ganzen Berichte seien frei erfunden und entbehrten jedes realen Hintergrundes - er hat sich standhaft geweigert zu widerrufen." 57 Das diesen auf den ersten Blick entgegengesetzten Positionen gemeinsame Erkenntnisinteresse besteht darin, in den jeweils präferierten Texten ein auf Erfahrung i. S. unmittelbarer Perzeption begründetes Neuerungspotential erkennen zu wollen, das im Mittelalter mit den ihm zugedachten Prädikaten der Traditionalität und Neuerungsfeindlichkeit zwangsläufig den jeweiligen Text habe diskreditieren müssen.58 Diese Gegenüberstellung von Tradition und Erfahrung beruht aber letztlich auf totalisierenden Epochenzuschreibungen, bei denen a priori ausgemacht ist, welches vorherrschende
55 56 57
ibid., S. 143. Helmuth G. Walther, Gens consilia, S. 259. Peter Wunderli, Marco Polo und der ferne Osten, S. 191 f. Zur Funktion des von Wunderli hier angeführten 'Totenbett-Topos', dessen topischen Charakter er völlig verkennt, vgl. das folgende Kapitel. Das Pathos der Standhaftigkeit, mit dem Wunderli die von Jacopo d'Acqui - bei dem von „standhaft" aber keine Rede war - beschriebene Situation wiedergibt, ist bezeichnend für diese die Widerstände gegen das Neue beschwörende teleologische Betrachtung.
58
Eine ähnliche Argumentation hinsichtlich Marco Polos findet sich auch bei Hassauer (Volkssprachliche Reiseliteratur, S. 282) und im Anschluß an sie bei Neuber (Zur Gattungspoetik des Reiseberichts, S. 56). Beide gehen davon aus, daß Marco Polo der Lüge bezichtigt worden sei, weil seine Erfahrungen den geographischen und mentalen Horizont der Zeit überschritten hätten. Hassauer behauptet darüber hinaus, Marco Polos Text sei „in den ersten hundert Jahren nach seinem Erscheinen kaum rezipiert worden" (S. 283), ein Befund, der durch die handschriftliche Überlieferung in keiner Weise gedeckt ist.
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Weltbild die jeweilige Epoche prägt. 59 Die Untersuchung einzelner Berichte fuhrt dann zwangsläufig zur Ausnahmestellung des je untersuchten Berichts, der sich vom angeblich vorherrschenden Weltbild deutlich abhebe, seiner Zeit voraus sei usf. Selten wurde dabei auch nur in Erwägung gezogen, ob der jeweilige Bericht nicht eher der totalisierenden Sicht der Epoche widerspricht als dem angeblich vorherrschenden Weltbild. Die totalisierende diachronische Ordnung von Epochenbildern erzwingt nämlich erst die Ungleichzeitigkeiten, die sie dann in der Untersuchung auffindet. Ohne die Kongruenz von Diachronie und Totalisierung ließen sich solche angeblichen Ungleichzeitigkeiten plausibler als Gleichzeitigkeiten lesen. Betrachtet man die Forschung unter diesem Aspekt, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Erkenntnisinteresse einer teleologisch am Begriff des Fortschritts der Erfahrung orientierten Forschung, die ihre Hauptstütze in totalisierenden Epochenbildern hat, Widerstände gegen die von ihr ausgezeichneten Erfahrungsberichte selbst aufbaut, weil diese dem Paradigma des sich gegen die Widerstände der Vertreter des Alten durchsetzenden Neuen entsprechen. Dagegen wurde nicht versucht, die behauptete Erfahrungsfeindlichkeit des Mittelalters, aus der das Mißtrauen gegenüber den Erfahrungsberichten resultieren sollte, zu widerlegen oder auch nur in Zweifel zu ziehen. Dazu hätte es zuallererst der Untersuchung des mittelalterlichen Erfahrungsbegriffes bedurft: Der entscheidende Schritt von der Historisierung der Wahrnehmungsmuster zur Historisierung des Erfahrungsbegriffes blieb jedoch aus. Der für die Forschung so zentrale Begriff der Erfahrung wurde mit wenigen Ausnahmen, wie in der - sich freilich weitgehend auf die Neuzeit beschränkenden - Untersuchung Peter J. Brenners, historisch-theoretisch in keiner Weise beleuchtet, sondern fast umgangssprachlich mit Perzeption i. S. der unmittelbaren, sinnlichen Wahrnehmung durch ein beobachtendes Subjekt gleichgesetzt, ohne daß der Versuch unternommen worden wäre zu überprüfen, ob eine solche Gleichsetzung historisch gerechtfertigt ist. Brenners Hinweis, die pathetische Berufung auf Erfahrung in Texten der frühen Neuzeit gehöre zu deren „toposhaftem Argumentationsarsenal" und sei „mehr ein Akt der Wissenschaftsrhetorik als einer der wissenschaftlichen Praxis", 60 gibt deutliche Hinweise darauf, daß die Diskontinuität zwischen dem mittelalterlichen und dem neuzeitlichen Empiriebegriff anders zu bestimmen sein könnte, als dies unter dem Primat einer teleologischen Betrachtung geschieht. Was Brenner für die Neuzeit behauptet, läßt 59
60
Zur grundsätzlichen Problematik totalisierender Periodisierungen vgl. Ursula Link-Heer, Weltbilder, Epistemai, Epochenschwellen, bes. S. 21f. Link-Heer diskutiert sehr instruktiv die „zentrifugale" Tendenz der Diskursanalyse im Vergleich zur „zentripetalen" Tendenz der Weltbildanalyse, für die Foucault über den Begriff der episteme gleichwohl in Anspruch genommen worden ist. Die problematische Wende der Mentalitätsgeschichtsschreibung in die Beschreibung der Mentalität als einer Bedingungslogik, die die Deutung von Texten determiniert, wird besonders deutlich an einer Äußerung wie der des Historikers Ulrich Knefelkamp, in der Mentalitätsgeschichte zur Benimmregel für Historiker degeneriert: „Allerdings muß der von diesen Quellen [den Fernostasienreiseberichten, MM] begeisterte Historiker und Ethnograph sofort daran erinnert werden, daß es sich hier um Texte handelt, die einer bestimmten Epoche angehören, dem Mittelalter und dem Beginn der Neuzeit. Ohne Kenntnis des geistigen Hintergrundes, des kulturellen Erbes und der Mentalität von Autor und Publikum sind sie nicht auswertbar" (Der Reiz des Fremden, S. 299). Peter J. Brenner, Die Erfahrung der Fremde, S. 28.
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sich nämlich m. E. durch die Einbeziehung des Spätmittelalters noch stärker verdeutlichen: „Der Zugewinn an Empirie freilich ist nicht das Kriterium, an dem sich die Entwicklung der Wahrnehmungsformen des neuzeitlichen Reiseberichts messen ließe. Feststellen läßt sich nur ein Wandel in der Auffassung der Wirklichkeit, nicht etwa deren immer genauere Erfassung." 61 In der dichotomischen Gegenüberstellung von tradiertem Wissen und Erfahrungswissen wurde überdies die notwendige Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung und ihrer Diskursivierung verhindert und allein die Einschränkung der Erfahrungsmöglichkeiten historischer Subjekte thematisiert. Mit der Beschränkung auf die Untersuchung der Möglichkeiten der Wahrnehmung unterschlug aber auch die jüngere Forschung nicht nur das seit der Begründung der neuzeitlichen Erkenntnistheorie, auf der ihr Wahrnehmungsbegriff beruht, zentrale Problem der Umsetzung von sinnlicher Wahrnehmung in Sprache, sondern verkannte auch, daß im Reisebericht gerade dort, wo er sich auf Autopsie beruft und diese als seine Grundlage angenommen wird, immer nur die Repräsentation dessen vorliegt, was als Erfahrung zu gelten beanspruchen kann. Es ist daher, wie Jürgen Osterhammel mit Recht hinsichtlich des Fremden betont hat, unerläßlich, zwischen Beobachten und Beschreiben zu unterscheiden. „'Bilder' von anderen Zivilisationen sind uns nur in der Form ikonischer und sprachlicher Artefakte zugänglich, niemals als unbearbeitete Sinnesdaten. Wir wissen nicht, wie Marco Polo den Khubilai Khan und wie Kolumbus die Bewohner der Neuen Welt wirklich 'gesehen' hat. Ein unmittelbarer Schluß von der Beschreibung auf die ihr zugrundeliegende Beobachtung ist nicht möglich. Das Andere ist nur - semiotisch gesprochen - als Repräsentation erfaßbar." 62 Dies gilt freilich nicht nur für das repräsentierte Andere, sondern auch für das repräsentierende Subjekt, das selbst nur als Repräsentation, als sprachliches Artefakt, erscheint. Diskurstheoretisch gesprochen kann die Berufung auf Augenzeugenschaft und Erfahrung im Reisebericht daher nicht mit der Perzeption eines Subjekts gleichgesetzt werden, sondern zeigt den Platz an, der einem Subjekt in der Darstellung fremder Welten sprachlich zugewiesen wird. In dieser Hinsicht verweist Erfahrung nicht auf den erkenntnistheoretisch begründeten Platz des Subjekts als Wahrnehmendem, sondern auf den diskursiv begründeten Platz des Subjekts als Darstellendem, insofern es im Bericht zugleich als Dargestelltes erscheint. In der hier verfolgten Fragestellung geht es daher nicht um die Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung eines beschreibenden Subjekts, die sich auf die mentalitätsgeschichtlich begründete Einschränkung der „Erfahrungsmöglichkeiten" historischer Subjekte richtet, sondern um die Bedingung der Möglichkeit ihrer Darstellung, die auf die diskursiv begründete Bedingung der Möglichkeit zielt, von Erfahrung zu sprechen. Nicht das Subjekt hinter dem Text, sondern das Subjekt im Text i. S. einer diskursiven Funktion soll daher im letzten Teil untersucht werden. Der diskursanalytische Ansatz bietet dabei den entscheidenen Vorteil, daß er eines der für die mittelalterliche Literaturproduktion grundsätzlich kennzeichnenden Elemente zu einem zentralen Deutungselement machen kann, das in einer auf die Wahrnehmung des berichtenden Subjekts fixierten Theorie immer als ein kaum zu überwindendes Handicap 61 62
ibid., S. 29. Jürgen Osterhammel, Distanzerfahrung, S. 42.
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erschienen ist und erscheinen mußte: die zahlreichen Varianten in der handschriftlichen Überlieferung. Im Falle Mandevilles hat sich die Forschung nicht einmal darauf verständigen können, welche Handschriften dem Autortext am nächsten kommen, und noch weniger war es möglich, den gesamten Überlieferungsstrom von mehr als 280 Handschriften auf einen prätendierten Autor zurückzufuhren. Aber auch bei Marco Polo ist die Variationsbreite des Textes, wie die handschriftliche Untersuchung seines Berichts gezeigt hat, so groß, daß der Rekurs auf die Wahrnehmung eines Subjektes sich eigentlich hätte verbieten müssen. Für die ganz am Begriff der Erfahrung i. S. sinnlicher Wahrnehmung oder aber der literarischen Intention eines Autors orientierte Forschung mußte die gesamte handschriftliche Überlieferung als eine einzige Crux erscheinen, weil man nicht einmal auf einen verbindlichen Text zurückgreifen konnte, von dem man auf die Wahrnehmung eines berichtenden Subjekts hätte schließen können. Der Begriff der Erfahrung als sinnliche Wahrnehmung setzt aber die Annahme eines identischen Subjekts voraus und der interpretatorische Zugriff auf diese wiederum die Annahme eines identischen Textes. Beide Voraussetzungen können, selbst wenn man die grundsätzlichen Probleme der Umsetzung von Wahrnehmung in Darstellung unterschlägt, nicht als gegeben vorausgesetzt werden: So scheitert die Annahme eines identischen Subjektes im Falle Marco Polos und Odoricos de Pordenone schon an der banalen Tatsache, daß beider Texte nicht von ihnen, sondern von Dritten aufgezeichnet worden sind, wobei nicht zu klären ist, worin diese Tätigkeit des Aufzeichnens letztlich bestanden hat, und im Falle John Mandevilles hat die Autorschaft bis heute ebensowenig geklärt werden können wie die Frage, ob der prätendierte Autor jemals in den Osten gereist ist oder nicht. Noch weniger kann von einem identischen Text ausgegangen werden, denn die Texte weichen in den unterschiedlichen Fassungen zum Teil erheblich voneinander ab, und je mehr Handschriften es von einem Text gibt, desto mehr Varianten gibt es. Welche erkenntnistheoretischen Spannungen die Prämissen der Forschung bewirkten, zeigt sich etwa an einer Äußerung Ernst Bremers, der einerseits die „produktionsästhetische Perspektive" früherer Reiseberichtsforschung vehement kritisiert und dagegen das Konzept der überlieferungsgeschichtlichen Prosaforschung favorisiert, es andererseits aber für „problematisch" hält, „Intentionalität zur Gänze aus dem Interpretationsrahmen herauszunehmen". „Es wäre sinnvoll, nicht von einer Autorintention, wohl aber von intentionalen Strukturen zu sprechen, wenn von Texten die Rede ist, für die ein Spannungsgefüge der Übernahme oder Verweigerung kultureller Standards als entscheidendes Interpretament behauptet wird. Es wäre sonst nicht möglich, die Wirkung eines Textes zu bestimmen, der, wie derjenige Marco Polos, von zeitgenössischer Leserschaft als Lüge denunziert werden konnte, da offensichtlich 'qualitativ neue(s) Material einer fremden Wirklichkeit in den Text eindringt'." 63 Bremer legt hier offen, daß die Forschung auf den Begriff der Intentionalität nicht verzichten kann, weil die Suche nach mitgeteilter Erfahrung in der Gegenüberstellung von Traditions- und Beobachtungswissen auf ein hinter dem Text liegendes Bewußtsein rekurrieren muß, das wahrgenommen und damit erfahren hat.
63
Ernst Bremer, Spätmittelalterliche Reiseliteratur - ein Genre?, S. 335 (mit Zitat aus Wolfgang Neuber, Zur Gatttungspoetik des Reiseberichts, S. 56).
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Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die Varianten, wo sie nicht gänzlich ignoriert worden sind, in der Forschung in der Regel als äußere Eingriffe in den Text mit dem Ziel seiner Anpassung an das überlieferte Wissen der Zeit gedeutet worden sind, weil anders das wissenschaftliche Paradigma von der sich im Text bewußt oder unbewußt manifestierenden Wahrnehmung des reisenden Beobachters (oder auch der Intention des Autors) zwangsläufig in Frage gestellt worden wäre. So hat Mary Campbell zwar darauf hingewiesen, daß das „Ich" in Marco Polos Bericht kein „authentisches Ich" sei, „but an image created by Marco Polo, Rusticello and a host of translators, redactors and editors over a period of centuries" 64 , diese Feststellung gleich darauf aber wieder mit dem Verweis auf die Redaktoren eingeschränkt: „What information the original manuscripts contained was frequently distorted and altered by translators and editors whose scant knowledge of the East did not equip them for their task. But Polo's authority is stamped on every version, and when a mapmaker drew from him, he did not worry about how close his manuscript was to an „original" - or to the truth." 65 Die Varianten innerhalb der handschriftlichen Überlieferung beziehen sich aber keineswegs nur auf die Darstellung der Fremde, die nach vorherrschender Forschungsmeinung aus den überlieferten Quellen ergänzt und damit korrigiert worden sein soll, sondern auch auf den reisenden Berichterstatter. Die Aneignung der Fremde erfolgte durch die Aneignung der Texte, und diese Aneignung war so erfolgreich, daß der Begriff des Originals selbst einem Topos gleichkommt, dessen argumentative Funktion für die Suche nach der Wahrnehmung unabdingbar, angesichts der medialen Systeme einer Handschriftenkultur aber völlig obsolet ist. Wie groß die Schwankungsbreite in der Überlieferung der einzelnen Texte ist, hängt weitgehend von der institutionellen Bindung der Texte und ihrer Berichterstatter sowie den Funktionsmechanismen der jeweiligen Kontakt- und Verschriftlichungssysteme ab; mit einem Autor und seiner Wahrnehmungsfähigkeit hat es so gut wie nichts zu tun. Das berichtende Subjekt hat, wie im folgenden gezeigt werden soll, in unterschiedlichen Gebrauchszusammenhängen und kommunikativen Verständigungshorizonten einem fortwährenden Identitätswandel unterlegen, der sich einer Auflösung nach den Kriterien von „wirklich" oder „fiktiv" ebenso entzieht, wie der Auflösung nach den Kriterien von „Topos" und „Erfahrung". Nicht den „wahren" Marco Polo, den „wahren" Mandeville gilt es daher hinter dem Text zu entdecken, sondern den Marco Polo, Mandeville, Odorico de Pordenone, dem in der handschriftlichen Tradierung des Textes eine je bestimmte, aber sich wandelnde Identität als Berichtssubjekt zugewiesen wird. Auch hier verbietet sich die Unterscheidung zwischen dem „ursprünglichen"/ „eigentlichen" Autor und seiner „späteren"/„uneigentlichen" Identität: Wir wissen nicht nur nicht, was Marco Polo „wirklich" gesehen hat, sondern auch nicht, wer er „wirklich" gewesen ist und was er „wirklich selbst" beschrieben hat. Wie die beschriebene Fremde ist auch er uns immer nur als sprachliches Artefakt zugänglich, das berichtende Subjekt ist immer nur als das Berichtssubjekt greifbar, es ist - im Anschluß an Jürgen Osterhammel semiotisch gesprochen - nur als Repräsentation erfaßbar. Diskurstheoretisch gesprochen bezeichnet es den Platz, der einem Subjekt in der Diskursivierung von Erfahrung, die selbst vom Diskurs hervorgebracht wird, zugewiesen wird. Als Diskursele64 65
Mary B. Campbell, The Witness and the Other World, S. 95. ibid., S. 96.
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ment aber ist das Berichtssubjekt grundlegend für die Geltungsbedingungen des Reiseberichts und die Formationsbedingungen des Aussagefeldes, innerhalb dessen es erscheint. 66 Will man die Textkonstitution und die Geltungsbedingungen von Reiseberichten in dieser Hinsicht epistemologisch erklären, so bedarf es dazu eines doppelten Ansatzes: Einerseits muß geklärt werden, welcher Erfahrungsbegriff den spätmittelalterlichen Orientreiseberichten historisch kongruent zugrundegelegt werden kann, und andererseits müssen die Regeln aufgedeckt werden, mittels derer die Darstellung von Wahrnehmung organisiert sowie ihre Glaubhaftigkeit begründet wird. Es soll daher zunächst die argumentative Begründung der Glaubhaftigkeit anhand der die Berichte einkleidenden Paratexte untersucht, im Anschluß daran die diskursiv konstituierte Subjektfunktion analysiert und den Wandlungen des Berichtssubjekts in der handschriftlichen Überlieferung der Reiseberichte nachgegangen werden. Danach soll der aristotelisch-scholastische Erfahrungsbegriff entwickelt, die Differenzen gegenüber dem neuzeitlichen Erfahrungsbegriff erörtert und die daraus resultierenden erkenntis- wie diskurstheoretischen Probleme diskutiert werden. Schließlich sollen die Ergebnisse dieser Untersuchung auf die Gattungspoetik des Reiseberichts angewandt und von daher begründet werden, warum es sinnvoll erscheint, die spätmittelalterlichen Orientberichte nicht als Reiseberichte, sondern als Augenzeugenberichte zu bezeichnen.
2.Paratexte, Geltungsbedingungen und die Wahrhaftigkeit des Augenzeugen In seinem 1969 unter dem programmatischen Titel Seuils erschienenen Buch hat Gérard Genette beklagt, die Geschichte der Schwellen, die der Leser eines Buches überschreite, bevor er zum eigentlichen Text vordringe, sei bislang von der ganz auf die Textinterpretation ausgerichteten Literaturwissenschaft systematisch vernachlässigt worden. Mit Schwellen meint Genette jene Elemente eines Buches, wie Titel, Klappentexte, Widmungen, Vorworte und Motti, die den Text umkleiden, aber nicht eigentlich zu ihm gehören. Gerade diese angelagerten Schwellentexte aber steuern den Horizont, innerhalb dessen Texte gelesen werden; noch bevor der Text anhebt, legen sie fest, um welche Art von Text es sich handelt. 67 Genette hat für diese Schwellen den Terminus Paratext geprägt, um die merkwürdige Zwitterstellung jener Elemente des Buches zu bestimmen, die einerseits nicht zum eigentlichen Text gehören und daher unwesentlich zu sein scheinen, andererseits aber den Geltungsanspruch des Textes bestimmen. Er hat die Untersuchung von Paratexten freilich weitgehend auf das Zeitalter des Buches beschränkt, wobei er nur gelegentlich auf Vorformen in der handschriftlichen Überlieferung verwiesen hat, und Paul Zumthor hat gar erklärt, „le paratexte est à peu près inexi66
Den Begriff des Aussagefeldes, an den ich hier anschließe, hat Michel Foucault geprägt. Vgl. Die Archäologie des Wissens, S. 158.
67
Vgl. Gérard Genette, Seuils, S. lOff.
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stant".68 In der Tat sind Paratext und Text in der handschriftlichen Überlieferung nicht in derselben Weise voneinander abgrenzbar wie in gedruckten Büchern. Die Grenzen zwischen beiden sind häufig verwischt, weil sie weniger deutlich durch eine festgelegte Anordnung, durch Seitenwechsel oder das Schriftbild voneinander abgetrennt sind. Dennoch kennt die handschriftliche Überlieferung zweifellos Paratexte in der Form von Rubriken, incipites und explicites, Prologen und Epilogen, Anfangsinitialen, Autorenbildern oder anderen vorangestellten Illustrationen, die den Lesehorizont des Textes prägen.69 Von diesen Paratexten her sollen im folgenden die Funktion des Autors sowie die Formen der Glaubhaftmachung und Aneignung der Berichte in ihrer handschriftlichen Tradierung untersucht werden.
Formen der Glaubhaftmachung: incipites und Prologe Betrachtet man die Orientreiseberichte von ihren Paratexten her, so zeigt schon ein erster Blick in die Handschriften, daß es keine festgeschriebenen Titel für die Berichte gibt. Während in der Forschung zu den Orientberichten immer von Reiseberichten die Rede ist, taucht dieser Titel in den Handschriften kaum auf. Am nächsten kommen ihm noch die Bezeichnungen Itinerarium oder Voyages/Travels, aber auch sie sind eher selten und werden nicht durchgängig für die einzelnen Berichte verwendet. Deren Bezeichnungen changieren vielmehr zwischen einer Vielzahl von Termini: Descriptio, Uber, libellns, tractatus, historia/historie, relation, divisament dou monde - die Bezeichnungen wechselten nicht nur von Bericht zu Bericht, sondern von Handschrift zu Handschrift.70 Offensichtlich gab es keine fest definierte Berichtsbezeichnung, die der modernen Bezeichnung Reisebericht entsprochen und eindeutig festgelegt hätte, um welche Art von Text es sich handelte. Mit Sicherheit kann man jedoch davon ausgehen, daß es sich um eine Art von Text handelte, für die der Autorenname unverzichtbar war: Der Name des Autors, nicht der Name des Textes bildet das Überlieferungskontinuum in den incipites der spätmittelalterlichen Orientreiseberichte. Fast ausnahmslos wird an der ersten Schwelle zum Text, dem incipit, der Name des Autors genannt:
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Vgl. Paul Zumthor, La Mesure du monde, S. 366f. Anders als das moderne Vorwort ist der mittelalterliche Prolog relativ gut untersucht - in der Regel freilich sehr allgemein im Hinblick auf die typischen Formen der Exordialtopik. Vgl. Hennig Brinkmann, Der Prolog im Mittelalter; Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 95ff. Entscheidend ist jedoch die Auswahl und die jeweilige argumentative Funktion der eingesetzten Topoi, die spezifisch auf die je untersuchten Texte bezogen werden muß. Auch der Titel „romant" ist belegt, und zwar nicht für Mandevilles, sondern für Marco Polos Text: Mahaut, Gräfin von Artois und Burgund, die eine illustrierte Marco Polo-Handschrift besaß, nannte den Text einen „romant du grant kam". Vgl. Folker E. Reichert, Begegnungen mit China, S. 188. Reichert unterschätzt freilich die polysemische Bedeutungsbreite des Titels „romant", wenn er ihn mit den modernen Begriff von Roman oder Erzählung identifiziert. „Romant" konnte auch einfach so viel bedeuten wie „lehrreicher und unterhaltsamer Text in französischer Sprache". Vgl. hierzu Max Grosse, Das Buch im Roman, S. 35f. u. S. 90f.
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„Incipiunt gesta Tartarorum secundum fratrem Iohannem Ordinis fratrum Minorum", „Itinerarium Willelmi de Rubruc", „Ci commence Le Livre de marc paul Et des mer73
veilles", „Incipiunt hic multe et diverse hystorie beati Odorici fratris Minoris de ritibus et condicionibus huius mundi et de martirio IUI fratrum Minorum", „Ci Commence le Liure Iehan de Mandeuille Cheualier le quel parle de lestat de la Terre Sainte et de merueilles que il y a veues".
Die Namensnennung teilt in diesem Falle mehr mit, als die von Gérard Genette für das Buch konstatierte „pure information". 76 Was dem Leser moderner Bücher, bei denen vom Umschlag, über den Buchrücken, das Titelblatt bis hin zur Buchsignatur mindestens viermal an erster Stelle der Autor und dann der Titel genannt werden, selbstverständlich erscheint, ist für mittelalterliche Texte so selbstverständlich nicht, und die philologische Regel, bei der Beschreibung mittelalterlicher Handschriften die Anfangszeilen des Textes zu zitieren, trägt diesem Umstand Rechnung. Ein incipit hat mit einem Titel wenig gemein; es markiert den Anfang eines Textes, nicht unbedingt aber einen Urheber oder den Namen eines Werkes. Ivan Illich hat in einer glücklichen Formulierung den Unterschied zwischen Titel und incipit auf den Punkt gebracht: „Titel sind wie Etiketten. Ein incipit aber ist wie ein Akkord." 77 Es kann, wie in theologischphilosophischen Abhandlungen, aus autoritativen Sätzen bestehen, die, wie der erste Akkord eines Musikstückes, bereits den Kern der Überlegungen anklingen lassen, es kann aber auch den nachfolgenden Text ankündigen, von dem es optisch deutlich abgegrenzt ist.78 Im letzteren Falle tendiert das incipit zum Titel, teilt mit diesem aber nicht die eindeutige Festlegung auf die Autornennung oder einen feststehenden Werknamen. 79 Zahlreiche volkssprachliche aber auch lateinische Texte des Mittelalters wurden anonym überliefert oder nannten ihren Autor erst im weiteren Verlauf bzw. am Ende des Textes. Dafür waren nach Burghart Wachinger weniger christliche Demut oder mündlich geprägte Überlieferung verantwortlich, als vielmehr die Konstitutions- und Geltungsbedingungen unterschiedlicher Gattungen: „Es gab große Gattungsbereiche, vor allem geistli71 72
ed. Wyngaert, S. 27, Fn. P. ed. Wyngaert, S. 164.
73 74
BN, fr. 2810, fol. 42 r . ed. Wyngaert, S. 413.
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ed. Letts, S. 229. Vgl. Gérard Genette, Seuils, S. 10. Ivan Illich, Im Weinberg des Textes, S. 16. Ivan Illich hat am Beispiel des Didascalicon Hugos von St. Viktor die Funktion des incipits für philosophisch-theologische Abhandlungen beschrieben (vgl. Im Weinberg des Textes, S. 15f.). Hugo, so zeigt Illich, beginnt mit einer auctoritas, einem gültigen Satz, den er Boethius entnommen hat: „Omnium expetendorum prima est sapientia." „Der zeitgenössische Leser erkannte im incipit gleich eine auctoritas, einen Satz, der es wert war, wiederholt zu werden. (...) In dieser heute veralteten Bedeutung sind auctoritates Sätze, die beispielhaft sind und Wirklichkeit definieren. Wenn Hugo Boethius' auctoritas als Schlüsselsatz wählt, tut er das nicht, weil Boethius angesehen ist. Der Satz drückt eine offensichtliche Wahrheit aus, gerade weil er aus den Darlegungen dieses oder jenes bestimmten Autors herausgenommmen ist; er ist zu einer frei treibenden Aussage geworden" (S. 19f.).
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Vgl. Max Grosse, Das Buch im Roman, S. 15.
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che Gebrauchstexte und Sachliteratur, aber auch Drama oder Heldenepik und andere literarisch weniger individuelle Erzählwerke, große Bereiche, in denen es schon den Verfassern/Bearbeitern/ Übersetzern selbst nur in Ausnahmefällen in den Sinn gekommen zu sein scheint, Autorschaftsrechte zu beanspruchen und ihren Namen mit den Texten zu verknüpfen. Anonymes Produzieren und Verbrauchen von Texten war eher die Regel als die Ausnahme und ist keineswegs auf die Volkssprache beschränkt, sondern auch im Lateinischen weit verbreitet."80 In der lateinisch geprägten Sach- und Gebrauchsprosa, in Lapidarien etwa, war die Autornennung vergleichsweise selten; Lapidarien waren, wie Max Grosse konstatiert hat, „beinahe 'subjektlose' Texte, in denen das Ich des Erzählers oder Übersetzers völlig hinter der Vorlage zurücktritt".81 Dieses Faktum läßt sich aus den Bedingungen der Gattung relativ leicht erklären: Lapidarien, in denen das Aussehen, die Kraft und die Bedeutung von Edelsteinen beschrieben wurden, benötigen kein Subjekt, das mit seinem Namen die Wahrheit des Textes verbürgte, weil nach den Regeln des mehrfachen Schriftsinns die Bedeutung in den Dingen wohnte und der Autor nicht eigentlich eine Deutungsleistung erbrachte, sondern den Gegenstand lediglich 'aufschrieb', wofür es zudem bereits eine lange Auslegungstradition gab, auf die er sich stützen konnte. In Predigtanleitungen dagegen war die Autornennung häufig, aber sie war meistens falsch: Viele Predigthandbücher gaben einen der Kirchenväter oder aber einen der berühmten Scholastiker, wie Thomas von Aquin, als Autor an.82 Auch hier spielt die Gattung die entscheidende Rolle: Als Lehrwerke bedienten sich Predigthandbücher gerne der Autorisierung durch eine auctoritas, worunter in diesem Fall ein Autor zu verstehen ist, der wahre und deshalb autoritative Sätze gesagt hatte und damit jene Vorbildfunktion erfüllte, die erforderlich war, um dem Lehrwerk das nötige Gewicht zu verleihen. Wenn die Autornennung in der handschriftlichen Überlieferung der Orientreiseberichte in der Regel bereits im incipit erfolgt und im Prolog und an verschiedenen Stellen des Textes mehrfach wiederholt wird, so hat das seinen Grund ebenfalls in den Geltungsbedingungen der Gattung: Berichte über die Fremde konnten offensichtlich ohne die Nennung eines Autors nicht auskommen; einen Bericht über Unbekanntes konnte nicht eine anonyme Stimme, sondern nur ein namentlich genannter Autor abfassen. Freilich darf man den Gattungsbegriff in diesem Fall nicht zu allgemein fassen und auf sämtliche Formen von Berichten, die auf Reisen zurückgehen, ausdehnen: Bei den Pilgerberichten finden sich nämlich im Gegensatz zu den Orientreiseberichten relativ viele
80
Burghart Wachinger, Autorschaft und Überlieferung, S . U . Daß die Gattung und nicht Mündlichkeit oder Schriftlichkeit die Autornennung begründen, belegt Wachinger am Beispiel der Liedüberlieferung, bei der vom Minne- bis zum Meistersang die Autornennung sehr viel häufiger ist als in der Epik, was er auf den „hohen Repräsentationswert der Liedkunst" und die „Hochachtung vor der formalen Meisterschaft" des Sängers zurückführt (ibid., S. 15). Ernst Robert Curtius dagegen hatte in seinem kurzen Exkurs zur Frage der Autornennung im Mittelalter diese in Auseinandersetzung mit Schwietering allein unter dem Aspekt von Autorenstolz betrachtet. Vgl. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 503ff.
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Max Grosse, Das Buch im Roman, S. 51. Vgl. Burghart Wachinger, Autorschaft und Überlieferung, S. 12.
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anonym überlieferte Berichte. Da der Schwerpunkt der Pilgerfahrten auf dem wiederholenden Nachvollzug der entscheidenden Stationen der Heilsgeschichte lag, fungierte der Autor eines Pilgerberichts in der Regel nicht als Autor, der über Unbekanntes berichtete, sondern als derjenige, der die Büß- und Gnadenorte in der Schrift noch einmal nachvollzog und sie durch den Akt „real vollzogener Traditionsaneignung" 84 im kollektiven Gedächtnis ein weiteres Mal verankerte. 85 Die Namensnennung dürfte daher von geringerer Bedeutung gewesen sein, zumal dann, wenn es sich weniger um einen Pilgerbericht als um einen PilgQxführer handelte, bei dem es nicht um den Nachvollzug einer Strecke, sondern um die Darstellung der zu bereisenden, heilsgeschichtlich bedeutsamen Stationen ging. 86 Die Orientreisenden dagegen berichteten nicht von einem Heilsweg, dessen festgelegte Strecken und Stationen nur nachvollzogen werden mußten, sondern von einem Raum, der zwar nicht völlig unbekannt war, aber doch nicht zum Raum des habituell vertrauten Eigenen gehörte. 87 Deshalb mußte sich die Rede über diesen Raum mit einem Berichtssubjekt verbinden: Die Beschreibung konnte nicht für sich stehen, sondern benötigte den Namen des Autors, weil dieser zugleich Augenzeuge des Berichteten war. Die Namensnennung des Autors war deshalb gleichbedeutend mit der Benennung des Zeugen, der die Wahrheit des Berichts mit seinem Namen verbürgte. Was sich im incipit mit der kontinuierlichen Nennung des Autors andeutet, wird im nachfolgenden Prolog ausformuliert und begründet. Das incipit hat den Text gleichsam von außen angekündigt, der Prolog öffnet ihn nach innen. Als einleitender Teil ist er vom eigentlichen Text ebenfalls deutlich abgegrenzt und folgt eigenen Regeln, die nicht auf eine bestimmte Textsorte oder einen Gattungstyp festgelegt sind. Als der Ort der Rede des Autors oder Erzählers an seine Adressaten, der diese auf das folgende einstimmen soll, entwickelt er jedoch einen Deutungshorizont, der über das, was ein incipit zu leisten vermag, weit hinausgeht. 88 Der Prolog ist, um in der Metaphorik Ivan Illichs zu bleiben, nicht nur ein Akkord, der Tonart und Lage anklingen läßt, sondern ein Präludium, das die Motive und Themen orchestriert. Der Prolog ist in gewisser Weise eine Vorstellung, eine Performance: Er spricht nicht nur Themen an, sondern auch ein Publikum, er eröffnet eine Erzählsituation, bei der der Autor die Hörer unmittelbar anspricht und ihnen so im selben Raum körperlich gegenüberzustehen scheint. Auch dort, wo der Prolog sich nicht mehr an Hörer, sondern an Leser wendet, bewahrt er den Charakter einer Ansprache an das Publikum, als ob dessen captatio benevolentiae noch unmittelbar 83 84 85 86
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Der früheste deutsche Bericht über eine Pilgerfahrt nach Jerusalem ist beispielsweise anonym überliefert. Vgl. Dietrich Huschenbett, Berichte von Palästinafahrten, S. 368f. Barabara Weinmayer, Studien zur Gebrauchssituation früher deutscher Druckprosa. Literarische Öffentlichkeit in Vorreden zu Augsburger Frühdrucken, München 1982, S. 155. Vgl. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 156f. Vgl. etwa Michel Zink, Pourquoi raconter son voyage? S. 240ff. und S. 248ff. Zur Differenzierung zwischen Pilgerbericht (Itinerar) und Pilgerführer vgl. Gerhard Wolf, Die deutschsprachigen Reiseberichte des Spätmittelalters, insbes. S. 87ff.; Dietrich Huschenbett, Von landen und ynselen, und ders., Die Literatur der deutschen Pilgerreisen. Zum Aspekt des wiederholenden Nachvollzugs als Grundcharakteristikum der Pilgerfahrt vgl. Friederike Hassauer, Santiago, S. 130f. Vgl. Hennig Brinkmann, Der Prolog im Mittelalter, bes. S. 15f.; sowie Peter Kobbe, Funktion und Gestalt des Prologs, bes. S. 409ff.
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zu erlangen wäre. 89 Der Prolog hat von daher, so monologisch der anschließende Text auch sein mag, eine dialogische Struktur: Er bewahrt bis weit ins Spätmittelalter und teilweise auch darüber hinaus den Charakter einer face-to-face Kommunikation, in der es eine unmittelbare Gemeinschaft von Erzähler und Publikum gibt. Das zeigt sich an der üblichen Zweiteilung des Prologs in die salutatio an die Hörer oder Leser (prooemium/prologns praeter rem), die häufig mit einer allgemeinen Sentenz oder einem Proverbium versinnbildlicht wird, und die Einführung in das Werk mit der Nennung von Quellen oder der Beschreibung der Entstehungsumstände {prologus/prologus ante rem)?0 Die salutatio ist aber durchaus mehr als eine formelhafte Grußadresse; in der Verwendung der Formeln wie der Auswahl des Publikums offenbart sie nicht nur eine „Zielgruppe", sondern auch den Stellenwert, den ein Text für sich beansprucht. Mit der in der Publikumsansprache erfolgenden Auswahl des Publikums und der Präsentation des Autors wird zugleich der Stellenwert des Textes wie des zu behandelnden Gegenstandes festgelegt: Was gesagt werden soll, ist nicht unabhängig davon, zu wem und von wem es gesagt wird. 91 In Johannes' de Piano Carpini salutatio an seine Leser wird durch die Interferenz von Publikumsansprache und sozialer Situierung des Berichtssubjekts der Horizont vermittelt, innerhalb dessen der Bericht zu lesen ist: „Omnibus Christi fidelibus, ad quos presens scriptum pervenerit, frater Iohannes de Piano Carpini, Ordinis fratrum Minorum, sedis apostolice nuntius ad Tartaros et ad nationes alias orientis, Dei gratiam in presentí et gloriam in futuro et de inimicis Dei et domini nostri Iesu Christi victoriam triumphalem."
Mit ómnibus Christi fidelibus ist der Kreis der Leser extrem weit richtet sich nicht nur an den ebenfalls bezeichneten Auftraggeber Bericht höchsten institutionellen Rückhalt sichert, sondern an alle Deren Adressierung als Publikum gründet im Bezug auf die inimicis
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gefaßt; der Bericht der Reise, der dem gläubigen Christen. Dei: Johannes kann
Die Schemata des Prologs sind in der antiken Rhetorik am Beispiel der Gerichtsrede entwickelt worden, bei der die Hörer zugleich die Richter waren. Das Ziel der captatio benevolentiae, der Erlangung des Wohlwollens der Hörer, hatte von daher zunächst einen ganz unmittelbaren Sinn. Vgl. etwa die aristotelische Rhetorik, Buch II, 1378a. In seinem Redecharakter bewahrt der Prolog im Mittelalter auch in genuin schriftgebunden scheinenden theoretischen Traktaten die Erinnerung an die Mündlichkeit des Denkens. Der Prolog ist damit eine Residualform des Dialogs, und das auch dort, wo der Text selbst eine monologische Struktur angenommen hat. Zahlreiche Traktate und Lehrschriften bewahren jedoch bis ins Spätmittelalter die dialogische Form. Vgl. dazu Peter von Moos, Zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Dialogische Interaktionen im lateinischen Hochmittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 300-314, bes. S. 306f.; Horst Wenzel, Hören und Sehen, S. 245f. ibid., S. 413. Peter Kobbe, Funktion und Gestalt des Prologs, S. 418. ed. Menestö, S. 227. „Allen gläubigen Christen, zu denen diese Schrift gelangt, entbietet Bruder Johannes de Piano Carpini vom Orden der Minderen Brüder, Nuntius des apostolischen Stuhles zu den Tartaren und anderen Nationen des Orients, Gottes Gnade in diesem Leben, Herrlichkeit im zukünftigen Leben und glorreichen Sieg über die Feinde Gottes und unseres Herrn Jesus Christus."
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s i c h an die imagined Community aller Christen w e n d e n , w e i l sie durch die Feinde „unseres Herrn Jesu Christi" z u e i n e m h o m o g e n e n Publikum z u s a m m e n g e f u g t werden. A u s Johannes' salutatio spricht die Bedrohlichkeit der Fremde und mit ihr die Bedeutsamkeit d e s angekündigten Berichts. D e n extremen G e g e n s a t z z u dieser w e i t e s t m ö g l i chen Adressierung bildet W i l h e l m s v o n Rubruk salutatio an den allerchristlichsten K ö nig L u d w i g , seinen e i n z i g e n Leser, der gleichsam die Christenheit repräsentiert: „Excellentissimo domino et christianissimo Ludovico, Dei gratia Regi Francorum illustri, frater Willelmus de Rubruc in Ordine fratrum Minorum minimus, salutem et Semper triumphare in Christo. Scriptum est in Ecclesiastico de Sapiente: In terram alienaram gentium transiet, bona et mala in omnibus temptabit. Hoc opus, domine mi Rex, feci, sed utinam ut sapiens et non ut stultus: multi enim faciunt quod facit sapiens, sed non sapienter, sed magis stulte, de quorum numero timeo me esse. Tarnen quocumque modo fecerim, quia dixistis mihi quando recessi a vobis, ut omnia scriberem vobis quecumque viderem inter Tartaros, et etiam monuistis ut non timerem vobis scribere longas litteras, facio quod iniunxitis, cum timore tarnen et verecundia, quia verba congrua mihi non suppetunt que debeam tante scribere maiestati." W i l h e l m geizt in dieser sehr persönlichen salutatio an den allerchristlichsten K ö n i g nicht mit Bescheidenheitstopoi: A u s d e m Orden der Minderen Brüder sei er der Geringste; seine A u f g a b e , Gutes und Schlechtes in der Fremde zu erfahren, erfordere einen W e i s e n , er aber furchte, ein Tor z u sein, und deshalb schreibe er in Furcht und ehrfurchtsvollem Z a g e n . 9 4 S o l c h e Bescheidenheitstopoi finden sich in vielen Prologen, und sie sind hier sicher dazu angetan, die Statusdifferenz z w i s c h e n dem Adressaten und d e m Berichterstatter a n g e m e s s e n z u verdeutlichen. Andererseits haben sie aber auch die Funktion, die mit der Abreise W i l h e l m s unterbrochene Kommunikation mit L u d w i g an der Stelle w i e deraufzunehmen, die für den Bericht zentral ist: im Berichtsauftrag des K ö n i g s . D e r Auftrag z u berichten w i e die Bedeutsamkeit des Berichts als erstrangige Informationsquelle w e r d e n durch die Bescheidenheitstopoi verstärkt, insofern sie betonen, daß w e d e r der W u n s c h , sein a u ß e r g e w ö h n l i c h e s W i s s e n , das einen W e i s e n zieren würde, z u prä93
94
ed. Wyngaert, S. 164. „Seiner Majestät, dem hervorragendsten und allerchristlichsten Herrn Ludwig, durch Gottes Gnade erlauchten König von Frankreich, wünscht Bruder Wilhelm von Rubruk, im Orden der Minderen Brüder der Geringste, Heil und allezeit Sieg in Christo./ Im Buch Ecclesiasticus heißt es über den Weisen: 'Im Lande fremder Völker reist er umher, um Gutes und Böses von allem zu erkunden.' Dies, mein Herr König, habe ich getan, doch hoffe ich, daß ich es wie ein Weiser und nicht wie ein Tor getan habe: Denn es sind derer viele, die tun, was der Weise tut, nur daß sie es nicht weise, sondern vielmehr töricht tun, und zu ihrer Zahl fürchte ich zu gehören. Wie auch immer ich es aber getan haben mag - da Ihr mir, als ich von Euch schied, aufgetragen habt, Euch alles zu schreiben, was ich bei den Tartaren sehen würde und mich auch ermahnt habt, mich nicht zu scheuen, Euch ausführlichst zu berichten, so tue ich, wie Ihr mir geboten habt, in Furcht und ehrfurchtsvollem Zagen freilich, da mir die angemessenen Worte nicht gegeben sind, wie sie Eurer Majestät gegenüber geziemten." Ernst Robert Curtius hat diese Art der Bescheidenheitstopik als „affektierte Bescheidenheit" bezeichnet. Dabei verweist er u. a. auf eine Stelle bei Hieronymus, deren Bescheidentheitstopik der Wilhelms stark ähnelt. Hieronymus bezeichnet sich darin als der Geringste unter den Christen und versichert seinem Adressaten, nur seine Bitten hätten sein angstvolles Beben überwunden. Vgl. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 93f.
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sentieren, noch der Wunsch, sich hervorzutun, sondern nur die Absicht, dem Wunsch des Königs gemäß Informationen zu beschaffen, Wilhelm zur Abfassung des Berichts veranlaßt habe. Daher muß der Text den Reiseauftrag durch den französischen König auch nicht nach außen als legitimierende Funktionszuschreibung mobilisieren oder als Beglaubigungselement benutzen, sondern kann ihn innerhalb eines gemeinsamen kommunikativen Horizonts als clandestines Wissen voraussetzen. Die enge kommunikative Verknüpfung mit seinem Adressaten erlaubt Wilhelm sowohl einen sehr persönlichen Ton als auch die Zentrierung auf seine persönlichen Erlebnisse. Mary Campbell hat daraus den Schluß gezogen, Wilhelm sei „Europe's first modern traveler".95 „William is alive to the idea that informs autobiography and the modern realistic novel: that private experience is significant and readable - not as the fulfillment of gnomic or biblical 'truths', but as contingent and particular behavior in a world of moral challenge."96 Campbell verwechselt hier jedoch ein kommunikatives System, das es erlaubt, als persönlich sprechendes „Ich" zu erscheinen, mit einem Autorenbewußtsein, dessen Maßstab die Teleologie der Modernität ist. Auf einen vergleichbaren Berichtsauftrag kann sich Marco Polo dagegen nicht stützen. Er adressiert in absteigender Linie ein Publikum, das keine imagined Community, sondern eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft bildet, deren Mitgliedern, geordnet nach ihrem gesellschaftlichen Rang, ein Interesse am Wissen über die Mannigfaltigkeit der Fremde unterstellt werden kann und denen er sich demzufolge als Inhaber solchen Wissens präsentieren muß: „Seignors emperaor et rois, dux et marquois, cuens, chevaliers et borgiois, et toutes gens que volés savoir les deverses jenerasions des homes et les deversités des deverses région dou monde, si prennés cestui livre et le feites lire."
Diese Publikumsansprache findet sich im größten Teil der überlieferten Handschriften. Nur in der lateinischen Pipino-Fassung, der der Übersetzer einen eigenen Prolog vorangestellt hat, in dem er die Übertragung des Textes ins Lateinische begründet, wird ein anderes Publikum adressiert, das nicht durch seinen gesellschaftlichen Rang, sondern durch seine Glaubensfestigkeit differenziert wird. Francesco Pipino nutzt die Publikumsansprache dazu, den gläubigen Christen aus dem Bericht über die wunderbare Mannigfaltigkeit der Schöpfung Erbauung und Trost zu versprechen, während er die indevoti christiani daran gemahnt, daß sie hier erfahren könnten, wieviel mehr Anbetung manche der beschriebenen heidnischen Völker ihren falschen Götzen entgegenbrächten als sie dem wahren Gott.98 In Odoricos Bericht dagegen fehlt die salutatio, er wendet sich nicht in der Form der /ôce-to-yôce-Kommunikation unmittelbar an sein Publikum, sondern kündigt sein Werk ohne eine vorangestellte gezielte Adressierung an. Anders als Wil95 96
Mary Campbell, The Witness and the Other World, S. 120. ibid., S. 119.
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ed. Benedetto, S. 3. „Ihr Kaiser und Könige, Herzöge und Fürsten, Grafen, Ritter und Bürger und alle, die ihr etwas über die verschiedenen Völker des Menschengeschlechts und die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Regionen der Welt wissen wollt, nehmt dies Buch, und laßt es Euch vorlesen."
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Vgl. ed. Benedetto, S. CLIV; siehe auch Folker Reichert, Begegnungen mit China, S. 159f.
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heim ergeht sich Odorico denn auch nicht in Bescheidenheit, sondern betont den besonderen Wert seines Berichts angesichts der Tatsache, daß schon viele von den Verhältnissen jener Welt berichtet hätten: „Licet multa et varia de ritibus et condicionibus huius mundi a multis enarentur, tarnen est sciendum quod ego frater Hodoricus de Foro Iulii volens transfretare et ad partes infidelium volens ire ut fructus aliquos lucrifacerem animarum, multa magna et mirabilia audivi atque vidi que possum veraciter enarrare."
Auch bei Mandeville fehlt die salutatio, er begibt sich im Prolog sofort in medias res, und das heißt in diesem Fall in media mundi: Er beginnt damit, daß er seinen Lesern, zumindest in den meisten Handschriften, erörtert, warum das Heilige Land in der Mitte der Welt liegt. Diese Erörterung mündet in einem Teil dieser Handschriften dann in die Aufforderung an alle Christen, das Heilige Land zurückzuerobern, das ihnen als Erbe ihres Vaters Jesus Christus rechtmäßig zukomme.100 Die imagined community der Christen wird aber auch in diesen Varianten nicht direkt als Publikum angesprochen, vielmehr appelliert Mandeville ganz allgemein, den Ort wiederzuerringen, der den Mittelpunkt der Welt wie der eigenen Heilsgewißheit bildet. Diese Eingangserörterung und den Kreuzzugsaufruf teilen freilich die von Michael Seymour als Bodley-Version bezeichneten englischen Handschriften und die lateinische Version, auf der sie beruhen, nicht. Mandeville wendet sich hier an die „many men desyryn to heryn of dyvers londis and of the Holy Lond and of othere dyvers reumys beyonde the see in dyuverse partiis of the world" und am Schluß des Prologs dann an diejenigen, „that desysryth for to visityn the Holy Lond and the cete of Jerusalem and othere holye places".101 Die in diesem Fall angesprochenen Leser werden weder sozial differenziert noch bilden sie eine imagined community, sie eint lediglich das gemeinsame Interesse an der Fremde, wobei es keinen Unterschied macht, ob sie von der Fremde nur im Buch erfahren oder sie selbst im Wortsinne erfahren möchten.
Augenzeugenschaft und Glaubhaftigkeit Nachdem der Berichterstatter in der salutatio gleichsam vor sein Publikum getreten ist, stellt ihn der Prolog weiter vor, begründet Gegenstand und Wert seines Berichts und verkündet den Wahrheitsanspruch des nachfolgenden Werkes. Meistens erfolgt hier die 99
ed. Wyngaert, S. 413. „Obwohl schon Vieles und Unterschiedliches von den Sitten und Verhältnissen jener Welt von Vielen berichtet worden ist, soll man doch wissen, daß ich, Bruder Odoricus von Friaul, als ich über Meer fahren und in die Länder der Ungläubigen gehen wollte, um dort Seelen zu gewinnnen, viel Großartiges und Wunderbares gehört und gesehen habe, w o v o n ich wahrhaftig berichten kann."
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Vgl. ed. Letts, S. 229. Michel Velsers Übersetzung beginnt ebenso (vgl. ed. Morrall, S. 3f.), während Diemeringen noch einen eigenen Übersetzerprolog voranstellt, der sich an die „tütschen lüte" wendet, die „ouch moegent dar inne lesen von menigen wunderlichen Sachen" (ed. Bremer/Ridder, S. 185).
101
ed. Seymour, Bodley Version, S. 3. Diese Publikumsadressierung findet sich auch am Prologanfang des lateinischen Textes (vgl. ibid., S. 2).
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erneute Namensnennung des Autors und seine soziale Situierung, die Bezeichnung des Berichtsraumes und die Benennung des Reisegrundes. Den entscheidenden argumentativen Fokus des Prologs bildet bei allen Berichten jedoch die Versicherung des Autors, nur das beschrieben zu haben, was er mit eigenen Augen gesehen oder aber von glaubwürdigen Zeugen gehört hat. Der Prolog begründet damit, warum der Autor schon im incipit an die erste Stelle gerückt ist: Sein Wissen geht auf eigene Anschauung zurück, er ist Augenzeuge des von ihm Berichteten, und als Augenzeuge ist der auctor die nicht hinterschreitbare auctoritas, die an erster Stelle stehen muß, um die Wahrheit des Berichts zu verbürgen. Augenzeugenschaft ist hier mehr als ein Hinweis auf die Entstehungsumstände des Berichts, sie ist das Argument, mit dem sein Wahrheitsanspruch steht oder fällt. Sämtliche Berichte, in welchen Varianten sie auch immer fortgeschrieben worden sind, haben gemeinsam, daß im Prolog die Augenzeugenschaft des jeweiligen Autors behauptet und teilweise mit einer Vielzahl topischer Argumente unterfüttert wird.102 Dagegen beruft sich keiner der Berichte auf frühere Quellen, um die Wahrheit seines Berichts zu belegen, keiner der Autoren hält den „Schild der Quellen" hin, um seine Glaubwürdigkeit durch die Übereinstimmung mit der Tradition zu begründen oder auch nur zu bekräftigen.103 Bei Wilhelm von Rubruk wird die eigene Augenzeugenschaft als Argument der Glaubhaftigkeit des Berichts am wenigsten ausgebreitet: Seinem einzigen Adressaten muß er nicht beweisen, daß er wirklich mit eigenen Augen gesehen hat, wovon er berichtet. Auf seine salutatio folgt denn auch kein den Gegenstand des Berichts präsentierender prologus ante rem, sondern unmittelbar der Bericht, weil dessen Funktion wie sein Gegenstand zwischen Autor und Adressaten klar sind. Johannes de Piano Carpini dagegen, der nicht nur seinen Auftraggeber anspricht, sondern alle Christen, muß diesem Publikum zunächst seine Augenzeugenschaft versichern und sie mittels einer ganzen Argumentationskette stützen: „Unde quecumque pro vestra utilitate vobis scribimus ad cautelam, tanto securius credere debetis, quanto nos cuncta vel ipsi vidimus oculis nostris, quia per annum et quatuor menses et amplius ambulavimus per ipsos, pariter et cum ipsis ac fuimus inter eos, vel audivimus a christianis, qui sunt inter eos captivi et, ut credimus, fide dignis."
102
Auf die Prologtopik von Reiseberichten ist Wolfgang Neuber ausfuhrlich eingegangen. Freilich hat er die topische Unterfiitterung der Glaubwürdigkeit auf die Berichte aus der Neuen Welt beschränkt, die sich nicht auf die Tradition der überlieferten Schriften hätten berufen können und deshalb besonderer topischer Beglaubigungsargumente bedurft hätten. Neuber übersieht dabei, daß sich auch die spätmittelalterlichen Orientreiseberichte einer ausgefeilten Prologtopik bedienen. Vgl. Wolfgang Neuber, Fremde Welt im europäischen Horizont, S. 2 6 - 3 4 , insbes. S. 28f., sowie ders., Zur Gattungspoetik des Reiseberichts, S. 57f.
103
Gert Melville hat im Zusammenhang mit der chronikalischen Literatur davon gesprochen, daß die Autoren häufig den „Schild der Quellen" vorhalten, um ihren Wahrheitsanspruch zu bekräftigen. Vgl. Der Zugriff auf Geschichte in der Gelehrtenkultur, S. 162f.
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ed. Menestö, S. 228. „Daher müßt ihr alles, was wir euch zu eurem Nutzen schreiben, um euch zu warnen, umso gewisser glauben, als wir dies alles, während wir ein Jahr und etwas mehr als vier Monate in ihrer Begleitung durch ihr Land reisten und unter ihnen lebten, mit eigenen Au-
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Das Sehen hat hier einen Grund („vestra utilitate") und einen Zweck („ad cautelam"), es hat eine Dauer („per annum et quatuor menses") und eine Funktion („credere debetis"), die nicht in der Wissensbeschaffung für den Bericht, sondern in dessen Beglaubigung besteht. Alles, was der päpstliche Nuntius berichtet, sollen die Christen, um derentwillen er die beschwerliche Reise auf sich genommen hat, glauben, weil er es mit eigenen Augen gesehen hat. 105 Dem Sehen als dem entscheidenden Beglaubigungselement des Berichts tritt das Hören unterstützend zur Seite - „vidimus vel audivimus" - und damit eine Form der Wahrnehmung, die modernem Glaubwürdigkeitsverständnis diametral entgegensetzt ist. „Hören" hat als zuverlässige Form des Wissenserwerbs seine Glaubhaftigkeit vollständig eingebüßt, wie die negative Wendung vom „Hörensagen" sinnfällig belegt. Bei Johannes dagegen sind beide gekoppelt an die Glaubwürdigkeit des Zeugen; die Augenzeugenschaft unmittelbar an die Glaubwürdigkeit des Autors, die Ohrenzeugenschaft an die Glaubwürdigkeit von Dritten, deren Glaubwürdigkeit wiederum der Augenzeuge versichert. Gründet sich die Glaubwürdigkeit von Carpinis Anspruch, als Augenzeuge zu berichten, auf seinen Status als päpstlicher Nuntius, der ihm höchsten institutionellen Rückhalt verschafft und daher weitere Begründungen überflüssig macht, so muß die der anderen Zeugen, von denen Carpini etwas gehört haben will, detaillierter begründet werden: „audivimus a christianis, qui sunt inter eos captivi, et, ut credimus, fide dignis". Mit diesen knappen Worten wird die Glaubwürdigkeit der Ohrenzeugen auf drei Ebenen sorgsam belegt: 1. Sie sind Christen, so wie der Autor selbst und die von ihm angesprochenen Leser, also keine „Anderen"; 2. sie sind „dort", also ebenfalls Augenzeugen, und der Grund ihres Dortseins ist nicht ehrenrührig, denn sie sind nicht freiwillig bei den Tartaren, jenen Feinden der Christenheit, sondern ihre Gefangenen; 3. wir, also Carpini selbst, halten sie für glaubwürdig. In dieser letzten Begründung wird das herausgehobene Wissen des Augenzeugen bekräftigt, der sich von der Glaubhaftigkeit seiner Zeugen anhand dessen, was er selbst gesehen hat, ein Bild machen kann. Seine Augenzeugenschaft befähigt ihn sowohl mitzuteilen, was er selbst gesehen hat, als auch zu beurteilen, was er von anderen gehört hat. Carpini versichert damit zugleich, daß die Ohrenzeugenschaft nicht über unklare Zwischenstufen, sondern mit nur einer Zwischenstufe, nämlich der des Augenzeugen, vermittelt ist. Die unklare Zahl von Zwischenstufen, die sich in der Wendung vom „Hörensagen" niedergeschlagen hat, das den Anspruch an die Wahrheitsfähigkeit von Aussagen, zuschreibbar zu sein, nicht erfüllt, unterschied bereits in der antiken Historiographie bei Herodot akoe von opsis: „akoe is no longer firsthand and the string of mediators may Stretch out further and further into the distance." 106 Um mehr berichten zu können, als er selbst gesehen hatte, mußte Jo-
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gen gesehen haben, oder aber von Christen gehört haben, die bei ihnen gefangen sind und die wir für glaubwürdig halten." Die Beschwerlichkeit der Reise, bei der er Hunger, Durst, Kälte, Hitze, schmachvolle Behandlung und unermeßliche Strapazen erduldet habe, um dem Willen Gottes gemäß den Befehl des Papstes zu erfüllen und den Christen von Nutzen zu sein, hebt Johannes im zweiten Abschnitt des Prologs gebührend hervor, bevor er seine Augenzeugenschaft versichert. Vgl. ed. Menestö, S. 227f. François Hartog, The Mirror of Herodotus, S. 270. Die eigentümliche Bevorzugung des Auges vor dem Ohr in einer vorwiegend auf mündlicher Wissenstradierung gegründeten Gesellschaft
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hannes daher seine eigene Gesandtschafts- und Augenzeugen-awcton'tas einsetzen. Weil dem Augenzeugen selbst höchste Glaubwürdigkeit zukam und das Band zwischen Augen- und Ohrenzeugenschaflt eng geknüpft war, konnten vidi und audivi mit einem et verbunden werden, das die unterschiedlichen und durchaus unterschiedenen, aber nicht grundsätzlich diskriminierten Formen des Wissenserwerbs zusammenhielt und den Text in seiner Gänze trug. Die argumentative Funktion von Sehen und Hören konnte im Prolog jedoch einen anderen Stellenwert einnehmen, wenn sich die diskursive Position des Subjekts veränderte. So findet sich im Prolog zu Marco Polos Reisebericht eine sehr viel deutlichere Unterscheidung zwischen Augen- und Ohrenzeugenschaft, in deren Folge der Augenzeugenschaft ein erheblich höherer Rang eingeräumt wird: „Et qui trovererés toutes les grandismes mervoilles et les grant diversités de la grant Harminie et de Persie et des Tartars et [de] Indie, et de maintes autres provinces, sicom notre livre vos contera por ordre apartemant, sicome meisser Marc Pol, sajes et noble citaiens de Venece, raconte por ce que a sez iaus meisme il le voit. Mes auques hi n ' i a qu'il ne vit pas, mais il l'etendi da homes citables et de vérité. Et por ce metreron les chouse veue por veue et l'entendue por entandue, por ce que notre livre soit droit et vertables sanz nulle ma[n]sogne."
Die Augenzeugenschaft wird hier nicht mehr argumentativ verwendet, um die Ohrenzeugenschaft zu bestätigen, sondern zwischen beide wird eine merkliche Kluft gelegt. Zwar tritt auch bei Marco Polo die Berufung auf ehrbare und wahrhaftige Zeugen der eigenen Augenzeugenschaft zur Seite, aber die Versicherung, stets Gesehenes als Gesehenes und Gehörtes als Gehörtes kennzeichnen zu wollen, damit sein Buch ein richtiges und wahrhaftiges Buch ohne jede Lüge sei, räumt der Augenzeugenschaft erheblich höheres Gewicht ein. Als methodisches Bewußtsein läßt sich dieser Anspruch freilich kaum deuten: Wissen aus zweiter und dritter Hand ist vielfach in Marco Polos Bericht 108 eingeflossen, ohne daß dies kenntlich gemacht worden wäre. Der topische Charakter
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erörtert Hartog im folgenden Kapitel, in dem er zeigt, daß das Auge nicht weniger als das Ohr an Mündlichkeit gebunden ist: Herodot kommt nie auf die Idee, die schriftlichen historischen Quellen der Völker, über die er spricht und schreibt, zu konsultieren. ed. Benedetto, S. 3. „Und hier findet ihr all die großen Wunder und die große Vielfältigkeit Groß-Armeniens, Persiens, der Tartarei, Indiens und vieler anderer Provinzen. Und unser Buch wird euch so darüber berichten, wie es Messer Marco Polo, ein kluger und edler Bürger aus Venedig, mit eigenen Augen gesehen hat. Wir werden allerdings einzelnes, das er nicht gesehen, jedoch von vertrauenswürdigen und wahrhaftigen Leuten vernommen hat. Es wird daher das Gesehene als Gesehenes und das Gehörte als Gehörtes kennzeichnen, damit unser Buch ein richtiges und wahrheitsgetreues Buch ohne jede Lüge sei." Der Prolog deutet damit zumindest an, daß der Bericht sich an der Reihenfolge orientieren werde, in der Marco Polo die jeweiligen Gegenstände gesehen habe (vgl. François Hartog, The Mirror of Herodotus, S. 263). Auch dieser Hinweis ist jedoch topisch; aus der Reihenfolge des Textes läßt sich keine Reiseroute rekonstruieren (vgl. Marina Münkler, Marco Polo, S. 66-70). Wurde in der Literaturwissenschaft dieses factum brutum verschiedentlich als Ausdruck eines gegen alte Widerstände kämpfenden Bewußtseins gedeutet, das sich noch nicht völlig durchgesetzt habe und deshalb Gegenstände in den Text integrieren mußte, die so nicht gesehen worden
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dieses im Bericht nicht eingelösten Versprechens ist verschiedentlich, etwa von Leonardo Olschki und Peter Wunderli, betont worden, ohne daß aber seine spezifische argumentative Funktion bedacht wurde. 109 Entscheidend am Topos ist aber eben nicht, daß er immer wieder eingesetzt wird und ihm von daher eine gewisse Stereotypie eignet, die Bornscheuer als die Habitualität des Topos bezeichnet hat, sondern daß ihm durch seine Habitualität eine argumentative Intentionalität (die nicht mit einer Autorenintention verwechselt werden darf) und Potentialität zukommt, die je spezifisch untersucht werden muß. 110 Vergleichbare Stellen, in denen Augen- und Ohrenzeugenschaft einander gegenübergestellt werden, finden sich bereits bei Herodot, wo sie eine argumentative Funktion erfüllen, die François Hartog folgendermaßen beschrieben hat: „The narrator commits himself less fully, stands back somewhat from his narrative, and the listener is allowed more latitude to qualify his belief; he is held on a looser rein." 111 Bei Marco Polo hat die Gegenüberstellung eine andere Funktion: Sie soll nicht den Zeugen stellenweise von der vollen Verantwortung für alles Berichtete dispensieren, sondern vielmehr seinen Wahrheitsanspruch stärken. Wenn Marco Polo angibt, zu unterscheiden und die Unterschiede kenntlich zu machen, und damit Aussagen minderer Autorität von Aussagen höherer Autorität abgrenzt, beansprucht er für sich eben jene Autorität, die er den diffus bleibenden anderen Zeugen abspricht. Die Abgrenzung von Augen- und Ohrenzeugenschaft fungiert hier nicht als qualifizierendes Kriterium der Erkenntnis, sondern als qualifizierendes Kriterium der Autorschaft. Das zeigt sich deutlich an der Begründung für die erklärte Absicht, Gesehenes von bloß Gehörtem unterscheiden zu wollen, denn sie rekurriert nicht auf die Unzuverlässigkeit von Gerüchten, sondern auf die Unzuverlässigkeit ihrer Übermittler. Es ist nicht das Ohr, dem mißtraut wird, weil der Gehörsinn unzuverlässiger ist als der Gesichtssinn, es ist nicht die unklare Zahl von verfälschenden Zwischenstufen, die in Rechnung gestellt wird, sondern es sind andere Zeugen, auf die das Mißtrauen gelenkt wird, indem ihnen unterstellt wird, sie könnten
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sein können, so führte es in in der Orientalistik zu der Diskussion, wieviel an Marco Polos Bericht überhaupt auf eigener Erfahrung beruhe. Vgl. etwa John Haeger, Marco Polo in China? Problems with internal Evidence. Die vorgebrachten Einwände versuchte Frances Wood in ihrem kürzlich erschienenen Buch Marco Polo kam nicht bis China zu der These zusammenzufassen, daß Marco Polo überhaupt nicht in China gewesen sei, sondern seinen Bericht vorwiegend aus persisch-arabischen Quellen, u. a. aus Rashid al-Dins Weltgeschichte und Ibn Battutas Reisebericht zusammengeschrieben habe (vgl. bes. S. 199ff.). Die These hat in den ersten Rezensionen des Buches (vgl. T. H. Barrett, Wall? I saw no Wall, in: London Review of Books, 30. November 1995; Anette Kobak, All that time without a cup of tea, in: Times Literary Supplement, July 26, 1996) freilich kaum Zustimmung gefunden - noch ist Marco Polo nicht auf dem Stand angekommen, den John Mandeville als „big liar" eingenommen hat. Vgl. Leonardo Olschki, Marco Polo's Asia, S. 13; Peter Wunderli, Marco Polo, S. 138. WunderIis Argumentation ist eigentümlich selbstwidersprüchlich und beruht auf einem sehr eingeschränkten Toposbegriff: Einerseits betont er, Marco Polos Versprechen, Gesehenes und Gehörtes voneinander zu trennen, sei „nicht mehr selbstverständlich, je geradezu ungewöhnlich", andererseits konstatiert er, der Wahrheitsanspruch habe, da das Versprechen im Text nicht eingelöst werde, „rein topischen Charakter". Vgl. Lothar Bornscheuer, Topik, bes. S. 99-103. François Hartog, The Mirror of Herodotus, S. 270.
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lügen. Das Argument der Lüge differenziert nämlich gerade nicht zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsformen, sondern zwischen unterschiedlichen Sprechern und privilegiert so die Stimme des Berichtssubjekts. Die hier formulierte Diskriminierung von Sehen und Hören ist ebensowenig Ausdruck der Gegenüberstellung oder Hierarchisierung von Wahrnehmungsformen wie sie einfach ein Gemeinplatz ist. Sie ist vielmehr eine Stärkung von Marco Polos Augenzeugenschaft als Autorfunktion: Andere könnten lügen, er aber spricht die Wahrheit. Der Hervorhebung seines Augenwissens entspricht der sich im Prolog zu Marco Polos Reisebericht anschließende Überbietungstopos, aus dem die ebenfalls topische Mitteilungsverpflichtung abgeleitet wird: 112 „Et chascuns que cest livre liroie ou oiront le doient croire, por ce que toutes sunt chouses vertables. Car je v o s fais savoir que, puis que notre Sire Dieu pasme de sez mains Adam notre primer pere jusque a cestui point, ne fu cristiens, ne paiens, ne tartar, ne yndiens, ne nulz homes de nulle generasion, que tant seust ne cherchast de les deverses partie dou monde et de les grant mervoilles come cestui messire Marc en cherche et soi. Et por ce dit il a soi meisme que tropo seroit grant maus se il ne feist metre en ecriture toutes les grans mervoilles qu'il vit et qu'il oi por vérités, por ce que les autres jens que ne le virent ne [ne] sevent, le sachent por cest livre."
Diese Häufung von Exordialtopoi, die nicht Bescheidenheit, sondern Exklusivität des Wissens signalisiert, dient in erster Linie dazu, einem Autor höchste Glaubwürdigkeit zuzuschreiben, der, anders als Carpini und Rubruk, über keinen glaubwürdigkeitsvermittelnden institutionellen Rückhalt durch einen Berichtsauftrag verfugt und dessen Bericht nicht innerhalb eines institutionalisierten Kommunikationssystems verbreitet wird. Einer topisch oder narrativ gesicherten Funktionszuschreibung bedurften Carpini und Rubruk deshalb nicht, weil in ihrem Fall die Funktionszuweisung durch den Gesandtschaftsauftrag institutionell gesichert und damit zugleich ihre Beschreibung legitimiert war. Beide bewegten sich überdies in einem klar umrissenen Kommunikationssystem organisierter Informationsvermittlung. Die im Vergleich zu Marco Polo und Mandeville, aber auch zu Odorico de Pordenone geringe Zahl von Handschriften muß daher auch nicht für ein Anzeichen geringerer Glaubwürdigkeit gehalten werden, weil sich die 'realistischen' Berichte der Franziskaner nicht gegen die Topoi vom wunderbaren Osten hätten durchsetzen können. Sie verweist vielmehr auf das Kommunikationssystem der 112 113
Zur Exordialtopik vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 95ff. ed. Benedetto, S. 3. „Und jeder, der dies Buch liest oder hört, muß ihm Glauben schenken, denn es wird nur von wahren Dingen berichtet. Ihr müßt nämlich wissen, daß es, seit Gott der Herr unseren Urvater Adam geschaffen hat, keinen Christen, keinen Heiden, weder einen Tartaren noch einen Inder, keinen Menschen irgendwelcher Herkunft gab, der so viel über die verschiedenen Teile der Welt wußte und erforschte und der über so viele Merkwürdigkeiten Bescheid wußte, wie Messer Marco allein. Und deshalb sagte er sich, daß es zu schade wäre, wenn er nicht all die wunderbaren Dinge, die er sah oder die ihm als wahr berichtet wurden, für jene Menschen aufschreiben ließe, die sie nicht mit eigenen Augen gesehen haben und nichts davon wissen, damit sie durch dieses Buch davon erfuhren."
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Orden, deren mündliche Informationsvermittlung ebenso wie ihr chronikalisch-enzyklopädisches Memorialsystem zumindest Carpinis Bericht rasch und gezielt verbreitete. Im Falle Marco Polos dagegen, der sich in keinem vergleichbar institutionalisierten wissensorganisierenden Kommunikationssystem bewegte, mußte die Glaubwürdigkeit des Augenzeugen selbst innerhalb des Textes vermittelt werden. Anders als bei Carpini und Rubruk bedurfte es daher komplexer narrativer Operationen, um die Glaubwürdigkeit des Augenzeugen darzustellen und seine Beschreibung des Ostens zu legitimieren. Was bei den Mendikanten ein Mittel der Wissensbeschaffung war, das dann auch zur Präsentation des Berichtssubjekts eingesetzt werden konnte, nämlich der Gesandtschaftsauftrag, war bei Marco Polo ein Mittel zur Herstellung der Glaubwürdigkeit, das fiir die Präsentation eines außerhalb der Kontaktsysteme narrativierten Wissens benutzt wurde. Die in den meisten Handschriften noch dem Prolog zugerechnete Vorgeschichte des Berichts über die Reise der Gebrüder Polo nach Osten, ihre Rückkehr, das Gespräch mit dem späteren Papst und die zweite Ausreise unter Mitnahme Marco Polos sowie dessen Aufnahme am mongolischen Kaiserhof, dient in erster Linie der Präsentation des Autors und ist dementsprechend mit großem narrativen Aufwand gestaltet.114 Ist der Augenzeuge als glaubwürdiger Berichterstatter aber erst einmal installiert, braucht der Bericht über seinen Aufenthalt und seine Erlebnisse nichts mehr weiter mitzuteilen. Mary Campbell hat aus dem Fehlen des Subjekts in der Deskription geschlußfolgert, „it is in fact not a narrative. It is a descriptio of unprecedented scope, confident enough to present itself as the equivalent of knowledge. It is even less reportage than is Egeria's Peregrinatio. It is as declarative and impersonal in the majority of its sentences as Wonders of the East, also in its ostentatious basis in experience it places the ultimate source of authority firmly in the eyewitness."115 Damit hat sie implizit auf die entscheidende Differenz zwischen Bestiarien und den Ostasienberichten hingewiesen: Bestiarien konnten auf einen Autor verzichten, während ein Augenzeugenbericht über die Fremde einen Autor brauchte. Dessen Erlebnisse aber waren, wo sie nicht seiner Konstitution als Berichtssubjekt dienten, unerheblich, wenn nicht gar störend, weil sie die Gefahr mit sich brachten, daß der Bericht in die Nähe der fabula rückte: Augenzeugenberichte bedurften einer personalen Anbindung, nicht aber einer biographisch-personalen Erzählperspektive, um glaubwürdig zu sein. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die Präsentation des Augenzeugen in den unterschiedlichen Strängen der handschriftlichen Tradierung von Übersetzern und Redaktoren selbst übernommen wurde. Die jeweilige Funktion der Augenzeugenpräsentation wird in Francesco Pipinos Übersetzerprolog besonders deutlich, in dem er zunächst sich selbst vorstellt und angibt, er habe den Bericht im Auftrag seiner Ordensoberen „de vulgari ad latinum" übersetzt. Der Übersetzungsauftrag trat so an die Stelle des Berichtsauftrags und verschaffte dem Bericht durch diese Vermittlungsleistung den institutionellen Rückhalt, der ihm eigentlich fehlte. Den besonderen Nutzen des Berichts begründete Pipino danach damit, daß er nicht nur gläubigen wie ungläubigen Christen ein Beispiel der opera dei zu ihrer Erbauung und Ermahnung biete, sondern auch die Notwendigkeit der missionarischen Arbeit belege und die Kleriker zur Mission anspornen könne. 114 115
Vgl. Marina MUnkler, Marco Polo, S. 38f. u. S. 4 6 - 4 9 . Mary Campbell, The Witness and the Other World, S. 94.
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„(•••) et religiosorum aliquorum corda provocari poterunt pro anpliacione fidei Christiane ut nomen domini, ihesu christi, in tanta multitudine populorum oblivioni traditum, deferatur, spiritu favente domini, ad obcecatas infidelium nationes, ubi messis quidem multa operarii vero pauci."
Pipino stellte den Bericht mit dieser Beschreibung in einen völlig anderen Lesezusammenhang, als es der Rustichello-Prolog getan hatte; seine Glaubwürdigkeitsversicherung für den Berichterstatter mußte dementsprechend anders ausfallen: „Ne autem inaudita multa atque nobis insólita, que in libro hoc in locis plurimus referuntur, inexperto lectori incredibilia videantur, cunctis in eo legentibus innotescat prefatum dominum Marchum, horum mirabiliem relatorem, virum esse prudentem, fidelem ac devotum atque honestis moribus adornatum, a cunctis sibi domesticis testimonium bonum habentem, ut multipli117 eis virtutis eius mérito sit ipsius relacio fide digna."
Mit Pipinos Übersetzung verfugten die Dominikaner erstmals über einen quasi-eigenen Bericht über eines der wichtigsten Missionsgebiete, das bis dahin, sowohl in den überlieferten Berichten als auch durch die Aufteilung der Missionsgebiete, völlig von den Franziskanern beherrscht worden war. Um sich den Bericht für die Dominikaner zu eigen zu machen, mußte Pipino aber den Autor diesem Zweck angemessen präsentieren, indem er ihn als klugen, frommen und ehrwürdigen Mann bezeichnete, dessen Bericht vertrauenswürdig sei. Wer über einen Augenzeugen wie Marco Polo zum Zwecke seiner Selbstrepräsentation verfügen wollte, mußte ihm die nötigen Glaubwürdigkeitstopoi selbst unterlegen, und dafür war der Prolog, dem grundsätzlich die Funktion der Präsentation des Berichtssubjekts zukam, der geeignete Ort. Hinsichtlich der Beglaubigung des Berichts hat der Epilog als Schlußformel eine ähnliche Funktion wie der Prolog. Im Epilog wurde in der Regel die Glaubhaftigkeit des vorangegangenen Berichtes noch einmal bekräftigt, indem nochmals die eigene Augenzeugenschaft betont wurde. Carpini nutzte den Epilog darüber hinaus dazu, die Abgeschlossenheit des Berichts hervorzuheben.
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ed. Benedetto, S. CLIV. „(...) und vielleicht manche Mönche dazu bewegt würden, für die Verbreitung des christlichen Glaubens zu sorgen, damit der Name unseres Herrn Jesus Christus, der bei so vielen Völkern unbekannt ist, durch den Geist unseres Herrn zu jenen zahllosen verblendeten Nationen gebracht würde; denn die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind nur wenige." Die letzten Worte waren eine wörtliche Übernahme des Missionsaufrufs des Dominikanergenerals Humbert de Romans, der sie in Anlehnung an Matth. 9,37 formuliert hatte. ibid. „Der unerfahrene Leser darf die vielen unerhörten und uns ungewohnten Dinge, die in diesem Buch an vielen Stellen berichtet werden, aber nicht als unglaubhaft betrachten: denn der vorgenannte Herr Marcus, der diese wunderbaren Dinge berichtet, wird von allen, die ihn kennen, als kluger, vertrauenswürdiger und frommer Mann, den ehrenhafte Sitten zieren, beschrieben. Und wegen seiner zahlreichen Tugenden kann sein Bericht als vertrauenswürdig betrachtet werden."
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Der Epilog war meist kürzer als der Prolog, weil er den Autor nicht mehr präsentieren mußte, sondern nur noch einmal seine Wahrhaftigkeit beteuerte. Nur bei Odorico de Pordenone, dessen Bericht mit einem sehr knappen Prolog angehoben hatte, war der Epilog etwas ausfuhrlicher und beteuerte in einer quasi-juridischen Formel seine Wahrhaftigkeit: „Ego Fr. Odoricus de Foro Julii de Ordine fratrum Minorum testificor et testimonium perhibeo reverendo patri Fr. Guidoto, Ministro provincie S. Anthonii, cum ab eo fuerim per obedientiam requisitus, quod hec omnia que superius scripta sunt, aut propriis oculis ego vidi aut ab hominibus fide dignis audivi. Comunis autem locutio illarum contratarum illa que non vidi testatur esse vera. Multa etiam alia ego dimisi que scribi non feci, cum ipsa quasi incredibilia apud aliquos viderentur, nisi illa propriis oculis perspexissent."
Odorico beschwor hier nicht nur unbestimmt bleibenden Lesern seine Wahrhaftigkeit, sondern gab an, einen Eid vor dem franziskanischen Provinzialminister von Padua abgelegt zu haben, der damit die Stelle eines in den Paratext eingerückten Richters einnahm, der den Bericht bereits abgesegnet hatte. Odoricos Beglaubigungsformel war freilich insofern ungewöhnlich, als er sich im dritten Teil auf ein Allgemeinwissen (icomunis locutio) bezog, das man leicht auch als Gerede oder Gerüchte hätte abtun können, und das insofern eher geeignet hätte sein können, seine Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. Odorico knüpfte hier nämlich keineswegs an tradiertes Wissen an, denn er bezog sich nicht auf das Wissen, das man in Europa von jenen fremden Landstrichen hatte, sondern auf das, was bei den Fremden comunis locutio war. Als zusätzliche Bekräftigung, die nur zur Ergänzung der eigenen Augenzeugenschaft angeführt wurde und sich auch nur auf das bezog, was er selbst nicht gesehen hatte, war sie aber hinreichend abgestuft, um die Glaubwürdigkeit des Berichts nicht zu gefährden. Die ungewöhnliche Berufung auf die comunis locutio zur Ergänzung der Augenzeugenschaft scheint Odoricos deutscher Übersetzer Konrad Steckel jedenfalls nicht als problematisch empfunden zu haben, denn er übersetzte sie mit „ein offen vnd ein gemainew gewissn ist gewesn in den landn, reichn vnd gegentn, da jch durich geuarn vnd gegangn han". 120 Daß die ge118
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ed. Menestö, S. 332. „Ich bitte alle, die den vorstehenden Bericht lesen, nichts wegzunehmen und nichts hinzuzufügen, denn ich habe alles so, wie ich es gesehen oder von anderen, die ich für glaubwürdig halte, gehört habe, an der Wahrheit orientiert aufgeschrieben, ohne wissentlich etwas hinzuzufügen - Gott sei mein Zeuge" (ed. Schmieder, S. 121). ed. Wyngaert, S. 494. „Ich, Bruder Odorich aus Friaul, aus dem Minoritenorden, bezeuge und bekräftige vor dem ehrwürdigen Vater, Bruder Guidoto, Provinzialminister zu St. Antonius, von dem ich dazu unter Hinweis auf meine Gehorsamspflicht aufgefordert worden bin, daß ich alles, was oben aufgeschrieben steht, entweder mit eigenen Augen gesehen oder von glaubwürdigen Leuten erfahren habe. Das, was ich nicht gesehen habe, wird außerdem durch die allgemeine Meinung von diesen Ländern bezeugt. Vieles anderes habe ich übergangen und nicht aufzeichnen lassen, da es manchen Leuten unfaßbar scheinen könnte, die es nicht mit eigenen Augen gesehen haben" (ed. Reichert, S. 128). ed. Strasman, S. 39.
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samte Beglaubigungsformel erst am Schluß des Berichts erfolgte, scheint ihn dagegen gestört zu haben; jedenfalls rückte er in seiner Übersetzung die Schlußformel an den Anfang und machte aus dem Epilog einen Prolog. Ein Bezug auf überliefertes Wissen findet sich nur in einigen der englischen und einer einzigen der lateinischen Mandeville-Handschriften. 121 Mandeville (oder ein Interpolator) verknüpfte an dieser Stelle sehr geschickt den Bezug auf die höchste Autorität in Glaubensfragen mit dem impliziten Bezug auf andere Zeugen und der Versicherung der eigenen Augenzeugenschaft. Damit überbot sein Bericht ein weiteres Mal seine Vorgänger, denn wo Odorico nur einen Provinzialminister angeführt hatte, bemühte Mandeville den Papst, und wo die anderen nur ihre Augenzeugenschaft bekräftigt hatten, führte Mandeville seine Augenzeugenschaft als bereits bestätigt an. „And for als mickle as many men trow not but at they see with their eyes, or that they may conceive with their own kindly wits, therefore I made my way in my coming homeward unto R o m e to show my book til our holy father the Pope. And I told him the marvels which I had seen in divers countries, so that he with his wise counsel would examine it with divers folk that are in R o m e , for there are evermore dwelling men of all nations of the world. And a little after, when he and his wise counsel had examined it all through, he said to me for certain, that all w a s sooth that was therein. For he said that he had a book of Latin that contained all that and mickle m o re, after which book the Mappa Mundi is made; and that book he showed to me. And therefore our holy father the Pope has ratified and confirmed my book in all points."
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Die Berufung auf die höchste kirchliche Autorität ist hier sehr viel weniger traditionell, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn sie ist gepaart mit der Berufung auf die „dwelling men of all nations of the world", die den Bericht überprüft haben sollen. Der besondere argumentative Witz der Stelle beruht aber darauf, daß Mandeville anschließend das lateinische Buch als Augenzeuge beglaubigt, das seine Augenzeugenschaft beglaubigen soll. 123 Die Beispiele zeigen, daß die angeführten Glaubwürdigkeitstopoi zwischen den einzelnen handschriftlichen Varianten um so stärker schwankten, je mehr die Fremde zu einem Element der Selbstpräsentation wurde. Solange alles eine Frage der Glaubhafitig121
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Die Interpolation findet sich in der englischen Cotton-, der Defective- und der Egerton-Version und in der lateinischen Handschrift der Durham University MS. Cosin V. iii. 7, f. 83v. Sie ist in den verschiedenen Handschriften jedoch nur in den Grundzügen identisch. Vgl. Michael Seymour, T h e Bodley Version, S. 174f. ed. Letts, S. 222 (Egerton-Text). „Und weil so viele Menschen nur dem trauen, was sie mit eigenen A u g e n gesehen haben, oder was sie mit ihren eigenen natürlichen Sinnen begreifen können, bin ich auf dem Heimweg über Rom gereist, um mein Buch unserem Heiligen Vater, dem Papst, zu zeigen. Und ich berichtete ihm von den Wundern, die ich in verschiedenen Ländern gesehen hatte, damit er es mit seinem weisen Rat und den verschiedenen Leuten, die in Rom sind, überprüfen könnte, denn dort sind zahllose Bewohner aus allen Nationen der Welt. Und wenig später, als er und sein weiser Rat es ganz überprüft hatten, sagte er mir f ü r gewiß, daß alles wahr sei, was darin stand. Denn er sagte, daß er ein lateinisches Buch habe, das alles das und noch viel mehr enthalte, und nach diesem Buch ist die Weltkarte gefertigt; und dieses Buch zeigte er mir. Und deshalb hat unser Heiliger Vater, der Papst, mein Buch in allen Punkten bestätigt und bekräftigt." Vgl. auch Stephen Greenblatt, Marvellous Possessions, S. 34f.
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keit war, mußten diejenigen, die am Diskurs über die Fremde teilnehmen wollten, sich einen Augenzeugen aneignen und dessen Glaubwürdigkeit, wo sie nicht institutionell gesichert war, argumentativ stützen. Da die beglaubigende Identitätszuschreibung bei Marco Polo durch den Text selbst geleistet wurde und die unterschiedlichsten Gruppen sich seinen Bericht aneigneten, ist es nicht verwunderlich, daß mit den Varianten des Textes auch die Identitätszuschreibung variiert: In der Überlieferung von Marco Polos Bericht ging es nicht mehr darum, die Fremde zu befragen und den Stellenwert der Fremden innerhalb der eschatologisch gedachten Geschichte zu ergründen, sondern darum, sich die Fremde als einen Gegenstand anzueigenen, über den man ein Wissen hatte. Diese Aneignung der Fremde aber erfolgte über die Aneignung des Berichtssubjekts. Die topische Situierung des Augenzeugen bot aber nicht nur genügend Platz für dessen Aneignung, sondern auch für die Erweiterung des Berichts. Dafür bot insbesondere jener Exordialtopos geeignete Handhabe, in dem der Augenzeuge versicherte, er habe nicht alles oder nicht einmal die Hälfte dessen berichtet, was er gesehen habe.124 Das Wissen des Zeugen überbot allemal den Inhalt des Berichts, der stets hinter der Wirklichkeit der gesehenen Wunder und Merkwürdigkeiten zurückblieb. Das Augenzeugenwissen wurde damit einerseits in seiner Exklusivität bekräftigt, andererseits war es aber zugleich offen für Hinzufügungen - Hinzufügungen durch Augenzeugen, die seinen Bericht ergänzen konnten, aber auch Hinzufügungen unter seinem Namen, denn da der Augenzeuge weit mehr gesehen hatte, als er mitteilte, konnte ihm auch als Augenzeugnis unterlegt werden, was mitgeteilt werden sollte. Oder anders gesagt: Da alles was berichtet wurde, gesehen worden war, andererseits aber nicht alles Gesehene berichtet wurde, konnte alles, was gesehen worden sein könnte, auch gesagt werden - unter dem Namen des Augenzeugen. Im Epilog der Cotton-Version nahm John Mandeville explizit Bezug auf solche Leerstellen des Berichts und betonte in einer neuerlichen Amplifikation des Topos, er habe absichtlich vieles ausgelassen, damit auch andere noch von neuen Dingen berichten könnten: „And also in the countries where i have been be many more diversities o f many wonderful things than I make mention of, for it were too long thing to devise you the manner. And therefore that that I have devised you of certain countries that I have spoken of before, I beseech your worthy and excellent noblesse that it suffice to you at this time. For if that I devised you all that is beyond the sea, another man peradventure that would pain him and travail his body for to g o into those marches for to ensearch those countries might be blamed by my words in rehearsing many strange things. For he might not say nothing of new in the which the hearers might have either solace or disport or lust or liking in the hearing, for men say always that new things and new tidings be pleasant to hear. Wherefore i will hold me still without any more rehearsing of diversities or of marvels that be beyond, to that intent and end that whoso will go 125 into those countries, he shall find enough to speak of that I have not touched of in no wise."
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Vgl. hierzu Hartog, S. 283ff.
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ed. Michael Seymour (Cotton-Version), S. 242f. „Und es gibt auch in den Ländern, in denen ich gewesen bin, mehr Verschiedenheiten und wunderbare Dinge als ich erwähnt habe, denn es wäre zu langwierig euch alles zu erklären. Und weil ich euch über jene Länder, von denen ich zuvor gesprochen habe, unterrichtet habe, bitte ich eure werte und exzellente Hoheit, daß es für diesmal
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Diese Amplifikation des Topos von der Uneinholbarkeit der Welt durch den Bericht steigerte einerseits die Exklusivität des Augenzeugenwissens, andererseits verminderte es sie und hielt so den Augenzeugen in der Schwebe als den Fokus zwischen der Begrenztheit des Berichts und der Fülle der Welt. Sie steigerte seine Exklusivität, indem sie mit der behaupteten Absicht der Auslassungen selbst das, was künftig berichtet werden würde, zumindest der Möglichkeit nach in sein vorhandenes Wissen verlegte, aber sie verminderte die Exklusivität des Augenzeugen, indem sie zugestand, daß noch vieles berichtet werden könnte, was sich im vorstehenden Bericht nicht fand. Die Fremde konnte, selbst im umfänglichsten Bericht, der wie kein anderer den Anspruch auf Vollständigkeit erhob, ein Reservoir von Neuigkeiten und Merkwürdigkeiten bleiben, die es zu entdecken galt. Freilich konnte Mandeville, wie in der Bodley-Version, auch genau das Gegenteil erklären: „Wherefore I prei entierly to alle tho that this bok redyn or writyn that they redin no more ne writyn than I haue wretyn, for that i haue wrety is trewe."
Die aus der mittelalterlich-christlichen Kritik an der curiositas von der Forschung gezogene falsche Schlußfolgerung, die Augenzeugen hätten tunlichst den Eindruck vermeiden wollen, sie berichteten von gänzlich Neuem, geht an den Berichten völlig vorbei, weil sie in problematischer Weise theologische und erkenntnistheoretische Problemstellungen vermischt. Dabei verkennt sie, daß eine negativ konnotierte curiositas zwar einen Bezug zum Sehen hat, Sehen aber nicht unbedingt einen eindeutigen Bezug zur curiositas.ni Nicht alles was mit den Augen gesehen und betrachtet wurde, fiel unter das Verdikt der concupiscientia occulorum. Wo dem Bericht ein uti zugeschrieben werden konnte, wurde der Begriff der curiositas vielmehr zum Zeichen engagierten Wissenserwerbs und dokumentierte die Bedeutsamkeit des übermittelten Wissens. Interessant im Hinblick auf die Begründung eines uti ist vielmehr, daß die Berichte in ihrer handschriftlichen Tradierung sich diese Rolle zunehmend selbst aneigneten. Der Nutzen lag genug sei. Denn wenn ich euch über alles unterrichten würde, was jenseits des Meeres ist, würde ein anderer Mann, der eine solche beschwerliche und mühsame Reise auf sich nähme, durch meine Worte dazu verdammt sein, die vielen wunderbaren Dinge zu wiederholen. Denn er könnte nichts neues sagen, was den Hörern Vergnügen oder Unterhaltung oder Spaß oder Freude zu hören bereitet, denn die Menschen sagen immer, daß neue Dinge und neue Nachrichten angenehm zu hören sind. Deswegen höre ich auf und sage nichts mehr über die Verschiedenheiten oder über die Wunder, die es jenseits [des Meeres] gibt, damit derjenige, der diese Länder besucht, noch genug finden kann, worüber er sprechen kann, und was ich in keiner Weise berührt habe." 126
127
ed. Seymour, Bodley Version, S. 147. „Deshalb bitte ich inständig alle, die dieses Buch lesen oder abschreiben, daß sie nicht mehr lesen oder schreiben als das, was ich geschrieben habe, denn das, was ich geschrieben habe, ist wahr." Vgl. etwa Christian K. Zacher, Curiosity and Pilgrimage, für den Neugier und Sehen weitgehend identische Begriffe sind: „For the curious, most of the time, seeing is believing" (S. 144). Zacher verkennt dabei völlig die Funktion der Augenzeugenschaft als Beglaubigungstopos der Historiographie und verwandelt daher ausgerechnet jenen Reisenden in einen neugierigen Betrachter, der selbst reiner Buchstabe oder, wie Stephen Greenblatt erklärt hat, eine Textchimäre, ist: John Mandeville.
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Reisen, Erfahrung und die Konstituierung des Subjekts
immer häufiger nicht - wie bei Carpini - außerhalb, sondern innerhalb des Berichts. In einer französischen Rückübersetzung der lateinischen Pipino-Fassung, die vermutlich gegen Ende des 15. Jahrhunderts entstand, wurde Beschreiben als der eigentliche Grund für die Reisen Marco Polos, seines Vaters und seines Onkel angegeben, und die curiosité damit zu einer positiv besetzten Voraussetzung der Beschreibung erhoben: „Treshonnorable homme prudent et saige missere marc paoul natif de la cité de venise passant et tournoiant les parties de orient pour causes raisonnables en la compaignie de son pere missire nicole paoul et de son oncle missire mathieu, hommes de grant honneur et de saincte vie, voulut curieusement enquerir des coustumes merveilleuses et diverses condicions et usaiges des régions et parties de orient pour dicter et escripre ce present livre."
Curieusement enquerir ist hier eindeutig positiv besetzt, weil sie die Voraussetzung der Beschreibung ist: Der Bericht selbst ist damit das uti, das die curiositas rechtfertigt. Daraus spricht durchaus kein neues Selbstbewußtsein des beschreibendes Subjekts, sondern ein Element in der Zuschreibung seiner Glaubhaftigkeit: Wer neugierig forscht, kann wahr berichten. In der Gefahr, dem Verdikt der concupiscentia oculorum und damit einer negativ besetzten curiositas anheimzufallen, standen am ehesten Pilger, weil bei ihnen der Verdacht nahelag, sie würden von ihrem eigentlichen Ziel abweichen oder aber die Pilgerreise überhaupt nur unternehmen, um völlig andere Dinge zu schauen. Mandeville umging diese Gefahr mit einer Umbesetzung der Pilgerschaft von der Bußfahrt zur Schau der göttlichen Wunder, die sich nicht auf Ablaßorte und eine vorgeschriebene Pilgerstrecke beschränken mußte, sondern Gottes wunderbare Werke an allen Orten der Fremde auffinden und als Spiegel der eigenen Heilsgewißheit betrachten konnte. Unter dem Aspekt der Glaubhaftmachung des Berichts in den Paratexten muß daher auch der Lügenverdacht gegenüber den Reiseberichten neu betrachtet werden. Der Verdacht, daß der Reisende lüge, hat den Reisebericht bis in die Neuzeit begleitet wie ein nicht abschüttelbarer Schatten. 129 Schon gegen den antiken Historiker Herodot, der die „Darlegung seiner Erkundungen" 130 vorwiegend auf Reisen stützte, wurde der Vorwurf erhoben, er sei nicht nur, wie Cicero ihn nannte, der „pater historiae", der Vater der Ge131
schichte, sondern auch der „pater mendacii", der Vater der Lüge. Ob sich aus dem Verdacht der Lügenhaftigkeit allerdings ein prinzipieller Vorbehalt gegenüber dem Au128
Benedetto, S. CXLV (Hervorhebung MM). „Der sehr ehrenwerte, kluge und verständige Herr Marco Polo, geboren in Venedig, durchreiste und umfuhr den östlichen Teil der Welt aus vernunftgemäßen Gründen in Begleitung seines Vaters, Herrn Niccolo Polo, und seines Onkels, Herrn Mathieu, Männern von großer Ehrwürdigkeit und heiligmäßigem Leben, weil er neugierig die merkwürdigen Gewohnheiten und die unterschiedlichen Sitten und Gebräuche der verschiedenen Regionen und Teile des Ostens erkunden wollte, damit er sie in diesem gegenwärtigen Buch aufschreiben lassen und beschreiben könne."
129 130
Vgl. dazu William E. Stewart, Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts, Bonn 1978, S. 2 2 - 2 8 , sowie Peter J. Brenner, Die Erfahrung der Fremde, S. 14. Zum genauen Titel und seiner begrifflichen Konnotation vgl. Christian Meier, Die Entstehung der Historie, S. 258. Vgl. auch ders., Art. Geschichte, II. 1 : Terminologie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 596.
131
Vgl. François Hartog, The Mirror of Herodotus, S. XVIII.
Reisen, Erfahrung und die Konstituierung des Subjekts
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genschein der Erfahrung ableiten läßt, wovon jene Teile der Forschung ausgehen, die einen Kausalzusammenhang zwischen Unglaubwürdigkeit und Beobachtungswissen hergestellt haben, kann sich erst bei einer genaueren Betrachtung der Glaubwürdigkeitskriterien erweisen, die in den Texten formuliert oder von außen an sie herangetragen werden. Für sich betrachtet weist der Verdacht der Lügenhaftigkeit zunächst auf die Kluft zwischen den Reisenden und den Daheimgebliebenen hin: Das Wissen, über das die Reisenden verfugten, war nicht Allgemeingut, sondern bewegte sich jenseits des Horizonts des habituell Vertrauten. Wovon die Reisenden berichteten, war schon deshalb unvertraut, weil es fern war, und die Distanz, die sie hatten zurücklegen müssen, um nach „dort" zu gelangen, markierte zugleich die Distanz an Vertrautheit, die zwischen dem Gegenstand der Berichte und deren Leser lag. Nicht alle Reisenden brauchten deswegen als Lügner zu gelten, aber allen konnte die Möglichkeit zu lügen unterstellt werden, solange sie die alleinige Vermittlungsinstanz zwischen dem Berichteten und den Adressaten des Berichts waren. Damit befanden sich die Reisenden als Beschreibende in einer prekären Lage: Einerseits bestimmte sich der Wert ihrer Berichte darin, daß sie mitteilten, was sonst nicht erfahren worden wäre, weil es nur erfahren (im Wortsinne) werden konnte, andererseits setzte sie die Nichtüberprüfbarkeit ihrer Behauptungen dem Verdacht der Lüge aus. 132 Stephen Greenblatt hat dies als das Dilemma der Augenzeugen bezeichnet, das sich darin manifestiere, „that they implicitly call attention to the reader's lack of that very assurance - direct sight - that is their own source of authority". 133 Dieses Dilemma gründete in den Konstitutionsbedingungen des Diskurses über die Fremde selbst: Da es weder verbindliche Annahmen über die in der fremden Welt des Ostens anzutreffenden Lebens- und Gesellschaftsformen noch eine Wissenschaft vom Fremden gab, die mittels einer verbindlichen Methodik die Möglichkeiten der Beschreibung begrenzte, konnte die Wahrheit der Aussagen nur durch die Wahrhaftigkeit der Augenzeugen gesichert werden. Für die argumentative Strukturierung dieses Diskurses ist kennzeichnend, daß das Problem der Erfahrung des Fremden mit dem im Raum stehenden Verdacht der Lügenhaftigkeit ausschließlich auf der moralischen Ebene und nicht auf der Ebene der Erkenntnismöglichkeiten diskutiert wurde: Nicht die Fähigkeit eines mit seinem Gegenstand unvertrauten Beobachters, diesen Gegenstand begreifen und demzufolge adäquat beschreiben zu können, wurde in Zweifel gezogen, sondern die Wahrhaftigkeit eines Sprechers, dessen Aussagen faktisch nicht überprüfbar waren. 134
132
Zur Doppeldeutigkeit von erfahren als Bewegungsverb und als Erkenntnisweise insbesondere im frühneuhochdeutschen Sprachgebrauch vgl. Jan-Dirk Müller, Erfarung zwischen Heilssorge, Selbsterkenntnis und Entdeckung des Kosmos, bes. S. 307ff.
133 134
Stephen Greenblatt, Marvelous Possessions, S. 34. In eine ähnliche Richtung zielend, hat Wolfgang Neuber konstatiert, daß der Vorwurf der Lügenhaftigkeit die gattungskonstitutive Forderung nach Wahrhaftigkeit impliziere. Vgl. Wolfgang Neuber, Die frühen deutschen Reiseberichte, S. 43f. Demgegenüber argumentiert Peter J. Brenner von völlig anderen Voraussetzungen her, wenn er schreibt: „Die unlautere Nähe des Reiseberichts zur Fiktion wird in diesem Fall zu einem erkenntnistheoretischen Problem. Sie wirft die grundsätzliche Frage auf, welchen Möglichkeitsbedingungen die Erfahrung der Fremde überhaupt unterliegt und mit welchen Mitteln sie zu bewältigen ist" (Die Erfahrung der Fremde,
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Aussagenlogisch betrachtet geht dies bereits aus dem Vorwurf der Lüge selbst hervor, denn der Vorwurf der Lüge ist nur unter der Prämisse denkbar, daß wahre Aussagen aufgrund von Augenzeugenschaft möglich seien: Lügen kann nur, wer auch die Wahrheit sagen kann. 135 Daß der Reisende allerdings die Wahrheit sagte, ließ sich weder beweisen noch widerlegen - außer durch andere Reisende, die freilich unter denselben Verdacht fielen. Nur der Reisende konnte die Wahrheit seines Berichts verbürgen, und deshalb konnte sie nur an seiner Wahrhaftigkeit überprüft werden. Die einzige Garantie und Überprüfungsinstanz des Reiseberichts war die Glaubhaftigkeit des Zeugen. 136 Daraus spricht aber gerade kein Mißtrauen gegenüber dem Augenschein der Erfahrung, sondern im Gegenteil ein unerschütterliches Vertrauen in den Augenschein: Daran, daß etwas so sein könne, wie es gesehen wurde, herrschte gar kein Zweifel; die Frage war daher, ob es wirklich so gesehen worden war, wie es beschrieben wurde. Das aber war keine Frage der Erkenntnis, sondern eine Frage der Glaubwürdigkeit. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage, woran die Glaubhaftigkeit des Augenzeugen festgemacht wurde. Wie ich oben gezeigt habe, hat die Forschung in der Übereinstimmung mit der Überlieferung das entscheidende Kriterium für die Glaubhaftigkeit des Reisenden gesehen und dazu auf zwei Argumentationsebenen rekurriert: einerseits die Ebene der unmittelbaren Übereinstimmung mit dem in den tradierten Texten Beschriebenen, andererseits die Ebene der Übereinstimmung mit den durch das christliche Weltbild begründeten und durch die Überlieferung bestätigten Wahrscheinlichkeitsgrenzen. 137 Betrachtet man jedoch die dokumentierten Äußerungen zeitgenössischer Leser, Hörer und Schreiber, so fällt auf, daß sie die Glaubwürdigkeit des Reisenden gerade nicht an der Wahrscheinlichkeit der von ihm berichteten Gegenstände festmachen. Im Gegenteil, das Unwahrscheinliche, Unvertraute, Unerhörte - und das heißt durchaus nicht nur das uns unwahrscheinlich scheinende Monströse - wurde als Element der Beschreibung der Fremde offensichtlich erwartet und deshalb nicht als Grund angeführt, an der Glaubhaftigkeit des Reisenden zu zweifeln. Selbst der belesene Chronist Matthaeus Parisiensis, der seit 1237 alle ihm zugänglichen Nachrichten über die Mongolen gesammelt hatte und vermutlich einer der besten Mongolenkenner der Zeit war, argumentierte S. 14). Das ist prinzipiell zweifellos richtig, geht insofern aber an den argumentativen Konstitutionsbedingungen des spätmittelalterlichen Reiseberichts vorbei, als die Möglichkeitsbedingung der Erfahrung vom Vorwurf der Lüge gerade nicht berührt wird. 135
Die Anhörung von Zeugen vor Gericht beruht bis heute auf genau dieser Voraussetzung: Zeugen können lügen oder die Wahrheit sagen, weshalb bei Fehlen anderer Beweismittel immer die Glaubwürdigkeit des Zeugen durch Zusatzargumente gestützt oder von der Gegenseite widerlegt werden muß. Daß eine Behauptung immer auch ihr konträres Gegenteil als möglich voraussetzen muß, hat Aristoteles in der Rhetorik erläutert: „Wenn das konträre Gegenteil als seiend oder werdend möglich ist, so kann man annehmen, daß auch das, was diesem entgegengesetzt ist, möglich ist: Wenn es z. B. möglich ist, daß ein Mensch gesund ist, so auch, daß er krank wird; denn die Potenz der Gegensätze ist, sofern es sich um Gegensätze handelt, dieselbe." (Aristoteles, Rhetorik, 1392 a ).
136
Vgl. Jan-Dirk Müller, Erfarung zwischen Heilssorge, Selbsterkenntnis und Entdeckung des Kosmos, S. 311. Den Begriff der „Wahrscheinlichkeitsgrenzen" hat Friederike Hassauer geprägt; vgl. Volkssprachliche Reiseliteratur, S. 283.
137
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nicht mit der Plausibilität d e s Berichts, sondern mit der G l a u b w ü r d i g k e i t d e s Z e u g e n , als er über d e n B e r i c h t A n d r e a s ' v o n L o n g j u m e a u in seiner Chronica
maiora
schrieb:
„Frater memoratus narravit multa alia quae omnem credulitatem excedunt, nisi ipsius auctoritas fidem dictis praestaret." Auctoritas w u r d e v o n M a t t h a e u s Parisiensis d e m z u f o l g e nicht an der Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t d e m Ü b e r l i e f e r t e n g e m e s s e n , sondern b e z e i c h n e t e allein d i e G l a u b h a f t i g k e i t d e s Z e u g e n , d i e s i c h nicht an der Wahrscheinlichkeit s e i n e s Berichts oder an d e s s e n Übere i n s t i m m u n g m i t der Tradition b e m a ß . Selbst dort, w o m a n d e m Bericht mit S k e p s i s b e g e g n e t e , stellte m a n in R e c h n u n g , daß alles, w a s der R e i s e n d e berichtete, w a h r s e i n k ö n n e . S o findet sich in einer t o s k a n i s c h e n M a r c o P o l o - H a n d s c h r i f t v o m E n d e d e s 14. Jahrhunderts e i n E p i l o g d e s Schreibers, in d e m dieser abwägt, o b M a r c o P o l o l ü g e o d e r nicht: „Qui finisce il libro di messere Marcho Polo da Vinegia, il quale scrissi io Amelio Bonaguisi di mia mano essendo podestà di Ciereto Guidi per passare tenpo e malinconia, come che mi paiono cose incredibili e paionomi il suo dire non bugie, anzi più che miracoli. E bene potrebbe essere vero quello di che ragiona, ma io non lo credo; tuttavia per lo mondo si truovano assai isvariate cose d'uno paese a un altro." „ B u g i e " o d e r „miracoli" - das ließ sich v o n der Faktenseite her nicht e n t s c h e i d e n , da m a n v o n ihr j a nur durch d e n R e i s e n d e n Kenntnis hatte. A l l e s h i n g d a v o n ab, o b der r e i s e n d e Berichterstatter g l a u b w ü r d i g war oder nicht. W e n n n o c h Sebastian Franck in s e i n e m Weltbuch v o n 1 5 3 4 betont, er habe nicht die „ l u g e n h a f f t histori" 1 4 0 v o n St. Brandan, B e r o s o oder M a n d e v i l l e benutzt, sondern f o l g e nur s o l c h e n „ w e l l t s c h r e i b e r n / die yhr reyß v n n d hystorien g r o ß m e c h t i g e n K ü n i g e n und K e y s e r n h a b e n dediciert / da y e nitt z u o v e r m u o t t e n ist/ das s y d i s e n l u g e n h a b e n z u o g e s c h r i b e n / v n d m i t eitteln erdichten Worten hoffiert", 1 4 1 dann beruht dies a u f derselben Argumentationsstruktur, d e n n auch er 138
139
140
141
Matthaeus Parisiensis, Chronica maiora, VI, S. 115. „Der erwähnte Bruder erzählte von vielen anderen Dingen, die alle Glaubhaftigkeit übersteigen würden, wenn nicht seine Verbürgung [iauctoritas] ihre Glaubwürdigkeit gewährleistete." Zu Matthaeus' Mongolenkenntnissen vgl. J. J. Saunders, Matthew Paris and the Mongols; sowie Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 63-65. ed. Bertolucci Pizzorusso, S. 333. „Hier endet das Buch von Messer Marco Polo aus Venedig, welches ich, Amelio Bonaguisi, Bürgermeister von Ciereto Guidi, mit eigener Hand abgeschrieben habe, um mir die Zeit und die Melancholie zu vertreiben. Er berichtet von Dingen, die mir unglaublich zu sein scheinen, aber was er sagt, scheint mir nicht erlogen, sondern vielmehr wunderbar zu sein. Und es kann gut sein, daß das, wovon er berichtet, wahr ist, aber ich glaube es nicht; nichtsdestotrotz finden sich auf der Welt von einem Land zum anderen genügend unterschiedliche Dinge." Sebastian Franck, Weltbuch, Fol. [i]v. Im Titel betont Franck, er habe sein Weltbuch „nitt aus Beroso/ Joanne de monte villa/ S. Brandonis histori/ vn dergleichen fabeln" abgeschrieben. Franck bedient sich damit der rhetorischen historia-Deüniüon und unterscheidet historia und Jabula ausschließlich über den zuerkannten Wahrheitsgehalt ohne Rückgriff auf narrative Strukturen. Sebstian Franck, Weltbuch, Fol. [i] v . Der von Franck erhobene Vorwurf, Mandeville sei ein Lügner, ist von Klaus Ridder (Jean de Mandevilles »Reisen«, S. 1) als früher Beleg für den
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begründete die Glaubhaftigkeit des Reisenden nicht mit der Plausibilität der von ihm beschriebenen Gegenstände, sondern allein mit der Plausibilität seiner Wahrhaftigkeit. Da diese aber nicht am Gegenstand verifiziert werden konnte, mußten beglaubigende Elemente, wie in diesem Fall die Adressierung der Berichte an Könige und Kaiser, zusätzlich an die Texte angebunden werden. Mit dem Widmungstopos bediente Franck sich eines Arguments, das zu den klassischen Beglaubigungstopoi zählt. 142 In seiner argumentativen Begründung blieb der Widmungstopos dem Gegenstand des Berichts ebenso äußerlich wie der auctoritas-Topos bei Matthaeus Parisiensis, denn er diente nicht der Plausibilisierung von dessen Inhalt, sondern begründete die Glaubwürdigkeit des Berichtssubjekts. Das geschah - nur scheinbar paradox - dadurch, daß in den Berichten selbst der Lügenverdacht stets angeführt wurde: Tatsächlich wurde er nirgends häufiger geäußert, als in den Berichten, die ihm ausgesetzt waren. Der Verdacht der Lüge wurde so zum Erkennungszeichen für eine Gattung, deren Anspruch darin bestand, nur Wahres mitzuteilen. Und eben deswegen eignete sich der Vorwurf dafür, in „utramque partem" zur Bekräftigung der Glaubhaftigkeit des Berichtssubjekts eingesetzt zu werden, denn stärker als die Behauptung der eigenen Wahrhaftigkeit konnte die argumentative Widerlegung des Lügenverdachts die Glaubhaftigkeit des Berichts unter Beweis stellen. Auf den Vorwurf der Lüge in Kombination mit dem Gegensatz von vertraut versus unvertraut rekurrierten die Reiseberichte in den Prologen daher häufig, um die Wahrheit des Berichts zu bekräftigen. Johannes de Piano Carpini schloß seinen Prolog mit den Worten: „Sed si aliqua scribimus propter notitiam legentium, que in vestris partibus nesciuntur, non debetis propter hoc nos appellare mendaces (...); immo est valde crudele ut homo, propter bonum quod facit, ab aliis infametur."
Die argumentative Funktion des durch den Autor selbst ausgesprochenen Verdachts der Lüge besteht hier nicht darin, sich vorbeugend gegen tatsächliche Verdächtigungen zu verteidigen, sondern darin, einerseits die Exklusivität seines Wissens herauszuheben, indem er den angesprochenen Leser auf dessen beschränktes Wissen hinweist („in vestris partibus nesciuntur") und andererseits sein eigenes Verdienst um die Beschaffung dieses Wissens zu betonen („bonum quod facit"). Wie unglaublich alles sei, was sie in der Fremde erfahren hätten, betonten denn auch nahezu ausnahmslos alle Berichte. Wer nicht dort gewesen sei, so versicherte Odorico mehrfach auch innerhalb des Textes, könne nicht glauben, welche mirabilia es in jenen Ländern gebe:
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Glaubwürdigkeitsverlust des Textes gelesen worden, nachdem sich eine auf empirische Erfahrung gegründete Sicht der Welt durchzusetzen begonnen habe. Werner Röcke (Die Wahrheit der Wunder, S. 267) hat dagegen bereits früher hervorgehoben, daß es sich um „keine rationalistische, sondern eine theologische Kritik" handelte. Vgl. dazu auch Jan-Dirk Müller, Alte Wissensformen und neue Erfahrungen, S. 178, der betont hat, daß Franck seine Kritik an St. Brandan und Mandeville nicht quellenkritisch, also nach humanistischen Maßstäben, sondern moralisch begründet habe. Zur Verwendung von Beglaubigungstopoi bei Franck und anderen frühneuzeitlichen Historikern vgl. Wolfgang Neuber, Die frühen deutschen Reiseberichte, S 45f. ed. Menestö, S. 228.
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„Multe alie novitates illic habentur quas non scribo, nam si homo eas non videret, credere non posset, quia in toto mundo non sunt tot et tanta mirabilia quot sunt in isto regno. Hec autem scribi feci, quia certus sum et in nullo dubito quot sicut refero ita est." V e r s c h i e d e n t l i c h w u r d e d i e s e Art der G e g e n ü b e r s t e l l u n g n o c h d u r c h d i e F o r m u l i e r u n g überboten, „ich würde es selbst nicht glauben, w e n n ich es nicht mit e i g e n e n A u g e n g e s e h e n hätte". In d i e s e r F o r m e l überspringt der Berichterstatter s c h e i n b a r d i e für d i e D i s k u r s i v i e r u n g der F r e m d e k e n n z e i c h n e n d e D i s t a n z z w i s c h e n A u g e n z e u g e n u n d L e s e r , i n d e m er s i c h d e s s e n v o r g e b l i c h e n E i n w a n d z u e i g e n m a c h t , u m d i e W a h r h a f t i g k e i t s e i n e s B e r i c h t s z u b e k r ä f i g e n . D e r A u g e n z e u g e n s c h a f t w i r d hierin n o c h stärker d i e Funktion eines unwiderleglichen A r g u m e n t s z u g e w i e s e n , die gerade durch die U n g l a u b l i c h k e i t d e s B e r i c h t s ihre e i g e n t l i c h e B e s t ä t i g u n g
findet.145
In der F u n k t i o n e i n e s b e g l a u b i g e n d e n A r g u m e n t s k o n n t e der T o p o s der L ü g e n h a f t i g k e i t i m m e r w e i t e r a m p l i f i z i e r t u n d narrativiert w e r d e n . J a c o p o d ' A c q u i , der in s e i n e Imago
Mundi
seu
Chronica
e i n e R e i h e v o n T e x t s t e l l e n a u s M a r c o P o l o s B e r i c h t über-
n o m m e n hatte, stellte d i e s e n A u s z ü g e n e i n e B e s c h r e i b u n g d e s A u t o r s v o r a n , in der er d e n b e h a u p t e t e n L ü g e n v o r w u r f s e h r u m s i c h t i g zur B e g l a u b i g u n g d e s T e x t e s e i n s e t z t e . „Iste dominus Marchus multo tempore fuit cum patre suo et avunculo suo in Tartaria et multa ibi vidit (...). Et ideo Ianue existens in carcere facit librum de magnis mirabilibus mundi, de hiis scilicet que vidit. Et minus dicit quam viderit propter linguas detrahentium, qui de facilli imponunt aliis mendacia, et iudicant temere mendacium quod ipsi mali credere vel intelligere nolunt. Et vocatur über ille über milionis de mirabilibus mundi. Et quia ibi magna et maxima et quasi incredibilia reperiuntur, rogatus fuit ab amicis in morte quod librum suum corrigeret et quod superflue scripserat revocaret. Qui respondit: non scripsi mediantem de hiis que vidi. Et quia talia in morte dixit, magis creditur hiis que scripsit." D a s T o t e n b e t t f u n g i e r t e hier e x p l i z i t als e i n Ort u n d H o r t der W a h r h e i t , der d i e G l a u b würdigkeit d e s A u g e n z e u g e n bekräftigen sollte, und die - namentlich nicht g e n a n n t e n
-
144
ed. Wyngaert, S. 457. „Viele andere unerhörte Dinge gibt es dort, von denen ich nichts schreibe; denn wenn sie jemand nicht gesehen hat, kann er es nicht glauben, weil es in der ganzen Welt nicht solche Wunder gibt wie in diesem Land. Dies aber ließ ich aufschreiben, weil ich mir ganz sicher bin und überhaupt nicht daran zweifle, daß es sich so verhält, wie ich es berichte" (ed. Reichert, S. 79).
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Dieser Topos findet sich auch in den Briefen der Missionare aus China, so etwa bei Andrea da Perugia. Vgl. ed. Wyngaert, S. 374. Zit. nach ed. Benedetto, S. CXCIV. „Jener Herr Marcus war mit seinem Vater und seinem Onkel lange Zeit in der Tartarei und sah dort viele Dinge (...). Und deswegen verfaßte er, als er in Genua im Gefängnis war, ein Buch über die großen Wunder der Welt, jedenfalls über jene, die er gesehen hat. Und er sagte weniger als er gesehen hatte, wegen der Verleumder, die andere leicht der Lüge bezichtigen und grundlos das für Lügen halten, was sie selbst bösartig nicht glauben oder nicht verstehen wollen. Und sein Buch wurde Uber milionis de mirabilibus mundi genannt. Und weil darin so viele große und gewaltige und nahezu unglaubliche Dinge berichtet wurden, ersuchten ihn seine Freunde auf dem Totenbett, er möge sein Buch korrigeren und was er übertrieben habe zurücknehmen. Darauf antwortete er: Ich habe nicht die Hälfte von dem geschrieben, was ich gesehen habe. Und weil er solches auf dem Totenbett gesagt hat, kann man dem, was er geschrieben hat, um so mehr glauben."
146
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Reisen, Erfahrung und die Konstituierung des Subjekts
Freunde bildeten die Gruppe jener Zweifler, die auftreten mußten, um der Beglaubigung größeres argumentatives Gewicht zu verleihen, als es die einfache Wahrhaftigkeitsbeteuerung vermochte. Gerade diese Textstelle ist, in völliger Verkennung ihrer topischen Struktur und unter Auslassung des diese offenlegenden letzten Satzes, in der Forschung immer wieder zitiert oder paraphrasiert worden, um die Unglaubwürdigkeit Marco Polos bei seinen Zeitgenossen zu belegen. Der Topos hat damit ironischerweise ein weiteres Mal seine Potentialität unter Beweis gestellt, indem er - nunmehr in Umkehrung seiner früheren Funktion - als argumentative Stütze für den Widerstand diente, den man im Mittelalter wirklicher Erfahrung entgegengesetzt habe. Der Lügenverdacht ist vielmehr in erster Linie ein Beglaubigungstopos und kein Plausibilitätszweifel, und wo er geäußert wurde, muß er zunächst auf seine argumentative Funktion hin untersucht werden und darf nicht einfach für die bare Münze des Zweifels genommen werden. Schon Francesco Pipino da Bologna hatte im Prolog zu seiner Übersetzung des Berichts das Totenbett als Ort der Wahrhaftigkeit bemüht, nur daß er nicht Marco Polo, sondern dessen Onkel in seiner letzten Stunde den Text beglaubigen ließ: „Patruus vero ipsius, dominus Matheus, cuius meminit liber iste, vir utique maturus devotus et sapiens, in mortis articulo constitutus, confessori suo in familiari colloquio constanti firmitate asseruit librum hunc veritatem per omnia continere."
Auch hier mußte ein Vertrauter auftreten, um die Zweifel zu äußern, die dann in die Bekräftigung, alles Berichtete entspreche der Wahrheit, münden konnten, auf die sich die Übersetzung unmittelbar gründete: Was auf dem Totenbett beglaubigt war, konnte auch von einem gelehrten Dominikaner aus der Volkssprache in die Sprache der Schrift übersetzt werden, zum Trost der Leser und zum Lobe des Schöpfers aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge.
3.„experientia fit ex multis memoriis": Zum aristotelischen Erfahrungsbegriff im Horizont von Historia und Topos Was in den Paratexten der Berichte an Glaubwürdigkeitsargumenten entwickelt wurde, ist nicht nur zentral für die Konstituierung des Berichtssubjekts, sondern auch entscheidend für die Frage nach dem Gattungsort der Augenzeugenberichte und für den Erfahrungsbegriff, der ihnen zugrundegelegt werden muß. An der in der Frage der Glaubhaftigkeit des Berichts implizierten Unterscheidung von Beweisbarem, Wahrscheinlichem und Beglaubigtem nämlich wurde seit Aristoteles der Unterschied zwischen Wissen-
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ed. Benedetto, S. CLIV. „Und wahrhaftig sein Onkel selbst, Herr Matthaeus, den dieses Buch erwähnt, ein schlechterdings vollkommener, frommer und weiser Mann, versicherte seinem Beichtvater auf dem Totenbett im vertrauten Gespräch nachdrücklich, daß dieses Buch die reine Wahrheit enthalte."
Reisen, Erfahrung und die Konstituierung des Subjekts
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schaft (apodeixis), Kunst (techne/poiesis) und Erfahrung (empeiria) festgemacht.148 Gegenstand der Wissenschaft ist nach Aristoteles die Erkenntnis der Ursachen und der Nachweis von deren Notwendigkeit; sie ist daher beweisend. Gegenstand der Kunst ist die Anwendung oder Darstellung des Wahrscheinlichen; sie ist daher hervorbringend (poietisch). Gegenstand der Erfahrung ist die Kenntnis des Besonderen; sie ist daher zuschreibend. Während Wissenschaft und Kunst sich nach dieser Bestimmung auf das Allgemeine beziehen, kann sich Erfahrung nur auf das Besondere beziehen und darin nur ein erstes Mittel zur Erlangung allgemeiner Einsichten i. S. eines Übergangs zum ersten Allgemeinen sein. Erfahrung unterscheidet sich von Wissenschaft und Kunst dadurch, daß sie nur eine Kenntnis des „Daß" (hoti), nicht aber eine Erkenntnis des „Warum" (dioti) ermöglicht.149 Als Kenntnis des „Daß" kann empeiria weder begründungsfähige noch beweisbare Sätze hervorbringen, sondern verbleibt immer im Horizont pragmatischen Wissens. Empeiria im aristotelischen Sinne ist die durch Kenntnis des Besonderen erworbene Fähigkeit, eine Unterscheidung zu treffen, die es ermöglicht, einem Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft zuzuschreiben.150 Erfahrung (empeiria) ist demnach Beurteilung, nicht Wahrnehmung des Besonderen und daher auch nicht identisch mit sinnlicher Wahrnehmung (aisthesis), sondern von dieser durch die Barriere der Verbegrifflichung getrennt. Erfahrung ist niemals unmittelbar, sondern stets durch den Begriff und durch die mit der Bezeichnung eines Gegenstandes verbundene Zuschreibungsleistung vermittelt.151 Die sinnliche Wahrnehmung ist zwar der Anfang aller Erfahrung, aber um einen Gegenstand als einen bestimmten begreifen zu können, bedarf es des Urteils, um „was" es sich bei dem wahrgenommenen Gegenstand handelt. Erfahrung setzt nach Aristoteles also erst mit der Begriffsbildung ein und bezieht sich nicht auf die der Begriffsbildung vorgängige Wahrnehmung.152 Auch kann Wahrnehmung nicht unmittelbar in Erfahrung übergehen, vielmehr bedarf es zu ihrer Vermittlung eines dritten Elements, der Erinnerung (mneme). Erst durch die Erinnerung kann Wahrnehmung, die für sich genommen keinerlei Erkenntnisgewinn ermöglicht, zur Erkenntnis des Besonderen in der Erfahrung fuhren. Nicht Wahrnehmung, sondern Erinnerung ist daher die entscheidende Voraussetzung der Erfahrung, sie ist es auch, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet und sein höheres Wissen begründet. Aristoteles hat diese Relation von Wahrnehmung, Erinnerung und Erfahrung im berühmten ersten Abschnitt seiner Metaphysik als Grundlage menschlichen Wissensstrebens beschrieben:
148
Aristoteles, Poetik, 1451b.
149
Vgl. auch Suzanne Mansión, Die Aporien der aristotelischen Metaphysik, in: Metaphysik und Theologie des Aristoteles, hg. von Fritz-Peter Hager, Darmstadt 1979, S. 175-221. „Es ist ein fundamentales Axiom des aristotelischen Systems, daß es eine Wissenschaft nur des Allgemeinen gibt. Das Wissen, das nicht die individuellen Fälle überschreitet, das unfähig ist, sie unter einem allgemeinen Konzept zu vereinen, d. h. zum Wesentlichen der Dinge vorzudringen, heißt Erfahrung und verdient weder die Benennung Kunst noch Wissenschaft" (S. 179).
150
Vgl. Friedrich Kambartel, Art. Erfahrung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, S. 610. Kambartel vergleicht die Erfahrung als Zuschreibung von Eigenschaften im aristotelischen Sinne mit der elementaren Prädikation in der modernen Logik.
151 152
Vgl. Ralf Elm, Klugheit und Erfahrung bei Aristoteles, S. 105. Vgl. Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur, S. 58.
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Reisen, Erfahrung und die Konstituierung des Subjekts „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Ein deutliches Zeichen dafür ist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen. Denn abgesehen vom Nutzen werden diese um ihrer selbst willen geliebt, und von allen besonders die Sinneswahrnehmung, die durch die Augen zustande kommt. Denn nicht nur, um zu handeln, sondern auch, wenn wir keine Handlung vorhaben, geben wir dem Sehen sozusagen vor allem anderen den Vorzug. Das ist darin begründet, daß dieser Sinn uns am meisten befähigt zu erkennen und uns viele Unterschiede klarmacht. Es verfügen zwar von Natur aus die Lebewesen über die Sinneswahrnehmung, aber bei einem Teil von ihnen entsteht daraus keine Erinnerung, beim anderen aber schon. Daher sind diese verständiger und gelehriger als die, die sich nicht erinnern können. (...) Es entsteht aber den Menschen aus der Erinnerung die Erfahrung; denn viele Erinnerungen an ein und denselben Sachverhalt bewirken das Vermögen einer Erfahrung."
Erfahrung wird also erst dann gewonnen, wenn durch Erinnerung die Vielzahl der einzelnen Wahrnehmungen miteinander verknüpft wird und auf diese Weise eine Urteilsfähigkeit entsteht, die es ermöglicht, über Phänomene Aussagen zu machen. Erfahrungswissen als Kenntnis des Besonderen, das einen Übergang zum ersten Allgemeinen ermöglicht, baut demnach auf der dreigliedrigen Relation von Wahrnehmung (gr. aisthesis, lat. perceptio), Erinnerung (gr. mneme, lat. memoria) und Erfahrung (gr. empeiria, lat. experientia) auf. Als Zuschreibungsleistung stützt sich Erfahrung auf die Kenntnis des Besonderen, die durch sinnliche Wahrnehmung erlangt wird, aber nicht mit ihr identisch ist. Enger als an die Wahrnehmung ist sie an die Erinnerung geknüpft, die ihre unmittelbare Grundlage bildet. Dieser aristotelische Grundsatz der empeiria wurde im Zuge der scholastischen Aristoteles-Rezeption des 12. Jahrhunderts übernommen und bekräftigt. Die aristotelische Argumentation im Prinzip lediglich übersetzend, formulierte Albertus Magnus: „... fit ex memoria prius acceptorum per sensum et cum sensu experimentum eiusdem rei secundum speciem. Multae etenim memoriae in effectibus similibus acceptae, faciunt in hominibus potentiam unius experimenti."
Und nahezu gleichlautend heißt es bei Thomas von Aquin: „experientia fit ex multis memoriis." 155 Die Formulierung multis memoriis läßt letztlich aber offen, ob darunter die vielen Erinnerungen eines Einzelnen i. S. persönlicher Erfahrenheit oder die Erinnerungen vieler i. S. eines verfugbaren Erfahrungsschatzes zu verstehen sind. Erfahrung hat hierin eine eindeutig geschichtliche Implikation, die Erfahrung und Tradierung nicht als Gegensatz, sondern als Bedingungsverhältnis begreift. 156 153 154
155 156
Aristoteles, Metaphysik, I, 1-6. Albertus Magnus, Metaphysica, 1,1,7, hg. v. B. Geyer, Münster 1960-64 (= Opera omnia, editio coloniensis 16). „... es entsteht aber aus der Erinnerung an das, was zuerst von den Sinnen aufgenommen worden ist, die Erfahrung der Dinge nach der Vorstellung. Viele Erinnerungen an ähnliche Sachverhalte begründen in den Menschen das Vermögen einer Erfahrung." Thomas von Aquin, Summa theologiae, I. q, 54, a. 5,2. Der Begriff der Erfahrung im aristotelischen Sinne umschreibt vielmehr die Funktion eines kollektiven Gedächtnisses. An dieses Verständnis von Erfahrung schließen letztlich auch HansGeorg Gadamer mit seinem hermeneutischen Erfahrungsbegriff und Reinhart Koselleck mit seinem Erfahrungsbegriff als Kategorie der Geschichtswissenschaft an. So schreibt Koselleck in seinem Aufsatz „'Erfahrungsraum' und 'Erwartungshorizont' - zwei historische Kategorien":
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Mit der von Aristoteles bis Thomas von Aquin formulierten engen Verbindung von Erfahrung und Erinnerung rücken experientia und historia sowohl theoretisch als auch praktisch dicht zusammen: Praktisch rücken sie zusammen, insofern memoria die unmittelbare Quelle der Erfahrung bildet, theoretisch, insofern Aristoteles historia als die Beschreibung des Besonderen definiert. Ebenso wie die empeiria gehört sie für Aristoteles ihrer Bestimmung nach weder zur Philosophie noch zur Dichtkunst, denn deren Gegenstand ist das Allgemeine, während die historia nur das Besondere beschreibt. Diese von Aristoteles getroffene Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem ist ursächlich für die bei ihm vorgenommene Abwertung der historia gegenüber der poiesis, mit der - für unseren Wahrheitsbegriff - zunächst paradox scheinenden Folge, daß die Wahrheit der historia unterhalb der Wahrscheinlichkeit der poiesis rangiert.157 Die poetische Wahrscheinlichkeit wird deshalb als höherwertig eingestuft, weil sie dem Allgemeinen zugehörig ist, während die historische Wahrheit nur für das Besondere Gültigkeit hat.158 Grundlage der Beschreibung des Besonderen ist entweder die eigene Augenzeugenschaft des Historikers oder die Befragung von Zeugen, die die berichteten Ereignisse oder Gegenstände selbst gesehen haben. In diesem Sinne wurde der Begriff der historia, wie Bruno Snells begriffsgeschichtliche Untersuchung gezeigt hat, bereits in der vorplatonischen Philosophie verwendet.159 Historia stammt aus der juristischen Tatsachenforschung und bezeichnet etymologisch zunächst den Bericht des Augenzeugen (gr. histor = der, der gesehen hat), sodann den Bericht dessen, der ihn verhört. 60 Unter historia können daher all jene Berichte verstanden werden, die auf eigene unmittelbare Wahrnehmung zurückgehen oder durch fremde Beobachtung gesichert sind. Auch hier zeigt sich die Bedeutung der dreigliedrigen Relation von aisthesis/perceptio, mneme/memoria und empeiria/experientia: Wenn memoria das zentrale Bindeglied zwischen Wahrnehmung und Erfahrung bildet, dann ist historia eng an die Wahrnehmung geknüpft. An diesen Wortsinn von historia knüpft Isidor in den Etymologiae explizit an:
„Erfahrung ist gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können. Sowohl rationale Verarbeitung als auch unbewußte Verhaltensweisen, die nicht oder nicht mehr im Wissen präsent sein müssen, schließen sich in der Erfahrung zusammen. Ferner ist in der je eigenen Erfahrung, durch Generationen oder Institutionen vermittelt, immer fremde Erfahrung enthalten und aufgehoben. In diesem Sinne wurde ja auch die Historie seit alters her als Kunde von fremder Erfahrung begriffen" (S. 354). 157
Vgl. Aristoteles, Poetik, 1451b. Die sich seit dem 17. Jahrhundert durchsetzenden mathematisch orientierten Definitionen der Wahrscheinlichkeit haben dieses Verhältnis genau umgekehrt: „Probabilitas est gradus certitudinis et ab hac differt ut pars pro toto." (Jakob Bernouilli, Ars conjectandi 4,1, Basel 1713, zit. nach: Horst Günther, Art. Geschichte, IV.2, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 638).
158 159
Vgl. Ralf Elm, Klugheit und Erfahrung bei Aristoteles, S. 91 f. Vgl. Bruno Snell, Der Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Berlin 1924, S. 59ff.
160
Vgl. ibid., S. 60. Vgl. auch Christian Meier, Art. Geschichte II.l: Terminologie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 596; Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur, S. 70; Joachim Knape, Historie in Mittelalter und früher Neuzeit, S. 56f.
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Reisen, Erfahrung und die Konstituierung des Subjekts „Dicta autem Graece historia apo tou historein, id est a videre vel cognoscere. Apud veteres enim nemo conscribebat historiam nisi is qui interfuisset, et ea quae conscribenda essent vidisset. Melius enim oculis quae fiunt deprehendimus, quam quae auditione colligimus." 161
D i e s e D e f i n i t i o n behielt ihre Gültigkeit durch das g a n z e Mittelalter hindurch und w u r d e n a h e z u w ö r t l i c h v o n V i n z e n z v o n B e a u v a i s ü b e r n o m m e n , der sie mit der b e r ü h m t e n historia-Definition C i c e r o s verknüpfte: „TVLLIUS in libro de oratore: Historia est temporum testis, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuncia vetustatis. Isidorus ubi supra. Historia est narratio rei gestae, per quam ea, que in praeterito gesta sunt, dignoscuntur. Dicta autem Historia ä potu historin, id est a videre vel cognoscere: apud veteres enim nemo conscribebat Historiam nisi is qui interfuisset, et ea quae conscribenda essent vidissent. Historiam autem apud nos primus Moyses de initio mundi conscripsit. Historiae gentium non impediunt legentes, in his quae utilia dixerunt." D i e B i n d u n g an G e s e h e n e s ö f f n e t e der G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g prinzipiell b e i d e Felder der Wirklichkeitserfassung: Einerseits die B e s c h r e i b u n g des G e s c h e h e n e n als temporal g e gliederter A b l a u f b e s c h r e i b u n g , andererseits die B e s c h r e i b u n g d e s V o r h a n d e n e n als spatial geordneter D a s e i n s b e s c h r e i b u n g . Historiographische narratio s c h l o ß descriptio ein und w a r damit nicht a u s s c h l i e ß l i c h der präteritalen Darstellung e i n e s G e s c h e h e n s v e r laufs verpflichtet, sondern e b e n s o der präsentischen Darstellung der F a k t e n s a m m l u n g . In der A n e i n a n d e r r e i h u n g verband sie G e s c h e h e n e s und G e s e h e n e s , C h r o n o l o g i e und C h o rographie. 1 6 3 Historia war d e n n auch s o w o h l als B e z e i c h n u n g für Z e i t g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g i. S. der A u f z e i c h n u n g v o n res gestae, s e l b s t g e s e h e n e n und erlebten o d e r v o n Dritten berichteten Ereignissen, als auch als naturkundliche und e t h n o g r a p h i s c h e Literaturkategorie gebräuchlich. D i e s e r doppelte A s p e k t der historia findet s i c h e t w a bei Konrad v o n M e g e n b e r g klar formuliert: „...sam die historien sagent, d a z sind d i e g e schrillt v o n den g e s c h i c h t e n in den landen und in d e n Zeiten." 1 6 4 In ihrer A u s r i c h t u n g a u f d i e A u t o p s i e e r w e i s t sich historia damit als das A u s s a g e f e l d , das die g e g e n s t ä n d l i c h e W e l t u n d damit auch die F r e m d e zur E r s c h e i n u n g bringt.
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Isidor von Sevilla, Etymologiae, I, 41. „Historia kommt vom Griechischen 'apo tou historein', das heißt sehen oder erkennen. Bei den Alten nämlich schrieb niemand ein Geschichtswerk, außer demjenigen, der dabei gewesen war, und das, was niederzuschreiben war, gesehen hatte. Besser nämlich ist es, wenn wir mit den Augen wahrnehmen, was geschieht, als wenn wir es nur durch Hörensagen aufsammeln." Vinzenz von Beauvais, Speculum doctrinale, CXXVII, 297; nach Isidor, Etymologiae I, 41. „Tullius [Cicero] im Buch De Oratore-, Die Geschichte ist das Zeugnis der Zeiten, das Licht der Wahrheit, die lebendige Erinnerung, die Lehrmeisterin des Lebens, die Botin der Frühzeit. Isidor darüber: Geschichte ist die Erzählung der geschehenen Dinge, durch die das, was in der Vergangenheit geschehen ist, erkannt wird. Historia kommt vom Griechischen 'historein', das heißt sehen oder erkennen. Bei den Alten nämlich schrieb niemand ein Geschichtswerk, außer demjenigen, der dabei gewesen war, und das, was niederzuschreiben war, gesehen hatte. Geschichte aber schrieb bei uns als erster Moses vom Anfang der Welt." Als beispielhaften Vertreter der Aneinanderreihung, der Parataxe, fuhrt Aristoteles in der Rhetorik (1409 b) Herodotan. Konrad von Megenberg, Buch der Natur, hrsg. von Franz Pfeiffer, Stuttgart 1861 (Nachdruck Hildesheim 1971), S. 358.
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Historia bildete somit in Antike und Mittelalter als aufgeschriebene memoria das Bindeglied zwischen Wahrnehmung und Erfahrung.165 Als aufgezeichnete memoria erscheint sie als das genuine Medium der Erfahrung.166 Wissenschaftstheoretisch wie wissenschaftsgeschichtlich hatten historia und empeiria damit einen gemeinsamen Ort, der außerhalb der Wissenschaften lag. Als nicht-szientifische Form der Wissensvermittlung war historia prinzipiell offen für Autoren, die nicht das Trivium und das Quadrivium durchlaufen hatten. Kriterium für historiographische Autorschaft war lediglich die Augenzeugenschaft des Berichterstatters und seine Glaubhaftigkeit oder aber der Rückgriff auf glaubhafte Augenzeugen, die der Historiker anführen konnte. Historia war weder über eine bestimmte Methode noch über einen bestimmten Gegenstand definiert, sondern nur durch die Forderung nach Augenzeugenschafit und Wahrheit des Berichts. In der rhetorischen Tradition wurde historia neben fabula und argumentum denn auch als eine der drei Redegattungen definiert, die sich von den beiden anderen Gattungen nicht nach ihrem Gegenstand oder ihrer Darstellungsform, sondern nach ihrem Wahrheitsgehalt unterschied.167 „Item inter historiam et fabulam interesse. Nam historiae sunt res verae, quae factae sunt; argumenta sunt quae etsi facta non sunt, fieri tarnen possunt; fabulae vero sunt quae nec factae sunt nec fieri possunt, quia contra naturam sunt."
Historia übernahm damit eine selbstverständliche Zuständigkeit für die Beschreibung der res factae. Aufgabe der Historiographie war Geschichtsschreibung, nicht Geschichtsdeutung.169 Aufgabe des Historiographen war das Aufschreiben des durch fremde oder eigene Augenzeugenschafit Verbürgten, nicht die Deutung der Quellen. Wenn daher in der rhetorischen Tradition von der probabilitas als einer der drei Tugenden der historischen narratio die Rede war, so ist dies weder im Sinne wesenhafter Folgerichtigkeit, wie in der aristotelischen po/em-Definition, noch im Sinne einer mathematischen Wahrscheinlichkeit i. S. eines meßbaren Annäherungswertes an Wirklichkeit, sondern im Sinne von Glaubhaftigkeit zu verstehen. Probabilitas und verisimilitas waren austauschbare Begriffe, wie beispielsweise die Übersetzung von probabilitas mit 165
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Daneben kann auch der mündliche Bericht bzw. die mündliche Zeugenbefragung treten, wie sie auf dem Konzil von Lyon 1245 angewendet wurde. Vgl. Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht, S. 113-118. Auf die Tradition der Historie als einer „allgemeinen Erfahrungskunde" hat Jürgen Osterhammel im Anschluß an Reinhart Koselleck noch für die Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts hingewiesen. Vgl. Ders., Distanzerfahrung, S. 25f. Vgl. auch: Reinhart Koselleck, Art. Historie, V, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 679. Vgl. Arno Seifert, Historia im Mittelalter, S. 228ff. Isidor von Sevilla, Etymologiae, 1,44. „Ebenso unterscheiden sich Historie und Fabel. Denn Historien sind wahre Dinge, die geschehen sind; Erzählungen sind solche, die zwar nicht geschehen sind, aber geschehen können; Fabeln sind solche, die weder geschehen sind, noch geschehen können, weil sie gegen die Natur sind." Vinzenz von Beauvais übernimmt diese Stelle wörtlich in sein Speculum doctrinale (vgl. Speculum quadruplex sive Speculum maius: II. Speculum doctrinale, CXXVII). Vgl. hierzu Arno Seifert, Cognitio historica, S. 24f. Seifert unterscheidet zwischen einem historiographischen und einem historioskopischen fc/oWa-Begriff.
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„keloüplich" bei Notker dem Deutschen belegt. 170 Glaubhaftigkeit des nichtüberprüfbaren Berichts war eine essentielle Bestimmung der Geschichte, sowohl als zu schreibender als auch als zu lesender Geschichte. Während sich die rhetorische Beschäftigung mit der historia auf die Frage konzentrierte, wie der historiographische Bericht beglaubigt werden konnte, hoben die bibelhermeneutischen und scholastischen Definitionen die Notwendigkeit des Glaubens bei der Lektüre der Geschichte hervor. So schrieb Augustinus: „Credibilium tria sunt genera. Alia sunt quae Semper creduntur et nunquam intelliguntur, sicut est omnis historia, temporalia et h u m a n a gesta percurrens. Alia quae mox, ut creduntur, intelliguntur, sicut sunt omnes rationes humanae, vel de numeris, vel de quislibet disciplinis. Tertiam, quae primodo creduntur, et postea intelliguntur".
Über die Betonung des allein Glaubensfähigen der Geschichte stellte Augustinus zugleich eine Verbindung zwischen den Voraussagen der Propheten, den historischen Büchern der Bibel und der weltlichen Geschichte her: „Quid (...) agatur cum genere humano, per historiam commendari vult (deus) et per prophetiam. Temporalium autem rerum fides sive praeteritum sive futurarum magis credendo quam intelleg e n d o valet, sed nostrum est considerare, quibus vel hominibus vel libris credendum sit."
Da Geschichte als zu lesende Geschichte nur geglaubt und nicht vollständig vom Verstand durchdrungen werden konnte, bedurfte sie des Glaubens im doppelten Sinne: Einerseits des Glaubens an die göttliche Vorsehung, durch die die Geschichte erst als Buch lesbar und auslegbar wurde, andererseits aber auch des Glaubens an die Wahrhaftigkeit der Menschen oder der Bücher. Während aber die Wahrheit der Geschichte unbedingt galt, mußte die Wahrheit der Geschichtsschreibung zunächst erwogen werden - unter dem Aspekt der Wahrhaftigkeit des Geschichtsschreibers. Seifert unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen dem rhetorischen, dem bibelhermeneutischen und dem scholastischen historia-Begriff und sieht die entscheidende Differenz zwischen dem bibelhermeneutischen und dem rhetorischen Begriff im Gegensatz zwischen der „historia legenda" und der „historia scribenda". 173 Für den erkenntnistheoretischen Status der historia ist diese Unterscheidung jedoch unerheblich, denn beide gewinnen die
170
Vgl. Joachim Knape, »Historie« in Mittelalter und früher Neuzeit, S. 64, bzw. S. 66; dort auch das vollständige Zitat aus Notkers Rhetorik.
171
De diversis questionibus, PL 40,31; zit. nach: Arno Seifert, Historia im Mittelalter, S. 237, Fn. 47. „Der zu glaubenden Dinge gibt es drei: Einerseits diejenigen, die immer nur geglaubt und niemals erkannt werden können, wie alles, was die geschichtlichen, weltlichen und menschlichen Ereignisse durchläuft. Andererseits diejenigen, die sobald sie geglaubt werden, auch eingesehen werden, wie alle menschlichen Wissenschaften, sei es die Mathematik oder ähnliche Disziplinen. Drittens diejenigen, die zunächst geglaubt und nachher erst erkannt werden können.".
172
De vera religione, C C 32,45ff., zit. nach: ibid., S. 237, Fn. 48. „ W a s mit dem menschlichen Geschlecht geschehen werde, will Gott durch die Geschichte oder durch die Propheten bekannt machen. Die zeitlichen und gegenständlichen Dinge, sei es der Vergangenheit oder der Z u k u n f t , vermögen eher geglaubt als erkannt zu werden, es ist jedoch an uns abzuwägen, w a s den Menschen oder den Büchern zu glauben sei."
173
Vgl. ibid.
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Gewähr der Wahrhaftigkeit aus der Glaubwürdigkeit des Berichterstatters. Der Gegensatz besteht nur in der unterschiedlichen Perspektive: Während es in der Rhetorik um die Topoi geht, mittels derer Glaubwürdigkeit vermittelt werden kann, geht es in der Bibelhermeneutik und der Scholastik im Umgang mit der zu lesenden Geschichte um die Deutung des glaubhaft übermittelten Berichts. Deutung und Auslegung der Geschichte als Buch der Vorsehung in dem von Augustinus angedeuteten Sinne aber gehörte ins Gebiet der Theologie, nicht in das der Geschichtsschreibung. Historiographie war im Grunde nichts anderes als eine nicht abreißende Kette von Zeugenberichten, die von der Schöpfung bis in die unmittelbare Gegenwart reichte. Weltchroniken wurden daher nicht neu, sondern immer weiter fortgeschrieben, und der Historiker fugte an, was er selbst aus verschiedenen Quellen erfahren hatte. Daraus resultierte letztlich die Tradition des Abschreibens in der mittelalterlichen Historiographie, die in prinzipiellem Widerspruch zur Postulierung der Augenzeugenschaft des Historikers zu stehen scheint. Nach Seifert begriff die mittelalterliche Historiographie die Beschränkung auf res visae denn auch als „Eigentümlichkeit antiker Geschichtsschreibung" und habe sie nur noch als Postulat aufrechterhalten, „dem aber durch die eingeschränkte Erfahrung des Geschichtsschreibers selbstverständliche Geltungsgrenzen gezogen" worden seien.174 Aus Isidors Feststellung, „apud veteres enim nemo conscribebat historiam, nisi is qui interfuisset", geht jedoch keineswegs eine methodische Distanzierung von der antiken Geschichtsschreibung hervor, sondern vielmehr die Begründung dafür, daß man die Berichte der Alten immer wieder abschrieb. Denn bei einer Definition der Historiographie, die Augenzeugenschafit zum gültigen Prinzip erhoben hatte, mußte man, wo eigene Augenzeugenschaft fehlte, auf die Augenzeugenberichte Dritter zurückgreifen. Wenn die antiken Historiker als auctoritates von höchster Glaubhaftigkeit galten, dann nicht allein deshalb, weil sie mit der Würde der Tradition ausgestattet waren, sondern weil sie als Augenzeugen oder zumindest als Autoren galten, die Augenzeugen befragt hatten und ihre Berichte auf deren Aussagen stützten. Nicht die Außerkraftsetzung des Autopsieprinzips führte daher zur Tradition des Abschreibens, sondern seine prinzipielle Gültigkeit. Insofern kennzeichnet nicht die Überlagerung der Autopsie durch das Gewicht der Tradition, sondern die Begründung der Tradition durch das Autopsieprinzip die mittelalterliche Historiographie. Damit war prinzipiell aber auch die Assimilierung aktueller Nachrichten unproblematisch, die sowohl mündlich als auch in aktuellen Augenzeugenberichten übermitttelt worden sein konnten, sofern deren Autoren den Anspruch auf Augenzeugenschaft glaubhaft zu machen vermochten.175 Solange die Geschichtsschreibung weitgehend in den Händen von Mönchen lag, die ihr Kloster und das Scriptorium nicht verließen, konnte es freilich nur wenige neu hinzuzufugende Nachrichten geben. Mit Beginn der Kreuzzüge veränderte sich jedoch die Ausgangslage, weil mit den Kreuzrittern auch Kleriker ins Heilige Land aufbrachen, die nicht nur von den kriegerischen Ereignissen, sondern auch von den mirabilia des Heiligen Landes aufgrund eigener Augenzeugenschaft berichteten.176 Eigene Augenzeugen174 175 176
Arno Seifert, Historia im Mittelalter, S. 233. Vgl. Jan-Dirk Müller, Alte Wissensformen, S. 172. Verena Epp hat diese Veränderung anhand der Historia Hierosolymitana Fulchers von Chartres nachgezeichnet. Fulcher hat in einer zweiten Fassung seiner Historia, die er nach fiinfundzwan-
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schaft ergab sich aber in noch größerem Umfang mit den zu Beginn des 13. Jahrhunderts neu gegründeten Orden der Franziskaner und Dominikaner, die mit ihren Ordensregeln förmlich Augenzeugenschaft produzierten. Jetzt mußte man die Berichte der Alten nicht mehr nur abschreiben, sondern konnte sie ergänzen und völlig neue Gebiete erschließen. Was sich gegenüber Isidor änderte, war nicht die Bewertung der Augenzeugenschaft, der man jetzt eine höhere Bedeutsamkeit beigemessen hätte, sondern vielmehr die Verfügung über eine Vielzahl von Augenzeugen, die durch die neue „Beweglichkeit" der Mönche entstand. Die umherziehenden Mönche, die schon sehr bald nach Zulassung ihrer Orden den diplomatischen Dienst der Kurie wie des Kaisers und der Könige dominierten und innerhalb weniger Jahrzehnte die Historiographie nahezu vollständig von den einst beherrschenden Zisterziensern übernommen hatten, machten aktuell möglich, was immer als Postulat der Historiographie gegolten hatte: das Berichten aufgrund eigener Augenzeugenschaft. 177 Von da aus war es nur noch ein relativ kleiner Schritt zu dem von Innozenz IV. verfolgten Programm der gezielten Herstellung von Augenzeugenschaft und ihrer Integration in die Weltchroniken und Enzyklopädien, die das Wissen von der Welt bewahrten. So innovativ sein Projekt der Aussendung von Augenzeugen politisch und in Relation zur üblichen Form der Kontaktherstellung zwischen fremden Kulturen auch sein mochte, methodisch war es aufgehoben in einem Erfahrungsbegriff und einer Definition der historia, die seit Herodot und Aristoteles uneingeschränkte Gültigkeit für sich beanspruchen durfte. Daß neu gesammelte Erfahrung dabei auch in Widerspruch zur überlieferten Erfahrung geraten konnte, war eine Ausgangserwartung der Aussendung von Augenzeugen. Innozenz wollte ja gerade die vielen Nachrichten überprüfen, Wilhelm von Rubruk sollte für den französischen König bestätigen oder widerlegen, was ihm bis dahin mitgeteilt worden war, und die späteren Augenzeugen konnten mit der eigenen Erfahrung den Wert ihrer Berichte begründen. Die beste Möglichkeit, die eigene Erfahrenheit unter Beweis zu stellen, bestand nämlich darin, frühere Nachrichten zu korrigieren oder ins Reich der fabula zu verweisen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn in allen Orientberichten in Europa verbreitete Annahmen unter Verweis auf das bessere Wissen des Augenzeugen widerlegt wurden. Im Gegenteil, es gehörte zum festen Inventar der Berichte, Einzelnes zu widerlegen und zu berichten, wie es wirklich war. Johannes de Plazigjährigem Aufenthalt im Heiligen Land einer umfänglichen Revision unterzog, insbesondere in den naturkundlichen Beschreibungen seine eigene Augenzeugenschaft im Gegensatz zur ersten Fassung deutlich hervorgehoben. Vgl. Verena Epp, Fulcher von Chartres. Studien zur Geschichtsschreibung des ersten Kreuzzuges, Düsseldorf 1990, bes. S. 143ff. Epp deutet die stärkere Betonung der eigenen Augenzeugenschaft freilich als Modernisierungstendenz, wobei sie m. E. zu wenig berücksichtigt, daß die Definition der historia der eigenen Augenzeugenschaft ohnehin den Vorzug einräumte und es daher nicht des Rekurses auf Modernisierungstendenzen bedarf, um den Vorgang erklären zu können. Nachdem er über hinreichend eigene Erfahrungen verfügte, konnte Fulcher deutlicher als zuvor die Stelle des den Bericht beglaubigenden Augenzeugen einnehmen. 177
Vgl. Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, S. 25 mit Fn. 70. Mit dem Verzicht auf die Mission, die sie den Mendikanten überließen, verzichteten die Zisterzienser gleichzeitig auf ihre vormals beherrschende Stellung in der Historiographie, weil sie sich damit selbst vom Fluß der Nachrichten ausgrenzten.
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no Carpini korrigierte als erstes den bedrohlichen Namen des Volkes, das er aufsuchen sollte, und stellte fest, daß sie sich selbst nicht Tartaren, sondern Mongolen nannten.178 Und zwei der drei reisenden Mendikanten stutzten, wie oben gezeigt, den Priesterkönig Johannes auf einen unbedeutenden Nomadenherrscher zurück, von dem nicht einmal die Hälfte dessen stimmte, was berichtet und seit Otto von Freising überliefert worden war. Marco Polo widerlegte unter Verweis auf einen glaubhaften Augenzeugen die in der Physiologus-Tradition überlieferte Vorstellung von der Herkunft des Asbestes aus der Haut des Salamanders, und betonte, Salamander sei nicht der Name eines Tieres, das im Feuer lebe, sondern eines Stoffes, der in den Minen des Großkhans gewonnen und dann zu einem unbrennbaren Tuch verarbeitet werde. Nachdem er dessen Herstellung beschrieben hatte, konstatierte er: „Et ce est la vérité de la salamandre que je vos ai dit et toites les autres chouses que s'en dient sunt mensogne et fables."
Ähnlich verfuhr er bei der Beschreibung des Einhorns: „II sunt dou poil dou bufal; les pies a fait corne leofant. Il a un cor enmi la front mout gros et noir. Et vos di que il ne fait maus [du cor,mes] con sa langue. Il a le chief fait corne corne sengler sauvajes; et toutes fois porte sa teste enchine ver terre; e demore mout voluntieres entre le bue et entre le fang. Elle est mout laide beste a veoir. Il ne sunt pas ensi come nos de ca dion et devision: que dient qu'ele se lai[se] prendre a la poucelle. Mes vos di qu'il est tout le contraire de celz que nos qui dion que il fust."
Marco Polo demonstrierte hier deutlich sein eigenes Augenzeugenwissen, indem er dem, was „bei uns" über das Einhorn gesagt werde, das gegenüberstellte, was er selbst gesehen hatte. Damit reduzierte er die lange Beschreibungstradition des Einhorns auf Aussagen, „come nos de ca dion", denen es an eigener Anschauung fehlte, ohne damit jedoch die lange Auslegungstradition des Einhorns zu tangieren.181 Es gab aber auch sehr viel bedeutsamere Richtigstellungen, bei denen sich der Autor explizit gegen überliefertes Wissen wandte. Einer dieser Fälle ist Wilhelms von Rubruk Feststellung, das Kaspische Meer sei keine Ausbuchtung des die Ökumene umfließenden Ozeans, sondern ein Binnenmeer.182 Diese Feststellung war keine Nebensächlichkeit, denn immerhin veränderte sie die Grenzen der Ökumene und dehnte die asiatische 178 179 180
181 182
Vgl. ed. Menestö, S. 227 (incipit), S. 252 u. S. 333 (explicit). ed. Benedetto, S. 47. „Das, was ich euch über den Salamander gesagt habe, ist die Wahrheit und alles andere, was man sich erzählt, sind Lügen und Fabeln." ed. Benedetto, S. 171. „Sein Fell gleicht jenem der Büffel, und Füße hat es wie ein Elefant. Mitten auf der Stirn hat es ein dickes schwarzes Horn. Und ich sage euch, mit dem Horn verletzt es niemanden, aber mit der Zunge. Das Einhorn hat einen Kopf wie ein wilder Eber und neigt ihn unverwandt bodenwärts. Mit Vorliebe hält es sich im Morast und im Schlamm auf. Zum Ansehen ist es ausgesprochen häßlich. Es ist überhaupt nicht so, wie man bei uns meint und sich erzählt, nämlich, daß es sich von einer Jungfrau einfangen ließe. Sondern ich sage euch, es ist ganz das Gegenteil von dem, was man bei uns darüber sagt." Zur Auslegungstradition des Einhorns im Mittelalter vgl. Jürgen W. Einhorn: Spiritualis unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters, München 1976. Vgl. ed. Wyngaert, S. 210f.
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Landmasse erheblich aus - und war, wie ich gezeigt habe, entscheidend für die Einschätzung der Tartaren. Aus Wilhelms Argumentation geht ein gezielter Vergleich zwischen Isidors Aussage über das Kaspische Meer und seinen eigenen Beobachtungen hervor, die er um die Beobachtungen des Andreas von Longjumeau ergänzte. Aufgrund dieser Ergänzung durch die Aussagen eines anderen glaubwürdigen Augenzeugen war es ihm möglich, Isidors auf Plinius zurückgehende Behauptung zu widerlegen. Dennoch ist hierin kein grundsätzlicher Angriff gegen das tradierte Wissen zu sehen; die Widerlegung bezog sich partiell auf jenen Bereich des Einzelnen, Besonderen, der das genuine Feld der Historiographie war. Wilhelm von Rubruk korrigierte Isidor an einem Punkt, in dem er erfahrener war, aber deshalb bezweifelte er keineswegs prinzipiell die Zuverlässigkeit der bei Isidor überlieferten Nachrichten, sondern führte ihn wiederholt an. Er versuchte aber ebensowenig, einen Widerspruch zur Tradition zu vermeiden oder das Unvereinbare gewaltsam zu harmonisieren. Wo er selbst, wie beim Kaspischen Meer, über mehr Erfahrung verfügte als Isidor, verwies er dezidiert darauf und korrigierte ohne den geringsten Anflug von Unsicherheit einen der meistzitierten Autoren der mittelalterlichen Historiographie. Da beides offenkundig möglich war, die Übernahme wie die Korrektur überlieferter Nachrichten, muß die Relation zwischen Erfahrung und Tradition eine andere sein, als von der Forschung in der Regel angenommen wird: Wilhelm markiert nicht einen sich abzeichnenden Konflikt von Tradition und Erfahrung, von Toposwissen und Beobachtungswissen, sondern eine lebendige, jederzeit durch Erfahrung korrigierbare Erfahrungstradition. Wilhelm widerlegt nicht die Tradition, sondern er verbessert sie, indem er seine eigene Erfahrenheit und die des Dominikanerbruders Andreas in die Tradition einbringt und einen einzelnen Punkt korrigiert. Diese Korrektur bestätigt den Wert seiner Augenzeugenschafit, ohne daß sie mit dem Pathos der Entdekkung einer unerhörten Neuerung besetzt oder auf die Gegenüberstellung von Tradition und Beobachtung zugespitzt werden muß. Auf Wilhelms Erfahrenheit bezog sich denn auch Roger Bacon, der dessen Feststellung, das Kaspische Meer sei ein Binnenmeer, in sein Opus Maius übernahm und dabei unmittelbar auf den Begriff der Erfahrung rekurrierte. „A portis vero Caspiis incipit mare Caspium extendi in longum ad orientem; et in latum ad aquilonem, et est non minus quam Ponticum mare, ut dicit Plinius, et habet spatium quatuor mensium in circuitu. Frater vero Willielmus in redeundo ab imperatore Tartarorum circuivit latus occidentale; et in eundo ad eum perambulavit latus aquilonare, ut ipse retulit Domino regi Franciae qui nunc est, anno Domini 1253. Et a parte aquilonis habet vastam solitudinem, in qua sunt Tartari. Et ultra eos sunt multae regiones aquilonares antequam perveniatur ad Oceanum; et ideo non potest illud mare esse sinus maris Oceani, quod tarnen fere omnes auctores scribunt; sed experientia huius temporis facta per fratrem Willielmum et alios fideles docet, quod non venit a mari, sed fit per flumina magna et multa, quorum congregatione fit hoc mare Caspium et Hyrcanicum."
183
Opus Maius, Pars Quarta, S. 365f. „An den Kaspischen Toren beginnt das Kaspische Meer, das sich in der Länge nach Osten und in der Breite nach Norden ausdehnt und nicht, wie Plinius sagt, kleiner ist als das Pontische (Schwarze) Meer, sondern einen Umfang von vier Monatsreisen hat. Der Bruder Wilhelm nämlich reiste bei der Rückkehr vom Herrscher der Tartaren an seiner Westseite entlang, und bei der Hinreise zu ihm durchzog er die Nordseite, wie er selbst im Jahre
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Gegen die Beschreibung nahezu aller Autoren verwies Roger Bacon auf die aktuelle Erfahrung des Bruders Wilhelm und anderer glaubwürdiger Zeugen, die lehre, daß das Kaspische Meer ein Binnenmeer sei. Dabei vergaß er nicht anzuführen, daß Wilhelm im Auftrag des französischen Königs zum Kaiser der Tartaren gereist sei, was zweifellos bei Rogers päpstlichen Adressaten Wilhelms Glaubwürdigkeit als zuverlässiger Berichterstatter bekräftigte. Die Erfahrung, auf die Roger Bacon sich hier stützte, war also die Erfahrenheit glaubwürdiger Augenzeugen, was deutlich auch aus einer wenige Seiten zuvor erfolgten ersten Erwähnung des Kaspischen Meeres hervorgeht: „(...) non igitur est hoc mare veniens ab oceano, ut Isidorus et Plinius, et omnes auctores occidentales scribunt. In hoc enim casu non habuerunt experientiam certam per se nec per alios, sed ex rumore scripserunt.
An dieser Argumentation läßt sich relativ genau ablesen, daß hier kein Bruch zwischen tradiertem Wissen und Erfahrung vollzogen wird, der eine „neue Positivität" bezeichnen würde, sondern die Korrektur von Gerüchten durch die Aussagen eines glaubwürdigen Augenzeugen. Mit der Bemerkung, Isidor und Plinius hätten über keine gesicherte Erfahrung verfugt und die Lage des Kaspischen Meeres nur ex rumore beschrieben, wandte Roger Bacon ein traditionelles Argument an, um zu begründen, warum er Wilhelms Feststellung, das Kaspische Meer sei ein Binnenmeer, für glaubwürdiger hielt. Daß gesicherte Erfahrung nur per se oder per alios, d. h. durch die Berichte glaubwürdiger Augenzeugen, gewonnen werden konnte, der gegenüber die Nachrichten ex rumore geringeren Wert hatten, gehörte, wie ich oben gezeigt habe, zu den Standards historiographischer Beglaubigung und konnte daher, wenn der angeführte Augenzeuge hinreichend glaubhaft erschien, auch gegen die Überlieferung ausgespielt werden. Damit war andererseits aber keineswegs die gesamte Überlieferung obsolet, sondern nur in hoc enim casu zu korrigieren. Methodisch war das völlig konsequent, denn da der Augenzeuge immer nur einzelne Beobachtungen machen konnte, konnte er auch nur einzelnes widerlegen, woraus dann nicht mehr gefolgert werden mußte, als daß es den früheren Autoren in eben diesem Punkt an experientiam certam gemangelt habe. Allein das Argument der Zeitlichkeit der Erfahrung (experientia huius temporis facta) hätte eine Verschärfung der Argumentation begründen können, aber Bacon wendete dieses Argument nicht systematisch in einen Vorbehalt gegen alle frühere Erfahrung. An anderen Stellen führte er Isidor und andere tradierte Quellen ohne jede Einschränkung an. Wenn das 13. Jahrhundert, das gerne als das Zeitalter der Enzyklopädien und Summen bezeichnet wird, ein Zeitalter des Sammeins war, dann bestand dieses Sammeln in des Herrn 1253 dem jetzigen König von Frankreich berichtete. Und nördlich davon gibt es eine große Einöde, w o die Tartaren leben. Und jenseits von ihnen gibt es noch viele nördliche Regionen bevor man zum Ozean gelangt. Und deshalb kann dieses Meer keine Ausbuchtung des Ozeans sein, wie gleichwohl nahezu alle Autoren schreiben, denn die von Bruder Wilhelm und anderen glaubwürdigen Menschen in der jüngsten Zeit gemachte Erfahrung lehrt, daß es von vielen und großen Flüssen gebildet wird, deren Zusammenfluß jenes Kaspische oder Hyrkanische Meer entstehen läßt." 184
Opus Maius, Pars Quarta, S. 354. „(...) und daher zweigt es nicht, wie Isidor und Plinius und alle westlichen Autoren schreiben, vom Ozean ab. In diesem Fall nämlich verfügten sie nicht über sichere Erfahrung durch sich oder andere, sondern schrieben aufgrund von Hörensagen."
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beidem, im Abschreiben der alten wie auch der neuen Quellen. Die Kultur des Sammeins, des Abschreibens und des Zusammenschreibens unterschiedlicher Quellen, trennte nämlich gerade nicht zwischen alt und neu, sondern nur zwischen zuverlässig und unzuverlässig, zwischen glaubwürdig und unglaubwürdig. Deswegen fiel es auch relativ leicht, neue Nachrichten zu alten hinzuzufügen und so weder das Neue zu unterdrücken noch das Alte zu verwerfen. Zum größten Teil wurden die neuen Informationen dort aufgenommen, wo die Alten, wie es nunmehr schien, Leerstellen gelassen hatten, zum Teil wurden sie zur Ergänzung dessen herangezogen, was bei den Alten bereits beschrieben war.185 In der apologia auctoris zu seinem Speculum historiale, in der er seine Quellen darlegte, verdeutlichte Vinzenz von Beauvais diesen Charakter des Ergänzens und Hinzufligens mit dem Satz, er habe seine Geschichtsdarstellung aus zweierlei Quellen zusammengestellt: „antiquum certe materia et auctoritate, nouum uero compilatione deu partium aggregatione".186 Der dem Argument der Zeitlichkeit von Erfahrung in der Erkenntnistheorie seit ihrer systematischen Neubegründung durch Descartes inhärente Gedanke, es sei ein grundsätzliches Problem überlieferten Wissens, daß man nicht wissen könne, ob es tatsächlich auf Erfahrung beruhe, und deshalb dürfe man nur der eigenen Erfahrung trauen, wird von den spätmittelalterlichen Kompilatoren nicht realisiert.187 Erst ein Paradigmenwechsel im Kuhnschen Sinne, d. h. das Relevantwerden dieser Problematik als einer systematisch gedachten, errichtet eine epistemologische Grenze zwischen tradiertem Wissen und Erfahrung, die darauf hinausläuft, alles Tradierte aus dem Bereich des Wissens auszugliedern. Erst wenn alles Tradierte aus dem Bereich der Erfahrung systematisch ausgegrenzt und zugleich unmittelbare Erfahrung als alleinige Quelle wahrheitsfahigen Wissens behauptet wird, entsteht ein prinzipieller Gegensatz von tradiertem Wissen und Erfahrung. Gleichzeitig entsteht damit aber erst eine Übermacht der Tradition, weil sich die Erfahrung in der so gegebenen Definition immer am Nullpunkt befindet, während die Summe der Überlieferung als monolithischer Block erscheint, der den Raum des Wissensfähigen illegitimerweise besetzt. Rubruk und Bacon konnten einzelne Elemente des überlieferten Wissens deshalb ganz selbstverständlich revidieren, weil sich die Erfahrung, auf die sie sich beriefen, immer schon im Wissensfeld der Tradierung befand. Erst die Ausgrenzung der Tradition aus der Erfahrung dagegen schafft das Bild einer Tradition, die Erfahrung gewaltsam ausgegrenzt hat.
185
186
187
Christel Meier hat in ihrem Aufsatz „Grundzüge der mittelalterlichen Enzyklopädik" darauf hingewiesen, daß die meisten Enzyklopädien in mehreren Redaktionen überliefert sind, weil sie immer wieder erweitert und umgeschrieben wurden. Ihr Inhalt war nicht für alle Mal festgeschrieben, sondern stand in einem fortlaufenden „Traditionskontinuum" (S. 482). Vinzenz von Beauvais, Speculum historiale, Libellus apologeticus, c. 4. Vgl. zu Vinzenz' Umgang mit den Quellen auch Anna Dorothee von den Brincken, Geschichtsbetrachtung bei Vinzenz von Beauvais, sowie Claude Kappler, L'image des Mongols dans le Speculum historiale de Vincent de Beauvais. „Realisieren" ist hier nicht im Sinne faktischer, sondern relevanter Zumessung zu verstehen. Es geht nicht darum zu behaupten, Bacon habe ein grundsätzliches Faktum (brutum) schriftlich überlieferten historischen Wissens nicht erkannt, sondern darum zu zeigen, daß er ihm eine spezifische Relevanz zugemessen hat, die innerhalb eines anderen Diskurses ausgesagt wird.
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Das daraus resultierende Abschneiden der Tradition mündet letztlich freilich notwendig in ein Abschneiden des Autors. Die alleinige Relevanz der unmittelbaren und rational oder experimentell gesicherten Erfahrung machte die Erfahrungswissenschaftler zu Monaden des historischen Prozesses: Dieselbe Logik, die ihre Erkenntnis durch deren methodisch-systematische Begründung von der Vergangenheit schied, trennte sie auch von der Narrativierbarkeit, denn die Narrativierung konnte der zur conditio sine qua non erhobenen Demonstrierbarkeit und Wiederholbarkeit der Erfahrung nicht genügen. Eine solche methodisierte Erfahrung ließ sich nicht mehr narrativieren, denn in der Narrativierung mußte sie die Wahrheitsbedingung ihrer selbst negieren. Die im Empirismus gewählte Lösung für dieses Problem erfolgt durch die Begründung einer universalen Mathesis188 und die Neudefinition des Experiments189 als planmäßig wiederholbarem Ereignis, das die unüberbrückbare Grenze zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufheben sollte. Für den Bereich der Erfahrung, der nicht in gleicher Weise berechenbar und rational nachvollziehbar war, wie die Erfahrung der Fremde, bedurfte es daher eines ganzen Systems, um Erfahrung auf Wahrnehmung zu beschränken und sie von der Bürde einer die Wahrnehmung verfälschenden Tradition zu befreien. Die entscheidende Differenz zwischen den Möglichkeiten der Erfahrung im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit liegt nicht in der zunehmenden Durchsetzung von Erfahrung, sondern in den Schranken, die dem Erfahrungsbegriff seit der frühen Neuzeit auferlegt werden. Der Erfahrungsbegriff der frühneuzeitlichen Erkenntnistheorie zeichnet sich gegenüber dem aristotelischen Erfahrungsbegriff dadurch aus, daß er Erfahrung und Wahrnehmung zu identischen und daher austauschbaren Termini macht. In seinem Essay Concerning Human Understanding verwendet Locke die Begriffe experience und perception zumeist im gleichen Sinne. Auf die aufgeworfene Frage, woher „all the materials of reason and knowledge derive", antwortet er, „in one word, from experience"190, und wenig später sagt er über die perception, sie sei „the first step and degree towards knowledge and the inlet of all the materials of it"191. Mit dieser Identifizierung von Wahrnehmung und Erfahrung entsteht erstmals die Vorstellung einer „reinen" Erfahrung, die unmittelbar sei und ungetrübt von Begriffen und Vorstellungen.192 Aus eben diesem Erfahrungsbegriff erwächst aber auch das Problem der Gegenüberstellung von 188
Zur Begründung einer universalen Mathesis mit Descartes als ihrem herausragenden Exponenten vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 82f. Als grundlegendes Kennzeichen der Diskontinuität zwischen der schriftdominierten Kultur der Ähnlichkeit und der meßbarkeitsdominierten Kultur der Identität und des Unterschieds bezeichnet Foucault die Beziehung zum Text: „Von da an hört der Text auf, zu den Zeichen und zu den Formen der Wahrheit zu gehören" (S. 89).
189
In der Scholastik und der Renaissance wird experimentum weitgehend mit experientia gleichgesetzt. Die Neudefinition des Experiments als definierten Bedingungen unterworfenes, planbares und wiederholbares Ereignis findet sich in dieser spezifischen Konnotation erst bei Francis Bacon ausformuliert. Vgl. G. Frey, Art. „Experiment", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, S. 868f.
190
John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, II, 1, § 2.
191
ibid., II, 9, § 15.
192
ibid., II, 1, § 2. Vgl. Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur, S. 19ff., sowie ders., Art. Erfahrung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, S. 612f.
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Erfahrung und Tradition, von Beobachtungswissen und Toposwissen, das die Beschäftigung mit den Orientreiseberichten nach wie vor prägt. Denn während im aristotelischen Erfahrungsbegriff memoria immer schon zwischen Wahrnehmung und Erfahrung vermittelte, und damit Erfahrung niemals im luftleeren Raum einer fiktiven Unmittelbarkeit gedacht wurde, produzierte der Erfahrungsbegriff der frühneuzeitlichen Erkenntnistheorie die Vorstellung einer begriffslosen, reinen Erfahrung, die das Problem der Verschriftlichung von Erfahrung zu einer unlösbaren Aporie machte. Der gesamte Fragekomplex, ob und wie rein sich Erfahrung in den spätmittelalterlichen Orientberichten mitteilen konnte, beruht auf einem Erfahrungsbegriff, in dem versucht wurde, Erfahrung ohne Sprache zu denken, aber er verschiebt dessen Implikationen und Konnotationen in die Bedingungen einer angeblich erfahrungsfeindlichen Epoche. Reine, unmittelbare Erfahrung aber kann sich niemals mitteilen; alles Mitgeteilte, erst recht alles Verschriftlichte, ist per se Verfälschung einer als unmittelbar gedachten Erfahrung. Vor diesem Bruch hatten die historiographische narratio der antiken wie der mittelalterlichen Weltbeschreiber ihre gemeinsame Grundlage in der Augenzeugenschaft und bildeten damit als die memoria vieler die Grundlage von Erfahrung als vita memoriae und magistra vitae. Dagegen kristallisierte sich in der Neuzeit memoria immer stärker als der eigentliche Feind der Erfahrung heraus, weil sie verdächtigt wurde, die Wahrnehmung verfälschend zu präformieren. In den entstehenden empirischen Wissenschaften wurde deshalb das Hauptgewicht auf die Entwicklung einer Methodik gelegt, die einerseits die Begrenzung auf Wahrnehmung sicherstellen, andererseits aber die Beschränkung der individuellen Wahrnehmung aufheben sollte. Die neuzeitliche Formierung der Empirie als Wissenschaft führte nicht zu einem erstmals erreichten Vertrauen in die sinnliche Wahrnehmung, sondern im Gegenteil zu einem tiefen Mißtrauen ihr gegenüber. Von einem Mißtrauen gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung ist bei Aristoteles dagegen nichts spüren. Sinnliche Wahrnehmung kann nach Aristoteles zwar keine wahre Erkenntnis bewirken, sie kann, anders als die Erfahrung, nicht einmal eine Überleitung zum ersten Allgemeinen bieten, aber deswegen hält er sie keineswegs für unzuverlässig. Gegen die Behauptung der griechischen Skeptiker, es könne nichts gewiß erkannt werden, und daher könne man nie wissen, ob die Gegenstände wirklich so seien, wie sie erschienen, wandte er deshalb ein, nicht die Sinneswahrnehmung unterliege Irrtümern, sondern die Vorstellungen, die man sich von den Dingen mache. „Was aber die Wahrheit anlangt, so ist zu sagen, daß nicht alles Erscheinende wahr ist; erstens, weil zwar nicht die Sinneswahrnehmung des ihr eigentümlichen Gegenstandes falsch ist, sondern vielmehr Vorstellung und Sinneswahrnehmung nicht dasselbe sind; zweitens kann man sich darüber wundern, wenn sie sich darüber unschlüssig sind, ob die Größen so groß und die Farben derart sind, wie sie entfernten Betrachtern erscheinen oder nahen Betrachtern, und ob derart, wie sie Gesunden erscheinen oder Kranken, und ob das schwerer ist, wie es dem Schwachen erscheint oder den Starken, ob das wahr ist, wie es den Schlafenden vorkommt oder den Wachen. Daß sie nämlich selbst das alles nicht so ernst meinen, ist klar. Denn wohl niemand, der tatsächlich in Libyen ist, wird, wenn er sich vorstellt, nachts in Athen zu sein, ins Odeion
,.
marschieren.
193
«193
Aristoteles, Metaphysik, 1010b 1-10.
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Aristoteles hielt die Behauptungen der Skeptiker für bloße Spielerei, weil die Erfahrung lehre, daß die Sinneswahrnehmung dem ihr eigentümlichen Gegenstand durchaus entsprach und daher nur die Vorstellungen falsch sein konnten. Die Falschheit oder Richtigkeit von Vorstellungen aber ließ sich mit dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch entscheiden, der in dem Beispiel von dem Lybienreisenden als Plausibilitätsargument fungierte: Jemand konnte sich zwar irrtümlich vorstellen, in Athen zu sein und diese falsche Vorstellung konnte auch Trugbilder erzeugen, aber er konnte eben nicht ins Odeion gehen, und demnach sah er das Odeion also auch nicht. Wenn jemand also etwas sah, was nicht da war, dann täuschten ihn nicht seine Sinne, sondern seine Vorstellungen, denn die Sinne konnten niemals einander widersprechende Sachverhalte wahrnehmen: „Keiner aber von diesen Sinnen sagt zur selben Zeit über dasselbe aus, daß es sich zugleich » s o « und »nicht so« verhalte."
Nach Aristoteles' Überzeugung waren die Sinne also durchaus zuverlässig, gerade weil ihnen der Begriff fehlte. Eben das änderte sich mit der Begründung des neuzeitlichen Empirismus: Die Wahrnehmung des einzelnen Subjekts stand von da an sowohl unter dem Verdacht der Sinnestäuschung als auch unter dem Verdacht der Kontingenz, die nur mit Hilfe einer genau festgelegten Methodik und ihrer systematischen Anwendung überwunden werden konnten. Der Ausschaltung des Zufalls diente etwa Francis Bacons Programm einer experientia ordinata, mit dem er sich von der negativ apostrophierten experientia vaga, durch die noch deutlich der Wortsinn von pervagare hindurchschimmert, abzugrenzen versucht. Methodisch geordnete, nicht mehr kontingente Erfahrung, die durch zufällige Beobachtung beim Herumziehen entsteht, wurde das Modell der wissenschaftlichen Erfahrung.195 Der neuzeitliche Erfahrungsbegriff begründete damit eine völlig andere Haltung gegenüber der Möglichkeit des Sammeins von Erfahrung: Hatte der aristotelisch-mittelalterliche Begriff Erfahrung ex multis memoriis in der Linearität der Schrift aufgehoben, die elastisch war für die Hinzufügung neuer, zeitgenössischer Erfahrungen bei gleichzeitiger Bewahrung der in der Überlieferung tradierten Erfahrung, so ermöglichte der neuzeitliche Erfahrungsbegriff die Sammlung von Erfahrung nur in der Simultaneität der Taxonomie, der Mathesis und der Tabelle, die das Spiel von Tradieren und Hinzufügen entzeitlichte, indem sie Erfahrungsgegenstände räumlich in einem Feld immerwährender Gleichzeitigkeit organisierte. Empirie konnte erst dann in den Rang einer Wissenschaft erhoben werden - worin in der Tat eine Neuerung und Abgrenzung von der aristotelischen Tradition liegt - als ihr die Fähigkeit, zu allgemeinen Sätzen zu gelangen, zugesprochen wurde. Dazu aber bedurfte sie der Entsubjektivierung und in deren Konsequenz der Entnarrativierung. Der Bericht des Augenzeugen verlor damit als Bericht an Wert. Mit der Auflösung der Line194
ibid., S. 104.
195
Bacon verwendet anstelle von experientia ordinata gelegentlich auch den Begriff der experientia literata, womit aber gerade nicht die Narrativierung von Erfahrung bezeichnet wird, sondern vielmehr das Aufschreiben von Versuchsreihen in geordneten Tabellen. Auf die experientia ordinata oder experientia literata baut dann die interpretatio naturae auf. Vgl. Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur, S. 80ff.
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arität der Schrift endete auch die Körpergebundenheit der Rede des Augenzeugen: die vordem stimmgebundene Rede des Augenzeugen verschwand in der Körperlosigkeit der geordneten Reihe. Wenn sich die Fragen an die Fremde bei Petrus Ramus auch noch an den aristotelischen Kategorien orientierten, so wurden die Antworten doch nicht mehr in einer historiographischen narratio, sondern in synoptischen Tabellen gegeben, die die kontingente Wahrnehmung eines Einzelnen nicht mehr durch paradigmatische Beschreibung, sondern durch die systematische Anordnung der Einzelgegenstände aufhob. 196 Die Linearität der Schrift wurde durch die Simultaneität der Tabelle abgelöst, die Staatsbeschreibung verwandelte sich in die Statistik. 197 Die spätmittelalterlichen Orientberichte gehören dagegen einer anderen episteme an: Sie vergegenwärtigten die Realität der Erfahrung in der personal zuschreibbaren Rede des Augenzeugen, der in der Linearität der Narration und in der Fortschreibbarkeit der Tradition die Erfahrbarkeit der Welt verkörperte.
4. Die Rede des Augenzeugen: die spätmittelalterlichen Orientberichte als Aussagefeld innerhalb der historia Von diesen Ergebnissen her, läßt sich denn auch die Gattungszugehörigkeit der Fernostasienberichte neu bestimmen. Wie ich anhand der Paratexte gezeigt habe, entspricht der topisch-argumentative Duktus der behandelten Fernostasienberichte den Anforderungen der Geschichtsschreibung und ist auch durch den aristotelisch-mittelalterlichen Erfahrungsbegriff und die der historia darin zukommende Funktion des Aufbewahrens wie Begründens von Erfahrung eindeutig im historiographischen Diskurs anzusiedeln. Auch die handschriftliche Überlieferung der Berichte und ihre Aufnahme in historiographische Werke, wie die von Carpinis Bericht in Vinzenz' von Beauvais Spéculum historíale, ist in dieser Hinsicht relativ eindeutig. Chorographie war im Mittelalter nicht anders als im Humanismus ein fester Bestandteil der Historiographie, und als Weltbeschreibungen wie als Erfahrungsberichte können die Reiseberichte nur dem historiographischen Diskurs zugeordnet werden. 198 Innerhalb der historia läßt sich dann aber durchaus noch zwischen unterschiedlichen Deskriptions- und Narrativierungsformen unterscheiden, für die in erster Linie die Position des berichtenden Subjekts entscheidend ist. 196
Zur Methodisierung des Reisens, die zunächst von der Definition der Aufschreibmodi in der narratio ausging und schließlich in die Statistik mündete, vgl. die grundlegenden Arbeiten Justin Stagls: Die Methodisierung des Reisens im 16. Jahrhundert; Ars Apodemica: Bildungsreise und Reisemethodik von 1560 bis 1600.
197
Vgl. Mohammed Rassem/Justin Stagl (Hg.), Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, vornehmlich im 16.-18. Jahrhundert, Paderborn 1980. Zur allgemeinen Bedeutung von Taxonomie und Tabelle im 17. Jahrhundert vgl. Michel Foucault, Die Archäologie des Wissens, S. 87. Dagegen gehen Wolfgang Neuber und Justin Stagl davon aus, daß dies erst für den frühneuzeitlichen Reisebericht gilt. Vgl. Wolfgang Neuber, Zur Gattungspoetik des Reiseberichts, S. 51 ff.; Justin Stagl, Ars Apodemica, S. 145.
198
Reisen, Erfahrung und die Konstituierung des Subjekts
283
In seinen Untersuchungen zu mittelalterlichen Pilgerberichten definiert Dietrich Huschenbett das Wegstreckenschema als gattungstypisch für den mittelalterlichen Pilgerbericht.199 Der Pilgerbericht ordnet die Abfolge des Berichteten nach der Reihenfolge eines Weges, der aber keineswegs mit einer tatsächlichen Reiseroute übereinstimmen muß was aber gelegentlich auch vorkommt, etwa wenn in den Pilgerberichten entsprechend der Wegstrecke Venedig - Jaffa - Rama - Jerusalem nach Tagen geordnet sind-, sondern nach der zeitlichen Abfolge der Ereignisse des Neuen Testaments, nach den zwölf Himmelsrichtungen, die den zwölf Toren des himmlischen Jerusalem entsprechen, oder den heilsgeschichtlichen Stationen von Altem und Neuem Testament geordnet sein kann.200 Ähnliches gilt auch für die Orientreiseberichte, wobei hier den Wegstreckenschemata nach Himmelsrichtungen, die bedeutungsvoll aufgeladen sind, eine besondere Bedeutung zukommt. Die Reise nach Osten fuhrt in einen Raum gesteigerter symbolischer Zeichenhaftigkeit; es ist ein Weg in die Vergangenheit, denn nach der Lehre von den sechs Weltaltern hat sich die Zeit von Osten nach Westen bewegt, vom irdischen Paradies, das im äußersten Osten der Welt liegt, über den Mittelpunkt der Welt in Jerusalem, der mit der Geburt Christi auch den Mittelpunkt der Zeiten bildet; aber es ist auch ein Weg in die Zukunft, denn auch das Eschaton, das Ende der Welt wird vom Osten ausgehen, wenn die eingeschlossenen apokalyptischen Völker aus den Bergen des Kaukasus ausbrechen und die Welt verheeren werden. Die räumlich geordnete Wegstruktur fuhrt daher immer wieder an Orten vorbei, die zwar im Raum des Fremden liegen, aber in die Geschichte des Eigenen gehören und damit eigen und fremd in einem raum-zeitlichen Kontinuum verknüpfen, wodurch das Unvertraute niemals aus der als Schöpfungs- und damit als einheitlicher Geschichtsraum gedachten Welt entlassen wird. Das Wegstrekkenschema symbolisiert zugleich aber auch eine zunehmende Entfernung vom Vertrauten und eine sukzessive Annäherung an das Fremde, das durch die Beschreibung nicht vertraut, aber zuordenbar und damit verstehbar am Rande eines Weges angesiedelt wird, auf dem man hin-, aber auch wieder zurückgelangen kann. Mandeville pointiert dieses Wegstreckenschema schließlich dahingehend, daß man auch wieder zurückgelangen kann, wenn man nur immer weiter weg geht: Schließlich mündet das Fremde wieder ins Vertraute, sein Raum ist nicht grenzenlos und unermeßlich, sondern ab- und durchschreitbar. Wichtiger als das Wegstreckenschema ist jedoch die Augenzeugenschaft als grundlegende gattungstypische Dominante, die für den argumentativen Duktus der Berichte unverzichtbar ist, denn mit der Augenzeugenschaft steht und fällt der Wahrheitsanspruch der Berichte. Für die Pilger war es wichtig, an bestimmten Orten gewesen zu sein, und die eigene Anwesenheit durch den Verweis auf einen erworbenen und auch für nachfolgende Pilger daselbst zu erlangenden Ablaß zu bekräftigen. Für die Orientreisenden dagegen war es wichtig, an vordem unbestimmten Orten gewesen zu sein und zu beschreiben, was sie gesehen hatten. Freilich begrenzte die Augenzeugenschaft die Möglichkeiten des Berichts offenkundig nicht in der für uns selbstverständlichen Weise, denn in sämtlichen der von mir behandelten Berichte finden sich Gegenstände, Personen und 199 200
Vgl. Dietrich Huschenbett, Von landen und ynselen, S. 190ff. ibid.
284
Reisen, Erfahrung und die Konstituierung des Subjekts
Ereignisse beschrieben, die so nicht gesehen worden sein können. Augenzeugenschaft sollte daher nicht nur als die Weise betrachtet werden, in der der Zeuge sich zur „realen Welt" verhält, sondern auch als die Weise, in der er sich zum Text verhält. Augenzeugenschaft bezeichnet die Art und Weise, in der das Subjekt in Beziehung zur Welt gesetzt wird. Für den Bericht über Neues und Unbekanntes ist Augenzeugenschaft der entscheidende argumentative Fokus, und das heißt, daß der Autor in erster Linie eine argumentative Figur ist, die nicht nur außerhalb, sondern vor allem innerhalb des Textes fungiert. Das erklärt auch, warum in der handschriftlichen Überlieferung der Reiseberichte sowohl weitestgefaßte inhaltliche Ergänzungen als auch die wechselnde Verortung des Augenzeugen innerhalb der Texte möglich ist. Denn würde sich in Augenzeugenschaft allein das authentische „Beobachtungswissen" eines außerhalb des Textes stehenden Autors zeigen, so würde der in einer Handschrift an irgendeiner Stelle ein „ich habe es gesehen" oder gar „ich habe davon gegessen, getrunken, es angefaßt" einfugende Schreiber im gleichen Augenblick durch seine Handlung dementieren, was er durch seine Formulierung betont: die Augenzeugenschaft. Damit wird auch die in der Forschung häufig vorgenommene Unterscheidung von tradiertem Wissen versus Erfahrung, Toposwissen versus Beobachtungswissen obsolet, denn sie unterschlägt nicht nur deren erkenntnistheoretische UnUnterscheidbarkeit in einem Diskurs, der nach völlig anderen Regeln organisiert ist, sondern verkennt auch den Status des Augenzeugen in einem Aussagefeld, innerhalb dessen dem berichtenden Subjekt ein bestimmter Platz zugewiesen wird. 201 Der Augenzeuge bezeugt als Gesehenes, was im Text sich beschrieben findet und das kann auch das sein, was ein anderer geschrieben hat, wie die in der handschriftlichen Filiation häufige Anbindung an den Autor bei gleichzeitigen Veränderungen des Textes belegt. Damit befindet sich der Zeuge zugleich in einer potentiell prekären Situation: Sein Weltverhältnis verläuft quer durch sein Textverhältnis, in dem er nicht als perspektivierendes, sondern als perspektiviertes Subjekt in Erscheinung tritt. Sehen steht hier in einer mimetischen Beziehung zum Sichtbaren, der Text in einer mimetischen Beziehung zur Welt. Es ist nicht das Auge, das auf die Gegenstände auftrifft und ihnen eine Ordnung vorgibt, sondern es sind die Gegenstände, die auf das Auge auftreffen und in ihm zur mimetischen Repräsentation kommen. Die spätmittelalterlichen Orientberichte entfalten somit nicht eine Topik des von einer bestimmten Person an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit Gesehenen, sondern eine Topik des Sichtbaren, desjenigen, das von einem Augenzeugen als Gesehenes bezeugt werden kann. Der Fernostasienbericht ist daher nicht unbedingt der Bericht einer Reise, sondern die Reise ist Element der Repräsentation des Augenzeugen, die ihrerseits Repräsentation der vom Bericht selbst geleisteten Weltschau ist. Innerhalb des Textes wird die Reise vorwiegend dazu benötigt, die körperliche Präsenz des Augenzeugen an den beschriebenen Orten zu imaginieren und die narrative Folge des Textes zusammenzuhalten. Das läßt sich besonders gut an Marco Polos Bericht in seiner frankoitalienischen Fassung demonstrieren: Wenn Marco Polo vom Ozean spricht und sagt „la
201
Vgl. etwa in der jüngeren Forschung: Friederike Hassauer, Volkssprachliche Reiseliteratur; Folker Reichert, Begegnungen mit China.
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ou nous sumes ore" („dort, wo wir jetzt sind"), wird die narrative Abfolge in der Präsenz des Körpers an einem physischen Ort imaginiert, in die zugleich der Leser eingebunden wird. Die Formel „dort, wo wir jetzt sind", bezeichnet einerseits den Gegenstand, von dem anschließend die Rede sein wird, andererseits die Präsenz des Augenzeugen an dem Ort, von dem die Rede ist, drittens aber auch die imaginäre Präsenz des Lesers am Ort der Beschreibung, zu dem er durch die Beschreibung gelangt. Wenn der Augenzeuge spricht, befindet er sich genau an dem Ort, von dem er spricht. Die in der Rede imaginierte Anwesenheit des Körpers überfuhrt den Erzähler von den Seiten des Buches an die Orte der Beschreibung, und der Leser ist sein stummer Begleiter, der im „wir" durch die Buchseite ebenfalls imaginativ an den realen Ort geführt wird. Deutlicher noch wird das bei Marco Polo an einer anderen Stelle, wo der Sprecher, seine Reiseroute und die Textordnung unentwirrbar ineinander verwoben sind. „Or nos lason de ceste provences et de cest parties e ne iron avant, por ce que se nos alaisomes avant nos entreronmes en Yndie et je ne i voil entrer ore a cestui point por ce que au retorner de nostre voie vors conteron toutes les couses d' Ynde por ordrfe]. Et por ce retorneron a nostres Provence ver Baldascian, porce que d'autre partie ne poron aler."
Von daher scheint es mir sinnvoll zu sein, nicht vom Reisebericht, sondern vom Augenzeugenbericht zu sprechen, denn die „systemprägende Dominante" ist nicht die Reise, sondern die behauptete aktuelle Augenzeugenschaft des Berichterstatters. Die Reise ist sowohl im Hinblick auf die Wissensorganisation der Kontaktsysteme, die sie gezielt einsetzen, als auch auf die argumentative Struktur der Berichte nur das Vehikel der Augenzeugenschaft, die unerläßliche Voraussetzung des Sehens, ohne daß sie selbst ein zentrales Element der Darstellung bildet oder als regulatives Element der Verschriftlichung von Erfahrung dient, wie dies durch die ars apodemica seit dem späten 15. Jahrhundert entwickelt wird. In dieser Gattungsbestimmung des Augenzeugenberichts, in der die Kategorien reale/imaginäre Reise als binäres Unterscheidungskriterium für den spätmittelalterlichen Reisebericht hinfallig werden, wird auch der Reisebericht John Mandevilles wieder zu einem Teil dieser Gattung. Im Mandeville-Corpus geschieht nur in extremam, was für die anderen Orientreiseberichte ebenfalls gilt: Innerhalb der Narrativierung der Fremde ist der berichtende Augenzeuge eine Funktion des Aussagefeldes, die dieses selbst hervorbringt und in der Filiation der jeweiligen Texte fortwährend weitertreibt. Es geht hier nicht nur darum, den Text wieder in seinen ursprünglichen Rezeptionsrahmen als nichtfiktionalen Text zu integrieren, wie dies etwa Greenblatt in Marvelous Possessions getan hat, während er gleichzeitig daran festhält, daß Mandevilles Reisebericht wohl doch ein literarischer Text sein müsse, sondern darum zu zeigen, wie im Aussagefeld des spätmittelalterlichen Reiseberichts Mandevilles Reisen aufgehoben sind. Denn fallt Mandeville aus allen Gattungsbestimmungen heraus, die im Reisebericht die Beziehung des 202 203
Benedetto, S. 182. Benedetto, S. 39. „Wir verlassen jetzt Kesimur und nehmen einen anderen Weg, denn wenn wir in derselben Richtung weitergingen, kämen wir nach Indien, und dorthin will ich nicht gelangen. Erst auf der Rückreise will ich, der Ordnung gemäß, von Indien erzählen. Wir wenden uns also wieder nach Badascian, eine andere Möglichkeit gibt es nicht" (Guignard, S. 72).
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Reisen, Erfahrung und die Konstituierung des Subjekts
Zeugen zur Welt als Bericht „authentischer" Erfahrung (hier im empirischen Sinne gedacht) sehen, so tritt er dann wieder und mit allem Recht in sie ein, wenn der Augenzeuge in seiner Beziehung zum Text betrachtet, er also als die zentrale Gattungsdominante des Augenzeugenberichts gesehen wird. Wenn Ridder bezüglich Mandevilles vom „Authentizitätsanspruch des Werkes"204 spricht, dem die Bearbeitungen der Übersetzer nicht Rechnung trügen, dann verweist die Paradoxie seiner Aussage - denn welche Art von Authentizitätsanspruch sollte das wohl sein bei einem Autor, der selbst unterschiedliche Quellen verarbeitet hat, und wie könnte ein solcher „Authentizitätsanspruch" durch wiederum erneute Bearbeitung verletzt werden - auf das ungeklärte Problem des Aussagefeldes, innerhalb dessen sich die Augenzeugenberichte bewegen. Gerade an genuin narrativ-fiktionalen Elementen, in denen sich potentiell der Reisebericht zum Roman hin öffnet, hat der Reisebericht John Mandevilles nicht partizipiert. Mandeville ist kein „fahrender", sondern ein „erfahrener" Ritter, kein „Chevalier errant", sondern ein „Chevalier enarrant". Die Erfahrbarkeit der Fremde als zentrales Element der Erfahrbarkeit der Welt ist bis zu Mandeville bereits so stark geworden, daß über sie nur noch im Medium der Erfahrung i.S. von Augenzeugenschafit geschrieben werden kann. In dieser Dominanz der Erfahrbarkeit treibt sie das erfahrende Subjekt als ein fiktives aus sich hervor. Nicht die von Mandeville beschriebene Welt also ist fiktiv, sondern das Erfahrung repräsentierende Subjekt. Die Seite an der sich Mandevilles Bericht zur Fiktionalität öffnet, ist nicht die der resfictae, sondern eines fictum subjectum. Die angenommene Erfahrbarkeit der Welt drängt dazu, ein Subjekt zu erfinden, das sie vollständig erfahren hat. Als Möglichkeit ist dies in der fortlaufenden Textkonstitution der Fernostasienreiseberichte bereits angelegt, wie die immer wieder erfolgende Einfügung des testimonium occulis des darstellenden Subjekts durch Redaktoren und Schreiber ebenso wie die wechselnden Identitätszuweisungen für dieses Subjekt zeigen. Vollständigkeit der Erfahrung der fremden Welt aber ist nur mittels eines fiktiven Subjekts zu erreichen, das die Kontingenz des durch eine bestimmte Reiseroute Gesehenen auf eine vollständig erfahrene Welt hin zu überschreiten vermag. Was in den späteren empirischen Wissenschaften in Taxonomien und Tabellen gerade durch die Ausschaltung des einzelnen Subjekts erreicht werden soll, wird hier durch die Erfindung eines Subjekts erreicht. Die Erfahrung beginnt auf Vollständigkeit zu drängen, aber da sie an das Subjekt des Augenzeugen gebunden bleibt, weil sie noch innerhalb des Horizonts des nur Beglaubigungsfahigen Besonderen verblieben und nicht szientifisch-methodisiert und damit vom Individuum losgelöst ist, fuhrt sie schließlich zur Erfindung eines einheitlichen Subjekts, das alles, was über die fremde Welt des Ostens mitgeteilt werden kann, „erfahren" hat. Darin klingt der doppelte Wortsinn von „er-fahren" als Bewegungsverb und Kenntnis des Besonderen an und wird bis an seine äußerste Grenze gefuhrt. Der Schlüsel zur Fiktionalität des Reisebuchs des Jean de Mandeville liegt nicht in der beschriebenen Welt, sondern im beschreibenden Subjekt. Kurzum, Mandeville ist kein Lügner, sondern er ist erlogen. Ein Hinweis darauf, daß die Kluft zwischen der Erfahrbarkeit der Welt und den Erfahrungsmöglichkeiten eines einzelnen Subjektes zu einem Zeitpunkt, als sich die Erkenntnistheorie als empirische Wissenschaft zu formieren begann, gesehen worden ist, 204
Klaus Ridder, Jean de Mandevilles >Reisen Xttgfcep*pitn-sKuitit.ifiesfcfm. t» cui fiÌprV4iii;'fm.ihl urCliiiiuQ' '¿¡iste Jrticiryre itgifucnflmii canattv£;1«fH«ifnir turi«tic.iiciWi^.iiflTejir^Ito.-inVciìcjfi aJ ttptn ÌHmfKWifrtiunfT-iKirjiiff.frittalaq fii liiri'.-cw.fl-'raqWKfi?itip-c (Taf ^crepian f• fìtl0>iuingvril!lr.' Önfmantfcftc jjttmnieitV ninVi^-iil* "Siì.Ì e: :Ì ; 1 nie à; .il ftv j»(H> rmme nSirfV.i»WMS y'i fyiztf Hifiwftttemàirtìiiatqttm •pMmr.-qmmf conSic uba Icìiir-lrczarì'rfìjftì rraf infittimi yaìnAj Ìrr.thr^Miaftar nT.i c -ìcctdte liamWf In t.ltojtTartl^uafloifmui^óifynlicyCli'UÌ'i^l&i" cita qclranttiì K'imiHiifaa i(ii air metti etili ri ttSifi «in.'&tùf«ifrihH? «a cu],.ìr-'pmi:ii'iti,i raiwnèccgar.-rr; 11 -V IrtifigMatyjjaSfiiVtviìa'yauIati rrfpiMHj» tin >cm tqrcferoweerifarrflJttftttmftrait jjuueittif: cc|«r urir.ir aliqnrmfti lintr 61 ¿¡ti^f «KcSrr trnlair.Wc>-.'i%litr ttó?rtj» »iamiy-&anl- liftKVtlofifucfccKlf"tfpttlt.! (V'Icj'inr.irof fi r rtM.im.iiirei •mreftnft'nnftrc-iilfio.n firitiim-an.ilcf.