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German Pages 415 [420] Year 1985
ErnstBloch Erbschaft dieser Be taschenbuch wissenschaft
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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 553
Ernst Bloch Erbschaft dieser Zeit Erweiterte Ausgabe
Suhrkamp
Dieser Band ist text- und seitenidentisch mit Ernst Bloch Gesamtausgabe Band 4 Erbschaft dieser Zeit Erweiterte Ausgabe © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1962 Erste Ausgabe: Zürich 1935 Oprecht & Helbling
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bloch, Ernst: Werkausgabe / Ernst Bloch. - Frankfurt am Main: Suhrkamp
ISBN 3-518-09949-3
NE: Bloch, Ernst: [Sammlung] Bd. 4. Erbschaft dieser Zeit. - Erw. Ausg., 1. Aufl. - 1985. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 553) ISBN
3-5 18-28153-4 NE: GT
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 553 Erste Auflage 1985 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 1234356 - 90 89 88 87 86 85
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B. Ungleichzeitigkeiten, berichtet . . . .,. 2. „een
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C. Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit, philosophisch
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der ungleichzeitigen Widersprüche 116 — Problem einer mehrschichtigen Dialektik ı22
jD. Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches Der künftige Befreier 128 — Das diesseitige Evangelium 132 — Chiliasmus oder die Erde als Paradies 140 — Fazit für einen Teil der konkret-utopischen Praxis 146
| E. Nicht Hades, sondern Himmel auf Erden
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Ehe
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Aufklärung und dialektische Weisheit zugleich 155 — Beispiele der Verwandlung 158
; Erinnerung: Hitlers Gewalt
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Schlußform: Romantische Hakenbildung
Die bunte Flucht
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Über Märchen, Kolportage und Sage
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- Der Däumling 168 — Die Silberbüchse Winnetous 169 — Traumschein, Jahrmarkt und Kolportage 173 — Das Riesenspielzeug als Sage 182
_ Okkulte Phantastik und Heidentum
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Erlerntes Gruseln 190 — Science drolatique 190 — Geheimniskrämerei als Großbetrieb 192 — Verborgene Qualität 195
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Diskussionen über Expressionismus
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Existenzerhellung und Symbolschau »quer zum Dasein«
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| Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage . - Hieroglyphen des XIX. Jahrhunderts
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ERBSCHAFT
DIESER
ZEIT
Vorwort zur Ausgabe 1935
Hier wird breit gesehen. Die Zeit fault und kreißt zugleich. Der Zustand ist elend oder niederträchtig, der Weg heraus krumm. Kein Zweifel aber, sein Ende wird nicht bürgerlich sein. Das Neue kommt besonders vertrackt. Als solches wird es hier
- beachtet, auch im Hemmenden. Vor allem jedoch im Bruch wider Willen und einigen seiner schillernden Zeichen. Die sind, wie _ selbstverständlich, durchaus nur an den Opfern, den betrogenen und berauschten. Die Täuscher selbst, die Taten derer, die Deutschland über sich hat, schillern nicht. Sie haben nur das Gesicht und Amt, fürs Kapital, das sie rief, den möglichst
. zweckdienlichen Grad von Schreck und Konfusion zu erzeugen. _ Hier ist keine Neuigkeit, nicht einmal ein Bruch, in den einzuhaken wäre. Die Mächte, welche heute noch herrschen, sind sich trotz allem einig. Ein anderes aber sind die, unter denen sie betrügen. Die
Bauern und die anfälligen Kleinbürger, welche heute in mehrerem Sinn nicht »satt« werden. Sie sind in einer teils ver‚ nebelten, teils merkwürdigen Unruhe, wie man vor der Krise
nichts dergleichen sah. So besteht die Frage ihrer Anfälligkeit oder eines immerhin vertrackten Neuen auch im wirklich oder scheinhaft Hemmenden. Ein antikapitalistischer » Trieb« ist auch außerhalb der proletarischen Schicht, obwohl diese, theoretisch wie praktisch, das wirkliche Werden voranträgt. Obwohl die proletarische Befreiung und damit, letzthin, die aller Menschen nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann. Der Tenor dieser Blätter, der Standort, von dem untersucht wird, ist des näheren marxistisch. Gerade innerhalb dieses Tenors aber geht, mittelbar, an der ideologischen Bewegung der klein-, erst recht der großbürgerlichen kulturellen Schicht noch eine andere Frage auf. Diese nämlich: Trägt das untergehende Bürgertum, eben als untergehendes, Elemente zum Aufbau der neuen Welt bei, und welche sind, gegebenenfalls, diese Elemente? Es ist eine rein mittelbare Frage, eine des diabolischen Gebrauchs; als solche 15
ist sie bisher, wie es scheint, vernachlässigt worden, obwohl sie durchaus dialektisch ist. Denn nicht nur im revolutionären Aufstieg oder in der tüchtigen Blüte einer Klasse, auch in ihrem Niedergang und den mannigfachen Inhalten, die gerade die Zersetzung freimacht, kann ein dialektisch brauchbares »Erbe« enthalten sein. An sich gesehen, unmittelbar, dient der Flimmer-
oder Rauschbetrug des Fascismus nur dem Großkapital, das mit ihm den Blick verelendender Schichten zerstreut oder verdun-
kelt. Mittelbar aber zeigt sich in der Zerstreuung flacher Bruch einer bisher noch flacher geschlossenen Oberfläche, im irrationalen Rausch Dampf aus nicht nur kapitalistisch nützlichen Ab-
gründen. Außer Gemeinheit und sprachloser Roheit, außer Dummheit
und panischer Betrügbarkeit, wie sie jede Stunde,
jedes Wort desSchrecken-Deutschland zeigt, ist ein Stück älteren und romantischen Widerspruchs zum
Kapitalismus, mit Ver-
missungen am gegenwärtigen Leben, mit Sehnsucht nach einem unklar anderen. Die anfällige Lage der Bauern und Angestellten hat hier ihren verschiedenen Reflex, und zwar nicht bloß einen der Zurückgebliebenheit, sondern zuweilen einen echter »Un-
gleichzeitigkeit« dazu, nämlich eines wirtschaftlich-ideologischen Restseins aus früheren Zeiten. Heute dienen die Widersprüche dieser Ungleichzeitigkeit ausschließlich der Reaktion; in dieser fast ungestörten Verwendbarkeit aber liegt zugleich ein besonderes marxistisches Problem. Man hat das Verhältnis der
»Irratio« innerhalb der unzulänglichen kapitalistischen »Ratio« allzu abstrakt ausgekreist, statt daß es von Fall zu Fall unter-
sucht worden wäre und der eigene Widerspruch dieses Verhältnisses gegebenenfalls konkret besetzt. Daher denn Hunde und falsche Magier ungestört in große, ehemals sozialistische Gebiete einbrechen konnten. Daher denn diese Gebiete nicht
nur Schlupfwinkel und Arsenale der Reaktion, sondern in Gefahr sind, Wetterwinkel auch für später, auch für den siegreichen Marxismus zu bleiben. Es ist an der Zeit, der Reaktion diese Waffen aus der Hand zu schlagen. Erst recht an der Zeit, Wider-
sprüche ungleichzeitiger Schichten gegen den Kapitalismus unter sozialistischer Führung zu mobilisieren. Hier werde die »Irratio« nicht in Bausch und Bogen verlacht, sondern besetzt: und zwar von einem Standort, der sich auf »Irratio« etwas echter versteht 16
als die Nazis und ihre Großkapitalisten. Dieser Absicht dient im | Buch, nach dem kleinen einleitenden »Staub«, nach der anders vorbereitenden, für Angestellte bereits gewesenen »Zerstreu-
" ung«, vor allem der Teil »Berauschung«. Ein Kapitel der »Berauschung« (das ist, des Nationalsozialismus): » Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik« steht in der orientierenden
Mitte. Damit aber ist die erstaunliche Zeit nicht erschöpft. Denn auch _ die untergehende Oberschicht stellt Elemente her oder setzt sie frei, die nicht durchaus zu ihr gehören. Daß die jeweils letzte Maschine, welche die spätbürgerliche Technik erzeugt, die beste sei, wird marxistisch nicht bestritten. Jedoch fast gar kein Erbe
wird an den ideologischen Erscheinungen und Produkten der Spätzeit anerkannt. Außer der »Sachlichkeit«, als einer technoiden und zugleich scheinkollektiven Form, wird der Endspurt nicht beachtet, ob er gleich voller Merkwürdigkeiten steckt. Ein Teil dieser ist gewiß auch mittelbar völlig wesenlos oder nur »soziologisch« interessant: doch einiges, wie vor allem die sonderbare spätbürgerliche »Montage«, führt ohne Zweifel mehr als Untergang. Denn Montage bricht aus dem eingestürzten Zusammenhang und den mancherlei Relativismen der Zeit Teile heraus, um sie zu neuen Figuren zu verbinden. Dieser Vorgang ‚ist oft nur dekorativ, oft aber bereits experimentierend wider Willen oder, wenn gebraucht, wie etwa bei Brecht, mit Willen;
es ist ein Vorgang der Unterbrechung und dadurch einer der Überschneidung vordem weit entfernter Partien. Gerade hier ist der Reichtum einer brechenden Zeit groß, einer auffallenden Mischzeit von Abend und Morgen in den zwanziger Jahren. Das reicht von kaum so gewesenen Blick- und Bildverbindungen bis Proust bis Joyce bis Brecht und darüber hinaus,ist eine kaleidoskopische Zeit, eine »Revue«. Diesem Inhalt dient der Teil »Sachlichkeit und Montage«; er enthält zugleich die spezifische
»Irratio« des Großbürgertums selbst, den schlauen und vornehmen Überdruß an »Mechanei«. Ihn hat die Bourgeoisie schon seit 30 Jahren lyrisch und philosophisch vorbereitet, teils als Pfennig in der Not, teils als Bruchstelle der eigenen Müdigkeit. Diese Bruchstellen besetzt das Kapital jetzt mit armierten Kleinbürgern im Kampf gegen das Proletariat; sie könnten, richtig
17
besetzt, Breschen sein oder mindestens Schwächungen der reaktionären Front. »Leben«, »Seele«, »Unbewußtes«, »Nation«, »Ganzheit«, »Reich«, und ähnliche Anti-Mechanismen wären nicht so hundertprozentig reaktionär verwertbar, wollte die Revolution hier nicht bloß, mit Recht, entlarven, sondern, mit ebensoviel Recht, konkret überbieten und sich des alten Besitzes
gerade dieser Kategorien erinnern. Des alten Besitzes: was nicht bedeutet, daß er unverändert seit der Zeit des jungen Marx der heutige sein kann. Doch die Pflicht zur Prüfung und Besetzung möglicher Gehalte besteht auch hier; das Buch ist ein Handgemenge, und zwar mitten unter Anfälligen, ja mitten im Feind, um ihn gegebenenfalls auszurauben. Es beschränkt sich auf aktuelle Züge, Namen und das Symptom, das mit ihnen gesetzt ist;
der Hintergrund ist konkret-utopisch, hier auch aus den Farben, den noch so widerwilligen, den Erbstücken eines nicht zu ver-
gessenden Abschnitts, seines Endes und Übergangs. Die vorliegende Schrift enthält ihr Stück spätbürgerlichen Zeitinhalts, großenteils als zweideutigen und so daher dialektisiert. Mit Kleinem beginnt das, hört sich gleichsam erst hinein. Springt immer von neuem die Fälle an, schreitet unterbrechend fort, wie sich heute das gehört. So sprachlich wie gegenständlich, bis das Tempo erreicht ist, um die großen Fragestrecken selber
zu durchmessen. Das Buch ist wesentlich während der Zeiten geschrieben, die es untersucht; und in Deutschland. Sein Gegenstand eben: das stäubende Zerfalls-Bürgertum, und zwar in
Schichten und Zeiten hintereinander: so ist die »Zerstreuung« (1924-1929) schon vorüber, die »Berauschung« (1924-1933) noch mitten im Gang; doch beide wirken übergehend fort. »Sachlichkeit und Montage«, als widerspruchsvoller Zustand der Ober-
schicht, umfassen auch zeitlich die beiden unteren Erscheinungen des Übergangs. Der Akzent liegt nicht nur auf der Entlarvung des ideologischen Scheins, sondern auf der Musterung des möglichen Rests. Zwar fehlt die Art nicht, mit Hexen umzugehen, ja sie ist die kritische Musik jeden Beginns, doch wichtiger gerade ist, aus der Konkursmasse zu nehmen, was anfällig, was vermittelt brauchbar erscheint, und das Zweifelhafte zu neutralisieren.
Ein Wort noch, damit Mißverstehen, das es sich gerne bequem macht, erschwert sei. Spricht diese Schrift nicht nur von oben 18
‚herab, sieht sie auch allerhand böses oder glitzerndes Durcheinander an, so reicht sie dem Teufel doch nicht den sogenannten
kleinen Finger. Sondern es werde ihm - mit bedeutend mehr Anstrengung als der des kleinen Fingers — seine Lügenwaffe und sein Blendwerk genommen. Das aber geschieht nicht durch den Nachweis allein, daß Kleinbürger nur schief und trüb rebellieren: solches weiß man längst, sowieso. Daß bei ihnen »nichts
‚als kleinbürgerliche Opposition« vorliege: über diesen Teil der Feststellung ist kein Streit, denn was sollen Kleinbürger anderes zur Verfügung haben als, bestenfalls, kleinbürgerliche Opposition? Wichtiger aber als diese interessante, nur etwas stereo-
‚type Feststellung ist heute Unterscheidung und Erkundung, ist ein Feldzug, der den Gegner nicht unterschätzt, der vor allem
auf Beute ausgeht. Auf Beute an unruhig gewordenen Menschen, an dem häufig zweideutigen, ja revolutionären Material,
das allein als zweideutiges dem »antikapitalistischen« Betrug dienen kann. Man bemerkt: hier ist eine neue Fragestellung, sie
‚formt nicht selber kleinbürgerliche Opposition, auch nicht großbürgerliche Infektion oder was sonst das Lied der alten Walze
singt. Vielmehr werden beide Zustände vom marxistischen Standort erst mittelbar aufgesucht und ihr Dialektisches notiert, sofern es — mitten in der bloßen, wesenlosen Fäulnis des Zer‚falls — als eines des Übergangs vorliegt. Auch hat diese Fragestellung weder mit sozialdemokratischer Verwässerung noch mit trotzkistischen Quertreibereien das mindeste gemein; denn was die Partei vor dem Hitlersieg getan hat, war vollkommen richtig, nur was sie nicht getan hat, das war falsch. Die Tendenz vernichtet, was sich ihr in den Weg stellt, sie erbt, was ihr auf dem
Weg liegt. Das war tot sein, die sehr genau Revolution
selten fälliger als heute. Gewiß muß die Tante erst man beerben will; doch vorher schon kann man sich im Zimmer umsehen. Gewiß wird die geschehene eine ganze Reihe von Fragen und Scheingehalten liquidieren, die heute noch als solche stehen; doch nicht alles noch »Irrationale« ist einfach auflösbare Dummheit. Der Hun-
ger nach - sage man: Weiterungen bleibt oder er wäre der erste, der durch Entziehung von Nahrungsmitteln gestillt worden ist. Die verdammt übersichtliche Begabung hat auch im »Himmel 19
auf Erden« keinen Platz, es gibt Fragen und Gehalte, die gerade der wirklich konkrete Begriff nicht ohne weiteres auflöst, sondern denen er vorher gerecht wird. Ein anderes freilich ist der Grad der »Rettung« solcher Gehalte, vielmehr ihrer Ausraubung für einen anderen Zweck. Denn wer einmal marxistische
Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer nicht nur alles ideologische Gewäsche, auch das, was nach der Kritik gegebenenfalls übrig bleibt, ist ihm nicht happy end um jeden Preis oder die elende Logik des Zwar-Aber. Sondern oft ergibt sich nur die Warnung vor einem gefährlichen, vor einem lang noch verführenden Schlupf- und Wetterwinkel irrationaler Art, diese allerdings. Und das mittelbar »positive« Erbe, welches bleibt, erscheint desto stärker zum Bedenken oder als Bedenken; diese
»Rettung« gibt dann Stoff zu einem marxistischen Problem oder zur Propaganda unter Anfälligen oder zur Neutralisierung. Will man die Mittel verstehen und überwinden, die einem verelen-
dınden Bürger gerade gegen die echte Revolution gereicht werden, so muß man - diabolisch - in Bürgers Lande oder besser: auf sein Schiff. Er hat nur noch ein Schiff; denn es ist die Zeit des
Übergangs. Das Buch trage seinen Teil dazu bei, Länge und Breite der bürgerlichen Endfahrt zu bestimmen, damit sie wirklich eine Endfahrt sei. Locarno, 1934
Nachschrift 1962
Seitdem sind fast dreißig Jahre vorbei. Aber die Zeit, aus der das vorliegende Buch kam, steht immer noch lebhaft in der Luft. Sogar wachsend lebhaft und das gerade bei jungen Menschen, die sie doch nicht erlebt haben, die sie dafür fast sentimenta-
lisch vermissen. Gemäß dem Ausdruck »golden twenties« und der anderen, übrigens älteren Übertreibung, daß Berlin bis zur Nacht von 1933 die geistige Hauptstadt der Welt gewesen sei.
Zweifellos aber ist die Zeit des Übergangs, durch die zwanziger Jahre illustriert, weiter eine geblieben, wenigstens dei Anlage, bestimmt dem Anruf nach. Dieser Übergang von einer
Gesellschaft in die andere stumpfte die Klassenfronten nich! 20
ab, stand jedoch der Verhärtung zu einem abgemachten Schema entgegen. Das mehr als Interessante solch gemengter Schiffszeit wird im neueren Westen durch überraschenden Wohlstand und zahlreiche Langeweile, im neueren Osten durch ebenso
überraschenden
Nicht-Wohlstand
und monolithische
Lange-
weile nur verdeckt. Der Übergang ist im neueren Osten, sofern dort inhuman verformt, undialektisch gehemmt worden ist,
gar noch in finstere Enge und Stereotypie eingefangen worden. Die berühmte elfte Feuerbachthese von Marx sagt: Die bisherigen Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Doch das wurde, vor allem in Francoländern der Ostseite, dahin praktiziert: Eskommt nur darauf an, die von oben verordnete Welt einhellig zu interPretieren, es ist bei Strafe des Untergangs verboten, sie zu verändern. Diesem nicht einmal partial-sozialistischen und dennoch, vielmehr deshalb totalitären Wesen fehlt allerdings noch weit mehr, noch entschieden anderes als die Erbschaft des Übergangs. Da hemmt weit mehr als die bloß sektiererische Enge, die dann den Kladderadatsch von 1933 befördert hatte. Weit mehr als der damals versäumte Anschluß an die mehreren StaubPotenzen (Zerstreuung, Berauschung, Montage) aus Einsturz. An das Bewußte-Unbewußte proletarisierter, doch nicht pro-
letarischer Schichten, dann an den verspellten Experimentblick höchst anfälliger kultureller Oberschichten. Der sogenannte sozialistische Realismus tat als Kitsch noch lange nachher das Seine, um in solcher Enge gleichzeitig die Dürre und die volle
protzige Zurückgebliebenheit zu zeigen. Doch was ist das im Verhältnis zum anders Fehlenden, womit die größte, die als endgültig intendierte Freiheitsbewegung sich dermaßen von sich
entfremden konnte? Der Kapitalismus mit dem Produkt zweier Weltkriege und dem Fascismus hat nicht nötig, sich wichtig zu machen, doch die Korruption des Besseren wird trotz Pharisäern, die oft nicht einmal das Recht haben, rechtzuhaben, nicht heller.
Es fehlt der Freiheitsklang des alten Antriebs, des implizierten Ziels, das Erbe an 1789, mit der nicht mehr rückgängig zu machenden neunten Symphonie. Es fehlt das Erbe des berichtigten Naturrechts,
als der gesuchten facultas des aufrechten
Gangs, »an den Personen geehrt und im Kollektiv gesichert« 21
(Naturrecht und menschliche Würde). Es fehlt - hierin eine Folie zur zentraleren Ideenlosigkeit im neueren Westen — die Fortentwicklung der Theorie, ökonomisch am dringendsten,
eine reformatio buchstäblich in capite (was nicht »Führer« heißt) und in membris (was überhaupt nicht Apparat mit Befohlenen heißt). Vorhanden aber ist und fehlt immer noch nicht, was die formulierte, wenn auch nicht absichernd durchdachte größte Freiheitsbewegung der Welt als Geißel der Furcht statt als Brechung
der letzten Kette erscheinen
ließ; was
ihr den
Archetyp der Mauer zuzog statt des »Sprunges aus der Notwendigkeit in die Freiheit«. Und trotzdem hängt mindestens die
Dürre und Enge mit jenem sektiererischen Aufkläricht zusammen, der in den zwanziger Jahren gegen die betrügerische Berauschung so hilflos, dazu aber gegen eine Experimentkunst so verständnislos machte. Letztere Verständnislosigkeit, offiziell geblieben, heißt eben sozialistischer Realismus; wegen Abwesenheit von beidem. Auch von daher also ist ein Blick auf den so wenig bewältigten Lockgrund der Nazis, danach aber auf die so heimatlos gewordene Merkwürdigkeit, Auflösungs-Dichte von Werken lehrreich, die heute noch des satten Galerietons gänzlich
ermangeln. Die immer noch ihr Jahrhundert in die Schranken fordern, - so fern auch ihre Montage von Rhetorik ist, und gerade deshalb. »Erbschaft dieser Zeit« also, der fortwirkenden
Montage-Zeit vor allem: wenn das damit beschäftigte Buch in neuer, wenig veränderter Ausgabe erscheint, dann dürfte das
darin Weggeworfene, darin Umgerechnete streckenweise gar wie Jetztzeit wirken, negativ und positiv. Samt einigen damals
geschriebenen Stücken, die in die Montage des Buches selber noch eingefügt wurden. »Golden twenties«: das Nazi-Entsetzen keimte in ihnen, und kein Licht fiel hier nach unten, die Experi-
mentkunst zog ihre Linien in Unerhörtes und fand nichts, woran sie sich halten kann, — möchte das einmal anders werden. Hohlraum mit Funken, das bleibt wohl lange unser Zustand, doch eir Hohlraum, der unverstellt gehen läßt, und mit Funken, die
wachsend eine Figur der Richtung vorbilden. Die Wege im Einsturz sind legbar, quer hindurch.
Tübingen, im März 1962 22
HALB
Wir sind noch. Aber es gelingt nur halb. Der kleine Mann hält zu vieles zurück. Er meint noch, für sich selber.
MUFF
Mehr als je lebt man mit ihm. Kinder werden dem Muff nicht _ entzogen. Sie nehmen ihn weiter auf oder leiden solange, bis sie selber wie der Vater sind. Auch wer nicht zuhört, merkt die
Gespräche desSpießers; da ist das Hocken am Eßtisch geblieben, der Klatsch, der Besuch, das falsche Lachen und das echte Gift, das sie untereinander streuen. Auch wer nicht mitatmet, den
grüßt die enge verbrauchte Luft. Sie dringt zum jungen Mann nach unten, zu den schönen Leuten nach oben. Hält hier gut
still, dort gut taub.
DER
KLATSCH
Daß man es mit ihm machen könne, glaubt keiner. Die mit Pöstchen würden sich das verbitten, nämlich von ihresgleichen. Nach
‚ oben begehrt der kleine Mann keinesfalls auf; außer ganz allgemein, gegen den grünen Tisch und dergleichen. Desto leichter aber läßt er im Haus aus, was ihn quält; uneigentlich, als Streit mit den Schwächeren, als Klatsch gegen Nachbarn. Auch die Bauern kennen Klatsch, süße Miene im Gesicht, Gestank hinterher. Doch das Landleben läßt ihn nie so bequem geraten, nie so die Nachbarschaft selber werden wie im Mietshaus. Aus diesem kriechen die Würmer jeden Tag; sie kommen aus dem Mehl, das fehlt, aus den geliehenen Töpfen, aus der vielen Sitte, die dazu
25
dient, sie verletzt zu haben. Klatsch kriecht die Treppen auf und ab, hält diese Menschen zusammen, indem er sie trennt. Er ist die schiefe Art, unzufrieden zu sein, die falsch adressierte, die Lust, zu kämpfen, ohne sich dem Gegner zu stellen. Stellt er sich aber, mit eingestemmten Armen, dann zeigt sich, wieviel im ein-
geschränkten Menschen ist. Dort, wo er ist, kann man ihm nichts recht machen.
WISSENDE
AUGEN
Öfter stehen kleine Leute noch satt auf. Dazu reicht es zuweilen, nur dazu und mit Mühe. Aus dem Rechnen aber kam der knapp
Bezahlte nie heraus, und Sprünge macht er selten. Merkwürdig nun, daß er das eingeschränkte Leben nicht nur billig, sondern auch recht findet. Daß er der Schicht unter ihm nicht den Aufstrich aufs Brot gönnt; und die Oberen sind doppelt anerkannt,
wenn sie sparen. Was gar den Bettler angeht, so darf er über Pfennige
nicht hinauskommen;
das ihm zustehende
Maß
an
Münze ist gering und vor allem: es ist nur für Brot. Der gütige Spender leidet, wenn sich arme Kinder für den Pfennig Süßes kaufen, wehe gar dem Bettler, der ein Scherflein, das keinem
Elend gewachsen ist, versäuft. Denn die milde Gabe verlangt, daß der Nehmer noch viel bescheidener sei als sie selbst. Aber auch kleine Leute spüren, daß sie nichts zu lachen haben. Und trösten sich darüber, nämlich mit der Krankheit der anderen, die der Lust angeblich folgt. In Ordnung also, wenn Ver-
gnügen sich an denen »rächt«, die es haben. Der »verlebte« junge Mann gehört hieher, besonders
auch die »wissenden Augen«;
letztere kommen gewöhnlich bei Halbwüchsigen vor und dann gern schwarz umrändert. Als machte der Leib, ausgerechnet dieser, den Muckern die Freude, ihre Geschäfte zu besorgen. Als käme selbst der Katzenjammer nicht von schlechtem Schnaps,
sondern von der Ausschweifung. Doch die Kleinbürger hören nicht auf, ihresgleichen, erst recht nicht ihresgleichen mit Krankheiten zu untergraben, die ihr Rachetrieb erst gegraben hat.
Wenn eine Tänzerin stirbt, ist sie an den immer wilderen Reizen ihres
Lebensgestorben, und der Schmock setzt diese zur Schwindsucht 26
"hinzu. Ihr zarter, kindhafter Körper war den Anstrengungen ‚ihrer
Lebensführung
nicht
gewachsen;
das
traurige
Ende,
. sagt er, nach einem hemmungslosen Leben. Zur Genugtuung des Lesers, der zwar Laster hat, aber nun doch keine Laster ge-
lernt hat. Dabei sind gerade die Kleinbürger am kränksten, weil sie in ihrer Angst sich die Krankheiten erst anhängen und vererben. So etwas
von
Belastetsein, von
Fällen in der Familie
kommt in weniger soliden Kreisen gar nicht vor. Von der Schwindsucht der Proleten redet der Mittelstand weniger als von der der Tänzerin, obwohl hier ein wirklich trauriges Ende zu sein pflegt. Er sieht nur den Schnupfen, der angeblich von frischer Luft kommt, von derselben, nach der er im Grunde sich
- sehnt.
AUS NAH
UND
FERN
Auch viel zu lesen, sagt der Mittlere, ist nicht gesund. Zu Hause
haben geplagte Väter sowieso keinen Platz, woran sie sitzen könnten. Das Zimmer gehört der Hausfrau, die es reinigt, nicht dem Mann, der dort bloß gähnt und ißt. Das ungemütliche Zu-
hause, die Flucht daraus haben derart beim Mittelstand angefangen, seit langem, nicht weiter oben. Am Stammtisch vertreibt er sich den Abend mit Gerüchten und Geschwätz, lernt nur von
seinesgleichen, zerbricht sich keinen Kopf. Vor allem zwingt ihn keine falsche Liebe, mehr wissen zu wollen, als man fürs Ge-
schäft oder zum Spaß braucht. Vom Geschäft weiß der kleine Mann nicht mehr, als daß es gut oder schlecht gehe, je nach den
»Zeiten«. Was aber den Spaß betrifft und eben die blätternde Lektüre, so kommt die Abneigung des älteren Kleinbürgers gegen brotlose Künste hinzu, die Unlust, diese ernst zu nehmen.
Sogenannte Grübler enden in der »Anstalt«, weit weg vom gesunden
Menschenverstand.
Freies Leben rächt sich an der
körperlichen Gesundheit, doch überflüssiges Denken am Kopf: das also ist die andere Fabel des Kleinbürgertums. So war es
schon oberflächlich und kannegießerte, als überall noch der volle, zusammenhängende Wissensstoff. Nicht nur der Abend im häuslichen Kreis ist dem Mittleren zum Sammeln nicht einladend. 27
Ihm stillte auch die »Woche«, die bildernde, lange schon das
geistige Bedürfnis, als gebildete Kreise durchaus noch zusammenhängend lasen. Vom Kleinbürger, der schwätzt und blättert, ging, oft verblüffenderweise, das zerstreute Leben an.
SCHREIBENDER
KITSCH
Da findet auch Fades sich leicht zueinander. Es schreibt für unwache Leute in der Art, wie diese sich wünschen. Das Innen der Leser hier ist selber verdrückt, ihr von ihnen wahrgenommenes Draußen nicht dasjenige, worin sie wirklich sind. Ein Schreiber, der nicht mit abgelegten Gefühlen handelte, möchte hier keinen Platz finden. In einer Schicht, die lebt, indem sie sich belügt und belügen läßt, die nicht nur Kitsch will, sondern es großenteils ist. Bleibt einer freilich in der guten Stube und dem, was sie sich vormacht, dann läßt sich noch kleines Gestern sagen. ‚Dies Sagbare hat hier sowohl seinen Markt, wovon es lebt, wie seinen
sogenannten Born, woraus es schöpft. Junghelles Fühlen und ähnliche Worte, deren keines mehr jung, hell oder gefühlt ic, kommen aus dem Born in Menge hervor. Das Ende bleibt der innige Kitsch, was Schweinerei nicht ausschließt; Versonnenes
wie Knospentolles sind so recht geeignet für besinnliche Stunden. Diese Helden führen in kein aufreizendes Leben, sondern bloß hinters Licht. Dort ist noch kurzer Lauf, stöbernd im Muff herum.
HALTLOS
Etwas wird anders. Von unten läuft ein Stoß weiter. Die Mitte merkt sich jetzt mindestens als arm. Zwar merkt sie das falsch; denn es ist verschieden, nie Geld gehabt zu haben oder sein Geld verloren zu haben. Doch zuweilen auch kommt die einzigartige
Lage, daß Spießbürger das Leben erneuern wollen. Hier ist die Luft vielleicht nicht mehr so dick wie früher. Doch sie weht noch nicht, sie staubt nur. 28
ERSTER TEIL
ANGESTELLTE
UND
ZERSTREUUNG
DER
MATTE
Er mag nicht mehr. Aber er sieht nirgends, wie und wo. So läßt ' sich der abhängige Mann weiter benützen. Hält sich für einen anderen, als er ist.
DIE
KRAGEN
Von selbst käme keiner. Doch später richtet er sich zurecht. Wer sich verkauft, gibt sich zwar nicht immer ganz. Die Arbeiter stehen feindlich zu dem, was mit ihnen geschieht. Aber der Angestellte entspricht ganz dem Bild, das sich die Herren aus ihm machen, das er aus sich machen läßt. Wie die Mädchen ihr trost-
loses Leben führen (und der Abend betäubt nur für den nächsten Tag). Wie die Männer untergeordnet bleiben, mißvergnügt für sich, heiter im Verkehr; wie keiner die unselbständige Grenze überschreitet. Im Kragen des 'Iages, im billigen Vergnügen des Abends, das eigens für sie gestellt wird, fühlen sie sich als Bürger. Mit einem Pflichtgefühl, woran es nichts zu nagen und zu beißen gibt, polieren sie noch ihre Ketten vaterländisch. In kleinen Städten leben sie nur von gestern her, doch in großen haben sie die Umzüge, falsch glänzendes Vergnügen dazu. So sind sie nicht mehr die eingeschränkten kleinen Leute des stäubenden
Muffs, aber neue, außer sich seiende, abgelenkte. Die sich zerstreuen lassen, durch Kino oder Rasse, damit sie sich nicht sammeln. Auseinandergehen, rufen Polizisten in schwierigen Zeiten auf der Straße, circulez, messieurs. Das besorgen die white collar workers schon allein, lassen es mit sich besorgen.
31
KLEINE
STADT
(1924)
Hier ist alles still, atmet nur noch kurz. Das blühende Land, mit Bauern, reicht vergebens in den Ort herein. Wenige leben gern in kleineren Städten, diese selbst leben kaum mehr. Und werden völlig trostlos, wenn der Herbst kommt.
Die leeren Straßen, nicht einmal der Wind fühlt sich darin wohl. Eine alte Tram klappert vom Bahnhof zum Marktplatz;
ihr inneres Licht beleuchtet müde Gesichter, die nicht heiterer werden, weil sie sich alle kennen. Armselige Läden sind mit Töpfen, billigen Kleidern, Abfall aus der Großstadt überfüllt; viel zu viel Konserven altern dazwischen. Das Papiergeschäft — bald wird Christbaumwatte in der Auslage liegen, drei Kerzen, Briefpapier mit Tannengrün, etwas Stanniol. Immer weniger Originale durchsetzen die kleine Stadt, immer weniger Sprache,
die noch im eigenen Saft kocht, immer weniger Landbrot, gute alte Zeit in der Zeitung. Statt dessen herrscht die Phrase von gestern, und wie die Läden ihre Konserven haben, so kommt die öffentliche Meinung fertig gesetzt, frisch gekirnt, als Abhub aus
Berlin. Eine unsägliche "Traurigkeit durchsetzt mit dem Herbst, den schlecht beleuchteten Abenden die kleine Stadt; fruchtlos erbittert macht sie die Menschen, die darin interniert sind. Der
Sommer hielt das Bild noch so weit, Geruch von Bergen und Wiesen drang herein, der Himmel war hoch. Aber der Herbst
wirkt genau so einengend wie der Abend in der Eisenbahn, wenn man keine Landschaft mehr sieht, bloß noch die paar Ge-
sichter im Kupee unter der Lampe. Es gibt gewiß Ausnahmen, kleine Städte mit Menschen, die sich eingerichtet haben, die im
Wein die Wahrheit und im Kino die große Welt finden. Aber die meisten Krähwinkel sind heute so gehässig, tot und konventionell wie eine unglückliche Ehe. Hier ist frühes Altern und so wenig Platz, daß es nicht einmal rechte Leere gibt, außer der inwendigen, die sich der Handwerker, der Angestellte, der Chef
in geschiedenen Verbänden, geeintem Brustgefühl vertreiben. Viele Kugeln rollen, jeder wirft die seine, doch alle meiner den König. Freilich nur den nebenan, vor dem man falsch lächeln muß.
32
KUNSTLICHE MITTE (1929) Zu Kracauer: »Die Angestellten«
_ Anderswo ist der Tag nur lauter geworden, nicht voller. Das Leben der großen Stadt schäumt mehr, schwindelt dafür besser. Täuscht den schlecht Bezahlten, der alles bezahlen muß, was man ihm vormacht. Die Arbeiter sind draußen in den Fabriken, die Angestellten bewohnen die Läden, Büros, Straßen der gro-
Ben Stadt selbst. Täglich graues, abends zerstreutes Leben bestimmt ihr Bild, füllt sie. Kracauer ist mitten in diese Art, nicht da zu sein, gereist. Mit einem einzelnen Blick, der durchdringt, wo andere nur berich-
ten, gar plaudern. Mit einer Sprache, die sagen kann, was sie sieht, die sich dicht, mit einer gewissen nüchternen Buntheit, an die erkannte Sache ansetzt. Der Anfang ist mehrere Schritte vor
den üblichen wissenschaftlichen gelegt, kommt dadurch, im ganzen Lauf, ebensoviel über das theoretische Ende hinaus, nämlich tendenziös. Hier wird die wirkliche Lage der Angestellten
auf den Kopf getroffen oder vielmehr auf das falsche Bewußtsein, das sie von sich hat. Die Masken, welche sich die Angestellten aufsetzen oder aufsetzen lassen, werden gezeigt und als
solche erkannt. Merkwürdig nur, wie leicht sich der mittlere Mann darüber
täuschen läßt, wo er lebt. Die Angestellten haben sich in der gleichen Zeit verfünffacht, in der sich die Arbeiter nur verdop-
pelt haben. Auch ist ihre Lage seit dem Krieg eine durchaus andere geworden; doch ihr Bewußtsein hat sich nicht verfünf-
facht, das Bewußtsein ihrer Lage gar ist völlig veraltet. Trotz elender Entlohnung, laufendem Band, äußerster Unsicherheit der Existenz, Angst des Alters, Versperrung der »höheren«
Schichten, kurz, Proletarisierung de facto fühlen sie sich noch als bürgerliche Mitte. Ihre öde Arbeit macht sie mehr stumpf als
rebellisch, Berechtigungsnachweise nähren ein Standesbewußtsein, das keinerlei reales Klassenbewußtsein hinter sich hat; nur mehr die Äußerlichkeiten, kaum mehr die Gehalte eines verschollenen Bürgertums spuken nach. Zum Unterschied vom Arbeiter sind sie der Produktion viel ferner eingegliedert; daher 3%
u ”
werden wirtschaftliche Veränderungen erst später wahrgenommen oder leicht falsch verstanden. Erst ein Drittel der Angestellten hat sich gewerkschaftlich organisiert, und von diesen ist
ein Drittel sozialdemokratisch (nur Vorgeschrittenste sind kommunistisch). Das zweite Drittel ist demokratisch, das letzte seit alters nationalistisch, hat ständische Ideologie (bei diesem Stand), ist eine Art Stammgruppe des heutigen sogenannten Nationalsozialisten. Dies falsche Bewußtsein (noch in der Revolte falsch) reicht zwar auch unter Bauern, und Studenten
geben ihm den Wichs hinzu; doch Angestellte sind ihm vor allem verfallen. Unsagbares Pack aus dem älteren Spießertum mischt seine Instinkte ein, gar keine völkischen, sondern
hämische, fossile, erst recht gegenstandslose, die von Antikapitalismus nur soviel haben, daß sie den Juden als »Wucherer«
totschlagen. Aber die Ablenkung ist hier das Größere daran, die duldende Ablenkung aus dem wirklichen Leben. Sie staut das
Leben auf nichts als Jugend zurück, auf übersteigerte Anfänge, damit die Frage nach dem Wohin gar nicht aufkomme. Sie fördert den Sport und den Abendglanz der Straße, den exotischen
Film oder den sonstwie glitzernden, ja, noch die »neusachliche« Fassade aus Nickel und Glas. Nichts ist dahinter als schmutzige
Wäsche: doch gerade diese soll durch die gläserne Offenheit verdeckt werden (gleichwie das viele Licht nur der Vermehrung der Dunkelheit dient). Cafes, Filme, Lunaparks weisen dem An-
gestellten die Richtung, die er zu gehen hat: - Zeichen, viel zu überbeleuchtet, als daß sie nicht verdächtig wären, der wahren
Richtung auszuweichen, nämlich der zum Proletariat. Mit dem der Angestellte jetzt alles teilt: Not, Sorge und Unsicherheit, nur nicht das klare Bewußtsein dieses seines Zustands. Gewiß hat die Ablenkung, gerade als bunte Jahrmarktstraße, noch ihre andere Seite, eine, die dem geschlossenen Muff nicht wohltut. Gewiß wirft auch diese Seite Staub auf und diesmal schon unterbrechenden, funkelnden, gleichsam Staub hoch zwei. Doch das hindert nicht, daß, unmittelbar, an der ganzen Ausweichung nur Betrug ist, der den Ort und Grund verdecken soll, worauf er geschieht. Die Angestelltenkultur, sagt Kracauer mit starkem Satz, ist die Flucht vor der Revolution und dem Tod. Und
die Herren, die oberen Herren Aufsichtsführenden 34
(wie ein
. Angestellter sie vorm
Klagegericht nannte), unterliegen dem
Schein selber, den sie vormachen. Sie entlehnen ihn den Angestellten, sie bringen den Badeglanz in Film und die immer amüsantere Presse, unfähig anderen Gehalt hier zu haben und zu
setzen. Überall der gleiche Spaß (wenn auch oben viel satter genossen), das Leben als »Betrieb«: als Öde bei Tag, als Flucht bei Nacht. Die neue Mitte spart nicht, denkt nicht an Morgen, zerstreut sich und bald alles.
DER
GLÄNZENDE
FILMMENSCH
Klar, diese neue Art ist leichter geworden. Sie könnte ihr Leben, ihr fliehendes, sonst nicht bestehen. Schon der Sport läßt federn,
. der Film brachte Sinn für Gesten bei. Der Typ hat sich windig verändert, um nicht zu sagen: seemännisch; ja, er will gar kein
Typ sein, sondern Person, und sie befehligt jeden Abend ihr eigenes Schiff. Gegen die Abhängigkeit und Entwürdigung des laufenden Bandes begehrt der lebende Mensch auf; hier aber nicht als unterdrückte Klasse, sondern als Stand, der bessere
Zeiten gesehen hat, als Person im Stand. Durch diesen abgelebten Schein hofft man, sich oben zu halten, und kopiert gerade
diejenigen, welche nach unten stürzen ließen, nämlich die echten Herren, die echten Personen von heutzutage. Das sind die individuellen Wirtschafter selbst, die eigentlichen Mechanisierer des Lebens; doch die Opfer verbinden sich mit ihnen, nicht mit den proletarischen Genossen. Dem Ladenmädchen gelingt ohne
weiteres die rosafarbige oder gebräunte Dame, dem männlichen Angestellten aber mißlingt der Herr. Denn die Dame blüht auch auf dem erotischen Feld, nicht bloß auf dem sozialen, und gepflegtes Äußere
kann
hier manches
ersetzen;
doch der soge-
nannte Herrenmensch ist heute keiner als der Herr des Profits.
Ja, nicht einmal die »Erscheinung« kann der Angestellte vom Chef übernehmen
(weil dieser sie meist nicht hat); also bildet
sich der neue Typ am Film, läßt den Sinn für Gesten zur bloßen Filmperson zusammenschießen. So daß die Hämischkeit des früheren Kleinbürgers gegen Tänzerinnen, Lebenskünstler und 35
dergleichen erlischt; auf der Straße wird wahr, was Ernst Blaß einmal sang: Die Herren kommen wie aus Operetten. Vor dem Film begann auch zuerst das Gefühl für Führer; wie keiner hebt sich der Held dort oben aus dem Durchschnitt, wie keiner ist er von verrottetem Glanzlicht beschienen. Außerordentlich auch die erotische Wirkung, die gerade von diesen falschen Personen
auf ebenso falsche ausging. Verlogene Nervenbündel wurden bewundert als Kindweib; planlose Anhäufung von Fett zog als
gütiger Kraftmann. Erst recht schlug der wirklich schöne oder siegreiche Filmmensch in den Bann, der ihm zukommt. Je mehr
das Leben verfiel, je verlogener die Handlung war, die es ersetzte, desto leichter wurde der Kleinbürger zum Backfisch vor Championen. An Boxern zog er sich physisch in persönliche Höhe, an Filmhelden geistig. Der Chef hatte gewollt, daß er den Proleten verließ, und Achtung vor sich selber befahl ihm zu
folgen. Kommt doch so mancher Held nicht minder aus kleiner Gegend, um ihr desto schöner zu entsteigen: freie Bahn, wenn
nicht mehr dem Tüchtigen, so dem Glücklichen. Nur Chaplin bleibt arm wie zuvor und stellt den Herren ein Bein, ein beschei-
denes. Doch als lustig wird auch er genommen, und die Herren, denen der arme Teufel recht märchenhaft entrinnt, glänzen im
Film gleich nebendran und sind mitnichten widerlegt oder gar gesprengt. Selbst die kolportagehaften Wege, welche von der Hütte in den Salon führen, bleiben Spiel. Schöne Gesten, nackte Schultern, rasch wachsende und glückliche Pilze, doch sie reizen noch umsonst.
UNTER
DEM
STRICH
Wie geht sichs müßig auch hier. Viel Kraft, zu lesen, blieb ohnehin nicht übrig. Nur Leute, die am Tag nichts getan haben, sind
abends geistreich. Läuft gar der Blick unter den Strich, gleich
kommt es nicht mehr genau darauf an. Nicht bloß der Leser ist daran schuld, auch die ihn versorgen.
Schon von selbst zwar gehen die meisten Kaufleute nicht über den Tag hinaus, worin sie blühen. Und abends spannen sie aus: so sieht man den müden Mann, der vom Geschäft nach Hause 36
kommt, nur noch die gähnende Zeitung liest. Groß gedruckt das Leben, das er hat, geplaudert ein anderes, das ihn zerstreut und ‚ nichts angeht. Aber freilich tun die Männer, welche das Leben
unterm Strich der Zeitung schneidend und schreibend spiegeln, erst recht das ihre hinzu, Spaß daraus zu machen, windig und
wendig. Teils scheinen sie zu nichts anderem nütze als zum Schönschreiben oder Durchsehen von vielerlei, das sie nicht kennen. Teils sind sie überwertig, kriechen in ihrem Amt mürrisch unter, bereit, es bei jeder Gelegenheit, wo sie Dichter werden
können, zu verlassen. Zur Mitte, die ihren Beruf gewählt hat und ausfüllt, scheinen hier wenige geboren.
Also geht es stufenweise in den Spaß herab, dieser wird zunehmend beliebig. Der Handelsteil einer guten bürgerlichen Zeitung stimmt noch halb, frisierte Berichte rauht er zuweilen auf. Der politische Teil hat sozusagen Charakter, nämlich den des Verlegerkapitals und der großen Inserate. Aber bereits die Berichte dieses Teils werden desto phantasievoller, je ferner ihr Schauplatz rückt, je dünner also das tatsächliche Wissen ihrer Gegenstände wird. Derart beginnt bereits in mexikanischen, indischen, chinesischen Gegenden, überall dort also, wo undeutlicher Markt und keine vertraute kapitalistische Ebene ist, das Feuilleton. Um unter dem Strich nun ganz und gar Unterhaltung zu werden: Unterhaltung über Vorgänge, die den Geschäftsmann nicht wirklich alterieren, die vor allem möglichst harmlos
oder »bunt« dargestellt werden. Hier stehen die gesprochenen Bilderchen unverbunden nebeneinander, ja, noch das Belehrende hat unterhaltsam
zu
sein. Ausnahmen
gibt es in zwei, drei
alten Blättern; sonst ist überall Kunst der Umgehung, Unlust zur Sache. Solche Feder kann und muß um alles tanzen. Das verblasene bürgerliche Bewußtsein verbläst sich noch einmal. Dem mittleren Leser wird die Leere, worin er leben muß, mit lauter
ungenauen Stückchen zugestellt. Der vermögliche Mann aber, der aus dem Leeren gerade wirtschaftet, macht sich noch Gift unschädlich, das bescheidene Gift eines Toller etwa, indem er es, aus seinem Blatt, in anregenden 'Ieilen nimmt. Und der Schrei-
bende darf vorerst alles sagen, weil er nichts zu sagen hat.
37
EIN SIEG DES MAGAZINS (1929) Immer weiter noch fällt die Mühe aus. Die Zeitung ist heiter gesetzt, um desto angenehmer überflogen zu werden. Auf der Fahrt ins Büro, in den Pausen eines Lebens, das kaum im Bett zu sich kommt. Gar die Zeitschrift ist entweder keine mehr, oder sie geht ein, wo sie eine bleiben will. Nicht fünf Zeilen stehen über Gedichte, geschweige, daß man diese selber läse. Nicht über dreißig Zeilen darf ein Roman besprochen sein, es sei denn, daß er den Bürger, wie er sich vorstellen möchte, selber in den Bücherschrank stellt. Aufsätze, die in Frankreich etwa, als einem unzerstreuten Bürgerland, sofort
magnetisierten, negativ oder positiv, sind hier gedruckt dasselbe wie nie gewesen. Vergeblich klagte einmal Stresemann darüber, daß die Zeitschrift als Ergänzung der Tageszeitung
aussterbe und keine Gelegenheit ihm gebe, sich über das geistige Leben des Landes zu unterrichten. In Frankreich sind die Bür-
ger im Bewußtsein ihres ideologischen Zerfalls noch weniger vorgeschritten; also werden Briands dort unterrichtet. Doch den
deutschen Druckraum hat die Reklame: bald ätherisch, bald junonisch ist die Zigarette bebildert, Lärm legt sich um bedeutend weniger als um ein Omelett und nur den Schriftstellern fehlt Platz. Nähme man den Druckraum der Kosmetik, der Tabakreklame zusammen, so könnte Deutschland eine Zeitschrift ha-
ben, wogegen die »NeueRundschau« ein bloßer Verlagsprospekt wäre. In Frankreich lebt noch der scharfe Kommentar, der raumschlagende Essay; bei uns wirken ehemals große Revuen selber wie »Creme, die dem Wind die Schärfe nimmt« oder »wie das
Wunder ausgeglichener Mischung, welche unser Araberformat so bekömmlich macht«. Sie können daher von Mouson und Reemtsma ersetzt werden; aber wer hilft Stresemann? Quod licet Jovi, non licet bovi - nur der Reichspräsident hat das Recht, seit seiner Kadettenzeit kein Buch gelesen zu haben. Daneben leben noch Blätter, die einen recht frisch, die anderen
nicht einmal ganz welk. Als Typ der ersten stehe etwa die »Weltbühne«, der zweiten die »Neue Rundschau«; auch edlere gibt es, halten noch die Zeit, da man von Armut als dem großen Glanz
von innen gesprochen und sich nichts dabei gedacht hatte. Linke 38
Zeitschriften lesen undeutliche Leute, fette, die etwas Essig. brauchen, jüdische und andere Unzufriedene, die an Witz oder
‚beizendem Ton sich abreagieren. Die Schreiber dieser Dinge verstehen oft die Kunst, jederzeit rechtzeitig am falschen Platz zu sein, einige sind Überläufer an sich, welche überhaupt nicht recht ankommen wollen. Aktivisten stehen auf dem Markt, die niemand dingt, Publizisten sind zuweilen der Typ selbst, den sie
bekämpfen, den sie mit möglichen und unmöglichen Witzen ebenso unterhalten. Das pflegt ein gewisses Linkshurrah, oft nützlich und Platz haltend für Genaueres, oft recht abstrakt und
gehaltlos. Licht ist freilich etwas darüber, so daß man sagen kann: wie die große Demopresse geblieben ist (wer weiß wie lange), obwohl die demokratische Partei, gar Gesinnung nicht mehr ist, so hat im Plus, das ein Mann wie Ossietzky der » Welt-
bühne« gab, sich U. S. P. gehalten und Besseres als dies radikale Kriegs-, mehr Friedensgebilde. Was aber die musischen Zeitschriften ä la »Neue Rundschau« angeht, so haben sie überhaupt keine bestehende Schicht mehr hinter sich, bloß eine von gestern,
die flieht. Früher lag hier eine Mitte gebildeter Kaufleute und besitzender Akademiker; diese pflegte eine gewisse Hauskunst und Hausbildung. Neben dem Boden des fetten Verdienstes blühte etwas Gartenerde; feinere Wortkunst verschönte in guten Familien den Knacks der zweiten Generation. Wie die Abonnenten dieser Kultur sind aber auch ihre Schreiber vergangen; und übrig blieb bloßer Waschzettel der Zeit, der im Schlen-
drian von »Strömungen« und »Betrachtungen« seine Neutralität hat. In Ordnung also, daß dieses vergeht; den Platz der falsch zusammenhängenden Musen nimmt, ganz und gar richtig, das
unzusammenhängende
Magazin. Ein amerikanisches Gebilde,
dem tieferen Niveau der dortigen Mittelklasse seit langem gemäß; mit ihm auch beginnt aufrichtiger, zu Ende getriebener Spaß. Die Zerstreuten laufen zwar von dem wirklichen Leben
weg, doch die sich bloß musisch gesammelt haben, waren ihm nicht näher. Gar was heute noch an Bildung, durch Vortrag und Rundfunk, als fertige Ware, verschoben und nicht alle wird, verdinglicht zum zweitenmal. Ein Bewußtsein, das so gebildet vom Alltag wegblickt, ist schlimmer als die Zerstreuung. Als welche, wenn sie vom Alltag wegblickt und zur Ablenkung von 39
“
ihm benützt wird, doch ebenso seine Leere mitenthält. Der Jahr-
markt der Zerstreuung lenkt ab und betäubt, doch er ist immerhin - ein Jahrmarkt. Bilder aus aller Welt unterhalten mit dm
Angestellten den Fluß, worin er sich befindet.
BESCHREIBENDER
SCHEIN
Hier wird ein frischer Blick gern gesehen. Um den Preis, daß der Schreiber, der ihn hat, seine Leser nur scheinhaft antrifft. Jüngere Darsteller, nicht mehr willens, auch nicht fähig, gebildeten Schein zu liefern, suchen dafür einen anderen; den etwa der
Jugend an sich oder dessen, was sie »erlebt« hat. Dieser Stoff ist eine Zeitlang der Krieg gewesen, genauer: das Fronterlebnis in ihm, das kameradschaftliche, das gefährliche Dasein fern von zu
Hause. Kraft dessen man aus bloß mittelbürgerlichen Fragen herauszukommen suchte, indem man sie in den Schützengraben setzte. Der Kriegsstoff kam so, zehn Jahre nach dem Krieg, gerade recht, um literarischen Bürgersöhnen, die es bleiben wollen, den abgelehnten Schein ihrer Klasse zu ersetzen. Aber der Krieg ist ihnen bezeichnenderweise (damit der Schein nicht durchstoßen werde) ein bloßer Gefühlsstoff geblieben, obwohl
das Seelische an ihm das Geringste gewesen sein dürfte. Der Kriegsinhalt war ein anderer als der des Fronterlebnisses verlassener, verzweifelter, gemeinschaftlicher oder heldischer Art. Der Stillstand zeigt sich, bei so viel Erlebnissen, auch darin, daß
der Krieg den bürgerlichen Stoffen kaum einen zugebracht hat, der nicht schon im Vorkrieg gewesen wäre. Das gilt, mit Abstand, zugleich für die literarische Eroberung der sogenannten weiten Welt und der Mittel, in sie zu kommen.
Hier ist zwar
weniger Seele, weniger Umsonst des Schreckens, mehr der großzügig zusammenreißende Blick, den Auto, Flugzeug und Reiseulster verleihen. Doch auch die Fernbücher, seien sie von Hauser, seien sie vom immer noch vorhandenen Edschmid, stehen im erfrischten Schein. Auch sie sammeln nur draußen, um zu Hause
desto exotischer zu zerstreuen; ohne Wildnis der Kolportage und doch ohne Genauigkeit. Solche Bücher rufen das circulez, 40
messieurs! nur literarisch oder erschleichen sich Stoffe, die auf diese Weise gebildeter Putz werden. Selbst Stoffe von Elend, Bluthunden, Schlachthäusern, Reisfeldern und keinem Zuckerbrot wären erst unter wirklichen Brüdern etwas wert. Unter der Zerstreuung bewegt sich kein Ding von seinem Platz, doch freilich wird es fließend.
ERSATZ
UND
NEU
Nicht alle spielen hier mit. Der Bauer gewiß nicht, der Handwerker und Kleinhändler wenig. Desto mehr die neue Mitte, sie sucht ein Leben, das sie meint und nicht führen kann, im Ersatz.
Niemals nennen sich Kleinbürger untereinander so, beschimpfen sich nicht einmal so. Auch das hängt mit dem Ersatz zusammen, nach dem sie jetzt streben, vor allem in ihrer maßgebenden Schicht, den Angestellten. Wer nicht mittanzt, wird von ihnen nicht Klein-, sondern Spießbürger genannt, und ist in der Tat ja vorüber. Wendig sieht der Angestellte auf seiner leeren Straße
leerem, ablenkendem Glanz nach. So daß der gesetzte Bürger ihm nachläuft, vom Stammtisch aufsteht, verwirrend unterwegs ist. Der Staub des Tages sieht abends, als beleuchtet, recht bunt und lockend aus. Das reizt, doch erfüllt nicht, macht nicht echter,
doch immer neuer Dinge begierig.
ZWEITER
UNGLEICHZEITIGKEIT
TEIL
UND
BERAUSCHUNG
DIE DUNKELN
Wollen nicht mehr mit. Oft nur, weil sie dazu nicht tauglich sind. So bleibt der erbitterte Mann hier ganz zurück, blutig und dunkel. Immer mehrere werden heute beides zugleich.
SPRUNG
ZURÜCK
Fühlen dabei gar viel. Schlagen um sich, besonders nach unten, wohin sie zu sinken drohen. Diese neue Art Mitte kehrt sich
schief ab, kehrt trübe in sich ein, aber beides aggressiv. Sie läßt sich durchaus noch ablenken, doch nicht mehr zu etwas, sondern
gegen etwas und selbstverständlich wieder ins Falsche. Diejenigen rufen ihr zu: Haltet den Dieb, die es selber sind. Da wird raftendes und schaffendes Geld unterschieden, das eine in jüdischer, das andere in arischer Hand. Das eine ist abzuschaffen, weil der Kleinrentner keiner mehr ist, das andere zu erhalten,
weil es die Bewegung bezahlt. Man würde hier jene Kälber sehen, die ihren Metzger selber wählen, wäre der Geruch vieler
dieser Kälber nicht gerade der von Metzgern. Seltsam aber auch, zu was die Mitt> derart fähig wurde; die bisher dumpfste Schicht dampft. Man sieht Antriebe, so roh und irr, so wenig bürgerlich,
daß sie kaum mehr menschlich sind. Hier will etwas seinen Sprung tun. Weiß nicht, woher er kommt, wo er landet, was er in die Zähne nimmt.
45
WUT UND LACHLUST (1929) Er wirft sich allerhand schon selber vor. Das Leben ist hart, das Volk braucht Reize. Neu solche, die man aus dem Leben derer zieht, welche es noch schlechter haben. Schön ist bereits, arme Hunde so zu hetzen, wie es die reichen mit einem selber tun. Rohe, auch lachlustige Wut tobt sich dann aus. Gibt die Tritte von oben nach unten weiter.
Findige Köpfe machen das jedem heute möglich. Hier ein Beispiel von unterwegs, es steht (wie bald vielleicht) für mehr. Die
Frankfurter Festhalle veranstaltete vierzehn Tage und länger eine sogenannte Internationale Dauer-Marathon-Tanz-Meisterschaft. Die technische Leitung liegt in den Händen einer Kom-
pagnie, zwischen die man nicht geraten möchte. Ross Amusement Co.; klingt wie vom dicken Wallace aus dem Stall gezogen. Etwa 25 Paare haben sich Tag und Nacht, 45 Minuten pro Stunde, in Tanzbewegung zu halten. Die übrigen ı5 Minuten sind zum Ausruhen, Austreten, zum Essen oder Schlafen bestimmt. Tänzer, die während der Tanzzeit die Toiletten aufsuchen, erhalten drei Minuten Freizeit, wofür sie während der
Ruhepause fünf Minuten weiterzutanzen haben. Die konkurrierenden Paare müssen die Füße während der ganzen Tanz-
dauer in Bewegung haben; die eine Hand des einen Partners stets auf dem anderen, wie beim Vergnügen, wie im Salon. Da sind nicht die Wohltaten des Sports, sondern sämtliche Paare sollen »ein gesellschaftlich würdiges Aussehen« bewahren. Die Würde der engen Lackschuhe, der Kragen, der Balltoilette; spanische Stiefel zieht man aus dieser Würde und einen Knebel für
verzerrte Gesichter, die dadurch doppelt lustig werden. Sieger der Meisterschaft ist das Paar, welches zuletzt auf dem Tanzparkett zusammenbricht. An die 20 Paare haben bereits umsonst geschafft, manche nach über 300 Stunden Tanz. Sie tragen nichts davon als ein krankes Herz und die Pfiffe der Galerie. Soeben treten die Paare wieder vor. Taumelnd auf das schreckliche Oval der Tanzfläche, von Aufsehern gestoßen. Im riesigen Saal stehen zwei Zelte, aus Zuchthaus-Leinwand, mit kleinen, blinden Glasfenstern darin. Hierunter verbringen die Tänzer ihre ı5 Minuten, seit Wochen, in einer Stinkluft Tag und Nacht, 46
_ mit blutigen Füßen, Folteraugen und einem Leib aus Blei. RM 1000 erhält von der Direktion derjenige, der nachweist, daß . einer der Tänzer oder Tänzerinnen die Ruhezeit von ı 5 Minuten überschritten hat. Musik, Lautsprecher, humorgewürzte Ansprachen eines Conf£rencier füllen draußen die Pause aus. Schon brennen Pfiffe ein Loch in die Ruhezeit; die fidelen Tänzer hören es nicht. Sie müssen geschlagen werden, bis sie zu sich kommen;
Posaunenstöße vor der Zelttür, ein rasender Saal. Sachte aber geschieht die Auferstehung der Toten, und sie formieren sich, zum alten Trott. Tragen ihre Minne auf die Tanzfläche, gesellschaftlich würdig. Brechende Leiber halten einander, die Hand des einen Partners auf dem blutigen Fleisch des andern. Der Wackeltopf beginnt wieder, aus dem das große Los zu ziehen ist. Der eine Tänzer bekommt es sicher nicht. Keine RM 1000 nach 20 Tagen Tanz, nicht einmal RM 60, die dem sechsten Sieger zustehen werden, dem Glückspilz. »Sondern Pitou«, sagt der Prospekt, »ist so müde, der Zustand seiner Füße so schlecht,
daß er zu jeder Zeit ausscheiden könnte. Seine Partnerin ist vom vielen Ermuntern jetzt auch sehr müde geworden und ist anzunehmen, daß sie auch bald ausscheiden wird.« Der Kerl sieht freilich aus, als taumelte er aus der Folterkammer zum Hoch-
gericht; glühende Zangen würden ihn zu sich bringen. So aber fällt sein Kopf herunter, die Augen sind geschlossen, Speichel
läuft, die Arme schlenkern oder liegen schwer auf einer armen, blonden, traurigen Partnerin. Eine Goya-Maske ist aus unsäglichem Schlaf gestiegen, mehr noch: Ross Amusement Co. bringt die Materialisation eines Verdammten. In Fetzen hängt die Dunstschicht des Jenseits um ihn, geronnen, weißlich und ekelhaft um ein ergreifendes Leid. Plötzlich wird der Kerl wild, die Schlaffetzen fallen ab, die hinter ihm hergeschleift hatten oder in die er eingehüllt war, reißt sich los und stürmt noch am Ende des Tanzes, ja, während die Musik schon schweigt und die Paare
promenieren, mit der Partnerin auf toller Flucht kreuz und quer, nirgendshin, nimmt sie hoch wie ein Tier, mit dem er kämpft, wie ein Brecheisen gegen unsichtbare Feinde, bis er durch das
Brüllen des dreitausendköpfigen Saals vollends erwacht und den Schiedsrichter anlächelt, schrecklich und gerettet, als einen Blut-
hund wenigstens aus dieser Welt. Und die Musik beginnt wieder 47
heitere Weisen, einige Paare tanzen sogar echte Figuren, und die Mädchen
sind durchgehend
frischer und adretter als die
Männer. Aber die Figuren sacken bald wieder zusammen, und wenn die Paare, wie für den letzten Tag vorgesehen, ihre Ruhe-
zeit auf dem Tanzparkett selbst verbringen müssen, wenn dem Publikum »Gelegenheit gegeben wird, zu sehen wie die Tänzer in dieser Zeit schlafen und gepflegt werden«, dann liegen lauter Leichen auf den Hobelspänen dieses Parketts. Die Nummern der Tänzer sind ihnen mit einem Leinwandfetzen unten am
rechten Hosenbein angenäht. Das Publikum wird eingeladen, seinen
Favoriten
die Unterstützung
zu geben, die dieselben
während des Endkampfs mehr denn je nötig haben. Sacken große Schiffe ab und liegen sie nun da unten, das Wasser füllt alle Räume und strömt mit leichter Bewegung durch: so ist es jedem Totenbeschwörer ein leichtes, sich vorzustellen, wie sich
die Leichen der Passagiere im Speisesaal erhoben haben und träumerisch aneinander vorüberschaukeln, immer im Kreis, Paare bildend, Figuren bildend, schaukelnd und nickend, die Herren im Smoking über dem stinkenden Fleisch, die Damen in Abendtoilette und immer im Kreis. Was dort im Wasser, wäre hier in Luft und und aus Holz, wenn die Paare nicht noch lebten und Ross Amusement Co. nicht die Peitsche in Händen hätte,
fürs Perpetuum mobile aus Qual. Die Tänzer haben sich freiwillig dazu verstanden. So freiwillig, wie heute Erwerbslose sind, die vor anderen ihrer Art dies Schauspiel geben. Erwerbslose, Kleinbürger und Proleten füllen zu drei Vierteln den Raum, lassen sich die Marter dort unten als
Sport vormachen. Als Sport, der kein anderes Ziel hat als den am längsten hinausgeschobenen Zusammenbruch, keinen anderen Lorbeer als den fürs längste Leiden. Ein Drittel der Wähler sind heute Nazis; hier im Saal dürfte ihrer mehr als die Hälfte tonangebend sein. Wenn nicht der Zahl, so den Instinkten nach,
die sie in die Menge gebracht haben. Draußen stehen einige Dutzend mittlerer Autos, die freilich mehr zum Geschäft als zur
Gesellschaft gehören dürften. Die »Gesellschaft« braucht dies trockene Gemetzel noch nicht, sie vermietet nur die Festhalle dazu. Sie hat noch Massen genug unter sich, denen es schlechter
geht als ihr und die sie im täglichen Kolosseum ausweiden kann. 48
Welche Griechen sind wir, die solches Marathon haben, und welche Botschaft, die von ihm gebracht wird. Welche Gemeinheit und langweilige Roheit in diesen Circenses, welche Dumm-
heit und Unwissenheit noch in ihrem langstieligen Titel. Prag und andere Städte sollen Ross Amusement Co. verboten haben;
in Deutschland regelt die Polizei den reibungslosen Einlaß. Was die Volksseele hier auskocht, wird man in Kürze nicht schlecht anrichten.
SACHSEN OHNE WALD
(1929)
Leben und leben lassen, das macht sich oft leicht. Aber geht das Geschäft nicht wie gewöhnlich, dann wird der Sinn scharf. Haßt alle, die dieselbe Ware verkaufen, sucht sie mehr als je zu ver-
drängen. Nun sind viele Läden nebenan jüdisch, manche vielleicht auch besser geführt. Also wird der Haß besonders lohnend, auch durchsichtig: Juden raus, nämlich aus dem anderen
Laden. Und schlägt man das jüdische Kapital und lenkt darauf ab, so rettet man vielleicht das eigene. Seit die Klingel an der Tür rostet, blickt der Krämer besonders blau.
Aber viele verbessern sich jetzt, blonden Haares, auch innerlich. Der kleine Mann fühlt sich gerne adlig, das ersetzt ihm den Aufstrich aufs Brot. Er fühlt sich hinter Pult und Ladentisch bedeutend besser, seit er ein Norde ist oder vollwertig in seiner Blondheit wenigstens dem Blut nach. An sich in seiner Blondheit herabblickend, blickt er zu sich ebenso auf; Teut macht ihm seine Nacktheit stolz und stärkt Narzißmus unter den Kleidern, im kärglichen Amte. Rassestolz wird zum Adelstick der Rotüre,
dient erst recht der schlauesten Demagogie: er schließt die geschundene Person völlig in ihren Blutring ein, gibt ihr deutsche Ehre als Brot, durchkreuzt den Klassenkampf. Er macht aber die rassig interpretierte »Nation« ebenso persönlich, zum Selbstgefühl des einzelnen blonden Leibs; so daß der Teutone, vom
Blut befriedigt, nicht nach Mitbesitz an den anderen Reichtümern der Nation verlangt. Seltsam nur, wie gerade der mittlere Deutsche das Blut so feiern mag. Lebten hier lauter Friesen,
dann stammte die rassige Rede wenigstens aus ebensolchem 49
Ki
Mund. Doch Deutschland ist, wie bekannt, besonders vielseitig,
auch fruchtbar gemischt und sicher zum geringsten Teil nordisch. Dem Kleinbürger ist der nordische Edeling vielleicht nötig
zum Halt seines falschen Bewußtseins, doch er selbst ist blutmäßig keiner. Kelten, Römer, gar »Ostier« leben im Westen und Süden des Reichs; der Osten ist fast völlig slawisch, eine dünne, nicht einmal eindeutig nordische Schicht von Eroberern und Eingewanderten liegt darüber. Ja, die nordische Rassenphrase ist so wenig patriotisch, daß sie, wenn sie die nordische als Edelrasse krönt, fast eine Ideologie für Landesverrat sein
_ könnte. England, Skandinavien, selbst Nordfrankreich sind germanischer, vor allem nordgermanischer als das große Mischvolk' Deutschland. »Germania« ist ein Stück Internationale, und sein
Kirchenstaat liegt eher an der Themse als in Colonia Agrippina oder auch in der Stadt Zabrze, die jetzt Hindenburg heißt. Die Völkischen müßten also nicht nur die Juden, sondern den größten Teil Deutschlands aus ihm herauswerfen, um in ihrem » Deutschland« zu sein. Sie im Fleisch sind selbst meist »Sünder wider das Blut«, seit Hunderten von Jahren: so bedenklich ist »Rasse«, wenn man kein Wikinger ist oder kein — Jude.
Andererseits schweigen die Juden, die hier gerade am wenigsten zu schweigen nötig hätten. Sie lassen jedes Rassebuch ungestört antisemitisch: alle Arier Edelinge und nur so abgebildet, alle Juden Baldower - als ob sich die Baldower vor den Pachul-
ken zu genieren hätten; als gäbe es nicht auch das schönste, das durchgekochteste Rassebild in Israel. Die Juden lassen den Unsinn zu, daß so zahlloses Mischvolk in Deutschland sich als hundertprozentig setzt, um Israel, eine seit Jahrhunderten geprägte Rasse, als Paria zu verleumden. Mischvolk wie die meisten Deut-
schen zu sein, ist an sich kein Unglück und keine Minderwertigkeit; doch die Gemeinheit und Dummheit stinken zum Himmel, wenn eben dieses Mischvolk der Rasse der Bibel sich überhebt,
als wäre die jüdische Großmutter eine Geschlechtskrankheit. Gesichtsloser Pöbel beschimpft nicht nur den Pöbel im alten Judenvolk, sondern rast gegen die Substanz dieses Volkes, von
dem er einmal die Bibel hatte; ja, bleibt man einen Augenblick in der Rassenideologie, so ist zu sagen: nur »Kanaille« kann so gegen »Rasse« wüten, wirkliche Rasse müßte die andere ehren, ist so
sie (nach Meinung der Antisemiten selbst) so stark wie bei den Juden. Der jüdische Bourgeois, der leere Intellektuelle stehen auf einem andern Blatt, auf einem, das er mit lauter Ariern teilt,
weil es nicht zur Rasse, sondern zum Hauptbuch des Kapitalismus gehört: aber »Fremdheit« zum Juden, zur jüdischen Substanz ab ovo? Allen, welche sich noch Christen nennen, oder mindestens ihren Vorvätern war die biblische Welt doch einmal recht vertraut und Jesus ihre Zuversicht. Welche Lichter möchte sich doch gerade der Antisemit aufstecken und wie allerhöchst gar würde er illuminieren, wenn die Geschichte seines Volkes
das Erbauungsbuch der weißen Rasse geworden wäre; statt daß er dies Faktum jetzt, mit erstaunlichem Erfolg, aus dem Bewußtsein verdrängt. Aber noch die bewußten Abkehrer von der
Bibel, die ehrlichen Neuheiden des Landes, leben von jüdischer Nähe, kopieren (so unfruchtbar, wie der Antisemit sich den Juden wünscht und hinstellt, dazu ganz ohne Verständnis des Sinns) die Kategorie des »auserwählten Volks«. Die Nation als
Gegenstand des patriotischen Gefühls beginnt zwar erst mit der Französischen Revolution, mit dem Sieg des französischen Bürgertums, das die hochmütige Internationale des Adels zerbrach;
la grande nation Ludwigs XIV. enthielt noch keineswegs die »Roture« mit, und Friedrich II. von Preußen fühlte keineswegs deutsch. Aber so gewaltig nachher das deutsche Vaterlandsgefühl auch durchschlug und so viel mittelalterliche Romantik die Staaten des Hochschutzzolles, gar des Imperialismus verschönte:
der Mythos vom
auserwählten Volk kommt
den Deutschen
nicht aus ihrem Bürgertum, nicht einmal aus der Romantik des alten Reichs. Sondern eindeutig aus der Bibel und ist das einzige, was den wilden Ölbaum der deutschen Heiden noch mit dem echten Ölbaum Israels verbindet, in den er einmal gepfropft war. Als der Arische in den Kreuzzügen nach Palästina zog, schlug er zu Hause erst Israel tot; will der Hakenkreuzler auserwähltes Volk sein, muß er heute das Original verleumden, unter den Stiefel treten, zur » Weltpest« machen und ausrotten, um selber »auserwählt« zu sein, um überhaupt nur »Rasse« zu haben. Die Rasse eines Nicht-Juden, welche er nun freilich hat;
sie ist für Sachsen ohne Wald, für die vielen jetzigen Sachsen des Reichs Blut und Wald geworden. Erst recht gibt es keine 51
deutsche Kultur ohne die Bibel; ihr haben sich die besten Deutschen nicht weniger »assimiliert« als die besten Juden sich wiederum der deutschen Kultur. Jener eben, welche die Bibel in sich hat, und welche von Eckart bis - Mahler reicht. Doch eben schon,
was Rasse angeht: Rasse im organisch durchgekochten Sinn zeigen die Juden sicherer als die meisten Deutschen; und Rasse in ihrem einzigen Wertsinn: als Auftrieb zur Menschenähnlichkeit - haben gerade Juden deutlich genug gelehrt, um sie nicht mit Tierzucht verwechseln zu lassen. Oder mit dem Kampfbund des gewerblichen
Mittelstands
oder mit den Raffke-Gesten,
»Raubtier«-Gesten des späten Kapitals. Was viele Juden als Drohnen sind: es besteht kein Anlaß, sie zu schonen, doch auch keiner, sie anders als die arischen Ausbeuter matt zu setzen. Was viele Juden der Großstadt intellektuell geworden sind, dies platt Kluge, Abstrakte, zu nichts Verpflichtende: es besteht ebensowenig Anlaß, diese Art Intelligenz zu dulden, doch erst recht keiner, den Kapitalismus als Grundgehalt zu übersehen, der
auch hier sich aussingt und den Schaden Josefs mit dem Schaden Teuts recht gut vereint. Daß so viele Juden aber diesem Schachergeist obliegen (nicht mehr doch als die » Totengräber« der »deutschen Treu und Redlichkeit«): dieser Abfall ist erst recht nicht von Stinnes, sondern nur vom - Juden Marx her richtbar;
und die bei Marx stehen, kennen gerade als Juden diesen Abfall am wenigsten. Zu ihnen kehrt sich vielleicht mancher deutsche Mann, wenn seine Recken genug jüdische Reklame getrieben haben. Wenn man im Warenhaus der Nazis (das alles zu führen verspricht) vergebens ein Stück Brot, einen Bissen Wahrheit zu erhalten wünscht.
RAUHNACHT
IN STADT
UND
LAND
(1929)
Bis vor kurzem war der Bauer keinem fremd. Der Weg in die Stadt, aus ihr heraus, war nah oder hatte Übergänge. Das dicke Land selbst, man tauchte ein wie in Schlaf, in sammelnden, bunten. Wer zu malen, zu schreiben hatte, lernte die Stille noch von
anderer Seite lieben. Wie die Bauern taten die Maler ihr Tag52
werk, oft mit dem Frühesten; da stieg etwas aus dem Saft. Der Boden trieb, seine mancherlei Früchte wurden in der Stadt
verkauft. Jetzt dagegen ist der Boden gereizt, seine Menschen und er selbst. Die wirtschaftlichen Ursachen sind nicht unklar, ihre Fol-
gen desto erstaunlicher. Die mittlere Stadt ist heute, zum Teil, nur verödet, doch das Land wirft Schlamm auf. Die mittlere Stadt ist zum Teil von Gebildeten bevölkert, denen im Umbruch des Gewohnten nicht geheuer ist und die deshalb innere
Werte pflegen. Aber das Land setzt sich qualitativ gegen die Zeit ab, gräbt unter Buchen (keine Judenbuche ist darunter) nach verrotteten Schätzen. Die mittlere oder Plüschstadt ist auf dem Weg Berlin nur etwas außerhalb geblieben, hinterläßt jedoch, mit vielsagender Ausnahme Münchens, noch keine pathe-
tische Leiche. Dagegen dem Land steigt alter Saft in längst vergessene Triebe, es nährt Nationalsozialisten und völkische Mythologen, kurz, steht auf als Pastorale militans. Vor dem Krieg, sagten wir, war es allem "Ireibenden verwandt, ganz gleich, zu welchem Ende und in welchem Stockwerk es wuchs. Die Trieb-
kraft aus dem Boden war stark, doch gleichsam neutral; Bilder und Gedanken, obwohl sie gern auf dem Land ausgearbeitet wurden, nahmen keine Ideologie davon an. Die Maler des ersten expressionistischen Dokuments, des »Blauen Reiter«, wohnten
in Oberbayern, und die Murnauer Glasbilder waren ihnen keine Folklore, sondern Zeugen der eigenen, höchst gegenwärtigen Phantastik. Heute jedoch beziehen gerade die Windjacken ihre Dumpfheit aus Schwaben-Bayern, wenn auch mit Stockflecken, und die »Kräfte«, die aus Heimat und Volkheit zutage treten, dienen ausschließlich kleinbürgerlicher Reaktion. Die Murnauer Glasbilder (pars pro toto) sind zu Mahnmalen einer reaktionären Heimatkunst oder zu Kellerfenstern einer Erdromantik ge-
worden, die Marcs, Kandinskys Blauer Subjekt-Reiter gewiß nicht gemeint hatte. Antiquitäten des Landes werden nicht mehr als ein Stück heimisches "Tahiti gesehen, gleichsam als kollegialische Wunderländer geliebt, von Menschen in der Richtung Gauguins, sondern sie sind wieder »altdeutsche Weinstuben« geworden, bestenfalls Dekorationen eines finsteren Spuks. Erst recht ist Pan nicht mehr bukolisch wie vordem, zur Zeit 53
ne Fi 7
Beethovens, zur Zeit der Rousseauschen, der freudevollen Liebe zur Natur. Die Pastorale Beethovens und Schuberts, selbst
Bruckners und Mahlers waren noch freundliche Einweihungen in Bach und Grün, in den ungereizten Boden unseres Süddeutschland. Der Dämon Beethoven musizierte, als er in die Natur ging,
»heitere Empfindungen bei Ankunft auf dem Lande«; da war idyllischer Umgang des Pan, und sein erhabener stand trotz des Gewitters, das dem Dämon Beethoven gemäß war, im Christen-
gott. Der weniger dämonische, doch völkische Pfitzner möchte, wenn er Pastorale schriebe, nichts als Leichengift musizieren, ein Anti-Berlin und dieses ohne Licht. Kurz: war die mittlere
Stadt nur Etappe, so ist das Land Front gegen Berlin geworden; und die Lage dieser Front ist am merkwürdigsten. Weil sie nämlich so gut und gerade im vordem leichten Süden vorbereitet ist. Auf die Gefahr hin, selbst mythologisch zu wer-
den, muß man doch auch dem schwäbisch-bayrischen Standort das seine geben. Denn mehr als irgendwo schafft hier -— wenngleich durchaus interessiert —- noch eine Art Glaube
mit, der
nicht nur kapitalistisch ist, vielmehr aus älteren Ideologien, ja, aus dem Boden selbst, worauf sich diese gerichtet hatten, Zusatz-
kraft zu ziehen scheint. Schon der Grundbesitz ist hier in Süddeutschland und in der Schweiz nicht nur Kapital, nicht nur der (sehr viel ältere) Garant persönlicher Freiheit, sondern ein Winkel Erdkirche gleichsam, ein Stück mythischer Bodenver-
fallenheit. Der Bann ist zwar klug genug, um nicht weiter als bis zum Besitz- und Freiheitswillen des Mittelbauern zurückzu-
stoßen. Er ist gerade nicht so archaisch, daß er etwa den Familien-Egoismus, das »Naturrecht« des parzellierten Grundbesitzes störte; das Archaische erinnert nicht an wirklich archaische Zustände, ans Gemeinde-Eigentum oder die Allmende. Doch
sperrt der Bann auch statisch genug gegen jede neuere Rationalisierung: ganz Alemannien-Bayern ist erdbesessen und seine Dichter und Ideologen, je christlicher sie scheinen, desto mehr. Noch Hebel war ein freundlicher Landgeist, seine Menschen
sind Wanderburschen aus Segringen in der weiten Welt; gar Gottfried Keller, wenn er hier überhaupt nennbar ist, hat die Schweiz, wie sie ist, verlegt, er läßt ein unaufhörliches Märchenlicht, also Fremd- und Wunderlicht, darin spielen. Jedoch der 54
Erzalemanne
Gotthelf
verspiegelt
bereits
nichts
mehr,
am
wenigsten ins Weite, er predigt ohne weiteren Zusatz gerade Bernergeist gegen Zeitgeist; und der Standort Bern bezeichnet schon auf dem Titel reaktionär-mythischen Inhalt. Niemals _ wären Frankfurtergeist oder Nürnbergergeist so ohne weiteres zum Zeitgeist (im Bewegungssinn) antithetisch; der Stadttypus Berlin wäre in Franken, aber niemals in einem Land denkbar,
wo die pure Geographie, wie bei Gotthelf, schon eine Art Bodenkult, ja Erdkult meint. Auch dem großen Mythologen Bachofen kam zweifellos das Schweizerland sehr gut entgegen;
»in
' der Begrenzung der Täler und Landschaften bildet sich jener heimische Sinn, dessen Innigkeit die Bewohner weiter Ebenen nicht kennen«. Ja, wo immer Bachofen patriarchalische Verhältnisse und Erdkulte malt, färbt Liebe zum schweizerischen »Mutterland« mit; selbst Dionysos steht ihm der Demeter näher als
dem Wein. Gebundenheit gibt sich hier folglich seit langem als
sonderbarste Eingebundenheit, grenzsetzendes Schicksal als - chthonisches Schicksal, gleich als wäre der Boden selbst noch von
alten Erdkulten gesättigt und hielte - mit einer Art objektiver Romantik - seine Bewohner fest. Alemannien-Bayern erscheint von hier aus wie ein katalaunisches Feld, worin erschlagene My‘then oder Mytheninhalte nach der realen Schlacht noch um-
‚gehen, und das nicht nur ästhetisch, sondern im Bann des alten
"Standorts. Hier ist eine Art haltendes Feld mit stärkster Bauern-
schaft und fast keiner Großstadt, außer dem Spezifikum Mün-
chen; eben die Erdinhalte dieses Feldes kommen auch jetzt wieder dem Haberfeldtreiben gegen »Zivilisation« zugute. Wie wenn ein Götzenbild unter bestimmten Konstellationen wieder magische Kräfte bekäme, so scheint auch jetzt wieder - in der genau bestimmten Ideologie dieses »Kreises« -— Phantasma von Hauskult
und
Bewahrung,
von
Fernhaß
und
»Geist«-Haß.
»Auch die Dämonen des Orts machen ihre Ansprüche geltend«, sagt Bachofen, und gemeint ist das chthonische Beharren, hier so besonders stark: paganus der Bauer, paganus der Heide. Dieser
‚Doppelsinn des Worts paganus erinnert ja heute noch an die späte und zähe Mühe, dem Christentum im ländlich geschlosse-
nen Bannkreis »Eingang zu verschaffen«. Der Bauer überall sperrte sich gegen den christlichen Bruch, gegen den Bruch mit 533)
dem ideologisch-substantiellen Verhältnis, das seine Technik und Lebensform mit der gegebenen »Natur« hatte; er sperrte sich gegen die Wachheit und das umarbeitende Bewußtsein des Christentums. Auch als das Christentum längst angenommen war, ja, als es sich den agrarisch-urwüchsigen Verhältnissen der
Germanen sogar leichter verbunden hatte als ehemals der römischen Zivilisation: wurde Jesus desto enger wieder zum Haus-
und Feldgott umgestellt; Pan wenig ausgespielt wie heute, Homo faber. Wo immer der mag, ob sie nur ideologisch
hat gegen den Homo spiritualis so unter anderen Sternen, gegen den Ort dieser panischen Bindung sein ist oder ob hier ein Stück Natur
selbst mitwirkt, wechselwirkt, das der Erdkult einmal berufen
und mythologisch bezeichnet hatte: aus dieser Bindung kommt heute noch Beharren und Dumpfheit, tiefe Antipathie gegen Bewegung ins Unbekannte, Unwille, sich die Erde (gründlich)
untertan zu machen, Haß gegen Rationalisierung, Ideologie des heiligen Grundbesitzes, die dem durchsichtigen Interesse immer-
hin wie gerufen, wie aus dem Boden gerufen kommt. Moderne Nüchternheit und moderner Atheismus sind selbstverständlich auch hier; nur haben sie den Bodenmythos nicht entfernt so ver-
trieben und aufgeklärt wie den Jenseitsglauben. So scheint die Landreaktion nicht nur ökonomisch, sondern auch »chthonisch«
buchstäblich gut unterbaut. Und dieses eingesunkene Mutterhaus liegt heute wieder zutage, mit allen Instinkten, allen Rest-
beständen seines Banns. Das geheime Deutschland solcher Observanz (oder Anti-Berlin) hat zwar keine Kraft mehr zu Bauernmöbeln oder Votivbildern, doch auf dem Giebel seines
Hauses kreuzen sich Pferdeköpfe, Mythos bewacht die gute Stube. Dies geheime Deutschland ist ein riesiger, ein kochender Behälter von Vergangenheit; er ergießt sich vom Land gegen die Stadt, gegen Proletariat und Bankkapital »zugleich«, er ist tauglich zu jedem Terror, den das Bankkapital braucht. Mythisch gewordene Bodenständigkeit erzeugt so nicht nur falsches Bewußtsein,
sondern stärkt es durch Unterbewußtsein,
durch den wirklich dunklen Strom. Daran saugen nun auch andere Heiden oder solche, die sie gebrauchen. Gefühlvoll kommt die Stadt allmählich entgegen, sogar ihr Plüsch, ihr bloß zurückgebliebenes, wird wie falsches 56
Moos. Gar das Wochenende befreit sich zunehmend
aus der
bloßen Zerstreuung: der Wunsch, sich gesund zu baden, kocht als Schrei und Protest. Das Land hatte sich gegen einen mechanisierten Zustand gewehrt, den es doch noch gar nicht kennt,
und den es nicht wegen seiner Öde, sondern vor allem wegen der erwarteten kommunistischen
Folgen abgelehnt hatte. Die
Angestellten der Stadt dagegen fliehen die Mechanei, die ihnen der Kapitalismus bereits vollkommen beschert hat, und in der sie sich seit wachsender Verödung der Arbeit, seit wachsender
Krise so wenig mehr wohlfühlen, daß sie den Hochmutsgraben zwischen Stadt und Land erstmalig überspringen, daß sie Erd-
mythos in ihre Welt einlassen: nämlich als »organischen« Maschinensturm, der ihnen den Kapitalismus ersetzt. Jetzt erst hat, wie bei den Bauern, der Jude die Krise erfunden, ja, Krise, Kapitalismus und Marxismus werden in phantastischer, fast phanta-
_ stisch gewollter Unwissenheit in eins gesetzt; die Stadt macht sich dem Erdboden gleich. An allen ihren Ruinen sieht man heute, wie breit auch hier der »Irieb« gegen den »Geist« umgeht, der Blutstrieb, Wildtrieb, als welcher das einzige »Land«
des Städters ist. Auch bei solchen geht dieser Gegensatz um, die nie davon in ihren Büchern gelesen haben, die nichts von einem
Klages wissen oder anderen neuen Rufen hin zur Natur. Rousseauismus, wie ihn diese Schicht erneuert — als Lied oft ohne
Worte - lebte im ganzen XIX. Jahrhundert; doch war er entweder spießbürgerlich harmlos und Weltanschauung des Urlaubs, oder aber Sache der Avantgarde, die, bei Nietzsche!, keine
Bauern-Dumpfheit daraus zog. Nietzsche stand bei Offenbach und dem Durchbruch Carmen, nicht bei den Söhnen Teuts; er stand bei der Utopie, wenn auch einer reaktionär gebrannten, nicht im Stillstand der Gäa. Wie war Gäa selber. ungereizt, mehr Buntheit als Bann, mehr Dialekt als Erde: so eben schien noch das alte Bayern, mit Bergen, die tief im Katholizismus lagen, nicht in einer nationalsozialistischen Provinz, mit dem
Kristall der Alpspitze quer vor den Götterstatuen des Zugspitzmassivs, den gänzlich unmythologischen — hier waren einmal Kräfte, aus denen sich jeder nur Gutes holen konnte und ein Feld eben für »Blaue Reiter«, nicht für die Ruinen einer aber-
gläubischen Baukunst. Heute dagegen beginnen Stadt wie Land 57
gemeinsam Aberglaube zu werden; der Boden hat auch in der Stadt über die Bewegung gesiegt und ein sehr alter Raum über die Zeit. Was an Bewegung da ist, was so unendlich verstehbar nach Halt sucht, greift falsch, will »die großen alten Mächte des
Lebens«, die großenteils nur noch als Spuk geblieben sind. Die verzweifelten Menschen tragen Tiermasken, wie sonst nur berauschte Bauern in der bayrisch-österreichischen »Rauhnacht«; Brunst mit Fratzen erscheint als Adventszeit. — Sie wird dem Land keine, das bloß um sich schlägt. Mit Schlä-
gen, die immer nur den Falschen treffen und vom Rechten bezahlt werden. Der deutsche Fascio ist die trübe Antwort der Mitte, die exakte des Großkapitals auf eine Krise, die ins Mark
geht. Der revisionistische Schwindel der Sozialdemokraten und sein Oberhaus: die Demokratie volksstaatlicher Illusionen - ver-
fangen bei der Masse nicht mehr. So greift das Kapital, in höchster Bedrohung, zu einem neuen Betrug, zu einem mythologischen, und setzt Prämien auf alle »ungleichzeitigen« Bestände, welche diesen Betrug ehrlich nähren oder in sich, zeitfremd,
unbewußt, verkapselt sind. Die Verelendung der Bauern und des Mittelstandes stößt zu der des Proletariats; also wird Fascis-
mus notwendig, die Proleten völlig niederzuhalten und die neu proletarisierten von ihnen ideologisch abzutrennen. Das gelingt: denn die Unzufriedenen sind schon gruppenmäßig zu verschieden, um ihre Lage gemeinsam durchschauen zu können; und die
städtische Mitte gar: wie sie selbst nicht unmittelbar in der Produktion steht, so denkt sie lauter unanalysierte Zwischenglieder, auch Altformen, worin ungelüftete Instinkte hausen und alle
Widersprüche von Person und Kollektiv dazu, von Rädchensein, Heldsein und Staatsdiktatur zugleich. Diese Altformen gerade trennen Proletariat und Proletarisierte vorzüglich; daher denn werden sie vom Großkapital mit solchem Erfolg, in Stadt wie Land, prämiiert. Der völkischen Familien-, Stände- und
Naturlehre fehlt also jeder Bezug zur Lebensform der Arbeiter, wie umgekehrt die Lebensform der Angestellten, ihre Instinkte und Restbestände im proletarischen Materialismus nicht unterkommen. Das ist ein seltsamer, ein unheilvoller Zirkel: gerade der kapitalistische Betrieb staut »Seele«, und sie will abfließen,
ja, gegen die Öde und Entmenschung explodieren; gerade der 58
' Vulgärmarxismus aber, dem die Angestellten zuerst begegnen, und der in der Tat nicht selten ist, kreist ihnen ihre »Seele« nochmals aus, auch theoretisch, treibt sie folglich zu einem reaktionären »Idealismus« zurück. Derart siegen erst recht Restbestände aus sehr verschiedenem »Es war einmal« (es fängt aber kein Märchen damit an, nur ein Mythos). Das stille Buch malt
immer mehr der Väter Zucht und Sitte; den Lichtern Hollywoods, die nur in den Traum gingen, folgen die Parademärsche Potsdams, die auch ins Blut gehen; das Pläsier zieht — mit der neuen Verführung Thusnelda - den Rock übers Knie und Vater Rhein hat längst Valenzia besiegt. Filme, die vor kurzem nur läppische Heiterkeit oder faszinierende Salons zeigten, ziehen
zum Zweck weit exakterer Ablenkung in die Befreiungskriege aus. Lützows wilde, verwegene Jagd und andere Autarkien auf Kriegsfuß verwandeln
Erwerbslose
in Kanonenfutter;
Revo-
lution gar vergißt sich unter Kriegstrommeln von selbst. So wird die Leere der Zerstreuung (an die keiner geglaubt hatte)
jetzt eine der Berauschung, mit Exotik zu Hause, mit nationalem Mythos (an den der Nationalsozialist durchaus glaubt); sie wird mit Kitsch und einem Mythos gestopft, der seine Phantasterei nicht in der Ferne, sondern gleichsam senkrecht unter dem
heimischen Boden hat. Ja, die schale Kraft der Reaktion ist so
groß, daß sie im Gefolge des Kitsches nochmals das XIX. Jahrhundert
der Portieren
anrichtet, und zwar
unmittelbar.
Was
man nur fahl, wie Ruinen aus der Kindheit hereinragen sah, was die Surrealisten als unheimlichste Entdeckung hatten, nämlich den »unbegrabenen Leichnam unserer Eltern«: das baut sich nun in die Reaktion naiv ein, naiv widerwärtig und geladen. Wie der verirrte Reiter in Sealsfields »Prärie am Jacinto« endlich eine Spur findet, er folgt ihr hin bis zu ihrem Lagerplatz, um dann zu sehen, daß sie völlig verschwindet (denn eben der Ver-
irrte war seiner eigenen Spur nachgeritten, und der Lagerplatz war sein eigener vor fünf Tagen): so wirkt manche Kulturreaktion von heute, als wären nicht Tage, sondern fünfzig Jahre
nicht gewesen, und man halte wieder in der guten Stube vor einem
Menschenalter.
Das
Großkapital
selbst überläßt
den
Rückzug zwar der Mittelschicht, bleibt bei seiner »Sachlichkeit« und Fassade, hat keinen Glauben an Vaterland und Urzeit, pflegt 59
nur allerlei Experimente der »Montage« und sieht sie sich an. Aber es ist zusammen mit den Nationalsozialisten doch inquisitorisch geworden, empfindlich gegen jede Art von »Kulturbolschewismus«, die den anderen deutlich nach sich ziehen könnte; es hat sich in seiner Leere formidabel gemacht, hat nicht den skeptischen Relativismus, wohl aber die skeptische Toleranz von früher durchaus gesperrt. Das Großkapital hat keinen
Dionysos des Muff, wie die Stadtbünde, die es heranpfeift, doch es beschützt und formuliert ihn desto bewußter. So geht auch ın der Großstadt die Reaktion bis zu den »chthonischen« Beständen einer Vorzeit zurück; dort also, wo man sie am wenigstens vermutet hätte. Ja, sie geht- anders als im altnüchternen, seßhaften,
erdgebundenen Land - bis zum Berserker zurück und seinem völlig dunkeln Amoklauf. Mag dieser auch allemal — beim Kleinbürger wenigstens, als dem Gros der Bewegung - in der guten Stube von gestern und vorgestern vorläufig enden. Die Frage ist, ob Wildes, das Leere verstopft, sie nicht ebenso
weiter aufreißt. Denn die Mitte ist buchstäblich irre geworden und die Jungen wollen nicht nur in den Muff nach Hause. Ihrer städtischen Wildnis verschwinden nicht 50 Jahre wie beim Zau-
ber der guten Stube, sondern wie auf dem Land scheinen Jahrhunderte zu verdunsten, Veitstanz beginnt auf der Straße. Man sieht durchaus zwar: darin ist keinerlei »Deutschland erwache«;
das Nazitum bildet vielmehr einen Schutzraum für die wider-
sprechende Unruhe, damit sie ja nicht erwache. Jedoch die Frage mindestens bleibt: ob das beginnende Disparate und »Irrationale« des nationalsozialistischen Anblicks auch in der Stadt, gerade in ihr, so sehr es den Widerspruch zum Kapital einkap-
selt und die Hohlräume mythisch verstopft, nicht ebenso der kapitalistischen Ratio sonderbar werden mag. Lasse man das Nächste einen Augenblick beiseite: daß nämlich die fortschreitende Proletarisierung der Mitte ohnedies, das heißt, bei rich-
tiger Führung, den nationalsozialistischen Nebel durchstößt; ist er doch ökonomisch nichts in bar und kann es nicht sein. Aber
jetzt schon kann der Kapitalismus mit zwei » Wahrheiten« nicht völlig Ruhe halten: mit einer irrationalen hier, für sein Volk, mit einer abstrakt-mechanischen dort, im Betrieb. Der Kapitalismus hatte keine andere Wahl als die, welche er bis jetzt mit dem 60
Fascismus vorzüglich getroffen hat: jedoch alter Liberalismus wäre ihm gewiß lieber als der romantische » Antikapitalismus« (ohne den das Geschäft freilich in Deutschland nicht mehr zu machen war). Der Blutmythos, die Berauschung insgesamt ist nicht der wünschbarste Diener des kapitalistischen Verstands. Ja, um weiter zu sehen, um dem früher oder später »durchstoBenen Nebel« und dem kommunistischen Schluß durchaus das
seine zu geben: der Nebel gibt nicht bloß dem kapitalistischen Verstand, sondern auch der kommunistischen Vernunft noch manches vielleicht zu raten auf. Nicht nach Seite der »irrationa-
len« Zurückgebliebenheit und Dummheit, gar nach Seite des offenen Betrugs. Wohlabersind im nationalsozialistischen Dunstbau, wie zu merken war, gewisse unterirdische Keller enthalten,
auch gewisse versunkene Überbauten, deren selbst kommunistisch noch nicht völlig »aufgehobener« Inhalt ernsthaft zu prüfen bleibt. Hier ist, wie an den Bauern bemerkt wurde, nicht nur falsches Bewußtsein, sondern dickes Unbewußtsein von früher,
sogar vorgeschichtlicher Art. Hier drohen deshalb, auch wenn zehn Fünfjahrpläne der Vernunft vollendet sind, gar wenn die ganze angebliche »Gottlosigkeit« geblieben sein sollte, Wetter-
winkel möglicher Reaktion. Die Romantik hat zwar keine andere Zukunft als bestenfalls diejenige unerledigter Vergangenheit. Doch
diese Art Zukunft
hat sie, und sie müßte ihr, im
genauen dialektischen Mehrsinn dieses Begriffs, vaufgehoben« werden.
AMUSEMENT CO. GRAUEN, DRITTES REICH (September 1930) So roh es hergeht, so wirre Männer tauchen auf. Bisher war der Mob, wie man das nannte, bloß links, jetzt ist er auch rechts, sogar die Mitte ist nicht sicher. Immer weiter reißt sie sich in Wildnis hinein, das Auge wird stur, das Gesicht glühend, dumpf, verbissen. Unkenntlich Bekanntes, was bisher falschem Licht
nachflog, wühlt sich in desto aufgeregtere Finsternis ein. Das griffeste Messer wandert vom Land in die Stadt, von der Kirchweih in die Saalschlacht, und diese sticht trüb, blutunterlaufen. 61
Ron Ei
Hier wirken Triebe, die die Not und das falsche Bewußtsein von
ihr nur freilegen, die aber nicht von heute sind. Sondern ein Stück fossiler Mond scheint, darunter ist ein Weg, an den man sich seltsam erinnert. Was auf ihm herkommt, vor dem hatten nicht nur Juden die
Tür verriegelt. Gespenstisch steigen alte Fratzen auf und sind doch wirklich: der Nazi etwa, der nach der Ankunft von Böß
die ganze Nacht vor dessen Haus getanzt hat, mit einem gelben Pelz bis auf die Füße, war vor 5oo Jahren, wenn Juden totgeschlagen wurden, genauso wild und witzig. Mit einem Pelz tanzte er, schaukelte und tobte er die ganze Nacht, weil auch Böß, der Berliner Bürgermeister, in eine Pelzaffäre verwickelt war; uralt aber ist der Geruch dieses Auftritts, trotz des elenden Witzes, der schäbigen Dummbheit seiner Anspielung, uralt und
schrecklich wie aus einem Angsttraum und den Abgründen, die er streift. Und auch sonst: während kommunistische Exzesse, als
von einer neuen Schicht ausgehend, wenig deutsche Folklore einmischen, erinnern nationalsozialistische sehr oft, selbst wenn sie die schwerfällige Munterkeit des Tänzers nicht erreichen, an rezente Vorzeit. Da sind mittelalterliche Gassen wieder, Veitstanz, totgeschlagene Juden, Brunnenvergiftung und Pest, Gesichter und Gebärden wie auf der Verspottung Christi und ande-
ren gotischen Tafeln. Wahrscheinlich ist diese Art Volkstiefe in anderen Ländern ausgetrocknet; nur dieLyncher amerikanischer Südstaaten, Kukluxer, erwachende Magyaren und ähnliche zie-
hen mit. Sagte Spengler die fascistische Zeit voraus, so hat er doch darin geirrt, daß er sie kalt, mechanisch, aus den zivilisierten Weltstädten, kurz, aus völlig wachem und spätem Bewußtsein aufbrechen ließ. Aber bei unseren Fascisten hat München, nicht Berlin begonnen, die »organischste« Hauptstadt, nicht die
mechanisierte, und die Gewalt geht vom »Volk« aus (im höchst undemokratischen Sinn), von Metzgertänzen und rohester Folklore. Diese vor allem bricht in die Besitzangst und das Ressentiment der Kleinbürger ein; sie garniert noch das Neu-Rom
jener Industriechefs, die die Metzgertänze bezahlen und ihr allerhöchstes Faustrecht damit stärken. Die Primitive reicht zwar nicht weiter als bis zur Pöbelfratze auf Kreuzigungen, doch diese hat sie sehr gut konserviert. 62
Nicht zu leugnen, neben der Roheit laufen auch sehr alte Träume mit unter. Der stärkste ist der vom »Dritten Reich«, das . bloße Wort schon hüllt den Kleinbürger ahnend ein. Noten auf dem Tafelklavier, Musik in Biergärten haben ihm, als es längst schon einen Kaiser gab, vorgesungen: »Es liegt eine Krone im
tiefen Rhein«. Das preußisch-deutsche Reich war längst gegründet, da war die Krone dieser Kleinbürger-Musik noch verborgen, und wer sie hebt, »den krönt man zu Aachen in selbiger Stund, als Kaiser der Zukunft, als Fürsten am Rhein«. Als Kaiser der Zukunft: einzigartig wird heute erst recht den proleta-
risierten Kleinbürgern »Zukunftstaat« gereicht und gleichzeitig, durch die Kyffhäuserlinie, gesperrt. Und einzigartig wird ein bloßer Numerus der geschichtlichen Zählung (altes Reich, Kaiserreich, Drittes Reich) mit der wohlvertrauten Dreizahl des Märchens verbunden (das bei der Drei immer auch die Entscheidung hat, das Ende, das Glück). Vor allem aber werden am »Dritten Reich« uralte Bilder rezent, edlere als die des Pelztanzes, leichter pervertierbare, desto erstaunlicher funkelnde. Der Terminus »Drittes Reich« hat fast alle Aufstände des Mittel-
alters begleitet oder wie man es damals nannte: das »Reich des dritten Evangeliums« — es war ein leidenschaftliches Fernbild und führte ebensoviel Judentum wie Gnosis mit sich, ebensoviel Revolte der Bauernkreatur wie vornehmste Spekulation. Nach dem Evangelium des Vaters im Alten Testament, nach dem
Evangelium des Sohnes im Neuen kommt das dritte Evangelium, als das des Heiligen Geistes: so hatte der Abt Joachim von Fiore im XIII. Jahrhundert, ja bereits Origines, der Kirchenvater, die bessere Zukunft verkündet, und so war die Weissagung in den Bauernkriegen lebendig geblieben. Heute lebt davon nur die Phrase, doch im selben Maß wie die Not in den alten Schichten gestiegen ist, auch wie Bierdunst explosibel wurde, hat die Phrase gezündet, und ein Geisterzug pervertierter Erinnerungen zieht durchs halbproletarische » Volksgedächtnis«. Bei den bürgerlich Gebildeten, die ihren Ibsen kannten, war das »Dritte Reich« Hekuba, ein kleines Symbol, das man ruhig im Ibsendrama, bei »Kaiser und Galiläer« beließ. Das Dritte Reich der »Adelsmenschen«, als versöhnende Mitte zwischen Antike und Christentum — wie ist hier der Zusammenhang
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mit der mystischen Überlieferung gerissen. Desto stärker freilich war Dostojewskij den alten Träumen eine literarische Vermittlung (und der Literatur eine mit politisch-archaischen Träumen); der Dostojewskij
jener Byzanzmusik, die ihren Ori-
gines in sich bewahrt hatte und die Wiederkehr des Heiligen Geistes glaubte. »Drittes Reich« hieß so schließlich das Buch eines »Dostojewskij-Deutschen«,namens Moeller van denBruck, und dieses nun ist den Nationalsozialisten - in wildem Absturz der Reaktion - ihr Grundbuch geworden, der Betrugsraum, auch
der Glaubensraum ihrer "Träume. Jetzt spüren die Totschläger, anders als Ibsens Gebildete und Adelsmenschen im Theater, den alten Fanatismus des Worts; dazu also hat die Phrase Blut getrunken und lebt. Gewiß ist in diesem neuen »Volksboden« nichts Genaues oder nur das Umgekehrte von den Verkündi-
gungen geblieben, welche seit Joachim von Fiore das Mittelalter durchspukt haben, welche bis zu Lessing reichen, bis zu seiner
»Erziehung des Menschengeschlechts« und seinem ganz und gar liberalen Sinn. Aber eine Reaktionsbasis ist gerade in der heutigen »Rückverjüngung« unverkennbar; sie schafft einen verstärkten Widerklang im chthonischen Boden, der so rätselhaft
glüht. Sie schafft die Musik zum heutigen Veitstanz, obzwar ohne früheren Inhalt, ja, mit dem Gegenteil zum revolutionären Liebes- und Geist-Inhalt des »dritten Evangeliums« oder Pneuma. So konnte sich also in dieses Pfingsten, in das dichte Chaos, das einmal durch Deutschland ging, gerade die Reaktion
einsetzen, jene Adels- und Standesmythologie, wogegen alle » Volksträume« von vorher angerannt waren. Dennoch ist auch hier uraltes Wesen, rezent gemacht und pervertiert; sah uns die Roheit vorher wie auf Kreuzigungen an, so spiegelt sich das alte
»Dritte Reich« jetzt in den Augen der Kreuziger und Kriegsknechte. Mit Furor teutonicus, verlorenem Anschluß an wirk-
liche Revolution, abgezogener christlicher Ideologie; der Blutherr steht für Jesus, der Kriegsstaat für die Gemeinde. Also sind diese Menschen gebannt, es tobt und träumt düster
in ihnen. Ein Stück deutscher Roheit artet in ihnen wieder auf, hat eben unterbewußten oder unbewußten Antrieb, an Stelle des klassenbewußten. Setzt nicht nur Volk, Vaterland als Ersatz
für den sinkenden eignen Stand, sondern füllt den Rahmen mit
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sehr alten Bildern. Der Berserker artet aus, der in jede Richtung marschiert, wo
zu zerstören ist; seine irre Grausamkeit
ver-
stärkt den Rachetrieb des Kleinbürgers. Deutschland war immer, zum Unterschied von Frankreich, ohne Einfluß der Frauen, ohne Maria; nun ist es völlig Anti-Blume geworden. Erberinnerung hellerer Art kommt hinzu, genau als Mythos Drittes Reich; doch hat sie keine Kraft, in ihrem Feuer auch Licht zu
haben. Die abstrakte Roheit wird vielmehr stärker und gibt dem Mythos Drittes Reich einen Blutgeruch, der seiner Verderbnis entspricht. Uralte Gebiete der Utopie werden so von Veitstänzern besetzt, die germanische Blutromantik ist beim
Kleinbürger angekommen, hat sich ein ganzes Heer von Fememördern und »Kronenwächtern« erblasen. Wälsungenblut, das bisher nur musikalischen Aufguß hatte oder in Klages philosophisch kochte, ist plötzlich »konkret« geworden, nämlich am Rückstand sinkender, im Sinken erinnerungsreicher Schichten. Ihr Sinken läßt diese Schichten nur ökonomisch-sozial ins Pro-
letariat herab, doch ideologisch kommt dadurch keine Neigung zum Abbau, zur Analyse der Lage, zur Aufdeckung der Ursachen und »Gründe« von heute. Sondern das Sinken verläßt erst recht die dünne Verstandesschicht der »Neuzeit«, streift im Fall sehr alte Triebweisen, Lebensformen und Überbauten, provoziert daraus »Irratio«. So rauh und kriegserotisch, so brauchbar zu-
gleich für die finstersten Imperialismen, rief einer dieser jungen Nazis aus: «Man stirbt nicht für ein Programm, das man verstanden hat, man stirbt für ein Programm, das man liebt.« Unnötig, in diesem Ausruf die schlechte Irratio zu betonen, die Unlust, ein
Programm zu verlangen oder zu verraten, wo gar keines ist, die heroische Unwissenheit zurückbleibender Schichten, welche eher den Tod wollen als die Einsicht ihrer Widersprüche. Nötig freilich für uns Marxisten, den dunklen, den nicht nur von Unwissenheit gehaltenen Fanatismus dieses Ausrufs ebenfalls zu
sehen und seine anders »zurückgebliebenen« Hintergründe; in diesen eben scheint ein archaisch-emotionaler allzu gegenwärtiger Analyse nie ganz zugänglicher oder austreibbarer Rest. Nicht die »Theorie« der Nationalsozialisten, wohl aber ihre
Energie ist ernst, der fanatisch-religiöse Einschlag, der nicht nur
aus
Verzweiflung
und
Dummheit
stammt,
die seltsam
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> d
aufgewühlte Glaubenskraft. Dies Wesen eben hätte, wie jede Erinnerung an »Primitive«, auch anders ausschlagen können, hätte man es, auf der »aufgeklärten Seite, militärisch besetzt und dia-
lektisch verwandelt, statt es bloß abstrakt auszukreisen. Indem
der marxistischen Propaganda aber jedes Gegenland zum Mythos fehlt, jede Verwandlung mythischer Anfänge in wirkliche,
dionysischer Träume inrevolutionäre: wird am Effekt des Nationalsozialismus auch ein Stück Schuld sichtbar, eine nämlich des allzu üblichen Vulgärmarxismus. Große Massen Deutschlands, vor allem die Jugend (als stark organisierter und mythisch verflochtener Zustand), konnten schon deshalb nationalsozialistisch werden, weil sie der Marxismus, der sie deutet, nicht zugleich auch »bedeutet«. So gewiß das Proletariat die heute geschichtlich allein entscheidende Klasse ist, so gewiß ist es mit der Bour-
geoisie ganz außerordentlich verflochten (viel mehr als diese mit dem Feudalismus war); so gewiß ist ihm nicht nur die letzte Maschine und die letzte Imperialismusphase wichtig, sondern auch die nationalsozialistische Zersetzung und die anderen
Übergangserscheinungen der spätbürgerlichen Ideologie. Wichtig im Sinne der Entwaffnung wie der Plünderung, der Kritik sowohl des revolutionären Scheins wie der dialektischen Überleitung aller seiner (vorbürgerlichen) Widersprüche in revo-
lutionäre Theorie und Praxis. Dionysos des Muff und Drittes Reich im Rahmen des Kapitalismus sind beispielsweise solche Widersprüche, er hat sie selbst erzeugt; doch lassen sich Dio-
nysos und Drittes Reich im Vulgärmarxismus allein nicht konkret machen, sie laufen sonst wieder der Reaktion zu. Die Frucht ist da und die Formel daher unabweisbar: der Erfolg der natio-
nalsozialistischen Ideologie quittiert, seines Teils, den allzu großen Fortschritt des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft; er war bei Engels völlig anders gemeint. Auf diese Weise siegt mit wilder Jubelsprache und ungestörter Irratio der Feind, trotz seiner revolutionären Situation, die seine Opfer sozialistisch mindestens anfällig macht. Auf diese Weise bildet sich ein
Archaismus aus, der den Übergang ins Proletariat mehr als begreiflich sperrt. Die Vulgärmarxisten halten in Primitive und Utopie keine Wacht, die Nationalsozialisten haben ihre Verführung daran, sie wird nicht die letzte sein. Man hat die Hölle wie
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den Himmel, die Berserker wie die Theologie kampflos der Reaktion überlassen. Jeder Vorstoß gegen oben werde aber genutzt, gleich erst, wie
er kommt. Man kann zwar glauben, die wachsende Bewegung führe von selber nach links, und der Rest gehe unter. Das hofft
nicht nur der Sozialdemokrat, der immer alles über sich geschehen läßt, und dem alles »von selber« vergeht. Auch Kommunisten, kräftig beteiligt, glauben an einen Untergang der aktiven
Teile der NSDAP, an desto rascheren, je mehr Hitler dem Kapital dienen muß, das ihn als letzte Ölung gerufen hat. Ein Bulletin von 1930 lautet bereits: »In der Berliner KPD-Zentrale herrscht die Zuversicht, daß man früher oder später den Löwenanteil aus der Konkursmasse dieser politischen Monstre-Spekulation ziehen werde. Man rechnet in absehbarer Zeit mit einem Nachlassen der bindenden Kraft zwischen dem nationalsoziali-
stischen und dem sozialistischen Element der Bewegung, sobald der Druck der wirtschaftlichen Not den Nebel der Phraseologie niederschlägt und das Flickwerk der Kompromisse und Schein-
fassaden in seiner ganzen Armseligkeit erkennen läßt.« Also baut man hier schon Bereitschaftsstellungen auf, die die zerfallenen Bataillone Hitlers einmal aufnehmen sollen. Also besteht die Hoffnung, daß die SA-Proleten und ein Teil der anderen
Pauperisierten kommunistisch landen, der Rest wird deutschnational und das ganze war Blague (wie so viele bessere Bewegungen in Deutschland auch). Jedoch: wir halten diese Hoffnung in ihrer Ganzheit für verfrüht, und zwar nicht wegen des antikapitalistischen, sondern wegen des ebenso antimechanistischen Widerspruchs, den die Bewegung in sich hat. Der erste Widerspruch, der der verelendenden Mittelschicht zum Kapitalismus, ist gewiß bald zu klären und brauchbar; er ist zwar noch keiner mit klarem Bewußtsein, wohl aber ein irrationaler, welcher vom Kapitalismus ebenfalls erzeugt wurde und der Ratio
des Kapitals auf die Dauer kaum bequem bleiben kann. Jedoch der zweite Widerspruch, der allgemeine zum »Mechanismus überhaupt«, macht, daß dem Angestellten auch der Kommunis-
mus noch als Mechanei dargestellt werden kann; als Fortsatz der Entpersönlichung und Rationalisierung, ja, als bloße Kehrseite
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der Kapitalismen. So entsteht - in toller, doch zäher Verwechslung kapitalistischer und kommunistischer »Ratio« - eine antimechanistische »Unvernunft«, welche aus tausend Vornehmhei-
ten großbürgerlicher Irratio gespeist wird und mindestens so stark einen Widerspruch gegen den üblichen Vulgärmarxismus
wie gegen den Kapitalismus abgibt. Dem Proleten, welcher mit den Produktivkräften zusammen groß geworden ist, sind diese kein Feind, er sieht hindurch; doch der Kleinbürger steht heute, auf neuer Stufe, fast notwendig beim Maschinensturm. Daher erzeugt denn das halbproletarische Sein über alles Maß hinaus falsches Bewußtsein; daher verkapseln sich Stöße und Inhalte, welche ebensolche des Aufholens gegen den Kapitalismus wie kapitalistischer Zerfall sind, in fixe Ideen. Nicht diese sind wich-
tig, wohl aber die Blut- und Dunstgegend, worin all dies wieder rezent wurde und seinen Widerspruch zum Vulgärmarxismus,
ja sogar zum mechanisch vorgestellten » Weltbild« des Marxismus hat. Indem Marxisten hier noch keine variierte und über-
bietende Sprache ins Werk setzen, kommt der Anti-MechanismusderReaktion zugute, balancierter denanderen Widerspruch, worin das »Irrationale« zum Kapitalismus steht. Wären also
schon alle Nationalsozialisten zum Marxismus übergegangen, ja, wäre die Kommune auf dem besten Weg verwirklicht zu werden: so bliebe hier doch, wie wir sagten, ein Wetterwinkel möglicher Reaktion, nämlich eine Gefahrzone des marxistisch noch nicht bedeuteten »Restes«. In Rußland kommt man den
Bauern mit Erntefesten und Lenin-Grab entgegen, ersetzt ihnen die Kirche durch Kollektiv und junge Symbole; in Deutschland überläßt der Marxismus all diese Anschlüsse der Reaktion. In Deutschland wäre der Gewinn der verelendeten Mitte und die
Aktivierung ihrer »ungleichzeitigen« Widersprüche zum Kapitalismus genau so wichtig, wie es der Gewinn der Bauern in Rußland war; trotzdem gibt es kaum eine Taktik und Befolgung Lenins, die den Aufkläricht des Vulgärmarxismus entscheidend desavouierte. Aufkläricht ist Abstraktion, nicht Ganzheit und aufgebrochenes Irrationale darin; scheint noch nicht die Zeit, einer Ganzheit Beine zu machen, welche sozialistisch weithin eingeschlafen ist, so wohl die Zeit, um das Menetekel des Natio-
nalsozialismus in Sachen bleibender Irratio zu benutzen. Die 68
Geschichte ist kein einlinig vorschreitendes Wesen, worin der Kapitalismus etwas, als letzte Stufe, alle früheren aufgehoben hätte; sondern sie ist ein vielrhythmisches und vielräumiges, mit
genug unbewältigten und noch keineswegs ausgehobenen, aufgehobenen Winkeln. Heute sind nicht einmal die ökonomischen Unterbauten in diesen Winkeln, das ist: die veralteten Produk-
tions- und Austauschformen vergangen, geschweige ihre ideologischen Überbauten, geschweige die echten Inhalte noch nicht bestimmter Irratio. Das eben liefert das Material zum romantischen, und zwar zum gleichsam real-romantischen Antikapitalismus dieser Schichten; das verführt sie zu dem Unsinn, in
Liberalismus und Marxismus nur »die zwei Seiten derselben Medaille«
zu erblicken (nämlich der Abstraktion und Mecha-
nisierung). Und auch später, wenn alle Unterbauten eingeebnet sein werden, wenn kein reaktionäres Klasseninteresse mehr zu
Romantik zwingt: wird eine Vernunft, die genug zu haben glaubte, wenn sie den Kapitalismus umschlagen ließ, die ausgelassene, noch irrationale Materie wiederfinden; nicht mehr in
einer wirtschaftlichen, wohl aber in einer »religiösen« Krise. Der Kapitalismus konnte das Irrationale so wenig austrocknen,
daß es gerade als »Widerspruch« zu seiner Sachlichkeit und Rationalisierung immer stärker geworden ist; und der Vulgärmarxismus baut diesen Hunger gewiß nicht ab, indem er ihn allenthalben nur als zurückgebliebenen begreift. Schlecht unmittelbar genug steht die nationalsozialistische Romantik zur heutigen Zivilisation, nämlich unmittelbar entgegengesetzt, und
ist insofern Jakobinertum des Mythos. Jedoch echte Revo;utionäre haben dies schlecht Unmittelbare ebenso unmittelbar verworfen, haben es noch keineswegs mit der ganzen heutigen Wirklichkeit vermittelt, gar mit Restbeständen, die sich so unge-
heuerlich angemeldet haben. Kleinbürger-Graus und bloß zurückgebliebene Dummheit sind ein klares Teil für sich, doch es erschöpft nicht den ganzen nationalsozialistischen Komplex. Anders »ungleichzeitige« Verwilderung, dämonische Mythisierung besteht auch und hat möglicherweise einen dialektischen Haken, ist mindestens in seltsamem » Widerspruch« zum Kapital
und Kapitalgeist; diesem Widerspruch muß geholfen werden.
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INVENTAR
DES REVOLUTIONÄREN
SCHEINS
(1933)
Wenn zwei dasselbe tun, tun sie nicht dasselbe. Wie gar, wenn der eine des anderen Tun nachahmt, um zu betrügen. So heute, wo der Nazi noch nicht zeigen kann, wie er wirklich aussieht und was er wirklich will, sich also verkleidet. Er gibt sich aufrührerisch, wie bekannt; der schrecklichste weiße Terror gegen
Volk und Sozialismus, den die Geschichte je sah, tarnt sich sozialistisch. Zu diesem Zweck muß seine Propaganda lauter revo-
lutionären Schein entwickeln, ausstaffiert mit Entwendungen aus der Kommune. Billiger war das Betrugsgeschäft nicht mehr zu machen; denn selbst die herrenrassig-nationalistische Parole zöge nicht, wenn sie sich - scheinbar dem wirklichen Bedürfnis
des Volkes entsprechend - nicht vorab als eine antikapitalistische gäbe. Wobei der Antikapitalismus der Thyssen, Schröder und anderen Auftraggeber des Nazismus verständlicherweise nicht Masken genug auftreiben kann, damit ihn Rotkäppchen nicht
erkenne. Reichstagsbrand allein genügt nicht, das Volk muß auch glauben, daß Nero der Urchrist selber sei. So äffte die Hölle von Anfang an mit Heilsfratze, noch und noch. ı. Man stahl zuerst die rote Farbe, rührte damit an. Auf Rot
waren die ersten Kundgebungen der Nazis gedruckt, riesig zog man diese Farbe auf der schwindelhaften Fahne aus. Die Plakate wurden allmählich immer blasser, so daß sie den Geldgeber nicht mehr schreckten. Die Fahne selbst trug ohnehin von An-
fang an ihr schief gewickeltes, schräg verdrehtes Zeichen, und nach ihm, nicht nach der Farbe, ist sie ja benannt. Doch als ein tüchtiger Arbeiter das Hakenkreuz aus ihr herausschnitt, blieb meterweise roter Schein an dem Tuch noch übrig. Nur mit einem Loch in der Mitte, aufgerissen wie ein Maul und völlig leer. 2. Dann stahl man die Straße, den Druck, den sie ausübt. Den Aufzug, die gefährlichen Lieder, welche gesungen worden wa-
ren. Was die roten Frontkämpfer begonnen hatten: den Wald von Fahnen, den Einmarsch in den Saal, genau das machten die Nazis nach. Der Tag von Potsdam, am 21. März 1933, lenkte das revoluzzelnde Bild wieder mehr ins gewohnte, militärische, doch der 1. Mai 1933 holte mit gestohlenem Zauber desto schamloser auf. In Offenbach errichtete man den Maibaum, das alte 79
jJakobinische Freiheitszeichen, tanzte um ihn weißgardistisch, ja Hindenburg persönlich feierte den Weltfeiertag des Proletariats. Und die Geschäfte zeigten zum ersten Mai in der Zeitung an, es
seien lauter »Arbeiter der Stirn und Faust« in ihnen tätig, und feierten dem Tag zu Ehren mit. Das Profitleben stahl dem Arbeiter auch noch seinen Festtag, fügte so zum Trumpf den Hohn. Insgesamt gab man vor, nur noch Arbeiter, nichts sonst zu sein, verfälschte damit uferlos. Nahm das Wort im verwaschensten Sinn, breitete so einen Dämmer aus, worin keiner mehr weiß, wer Gast, wer Kellner ist. So schreibt der »Völkische Beobachter« über den Zuhälter Horst Wessel: »Er war im wahr-
sten Sinn des Wortes Arbeiter, Arbeiter an sich selbst, Kämpfer mit seinem Ich, so errang er innere Festigkeit und Stärke.« Bei solchem wahrsten Sinn des Wortes gibt es freilich keine Aus-
beuter, Klassenkämpfe, gar Ausgebeutete; es sei denn, man sei kein Arbeiter an sich selbst, sondern einer für andere, wie leider
alle Proleten bisher. Nur das Wort Prolet wird vom Nazi nicht übernommen, so wenig wie das Wort Krise, wofür man bereits
in der Weimarer Republik dasBild: » Wellenbewegung des Wirtschaftslebens« setzte und im Dritten Reich, mit noch besserer Spekulation auf die menschliche Dummheit, einfach November-
verbrechen sagt. » Arbeitertum« jedenfalls, das wird ein außerordentlich kordialer Brei, mit ihm wird der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit, den das Kleinbürgertum ohnehin nicht begriffen hat, vollends verschmiert, und das Schwindelmonstrum heißt trotzdem oder eben deshalb »Arbeiterpartei«,
läßt die Mörder und ihre Opfer sich als Genossen grüßen und gibt sich, indem es die Marxsche Aufhebung des Proletariats
mit Erschießungen und Konzentrationslagern praktiziert, sogar als den wahren Jakob des Sozialismus. Wobei menschlich, und sein erster Mai zeigte bereits Kraft, sich freilich ebenso auf erstickende Art risierung« immer und immer wieder versteht. ste Zeichen seiner Kleinbürgerlichkeit, wie
der Nazi, er ist ja diese umarmende von »EntproletaEs ist das sicher»die Tiefen des
Volks«, aus denen ja auch Spießerkönig Hitler emporgestiegen ist, gehoben werden sollen, wie proletarisches Klassenbewußtsein abgetrieben, »Standesbewußtsein« beigebogen wird. Mit dem Auftrag: den Klassenkampf in jenem generellen Wischiwaschi 7ı
zu ersticken, das kleinbürgerliches Bewußtsein heißt, und worin sich, wie Marx sagt, »die Widersprüche zweier Klassen zugleich
abstumpfen«. Nur daß selbst hier noch der Betrug nicht so weithin gelänge, wenn der christlich-soziale Ladenhüter der »Entproletarisierung«, den Hitler wieder zu Ehren bringt, seine angebliche Volksgemeinschaft nicht wieder hochsozialistisch ver-
ziert wäre, ja sogar mit nichts Geringerem als mit der klassenlosen Gesellschaft selbst, gleich als wäre sie schon jetzt. Derart gibt es in der nazistischen Schwindelwelt von Thyssen bis zum letzten Sackträger nur eine einzige klassenlose » Arbeitsfront«, und der »Reichsbauerntag« in Goslar kennt gleichfalls keine
Unterschiede mehr zwischen Großgrundbesitzer und Zwergbauer, es sei denn die unwesentlichen, die durch Ar und Hektar bezeichnet werden und vor Allvater am Erntedankfest nicht ins Gewicht fallen. Was immer Dorfarmut und Stadtproletariat ausmacht, wird von Hitler lediglich als Kleinmut bezeichnet, der
rein psychologisch wegoperiert werden kann, eben durch innere Erhebung aus »den Tiefen des Volkes«. Denn dem Nazi ist es selbstverständlich, daß der Proletarier sich genauso empfindet, wie der Kleinbürger ihn betrachtet, nämlich als eine Hefe des Volks, die sich ihres Daseins schämen müßte, als einzigen Minderwertigkeitskomplex. So muß die Arbeiterklasse geradezu feudalisiert werden, nämlich zur »Gefolgschaft«, zusammen mit den Angestellten als den übrigen lehenstreuen Edelgermanen, um, nach Hitlers Patentlösung, »ihre Minderwertigkeitskomplexe zu töten und auch die lange Weile, aus der die ketzerischen Ideen und Gedanken kommen«. Folglich sind für Hitler die » Voraussetzungen des Marxismus« einzig das Leid des Proleten, kein Kleinbürger zu sein, verbunden mit der Langeweile der Proletarierbande, die ihr teils auf dem Kasernenhof (auch der Fabrik als Kasernenhof), teils mit Klamauk zu entziehen ist. Unüberbietbar ist derart Hitlers Begriff des proletarischen Bewußtseins, während der Goebbelsschen Maifeier verkündet: »Wir sind entschlossen, den Marxismus nicht nur äußerlich zu
beseitigen, sondern ihm auch die Voraussetzungen zu entziehen. Wir wollen für die Jahrhunderte, die nach uns kommen, für diese geistige Verwirrung die Voraussetzungen beseitigen, und zu ihnen gehört der dünkelhafte Sinn, der den einzelnen befällt 72
und von oben heruntersehen läßt, als ob - Handarbeit schände.«
Der einzelne ist der nationalsozialistische Kleinbürger, und der »Völkische Beobachter« fährt ergänzend fort: »Der deutsche Arbeiter soll durch diesen Festtag wieder vollberechtigtes Mitglied der deutschen Volksgemeinschaft werden.« Oder wie der Leiter der » Arbeitsfront« (der besetzten Gewerkschaften) sich ausdrückt: »Der deutsche Mensch muß begreifen, daß, wenn er für das Volk arbeitet, er dann auch das Recht hat, stolz zu sein
auf seine Leistung. Deshalb, mein Führer, nehmen Sie als der Stärkste Ihres Volkes den schwachen Sohn in Ihre Schirmherrschaft.« So weit ist der Prolet im »allgemeinen Arbeitertum« gekommen, daß er, dersich bisher als geschichtlich entscheidende Klasse, als Träger der Zukunft fühlen konnte, nun der schwäch-
ste Sohn des Kleinbürgers geworden ist. Armselig, doch erhoben steht er unter der »Schirmherrschaft« des Spießerkönigs, so wie
dieser Patron nun wieder vom Finanzkapital patronisiert wird. Da ist wirklich der Trumpf nach hundert Jahren deutscher Arbeiterbewegung erreicht: ein Monstrum ist wahr geworden und liefert den Proleten gefesselt ein ins Tausendjährige Reich,
ins Finanzkapital als Volksgemeinschaft. 3. Zuletzt noch gibt man vor, nichts zu denken, als was die
Dinge verändert. Das klingt fast formell-marxistisch, kennt keinen Geist an sich, stellt ihn vielmehr in politischen Dienst. Goebbels erklärte ausdrücklich den Film »Potemkin« als vorbildlich für den deutschen, so weit geht das formelle Einverständnis, wie der Gauner und diebische Entsteller es sich vorstellt. Wichtig
ist, nach den neuesten dramaturgischen Richtlinien dieser lumpig-ausgepichten Plagiatoren, nicht, wie gut oder schlecht das gespielte Stück war, sondern in welcher Stimmung der Zuschauer das Theater verläßt. Abgelehnt werden die Freude am Theaterspiel um seiner selbst willen, die Probleme der Privatsphäre und des elfenbeinernen Turms, die Gestaltung unpolitischer Themen;
Goebbels wünscht keine Romantik, außer als »stählerne« (eine
freilich seltsame Legierung), er will im Theater 'Tendenz statt l’art pour l’art. All das wirkt, zweifellos, so täuschend antikontemplativ, wie eine Fälschung nur sein kann, die die marxistische Bezogenheit der Theorie auf Praxis mit derSuada eines Bauernfängers verwechselt. Auch weiter zeigen sich Parallelen aus 18
Blendwerk;
so schreibt ein nicht einmal faschistisches Hoch-
schulblatt: »Es ist in Zeiten wie den gegenwärtigen unvermeidbar, daß dann das letzte Wort nicht der Universität, sondern dem Staat gehört. Das und nichts anderes, jedenfalls nicht, daß Politik und Wissenschaft einfach vermischt werden, heißt Poli-
tisierung der Universität.« Hier ist wichtig, die Wege zu beachten, mittels derer dem Nationalsozialismus gerade die Kopie des marxistischen Theorie-Praxis-Verhältnisses besonders bequem, besonders »modern« erreichbar schien. Nicht nur keinen Intellekt an sich, sondern überhaupt keinen Intellekt zu dulden, außer auf den Kommandohöhen des Profits, das macht die Chloroformpraxis des Hitlertums aus. »Recht ist, Wahrheit ist, was dem
deutschen Volke nützt«, das heißt, dem deutschen Monopolkapitalismus nützt: Dieser Schandpragmatismus der Nazisist am Ende nicht nur der Affe des marxistischen Theorie-PraxisVerhältnisses, sondern seine völlige Pervertierung. Denn marxistisch besteht in diesem Verhältnis durchaus der Primat der Theorie, das heißt: nicht deshalb ist etwas wahr, weil es nützlich ist, sondern weil es wahr ist, ist es auch nützlich. Die ewig gleichen und unwissenden Arien, die Hitler seinen Kleinbürgern singt, werden auch nicht besser, wenn die Universitätshure, die
er fand (so wie Wilhelm II. sie 1914 gefunden hat), den Kitsch
latinisiert und den Betrug mit Finessen ä la Schmitt oder Freyer oder Heidegger verbessert. Der Nationalsozialismus hat außer begriffloser Verzweiflung und verwilderter Dummheit. auch viele korrupte Professoren für sich, doch keine Theorie, die eine andere Praxis als Betrug und Totschlag mit sich brächte. Sein
gestohlenes Theorie-Praxis-Verhältnis ist daher in Wahrheit das bloße Verhältnis zwischen falschem Sirenengesang und echter Zerfleischung, zwischen der Abdankung der Vernunft und dem Raubzug der Gangster in derart hergestellter Nacht. All das zuletzt im Namen einer »Theorie-Praxis«, die den Mammon abschafft, indem sie ihn »schaffendes Kapital« tauft, und die
»antikapitalistische Sehnsucht« befriedigt, indem Urian den arischen Hintern küßt.
sie Meister
Also begnügt sich der Feind nicht damit, Arbeiter zu foltern und zu töten. Er will nicht bloß Rotfront zerschlagen, sondern zieht der angeblichen Leiche auch den Schmuck ab. Der Betrüger 74
und Mörder kann sich anders nicht sehen lassen als mit revo-
luzzerhaften Reden und Kampfformen. Der Kleinbürger sieht darin Sozialismus, der Großbürger besitzt daran Kulisse, und für beides war dem Kapitalismus höchste Zeit. Denn die demokratische Attrappe der Weimarer Sozialdemokratie versteckte den verelendeten Massen ihre Wirklichkeit nicht mehr. Also mußte die Attrappe ausgewechselt werden und vom sozialdemokratischen »Sozialismus«, mit Sozialisierungskommissionen, auf das viel radikaler scheinende Blendwerk des nazistischen über-
gehen. Doch freilich, es gelänge nicht einmal dieses Blendwerk, und der Betrug mit ihm wäre nicht notwendig, wenn nicht eben eine fortwährende revolutionäre Situation bestünde, die man durch Diebstahl ihrer Embleme akut zu werden verhindert. Man muß bis Luther im Bauernkrieg zurückgehen, um einem ähnlichen Betrug mittels pervertierter revolutionärer
„ Losungen zu begegnen (damals hießen sie: Freiheit des Christenmenschen); und auch der Judas in Luther wird vom Satan Hitler noch weit überboten. Das Erwachen aber aus der nationalsozialistischen Verzückung wird desto belehrender für ihre
Massen sein, je verheißungsvoller an antikapitalistischer Sehnsucht die Verzückung war und je »schlagartiger« sich erweist, daß ihre Inhalte auf dem geglaubten Naziboden am schlimmsten mißlingen. Hitler brüllte, daß er sein Reich stabilisiert habe »für die Jahrhunderte, die nach uns kommen«, und »in zehn Jahren gibt es keinen Marxismus mehr«. In zehn Jahren wird statt
dessen das Tausendjährige Reich gänzlich in die Hölle gefahren sein — der Hund ist tot, die Taschenspieler werden keinen Geist
mehr rufen. Nur ein Menetekel wird stehen bleiben, — wehe jeder Diktatur, die das verkennt.
NEUE SKLAVENMORAL In einem
sind die Braunen
DER ZEITUNG
(1934)
ehrlich. In der Kunst, nicht das
Wahre zu sagen. Sie geben dies in einer Weise zu, die fast an Stolz grenzt. Nicht nur der letzte Amtswalter muß jetzt listig sein. Damit nämlich seine Sache dunkel bleibe, auch wenn sie an
den Tag kommt. Nicht nur der Zeitungsmann muß, bei Strafe 22)
des Untergangs, eine Lüge finden, sobald er auf den Boden blickt, auf Blut und Boden. Sondern die Lüge wird, neuer Anweisung zufolge, außer zur Moral auch zur Wissenschaft des
Reichs. Dieses in den Ausführungsbestimmungen zum Schriftleitergesetz implizit, in der offiziellen Zeitungswissenschaft explizit. Seit der deutsche Redakteur die » Verantwortung« dafür übernommen hat, das Gegenteil der Wahrheit zu schreiben, wird ihm die subjektive Lumperei durch Öffentlichkeit
erleichtert und sozusagen objektiv gemacht. Der Schriftleiter lebt in allem diesseits der Macht und ist ein armer Hund, der kuscht.
Doch nach der großen Umwertung der Werte steht die Sklavenmoral, sobald sie schreibt, auch jenseits von wahr und falsch.
Wie das führend in einem Lehrbuch der Lüge bestätigt wird. Der neue Professor der Zeitungswissenschaft in Leipzig, namens Münster, ließ es unter dem Titel: »Die drei Aufgaben der deutschen Zeitungswissenschaft« erscheinen. Darin faßt Münster »für den Kundigen die bisherigen Ergebnisse im Brennspiegel der neuen Anschauungen glücklich zusammen«. Nicht das Wissen, sei es geschichtliches, sei es gar ökonomisches, herrscht darin an erster Stelle, wieso auch, es hat sein Moratorium, und nicht einmal ein schönes. An erster Stelle steht, expressis verbis, »die
Aufgabe, allgemeine politische Erziehungsarbeit zu leisten und das Verständnis zu erschließen für die Notwendigkeit und Art der Propaganda. Diesem vorbereitenden Studium folgt als zweite spezielle Aufgabe die historische Kenntnis der Volksbeeinflussung und geistigen Volksführung aller Zeiten und Völ-
ker.« Erst danach folgt als dritte die Aufgabe der Zeitungswissenschaft das sozusagen Theoretische und auch das nur, in Münsters dankenswerter Bescheidung, als »Mithilfe an der Ausbildung des deutschen Schriftleiternachwuchses«. Als jene Ausbildung, welche »den Erfordernissen des Schriftleitergesetzes entspricht und Kenntnisse über das deutsche Volk im Zusammenhang mit den Erfordernissen der Zeitungspraxis vermittelt«. Nur insofern also, unter den Grundzweck der » Volksbeeinflus-
sung« gebeugt, dem Grundziel gehorchend, der Goebbelsschen Propaganda noch ein gedrucktes Radio zur Seite zu stellen, kommt Wissenschaft in Betracht, jene ohnedies depravierte, bloß
noch auf Gänsefüßchen laufende Ökonomie und Geschichte, 76
' welche heute auf deutschen Universitäten gelehrt wird. Denn es soll nicht nur der Zeitungsmann abgerichtet werden, sondern
ebenso der Propagandist am Film und Mikrophon: Wahrheit ist, was Thyssen nützt. Damit tritt nun, wie der Nazi glaubt, die bürgerliche Zeitung ab. Sie tut das freilich so wenig, daß mit der neuen Bestimmung nur die letzte Scham von ihr gefallen ist. DieScham, welche noch
die alten verschlissenen Gewänder des guten bürgerlichen Gewissens, mindestens des Tatsachenberichts, dem Interesse des Besitzers und der Inserenten vorgehalten hatte. Aus Zeiten, als
das Bürgertum an die Segnungen des Kapitalismus noch glaubte und buchstäblich der Hoffnung war, im gleichen Maße wie die
eigene Tasche sich füllte, müßte auch denen der anderen ein Suum cuique werden, überhaupt das allgemeine Segel der allgemeinen Kultur sich blähen. Jetzt glauben keine Thyssen an einen harmonischen Gang des Geschäfts, es sei denn über Leichen: und das »Volk«, mag auch die Ausbeutung und nachher
der Krieg gewisse seiner Bewegungen nötig haben, muß politisch wenigstens die Leiche sein, worüber das Kapital geht. Ähnliches hatte früher die Ideologie erstrebt, war aber subjektiv noch mit relativer Unbewußtheit des Betrugs und objektiv mit einem Schimmern der Kultur gemischt; beide Schleier sind heute
überflüssig. Also verschwindet die letzte Bürgerscham der Zeitung, sie verschwindet mitsamt jenem »Besprechenden« oder »unvergänglichen Reiz der Richtigkeit«, der in einem oder zwei liberalen Großblättern eine Art Bädeker zu den Ereignissen abgeben wollte. Das Kapital braucht statt dessen bewußt zynischen Betrug, mit den vergänglichen, doch obszönen Reizen der Unrichtigkeit, es braucht Journalisten mit der Suada von Mädchenhändlern, am besten mit dem Diplom einer Taschendiebschule
dazu.
Der revolutionäre
Schein
des Nationalsozialismus
ist
ohnedies so dahin, wie noch kein Schein es zustande gebracht
hat. Mit ihm die Möglichkeit seiner ersten Zeiten, in irgendeiner Kopie der alten Volksblätter, gar der revolutionären Landboten von einst zu verführen. Übrig bleibt nur » Volksbeeinflussung« im eingestandenen Sinn geschulter Gerissenheit; der Journalist, der vor Zeiten der unedle Bruder des Dichters genannt wurde, ist zum edlen des Gauners erhöht. art
4
Zwei Mittel werden dazu verbunden, das neuere belebt das
ältere. Das eine ist die Reklame, womit der ringende Absatz
schreit, wie schwer er es hat. Heute noch Ärzten und Anwälten verboten, auch im Geschäftsleben nur langsam, mit der wachsenden Konkurrenz, zu gesetzten Häusern vorgedrungen, ist es völlig neu, daß Staatsmänner sich ihrer bedienen. Bei keiner
Hühneraugensalbe wurde so betäubend von der eigenen »gigantischen Leistung« gesprochen wie am Regierungstisch, sobald ein Haupt des Dreigetüms sich eröffnet; und macht auf
den Namen des Doktor Unblutig nicht einmal Anspruch. Das andere Mittel der Beeinflussung ist bedeutend altmodischer, ja es war in den liberalen Zeiten nur noch Schul- oder TheaterRest. Es ist die Rhetorik, nämlich als jene echt sophistische Disziplin, welche nicht mit Wahrheit wirkt, sondern mit Überrumplung. Mit Arrangement, Augenblicks-Bluff, psychologischer, nicht logischer Verteilung von Licht und Schatten, kurz, mit
Verachtung des Zuhörers und vollem Zynismus der Mittel. Es gibt auch gediegene Rhetorik, die nicht von den Sophisten herkommt, nicht einmal von Dekorateuren; die großen, an sich sel-
ber glaubenden Philippiken des Demosthenes sind ihr unvergessenes Muster, auch die Parlamentsreden der beiden Pitt gehören hierher, auch forensische Beispiele, wie sie bei Zola und Labori im Dreifus-Prozeß geblüht haben. Doch sind die Rhetoriken des Demosthenes, o Männer von Athen, selber welche von
Männern an Männer, haben ein soldatisches Gesicht, sind überhaupt keine Rhetorik des angestammt sophistischen Sinns, vielmehr Logos vor Gleichwertigen, gleich all solchen Reden, bis Mirabeau, Robert Blum und Lenin, ehrlich gedeckt, aus wirklichem Licht zündend und erleuchtend. Meinung des Redners und Meinung der Rede sind hier identisch, Form und Inhalt
homogen.
Die bedenkliche Rhetorik dagegen, welche diesen
Namen erst verdient, die sophistische und nachher römischdekorative, hat überhaupt keine Homogeneität zwischen Form und Inhalt, selbst ihr Barock steht schief zur Wahrheit und
zutreibend nur zu dem - in der ganzen Rede verschwiegenen — Zweck. Jesuiten haben die besten Lehrbücher
dieser Wach-
hypnose herausgegeben, bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts, und allen Trugschlüssen, von der quaternio terminorum 78
bis zur Heterozetesis, wurde hier ihr Asyl. Schlangenschön hält ' Antonius die beste solcher Reden, nicht Brutus, der ehrenwerte Mann undehrliche Republikaner; strahlend von Sophistik betört Fiesco mit diesem einen Stück Antike, indes Verrina, das andere, stumm bleibt und zuletzt nur, statt des Kunstgriffs, einen
Handgriff ausübt. Unechte Rhetorik setzt allemal geglaubte Gimpel, mindestens ungeglaubte eigene Versprechungen oder Färbereien voraus; daher ihr falscher Ton, daher das Unleidliche
noch in theatralischer Form, wenn aufgedonnerte Sprache und die Maus eines kleinbürgerlichen Inhalts dahinter sich bis zur Komik nicht entsprechen. Daher auch das völlig andere Gesicht
der echten, der subjektiv wie objekthaft gedeckten Glutsprache, ihr Charakter: niemals nur Rhetorik zu sein, so wenig wie die männliche Beredsamkeit des Demosthenes oder Lenins. Schie-
bungs-Rhetorik aber ist das einzige » Vernunft«-Instrument der Despotie, solange sie noch nicht im Sattel sitzt oder solange - wie in Deutschland — der Unterdrückungsapparat noch nicht allein genügt. Neben dem zitternden Schrecken steht dann der süße
der Demagogie; wobei sich Nazi-Rhetorik von der Reklame, deren sie sich mitbedient, sowohl durch das prunkvolle Ausmaß der Verlogenheit unterscheidet, als dadurch, daß ihre Käufer hinter die Ware erst kommen, wenn es zum Umtausch ohnehin
zu spät ist. Die reale Lage, der Charakter der Wirklichkeit können durch Phrasenschaum,
der über den Löffel balbiert, nicht
selbst »beeinflußt« werden. Rhetorik ist ja keine Theorie, welche zur konkreten Praxis führt, konträr, sie ist die Blendung, welche den Durchbruch der Wirklichkeit in Bewußtsein und Praxis verhindert. Doch indem sie aus weiß schwarz macht und aus rot braun, gibt sie dem Opfer zuletzt dieselbe Unempfindlichkeit fürs Wahre, die der Täuscher berufsmäßig schon sein eigen nennt. Des Unterschieds, daß dieser wohl alle Wahrheit umgeht, die Empfindlichkeit aber für seinen Profit während der
Operationen nicht einen Augenblick aus der Technik verliert. Dazu also und zu diesem Ende studiert auch der Schriftleiter
Universalgeschichte (»historische Kenntnis der Volksbeeinflussung aller Zeiten und Völker«). Sehr viel eigene Zutat wird
nicht vermeidbar sein. Denn allesbisherige Räucherwerk brannte nur einmal ab, dem gemäß, daß die Lüge kurze Beine hat und so 79
lebfrisch zum zweiten Mal nicht wiederkommt. Oder es stand hinter
Beeinflussungsapparaten
mehrmaliger,
gar dauernder
Wiederholung, wie etwa der Kirche, sehr große Vielseitigkeit und Kultur der Mittel, sehr viel Undurchsichtigkeit der Kontrolle vor allem, kraft des ausgleichenden Jenseits. Der Nationalsozialiimus dagegen schwächt sich einmal durch die Eintönigkeit seiner Wiederholungen (dem Schablonentyp und der
Unbildung seiner Phraseure entsprechend). Sodann aber steht dem Dümmsten allmählich eine Kontrolle zur Verfügung, wenn er die »gigantischen Leistungen« und die Selbstzufriedenheit derer, die die »Revolution« gesund gestoßen hat, mit der eigenen Katastrophe und der absurden Gesamtlage Deutschlands vergleicht. Der Nazi-Schriftleiter sucht vergebens, sich eine Art
Zeitersatz fürs Jenseits und seine Unkontrollierbarkeit zu schaffen, indem er — mit einer Mischung aus Ruhmredigkeit und Verzweiflung - tausend Jahre, wo nicht hunderttausende, für
den »vollen Erfolg« des Nationalsozialismus prophezeit. Der Hunger ist von heute und das Einzige in bar, was der Nazi aus
seinem Sack Versprechungen aushüllt; daher nennt die »Frankfurter Zeitung« den Optimismus, den ihresgleichen jetzt zu verbreiten hat, »fast verwegen«. Caligula, auch ein Tierfreund, Nero, auch ein Künstler, waren fast leichter zu preisen als Hitler.
So hat der Journalist, vorgeschriebene Lügen illuminierend oder gar solche hinzu erfindend, worauf nicht einmal Goebbels kam, ein saures Amt und heut zumal. Es steht schon so, daß, während
er die Kunst des Lügens erst richtig lernt, die Kunst, sich belügen zu lassen, reißend verlorengeht.
GAUKLERFEST UNTERM GALGEN (1937) Möge man leise reden, es ist ein Sterbender im Zimmer. Die sterbende deutsche Kultur, sie hat im Innern Deutschlands nicht
einmal mehr Katakomben zur Verfügung. Nur noch Schreckenskammern, worin sie dem Gespött des Pöbels preisgegeben werden soll; ein Konzentrationslager mit Publikumsbesuch.
Das wird toll und immer toller. Was tut nur ein ehrlicher, ein 80
begabter Mensch in diesem Land. Sein einfaches Dasein ist ihm gefährlich, er muß es verstecken. Jede Art von Begabung ist ihrem Träger lebensgefährlich, außer der des Duckens. Unverhüllt wird Künstlern, die es sind, Kastrierung oder Zuchthaus
angedroht; das ist kein Scherz, es gibt keinen Scherz aus solchem Munde. Man hat gelernt, das Lächerliche ernst zu nehmen.
Trotzdem versagt man sich, auf einzelnes einzugehen. Die »Frankfurter Zeitung« schreibt über die Kunstrede Hitlers: »Der Führer hat die Lehre und Maßstäbe gegeben, die der hohen Gründung eines Tempels der Kunst allein angemessen sind.« Führer und Maßstäbe sprechen für sich selbst, sie sind nicht einladend, obwohl, wie die gleiche Zeitung bemerkt, das ästhetische
Kolleg des Anstreichers »zugleich mit den Waffen scharfer Ironie wie mit den Mitteln philosophischer Erörterung« gelesen worden ist. Die Ansprüche sind verschieden; was dem einen als Ironie vorkommt, erscheint dem anderen als Rache des zurück-
gewiesenen Kunsteleven von ehemals. Auch hat es eine Ironie, welche feststellt, daß gewisse Maler die Wiesen blau, die Himmel grün, die Wolken schwefelgelb empfinden, in Krähwinkler Anzeigern schon oft gegeben; wenn auch ohne die eigentliche Schärfe, welche zur Kastrierung notwendig ist. Und was die
philosophische Erörterung angeht, so flossen aus der richtigen Bezugsquelle die ebenso richtigen Kategorien; der philosophierende Führer hat das Wort: »Ein leuchtend schöner Menschentyp, meine Herrn prähistorischen Kunststotterer, ist der Typ der neuen Zeit, und was fabrizieren Sie? Mißgestaltete Krüppel und Kretins, Männer, die Tieren näher sind als Menschen —
und das wagen diese grausamsten Dilettanten als den Ausdruck dessen vorzustellen, was die heutige Zeit gestaltet und ihr den Stempel aufprägt.« Selbstverständlich kehrt sich die philosophische Erörterung von solchen. Anspielungen auf die Gegenwart und ihrem Stempel ab und befindet über sich und ihresgleichen,
die bei den Griechen nicht als Mensch gegolten hätten, folgendes: »Niemals war die Menschheit im Aussehen und in ihrer Empfindung der Antike näher als heute.« Wie bemerkt: ein Kommentar zu Führerreden ist nicht unsere Sache, indessen gibt es noch Doktordissertationen im Dritten Reich, ihre Thematik, hört man, sei begrenzt. Vor kurzem soll eine Dissertation 81
erschienen sein über das Thema: »Leben und Treiben der Hoflieferanten«, eine andere lautet: »Die Wegweiser im Zeitalter der
Völkerwanderung«. Gar ein Lehrstuhl für Sterndeutung wurde der Berliner naturwissenschaftlichen Fakultät vom Führer »an-
geraten«. Bei solchem Stand der verzweifelten Wissenschaft läßt sich auch aus der Münchner Rede süße Frucht brechen, der deut-
sche Nobelpreis wartet. »Streicher und Hellas« — ein würdiges Thema, eine wahrhaft philosophische Erörterung; sie vor allem wäre imstande, die Maßstäbe zu liefern, die »der hohen Gründung eines Tempels der Kunst angemessen sind«. Kartoffeln zieht man in Böotien, Eulen in Athen, aber griechische Menschenfresser waren bisher unbekannt.
Unterdessen wurde der Münchner Tempel eingeweiht. »So einmalig«, sagt sein Bauherr, »und eigenartig ist dieses Objekt, daß es mit nichts verglichen werden kann. Es gibt keinen Bau, von dem man behaupten könnte, er sei das Vorbild, und dies hier wäre die Kopie.« Andere nennen das gleiche brutalisierenden Neuklassizismus oder die Aurora in Öl. In welchem Stil aber
das Gegenunternehmen - die Halle der »entarteten deutschen Kunst« — gebaut ist, darüber ist noch nichts bekannt geworden,
obwohl hier wirklich ein Objekt vorliegt, das mit nichts verglichen werden kann. Allein schon das Nebeneinander dieses » Tempels« und dieser »Halle« ist beispiellos, und man hat nichts
davon gehört, daß der Tempel vor Scham in Grund und Boden versinkt. Hier könnte der Bauherr in der Tat Originalität behaupten: eine ähnliche Nachbarschaft von Böse und Gut, von Verrottung und Zukunft, von Kitschmuseum und Pinakothek war noch nicht auf der Welt. Indem es noch keine solche Regie-
rung in der Geschichte gab, gab es noch keine solche Verkehrung der Werte. Im » Tempel« namenlose Banalität (die paar besseren älteren Werke, es sind sehr wenige, sehen drein wie Schubert im
Dreimäderlhaus). In der »Halle« beim Galgen dagegen hängt alles, was der deutschen Kunst neuen Glanz und Namen gebracht hatte, Meister von Weltruf, Franz Marc vor allem, der Stolz Deutschlands, der große, verehrungswürdige Künstler, erst Kriegsopfer, dann Opfer eines Marsyas, der endlich Apollo schindet. Franz Marcs Wunderwerk » Turm der blauen Pferde«, weiter Nolde, Heckel, Kirchner, Pechstein, Beckmann, Kokoschka, 82
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Kandinsky, Schmidt-Rottluff, Chagall, Feininger, Hofer, George Grosz, Campendonck, Paula Modersohn, Klee, Otto Dix
erleuchteten die Schreckenskammer, worin sich ganz Deutschland
befindet, und ertragen
die Aufschriften,
die
schäbige
Dummheit und demagogische Gemeinheit ihnen angehängt hat. Wäre Picasso, ja wären C£zanne, van Gogh, Manet Deutsche, wäre Grünewald nicht lang schon tot: ohne Zweifel hätten auch diese Meister hier Unterkunft gefunden; es wäre in Ordnung. Ein Staat, der nur lebt, indem er das Volk verdummt, entwürdigt, demoralisiert, duldet kein Maß, woran er gemessen werdn könnte; der faulste Kitsch ist gut genug, er sticht nicht ab. Auch der Gangster liebt einen Öldruck über dem Kanapee, worauf er schnarcht; auch der Banause ist nicht ohne Sinn fürs Schöne,
seine Tochter spielt das Gebet einer Jungfrau, und die CourthsMahler greift ihm ans Herz. Franz Marc ist dem freilich nicht
gewachsen, im sanften Geheimnis seiner Tiere ist die banale Nazibestie gerichtet; vor dem Spiegel des George Grosz schau-
dert die ganze neue Antike zurück. Wie anheimelnd dagegen wirken auf sie die Schießbudenfiguren Grützners, Defreggers und der neu erstandenen guten Stube. Wie behaglich finden Spießer und Spießerkönig sich hier zurecht, unverloren, unverfroren — übers Niederträchtige niemand sich beklage, denn es ist das Mächtige, was man dir auch sage. Anders aber, als Goethe
dies meinte und meinen konnte, hat der Niederträchtige heute Macht erlangt, errichtet sich Tempel und kühlt sein Mütchen.
Unter jedem Bild der wirklichen deutschen Kunst klebt ein Pla-
kat mit der Aufschrift: »Bezahlt vom Steuergroschen des arbeitenden deutschen Volkes.«
Der Tempel
des Kitschs aber hat
allein neun Millionen Mark gekostet, die Schlacht Defregger contra C£zanne ist mit Einsatz großer Mittel gewonnen. Uns bewegt nicht, was im Sieger vorgeht. Ist schon die Lüge der Nazis wertlos, wie erst ihre persönliche Wahrheit, man sieht sie ihnen so schon an. Wichtig aber ist allemal, auch hier: was steckt an Absichten dahinter, wozu und zu welchem Ende diese maßlosen Beschimpfungen? »Klägliche Wichte, Schmieranten, prähistorische Stotterer, Kunstbetrüger« — es sind Töne, wie sie aus solchem Mund bisher nur gegen Juden, Marxisten und Emi-
granten erklungen sind. Dem Ressentiment alle Ehre; aber wie 83
hat es, mitten
in Wirtschaftsnot,
Rohstoffmangel,
Kirchen-
kampf, Spanien, Zeit für sich? Als Wilhelm II. die Siegesallee mit ganz ähnlicher Ästhetik einweihte, sollte mit der »Rinnsteinkunst« zugleich die Sozialdemokratie vernichtet werden, mit der Arme-Leut-Malerei die Arme-Leut-Bewegung. Die Sozialdemokratie ist heute erledigt, es gibt statt ihrer sogenannten deutschen Sozialismus, deutschen Frieden; freilich meint er nicht, was er sagt. Nun, fast ebensowenig meint der — sage man:
Neoklassizismus des Führerherzens sich selbst oder überhaupt nur ästhetische Gegenstände. Sondern die Kunstattacke ist erstens neuer Spießerfang, sie schmeichelt schlechtem Geschmack und der hämischen Dummheit zugleich; Biedertöne und Jagdpfiffe mischen sich in ausgesucht demagogischem Verhältnis. Zum zweiten aber verstecken sich hinter den Parolen » Antike« oder »Kulturbolschewismus« (auch »Steinzeitkunst«,
es kommt nicht so genau darauf an) die Gegensätze RosenbergGoebbels, dieselben, die bereits beim Streit um Barlach sichtbar
geworden waren. Es sind die Gegensätze einer Demagogie, welche hier durchs Plüschsofa, dort durch Jugend, Lagerfeuer, »Irratio« wirken will. Plüschsofa ist die eine Seite, stand immer schon in dieser »Revolution«. Indes mit Jugend, Bürgersturm,
Expressio und Urzeit war ebenfalls möbliert worden, vielleicht sogar wirkungsvoller. Neben der guten Stube lockte irrationaler Trieb, wie bekannt; der Überdruß am durchrationalisierten Da-
sein hatte ihn verstärkt, gewisse »ungleichzeitige« Züge in zurückgebliebenen Schichten kamen ihm au fond entgegen. Der Trieb reicht vom dumpfen Weibersehnen über Berserkertum bis zu jenen Wildgefühlen, jenem bewußten Unbewußten, dem
Benn Iyrischen, Klages philosophischen, C. G. Jung medizinischen Ausdruck gab. Heidentum lebt in diesen Wunschbildern, auch griechisches, nicht nur barbarisches; ein Griechenland jedoch, durch die blonde Bestie interpretiert, nicht durch Hölderlin und durch Humanität, freilich eben auch nicht durch die
Gipsfiguren-
oder
Butzenscheiben-Antike
des unwissenden
Spießers. Unser Diluvium-Benn ist seit langem »außer Betrieb«, daß aber die Alternative zwischen Urzeit und »anständiger
Kunst« (wie der Führer sagt) in der hohen Clique immer noch nicht entschieden war, dafür eben ist die Münchner Rede, ist die
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höchsteigenhändige Entscheidung des obersten Gerichtsherrn ein Beweis. Der Expressionismus enthielt selbst in seinen Nachgeburten noch aufsässige Elemente unter den archaischen; er vertrat gewissermaßen die »zweite Revolution« unter Kunstburschen und der Jugend, die sich für derlei interessierte. Das » Archaische«, das »Primitive«, es ist heute noch, als Sadismus,
in Konzentrationslagern erwünscht, und - als furor teutonicus — selbstverständlich
im kommenden
Krieg, wirkt weiter im
Hakenkreuz, in »Siegrunen« und dem »Odal«, in »Thingstätten« und überall dort, wo dekorativer Humbug am Platze scheint. Aber so gut das Großkapital aufs Hakenkreuz zu sprechen war, solange es die Massen
einfing, so wenig hat es sich
doch je mit dem Pathos der Steinzeit oder der archaischen Verwilderung befreundet. Es braucht pünktliche und domestizierte Angestellte, keine Urgermanen, mit Schlaraffia im Geschäft oder mit Blutschein im Kundendienst. Daher muß die Aufregung des Anfangs und der Vorbereitung, muß der Barbarenschwindel für die Sachsen ohne Wald ebenso verschwinden können, verschwinden auch in den Schlagworten der Nazikunst. Es ist vielleicht übertrieben, zu sagen: die Kunst war der letzte ideo-
logische Schlupfwinkel einer »zweiten Revolution«. Aber es ist nicht übertrieben konsequent, zu folgern: in der Münchner Kunstrede lief eine letzte Dünung des dreißigsten Juni 1934, soll heißen: seiner Niederwerfung, am entlegensten Gestade aus. Das wenigstens steht fest: auch der unter den Nazis möglichen Kunst (und den hier geprägten oder erhaltenen Schlagworten) wird die Parole Ruhe, Gefolgschaft und Ordnung gegeben. Die SA des Irrationalen hat auf der Leinwand ausgespielt, erst recht
führt jede Erinnerung des echten Expressionismus auf den Schindanger der »entarteten Kunst«. Die Wildnis soll nun überall ihren Sofa-Neubau in sich und über sich haben, ihren folg-
samen kleinbürgerlichen Kitsch. Daß dem ehemaligen Ansichtskartenzeichner Hitler die Kritik an Franz Marc leicht fällt, ist
ohnedies klar. Ein Gutes in all dem Übel fehlt nicht. Der Führer fuhr nach seiner Rede in eine Tristan-Aufführung, vertiefte sich dort in den wenig griechischen Wagner. Auch Wagner hat zwar einigen Nazismus für sich, Tamtam, Komödiantentum,
dekadente
85
Barbarei: Tristan hat die vorliegende Sympathie trotzdem nicht verdient, Hans Sachs noch weniger. Aber wie gefährlich verwischend wäre es vielleicht für Gebildete, die nichts als dieses,
immerhin dieses sind, jetzt jedoch durch den Künstler Hitler perturbiert wurden, wenn das Naziherz die Frechheit oder die
Heuchelei hätte, gar für Franz Marc zu schlagen oder, auf anderem Feld, für Bartök zum Zweck einer besonderen Tarnung.
Die Verwirrung wäre groß; daß sie leider nicht ganz unmöglich ist, lehrt in manchem das Beispiel Mussolinis, unter dessen faulem Szepter progressive Architektur, diskutierbare Malerei und Musik unangefochten bleiben. Das sozusagen Gute also ist:
Nazi-Deutschland wurde völlig aus einem Guß; wie der Herr,
|
so sein, mit dieser Tempelkunst gefülltes, Gscherr. Homogenes
System ist in die Sache gekommen, auch die Kunst kommt in die Folterkammer, die Bücherverbrennung ging ohnehin der | Menschenverbrennung, gleich an Nam’ und Art, vorauf. Und
der falsche Messias sättigt das »Volk« mit einer gutbezahlten Mischung aus Tanz auf der Alm über dem Kanapee und Blut
und Boden im Abgrund.
AUS DER GESCHICHTE DER GROSSEN VERSCHWENDUNG
(1934)
Nicht von Geld wird hier gesprochen. Eher von der Liebe, die falsch landet. Große Gefühle sind auch sonst vor die unrechte
Schmiede gekommen. Täuschten sich lange genug, bis selbst die Scham zu spät kam. Junge Menschen
sind leicht mit sich verführbar.
Denn in |
ihnen ist am meisten Hoffnung, und diese ist, außer dem Schau- | dern, unser bestes Teil. Doch auch ein ganzes Volk ist seit alters auf Hoffnung gesteilt, die Juden. Diese suchten das gelobte Land, und als sie es hatten, hörte der Wunsch danach nicht auf. Das Buch Jesaias ist voll Verheißung des »Gottesknechts«, der
der zukünftige Retter sein wird. Als das Volk unter neue Knechtschaft geriet, unter syrische, dann unter römische, dann gar unter die abendländische der Zerstreuung, wuchs der Messiasgedanke immer unerbittlicher, ohne Abschlag, verschmolz völlig 86
das irdische und das himmlische Jerusalem. Gerade deshalb hatte man Jesus den Heiden überlassen, weil er das brennende Messiasbild nicht zu erfüllen schien, weil er die Welt nicht real
aus den Angeln hob. Dem Traum des Königs von Jerusalem blieb man treu und wartete auf den Parakleten ohne Sättigung unterwegs, ohne Vorstufe. Noch der ärmste jüdische Schächer ließ sich in nichts bewegen, selbst nicht vorm und im Pogrom,
den Messias Jesus zu bekennen, der ihn hier wenigstens, durch Taufe, errettet hätte. Als man aber das Jahr 1648 schrieb, der Dreißigjährige Krieg war zu Ende, nur für die Juden nicht, änderte sich das stumme, wartende Bekenntnis, und die Erwar' tung schien ebenso plötzlich erfüllt, wie sie sich bisher zurück-
gehalten und strengstens aufgespart hatte. Denn in Kleinasien war ein Prophet erstanden, namens Sabbatai Zewi, der behauptete, Gottes Sohn und der verheißene Messias zu sein. War an
sich ein mittelmäßiger Mann, ohne eigene Gaben in die Blasphemie geraten, mehr von der besessenen Jugend um ihn her als
vom eigenen Plan getrieben. Doch sein ehrgeiziger Ruhm breitete sich in der Judenheit immer feuriger aus, entzündete auch im Westen, unter den Juden Italiens, Frankreichs und vor allem Deutschlands eine ekstatische Bewegung, mit Veitstanz, Gesichten, Gefolgschafts-Jubel, Erretter-Rausch; desto unaufhaltsa-
mer, je näher das »apokalyptische Jahr« 1666 kam. Die Juden, denen Jesus als der verruchteste Verbrecher galt, weil er sich Messias, Sohn Gottes, Gesalbter des Herrn genannt hatte, fielen
‚ großenteils ohne Rückhalt einem Sabbatai Zewi zu, der nicht ‚ nur das gleiche von sich behauptete, sondern der noch höher hinauf in die Macht Jehovas griff und unterschrieb: »Ich der Herr, euer Gott Sabbatai Zewi, der euch aus Ägypten geführt hat«. Der besessene Betrüger hat sich bald nach seinen Höhe-
punkten entlarvt, von den Versprechungen hat er keine gehalten, von den Wundern keines vollzogen, er führte noch eine Jesus-Pilatus-Szene im Verhör vor dem Großvezier auf, trat
_ dann zum Islam über und ist als angestellter Türhüter entschlafen. Dazu also hatten die Juden sechzehnhundert Jahre Not, Verfolgung, Tod erlitten, dazu war Jesus verworfen und die Messias-Erwartung intransigent gehalten worden, um sich im Blitz einer solchen Armseligkeit zu entladen. Der 'Iraum vom
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Reich war an einen Hochstapler verschenkt worden, der nicht
einmal Format genug besaß, um zu wissen, was er versprach und setzte. Die jüdische Erneuerung war vertan, der Alltag, nach so viel verschwendetem Rausch, desto bitterer.
Damals hatten die Juden zum Schaden noch mehr als Spott zu tragen. Aber die anderen Völker, vor allem die Deutschen,
haben sich später nicht viel anders getäuscht und ausgegeben. Die gläubige Gewalt des Einsatzes, das falsche Ziel lagen nicht so hoch, doch der Vorgang wiederholte sich. Sogar in wachsen-
den Schüben, von 1813 bis zum Weltkrieg und der durchaus barocken Gegenwart. 1813: das Volk steht auf, der Sturm bricht los und unzweifelhaft ein echter Sturm, vom erwachenden bür-
gerlichen Bewußtsein angeblasen. Indes die Freiheitskriege wurden zu sogenannten Befreiungskriegen, nämlich vom Soldaten der Französischen Revolution, und die schlechte alte Zeit saß
nachher fester als je. Die demokratischen Jünglinge selber hatten ihre Landesherren wieder zurechtgesetzt, ohne Freiheit, die ich meine, es sei denn mit ihr im Leichentuch. 1832: Hambacher Fest, 1848: der Sturm brach endlich unter anderen Fahnen los als denen des Königs, der Himmel einer ungekannten Freiheit
stand völlig im deutschen Gemüt. Die Jugend vernahm ihr eigenes, frenetische; Wesen, die Abstraktheit, jedoch aber auch die » Universalität« ihrer Begeisterung, wenn ihr die großen Volksmänner im Hambacher Fest zuriefen, Wienbarg oder Wirth
oder Siebenpfeiffer oder der brennende Mazzini, die Träumer der demokratischen Herrlichkeit. Protest flammte auf gegen alle Unnatur und Willkür: »Es muß anders werden«, rief Wienbarg, der Prädikant des jungen Deutschland, »wir selbst sind dazu berufen, in tausendfachem Echo des Gefühls. Wieviel dürre Blätter wir dazu aus dem Kranze unseres Lebens herausreißen müssen, wieviel Unschönes von uns abtun, wieviel gemeine Prosa
wir für ewig in den Schlamm und Schlick der abgestandenen Zeit versenken müssen, welche neue Ansichten der Wissenschaft, der Kunst, der Poesie, der Religion, des Staats, des Lebens
wir fassen und zum Eigentum unseres Herzens machen müssen, dies alles muß uns oft und lebhaft beschäftigen, und das Befreundete muß sich verbinden mit dem Befreundeten, um sich gegen-
seitig auszutauschen und zu befestigen.« Aber hinter all diesen 88
wallenden und echten Gefühlen, hinter dem Rausch und der
Subjektivität dieses falschen Bewußtseins stand real nichts andres als das Interesse der auch in Deutschland erstarkten Bourgeoisie. Genau sie ward »gemeine Prosa« in Potenz, und eine solche, welche die Begeisterung der jungen citoyens und ihrer Revolution nur gebrauchte, um sie erst recht in »Schlick und Schlamm« zu versenken, aber in den der verschwendeten Poesie. Gelang das 1848 noch nicht, so in den stillen Kompromissen nachher mit Junkern, Thron, Armee, Bismarckreich. Als neue Inbrunst kam der Weltkrieg, 1914, wohin sozialdemokratische Idealisten zogen, »um die Fundamente gesehen zu haben«, als welche doch Hindenburg und Ludendorff hießen. Fast schon mit unbewußtem Hitler wurde damals der Wille zu einem anderen Leben, der Überdruß an dem öden, verdinglichten, mecha-
nisierten Dasein, das Pathos der Volksgemeinschaft betrogen, wurde diesen Affekten ein falsches Stichwort gegeben, für Über-
fall und großes Geschäft. Und heute gar ist der Derwisch selber ins Geschäft gefahren; denn in diesem Exzeß blühen nicht nur die Sadisten, die schäbigen Dummköpfe, die begeisterten Sachsen, die literarischen
Huren,
die eiskalten Betrüger. Sondern
etliche glauben mit Fülle, gläubige Jugend erliegt dem Blendwerk, tanzt um scheinbares Johannisfeuer, will brennen wie dieses, sich verwandeln wie dieses. Urväter-Hausrat tanzt mit, Barbarossa im Kyffhäuser, die Raben fliegen, die Raben lassen
sich nieder, Friedrich der Einzige ist der erste Nationalsozialist, Hitler hoffentlich der letzte. In großem Bogen ist die SabbataiZewi-Zeit erreicht; mit dem Unterschied, daß hinter dem fal-
schen Messias nichts stand als seine Psychopathie, hinter dem Dritten Reich jedoch die Schwerindustrie. Wohin geht der Jubel, der betrogen wurde? Meist schaukelt er noch eine Zeitlang im bewegten Gemüt und sackt dann ins
Nichts ab. Die Hinterbliebenen sind leidtragend und leicht gelähmt; was nicht hindert, daß derselbe Fall denselben Menschen wiederkommt, und man ist nicht klüger geworden. So liegen zwischen Weltkrieg und Hitlersieg nur fünfzehn Jahre; die Be-
trügbarkeit, die »Volksgemeinschaft«, 1914«,
die die von
1789
ablösen
sogar die »Ideen von
sollen, sind
im heutigen
Bild verwandt erhalten. Das ist materiell kein Wunder, da das
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Spätkapitalseit dem Krieg, ja schon seit Anfang des Jahrhunderts sich ebenso sozial tarnen wie formidabel erhalten muß. Wunderbar ist nur die ungeheure Gläubigkeit, womit proletarisierte Jugend und gebrannte Kriegsteilnehmer dieselben Mächte mit Kredit überschütten und allem Überschuß eines unverbrauchten Herzens, die sie proletarisiert haben und in einen neuen Krieg schicken werden. Auch der Impuls des Bauernkriegs, der nähere
der roten Achtundvierziger und der der Pariser Kommune kam vor dem Ziel um; doch wie einleuchtend sind die Unterschiede.
Die Hingebung von damals war keine von Verführten an Betrüger, sondern eine an die eigene klare, unterdrückte Sache. Die damals Besiegten leben weiter als Märtyrer, nicht als Betrogene; _ sie wurden von der Übermacht ihrer Feinde geschlagen, nicht vom selben Führer, für den sie sich in Stücke hauen lassen, bloß
übers Ohr gehauen. Bei den aktivsten Teilen, auch bei jenen »Idealisten«, die nicht allzu genau mit der herrschenden Klasse zusammenhängen, geht der betrogene Jubel vielleicht zum Proletariat; vielleicht geht er auch völlig ein und scheut das Feuer.
Es kommt noch genug Jugend, die sich nicht so leichtgläubig geschändet hat wie die braune. Doch was immer reine Hingebung enttäuschen, deren gute Idee diskreditieren, ja ins volle Gegenteil pervertieren kann, nähert sich auch eo ipso dem Fascismus, Die Begeisterung wie die verschossen werden wird. beim Feuerwerk wie beim Sache bewahren, auch unverwechselbar halten, bis und damit sie keinem Fascio mehr
heute wie morgen, von dieser Seite. Liebe sind freilich ein Pulver, das nie Es wird sich das rechte Ziel nehmen, Schuß; zunächst beim Schuß, und die
begegnet.
RASSENTHEORIE IM VORMÄRZ
(1934)
Jetzt doch richtet man gutes Blut nur nordisch an. Die Rasse sieht immer so drein, wie das Geschäft sie braucht. Darum ist dies Nordische nicht nur blond sowieso, sondern treu, gefolgsam, mit Herren besternt und geschmückt, an sie gläubig. Das ist
sein Gesicht, sagt man, seit je. Wie aber, wenn vor Tische genau das Umgekehrte galt? Die 90
' Rassisten gehen zwar ausschließlich auf Gobineau als Ahnherrn des Unsinns zurück. Und dieser lehrte in der Tat germanische Edelinge als hoch über den feige-frechen, wohl gar räsonierenden Untermenschen. Sein »Essay sur l’inegalite des races« erschien bezeichnenderweise 1854, in der Zeit allgemeiner Reak-
tion, des beginnenden Bündnisses von Geldsack und Säbel. Doch vor Gobineau, kurz vorher, erschien bereits ein anderes Rasse' buch, der Franzose hat es benutzt, die Rassisten verschweigen es bis heute. Aus guten Gründen, wie man sogleich sehen wird;
denn die Söhne Teuts hatten damals ganz andere Eigenschaften
als die jetzt beliebten, blutgebundenen. Autor: Friedrich Klemm, Titel: » Allgemeine Kulturgeschichte der Menschheit«, Inhalt: erste germanisch-pathetische Rassentheorie. Wichtiges Erscheinungsjahr: 1845, mitten also im gärenden Freiheits' schwang des Vormärz. Demgemäß sieht Teut noch sonderlich freiheitliebend, voll Vernunft und Wissenschaft drein, um nicht
' zu sagen: artfremd, aufgeklärt und so liberal, daß fast fürs KZ reif. Nur der ausbeuterische Stolz ist hier schon, an der Quelle, derselbe. Ja er wirkt moderner als bei Gobineau; Klemm kennt bereits »aktive« und »passive«, »dynamische« und »statische« Rassen. Überall wo hohe Kulturen entstanden sind, gehen sie
ihm auf Glieder der aktiven Rasse zurück. Diese haben »allen
Völkern Herrenschichten überlagert und damit Kultur gebracht« — eine Phrase, die von Gobineau bis Chamberlain bis Woltmann
bis Hitler immer expansiver gebraucht worden ist, hier aber zuerst sich findet. Nur eben: die Phrase hatte im noch liberalen
Interesse des Bürgertums einen dem heutigen entgegengesetzten Inhalt. Die Fingerfertigkeit der Phantasterei konnte damals anders; wovon ein kleiner lehrreicher Auszug aus dem Urbuch
überzeugen wird: »Die erste oder aktive Hälfte der Menschheit«, sagt Klemm, »ist bei weitem die weniger zahlreiche Art.
Ihr Körperbau ist schlank, meist groß und kräftig, mit einem runden Schädel (!), mit vorwärts dringendem, vorherrschendem
Vorderhaupt, hervortretender Nase, großen runden Augen usw. In geistiger Hinsicht finden wir vorherrschend den Willen, das
Element der Tätigkeit, Rastlosigkeit, das Streben in die Weite und Ferne, den Fortschritt in jeder Weise, dann aber den Trieb 91
zum Forschen und Prüfen, Trotz und Zweifel. Dies spricht sich deutlich in der Geschichte der Nationen aus, welche die aktive Menschheit bilden, der Perser, Griechen, Römer, Germanen. Bei ihnen ist Freiheit der Verfassung, deren Element der stete Fortschritt ist; Theokratie und Tyrannei gedeihen nicht; Wissen, Forschen, Denken tritt an die Stelle des blinden Glaubens.
Dagegen finden wir bei den passiven Rassen Scheu vor dem
Forschen, Denken, geistigen Fortschritt. Die passiven Nationen haben... Seelenkunde, aber keine Philosophie, sie haben Heilmittel und Kenntnis des menschlichen Körpers, dennoch aber keine Medizin, mit einem Worte, eine eigentlich lebendige Wissenschaft fehlt ihnen.« Kurz: das Urbuch der nordischen Rassen-
theorie pflegt dieselben billigen und abstrakten Antithesen, dasselbe Schwarz-Weiß wie seine Kinder, bloß mit umgekehrtem Gehalt. Was heute schlimmste Zersetzung oder Intellektbestie,
war dem Edeling vor 1848 germanisches Erbgut. Was heute archaische Tiefe, war dem Urgobineau »mongolisch«, tiefstehende
Rasse,
»unter
dem
Einfluß
von
Schamanen
stehend«,
kurz, nur unter Hitleriden vorhanden. Auch Hitlers Stellvertreter Heß aus Alexandria, der völlig konsequent die Kurpfusche-
rei gegen die Medizin ausspielt, hätte beim Stammvater kein Pardon gefunden. Alles Okkulte war hier niedere, schwarzhaarige Machenschaft - der Edeling ist per se aufgeklärt. Soweit Herr Klemm, und soweit werde er hier ausgegraben. Nicht als wären Bruchstellen nicht heute noch oder als hätten sie nicht vor kurzem noch erfreut. So im Geschichtsunterricht,
gerade im griechisch-römischen, bei den »aktivsten« arischen Völkern. Welcher Jubel bei der Geburt der Republik, bei den Tyrannen- und Königsmördern, bei Harmodios und Aristogeiton, bei Brutus. Welche Verlegenheit beim Untergang der römischen Republik,
bei der Vertagung
des erbärmlichen
Senats,
welche Verachtung, welch unrömisches Bild gab der Brandstifter Nero. Welch Pathos wurde gegen die persische Gleichschaltung aufgewendet, gegen die Proskynesis, die Despotie, den gottähnlichen Humbug um die Herren. Wie warm wurde mit den Mazedoniern mitgefühlt, wenn ihnen der Nimbus des Großkönigs,
wie Alexander ihn um sich legte, verhaßt war. Fremd, fast hochverräterisch wirkten diese Gefühle im deutschen, gar königlich92
nn
nn
preußischen Gymnasium. Sie spalteten das Edelingische fast _ schizophren bei dem üblichen Oberlehrer, der doch in der Mehrzahl teutonisch-monarchisch bis auf die Knochen war, sobald
die athenische Demokratie oder die römische Republik nicht mehr zur Behandlung standen. Waren diese Wertungen längst schon Phrase geworden, so war ihr Ursprung aus dem revolutionären Bürgertum doch unverkennbar. Und auch der nordische _ Stolz war durch Hannibal immer getrübt, den man bis heute noch nicht, soweit wir sehen, zum Germanen gemacht hat. Der Stolz ist zwar alt, älter sogar als unser Klemm; schon ein gewisser Rudbeck, Zeitgenosse von Leibniz, verlegte nicht nur die Stammesheimat der Germanen, sondern gleich den Ursprung ‚aller Kultur nach Skandinavien, und der Wahlspruch: Lux in
‚ tenebris cimmeriis erlangte damals große Bedeutung im Kampf um die indogermanische Heimat, gedieh zur Konkurrenz gegen das Ex oriente lux. Aber das Paradies selber lag noch nicht in Pommern, so wenig, daß noch Schopenhauer dem gebräunten, schwarzäugigen Menschenschlag den Kranz überreichte. Ja, die-
ser ebenfalls ältere »Rassephilosoph« beschimpfte sogar den ' Schlag, dem er selber angehörte; er nannte die Nordischen »Albinos« oder Pigmentverlustige unter einer erbärmlichen Sonne — alles mit Rassepathos, alles im Widerspruch zum heutigen. So zweischneidig
ist das Messer, von
dem Judenblut
spritzt. So
verschieden vor allem spiegelt selbst der »aktive« Unsinn die Ideologie, die dies Bürgertum jeweils braucht.
MYTHOS DEUTSCHLAND UND DIE ÄRZTLICHEN MÄCHTE
(1933)
Lieben Freunde, es gab schön’re Zeiten, Als die unsern — das ist nicht zu streiten! Und ein edler Volk hat einst gelebt.
Schiller
Die weiche Art ist lang gewesen und dahin. Die neue fühlt sich stählern, durchaus als Klinge. Sie ist es derart, daß sie wehrlos Gemachte gut und gern tranchiert. Aber so vortrefflich der ’Iyp
93
rast, so leicht läßt er sich abblasen, wenn es seinen Herren gefällt.
Zum befohlenen Kampf von jeher großartig begabt, gelingt ihm desto schwerer der Kampf für sich selbst oder der Aufruhr. Die deutsche Bestie wird zum Hammel, sobald sie wieder in den
Stall geführt wird. Also läßt der neue Deutsche sich noch viel leichter biegen als der liberale vordem. Sucht nicht einmal einen Rest Person wie dieser, worin er frei scheinen mag. Und wie erstaunlich läßt der neue Harte, ob gebogen oder führend, das menschliche Gesicht aus. Der kirre Held wie der wilde, beide
gehen ins dampfende Tier. Nicht nur der weiche, oft hört jeder Mensch auf, der bisher geleuchtet hat. Auf Blut, auch auf seinem eigenen, fährt der neue her. Er glaubt, sich züchten zu können, wie Hunde oder Pferde. Der erste Ort, so deutsch zu sein, ist derart das reine Bett. So geht der Kampf gegen erblich Kranke, sie werden nicht »gepflegt«,
sondern ausgerottet. Aber auch Krankheit anderer Art stammt angeblich aus mitgegebenen schlechten Säften, nicht aus Hunger oder dem höllischen Leben des Arbeiters. Das Gewachsene, nicht das Gemachte liebt der Nazi; so braucht er in das Gemachte,
nämlich die kapitalistische Wirtschaft, nicht einzugreifen. Desto gefahrloser aber greift er ins organische Wachsen ein, hat im »guten Blut« das Heilmittel der meisten Schäden. Verführt damit Ärzte, nicht etwa, indem er ihnen das soziale Leben wichtig
macht, wohin das gesunde oder geheilte geschickt wird. Der Nationalsozialismus zeigt nicht: Kranke werden heute für eine Hölle »gesund und leistungsfähig« gemacht; zeigt nicht: die Krankheiten kommen heute wieder wie Wunden im Krieg. Vielmehr arbeitet Blutsorge bis zur Geburt und dann nicht mehr;
sie verbindet sich zugleich aufs beste mit dem Haß gegen die große Stadt. Bauernblut soll die Gesundheit ab ovo schaffen, ob es auch durch Inzucht und andere Schäden noch so ermattet ist,
im Gegensatz etwa zu Sporttypen der Stadt. Die Städte gelten trotzdem, durch die Reihe, als Verwüster der Volkskraft;, wiederum nicht wegen der kapitalistischen Wirtschaft, sondern wegen der »materialistischen Lebensgesinnung« (soll heißen:
wegen der proletarischen oder wegen der krisenhaft vorgeschrittenen). Eine völlig liberalistische Angst beseelt den Fascismus überdies; die Angst vor der sinkenden Geburtenquote. Die 94
deutsche liegt in der Tat zur Zeit besonders tief, noch unter der französischen; also soll auch hier die Blutpflege heben. Ein
Aberglaube der großen Zahl liegt dieser Angst zugrunde; als herrschte noch die liberale Zeit, die mittelkapitalistische, wo der Unternehmer nicht Arbeitskräfte genug verwerten konnte, sei es als beschäftigte, sei es als lohndrückende Reservearmee. Heute
reicht der Erwerbslose zur Bildung dieser Armee durchwegs aus, ja, ist gerade eine Gefahr für die kapitalistische Wirtschaft, mindestens ein Ballast. Dennoch betreiben die Nazis, wie so oft, eine überalterte Ideologie; sie haben die »gesunden Ansichten« einer
zurückgebliebenen Schicht. Wobei die Stärkung des reaktionären Haussinns freilich nicht außer Ansatz bleibt, erst recht nicht der Auftrag zu Kanonenfutter. Daher wird die große Zahl - und
wieder von Geburt an — genau zugleich abgeteilt; in die Masse nämlich der Geführten und in die kleine Schicht geborener Füh-
rer. Die schlecht Weggekommenen sollen an ihrem eigenen Leib schon glauben, daß sie es mit Recht sind und bleiben müssen. Man wird so in den Stand der Arbeitnehmer strenger und unausweichlicher geboren als früher in den Stand der Leibeigenen; -
was zur Zeit der Leibeigenschaft gottgewollt war, ist fascistisch naturgewollt. Umgekehrt herrschen die Wirtschaftsführer und die politischen kraft ihres herrenrassigen Bluts; dieses allein bestimmt den neuen Adel, die neue Elite der Ausbeutung. Herrschaft über Menschen bleibt ewig; nachdem sie schwankend zu
werden droht, ist »auf Rassenlehre die ganze künftige Gesetzgebung zu gründen«. Das deutsche Land aber fährt am besten, weil es auch seine Kapitalisten als Deutsche und nur als Deutsche hat. Das deutsche Volk ist den Nazis nicht schlecht genug, um Marx zu dulden, doch gut genug für Stinnes oder Thyssen. Allerhand Träume umspielen die nordische Rasse dazu, mit Zügen, die sie niemals hatte oder die sie nicht allein hat. Und das wirkliche Gesicht des neuen Adels, wenn nicht sein Leitbild, ist allemal der verschönte Ausbeuter von heute. Doch Blut wieder, ein noch schöneres als das gesunde, hält auch zusammen. Der mittlere Mann, oft verletzt, findet sein Selbst in einem starken Volk wieder. Der zweite Ort, so deutsch zu sein, ist derart das aufgenordete Vaterland. Der mittlere Bürger, erst recht seine Jugend, will gar nichts »Besonderes“ mehr sein, 95
sondern ein Allgemeines sozusagen, nämlich ein auskömmliches Rädchen und Glied im ganzen Volk. Individueller Aufstieg, freie Bahn dem Tüchtigen, Erfolge in freier Konkurrenz sind
kaum mehr möglich; also wirft sich das Geltungsbedürfnis aufs allgemeine Volksgefühl, dem es schon zugehört, und über-
steigert es. Falsch, zu sagen, daß hier in erster Linie der Einzelmensch rebellierte und sich gegen die Vermassung wehrte als ein
kollektives Schicksal. Die »Seele« des Angestellten allerdings wehrt sich gegen den Betrieb; in ihr sind gewiß auch individuelle Strebungen von früher, aus der Zeit der freien Konkurrenz, doch sie sind nicht mehr so wichtig, wie dies manche kleinbür-
gerliche Intellektuelle, aus ihren eigenen individuellen Resten heraus, glauben. Vielmehr liegt für den Haupttrupp der Nazis
das gesuchte Feld jenseits des Individuums wie des Kollektivs (die ihnen beide als liberal und mechanisch erscheinen). Er-
wünscht
sind statt dessen
kameradschaftliche
Bünde, Lager, Gefolgschaften;
Gruppen,
als
diese geben dem Betrieb eine
täuschende Weihe, taufen ihn organisch um. Wird so das Bewußtsein der Klassengegensätze höchst idealistisch verhindert,
bleibende Ausbeutung, bleibende Mechanei höchst romantisch getarnt: so wirkt die Blutlehre selbst fast wie »Materialismus«,
freilich in einem kuriosen Sinn. Denn keineswegs ist hier der »Geist« primär; er und sein Gefüge werden vielmehr »bis auf
den Grund abgebaut«, als wäre auch hier »Analyse«. Wie der Nazi auf die Bauern zurückgreift, als den am meisten organischen Stand, so sind ihm die Leibärzte, Rassenärzte und Hygie-
niker sozusagen seine Sozialwissenschaft. Sie sind ihm auch staatstheoretisch wichtig; daher nicht nur das Pathos der Vererbung und Zuchtwahl, sondern vor allem das Nationalpathos aus Blut. Fast besser noch als die protestantischen Staatstheo-
logen zeigten sich so die deutschen Ärzte gleichschaltbar. Höchst lehrreich verkündet gerade das »Deutsche Ärzteblatt« als eines
der vornehmsten medizinischen Organe: »Ehrfurcht vor unseren Vorfahren, vor dem Lebens- und Blutstrom der germanischen Rasse muß unsere Seelen wieder hinausheben über das individualistische und liberalistische Denken der Zeit.« Das Volk wird derart auch medizinisch eine von Blut gefüllte Einheit,
ein rein organisches Stromgebiet, aus dessen Vergangenheit der 96
. Mensch herkommt, in dessen (höchst traditionell begrenzte)
»Zukunft« Geschichte organisches tiv«, dessen Gegenwart,
seine Kinder gehen. So treibt »Volkstum« aus der die Zeit, ja, die Geschichte aus: es ist Raum und Schicksal, sonst nichts; es ist jenes »wahre KollekUntergründe den unbequemen Klassenkampf der als völlig oberflächlich und ephemer, verschlucken
sollen. » Völker sind Bluteinheiten«, sagt der fascistische Sozio-
loge Freyer; — hat Marx den Geist als Reflex der Wirtschaft gelehrt, so bewerten ihn die kuriosen Idealisten des Fascismus ausschließlich als Reflex des Bluts. Die Medizin, die diesen neuen
»Unterbau« ausgräbt, ist — wie ihr Blut - freilich besonderen Safts. Sie ist zwar noch »Darwinismus« bis zum Exzeß (natürliche Zuchtwahl
und dergleichen),
jedoch das Blut, das ihre
»Analyse« herausstellt, ist ein Mystikum geworden: und zwar im ökonomischen Dienst einer neuen Vaterlands-Ideologie. Diese neue Ideologie ist freilich von der Ökonomie her besser begreifbar als von der »Medizin«: — so umzingelt und fesselt der Marxismus noch die, welche ihn subjektiv, in ihrer Unwissenheit, überwunden zu haben glauben. Denn das Pathos des Nationalstaats ist ja nicht erst von heute, es entstammt vielmehr, seiner ersten Erscheinung nach, keiner anderen als der - liberalen,
der Französischen Revolution. Wie schon in einem früheren Kapitel gesehen wurde, haben die »Sachsen ohne Wald« nur diesen ersten Beginn des Nationalgefühls als einen echten, echt revolutionär gewesenen: in der Französischen Revolution holten in der Tat enfants de la patrie gegen ihren »angestammten Fürsten« auf und etablierten sich selbst, nur sich selbst als Volk. Das
Kind des Vaterlandes war die bürgerliche Klasse im Aufruhr gegen die angestammte feudale Wirtschaft; undmit derfortschreitenden Entwicklung der bürgerlichen Produktivkräfte zog auch
in Deutschland Nationalpathos ein, ideologisierte den Deutschen Zollverein (gegen die einzelnen Dynasten), die deutsche Reichs-
gründung und schließlich — bei immer weiter durchkapitalisiertem Inlandsmarkt — die hochkapitalistischen Notwendigkeiten des Imperialismus. Immer schon war dies deutsche Nationalpathos durchkreuzt von mittelalterlichen und feudalen Restbeständen (die ja keine Revolution aus ihrer politischen Macht entfernt hatte); so in der altdeutschen oder Ritterromantik, so 97
in der Romantik des zweiten Kaiserreichs, der Butzenscheibenoder »deutschen Renaissance«, so im Hohenstaufentraum des
alldeutschen Imperialismus. Nun aber ist dem deutschen Kapital die Expansion gesperrt und sein dringendstes Bedürfnis die Abwehr gegen die Krise geworden, mit allen Folgen: und sogleich bietet sich eine neue National-Ideologie an, eben der Blutstaat oder die Ablenkung auf Irratio, die Bindung durch ein
organisch gemeinsames Mystikum. Der neue Staat ist aber noch weniger als die früheren national im echten, wirklichen, ideologiefreien Sinn; er ist bestenfalls nicht-international, nämlich autark oder ein Rest der zusammengebrochenen Weltwirtschaft. Und er ist ebenso eminent international, sofern das Kapital in allen fascistischen Staaten die gleiche Art Nationalgefühl und
National-Ideologie ausbilden muß, nämlich gegen klassenbewußte Proletarier. Dieser Klassenkampf von oben verbindet Italien, Deutschland, Ungarn in der gleichen römischen, germanischen, selbst turanischen Ekstase und hat nur ökonomischpolitische, auch strategische Unterschiede, keine wirklicher Nation. Das hindert nicht, daß die revolutionäre Lage auch den Blutmythos, gerade diesen, zwingt, »archaische Rezenzen« aufzunehmen, deren Wildnis und Irratio dem Kapitalismus, wie zu
sehen war, nicht unbedingt günstig sind. Aber ihr Dünkel dient vorderhand dem Betrug und ihre Irratio zeigt — nicht bloß, daß der Verstand ihr fehlt - auch sehr wenig Instinkt, weder sozialistischen noch solchen echter »Nation«. Wir betonen: echter
Nation; denn »Nation« ist gewiß eine Wirklichkeit und nicht allein, wie bisher immer, eine Ideologie. Erst echter Sozialismus aber holt auch echte Nation auf, als Sprach- oder Kultureinheit;
erst die internationale Regelung der Gütererzeugung und Güterverteilung legt das Multiversum der Nationen wirklich frei; erst dies Esperanto des Unwesentlichen schafft wesentliche,
menschliche Existenz, auch als Nation, ans ideologiefreie Licht. Bis dahin haben Arbeiter in der Tat kein Vaterland, immer mehr »Proletarisierte« ebensowenig, trotz ihres subjektiven Patriotismus; denn die Nation ist in Klassen gespalten, die Mehrzahl der
Produktivmittel gehört einer kleinen Schicht, das Vaterland ist real eines der Reichen. Längst nicht mehr ist in Westeuropa »Nation« ein revolutionärer Faktor wie zur Zeit der Französischen 98
"Revolution, wie noch in Indien, China, allen Kolonialländern;
sie ist vielmehr imperialistisch-aggressiv mit dem Konkurrenzkampf
(im Zusammenhang
der großen Kapitalstaaten)
oder
eben Revolutions-Betäubung durch »gemeinsamen Blutmythos«. Das Vaterland wird erst geboren durch Entfernung seiner Nutznießer, durch reale Aufhebung der Klassen, durch Überführung von Grund und Boden, von allen Produktionsmitteln und Kulturgütern in den Besitz der Nation. Der Blutstaat betrügt Bauern und Kleinbürger, schießt auf Proletarier; er ist Volkseinheit im Schein und mit einer Ideologie, an der selbst das » Archaische« nur sehr uneigentlich ist, wohin er zurückzuführen und zurückzuschmelzen behauptet. Der sogenannte Nationalsozialismus ist aus den gleichen Gründen weder national noch sozialistisch, sondern Betrug oder Irrtum in beidem. Erst die Internationale läßt das Nationale von sich Besitz
ergreifen, macht aus schmalen und ideologiehaften » Völkerseelen« Volksleiber der Nähe. In der Klassengesellschaft bisher
ist Nation bestenfalls ein Bruchstück oder die besonders gerissene Benutzung eines revolutionären Motivs durch die herrschende Klassenideologie. Erst in der realen Volkseinheit, nicht in der romantisch-betrügerischen des »Patriotismus« wird Nation also wirklich. Blut zuletzt, der ganz besondere Saft, soll die Seinen wieder
gläubig machen. So tanzen sie ums Feuer, Jugend will brennen und sich verwandeln wie ihre Zeit. Wieviel guter, getrübter Sinn wird hier oft verschwendet, wie phantasievoll und leer bietet er sich jedem Mißbrauch an. Wichtig ist hier der Wille
oder wenigstens der Anblick eines gefährlichen Lebens geworden; mit diesem macht der Nazi die stärkste vorkapitalistische Verführung. Der dritte Ort, so deutsch zu sein, ist derart Ro-
mantik des heldischen Heidentums. Soldatischer Typ herrscht in den Bünden und erträumten Ständen; männlich-soldatische Substanz bricht, neben beispielloser Roheit und Psychopathie,
erotisierend durch. Abgedankte Offiziere, Rauf- und Abenteuer-Gestalten, die das solide Bürgertum früher als Desperados bezeichnet hatte, viel groteske Mittelmäßigkeit dazu wirft sich in
»das helmbewehrte Gesicht des herrischen Kriegers« und macht Anti-Bourgeois, landsknechtisch oder wenigstens ästhetisch. 99
Vor dieser unbezweifelbaren Verführung verschießt der Liberaliimus (der dem Kapital nicht mehr brauchbar ist) freilich
besonders leicht. Sein Typ ist nationalsozialistisch völlig preisgegeben (und der Kommunismus von der anderen Seite hilft ihm gewiß nicht); der kinetische Klassenkampf wirft die sanften Illusionen weg, die die statische Klassenherrschaft ein Jahrhundert lang geduldet hat. Sie waren in Deutschland schon
lange nur als Liga für Menschenrechte übriggeblieben, als vegetarisches Restaurant, als Gutartigkeit ohne Kraft, als Lebens-
sicherung ohne kulturelle Fülle, als Toleranz ohne revolutionären Alkohol, kurz, als bloße Gouvernante des Kapitalismus oder Sozialdemokratie. Hier war derart ein Vakuum entstanden, hier brach darum (als Severing geschickt Rot-Front verboten hatte) die Energie des stellenlosen Nachkriegs desto verführender ein. Und wurde, da kein Verstand ihre Schritte lenkte, Bauernkrieg
als Kaiserparade, Gegenrevolution als Ersatz einer echten. Das warf dem Bourgeois wie dem Kommunisten gleichmäßig » Verrat am Gefährlichen« vor, das sie »zur Sinnlosigkeit erniedri-
gen« — und schützte mit diesem Gefährlichen an sich, mit der Abstraktion des Gefährlichen nur die wahre Sinnlosigkeit, die
des Bourgeois. Das überhörte am revolutionären Kommunismus, daß er echter im Gefährlichen steht als die Schutztruppe des Bestehenden; das mißverstand mit größter Desorientiertheit, daß die klassenlose Gesellschaft, der sozialistische Zu-
kunftsstaat gerade keine Sekurität darstellt, allen ausverkauft, keine Bourgeois-Republik, totalisiert, keine mohnblumige Tugend, sondern erste beherrschte Geschichte wäre, erster Schenkelschluß, der das Leben wirklich souverän traktiert und ihm
offenes Feld zum Ritt gibt, so ohne Sorgen wie ohne Lüge. Aber der Blutglaube will gar kein offenes Feld; ihm genügt, zu zerschlagen oder zu galvanisieren (beide Male mit viel Begeisterung, zumeist für das Falsche). Er tanzt um das Feuer der Johannisnacht, wirft Schminke, Puder, Stoppuhr, Emil Ludwig,
Karl Marx und Lenin hinein, als wäre alles dasselbe, »Symbol einer jetzt verendenden Gesellschaft«. Er hat durch rasch bereite Literaten a la Benn oder Winckler sogar »die Stunde des Genius« erspäht, mit sehr viel Kriegspoesie von 1914, mit Fortissimo wie
selbst damals selten und lauter Sonnwendfeier in Permanenz. IOoo
»Vorbei«, ruft Josef Winckler, »vorbei ist die Verderbtheit sensationeller Asphaltproblematik, die geistige Unzucht künstlerischer Selbstbefriedigung — ausgespien das Tier-Menschliche,
das mit geilen Songs zum eigenen Tanz aufspielte. Eine civitas Dei aller schöpferischen Geister muß wachsen mit kristallnen Zinnen über einem gereinigten Volk. Dazu allein berufe uns, feurig-uralter, oft schmachvoll verlorener, immer wieder
glorreich erstandener, weltempörerischer, weltentfaltender heilig-barbarischer Genius der Deutschen!« Sehr schlechtes Deutsch gewiß, sehr nachgemachtes, Sturm-und-Drang-Industrie, Ressentiment der Talentlosen und ein Expressionismus, der auf den Lokalanzeiger herabgekommen ist; die Stunde des wirklichen
Genius tönte anders. Das hindert jedoch nicht Begeisterung der Hörer; ihnen kam die Rundfunkstunde des Genius von Goebbels bis Benn, also fahren sie auf Blut nicht nur ins Bett und den Nordstaat, sondern ins Land germanischer Derwische, ins
Schlachthaus und epigonale Satyrspiel zugleich. Arktische Verschwültheit macht Einschiffung nach Cythera; doch eben nicht nach einem fröhlichen, kulturvollen, mittelmeerischen oder nur
westlerischen, wie früher, als Germanen in die Antike zogen. Sondern das Deutschland der Abgebauten und das abgebaute Deutschland liebt Umgekehrtes wie das alte: wo es nicht schon in der Barbarei steht, sucht es das Cythera der Barbarei. Dies ganze irrationale Wesen also schmolz der Nationalsozialismus breit-
plebejisch zusammen; von George bis zur Anthroposophie, bis zu Ekstasen, die vorher in bloßen Tanzschulen waren, bis zu den mannigfachen Kryptoreligionen, deren eine entäußerte und
vermissende Zeit voll war. Und er zog sie eben im Blutmythos zusammen oder im fast rätselhaften Feuer, das Hitler » Deutschland« verliehen hat. Als einem Land kaum mehr auf der Erde; als einer Patria, worin Blutgier, Pogrom, Urwald, Rom, Mazdaznan, Iraumwelt, Irrenzeichnungen, Tanzrapporte, archaische Verzückung, himmlisches Jerusalem in einer einzigen Blasphemie
zusammengehen. Nur die Juden gehen mit dieser Blasphemie nicht zusammen, dieselben, deren Bibel das ganze alte Deutschland einmal genährt und durchchristet hatte; jenes Deutschland, das von Eckart bis — Mahler reicht. Und Christus, der
Jude, steht so peinlich und schief zur neuen, zur arteignen IOI
FAR
%
Religion; dennoch stellen »deutsche Christen« Jesu Bild nicht. anders mit dem ihren zusammen, als wäre er Hamann und sein Vater der Baal. »Der deutsche Glaube«, sagt einer dieser Blut-
christen, »verneint daher, daß es außer den höchsten Eingebungen und Geistesschöpfungen seines Landes noch ein besonderes Wort Gottes gibt, das für alle Völker gemeinsam gilt.« Also wird das Christentum »von seinen jüdischen Begriffen und Vorstellungen gereinigt« (was ungefähr so sinnreich ist wie eine Reinigung Homers von seinen griechischen Begriffen und Vorstellungen); also wird Gott zum Premierminister Deutschlands,
deutsche Geburt zur christlichen Taufe, Ritualmord an Juden
zur Bergpredigt, Kreaturzauber ohnegleichen zur Ausgießung des Heiligen Geistes. Der Mord nennt sich SA-Christi; doch auch die übrige gleichgeschaltete Kirche schließt die Juden aus,
schließt das Sakrament der Taufe aus und nennt sich weiter christliche Kirche, gegründet auf die Bibel (deren kein einziger
Schriftsteller arisch war), gegründet auf Jesus Christus (dessen Stammbaum, womit das Neue Testament zur Einsicht beginnt,
keinen einzigen Nicht-Juden enthält). Diese protestantisch immerhin dienende, katholisch immerhin konkordierende Kirche steht auf dem Boden der Bibel, von der der neue Führer doch
sagt: »Das Judentum war immer ein Volk mit bestimmten rassischen Eigenarten und niemals eine Religion; nur sein Fortkom-
men ließ es schon frühzeitig nach einem Mittel suchen, das die
unangenehme Aufmerksamkeit in bezug auf seine Angehörigen zu zerstreuen vermochte«
(Mein Kampf, $. 335). Also haben
die Juden keine Religion gehabt (die Griechen gewiß auch keine Kunst und Philosophie, die Römer keinen Staat); also sind die Propheten
und Apostel, Jesus Christus,
die Urchristen
und
Spinoza erledigt, ihr Fortkommen geklärt — und es bleibt die Hitlerkirche,
sie zerstreut
die unangenehme
Aufmerksamkeit
in bezug auf ihre Angehörigen nicht. Viel Betrug war schon auf religiösem Gebiet, doch niemals soviel gemeiner Irrsinn, soviel blutige Posse dazu; die Kombination von Neuem Testament mit Nibelungenring und dem Horst-Wessel-Lied ist Satanismus und armseliger obendrein. So fern ist Blut-Deutschland dem gotisch-alten, ja selbst dem romantischen geraten, das es doch beschwört. Die Ungleichzeitigkeit als bloßer Nachtraum, IO2
der »christliche Heldenkult« als Religion des bloßen Blutrauschs, sie schließen an gotische Höllenbilder an, nicht an das deutsche Allerseelen, Allerheiligen, das der Gotik einmal im Gemüte stand. Ja, es zeichnen sich die Züge des Tiers aus dem Abgrund vor, infernalisch Böses in noch unvorstellbarem Grauen; das doch
fand sein Ermächtigungsgesetz, schäbig und grund-unheimlich zugleich. »Ein edler Volk hat einst gelebt«: Schiller meinte die Griechen,
doch keine falsche Gegenwart
verwehrt,
auch ans
alte Deutschland zu denken, ans Land der mystisch ausgespannten Inwendigkeit und apokalyptisch genährten Träume, dessen heute fast nichts geblieben ist als antisemitischer Pöbel, deka-
dente Barbarei und darüber der ausgekochteste Kapitalismus der Welt. Ganz andere Kräfte als die heute grassierenden wären notwendig, damit das Erbe dieses alten Deutschland ein besesse-
nes, ein realisiertes würde und dann allerdings eines der wichtigsten Observatorien auf das und nur auf das, was in der Tat
»für alle Völker gemeinsam gilt«. Nämlich auf das herauszuprozessierende menschliche Gesicht; im gotischen Deutschland sind
einige seiner Umrisse vielleicht am mächtigsten erschienen, wenn auch nur in der wirren Linie, die die bloße Inwendigkeit erzwang. »Wo sind die Barbaren des XX. Jahrhunderts?« — fragt Nietzsche und meint eine Art vornehmes Diluvium. Dieser Ruf hat heute — weniger vornehm, doch allerdings zuweilen
mit Diluvium — Jünger, Unsinn und Anfälligkeiten gezündet. Der Blutmythos vergißt jedoch: Barbaren, die wissen und sagen, daß sie es sind, sind nicht einmal Barbaren. Nur das ungewordene Licht, das möglicherweise auch in Archaismen steckt, läßt sich wissen und sagen; dann wird es freilich Licht und ist nicht
kranker Kapitalismus mit Konkurrenzmythen der Mitte oder auch betrogen-betrügender Wildrezenz im Leib. Sondern: das Alpha der vorgeschichtlichen »Gentes« wird das sehr verwandelte Omega der nachgeschichtlichen »Kommune«. Und selbst jetzt: der Widerspruch manches jungen, bäurischen, gesundenwollenden Bluts gegen diese Zeit, der Widerspruch echter Ungleichzeitigkeit gegen die kapitalistische Todesmaschine landet,
als richtig verstanden und gepackt, als richtig in einer mehrschichtig-materialen Dialektik geleitet, nicht unbedingt, wie bis-
her, in der Logik und Physik des Kapitals. 103
ZUSAMMENFASSENDER
ÜBERGANG
UNGLEICHZEITIGKEIT UND PFLICHT ZU IHRER DIALEKTIK (Mai 1932)
A. FRÜHER
ZUSTAND
Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, daß sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch
nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je nachdem, wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine
Zeiten. Ältere Zeiten als die heutigen wirken in älteren Schichten nach; leicht geht oder träumt es sich hier in ältere zurück. Gewiß, ein bloß ungelenker Mann, der ebendeshalb hinter den Ansprüchen seines Postens oder Pöstchens zurückbleibt, ist einfach als er selber zurückgeblieben. Doch wie, wenn er außer-
dem, durch nachwirkende altbäuerliche Herkunft etwa, als Typ von früher, in einen sehr modernen Betrieb nicht paßt? Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben
gezählt wird undherrscht. Sieblühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her. Die Kraft dieses unzeitigen Kurses hat
sich gezeigt, sie versprach gerade, so sehr sie nur Altes aufholt, neues Leben. Auch die Massen strömten ihr zu, weil das uner-
trägliche Jetzt mit Hitler mindestens anders scheint, weil er für jeden gute alte Dinge malt. Weniges unterwarteter, nichts gefährlicher
als diese Kraft, zugleich
feurig
und
kümmerlich,
widersprechend und ungleichzeitig zu sein. Die Arbeiter sind mit sich und den Unternehmern nicht mehr allein. Viel frühere Kräfte, von ganz anderem Unten her, beginnen dazwischen. 104
B. UNGLEICHZEITIGKEITEN,
BERICHTET
Eine Art fängt immer von vorn an. Die Jugend wendet sich vom Tag meist ab, den sie hat. Den sie heute nicht hat, doch ihre Träume kommen nicht bloß aus leerem Magen. Es unterstützt ‚ sie ebenso leibhaft ein hohles Jungsein, das nicht gegenwärtig ist. Junge ohne Arbeit sind leicht von rechts zu bezahlen und zu verführen. Junge bürgerlicher Herkunft, doch ohne bürgerliche Aussicht, gehen ohnehin nach rechts, wo man ihnen eine ‚ verspricht. Aber esist doch bezeichnend, daß keine Jugend bei der
einigermaßen gegenwärtigen Mitte steht; es gibt keine zwanzig_ Jährige Wirtschaftspartei. Der zwanzigjährige Zustand ist vielmehr einem anderen als dem verdinglichten Leben von heute zugewendet. Selbstverständlich gibt es keine Jugend an sich
oder keine, die so gleichartig, so unabhängig von den Zeiten heranwüchse, wie Jünglingen zu allen Zeiten der gleiche Bart wächst. Aber so sehr dieser Zustand in verschiedenen Klassen und Zeiten ein verschiedener ist, so sehr noch die Worte, die ihn
beschreiben, heute andere sind als gestern, so deutlich tauchen hier sehr frühe Leiber im Jetzt auf, schicken ein Stück vorgeschichtliches Leben herein. Holen Knaben Pfeil und Bogen nach,
so werden Jünglinge leicht bündisch, suchen damit Freunde und vor allem einen Vater, der ihr leiblicher oft nicht war. An der bürgerlichen Jugend gerät das leichter als an der proletarischen; aber nicht nur, weil sie bürgerlich ist, sondern weil sie zerfallener ist, folglich Spiele und Schwärmereien mehr durchläßt. Über und über mit sich selbst beschäftigt, sich selbst aufs äußerste
wichtig, zeigt diese Jugend zugleich mit ihrem Ruck ins romantische Rechts, wie äußerlich ihre schlecht gegenwärtige, ihre sachliche Gebärde war. Die scharfe Luft der Jugend läßt linkes Feuer, wenn es brennt, noch stärker brennen; doch wird rechts
»erneuert«, so ist die Jugend bürgerlicher und verführter Kreise erst recht verführbar: das bluthaft, das organisch Junge ist ein guter Boden für Nazis. Bünde von sehr altem Zuschnitt tauchen auf ihm auf, bluthaftes, greifbares Leben in kleinen Gruppen,
mit einem gekannten Führer, nicht mit Nummern an der Spitze. Der Geschmack dieser Jugend ist für gut geratene männliche Eigenschaften
besonders
empfindlich,
für Stärke, Offenheit,
105
er
Anständigkeit, Reinheit; wobei dies »Anständige« gesunden Burschen zugehört, nicht eines der festen Preise sein mag. Haltungen wirken stärker als Lehren, begeisternde Worte genauer ale untersuchende, Trachten schöner als Städte: so bindet sich der wirtschaftliche Anlaß, welcher die bürgerliche Jugend in vergangene Träume treibt, an organische Unruhe und eigenes Frühlicht. Was früher leer brauste und schwärmte, ist nun, wo
das gegenwärtig erwachsene Leben zu wenig überzeugend geworden ist, um sich die Hörner daran abzustoßen, hemmungslos
abseits im schönen Alten. Jugend, welche mit dem kahlen Jetzt in keinem gleichen Schritt und Tritt ist, geht leichter zurück, als
daß sie das Heute passiert, um ins Morgen zu kommen. Solange nicht die verschiedene Zeit, worin sie ist, nach morgen umsetzt.
Andere Art ist von ganz lang her, indem sie wurzelt. Lebt fast
noch genau wie die Voreltern, tut dasselbe wie sie. Es ist das Bauerntum:
auf dem Land gibt es Gesichter, die bei all ihrer
Jugend so alt sind, daß sich die ältesten Leute in der Stadt nicht mehr an sie erinnern. 'Ireibt Elend oder bequemere Gelegenheit in die Fabrik, so ist doch ein bäurisches Sprichwort: Arbeit
taugt nichts, zu der man gepfiffen wird; gerade der Kleinbauer denkt so, auch wenn er vorher nicht viel besser gelebt hatte als
sein Knecht.
Zwar
rechnet
der Bauer vorzüglich,
hat seine
Trachten, Möbel, viel alten Zuschnitt aufgegeben und keineswegs nur gezwungen. Äber reagiert der Bauer auf wirtschaftliche Fragen auch erfrischend nüchtern, sind die handgewebten Phrasen, die er jetzt gebraucht, auch nicht alle bodenständig, so ist das Nüchterne doch nicht von heute, so trägt überall, wo Schweigen und Dumpfheit, Herkommen der Sitte und des Glaubens statthat, der Bauer alte Tracht. Seinen wirtschaftlich überalterten Ort verteidigt er zäh, ist schwerer durch die Maschine zu verdrängen als vor hundert Jahren der Handwerker. Er ist schon deshalb schwerer zu verdrängen, weil er die Produktionsmittel noch in der Hand hat, auch die landwirtschaftlichen Maschinen nur als Hilfsmittel im alten Rahmen des Hofs und zu-
gehörigen Ackers gebraucht; kein Fabrikant führt hier gegen wirtschaftlich schwache Handwerker den mechanischen Webstuhl und Entsprechendes ein, das nur der Kapitalist besitzen 106
"konnte. Diese gemeinsam gebliebene Produktionsform macht auch so schwer, die großen ökonomischen Gegensätze in der Bauernschaft zu mobilisieren. Es gibt Zwergbauern im Elend, Kleinbauern, Mittelbauern, Großbauern, und diese sehr verschiedenen Besitzverhältnisse hindern gewiß, das Bauerntum als
einheitliche »Klasse« zu nehmen. Doch hat der Zwergbauer immer noch Eigentum, wenn auch erbärmliches, völlig verschuldetes, und der Großbauer arbeitet mit, macht den tätigen Patri-
archen: die verschiedenen Besitzverhältnisse erzeugen aus sich noch keinen Kampf zwischen Ausbeuter und Ausgebeuteten (nur ganz andere Propaganda als die proletarische hakt hier ein). So fühlt sich das Bauerntum, wenn nicht als einheitliche Klasse, so doch als relativ einheitlich gebliebenen »Stand«. Und vor allem haben die Bauern, außer Eigentum an Produktions-
mitteln, noch eine andere Ungleichzeitigkeit, jene Zähigkeit zu wurzeln, die vom Stoff kommt, den sie bearbeiten, der sie unmittelbar hält und nährt; sie haften im alten Boden und im
Kreislauf der Jahreszeiten. Nicht nur die Agrarkrise treibt so Bauern nach rechts, wo sie sich durch Zölle gehalten glauben,
wo man ihnen die genaue Wiederkehr der guten Zeiten verspricht. Auch ihre gebundene Existenz, die relative Altform ihrer Produktionsverhältnisse, ihrer Sitten, ihres Kalenderlebens im Kreislauf einer unveränderten Natur widerspricht der Verstädterung, verbindet der Reaktion, die sich auf Ungleich-
zeitigkeit versteht. Selbst die Nüchternheit der Bauern ist alt mißtrauische, keine aufgeklärte, selbst ihr wacher Besitzsinn (am Boden, am schuldenfreien Hof) ist mit den Dingen noch verwurzelter als der kapitalistische. Nüchternheit wie Besitzsinn wie noch der bäurische Individualismus (Besitz als Instrument der Freiheit, das Haus als Kastell) stammen aus vorkapitalistischen Zeiten, aus Produktionsverhälnissen, die schon Landaufteilung verlangt hatten, als es noch keine individuell wirtschaftenden Bürger gab. Derart ist das Bauernhaus, trotz aller kapitalistischen Formen, trotz aller Konfektion und Stadtware, heute noch in Grundriß und Aura gotisch; leicht könnte man
sogar die aufgegebenen Trachten und Möbel wieder an die alte Stelle setzen, ohne daß dies, wie in der Stadt, butzenscheibenhaft wirkte. Abgelegene Orte wirken hier besonders lehrreich, 107
denn sie zeigen kulturelles Grundwasser, das anderswo nur tiefer liegt. Truhen werden noch in gotischer Form vom Dorf-
schreiner für jetzige Paare mit moderner Jahreszahl gefertigt, nicht als Fälschung, sondern wie von seinem Vater, Urgroßvater
und den Alten auch. Paare leben trotz Radio und Zeitung auf
dem Dorf, denen Ägypten immer noch das Land ist, wo die Prinzessin den Mosesknaben aus dem Fluß gezogen hat, nicht das Land der Pyramiden oder des Suezkanals; immer weiter wird es von der Bibel und den Kindern Israel, nicht vom Pharao
her gesehen. Konnersreuth wieder: das Blutschwitzen der ekstatischen Jungfrau Therese Neumann dortselbst, 1928, wider Willen des viel gleichzeitigeren Bischofs, bezeichnet ein anderes
Stück Gotik in Deutschland. Das Fichtelgebirge, der verwandte Schwarzwald, verwandte Spessart kapseln derlei ein; sind diese
Gebirge nicht mehr so finster und verspukt wie noch zu Hauffs Zeiten, es wären Flößer, Glasbläser, Geister, Räuber auch heute
noch um solche Bauerngotik die nächste Szenerie. Wirtschaftlich wie ideologisch sind die Bauern, mitten im wendigen kapitalistischen Jahrhundert, älter placiert. So sehr der Kapitalismus sich auch das Grundeigentum, ein vorkapitalistisches Element, adaptiert hat. So sehr er die Bauernschaft durchkapitalisiert und mit seinen Waren versehen hat; so sehr noch das letzte Dorf durch
Rundfunk ans Juste Milieu angeschlossen ist. Die Bauern halten dennoch einen schiefen Rest, fühlen sich eher von Rittergütern
als von Arbeitern in der verdächtigen Stadt mitvertreten. Solange der Zeitunterschied zwischen Stadt und Land nicht in einem sehr viel breiteren Morgen als dem heutigen städtischen verwischt ist.
Seit einigen Jahren lernt, wie bekannt, auch die städtische Art, nachzugehen. Eine verelendete Mittelschicht will zurück in den
Vorkrieg, wo es ihr besser ging. Sie ist verelendet, also revolutionär anfällig, doch ihre Arbeit ist fern vom Schuß und ihre Erinnerungen machen sie vollends zeitfremd. Die Unsicherheit,
welche bloß Heimweh nach Gewesenem als revolutionären An-
trieb erzeugt, setzt mitten in der Großstadt Gestalten, wie man sie seit Jahrhunderten nicht mehr sah. Doch auch hier erfindet das Elend nichts oder nicht alles, sondern plaudert nur aus, 108
' nämlich Ungleichzeitigkeit, die lange latent oder höchstens eine ' von gestern schien, nun aber über das Gestern hinaus in fast rät-
selhaftem Veitstanz sich erfrischt. Ältere Seinsarten kehren derart gerade städtisch wieder, ältere Denkart und Haßbilder dazu, so das vom jüdischen Wucher als der Ausbeutung schlechthin. _ Bruch der »Zinsknechtschaft« wird geglaubt, als wäre die Wirtschaft um 1500, Überbauten, die längst umgewälzt schienen, wälzen sich wieder zurück und stehen als ganze mittelalterliche _ Stadtbilder im Heutigen still. Hier ist die Schenke zum nordischen Blut, dort die Burg des Hitler-Herzog, dort die Kirche zum Deutschen Reich, eine Erdkirche, worin sich auch das Stadtvolk als Frucht des deutschen Bodens fühlt und den Boden als
heiligen ehrt, als Confessio deutscher Helden und deutscher Geschichte. Diese Art Vaterlandsliebe, der Schaum und das brechende Auge, womit in Deutschland Deutschlands gedacht wird, ist nicht bloß Ersatz für das verlorene Standesgefühl. »Des Landes Macht und Ehre« ist nicht bloß ein Traum (ein der
Rüstungsindustrie sehr bequemer Traum), welcher in KollektivGefühlen für die faktische Ohnmacht und Entwürdigung des einzelnen Kleinbürgers entschädigt. Hier ist nicht einmal nur Transfusion des »auserwählten Volks« aufs germanische, aufs völlig vergötzte; sondern: der offenbare Exzeß erinnert an primitiv-atavistische »participation mystique«, an die Verbundenheit des Primitiven mit dem Boden, der seine Ahnengeister ent-
hält. Mehr als je ist das Kleinbürgertum der feuchtwarme Humus für Ideologie; doch zeigt sich: die heute grassierende Ideologie hat lange Wurzeln und längere als das Kleinbürgertum. Die Bauern glauben zuweilen noch an Hexen und Hexen-
banner, doch längst nicht so häufig und stark wie eine große Schicht Städter an die gespenstischen Juden und den neuen Baldur. Die Bauern lesen zuweilen noch das sogenannte sechste und siebente Buch Mosis, eine Kolportage gegen Krankheiten im Stall, auch über die Kräfte und Geheimnisse der Natur; doch der
halbe Mittelstand glaubt an die Weisen von Zion, an Juden-
schlingen und Freimaurer-Symbole allüberall, an die galvanischen Kräfte des deutschen Bluts und Meridians. Wild und kriegerisch schlägt der Angestellte aus, will noch gehorchen, aber nur als Soldat, kämpfend, glaubend. Die Lust des Angestellten, 109
nicht proletarisch zu sein, steigert sich in orgiastische Lust der Unterordnung, des magischen Beamtenseins unter einem Herzog. Die Unwissenheit des Angestellten, wie sie vergan-
gene Bewußtseinsstufen, Transzendenz in der Vergangenheit sucht, steigert sich in einen orgiastischen Haß gegen die Vernunft, in einen »Chthonismus«, worin Berserker und Kreuz-
zeugsbilder sind, ja worin — mit einer Ungleichzeitigkeit, die stellenweise Exterritorialität wird — Negertrommeln dröhnen und Zentralafrika aufsteigt. Das macht: der Mittelstand nimmt (zum Unterschied vom Proletariat) überhaupt nicht unmittelbar an der Produktion teil, sondern geht in sie nur mit Zwischen-
tätigkeiten ein, mit einer solchen Ferne von der gesellschaftlichen Kausalität, daß sich immer ungestörter ein alogischer Raum bilden kann, worin Wünsche und Romantizismen, Urtriebe und Mythizismen rezent werden. Selbst der unmittelbar wirtschaft-
liche Inhalt des mittelständischen Fascismus ist ungleichzeitig oder dazu geworden, seitdem die Handels- und Gewerbefreiheit
nur noch den großen Unternehmern zugute kommt, die kleinen vernichtet: die parlamentarische Demokratie ist derart der verhaßte Garant der freien Konkurrenz und die ihr entsprechende
politische Form. Statt ihrer will gerade der Ständestaat die Wirtschaft wieder auf die Stufe des frühkapitalistischen Kleinbetriebs zurückführen; dem Großkapital empfiehlt er sich als Instrument gegen den Klassenkampf, doch der Mittelschicht eben als Ret-
tung und aktuell-romantischer Ausdruck ihrer Ungleichzeitigkeit. Ebenso hält es der Mittelstand ideologisch in der »Ratio-
nalisierung« nicht aus und gibt die Ratio desto eher preis, je mehr sie ihm in seiner Welt nur feindlich, doppelt feindlich er-
schienen ist. Nämlich als bloße spätkapitalistische Rationalisierung und als ebenso spätkapitalistische, doch »marxistischjüdisch« verstandene Wertzersetzung überlieferter Gehalte. Der Übermensch, die blonde Bestie, der biographische Schrei nach dem großen Mann, die Witterung nach Hexenküche, nach
einer längst vergangnen Zeit - all diese Fluchtzeichen aus Relativismus und Nihilismus, woraus im Salon der Oberschicht ge-
bildete Diskussion geworden war, wurden in der Katastrophe der Mittelschicht echtes politisches Land. Es ist zwar, so wild es
sich gibt, immer nur von Angestellten bewohnt, seine Häuser I1o
sind die der Familie und der »sauberen« Wirtschaft, sei es des _ Vorkriegs, sei es eines Ständestaats; und den Nutzen hat die großkapitalistische Oberschicht, welche gotische Träume gegen
proletarische Wirklichkeiten verwendet. Gewiß auch hatten Dunkelheiten noch nie solch regen Verkehr mit Spießbürgern zu erdulden, so viel Hämischkeit, Gemeinheit und störrigste Provinz, so viel Edda auf Brandmalerei, so viel Wappensprüche auf sächsisch. Aber dennoch sind hier, in der Wut von Millionen, in der archaisch gewordenen Landschaft um sie, auch Felder an-
derer Irratio. Lebende und neu belebte Ungleichzeitigkeiten, deren Inhalt echt ist, deren Erscheinungen heidnische Roheit,
panische Natur mit sich führen. Aufstände älterer Schichten gegen die Zivilisation kannte man in dieser dämonischen Form bisher nur im Orient, vor allem im mohammedanischen.
Ihr
Fanatismus kommt jetzt auch bei uns, immer noch, den Weißgardısten zugute; solange die Revolution das lebende Gestern nicht innehat und umtauft. Mit dem Rückgang Hitlers wird vielleicht auch das Ungleichzeitige schwächer scheinen: jedoch es bleibt als Keim und Grund der nationalsozialistischen wie jeder künftig heterogenen Überraschung. Der Nationalsozialismus hat genug Proletarisierte dämonisiert gezeigt; ihr lächerlichentsetzliches Bild soll nicht vergessen sein, noch weniger ungenutzt.
€. UNGLEICHZEITIGKEIT UND GLEICHZEITIGKEIT, PHILOSOPHISCH
Viele von diesen gingen im Jetzt gewiß nur nach. Blieben hinter seinem Zug nur zurück, weil ihr Gang zu lahm ist, obwohl sonst
ganz und gar von heute. Man wird darum keine ältere Art dort schon sehen wollen, wo bloß eine zurückgebliebene ist. Die zum Heute zwar schlecht steht, aber zu ihm gehört. Der kleine Mann etwa hat Geld verloren und will es wieder-
haben. Auf diesem Weg kann er verrohen und träumen, er liegt dann auch geistig schief, doch eben im Jetzt. Bessert sich ihm die Lage, so wird das Wilde und Träumende ohnehin aufhören. Bessert sie sich nicht, und Hitler, einmal an der Macht, enttäuscht, EIER
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dann werden die Proleten, die mitlaufen oder es mit ihm einmal versuchen, ohnehin nach links abspringen, wo man sie erwartet; der Kleinbürger aber wird mindestens nicht mehr
an Geister glauben. Da ist vieles nur falsch ungleichzeitig, kehrte heute lieber als morgen zur guten Stube zurück, hat »gesunden« Sinn mit Wut und Phrasen, doch keinen Veitstanz. Füllt sich mit schönen Worten, lautem Spiel, glänzendem Unsinn; und will doch, auf dem Grund dieser Trunkenheit, nur wieder ein Haustier sein. Man wird darum eine Bewegung, will man sie nicht
unterschätzen (was den meisten erst seit kurzem nicht passiert), doch ebenso nicht überall grell machen. Glauben, Gehorchen,
Kämpfen, das sind die fascistischen Tugenden? - vielleicht, aber das Gehorchen ist vielen die beste unter ihnen. Ordnung und Hierarchie der fascistische Baustil? - vielleicht, aber in der Ordnung suchen viele ihre Ruhe, in der Hierarchie einen Posten. Ja, man hat die nationalsozialistische Agitation, kaum mit Unrecht,
einen Appell an den inneren Schweinehund im Menschen genannt: keine negative Bemerkung wieder kann gegenwärtiger sein. Ein anderes sind die Bilder der stilleren Innerlichkeit; wären ihrer viele auch nicht so billig, so sähe man doch, daß sie nicht
älter als 30 Jahre sein können und daraus abgestanden sind. Hier merkt der kleine Mann nur nicht, wo er ist, obwohl er durchaus,
auf geringe und betäubte Weise, im Jetzt ist. Sind viele dieser Nebel also unerwartet und sonderbar, so nicht alt. Echt ungleichzeitiger Rückstand
Doch ebenso ist nicht alles hier kleiner Mann, der sich täuscht. Die Not bringt neben Frühe aus Muff auch echte, mit der zu rechnen ist. Es gibt heute Galoschen des Elends, welche so in vergangene Zeiten führen wie im Märchen die Galoschen des Glücks. Träfe das Elend nur gleichzeitige Menschen, wenn auch verschiedener Stelle, Herkunft und Bewußtsein, so könnte es sie nicht in so verschiedene Richtung marschieren lassen, besonders nicht so weit zurück. Sie könnten die kommunistische Sprache
nicht so wenig »verstehen«, als welche gerade völlig gleichzeitig und genau an der vorgeschrittensten Wirtschaft orientiert ist. Gleichzeitige Menschen könnten trotz aller Mittelstellung, die 112
ökonomisch dumm hält, trotz allen Scheins, der daran Platz hat,
sich nicht großenteils so archaisch verwildern und romantisieren lassen. Gewiß lehnen sich die Mittelständler auch deshalb anders gegen das zur Ware-Werden auf wie der Prolet, weil sie nur
mittelbar in der Produktion stehen. Auch weil’der Angestellte bis vor kurzem wenigstens noch nicht so annulliert, in seiner Arbeit noch nicht so entäußert, in seiner Stellung noch nicht so
ungesichert war; überdies haben, zum Unterschied vom Proleten, kleine individuelle Möglichkeiten des Aufstiegs bestanden.
Aber wenn auch jetzt, nach völliger Proletarisierung und Unsicherheit, nach dem Untergang der höheren Lebenshaltung und aller Aussichten auf Karriere, die Angestelltenmassen nicht zu den Kommunisten oder wenigstens zu den Sozialdemokraten stoßen, im Gegenteil: dann reagieren offenbar Kräfte, welche
das zur Ware-Werden nicht nur subjektiv-ideologisch verdecken (wie das bei einer nicht radikalisierten Mitte bis nach dem Krieg allerdings allein der Fall war), sondern real, eben nämlich aus realer Ungleichzeitigkeit. Es wirken dann Antriebe und Reser-
ven aus vorkapitalistischen Zeiten und Überbauten, echte Ungleichzeitigkeiten mithin, die eine sinkende Klasse in ihrem Bewußtsein rezent macht oder rezent machen läßt. | Haben sich hier doch nicht nur Bauern und kleine Leute, auch höhere Herren frisch, nämlich alt erhalten. Die Straße, welche
das Kapital durchs »organisch« überlieferte Land gebrochen hat, zeigt als deutsche jedenfalls besonders viel Nebenwege und Bruchstellen. Schon im Krieg hatte sich gezeigt, daß Deutschland
nicht nur großkapitalistisches Land ist und die Junkerkaste nicht nur eine Attrappe; das mischte in den imperialistischen Krieg,
als den » Aufruhr der Produktivkräfte gegen ihre nationalstaatliche Ausbeutungsform«, noch ältere Ursachen. und Inhalte ein. (Die deutsche Sozialdemokratie hatte das damals erkannt, ohne freilich revolutionäre Konsequenzen daraus zu ziehen, nämlich
Kampf in erster Linie gegen die heimischen Junker und den selbsttätigen Militarismus; den Wert dieser ungleichzeitigen Erkenntnis hebt aber ihre nicht vollzogene Konsequenz nicht auf.)
Deutschland überhaupt, dem bis 1918 keine bürgerliche Revolution gelungen war, ist zum Unterschied von England, gar Frankreich das klassische Land der Ungleichzeitigkeit, das ist, 113
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z
der unüberwundenen Reste älteren ökonomischen Seins und Bewußtseins. Grundrente, großes Grundeigentum und seine Macht
wurden in England, anders in Frankreich ziemlich durchgängig in die kapitalistische Wirtschaft und ihre politische Macht ein-
gegliedert; im lange zurückgebliebenen und länger noch vielfältigen Deutschland dagegen bildete sich der Sieg der Bourgeoisie nicht einmal wirtschaftlich, geschweige politisch und ideologisch im gleichen Maß aus. Das »unegaie Verhältnis der Entwicklung«, wie es Marx in der Einleitung zur »Kritik der
politischen Ökonomie« der materiellen Produktion im Verhältnis etwa zur künstlerischen zuweist, bestand hier lange genug ebenso materiell allein und verhinderte derart in der wirtschaftlichen Kräitehierarchie den eindeutig dominierenden Einfluß des Kapitaldenkens, also der Gleichzeitigkeit. Mit dem ost-
elbischen Feudalismus hielt sich jedenfalls ein ganzes Museum deutscher Wechselwirkungen, ein anachronistischer Überbau, der, so ökonomisch überaltert und stützungsbedürftig er ist, dennoch herrscht; Weltgeschichte war in Deutschland durchaus nicht immer Stadtgeschichte. Hier steht nicht zur Frage, ob das preußische Junkertum nicht selber recht künstliche, sogar rationalistische Züge seit alters aufweist (zum Unterschied vom
echten, volkverwurzelten Bojarentum): die preußische Stütze der Heiligen Allianz war, wenn sie die »modernste« war, jedenfalls nicht die schwächste. Heute nun ist das Junkertum halb gelegt oder auf deutschnationale » Volksparteien«, gar auf natio-
nalen »Sozialismus“ angewiesen; doch die marxistische Revolution, welche »die alte Welt mit ihren eigenen großen Gesamtmitteln umwälzen«
will, stößt in der kapitalistischen Republik
wiederum nicht auf Großkapital allein. Sondern auf neue Reaktionen der Ungleichzeitigkeit; sie stößt auf deren gepolsterten » Widerspruch« zum Kapital, scharf gemachten zum Marxismus. Neben und in viel falscher Ungleichzeitigkeit steht darum eben-
so diese gewisse: dem verzweifelten Bauern, fallierten Kleinbürger kommt in Deutschland besonders leicht die Natur, erst recht der Spuk der Geschichte; die Wirtschaftskrise, welche den Spuk freisetzt, vollzieht sich in einem Land mit besonders viel vorkapitalistischem Material. Es ist sehr die Frage, ob Deutsch-
land seiner Kraft nach noch ungewordener, gar vulkanischer ist I14
_ als etwa Frankreich; sicher aber hat es die kapitalistische Ratio nicht entfernt so gleichzeitig durchformt und ausgeglichen. Eben ' dies relative Chaos nun wälzte dem Nationalsozialismus »Un-
| zeitgemäßes«, Ungleichzeitiges auch aus noch »tieferer« Zurückgebliebenheit, nämlich aus der Barbarei zu; und es hätte in
Deutschland keines Nietzsche bedurft, um die Antithesen Blut gegen Geist, Wildheit gegen Moral, Rausch gegen Vernunft zu einer Verschwörung gegen die Zivilisation werden zu lassen. Durch den Relativismus der allgemeinen Müdigkeit brechen
folglich Bedürfnisse und Bestände der Vorzeit wieMagma durch
' eine dünne Kruste; ja, der Nihilismus des bürgerlichen Lebens,
dieses Zur-Ware-Werden, F.ntäußert-Werden der ganzen Welt zeigt hier erhaltene Ungleichzeitigkeiten doppelt »naturhaft« und erhaltene »Natur« doppelt magisch. So brennen denn Lagerfeuer und Opferrauch im völkischen Saal. Posaunenstöße künden stärker als nur wilhelminisch den Führer an, die dünnen
Gärtchen Ideologie, welche den Mythos falsifizieren, verschwülen real und gehen - in einer rasenden Mittelmasse - als Dschungel auf. Die Pfannkuchenkrater Natur, welche sonst in der guten Stube dampfen, werden zu echten Vulkanen, will heißen: zu Schlammvulkanen, doch auch zu solchen einer dun-
kelsten Primitivierung, eines völlig ungleichzeitigen, ja disparaten Irreseins. Man erinnert sich der Veitstänzer und latenten Kinderschlächter, die: »Haltet den Dieb!« rufen, wenn sie Juden des Ritualmords anklagen. Man erinnert sich der Weise: »Wenn
Judenblut vom Messer spritzt«, die als Hakenkreuz in Musik über den SA-Truppen zieht, man spürt den Iraum erhaltenen
Irreseins, erhaltener Überkompensierungen aus der Pubertät in dieser Art Nationalsozialismus. Man riecht die Kolportage indischer Mördersekten und chinesischer Geheimbünde, den ganzen Schleichwald, Flüsterwald früher Kolportage (mit den Weisen von Zion oder den Höhlen der Freimaurer im Berginnern), man trifft uralten Sadismus noch bei Totenfeiern, Racheschwüren oder beim Wutzeremoniell am »Mahnmal«. So ist am ganzen
»Aufbruch« Unheimliches genug; er ist nicht nur einfache »Rückverjüngung«, auch nicht nur Konkurrenzkampf mit bestialischen Mitteln. Unter der Schwelle gesunkener Aktienwerte, unter einem Rausch, der bei Licht oft nichts anderes enthält als 115
x etwas gestörte Butzenscheibe, unter einer falschen Ungleichzeitigkeit, die nur insofern als Papua auftritt, als sie nicht auf der Höhe der Zeit steht: unter all diesen schlechten Anachronismen ist derart noch ein echter, der zu raten aufgibt. Seine Akte sollen im Folgenden logisch bestimmt werden, seine Inhalte jedoch sind ein wildes Durcheinander
unverkaufter Geschichte,
auch Vorgeschichte. Die Zeitfremde dieses Widerspruchs ermöglicht ebenso den Betrug wie das Pathos von »Revolution« und Reaktion zugleich. Logische Beschaffenheit der ungleichzeitigen Widersprüche Der Not fehlt zu essen und, in der Mitte, noch etwas Höheres
dazu. Das sie im jetzigen Leben nicht mehr finden kann, ja schon lange in der Öde vermißt. Dies gewohnt, schließlich »seelisch« Vermißte widerspricht also gleichfalls dem Jetzt, ebenso stark wie das fehlende Essen und nicht nur wirtschaftlich. Weiter hat jeder aufrührende Widerspruch, sogar sein Schein, zwei Seiten: eine innere sozusagen, der etwas nicht paßt, eine äußere, worin
etwas nicht stimmt. Die verelendete Mitte nun, überwiegend nicht von heute, widerspricht dem Jetzt, das sie immer weiter
fallen läßt, innerlich dumpf und äußerlich mit Resten, die dem Jetzt fremd sind. Das Widersprechende ist hier also, innerlich
oder subjektiv, ein dumpfer, es ist ebenso in der Zeit selber, äußerlich oder objektiv, ein fremder und übriggebliebener, kurz, ein ungleichzeitiger Rest. Als bloß dumpfes Nichtwollen des Jetzt ist dies Widersprechende subjektiv ungleichzeitig, als bestehender Rest früherer Zeiten in der jetzigen objektiv ungleichzeitig. Das subjektiv Ungleichzeitige, nachdem es lange bloß verbittert war, erscheint heute als gestaute Wut. In ruhiger Zeit war sie das Verdrossene oder Besinnliche des deutschen Kleinbürgers,
der sich vom
Leben,
worin
er nicht mitkam,
schimpfend oder innig zurückzog. Subjektiv ungleichzeitig im dürreren Sinn, aber ein Brennholz in der Wut sind auch die abge-
fallenen Zweige der Pflicht, der Bildung, des »Stands« der Mitte in einer Zeit, welche keine Mitte mehr kennt. Dem entspricht das
objektiv Ungleichzeitige als Weiterwirken älterer, wenn auch noch so durchkreuzter Verhältnisse und Formen der Produktion 116
sowie älterer Überbauten. Das objektiv Ungleichzeitige ist das ' zur Gegenwart Ferne und Fremde; es umgreift also umter)
gehende Reste wie vor allem unaufgearbeitete
Vergangenheit,
}‚ die kapitalistisch noch nicht »aufgehoben« ist. Der subjektiv ‚ ungleichzeitige Widerspruch aktiviert diesen objektiv ungleich-
, zeitigen, so daß beide Widersprüche
zusammenkommen,
der
rebellisch schiefe der gestauten Wut und der objektiv fremde des übergebliebenen Seins und Bewußtseins. Hier sind Elemente ‚ alter Gesellschaft und ihrer relativen Ordnung und Erfüllung in ' der jetzigen ungeordneten, und der subjektiv ungleichzeitige ' Widerspruch belebt diese Elemente negativ wie positiv überraschend. Haus, Boden, Volk sind solche objektiv abgehobene Widersprüche des worin sie wachsend sind Widersprüche Jetzt und Elemente
Überkommenen zum kapitalistischen Jetzt, zerstört und nicht ersetzt worden sind. Sie des Überkommenen zum kapitalistischen alter Gesellschaft, welche noch nicht gestor-
ben sind: sie sind sogar in ihrem Ursprung Widersprüche gewesen, nämlich zu den vergangenen Formen, welche die gemeinten Inhalte von Haus, Boden, Volk doch nie ganz realisiert haben. ‚ Sıe sind also schon Widersprüche unerfüllter Intentionen ab ovo,
Entzweiungen mit der Vergangenheit selbst: nicht an Ort und Stelle, wie die Entzweiungen der gleichzeitigen Widersprüche,
sondern gleichsam die ganze Geschichte hindurch; so daß hier verdeckte Widersprüche auch zur Geschichte, nämlich noch un-
aufgearbeitete Intentionsinhalte der Vergangenheit selbst gegebenenfalls mitrebellieren. Die Vergangenheit wird vom Klein-
bürgertum heute freilich geschönt, es setzt sein Unerfülltes gerade mit dem relativ Besseren der Vergangenheit gemischt dem Jetzt entgegen. So hat gestaute Wut ihren ungleichzeitigen
Widerspruch nicht so sehr gegen schlecht Überkommenes als vor allem gegen ein Jetzt, worin auch das Letzte an Erfüllung noch verschwunden ist. Niemals aber wäre der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch so scharf, der objektiv ungleichzeitige so sichtbar, bestünde kein objektiv gleichzeitiger, nämlich der in und mit dem heutigen Kapitalismus selbst gesetzte und wachsende. Die anachronistische Verwilderung wie Erinnerung wird erst durch die Krise freigesetzt und antwortet auf deren objektiv revolutionären Widerspruch mit einem subjektiv wie objektiv 117
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reaktionären, nämlich eben ungleichzeitig. Nur wird der ungleichzeitige Widerspruch, ist er auch durch wachsende Verelendung, Zersetzung, Entmenschung im Schoß des Spätkapitals, durch das Unertragbare seiner objektiv gleichzeitigen Widersprüche freigesetzt, dem Kapital, als ungleichzeitiger, vorerst nicht gefährlich. Im Gegenteil, das Kapital gebraucht das ungleichzeitig Konträre, wo nicht Disparate zur Ablenkung von seinen streng gegenwärtigen Widersprüchen; es gebraucht den Antagonismus einer noch lebenden Vergangenheit als Trennungs- und Kampfmittel gegen die in den kapitalistischen Antagonismen sich dialektisch gebärende Zukunft. Durchs ganze XIX. Jahrhundert hindurch haben sich im Kleinbürgertum »die Interessen zweier Klassen zugleich abgestumpft« (Marx); die-
ser Abstumpfung nun treten heute harmonistische Bilder der Vergangenheit hinzu und suchen den Exzeß des Kapitalismus bloß zurückzunehmen oder ihn sich unterzuordnen. Sie füllen
den Nihilismus — diesen eminent gleichzeitigen Widerspruch im Gefolge des Spätkapitalismus, diese ideologische Parallele zum Ware-Werden aller Menschen und Dinge - mit Mischgebilden, wie dem Frontgeist von 1914, mit romantischen Staatstheorien und ihrem feudalen Antikapitalismus, mit Preußentum und
Sozialismus oder anderen Ideologien als voreiligen Lösungen der gesellschaftlichen Widersprüche. Der ungleichzeitige Widerspruch ist derart das Gegenteil eines treibenden, sprengenden,
er steht nicht beim Proletariat als der heute geschichtlich entscheidenden Klasse, nicht im Kampffeld zwischen Proletariat und Großkapital als dem Raum der heutigen Entscheidung. Hat
sich doch der ungleichzeitige Widerspruch wie sein Inhalt nur im Umkreis der kapitalistischen Antagonismen freigesetzt und ist daran fast eine zufällige, mindestens windschiefe Anderheit;
so daß zwischen dem ungleichzeitigen Widerspruch und dem Kapitalismus ein Hiatus besteht, ein Riß, der sich trösten oder
mit Nebel füllen läßt. Vor allem stellt der ungleichzeitige Widerspruch, als derjenige bloßer untergehender, selbst unaufgearbeiteter Vergangenheiten, aus seiner noch so großen Quantität keinen Umschlag zu einer neuen Qualität her. Die revolutionäre Knotenlinie, worin sich der Widerspruch schließlich an einem einzigen Punkt verknäuelt und sprunghaft zur revolutionären 118
Lösung drängt, kann sinngemäß nur an gleichzeitigen Widersprüchen statthaben, die das wachsende Kind Zukunft oder Anderssein selber sind, nicht an ungleichzeitigen, die ihre Größe längst dahin haben, nämlich als historische, und damit auch die Abenteuer ihrer Qualität. Selbst die mögliche Nachreife des
eigentlich Unaufgearbeiteten an dieser Vergangenheit kann nie ' von sich aus zu einer Qualität umspringen, die man aus der Ver‚gangenheit nicht schon kennt. Dazu verhülfe höchstens ein Bündnis, das aus der Vergangenheit erst dadurch die in ihr noch
ı mögliche Zukunft befreit, daß es beide in die Gegenwart setzt. Immerhin ist im ungleichen Widerspruch eine Wirklichkeit, die
— wie das schreckliche Exempel zeigt - vom gleichzeitigen nicht : ohne weiteres mitbewegt und einbezogen werden kann. Man 4
hat,
in einer
kommunistischen
Resolution,
vom
deutschen
ı Fascismus gesagt, er berge in sich sowohl die Offensive der herrschenden
Klasse wie die Elemente
ihrer Zersetzung,
kurz, er
spiegle den dialektischen Widerspruch der kapitalistischen Spätentwicklung und damit seinen eignen Untergang. Vollkommen
richtig, doch nicht auch den ungleichzeitigen Inhalt erschöpfend, der in gestauter Wut und übergebliebenen Bindungen sich entlegen genug ausdrückt.
Die rein von heute geborene Not, die der Arbeiter, hat viel leichtere Mittel, sich zu wehren. Hier ist der gleichzeitige Wider‚ spruch allein, er ist im Heute, wie er es ganz hat, auch ganz
faßbar oder die siegende Sache selbst. Seine subjektive Erschei| nung, sein subjektiver Faktor sind nicht gestaute Wut, sondern ; der klassenbewußte revolutionäre Prolet. Seine objektive Er, scheinung, sein objektiver Faktor sind nicht untergehender Rest ; oder auch unaufgearbeitete Vergangenheit, sondern verhinderte Zukunft. Nämlich das Dasein des Proletariers selbst, das Miß-
verhältnis ‚kräften zu Krise. Der den ebenso
zwischen den kapitalistisch entfesselten Produktivden kapitalistischen Produktionsverhältnissen, die sich als Ware erkennende Arbeiter enthüllt zugleich rasenden wie spukhaften Warencharakter der kapi-
talistischen Gesellschaft, ohne daß er - als neue Klasse — mit Altem zu täuschen wäre, ohne daß auch der »Mensch« oder das
»Leben«, das er der Verdinglichung entgegengesetzt, bereits irgendwo geschichtlich bestimmt wäre. Der Proletarier als 119
Selbstauflösung der bürgerlichen Gesellschaft, ja, jeder Klassengesellschaft überhaupt, ist der subjektiv wie objektiv leibhaftige Widerspruch der gleichzeitigen Gesellschaft selbst, und seine Revolution — als Frucht der dialektischen Erkenntnis gleichzeitiger Widersprüche — moniert keine Gestalten und Erinnerungen, zunächst auch keinerlei Gehalte der Vergangenheit. Sondern
aktiviert rein die Zukunftsgesellschaft,
mit der die
jetzige schwanger geht, zu der hin die Anarchien und Nihilismen der jetzigen ihren Umschlag suchen. Aber das hindert freilich nicht, daß der gleichzeitige Widerspruch zum Teil von demselben Stoff betrieben wird, den auch der ungleichzeitige im
Jetzt vermißt, dener im Vergangenen so schief sucht. Die Formen und Inhalte des Vergangenen reizen den klassenbewußten Arbeiter selbstverständlich gar nicht oder nur an einigen wahlverwandten, revolutionären Punkten, jedoch dasrelativ Lebendigere
und Ganze früherer Beziehungen von Menschen leuchtet ein. Diese Beziehungen waren noch relativ unmittelbarer als die kapitalistischen, sie führten sowohl an den Menschen, zwischen denen sie herrschten, wie an der Umwelt, die sie bearbeiteten, mehr
»Materie« mit sich als heute. Dies Unmittelbare war in früheren Formen nur scheinbar näher, nur relativ besser bestimmt: doch
reicht dies Relative nicht bloß reaktionär aus, um Vergangenes zum Teil als noch echt unverstorben gegen Gegenwärtiges zu halten. Es liefert auch positiv streckenweise einen Teil jener Materie, welche ein vom Kapital unzerstörtes Leben wiedersucht,
ja, welche sich zwar proletarisch führend, aber ebenso »allgemein« als Entäußerung »des Menschen«, als Zerreißung »des Lebens« empört. Wir nannten die ungleichzeitige Anderheit windschief und ihre Rebellion, als eine viel ältere Materie, eine des Umkreises: doch letzthin zeigt sich, daß gerade ein Teil Ma-
terie der ungleichzeitigen Widersprüche schon lange die der gleichzeitigen ergänzt. Die Materie der gleichzeitigen Widersprüche ist ja nicht nur die der sehr vorhandenen, nämlich entfesselten Produktivkräfte, sondern ebenso nur die äußerste,
»daher« zum Umschlag treibende Negativität des heutigen Zustands: der entäußerte Mensch oder Proletarier, die entäußerte Arbeit oder der Fetisch der Ware, die Haltlosigkeit des Nichts. Diese Negativitäten haben zwar ihr dialektisch Positives in sich, I20
sogar das höchste, doch freilich innerhalb des gleichzeitigen Widerspruchs und seiner Materie nur als rebellische Vermissung: nämlich des ganzen Menschen, der unentäußerten Arbeit, des Paradieses auf Erden. Kurz, im Aufruhr der proletarischen und
verdinglichten Negativität ist letzthin zugleich die Materie eines Widerspruchs, der aus ganz und gar nicht entfesselten »Produk-
tivkräften«, Intentionsinhalten immer noch ungleichzeitiger Art rebelliert. Esberührt sich diese Positivität nicht bloß - im tiefsten Sinn — mit dem Subversiv-Utopischen »des Menschen«, »des Lebens«, dem noch in keiner Zeit Erfüllung wurde, und das daher der letzte Stachel jeder Revolution, ja, noch der breite
Glanzraum jeder Ideologie ist: esberührt sich, jenseits dieser verborgenen Allgemeinheit, auch mit solchen Positivitäten, welche
gerade als Formen und Gehalte älterer Materie sehr früh schon gegen den Kapitalismus erinnert worden sind. Dazu gehören nicht nur bürgerlich-revolutionäre Positiva, wie Rousseaus arkadische »Natur«, sondern ebenso restaurativ gemischte, wo nicht “ Abdankungen der Revolution: wie das Mittelalter der Romantik,
wie die Wiedergeburt einer qualitativ-organisch gestuften Welt aus den Hohlräumen des »Ding-an-sich-Problems« und andere
Betrugbilder, Vexierbilder, Schatzkammern einer nicht ganz aufgearbeiteten Vergangenheit. Die — wie gezeigt - zum Umschlag unkräftigen Momente des ungleichzeitigen Widerspruchs haben also dennoch, sentimental oder romantisch, jener Ganzheit und
Lebendigkeit sich bereits erinnert, woraus der Kommunismus echte Materie gegen die Entäußerung zieht, woraus neben dem Kommunismus heute wieder Verwilderung, Raumverbundenheit, arkadisch-dionysische »Natur« durcheinander grassieren. Als Kreatur, die nicht satt wurde, als Menetekel und Zeugen von
Sphären, die der allzu einschichtig bloß mit dem Kapitalismus verbundenen Dialektik wenigstens das Problem einer mehrschichtigen Ganzheit zur Pflicht machen. Der Marxismus ist nicht
selber radikal wie der zerstörende Kapitalismus, nicht selber auslassend wie dessen abstrakter Kalkül; er ist auch nicht halb auf-
klärend, sondern ganz aufbrechend und überbietend, er istgegen die Ansprüche der »Natur«, dieses Antiquariums aus Ungelöstheit, am wenigsten asketisch. Es gäbe nicht solche Rückschläge, erst recht kein Problem
des »Erbes«
im Prozeß, wenn
seine I2I
jeweils letzte Stufe die einzige wäre, auf der die Dialektik zu stehen, die konkrete Revolution zu geschehen hat. Das Funda-
ment des ungleichzeitigen Widerspruchs ist das unerfüllte Märchen der guten alten Zeit, der ungelöste Mythos des dunkeln alten Seins oder der Natur; hier ist, streckenweise, nicht bloß
klassenmäßig unvergangene, sondern auch materiell noch nicht ganz abgegoltene Vergangenheit. Problem einer mehrschichtigen Dialektik
So gilt es, das bewegte Jetzt zugleich breiter zu machen. Zu
unterscheiden war: der falsch und der echt ungleichzeitige Widerspruch, dieser und der gleichzeitige, in beidem wiederum der
subjektive und der objektive Faktor des Widerspruchs. Der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch ist gestaute Wut, der objektiv ungleichzeitige unmerledigte Vergangenheit; der subjektiv gleichzeitige die freie revolutionäre Tat des Proletariats, der objektiv gleichzeitige die verhinderte, imFetzt enthaltene Zukunft, die verhinderte technische Wohltat, dieverhinderte neue Gesell-
schaft, womit die alte in ihren Produktivkräften schwanger geht. Grundmoment des objektiv gleichzeitigen Widerspruchs ist der Konflikt zwischen dem kollektiven Charakter der kapitalistisch entfalteten Produktivkräfte und dem privaten Charakter ihrer Abneigung. Die zunehmende Vergesellschaftung der Arbeit kommt mit den privatkapitalistischen Eigentumsverhältnissen, mit der bürgerlichen Form, worin die industrielle Arbeit groß geworden ist, nicht mehr aus. Dieses ist der objektiv gleichzeitige Widerspruch der Zeit oder ihr exakter Klassengegensatz: Produktivkräfte und Eigentumsverhältnisse sind hier zwei wesentliche Teile einer ebenso gleichzeitigen Einheit. Derart ist nur dieser exakte Gegensatz der revolutionär entscheidende der Zeit, jedoch eben: er ist in ihr nicht der einzige. Derandere Gegensatz, der zwischen Kapital und den ungleichzeitig verelendeten Klassen lebt neben dem gleichzeitigen, wenn auch nur als diffus. So erzeugt er in der »geschichtslosen« Klasse des Kleinbürgertums Angst und gestaute Wut, kein eigenes, präsentes, gar durchgear-
beitetes Klassenbewußtsein. Er macht den Stoß des Konflikts darum äußerlich und stumpf, nur gegen Symptome, nicht gegen I22
SH.
'den Kern der Ausbeutung gerichtet; der Konfliktinhalt selbst ist
romantisch-, auch sozusagen »archaisch«-„antikapitalistisch. Es gilt nun, im Widerspruch auch dann eine mögliche Kraft zu sehen, wenn er über den ungleichzeitigen Riß ie hinaus-
kommt. Der bleibt dem Jetzt des Kapitals nur solange günstig, als den Ungleichzeitigen die Führung, auch Verführung fehlt, ins heutige Feld zu marschieren. Aufgabe ist, die zur Abneigungund Verwandlung fähigen Elemente auch des ungleichzeitigen. Widerspruchs ernenllsenl nämlich die dem Kapitalismus feind' lichen, in ihm heimatlosen, und sie zur Funktion in anderem . Zusaminenhang umzumontieren. Bleibt folglich der »Dreibund« des Proletariats mit den verelendeten Bauern und dem verelendeten Mittelstand, unter proletarischer Hezemonie; der
echt gleichzeitige Widerspruch hat das Amt, konkret und total genug zu sein, um auch die echt ungleichzeitigen Widersprüche
aus der Reaktion zu lösen und an die Tendenz heranzubringen. An sich werden die älteren Widersprüche auf der proletarischen Seinsgrundlage nicht zum Problem; die revolutionäre Dialektik bleibt noch ausschließlich eine der gesetzten Widersprüche des
Spätkapitals, nicht der freigesetzten Bruchstellen, worin die Hitlerbewegung ihr Bergwerk hat. Aber es gelingt gerade keine proletarische Hegemonie im fälligen Dreibund, vor allem keine unverwaschene, ungefährdete, ohne daß sie auch den Stoff echter
Ungleichzeitigkeit und ihrer heterogenen Widersprüche gründlich »beherrscht«. Indem zwar an allen Orten das falsche Be-
wußtsein und die gegenstandslose Romantik ausgetrieben wird, indem aber ein Verstand, der kein abstrakt auslassender ist, ebenso die subversiven und utopischen Elemente, die verdrängte
Materie dieses noch nicht Vergangenen ins Haus nimmt. Man sagt gewiß mit Recht, es gehöre zum Wesen der fascistischen Ideologie, die morbiden Bestände aller Kulturphasen sich einzugliedern; aber man sagt mit Unrecht: nur die morbiden, sofern
nämlich die gesunden der Fäulnis-Ideologie gar nicht erreichbar wären. Solch summarisches Urteil gliedert, auf völlig abstraktnegative Weise, auch die spezifische Opposition der Ungleichzeitigkeit, wegen ihrer Trübe, dem faulen Zauber ein und keinem anderen. So daß im Endeffekt der Fascismus gestützt wird; näm-
lich der Unterschied
zwischen ungleichzeitigem Widerspruch 123
und fascistischem Betrug an ihm wird geleugnet, diesmal von
vulgär-marxistischer Seite geleugnet und verklebt. Lange genug aber hat der Fascismus ausgenutzt, was an bäurisch-kleinbürgerlicher, überhaupt an ungleichzeitiger Opposition sich regte. So entsteht, damit man des Ungleichzeitigen Herr werde, das Problem einer mehrschichtigen revolutionären Dialektik; denn sicht-
bar ist im Kapitalismus und seiner Dialektik die Ganzheit der früheren Entwicklung noch nicht »aufgehoben«. Die Weltgeschichte, sagte schon der bürgerliche Revolutionär Börne, ist ein Haus, das mehr Treppen als Zimmer hat; und Marx selber, betont er das relativ Erträglichere des vorkapitalistischen Zustands,
bezeichnet er gar griechische Kunst und Epos »in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster« (Einleitung zur »Kritik der politischen Ökonomie« ): so ist in ihm diese »gesellschaftliche Kindheit der Menschheit« ein kaum gelöster Reiz, der
Kapitalismus jedenfalls nicht das einzige Haus der Geschichte, das dialektisch zu beerben wäre. Alles Vergangene ohne herrschende Stimme gleichsam unendlich vielstimmig zu haben, ist
bloß Historismus; auf alles Vergangene typisch identische, wenigstens formal identische »Gesetze« oder »Gestalten« anzuwenden, ist bloß Soziologismus; der Marxismus dagegen findet gerade seine Dialektik nicht überall so, wie sie am Kapitalismus erscheint, er variiert sie konkret nach den einzelnen Gesellschaftszuständen, er sucht ihr vor allem auch an der fortwirkenden Ver-
gangenheit im Kapitalismus jene Totalität zu halten, welche der dialektischen Entwicklungstendenz - nicht auf jeder Stufe, doch auf jeder beherrschten Stufe eignet. Mehrzeitliche und mehrräumige Dialektik, die Polyrhythmik und der Kontrapunkt solcher Dialektik sind derart gerade das Instrument der beherrschten letzten Stufe oder Totalität; nicht jeder selbstverständlich schlechthin, sondern der kritischen, der nicht-kontemplativen, der praktisch einhakenden. Kritisch muß diese Totalität
sein, um nicht abgestandene Seinsweisen mit ihrem infolge der Abgestandenheit doppelt falschen Bewußtsein in sich einzuladen. Was die Geschichte an diesem schlechthin Vergangenen noch nicht vollbracht hat, nämlich es hoffnungslos und zu einer bloßen
Grabstätte historischer Erinnerung zu machen: das vollendet die materialistische Analyse des gebliebenen falschen Bewußtseins 124
_ durch Auflösung seines Scheins, Entlarvung seiner heutigen Blendwerke durchaus. Gerade also um des möglicherweise auch
echt Fortwirkenden und Unvergangenen an der Vergangenheit ' willen, um der echten Nebelflecken willen (welche noch einen ' Stern zu gebären haben) wird sich die Totalität mit bloßen
' Scheinnebeln, undeutlichen und längst gewordenen Sternhaufen ' nicht beschweren; ob sie auch den Nebelflecken so ähnlich sehen wollen wie die Schollenphrase der neuen Erde oder das Dritte ' Reich dem Zukunftsstaat. Kritisch muß ferner die Totalitätsein, _ um aus ihrem berechtigten Gegensatz zur kapitalistischen Zerreißung aller Lebenszusammenhänge nicht in eine falsche Ähnlichkeit mit der idealistischen »Totalität« zu fallen, welche eine _ bloße des Systems ist (der Ausspinnung aus einem einzigenidea-
listischen Prinzip und seinem ununterbrochenen, panlogischen Zusammenhang), ja, welche ein Derivat des Mythos ist (des Glaubens an den großen, bruchlosen Pan). Und eben nicht nur kritisch muß die Totalität sein, sondern vor allem nicht-kontemplativ: nur auf diese Weise gelangt sie dazu, das Ungewordene,
Unberichtigte der Vergangenheit nicht in ihr stehen zu lassen; der verdeckte Widerspruch zur Geschichte, der offen gewordene
zur Gegenwart gelangt vielmehr ins dialektisch-praktische Zahnrad. Hegels dialektische Totalität war noch eine bloße des erinnerten Wissens und eine monadische dazu, an der zwar »kein
Glied nicht trunken« war, an der aber jedes sich gleichsam an Ort und Stelle beruhigen konnte, weil es »mit dem vollständigen Reichtume des Geistes ausgestattet« war. Hegel freilich hat ebenso die nächstfolgende Stufe als intendierte höhere Wahrheit
der vorhergehenden und die Totalität immer genauer im jeweils letzten Glied; ja, er hat als treibenden Grundwiderspruch in allen einzelnen Widersprüchen (und auch noch in den einzelnen
Versöhnungen) den zur Ganzheit der ganzen Sache; Dialektik ist hier nicht nur, wie bei Schelling, Einheit der Widersprüche, sondern Einheit der Einheit und der Widersprüche. Soll aber mit der Hegelschen Wahrheit der letzten Stufe ernst gemacht
werden und mit dem »Selbst«, das »diesen ganzen Reichtum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat«: dann kann die Durchdringung nur eine nicht-kontemplative sein oder eine, die den Reichtum der Substanz nicht in vergoldeten 02%
\\
Vergangenheiten, sondern im faktischen Erbe ihres Endes im Jetzt besitzt, kurz, die gerade aus dem unvollständigen Reichtum
der Vergangenheit, wenn er auf der letzten Stufe erst recht nicht »aufgehoben« ist, zusätzliche revolutionäre Gewalt gewinnt. So erst nutzen unvergangene, weil nie ganz gewordene, daher bleibend subversive und utopische Inhalte in den Beziehungen der Menschen zu Menschen und zur Natur; diese Inhalte sind gleichsam das goldhaltige Geröll im Lauf der bisherigen Arbeitsprozesse und ihrer werkhaften Überbauten. Mehrstimmige Dialektik alseinederheute mehr denn je versammelten » Widersprüche« hat jedenfalls auch im Kapitalismus genug Fragen und Gehalte, die noch nicht »durch den Gang der ökonomischen Entwicklung überholt sind«. Die proletarische Stimme der gleichzeitigen Dialektik bleibt dezidiert die führende; doch es laufen unter wie
über diesem
Cantus
firmus ungeordnete
Ausgelassenheiten,
welche nur dadurch auf den Cantus firmus zu beziehen sind, daß
sich dieser - in kritischer wie nicht-kontemplativer Totalität — auf jene bezieht. Und mehrräumige Dialektik erweist sich vor allem an der Dialektisierung noch »irrationaler« Inhalte; siesind, nach ihrem kritisch bleibenden Positivum, die »Nebelflecken«
der ungleichzeitigen Widersprüche.
D. ZUR
ORIGINALGESCHICHTE DRITTEN REICHES
DES
Internationale Literatur, Moskau, 1937
Nichts darf diesen Blick verlegen oder selber blind machen. Im Folgenden ist von mancherlei Altem und Sonderbarem die Rede. Es ist vergaunert worden, und wie, aber man muß dem Gauner nicht nur auf die Finger sehen, sondern auf das, was er darin hält. Besonders wenn er es gestohlen hat, wenn die verdreckte Sache einmal in besseren Händen war. Nichts befreit daher vom
Untersuchen der Begriffe, die der Nazi zum Zweck des Betrugs,
aber als eines zu endenden, so verwendet
wie entwendet
hat.
Führer, vor allem Reich tauchen derart auf, und wird ihrem 126
ursprünglich zu endenden Sinn nachgegangen, so tauchen sie in anderer, in nachdenklicherer Weise auf, als das zuletzt gewohnt
war. Der Stoff ist noch großenteils frisch, desto fauler gerade ist und mußte werden, was Blindheit und Verbrechen mit ihm angestellt haben. Das etwas träumerische Wesen der Sache war überdies gegen Mißbrauch schon des öfteren wehrlos. Aber auch Schönes und Edles leuchtet aus verschollenen, nicht verschollenen Tagen herüber, es ist wichtig, daran zu erinnern. Hat doch der Nazi nicht einmal das Lied erfunden, mit dem er verführt. Nicht einmal das Pulver, mit dem er feuerwerkt, nicht einmal die Firma, unter der er betrügt. Gerade der Terminus Drittes Reich hat eine lange Geschichte, eine echt revolutionäre. Schöpferisch, sozusagen, war der Nazi nur im Unter-
schleif jeder Preislage, womit er revolutionäre Losungen für ihr Gegenteil verwendete. Womit er - neben dem schäbigen Blödsinn der hintersten Stammtische — den dunklen Glanz alter Worte benutzte und die Revolution, die er zu machen vorgab, patinisierte. Ein solch altes Wort ist das Dritte Reich, klangvoll allein schon durch die Dreizahl (»wie im Märchen« ), klangvoll als dritte Krönung Deutschlands (nach dem mittelalterlichen und dem Bismarckschen Reich). Damit aber der revolutionäre Schein nicht zu kurz komme, fügte Moeller van den Bruck, der
eigentliche Erneuerer des Terminus, mystische Überlieferungen aus ganz anderen »Reichen« hinzu. Denn im Original hatte das Dritte Reich den sozialrevolutionären Idealtraum der christlichen Ketzerei bezeichnet: den Iraum von einem Dritten Evan-
gelium und der Welt, die ihm entspricht. Die frühmittelalterlich einsetzenden Klassenkämpfe fanden im Haß gegen die Verweltlichung der Kirche ihren ersten Ausdruck. Je mehr sich die Lage der Bauern und kleinen Stadtbürger verschlechterte, je sichtbarer andererseits das Kaufmannskapital und Territorialfürstentum reüssierten und das rein feudale, auf vergangene Wirtschaftsweisen aufgebaute Reich zerfiel: desto kräftiger mußte die Prophetie eines neuen, eines »evangelischen« Zeitalters
einschlagen; bei Münzer als bäurisch-proletarisch-kleinbürgerlicher Kampfruf gegen die verschärfte Ausbeutung, bei Luther freilich als Fürsten-Ideologie gegen Zentralgewalt und Kirche. Es waren derart entgegengesetzte Interessen, die sich im Nebel
127
der Ketzerei trafen; dennoch fehlte der Linken neben der Wolke die Feuersäule am wenigsten; sie war im Impetus und Ideal der
revolutionären Sache. Die Inhalte des heutigen, des in Durchführung begriffenen Sozialismus sind nicht mehr die theologischen, klassenmäßig nicht einmal mehr die theologisch verkleideten von damals. Trotzdem mag der Sozialismus vor den
Träumen
seiner Jugend Achtung tragen, ihren Schein tut er
ab, doch ihre Versprechungen erfüllt er. Deutschland hört noch, wie sich gezeigt hat, auf die alten Retter- und Reichsträume, selbst wenn sie von Betrügern vorgebracht werden, und es hörte desto verführbarer darauf, als die sozialistische Propaganda vielfach kalt, schulmeisterlich, nur ökonomistisch war.
Zwei Glanzmotive haben vom zwölften bis sechzehnten Jahrhundert das revolutionäre Bewußtsein erregt: die Motive des
Retters und eben des Dritten, zuletzt gar des Tausendjährigen Reichs, in das der Retter-Befreier (meist als » Volkskaiser« gedacht) führt. Der künftige Befreier
Sich selber helfen die Armen erst langsam und spät. Der Wunsch nach einem Führer dürfte der älteste sein. Es ist im Verhältnis
zwischen Kind und Vater und im Suchen des jungen Menschen, wenn der Vater ein Tropf war. Gruppentiere haben das stärkste Männchen an der Spitze, Jagdvölker, die noch gar keine Arbeitsteilung kennen, wählen einen Häuptling. Das erste Führerbild
im menschlich großartigen Sinn stellt Moses dar; er ist zugleich ein Führer der Unterdrückten und einer ins gelobte Land. Doch
auch unter ganz anderen Verhältnissen gingen die Blicke nach vorn und oben, verschönten oft, was an der Spitze zu sehen war. Alexander sollte bereits ein Retter sein, der Herr des alle versammelnden Friedens. Vollends Augustus wurde als Friedens-
kaiser gefeiert, als der sibyllinisch geweissagte Widerhersteller des goldenen Zeitalters. Bekannt ist die Stelle Vergils, in der 4. Ekloge, über den Wunderknaben, der in Kürze erscheint, der nach all der staatlich-sozialen Wirrnis das Glück der Urzeit her-
aufführen wird. Die Aeneis spielte Augustus diese Retterrolle zu; später wurde sie auf Trajan, Antonin und andere »gute 128
Kaiser « übertragen. Soziale Erwartungen der fluktuierenden,
landlosen Masse Spätroms und Wünsche der Oberschicht nach ungestörter Ruhe gingen bei allem schwer unterscheidbar durcheinander. Übrigens ist auch die Erwartung des rettenden Wun-
derknaben sehr alt und sehr früh in dynastische Heilsträume eingesetzt worden; sie berückte durch ihre rührende, sanfte, so-
zusagen allgemein-menschlich ergreifende Weise. Das Ägypten des mittleren Reichs hat zuerst die orientalische Prophetie eines
Erlöserkönigs um das Bild der Kleinheit, ja Krippe gemehrt, um die Idee der göttlich-wunderbaren Geburt des segenbringenden Kindes Horus (vgl. Norden, die Geburt des Kindes, 1924, S. 73 f.). Es war dieselbe Legende, welche hernach auf Jesus
übertragen
wurde, diesmal
mit deutlich proletarischer und
durchaus nicht patrizischer Heilserwartung; das Christusbild, welches die Sklaven gerade bei der Stange halten sollte, wurde, obwohl in der Bergpredigt angedeutet, erst in der römischen Reichskirche geformt. Der Retter Jesus sollte insgesamt freilich nur in der Innerlichkeit erlösen, erst als Paraklet, am Ende der Tage, richtete er sein sichtbares Reich an. So blieben das irdische
Elend und die wirkliche Unordnung erhalten, so prolongierte sich selbstverständlich auch die Heilserwartung irdischer Art, die Perspektive nicht auf einen fernen Parakleten, sondern auf einen nahen leibhaftigen Retter, wie Vergil ihn berufen hatte: und die
sibyllinische Kaisersage setzte sich fort in Byzanz. Je verrotteter dort die innere Lage (Schuldenlast des Volks, Palastrevolutionen), je bedrohlicher die äußere (Araber, Bulgaren, Türken), desto aussichtsreicher wirkten die gemalten Perspektiven einer irdischen Frohbotschaft neben der himmlischen. Solch ein Trostbuch entstand gegen Ende des siebenten Jahrhunderts in den Weissagungen des Methodius; zugleich erlangte hier die Kaiser-
sage eine merkwürdige Gestalt. Denn weltlich zum ersten Mal mischte sich ein Totenmotiv in sie ein, und Methodius prophe-
zeit: Ein großer mächtiger Kaiser steht auf, »wie ein Mann aus dem Schlaf erwachend, die Menschen haben ihn als Leiche angesehen«. Wahrscheinlich ist dabei an Alexander gedacht, der als
Enkel eines Aethiopierkönigs eingeführt wird und von Aethiopien her aufersteht; vor dem (nahe gedachten) Weltende kehrt er als Kaiser der Griechen und Römer in Macht und Herrlichkeit 129
wieder. Das alte Motiv vom sterbenden und im Frühling auferstehenden Vegetationsgott, das bereits auf den Tod Jesu, am
Karfreitag und Himmelfahrt adaptiert worden war, sieht sich hier säkularisiert, wird in dieser Welt noch einmal gebraucht. Auf die spätere Kyffhäusersage hat diese Wendung stark eingewirkt, daneben aber schickte Byzanz noch ein anderes, ein völlig magisches Rettermotiv in die deutsche Phantasie. Es ist in der Sage vom
sogenannten
Priesterkönig Johannes enthalten,
und Indien ist der Schauplatz, das Zauberland mit seinem Paradiesgarten, seinen Wundersteinen, seinen wahrsagenden Bäumen
und dergleichen mehr. Im innersten Indien lebt der entrückte Priesterkönig (bald Daniel, bald Johannes der Täufer, der Evan-
gelist, der Apokalyptiker in einem), die zehn verlorenen Stämme Israels sind bei ihm und warten auf ihre Stunde, er besitzt wundertätige Steine, die ihn unsichtbar machen, andere übernatür-
liche Kräfte aus sich selbst. Zweifellos klingt hier das Bild eines Yogi oder Mahatma an; das Novum der Legende aber ist, daß
dessen magische, ja der Welt entrückten Kräfte im Dienst christlichen Rechts stehen sollen. Der Priesterkönig Johannes,
als
Retter aus dem Osten, wurde von deutschen Bauern späterhin
sogar im Heer der Türken vermutet; als geheimster Statthalter Christi sozusagen, als Messiaskaiser außer Lands. Historischer, nämlich
auf wirklich
vorhandene
oder vorhanden
gewesene
Menschen sich beziehend, geriet nun freilich der eigentliche Führertraum, die wieder dynastisch gewordene Kaisersage des
Mittelalters, die Karlssage Frankreichs, die deutsche über Friedrich II. und seine Wiederkehr. Man erinnert sich der byzantini-
schen Weissagung des Methodius (sie zirkulierte in zahlreichen Abschriften) und ihres seltsamen Leichenmotivs. Eben dieses bot sich an, als der dämonische Staufer gestorben war: Friedrich II., die erträumte wie gefürchtete Zuchtrute der Kirche, der
rationalistisch-imperialistische Urheber des Worts von den »drei Betrügern« (Moses, Mohammed, Jesus), der Antichrist, auf den
gerade deshalb so viele apokalyptische Gedanken sich gerichtet hatten, Friedrich II. konnte und durfte nicht tot bleiben, sein Werk war ungetan, sein Zeichen unerfüllt, und nur unter seinem
Namen war es- nach den Weissagungen der damaligen Metho-
dius-Propheten - erfüllbar. Ein solch neuer (sehr viel höherer) 130
#Methodius war kurz vor Friedrich eben der Abt Toadlnı von hFiore: seine Schule sowie andere verbreitete Prophetien sahen in dem Kaiser das Zeichen der sozial-chiliastischen Wende. Der erregten Phantasie durfte der Kaiser nicht tot bleiben, er war zwar nicht in den Himmel gefahren, durchaus nicht, doch auch ebensowenig in die Hölle, überhaupt keinen (transzendenten) Ort, von wo es keine Rückkehr gibt. Sondern die Legende brachte den Kaiser in einen Berg, zuerst in den Ätna (vielleicht spukten
hier sizilianische Erinnerungen an die Empedoklessage nach), dann, auf dem Zug gegen Norden, in den Kyffhäuser. Alte, chthonische Bilder verbanden sich diesem uneigentlichen Grab: auf dem Kyffhäuser war in vorchristlicher Zeit ein Bergkult zu Hause, und der Berggott war ein Unterirdischer, wohnte in den Höhlen des Innern unter geheimnisvollen Schätzen. Friedrich I. setzte sich an seine Stelle und viel später erst tauschte der Ketzerkaiser seinen Platz mit Friedrich I. Barbarossa, dem Frommen, Unbedeutenden, dem romantischen Inbegriff banaler Reichsherrlichkeit im Stil Wilhelms »des Großen« (als welcher dort
jetzt sein Denkmal hat). Indes selbst die pervertierte Sage hat ihren ursprünglichen sozial-chiliastischen Zug darin erhalten, daß sich der Kaiser allemal nur einfältigen Leuten aus dem Volk zeigt. Ebenso ist ihr das alte Motiv verbunden, daß der Messiaskaiser, wenn er die Mächte der sozialen und Glaubensnot gedemütigt hat, sich selbst demütigt, abdankt, nach Golgatha zieht
und dort Krone, Zepter und Schwert niederlegt (vgl. Kampers, Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage, 1895, 8.104). Ähnlich wie Friedrich II. träumt auch Kaiser Karl, im Unters-
berg; ja wo immer das Werk eines geglaubten Retters nicht getan oder nicht zu Ende getan erscheint, hat der Volksglaube
aus dem
toten
Retter
einen bloß entschwundenen
gemacht,
einen Siebenschläfer, der auf seinen Tag wartet. Das Enttäuschungsmotiv selber ist auch heute so wenig erloschen, daß keiner
Vitalität, die in die Phantasie griff, ihr Tod gern geglaubt wird. Der Inhalt des alten Sibyllienspruchs: » Vivit, non vivit« belebt sich in der Folklore immer wieder frisch. Noch den Tod so moderner Figuren wie Napoleon, auch Ludwig II. hat eine ungesättigte Fama nicht wahr haben wollen: Napoleon lebte der Fama in der Maske eines Türkengenerals um 1822 fort, der
131
verblüffend erfolgreich gegen die Engländer losschlug, und von Ludwig II. behauptet eine bayrische Bauernlegende, er sei nach Amerika entflohen und kehre wieder mit einer schönen Frau,
wenn es seinem Bayernvolk am schlechtesten geht. Das Siebenschläfermotiv ist an Napoleon zwar durch die eines Scheintods und einer Flucht ersetzt, der St.Helena geworden (wie vorher, mit mehr Elba), aber das Pathos der Wiederkehr fehlt
aufgeklärte Finte Kyffhäuser ist zu Berechtigung, zu nicht und im Fall
Ludwigs II. nicht einmal das Pathos des verpuppten Retters. Das alles zeigt an, wie außerordentlich zäh das Urbild eines Retters verwurzelt ist, eine Reprise vergangener Glanzgestalten,
mindestens eine Reprise vergangener Glanzzeiten durch einen neuen Wiederhersteller. Hier sind auch jene reitenden Boten des Königs, die die Dreigroschenoper im letzten Augenblick erscheinen und alles wenden
läßt; womit
sie keineswegs nur
die billigen Lösungen der alten Oper oder der Kolportage persifliert. Daß die reitenden Boten sehr selten kommen und der Deus ex machina noch seltener, dies Versagen hebt, wie gerade der Hitlereffekt erwiesen hat, die alte Blickrichtung nicht auf. Ja sogar die eigentliche archaische Erweckungsmythe lebt noch, wenn auch in sehr abgeschwächter, analogischer, geschichtsklit-
ternder Form. Eben Napoleon dekorierte sich als wiedergekehrter Charlemagne, Hitler (wenn es überhaupt möglich ist, ihn im selben Atem zu nennen) zieht zum Grab Heinrichs des Löwen und erweckt damit Assoziationen für eine künftige »Inkar-
nation«. Kein Zweifel mindestens, daß beim Nazi von Anfang an gedacht war, den veriegenen Titel Führer bei halbwegs triumphaler Gelegenheit durch den Titel Volkskaiser zu ersetzen;
diese Gelegenheit allerdings kommt nicht mehr. Aber die alte Rettervision, die auf den Hund gekommene, hat dem Nazi doch
viel geholfen und erst recht die entscheidende Vision, in deren Dienst sie stand: — eben die vom Dritten Reich. Das diesseitige Evangelium
Das Glück sahen die Menschen meist dort, wo sie nicht sind. Essen, Wohnen, Lieben sind die einfachsten Orte, das hat sich
wenig gewandelt. Seit Klassen aufkamen, zweierlei Arten von 132
u \
Menschen, ist dies Glück für die ausgebeutete Art verkümmert oder gar verschwunden. Wo viel fehlt, gibt es viel Wünsche, viel Rausch in Wunschbildern, sonderlich in religiösen. Aber hier
gibt es Rausch in doppelter Gestalt: einen übers Elend tröstenden, einen erst recht dagegen gereizten. So finden sich entspannende Religionen, die durchs Jenseits trösten oder auch durch die Flucht in die Inwendigkeit; das Christentum hat mit beidem
viel geleistet. Doch wenn sich das Jenseits auf die Erde stürzen will und die Inwendigkeit in die Auswendigkeit, dann freilich entsteht, statt des Opiums, im subjektiven Faktor ein Sprengmittel ohnegleichen, ein Wille zum Himmel auf Erden. Auch dies Wollen war im Christentum, war in den mittelalterlichen
Weissagungen des erwähnten Abtes Joachim von Fiore, der gegen Ende des zwölften Jahrhunderts ein drittes Testament verkündete oder die fällige Barzahlung des zweiten. Es braucht hier nicht strapaziert zu werden, daß der solchergestalt erzeugte revolutionäre Rausch abstrakt und mythologisch war; daß er
keine Augen für die Wirklichkeit hatte und keine haben konnte; daß er lediglich den subjektiven Willen zur Veränderung der Welt, nicht aber eine irgend konkrete Methode zu dieser Ver-
änderung in Marsch setzte. Indes der Wille selber war gründlich genug, der Traum vom Dritten Reich heftig und anfeuernd bis in die Hussitenbewegung, bis in die Bauernkriege hinein. Nicht unwichtig ist es, in den Keller des so höllisch mißbrauchten Terminus zu steigen; ist er doch von Hause aus alles andere als
ein Folterkeller (er enthält eher zu viel Ladungen Liebe als zu wenig). Und zwar reichen die Fundamente dieses Traumes herab bis zu Origines, bis zu dessen Lehre von der dreifach möglichen Auffassung der christlichen Urkunden; einer leiblichen, einer seelischen, einer geistigen. Die leibliche Auffassung ist die
buchstäbliche, die seelische die moralisch-allegorische, die geistige aber offenbart aus den Umhüllungen der Schrift das in ihr
gemeinte »ewige Evangelium«. Rein kontemplativ kehrt die Lehre von den drei Erkenntnisstufen im zwölften Jahrhundert bei Richard und Hugo von St. Viktor wieder, den Zeitgenossen
des Joachim, den großen Psychologen des inneren Sinns. Hier erscheint die fleischliche Auffassung als cogitatio oder Erfassung der Körperwelt, die seelische als meditatio oder Erfassung der 133
ru
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Innerlichkeit, die geistige als contemplatio oder Erhebung zur visio beatifica Dei, ja zur Vergottung des Menschen. Die Vikto_ riner gaben derart eine Heilsgeschichte durchaus, einen mystischen Entwicklungsroman von Stufen und Reichen, fast ließe
sich sagen: eine erste Phänomenologie des Geistes; doch die Stufenfolge blieb eine des bloßen Individuums. Und die letzte Stufe stand nicht etwa bevor, das letzte Reich stand nicht in utopischer
Geburt, sondern war mitsamt seinem Objekt zu allen Zeiten fertig da. Wahrscheinlich hat eben foachim von Fiore die Viktoriner gekannt und ist sowohl von ihnen wie von Origines ausgegangen; großartig aber hat er die bloße Innerlichkeit beider aufgegeben. Er zuerst hat die Dreiheit der Standpunkte aus einer individuell-pädagogischen Folge zu einer der fortschreitenden,
der
unfertigen
Menschheit
verwandelt.
Was
in der
Mystik ein Stufengang der Seele, ein kohärentes Übergehen aus einem seelischen Zustand in den anderen, das wird von Joachim auf den ganzen Menschheitsprozeß projiziert; es erscheint so ein
Stufengang der Geschichte durch die Grade der geistigen Vervollkommnung hindurch; und diese Grade sind nicht von ein-
zelnen Menschen, sondern nur von ganzen Zeitaltern jeweils erreichbar (vgl. Grundmann, Studien über Joachim von Floris, 1927,9. 131 f.). Diese Behauptung sprach Joachim als erster aus,
obwohl spätere Anhänger seiner Lehre auch einen seiner Zeitgenossen, den großen pantheistischen Materialisten Amalrich von Bena (um 1200) gleichfalls als Zeugnis anführen. Auch Amalrich soll die Erleuchtungsgrade nicht als individuell erlang-
bare angegeben haben, sondern als historische: der Vater sei durch Abraham Mensch geworden, habe sich im Alten Testament offenbart, der Sohn sei durch Christus Mensch geworden,
habe sich durchs Neue Testament offenbart, jetzt aber stehe das Zeitalter des Geistes bevor, und das christliche Sakrament habe zu verschwinden wie das jüdische Gesetz verschwunden sei. Aber daß Amalrich diese historische Folge wirklich gelehrt habe, ist aus den erhaltenen Quellen nicht entscheidbar. Die Lehre stimmt auch nicht mit dem antichristlichen Pathos Amalrichs zusammen, das in Gesetz und Sakrament keine Vor-
stufen seiner, sondern nur Lüge gesehen haben dürfte. So geht die Terminlehre authentisch nur von Joachim aus, und mit
134
seinem Namen, aus seinem Werk vor allem hat sie in die Zu-
kunft gewirkt. Dreimal also glüht das Licht auf, und es brennt immer genauer. Hierbei ist die Lehre Joachims vom dritten Status, dem dritten Reiche diese: Das erste Zeitalter war das der Knechtschaft des Gesetzes, das des Vaters und seines Alten Testaments, der Laien und Verheirateten. Das zweite Zeitalter ist ein Mittelzustand zwischen Fleisch und Geist, es wird eröffnet durch den Sohn und und ihren der Welt Mönchen
sein Neues Testament, ist beherrscht von der Kirche Klerikern. Das dritte Zeitalter aber, das dem Ende vorhergeht, steht jetzt in der Geburt; es wird von bewohnt, das ist, von den viri spirituales, von der
»Freiheit des Geistes«. Der Buchstabe des Evangeliums Christi mit seiner Kirche und seinen Klerikern wird vergehen, die urchristliche Gemeinde fährt vom Himmel auf die Erde, kommu-
nistische Bruderschaft und Friedensreich beginnen. Das erste Zeitalter war das der »Furcht und Erzählung«, das zweite das der »Forschung und Weisheit«, das dritte aber wird das der
»Liebe und Erleuchtung« sein, des totalen Pfingstfestes, der »Ausgießung des heiligen Geistes«. Das erste Zeitalter lag in der Nacht der Sterne, das zweite in der Morgenröte, das dritte wird der volle Tag sein, mit dem heiligen Geist nicht von Gottvater her, sondern vom Menschensohn (Joachim, Concordia 5,
Cap. 77). So fremdartig dem heutigen Revolutionär diese Kategorien klingen mögen (noch befremdlicher als die erinnerten Kaisergeburtstagsfeiern des vorigen Abschnitts), so wenig darf man sich dadurch abschrecken lassen, den Glücks- und Freiheitshunger, die Freiheitsbilder entrechteter Menschen in diesen Träumen zu bemerken und auszuzeichnen. Der Sozialismus hat eine phantastisch-großartige Tradition; fehlt ihm auf so frühen Stufen, wie selbstverständlich, jede Art von ökonomischem Blick, so doch nicht einer seiner anderen Grundzüge: die Humanität und
den ihr verbundenen Adventsblick. Joachitisch ist der Satz: »Man schmückt die Altäre, und der Arme wandelt in bitterem Hun-
ger«; joachitisch die Ablehnung der »Furcht des Herrn«. Selbst das kommende
»Zeitalter der Mönche« ist nicht so sehr als ein
asketisches gedacht denn als ein eigentumsloses und brüderliches, als allgemeiner Kloster- und Konsumtionskommunismus. 135
Ja, die mönchischen Prophezeiungen wurdenin der Schule Joachims (er hatte einen eigenen Orden gestiftet) derart mit dem
Diesseitsglanz
eines
»tausendjährigen
Reichs«
tingiert,
daß gerade die spirituale Strenge zu einer der Lebensfreude
wurde und den ganzen Leib ergriff. Dieses Sinnes verkündete Telesphorus von Cosenza Ende des vierzehnten Jahrhunderts: Gott sei darum Mensch geworden, damit der ganze Mensch in sich glücklich werde, und nicht nur der innere, sondern »alle Augen, Ohren, Münder, Hände, Füße, Lebern, Nieren«, kurz die
Vollkommenheitszeit sollte mit dem geistlichen auch das gesamte
irdische Glück entbinden.
Noch
viel irdischer als das
franziskanische Gebet an Bruder Sonne klingt derart der joachitische Hymnus bei Telesphorus: »O vita vitalis, dulcis et amabilis, semper memorabilis«, o lebendiges Leben, süßes und liebenswertes, immer gedenkenswertes. Wurde dieser Gesang der
joachitischen Bewegung sozusagen nur latent an der Wiege gesungen, so ist wenigstens die Nähe zu einer neuen irdisch-
geistlichen Verschlingung und Glückslaufbahn bei Joachim be-
reits völlig manifestiert: der Weg von der servitus legis zur libertas amicorum geschieht in dieser Welt. Das ist die eigentliche Kühnheit Joachims: er hat die aufs Jenseits fixierten Blicke auf eine irdische Zukunftszeit gerichtet und sein Ideal nicht im Himmel, sondern auf der Erde erwartet. Er hat die Freiheit der neuen viri spirituales nicht als Freiheit von der Welt, sondern für eine neue Welt verkündet, und wenn er die Erde unter
strenge christförmige Forderungen stellte, wenn
er die laxe
Zweiweltenlehre des laxeren Katholizismus durchbrach, wenn
er religiös-indifferente Kultur im Dritten Reich nicht kannte und im zweiten bereits nicht anerkannte, so nur deshalb, damit
das Jenseits verspeist und das Liebeswort hier unten bereits Fleisch werde: — das Reich Christi ist von dieser Welt, sobald
diese Welt eine neue geworden ist. Das ist die fortwirkende, bis zum Bauernkrieg revolutionär fortwirkende Kühnheit Joachims und die Substanz seiner Gedankenwelt. Wobei zu erwähnen ist,
daß) auch dem höchsten poetischen Richter seiner Zeit Joachim genug getan: Dante versetzt ihn, den »Sehergeist«, in die Sonnensphäre des Paradieses, zu den Heiligen der Erkenntnis (Par. XII v. 140f). Joachim hat aber nicht nur die mystische 136
jStufenlehre der Erkenntnis, sondern auch deren letzten Inhalt so , umgeschichtet, daß er, statt in die Diesseits-Jenseits-Beziehung, eingelagert ist in ein immanentes Geschichtsbildmit diesseitigem, mindestens mit herabfahrendem Himmel. Ebenso revolutionie-
rend zu seiner Zeit wirkte der von Joachim ausgehende »Spiritualismus«, das ist die Auslegung der Bibel (des Buchstabens)
gemäß dem »innerlich treibenden Geist«. Nemo audit verbum nisi spiritu intus docente — dieser orthodoxe Grundsatz wurde von den Joachiten bereits, als den ersten »Schwarmgeistern«,
dermaßen übersteigert, daß die Schrift, ja alles Auswendige und Überlieferte überhaupt, dem Deutungsbelieben des »inneren Worts« übergeben wurde. Indes das Belieben des inneren Worts war in Wahrheit gar keines, sondern der Geist, der leuchtete,
war genau so wie der Geist, der trieb, beiden damaligen Spiritualisten ausschließlich auf den Impetus und den Wunschinhalt der Revolution orientiert. Wie die viri spirituales als Bürger eines kommunistischen Zeitalters gedacht waren, so war das innere Wort der »Schlüssel Davids«, um in der Bibel »die Offenbarung der Freiheit der Kinder Gottes« aufzuschließen und alle Hindernisse zu dieser Offenbarung zu verriegeln. Hat doch das Christentum, vom ökonomischen Anlaß her, darin seinen Unterschied zu allen übrigen Religionen, daß es als Ideologie der Unterdrückten begonnen hat; dieser rebellische Anfang kam trotz seiner sofortigen Ablenkung (ins Innere), trotz seiner späteren Verdeckung und Umkehrung durch die Kirche nie mehr
ganz aus der Welt. So daß auch Joachims Gedanke vom dritten Zeitalter und Reich unpervertiert unter den Ketzern lebendig blieb, ja noch von Lessing mit unmittelbarer Erinnerung an die Schwärmer des dreizehnten Jahrhunderts
zitiert werden konnte.
Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts« brachte eben die joachitische Stufenlehre in die Aufklärung und-ihre Toleranz; das »Elementarbuch«
des Christentums beginnt ausstudiert zu
sein, es beginnt eine Art Metareligion aus Vernunft.
»Hüte
dich«, mahnt derart Lessing, »du fähigeres Individuum, der du
an dem letzten Blatte dieses Elementarbuches stampfest und glühest, hüte dich, es deine schwächeren Mitschüler merken zu lassen, was du witterst oder schon zu sehen beginnst.... Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums,
|
137
die uns selbst in den Elementarbüchern des neuen Bundes versprochen wird. Vielleicht, daß selbst gewisse Schwärmer des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts einen Strahl dieses
neuen ewigen Evangeliums aufgefangen hatten und nur darin
irrten, daß sie den Ausbruch desselben so nahe verkündigten. Vielleicht war ihr dreifaches Alter der Welt keine so leere Grille, und gewiß hatten sie keine schlechten Absichten, wenn sie lehrten, daß der Neue Bund ebensowohl antiquiert werden müsse, | als es der Alte geworden... Nur daß sie... übereilten, nur daß | sie ihre Zeitgenossen, die noch kaum der Kindheit entwachsen waren, ohne Aufklärung, ohne Vorbereitung, mit Eins zu Män- | nern zu machen glaubten, die ihres dritten Zeitalters würdig wären.« Man sieht aus diesen erstaunlichen Worten: noch die deutsche Aufklärung wußte sich, in ihrem tapfersten und klarsten Kopf, der alten Dreiteilung zu bedienen, der » Aufhebung«
des Christentums Worts:
in einem
als einer Vernichtung
fast Hegelschen Doppelsinn des und Bewahrung
zugleich. Die
| Alten | sie ist |
patriarchalische Zeit war die Raupe, die Kirchenzeit die Puppe
der Vernunft, nun begrüßt sich die bürgerliche Revolution als
Schmetterling. Die Stufenteilung der Geschichte nach dem
und Neuen Testament ist gewiß selber die antiquierteste, von der wirklichen historischen Aufeinanderfolge, als einer von Klassengesellschaften, die entfernteste; doch das Ende eben, das dritte Zeitalter, proponierte
den gleichen
| | | |
|
|
| | Humanitätszustand
im Nebel und in Allgemeinheit, dem die sozialistische Revolu-
tion in Sonne und Präzision zusteuern will. Es überrascht daher nicht, daß der Dritte-Reich-Gedanke - bei Lessing noch so kräf- |
tig - mit dem Sieg der Bourgeoisie erlischt oder nur noch sporadisch und unverstanden vorzukommen pflegt. Sobei Schellingin
seinem Alterswerk, den oftreaktionären Vorlesungen über »Phi- | losophie der Offenbarung«; die joachitische Tradition, bei Les- | sing noch lebendig, war hier bereits so abgerissen, daß nur mehr das Schema, nicht aber der Inhalt der Abfolge erinnert geblieben
ist. Lediglich Epochen der Kirchengeschichte (weiter der »Potenzen in Gott«), nicht aber der gesamt-menschlichen werden
von Schelling in die drei Reiche geteilt. Petrus oder der Katholizismus gelten als Reich des Vaters, Paulus oder der Protestantismus als darauffolgendes Reich des Sohnes, Johannes hat für 138
.die Geistkirche der Zukunft sein Evangelium geschrieben (Schel-
ling selbst gibt in den Vorlesungen an, die »Übereinstimmung« dieser rein theologisch, ja gnostisch ausgedeuteten Folge mit Joachim von Fiore erst nachträglich entdeckt zu haben). Verblüffend erscheint das Dritte Reich sonach bei Ibsen wieder, im
Jugenddrama »Kaiser und Galiläer«, diesmal freilich aufs neue
mit einer Art Humanität verbunden, mit einem Vorklang der spätbürgerlichen »Emanzipation« im Jugendstil. Blaß und dennoch raunend ergeht hier die Symbolik der »drei Ecksteine der
Notwendigkeit«: der erste zwar ist mehr die Antike als das Alte Testament, der zweite das Christentum, der dritte die Synthese beider, die Durchdringung der »Schönheit und Wahrheit«. Kaiser Julian soll sie bringen, das Dritte Reich »froher Adelsmenschen« soll erscheinen -eine besonders bemühende Hoffnung im Anblick des heutigen Deutschland. Im Anblick Streichers, des Adelsmenschen, Hitlers, Görings, Goebbeis’ oder der Synthese von Wahrheit und Schönheit. Die Nazis aber haben den Terminus Drittes Reich — was nicht vergessen werden soll — ebenfalls literarisch überkommen; nicht aus Ibsen, wohl aber aus
Dostojewskij. Vielmehr aus dem rassigen Herrenparfüm, das Moeller van den Bruck, der Herausgeber des deutschen Dosto-
jewskij, von diesem halb zaristisch, halb prophetisch abgezogen hat. »Das Dritte Reich« schlechthin nennt Moeller sein Buch, es wurde ein »Hauptwerk« des Nazismus und hat die »Elite der Bewegung« viel stärker erfaßt, als Hitlers Stilübung, Rosenbergs Kompilation taten. » Afrika dunkelt herauf «das ist Moel-
lers angebliche Furcht; Preußen-Deutschland spielt er dagegen aus, auch den bekannten »Sozialismus preußischen Stils«. Die eigentümliche Verbindung, welche Dostojewskij zwischen seinen neubyzantinischen Spekulationen und der »Beiwohnung des heiligen Geistes« gestiftet hatte (beide geeint im »Gott tragenden russischen Volk«), — diese Anti-Voltaire-Welt ohnegleichen wurde von Moeller auf Deutschland übertragen, auf das Deutschland des Monopolkapitals, der beginnenden Krise, der drohenden Revolution. So kam das »Dritte Reich« von neuem zurecht,
doch welch ein anderes als das des Joachim und Lessing; glühende Finsternis fiel aufs Land, eine Nacht voll Blut und lauter Satan. Das also ist die » Wirklichkeit« deralten Liebes- und Geist139
u.
träume geworden; Lessings »rationales Evangelium« hier, Hitlers »Mein Kampf« dort. Einzigartig hat der Nazismus sowohl die ökonomische Unwissenheit wie das immer noch wirksame Hoffnungsbild, Chiliasmusbild früherer Revolutionen für sich mobilisiert. Chiliasmus freilich, das ist das letzte zu behandelnde Stichwort; die Lehre vom Tausendjährigen Reich war, wie Luther sagte, »aller Rottenmeister Gaukelsack«. Zu Luthers Zeiten freilich war der Chiliasmus ein Schlachtgesang der aufrührerischen Bauern, im gekommenen »Dritten Reich« von heute betäubt oder betäubte er - in völlig verschmutzter, pervertier-
ter, preisgegebener Gestalt -— die Opfer der Reaktion. Chiliasmus oder die Erde als Paradies
Niemals malte sich der Wunsch nach Glück in eine leere und durchaus neue Zukunft hinein. Immer sollte auch bessere Ver-
gangenheit hergestellt werden, freilich nicht eine eben vergangene, sondern die einer nachgeträumten schöneren Vorzeit. Und dies goldene Zeitalter sollte nicht nur erneuert, sondern durch ein noch namenloses Glück überboten werden. Es liegt nahe,
in diesen Träumen vom goldenen Zeitalter Erinnerungen an die Urkommune zu erkennen, besonders dann, wenn Reste ihrer (wie die Allmende) oder noch nicht zu lang Verlorenes (wie Freiheit der Jagd, des Fischfangs) das revolutionäre Lob der Urzeit unterstützten. Das war während der Bauernkriege deutlich der Fall: die Rückforderung der alten »Gemeindefreiheit« hat den Parzellierungswünschen einiger Gruppen entgegengewirkt, hat Münzers Parole: omnia sint communia gestärkt. Natürlich reproduziert das Bild vom goldenen Zeitalter keinen
wirklichen Anfang der Geschichte, keine irgend prähistorische Wirklichkeit; schon deshalb nicht, weil die Urkommune,
ihren unentwickelten
Produktivkräften,
mit
so paradiesisch nicht
gewesen sein kann. Aber die Hoffnung hatte an der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit der urtümlichen Gentes ihren ersten Anhalt, auch Inhalt. Den übersteigerte siemit rückwärts gewandter Utopie, den ließ sie aber erst recht aus der Zukunft sich wie-
der entgegengehen, aus der Zukunft des wiederhergestellten Paradieses. Damit eben beginnt der Mythos vom Tausendjährigen 140
‚Reich, von einer glücklichen Endzeit, der die Geschichte zustrebt, vielmehr: die die Geschichte für die »Gerechten« bereit hält. Der Mythos selber entstammt der Wechselwirkung zwischen ökonomisch-politischem Elend und Glanzerinnerungen
aus einer Vergangenheit, die eben — mit utopischer, nicht nur romantischer Glückssehnsucht - in eine möglichst nahe Endzeit
hinübergebogen wurde. Die heilseschatologischen Vorstellungen des prophetischen Judentums vor, besonders nach dem Exil, dürften diese Geschichtsutopien zuerst entbunden haben; aus dem Orient wanderten sie, lange vor dem Sieg des Christentums, ins kaiserliche Rom und verbreiteten die Hoffnung von
dem wiederkehrenden goldenen Aion. Was das Tausendjährige Reich des Genaueren angeht, diesen alten Hintergrund des Drit-
ten, so stammt sein ganzer Inhalt aus der Prophezeiung Jesajas, Kap. 30, 55 und 60, seine Chronologie aus dem Buch Daniel,
Kap. 7, der Nacht-Licht-Kampf seines Eintritts aus der Offenbarung Johannis, Kap. 20 und 21. Wilde persische Dualismen tobten sich in der Beschreibung Endzeit aus: Der Drache, die
alte Schlange, wird tausend Jahre gebunden und im Abgrund verschlossen, die Gerechten aber kommen von den Toten wie-
der und regieren mit Christus tausend Jahre; das ist die erste Auferstehung. Sind aber tausend Jahre vollendet, dann wird der Satan wieder losgebunden, er verführt die Heiden, die Völker
Gog und Magog zum letzten Streit, eine Zeit der letzten Drangsal und Verwirrung herrscht solange, bis das Feuer Gottes aus
dem Himmel auf die Feinde fällt, der Jüngste Tag und das Jüngste Gericht brechen an, die Hölle wird für die Sünder, ein neuer Himmel und eine neue Erde für die Erwählten bereitet; das ist die zweite Auferstehung. Die rasende Pedanterie
dieser Prophezeiungen hat alle revolutionären Bewegungen der Christenheit beschäftigt, bis hart an die Aufklärung; noch heute
geht sie bei den sogenannten Ernsten Bibelforschern um, bei den von Hitler verbotenen. Sind solche Angstträume des Heils wesentlich nur historisch beachtbar, so steht es anders mit dem Inhalt des Endreichs, besonders in der Gestalt, die ihm Jesajas
erträumt hat. Denn dieser Inhalt überrascht, bei aller Verstiegenheit, nicht nur durch seine vernünftige Reinheit, sondern mehr noch durch seinen Hedonismus, um nicht zu sagen, durch seinen
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/
humanen Materialismus. Man vergleiche folgende Sätze aus den angegebenen Kapiteln des Fesajas, die glückliche Endzeit betreffend: »Es wird deinem Samen, den du auf den Acker gesät hast, Regen gegeben und Brot von des Ackers Einkommen und davon volles Genüge. Und dein Vieh wird sich zu der Zeit weiden in einer weiten Aue... Wohlan alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser; und die ihr nicht Geld habt, kommt her, kauft und esset; kommt her, kauft ohne Geld und umsonst beides, Wein und Milch... Ich will Gold anstatt des Erzes und Silber anstatt des Eisens bringen und Erz anstatt des Holzes und Eisen anstatt der Steine; und ich will zu deiner Obrigkeit den
Frieden machen und zu deinem Herrn die Gerechtigkeit... Aus dem Kleinsten sollen Tausend werden und aus dem Geringsten ein mächtiges Volk.« Soweit Jesajas, soweit der primitiv-sozialistische Inhalt des erträumten Bundes zwischen Gott, Mensch,
Tier und allem Dasein. Alle späteren Ausmalungen des Tausendjährigen Reichs in der Sekten-Theologie folgen dem Jesajas nach. Langes Leben wird prophezeit, Sünde und Tod sind geschwächt, der Leib erlangt ungeahnte Kraft, der Acker trägt tausendfältige Frucht, die Wüste wird in Fruchtgärten umgewandelt, die gesamte Natur in ein menschliches Haus, gottähn-
liches Dasein beginnt in Unschuld, Frieden und durchdringender Freude. So sichtbar also die Vertröstungen und passive Phantasterei, so sichtbar ist in diesen Gebilden auch die klassenfeindliche Ketzerei, soll heißen: der Maßstab, den sie an der christlichen
Kirche, gar an den christlichen Staat anlegen ließ. Folgerichtig wurden die chiliastischen Diesseitshoffnungen von der offiziellen kirchlichen Lehre bald verworfen, am energischsten von
Augustin: das Feuer wurde abgestumpft, der Maßstab entsozialisiert. Denn nach Augustin beginnt das Tausendjährige Reich bereits mit Jesus; daß sich ein Mensch zu seinem Erlöser bekennt, das bereits ist die erste Auferstehung. Das Reich, worin die auferstandenen Gerechten mit Christus herrschen, ist einzig die kirchliche Gemeinschaft der Gläubigen, der irdische Gottesstaat, die civitas Dei terrena. Die zweite Auferstehung und das
Jüngste Gericht haben demgemäß keine Bedeutung für die Geschichte der Menschheit, sondern nur für die einzelne Seele — das Gottesreich auf Erden ist und bleibt die sich ausbreitende
142
Kirche. Dem Staat selbst machte Augustin durchaus den Prozeß, und zwar sowohl als Kirchendenker wie als Philosoph der christ‚ lichen Inwendigkeit, in den historischen Staatsgebilden, einschließlich Rom, erblickt Augustin nur eine Gemeinschaft der Verdammten, eine durch Zwietracht geteilte. Hier allein ist
Weltgeschichte (nämlich sukzessiv sich verschärfende Trennung zwischen dem Sünder- und Gnadenreich). Heilsgeschichte aber ist keine Weltgeschichte, sondern lediglich individuelle, ebenso
ist Zukunft einzig das individuelle Jenseits. Augustin hatte allen Anlaß zu dieser Abdankung des Tausendjährigen Reichs, denn der Chiliasmus war in der frühen Kirche durchaus nicht erlo' schen. Bereits im zweiten Jahrhundert n. Chr. war gegen die »verweltlichte
Kirche«
ein »Prophet«
aufgetreten,
der Der-
wisch Montanus, hatte ein urchristliches Gemeinwesen begrün' det, das, von der Welt abgeschieden, auf das Herabfahren des
' oberen Jerusalem sich bereiten sollte. Im dritten Jahrhundert ' trat der unruhig-strenge Montanismus einen Siegeszug durch die Welt an; erst gegen Ende des vierten Jahrhunderts wurde der Chiliasmus ausgeschieden, er galt von da ab durchgängig als Ketzerei. Gerade dadurch aber sprach der kirchlich verbotene Iraum die Aufrührer besonders an. Er lockte doppelt verwandt nach vor-
wärts, und die Ablehnung durch die Herren verbriefte ihn. Daß ' aber die Phantasien des Tausendjährigen Reichs auf Erden, des ' neuen Jerusalem, trotz Kirchensiegs nicht austilgbar waren, daß sie im Bund mit der sozialen Not fort und fort aufpeitschten, das haben viel später, in sozialrevolutionären Epochen, das Münster der Wiedertäufer, vor allem das Tabor der Hussiten bewiesen.
Die Hussitenbewegung
bezeichnet
das erste Heldenzeitalter
einer kommunistischen (kommunistisch gemeinten) Revolution; in ihrer ideologischen Mitte jedoch stand eben der Chiliasmus, als Lehrer vom möglichen Diesseits des Jenseits. Seine
Taboritenprediger
verkündeten
ganz im jesajischen Stil das
Zionsreich der Freiheit und Gleichheit für die »Gerechten«, für die in den paradiesischen Stand der Unschuld zurückkehrenden. Nur in dieser Hoffnung wurde Tabor gegründet - ein NeuJerusalem, worin der christliche Liebeskommunismus der Urgemeinde erneuert werden sollte: keine Stände, keine Herrschaft,
143
kein Sondereigentum,
keine Steuern; ein demokratisches
Ge-
meinwesen unter Gott als dem mystischen König. Daß die Sektenpolitik dieser Zeiten durchaus keine paradiesische Unschuld gebracht hat, sondern der Manufaktur sich eingliederte, ja die
Ideologie zu den reinsten Formen des Kapitalismus lieferte (England, Amerika), ist bekannt. Die materielle Logik der damaligen Produktivkräfte war stärker als der urchristliche Moralwilleund der apokalyptisch-revolutionäre Glutpunkt im falschen
Bewußtsein. Dennoch wäre die Hussiten- und Täuferbewegung überhaupt nicht in Gang gekommen, wenn der Chiliasmus sie nicht ideologisch entzündet hätte; wenn er der Revolution nicht
die scheinbar objektive Gewißheit zur subjektiven hinzugefügt hätte. Der Chiliasmus
(wie übrigens auch die astrologischen
Weissagungen des ausgehenden Mittelalters von einer »notwendigen« Wende der Zeit) vertrat damals sozusagen die Wis-
senschaft von der Revolution, nämlich deren Objektivität und Unausweichlichkeit; die Zeit wurde als nicht nur subjektiv, sondern als objektiv reif zur Revolution erfahren, die Revolution stand »im Termin«, die himmlische Gerichtsuhr schien sie
anzuschlagen. Die Förderung des Aufruhrwillens durch solche Widerspiegelungen und Verankerungen seiner kann gar nicht überschätzt werden, und auch dieses steht fest: es war nicht der Chiliasmus, der das ökonomische Bewußtsein, die konkrete Beherrschung der Wirklichkeit damals verhindert hat. Er stand diesem Bewußtsein durchaus nicht im Wege (wie etwa ein Kurpfuscher dem Arzt im Wege steht und dessen rechtzeitiges Ein-
greifen verhindert), sondern: rein aus ökonomischen Gründen war damals kein ökonomisches Bewußtsein vorhanden, und wenn der Chiliasmus nicht gewesen wäre, so wäre auch kein revolutionäres Bewußtsein vorhanden gewesen, folglich überhaupt keine Revolution. Und nicht wegen des Chiliasmus ging diese Revolution zugrunde oder lief zur Manufakturperiode,
gar zum puritanischen Kapitalismus aus. Sondern umgekehrt: der Chiliasmus hat - in rationalisierter Gestalt — bis zur Französischen Revolution, wo nicht länger, weite Massen dazu angefeuert, daß sie mit ihrem derzeitigen »Schicksal« sich nicht
abfanden, daß sie revolutionäre Handlungen für den »Durchbruch des Reichs« begingen. Die geringe oder gänzlich fehlende
144
Übereinstimmung dieser Handlungen, auch Zielbestimmungen
mit der Wirklichkeit liegt gewiß auf der Hand, ja gibt späten Chiliasmen wie denen Weitlings, gar Fouriers, vom marxistischen Standort zuweilen ein Kurioses. Eben weil sie in Zeiten,
denen ökonomisches Bewußtsein möglich geworden ist, Gegenwart wie nächste Zukunft als weiße Flecke oder unentdeckte Landstriche behandelten; weil sie statt der Löwen, womit die alten Kartographen ihre weißen Flecke ausgeziert hatten, über-
schwängliche Palmzweige oder andere Abstraktionen bloßer Wunschphantasie einzeichneten. Dennoch darf Phantastik weder die Gewalt alter Träume verdecken noch die Sprengkraft, welche diesen - zum Bösen wie zum Guten - immer noch innewohnt. Die Sprengkraft war überall dort, wo die Verheißung
nicht quieszierend wirkte, nicht wie innerlich-geistliches Lametta oder gar wie kontemplatives Geflunker, sondern aufreizend wie ein vorenthaltenes Gut und einleuchtend wie Schlaraffenland. Bis allerdings auch hier ein Rattenfänger erschien, »in zwölfter Stunde«, und ebenso herrlichen Zeiten entgegenführt wie sein
Vorgänger, nämlich dem Krieg. Keine Schwerter werden von Hitler zu Sicheln, keine Lanzen zu Pflugscharen geschmiedet;
eher umgekehrt; dafür dauert das neue Tausendjährige Reich gleich mehrere hunderttausend Jahre, angeblich ohne Jüngstes Gericht. Ein riesiges Maul, ein Maul wie eine Blutschüssel trinkt den Behälter der gesamten Zukunft leer. Genau so vortrefilich wie der Messiaskaiser, wie das Dritte ist so auch das Tausend-
jährige Reich in Deutschland verwirklicht. Es gibt deutschen Sozialismus, ausgeübt von viri spirituales ohnegleichen; es gibt Reichsbankwechsel aufs dritte Evangelium, zahlbar in Reich-
Gottes-Währung. »Ich will zu deiner Obrigkeit den Frieden machen und zu deinem Herrn die Gerechtigkeit« — dies Wort aber scheint von der deutschen Überrasse noch nicht ganz erfüllt. Und auch sonst hat das Dritte Reich Hitlers mit dem erträumten des Joachim von Fiore ungefähr dieselbe Ähnlichkeit wie sein Sozialismus mit dem Reich der Freiheit.
145
Fazit für einen Teil der konkret-utopischen Praxis Alles fließt, aber der Fluß kommt jedesmal von einer Quelle her. Er nimmt von den Gegenden, die er durchlaufen hat, Stoffe mit,
diese färben sein Wasser noch lange. Ebenso sind jener neuen Form Reste einer älteren, zwischen Heute und Gestern ist kein
unbedingter Schnitt. Es gibt keine völlig neue Arbeit, am wenigsten als revolutionäre; die alte wird nur klarer weitergeführt,
zum Gelingen gebracht. Die älteren Wege und Formen werden nicht ungestraft vernachlässigt, wie sich gezeigt hat. Besonders Träume, auch die allerwachsten, haben eine Vorgeschichte, und
sie tragen sie mit sich. Bei zurückgebliebenen Schichten sind diese Reste besonders stark und oft vermufft, doch auch die revolutionäre Klasse ehrt ihre Vorläufer und hört sie noch. Die alten Formen helfen zum Teil, wenn richtig eingesetzt, am Neuen mit. Daß sie äußerst wirksam sind, hat der Feind besser als die
Freunde bemerkt. Es ist fällig, einiges Alte wieder zum Eigenen zu schlagen, das Gebot der Stunde drängt dazu. Der weiche Hochmut, womit ein Kautsky über »Helden« oder »Pröbchen
apokalyptischer Mystik« lächelte und nichts als lächelte, ist theoretisch-praktisch zu Ende. Selbst ein so absurd und undemokratisch erscheinendes Gebilde wie der alte Führertraum (um den »revolutionären« Kaisertraum außer acht zu lassen) stellt sich in der Praxis —- mutatis mutandis — nicht als so dumm dar. Die revolutionäre Klasse und ganz sicher die revolutionär
noch Unentschiedenen wünschen ein Gesicht an der Spitze, das sie hinreißt. Einen Steuermann, dem sie vertrauen und dessen Kurs sie vertrauen; die Arbeit auf dem Schiff geht dann leichter. Die Fahrt ist sicherer, wenn nicht jeder jeden Augenblick die
Richtung nachzuprüfen für nötig befindet. Das alles hat die Praxis erwiesen, bei bestem demokratischem
Gewissen;
auf dem
Marsch muß eine Vorhut und eine Spitze sein. Solange der Marsch noch theoretisch ist, tritt sie nicht so in Erscheinung, doch in seiner Verwirklichung sogleich. Das Kommunistische
Manifest enthält noch kein Wort von Führern, oder nur zwischen den Zeilen, gleichsam im mitgegebenen Dasein seiner Verfasser, derer, die es erlassen haben. Doch sobald das Manifest realisiert zu werden begann, leuchtete neben den stiftenden 146
; Vätern des Marxismus der Name Lenin auf, und die Erscheinung ‚Dimitroffs in Leipzig hat der Revolution mehr geholfen als tausend Breittreter oder Referenten in Versammlungen. Derart menschliche Dinge wie die Revolution lassen sich ohne sichtbare Menschen, ohne das Bild wirklicher Personen (nicht Götzen) kaum durchführen. In der klassenlosen Gesellschaft mag und
wird das überflüssig, ja völlig anders sein. Die weiteren Träume der alten Zeit, die noch nebligen, sind nicht auch die sichersten. Hat sich doch unter ihrem Namen gerade das völlige Gegenteil eingestellt, das Gegenteil nicht des Nebels, sondern des Traums. Muß aber deshalb der Keim mit der Hülle preisgegeben werden, oder ist es nicht so, daß auch der ITraumkeim, recht herausgearbeitet, das ungeheure Falsifikat widerlegt, das die Nazis mittels der Nebelhülle hergestellt haben? Die Frage ist praktisch und sie kommt gerade im Zeichen der beginnenden deutschen Volksfront zurecht, spezieller: des christlichen Antifaschismus innerhalb der Volksfront. Kurz vor
Hitler hat in Berlin eine öffentliche Diskussion stattgefunden, zwischen dem Halb- und Edelnazi Hielscher, dem Jesuitenpater Przywara, dem protestantischen "Theologen Dehn, über das Thema »Reich und Kreuz«. Da stellte Dehn (der damals bereits
von den Nazis verfolgte) aus seinen christlichen Prämissen fest, ‚ daß das imperialistische Nazireich »die Ideen des Friedens und
der Gerechtigkeit nirgends berücksichtige«; ja er spielte gegen die Öde dieses Reichsbegriffs die kommunistische Lehre aus, sofern in dieser doch immerhin heilsgeschichtliche Erwartun-
gen nachklängen. Das Nazireich aber sei bar jedes menschlichen Inhalts, es komme aus dem Dunkel bloßer Triebe, aus der Gerissenheit bloßer Kapitalsinteressen, die dieser Triebe sich bedienen, und gehe ins Dunkel wieder zurück. Es lasse sich nicht substanzieren, zum Unterschied von der kommunistischen Reichsidee, von der »Idee« der klassenlosen Gesellschaft, bei der ; es sich nicht zuletzt um eine aktuelle Umwandlung altchrist-
licher und theologisch-ketzerischer Fixierungen handle. Soweit Dehn; soweit die Neutralisierung, ja mögliche Sympathie dieser * Männer für den Kommunismus.
Wie immer dessen »altchrist-
liche Bestimmung« berichtigt und zurechtgewiesen werden mag: hier ist der wichtigste Berührungspunkt zwischen christlichem
147
und kommunistischem Antifaschismus. Es ist das Amt der kammunistischen Propaganda (genauer: der revolutionären Traditionskompagnie, die sie mit sich zu führen hat), an dieser Stelle nach dem Rechten zu sehen und die abergläubige Scheu der
Frommen vor der »Gottlosenbewegung« zu korrigieren. Ohne daß die Probleme des Atheismus bereits berührt werden müßten, ohne die mindeste Verlegenheit, gar Unredlichkeit hat solche Propaganda unter Bekenntnischristen und humanen Katholiken Platz. Viele Vorläufer des Sozialismus waren es aus Christentum; das verbindet beides, das ist eine gemeinsame Wegstrecke zu dieser Zeit. Und spätere Zeiten, worin die bisherige Religion abgestanden sein wird, werden der Kraftquelle leichter gerecht werden, die in der »Freiheit der Kinder Gottes« neben aller Vertröstung und Ausbeutungs-Ideologie floß. Die Frage wurde bereits gestreift, ob nicht gerade der Nebel die alten Träume den Braunen so dienlich machte. Zweifellos hat die ökonomische Unwissenheit den Nazis ihren Betrug erleichtert, zweifellos haben sie die alten dunklen Worte höchst
demagogisch ausgenutzt. Aber viel wichtiger ist die Frage, ob diese Benutzung,
dieser Mißbrauch
nicht gerade deshalb
so
leicht gelang, weil die echten Revolutionäre hier nicht Wache gestanden haben. Ökonomische Unklarheit, kleinbürgerlicher Muff und mystizistischer Nebel gehen gewiß trefflich zusammen; eines steht dem anderen bei. Aber deshalb brauchen ökonomische Klarheit und Kritik des metaphysischen Scheins noch
nicht den gesamten Umfang und Inhalt der irrational bezeichneten Gehalte a priori zu desavouieren. Das hatte zu Voltaires Zeiten einen revolutionären Sinn, heute aber dient es, wie der deutsche Effekt erwiesen hat, fast ausschließlich der Gegenrevolution. Es ist auch gar kein Realismus in diesem Mechanismus
des Nein; konträr: große Schichten der sozialen, ja physischen Wirklichkeit
werden
durch
die
mechanische
Banalität
aus-
gekreist. Die Zeiten dieser Borniertheit sind vorüber, das Verständnis wie die Anwendung des Marxismus erlangen immer vollere Gegenständlichkeit, immer größere Weite und Tiefe. Zugleich aber —- und das ist jetzt bereits, an der Schwelle, wichtigtzu
betonen - zugleich aber richtet die erlangte Weite und Tiefe irrationale Verblasenheit viel gründlicher und kenntnisreicher, 148
als der Aufkläricht
je hierzu imstande
war. Ja, sollte das
Unwahrscheinliche geschehen, daß infolge der Antibanalität der
‚ Mystizismus weiter aufholt, dann wird gerade das Wissen der Weite und Tiefe selber, als solches, an die Spitze der Opposition treten, der Opposition gegen den Mystizismus. Denn mystizistische Banalität ist um kein Haar besser, wohl aber um eine
ganze verkitschte Künstlermähne widriger als die rationalistische; Mystizismus ist die unwissende Karikatur der Tiefe, wie
der Aufkläricht die viertelsgebildete Karikatur der Klarheit war. Vernunft ist und bleibt das Instrument der Wirklichkeit,
freilich jedoch konkret-materialistische Vernunft, die dem Ganzen der Wirklichkeit gerecht wird; folglich auch ihren kompli-
zierten und phantasievollen Bestandteilen. Wonach rechter Begriff also weiß, daß die schwierige Fahrt der Welt, daß die vielen Unaufgelöstheiten ihrer Vergangenheit, daß die noch nicht erschienenen
Horizonte
ihrer Zukunft, — daß alle diese
Bestandmomente zur dialektisch-realen Tendenz keine Objektive der Realschul-Aufklärung darstellen und ebensowenig der
Martin Buber- oder Keyserling-Mystik. Gründliche philosophische, das heißt wahrhaft marxistische Vernunft richtet und berichtigt sich im gleichen Akt wie ihr Gegenspiel: die Windbeutelei,
den Mystizismus. Von diesem lebten die Nazis, doch sie konnten eben nur deshalb so ungestört mit ihm betrügen, weil eine allzu abstrakte (nämlich zurückgebliebene) Linke die Massenphantasie unterernährt hat. Weil sie die Welt der Phantasie fast preisgegeben hat, ohne Ansehung ihrer höchst verschiedenen Personen, Methoden und Gegenstände, zugespitzt gesagt: ohne ‚rechte Differenzierung zwischen dem Mystiker Eckart und
dem »Mystiker« Hanussen oder Weißenberg. Es ist aber ein währender Unterschied zwischen der Prophezeiung aus Kaffeesatz und jener anderen Meister Eckarts, im »Sermon von der
Geburt«, über die verborgene Herrlichkeit des Menschen: »Ich werde in mir etwas gewahr, das erglänzt in meiner Vernunft; ich empfinde wohl, daß es etwas ist, aber was es ist, das kann ich nicht erfassen; nur soviel dünkt mich: könnte ich es erfassen, ich
wüßte alle Wahrheit.« Es ist dies das gleiche menschliche Herrlichkeitsgefühl, welches nachdem Thomas Münzer, den Jünger Eckarts, Taulers, Susos, zum Ideologen des Bauernkrieges
149
in
WENN Ex
gemacht hat; welches über Hunger und Skorbut hinaus gegenndie Verhältnisse protestieren ließ, worin der Mensch, nach Marxens Worten, ein gedrücktes, verächtliches, verschollenes Wesen geworden ist. Die deutsche Mystik des Mittelalters mit ihrer
Laienpredigt, ihrem praktischen Christentum,
ihrem Drang
nach der »Offenbarung der Freiheit der Kinder Gottes« stammt
aus frührevolutionären Bewegungen des Bürgertums. Und der vorhandene Nebel war keiner des gesamten Inhalts; dieser enthielt vielmehr zielsetzendes Licht, dasselbe, das Münzer ganz reziprok, mit wechselseitigem Funktionszusammenklang seines Aufruhrs und seines Christentums im »Hochverursachten Auf-
ruhr« sagen ließ: »So anders die Christenheit soll recht aufgerichtet werden, so muß man die wuchersüchtigen Bösewichter wegtun.« Derart ist der Nebel durchaus nicht ein und alles in den alten Träumen (seien es die politisch-chiliastischen, seien es die nur scheinbar individuellen der mystischen Knechtzerbre-
chung, Sohnwerdung, der Ladung mit immanenter Herrlichkeit). So paradox es daher klingen mag: Ein großer Teil des revolutionären Stolzes kam erst durch die deutsche Mystik in die Welt, und christlich-humane Utopie spielte ihr vor. Immer wieder freilich muß zwischen Nebel und Licht unter-
schieden werden, und das Licht berichtigt sich auch. Das gilt besonders für die weitere Folge der utopischen Träume, für die Verengerung, welche sie in den sogenannten Staatsmärchen der
Neuzeit gefunden haben. Sie reichen von Thomas Morus bis Weitling, um nach Marx ernsthaft zu erlöschen; Wissenschaft löste sie ab. Über die Hälfte ist diese konstruktive Form der
Utopie subjektives Besserwissen gewesen, undialektisches Postulat, mythologische Übertragung eines unbewußten Klasseninteresses in die »Endzeit« oder in ein »Fernland« überhaupt. Aber der Antrieb wie der Hintergrund dieser Gebilde ist hier
gleichfalls ein anderes als die Hülle, in die sie sich kleiden. So sicher daher die Mängel des abstrakten Wesens feststehen, so ökonomisch der Sozialismus von solcher Art Utopie zur Wissen-
schaft fortgeschritten ist, so wenig darf doch auch hier der Kern mit der Hülle verwechselt werden, so wenig wird er mit ihr ver-
nichtet. Lenin hat sogar im Begriff der Ideologie einen guten Kern herausgearbeitet, einen Kern ohne Nebel und Betrug, und
150
R_ er hat ihn pointiert, als er den Sozialismus die Ideologie der Ar; beiterklasse nannte. Ebenso fällig ist die Rettung des guten Kerns der Utopie (als eines Begriffs, der höchstens im Nebel, niemals im Betrug lag); die konkret-dialektische, die in der wirk-
lichen Tendenz erfaßte und lebendige Utopie des Marxismus ist diese Rettung. Die undialektisch herangebrachte Träumerei war der Nebel der Sache, und im Nebel lagen — obwohl mit
Unterschieden — alle die Wunschzeiten und Wunschräume der
alten Utopie. Auch enthielten die Phantasmagorien, welche die Sehnsucht
nach einer besseren
Welt in Zukunftszeiten
oder
ferne Inseln oder unzugängliche Täler projizierte, überwiegend nur die jeweiligen Klasseninhalte der jeweils unterdrückten Klasse (wenn auch transparent für klassenlose Ahnungen überhaupt). Auch standen die meisten alten Utopien in der ihnen
gegebenen Wirklichkeit still, sie schlugen aus ihr gleichsam nur das Phlegma nieder und destillierten den Spiritus heraus, sie kannten keinen Prozeß und keine Totalität der Erneuerung. Die
konkrete Utopie des Marxismus dagegen läuft mit dem Prozeß der Produktivkräfte zu klassenloser Gesellschaft schlechthin in
der Tendenz. So stößt der Marxismus, bei sorgfältigster Vermittlung mit der materiellen Tendenz, ins noch nicht Gekommene, noch nicht Verwirklichte vor. Selbst das Glück, das ' marxistisch seine Laufbahn hat, ist nicht das einer bereits vorhandenen und nur reichlicher zugeteilten Art: wie die »Seligkeit« in den geistlichen Utopien, wie die Langeweile eines dau-
ernden Sonntags in den bürgerlichen. Die marxistische Hoffnung dagegen ist auch hier so produktiv, daß sie sich auf bloße mythologische Verlegungen eines bereits Gegebenen, obzwar relativ besser Gegebenen nicht einläßt. Der Marxismus lehrt, daß
alles bisherige Glück in der bloßen Vorgeschichte, bestenfalls in der Andeutung des Rechten steht; er hält sein Diesseits, sein leibhaftiges Diesseits als ebenso offenes wie noch unermessenes.
Gerade das aber ist echte Utopie, und nur das holt aus den Staatsmärchen, erst recht aus den Reichsträumen bleibende Vel-
leität, humane Phantasie heraus. Steht im engsten Zusammenhang mit allem, was in der alten Utopie an Echtheit enthalten
war, annachwirkend befeuerndem Traum. Steht jenseits des subjektiven Postulats, jenseits der mythologischen Fernverlegung 151
fertiger Wunschinhalte. Doch die Sphäre selber ist von der des Joachim von Fiore nicht absolut verschieden, noch ist sie absolut verlassen. Mit anderen Worten: Das marxistisch ge-
führte Werk kritisiert die /deologie der undurchschauten Norwendigkeit, indem es sie durchschaut und vernichtet, aber die
Utopien der undurchschauten Freiheit, indem es sie durchschaut und erfüllt. Die sozialistische Revolution ist von den vorher-
gegangenen durch Wissenschaftlichkeit und Konkretheit, durch proletarischen Auftrag und klassenloses Ziel unterschieden, jedoch ebenso grundsätzlich ist sie mit ihnen durch das Feuer und den humanen Inhalt des revolutionären Antriebs und intendierten Freiheitsreichs verbunden. Die so wenig verwirklichten
Träume dieses Reichs greifen nach wie vor in die Gegenwart ein, damit sie konkret berichtigt und erfüllt werden.
ESNIGCHASHADES; SONDERN HIMMEL AUF ERDEN
Schon morgen ist jedes Jetzt anders da. Möglich sogar, daß das Elend etwas fällt. Dann hören viele kleine Leute auf, mit den
Wölfen zu heulen. Sie kehren in jene Mitte zurück, die ihnen von neuem eine sein kann. Das bloße flache Gestern, das sie sind
und gemeint haben, nimmt wieder auf. Aber diese Ruhe, falls sie kommt, dauert kaum lange. Die Erholung dürfte kurz, sicher nicht mehr so fraglos sein wie die früheren. Ein Stachel bleibt zurück, sowohl der Unsicherheit wie der gewesenen Hetze und Verwilderung. Was sich jetzt schon deutlich ändert, ist auch weniger das Elend als das Ver-
trauen auf Hitler. Sein riesiger Kredit bröckelt langsam ab, Gläubiger und Gläubige murren, der Zahltag wurde zu oft versäumt.
Vielleicht werden
»enttäuschte«
SA-Proleten,
auch
jüngere Teile eines proletarisierten und utopisierten Kleinbürgertums kommunistisch reif. Aber damit freilich sind die ungleichzeitigen Inhalte dieser Schicht, wie sie hier angedeutet wurden, noch nicht selber unwirksam geworden.
Gegen diese wirkt das rote Mittel nur halb, meist noch gar 152
nicht. Nazis sprechen betrügend, aber zu Menschen, die Kommunisten völlig wahr, aber nur von Sachen. Die Kommunisten stra-
‚ Pazieren oft gleichfalls Schlagworte, aber viele, aus denen der Alkohol längst heraus ist und nur Schema drinnen. Oder sie bringen ihre richtigsten Zahlen, Prüfungen, Buchungen denen, dıe den ganzen Tag über mit nichts als Zahlen, Buchungen, Büro und Trockenarbeit verödet werden, also der gesamten »Wirt-
schaft« subjektiv überdrüssig sind. Hier ist sprachliche und proı pagandistische Reform das Gebot der Stunde: am Haupt, das sich ı nicht verquarken oder versteinern darf, an den Gliedern, mittels derer sich die Revolte auch unter Angestellten und Ungleich-
zeitigen fortbewegt. Selbst eine erwartbare Zuwendung zum Kommunismus ist auf lange eine negative, eine bloße Enttäuschung an Hitler; diese allein sichert noch nicht die neue Treue.
Denn werden Losungen, die für einen Einbruch in die nationalsozialistische Front zu schwach waren, zur Umarmung der Überläufer ausreichen? Auf dem Land gibt es noch keine Getreidefabriken, in der Stadt ist der Mittelstand zwar proletarisiert, doch weit davon entfernt, proletarisch zu sein. Er ist weder seinem ökonomischen Sein noch gar seinem Bewußtsein nach proletarisch, spricht nicht dieSprache der Proleten, hat ungleich-
' zeitige Erinnerungen oder sucht sie und nicht durchwegs gehaltlose. Wie ein Fluch aber liegt es auf dem freidenkerischen Vul-
| gärmarxismus, daß er den Proletarisierten ihren Vernunfthaß geradezu bestätigt (als wäre alle Vernunft wie die kapitalistisch halbierte von heute). In einer Zeit, einem Land, wo der Kapitalismus »weiten Kreisen« mit der schlechten Rationalisierung ' auch die Ratio diskreditiert hat, werden die eigenen Gefühls-
| werte des Kommunismus kaum genügend betont, wird nicht auf ' die echte und volle, die konkrete Ratio gewiesen; als der Be| freiung von Wirtschaft, als dem Mittel gerade zur Vermensch‘ lichung und Totalisierung des Daseins. Es wird vom elenden »Materialismus« der Unternehmer nicht begreiflich genug der dialektische Materialismus abgesetzt; es wird kaum genügend betont, daß der kommunistische Materialismus keine Gesinnung } ist, sondern eine Lehre, daß er keine totale Ökonomie nochmals ist, sondern gerade der Hebel, um die beherrschte Wirtschaft an die Peripherie zu stellen und den Menschen erstmals in die 153
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Mitte. Statt dessen unterstützt mancher Vulgärmarxismus fast das Zerrbild, das die Irrationalen von der »mechanischen« Vernunft entworfen haben. Die Zeiten sind aber so wunderlich, daß
die Revolution nicht unmittelbar in die Verelendung eingreifen kann, sondern - bei Proletarisierten — erst in Gefühls- und irrationale Inhalte, in Gewäsch und Unwissenheit nichtnur, sondern auch in Berauschungen und »Ideale«, welche dem Elend un-
gleichzeitig widersprechen.
Hat man sich auf einige solcher
Inhalte bereits nachahmend eingelassen (was, in Ansehung des
Nationalismus etwa, das Original Hitler besser kann), so ist der Fortgang kein anderer als dialektische Mobilisierung, als Ergreifung des dialektischen Hakens, den alle diese zweideutig widersprechenden Bestände in sich haben. Es gibt keinen erfolgreichen Angriff auf die irrationale Front ohne dialektischen Eingriff, keine Rationalisierung und Eroberung dieser Gebiete ohne ihre
eigene, auf den allemal noch irrationalen Revolutionsinhalt gestellte »Theologie«.
Es ist nötig, daß Marxismus
nicht mehr
als Kehrseite der »Mechanei« mißverstanden werde, daß er jene Tiefen des Revolutionsinhaltes in sich belichtet, welche er Fein-
den zum Betrug, Ungleichzeitigkeiten zur Nutznießung überläßt, obwohl er selber und allein seinen Ursprung darin hat. Diese Lage hat sogar ihre »germanische« Parallele oder, den Nazis gegenüber, folgendes Gleichnis: Als die Germanen einst nach Süden und Westen zogen, strömten die Slawen in die leer-
gewordenen, ursprünglich deutschen Gebiete; mühselig, sagen die Nazis, eroberten Ordensritter Ostelbien zurück. Als der wissenschaftliche Sozialismus Frankreich und England einbezog, also die französische Aufklärung, die englische Ökonomie, der
Vulgärmarxismus aber das Erbe der deutschen Bauernkriege wie der deutschen Philosophie vergessen hatte: strömten die Nazis in die leergewordenen, ursprünglich münzerischen Gebiete; mühselig erobern Bauernpropaganda, vertiefte Theorie die Fülle zurück. Jeden Nebel, jede »Irratio« bloß falschen Bewußtseins,
jede Mythologie vertreibend; doch der Bauer lebt, selbst der pauperisierte Kleinbürger von heute ist sehr ernst zu nehmen, und am ernstesten die Stimme
des menschlichen Wozu
(noch
über den nächsten Schritt hinaus). Marx schreibt einmal im | 18. Brumaire: »Durch die unzufriedenen, auf ihrer Parzelle
154
' verhungernden Bauern erhält die proletarische Revolution den Chor, ohne den ihr Sologesang in allen Bauernnationen zum Sterbelied wird«; '
dieser Satz ist auch unter Kleinbürgernationen,
gar unter »irrational« gewohnten, »irrational« ausgehungerten,
von entscheidender Wichtigkeit. Der Primat des Proletariats oder der beherrschten gleichzeitigen Widersprüche erweist sich auch als kritisch-dialektische Besorgung der ungleichzeitigen. Aufklärung und dialektische Weisheit zugleich Der Staub des Alten legt sich anders nicht. Er wird immer wieder
aufgeblasen, wo das Neue nicht den ganzen Menschen hat. Es geht darum nicht an, mit oft recht billigem Verstand dort nur ironisch zu sprechen, wo sich der teuerste immerhin zu wundern hätte. Es geht nicht an, dicke Bücher über den Nationalsozialis-
mus zu schreiben, und nach der Lektüre ist die Frage, was das sei, das so auf viele Millionen Menschen wirke, noch dunkler als zuvor. Das Problem wird desto größer, je einfacher dem wasser-
hellen Autor die wasserklare Lösung gelungen ist; nämlich für seine vulgärmarxistischen
Bedürfnisse,
die ihm genauso
alles
vereinfachen wie den Nationalsozialisten ihre dumme Begeisterung. Auch eine Kritik, die in dem »Sicheingliedern in die bäurische angestammte Blutverwandtschaft«, in der »religiös-fanatischen Bindung an den Boden«
ausschließlich »öde Phrasen«
merkt, kreist gefährliche Tiefgänge älterer Ideologie abstrakt ; aus, statt sie dialektisch zu analysieren und praktisch zu fassen. Die schöpferische Form des Kommunismus
ist statt dessen, ge-
rade solchen Ungleichheiten gegenüber, Weisheit, jene dialek‘ tische Weisheit, welche Rußland in vielem an den Tag legt. Welche nicht ohne Grund solch genaue Fragen größerer Dialektik agiert wie diese: kann das muflig gewordene Haus abgebaut werden, um sich in einzelnen Stücken, etwa dem der Mutter, sozial neu verwenden zu lassen? Oder kann die stockig geworBindung an den Boden aus einem Element des Familien| dene ED
: Egoismus in Solidarität umgesetzt werden und dadurch zu einem ı neuen Halt der Dorfkommune? Um Gehalte durch die große Krise hindurchzuführen, der die Verhältnisse sie unterworfen
haben, müssen
ihre bisherigen Träger, Verwendungen
und 155
Erscheinungen freilich fremd geworden sein: aber was dann erscheint, ist kein Sowohl-als-auch nach Art des sozialdemokratischen (das fast aus lauter Sowohl besteht), sondern jene Mitte, von der Brecht sagt, sie gehöre zum Kommunismus, denn er sei das Mittlere: »Der Kommunismus ist nicht radikal, radikal ist |
der Kapitalismus.« Es ist vor allem jene Mitte, die Überzeugungen vor der Weisheit preisgibt, kurz, die keine abstrakten Prin-
zipien kennt, wenn neue Inhalte herandrängen, sondern die als einziges »Prinzip« selber nur einen Inhalt kennt, nämlich die
Herstellung der Bedingungen zum Sieg des Proletariats, zur Herbeiführung der klassenlosen Gesellschaft. Bis dahin aber kann die Unruhe nicht eigen genug beachtet werden, welche heute ebenso dunkeln läßt wie selber dunkelt. Die »Zerstreu-
ung« hatte nur in glänzender Trübe gefischt, die »Berauschung« aber fischt in chaotischer, als welche viel zweideutiger und zugleich geladener ist. Oder was den Staub angeht, so jagt ihn Lützows Jagd erst recht auf, doch eben nicht als den funkelnden, unterbrechenden der Zerstreuung, sondern als Verhüllung und übersteigerten Ausbruch zugleich, gleichsam als Staub hoch drei. Damit aber ist von neuem zugleich jene Art Aufklärung in Frage gestellt, welche ihren revolutionären Ort einmal gehabt hat, indes heute, mit ihren Prinzipien, den neuen Ort verfehlt. In der
zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts hatte der mechanische Materialismus, wenigstens in Deutschland, noch eine gewisse revolutionäre Rolle gegen den Adel, gegen die mit ihm verbün-
dete Kirche, selbst gegen den großen Bourgeois und sein Hauptbuch »mit Gott«; Marx also konnte die weiten »metaphysischen« Erbschaften der dialektischen Methode - nicht daß sie fehlten - implizite lassen. Heute dagegen, wo gerade die großbürgerlichen Hauptgegner der Revolution »materialistisch« sind,
wo sich kein Geldgeber der Nationalsozialisten an zynischem. Freidenkertum irgend nur überbieten läßt oder es gar als Waffe
fürchtet: ist es gerade das »Irrationale«, welches anfälligen Bauern und Kleinbürgern nicht zuletzt ihren Widerspruch fundiert - und ihren Anschluß an den Marxismus ideologisch verhindert. Die proletarisch-marxistische Avantgarde hat einen »Glauben«, wie er nie wirklicher war, aber der Kleinbürger, ob er noch so verelendet ist, hört ihn nicht. Statt dessen haben die Nazis, wie 156
sie die rote Fahne, ersten Mai, zuletzt sogar Hammer und Sichel
gestohlen, zum Zweck der Fälschung gestohlen und pervertiert haben, besonders auch die weniger manifesten Symbole der Revolution sich tauglich zu machen gewußt. Nicht als ob Philosophie am Sozialismus etwas »vermißte« oder mit Inhalten, die nicht auf dem Boden der geschichtlich entscheidenden Klasse
gewachsen sind, ihn zu »verbessern« wünschte; sozusagen als Marburgerei des Irrationalen. Wohl aber ist dieses die von allen Seiten wiederkehrende Grundfrage: ob die weniger manifesten Symbole und Inhalte der Revolution, womit der Nazi unter Kleinbürgern krebsen geht, nicht nur deshalb so leicht zum Betrug dienen konnten, weil die Propaganda sie noch zu wenig in
die Auslage gestellt hat, weil die wohlbelichteten Hintergründe des Marxismus noch zu wenig entwickelt und abgezogen worden sind. So wird es ein konkretes Amt, das vermittelte Transzendieren (aber: Transzendieren) im Marxismus urbi et orbi auch zu zeigen, es wird Pflicht, sein Ultraviolett, die im dialektischen Materialismus vermittelte Zukunfts-» Transzendenz«, welcheder
Marxismus implizite enthält, zum Zweck der Besetzung und Rationalisierung der irrationalen Bewegungen und Gehalte auch publik, explizit zu machen. Denn die marxistische Welt, worin
konkret gedacht und gehandelt werden kann, ist am wenigsten mechanistisch, im Sinn des bürgerlichen Bornements, am wenigsten tatsachen- und gesetzeshaft im Sinn des mechanischen Materialismus. Sondern sie ist eine Bewegung, worin menschliche Arbeit eingezahlt werden kann, ein Prozeß helfender Widersprüche sodann und zu einem dämmernden, erzmenschlichen Ziel: sie ist arbeitend, dialektisch, hoffend, erbend schlechthin. Nichts zu vergessen, alles zu verwandeln, beide Kräfte sind
dieses Orts fällig. Charon freilich setzt nicht ganze Figuren, sondern nur Schatten über den Fluß; aber es ist Charon. Der Sozia-
lismus dagegen will nicht den Hades, sondern den Himmel auf Erden; daher setzt er die gesamte Substanz der Geschichte über, nach ihrem so berichtigten wie verklärten Leib. Vom dialekti-
\ schen Materialismus wird aller bürgerlich-feudale Anteil an den Ideologien entlarvt, doch der unabgegoltene und »kulturelle« Rest, als Substanz wider Willen, beerbt.
157
Beispiele der Verwandlung Sieht man zurück, so gingen drei Züge im Jetzt quer. Sie tragen frühe, wenigstens frühere Fahnen und Zeichen, solche, die widersprechen. Die Jugend sehnt sich nach Zucht und Führer, die
Bauernschaft setzt sich in Boden und Heimat stärker fest als je, die verelendete Stadtmitte will sich den Klassenkampf ersparen durch den Ständestaat, setzt Deutschland - ein bluthaftes, auf-
genordetes, nicht das jetzige - als Evangelium hinein. Diese drei unzufriedenen Gruppen tragen alle ungleichzeitigen Inhalte von heute; und sie tragen sie nach rechts. Dem Kapital freilich ist letzthin äußerlich, ob Parlamente oder Generale »regieren«, ob die Republik oder das Dritte Reich die Kulisse der wahren Macht abgeben. Kein Zweifel hier, daß gleichzeitig-materiell gesehen im National-»Sozialismus« nichts vorliegt als »antikapitalistische« Demagogie völliger Verlogenheit und Wesenlosigkeit; der einzige gleichzeitige Inhalt des Hitlertums ist Herrschaft des Großkapitals durch verschärften Druck und romantische
Illusionen. Aber
die Verführbarkeit eben durch
diese Illusionen, das Material dieser Verführbarkeit liegt noch in anderer Gegend; hier sind Klasseninhalte ungleichzeitiger Ver-
elendung im bloßen Dienst und überwiegenden durchs
Großkapital.
Nur
zum
Teil ist daher
Mißbrauch
richtig, wenn
Lukaäcs schreibt: »Der Fascismus als Sammelideologie der Bourgeoisie der Nachkriegszeit beerbt alle Tendenzen der imperialistischen Epoche, soweit in ihnen dekadent-parasitische Züge zum Ausdruck kommen; jedoch alles Scheinrevolutionäre und Scheinoppositionelle gehört auch dazu. Freilich ist dies Beerben zugleich ein Umgestalten, ein Umbauen: was an früheren imperialistischen Ideologien nur noch schwankend oder verworren war, verwandelt
sich ins offen Reaktionäre.
Aber wer
dem
Teufel des imperialistischen Parasitismus den kleinen Finger gibt — und das tut jeder, der auf die pseudokritische, abstrakt-verzer-
rende, mythisierende Wesensart der imperialistischen oppositionen eingeht -, dem nimmt er die ganze Hand« und Verfall des Expressionismus«, 1934 [!]). Diese diese a priori fertige Analyse eines sonst sobedeutenden
Schein(»Größe Abkehr, Denkers
hat zwar den Vorteil, entschieden über ihren Gegenständen zu 158
e „
‚kreisen und ihnen nicht den kleinsten Finger zu reichen, doch
1%
- sie bringt auch nichts nach Hause; sie verwischt den Unterschied zwischen kleinbürgerlich-romantischer und proletarisch-kon{
kreter Opposition durch keine Brücke, doch sie schlägt auch keine Enterbrücke. Eine ungleichzeitig-revolutionäre Opposition ist dennoch vorhanden, jener echte Bestand an »irrationalen« Inhalten dazu, welcher, wenn er gegenwärtig den Anschluß
an die Revolution hindert, ja, eine restaurative Gefahrzone auf lange bleibt, doch ebenso dem Kapitalismus auf die Dauer nicht
günstig bleiben mag. Viel Unwissenheit wird vergehen, wenn der fascistische Betrug in bar an den Tag gekommen ist; viele
klassenmäßige und echtere Ungleichzeitigkeiten werden sich im Prozeß der Revolution ausgleichen. Und wie es der Theorie nicht zusteht, Forderungen zu stellen, statt die konkreten Möglichkeiten der Tendenz zu sehen, so wäre es insipid, der Dialek-
tisierung ungleichzeitiger Widersprüche ein allemal idealistisches Programm in extenso zu setzen. Insofern mußte auch die _ gesamte hier versuchte Orientierung »abstrakt« scheinen, sozusagen; und zwar gerade deshalb, weil sie es nicht ist, weil sie vermied, aus Abstractis voreilig zu konkretisieren. Indes ebenso
falsch wäre es, die vorhandenen
Möglichkeiten
des »Hilfs-
_ trupps« künstlich zu verhindern; noch falscher, bloß Sackgassen
in der »Irratio« zu finden, statt jener Explosivitäten der Hoffnung, die dem ökonomischen Revolutionsantrieb nie fremd waren und nicht künstlich abgeschnürt werden dürften. Wie anders haben Jungburschen das frühe Schwärmen aufgenommen, wie verwandt stoßen andere zu armen Bauern und ihrer alten Sprache vor. Wie anders hat Lenins Rußland bereits Heimat und Folklore einmontiert (die urkommunistischen Gentes scheinen hindurch); nicht nur spießig oder angesetzt zeigen sich hier die organischen Kräfte der Familie, die organisch-historisch gebliebenen der Nation umfunktioniert und in den Dienst einer Volksgemeinschaft gestellt, aber einer echten. Wie konkret ent-
reißt selbst der Kampf gegen die »Religion« dieser ihre Sehnsüchte und Symbolkräfte: nicht sowohl, wie die Russen noch
agitieren müssen, »um den Himmel abzuschaffen« (das gelang hier wie dort dem Kapitalismus), sondern um ihn endlich »als
die Wahrheit des Diesseits zu etablieren«. Der Weg des Erbes 159
geht weiter, denn es gibt — wie nicht nur der Fascismus zeigt — viele Ruinen Roms, die keine sind oder bleiben. Ist doch die Geometrie des Ungleichzeitigen so seltsam, daß noch das Dritte Reich der Nationalsozialisten ebensowohl kleiner wie größer ist als es selbst; an beiden und nur an beidem, an der Analyse des
Betrugs wie an der Herausführung des Substanzscheins, wirdes auf Dauer, ohne
neue
Masken,
ohne Pseudomorphosen
zu-
grunde gehen. Die Geschichte ist nicht bloß Spuk und Keh-
richthaufen, auch nicht bloß Spreu, und alles Korn ist auf der |
jeweils letzten Stufe, letzten Tenne bereits heraus: sondern gerade daher, weil so viel Vergangenheit noch nicht zu Ende geworden ist, poltert auch diese durch die Morgendämmerungen der Neuheit. Die deutsche Walpurgisnacht verschwindet erst | und kommt in keinem neuen Jahr, wenn der erste Mai sie ganz hell macht; auch bilden sich »Museen der religiösen Vergangenheit« erst wirklich, wenn die echten Reliquien aus ihnen entfernt
sind. Wenn sie dem »Himmel auf Erden« dienen müssen und den Willen zu ihm wachhalten. In einem anderen Raum als dem des Opiumdampfs und nicht in keiner Religion, sondern in einer Religion ohne Lüge.
ERINNERUNG:
HITLERS
j
GEWALT
April 1924, »Das Tage-Buch«, Heft ı5
Erst ging man kalt daran vorüber. Zuckte die Achsel über das hämische Pack, das vorkroch. Über die roten Plakate mit den faselnden Sätzen, aber dem Schlagring dahinter. Was früh mor-
gens grob ans Bett trat, den Paß zu fordern, schlug sich hier als | Partei an. Juden ist der Zutritt zum Saal verboten. All das konnte wieder zurück sinken. Es war noch zu fremd
und zu wenig tief eingedrungen, das alte München lebte noch.
Hier war die Erbitterung gegen den Krieg am frühsten gereift, |
hier war ins Stadtbild seit langem schöne Fremde hineingetragen und blühte mit, wurde heimisch. Die finstere Erinnerung an
1919, an Eisners Tod und den Einmarsch der Weißen konnte 160
immerhin noch verblassen und die Roheit sich einkapseln, als wäre sie nicht gewesen. Der geglückte Kapp-Putsch, die Verjagung der sozialistischen Minister freilich zeigte von neuem gekräuselte Luft. Aber auch dieses ließ sich noch als Reaktion eines Bauernlands, einer Bauernstadt gegen sehr ungeschickte
kommunistische Dilettantismen verstehen. Hitler schien dieser Akt ein Abgesang; je weiter man sich rein zeitlich von der Räterepublik entfernte, desto sicherer schien Bayern wieder ins alte Gesicht zu kommen. Statt dessen, wie bekannt, wurde das Land von Tag zu Tag bitterer. Die Bauern, die Stadtbauern, sind hier als Pöhbel noch da, primitiv, suggestibel, gefährlich, unberechenbar. Dieselben Menschen, welche bei Eisners Begräbnis in zahllosen Trauer-
zügen die Straßen geschwärzt hatten, hetzten die Führer von gestern in den Tod. Von heute auf morgen wechselten die Fahnengeschäfte den Sowjetstern mit dem Hakenkreuz; von heute auf morgen stellte das Volksgericht, von Eisner geschaffen, Levine an die Mauer. Hier schwankt der treulose Pöbel, wie ihn alle Machthaber verachtet und gebraucht haben, und er
schwankt nicht nur, sondern gewiß eben zeigte sich die Jagd auf Tiere und Menschen als seine eigenste Natur. Das waren nicht nur verelendete Kleinbürger, die bald diesem, bald jenem helfenden Mittel zulangen, war auch kein organisiertes Proletariat, nicht einmal relativ organisierbares, bei der Stange haltbares Lumpenproletariat, sondern durchaus nur Lumpenpack, die rachsüchtige, kreuzigende Kreatur aller Zeiten. Von der At-
trappe wird sie geblendet, von Studenten im Wichs, von der Magie der Aufzüge, Paraden und klingendem Spektakel; aber
Votivbilder malt Bayern nicht mehr. Und so zweideutig, eindeutig wie der Pöbel sind die Zutreiber beschaffen, oft noch ver-
ächtlicher als dieser. Getaufte ungarische Juden wurden Spitzel Hitlers, gekaufte »Demokraten« aus dem Material balkanischer Journalisten füllten die Reihen. Die echten Thersites und Vansen wollten nicht fehlen, gaben dem Pöbel sein homogenes Haupt. Dennoch aber weiß vom Ganzen noch nichts, wer nicht mehr
weiß. Der Fall liegt tiefer, Ekel und Witz sind jetzt nicht mehr
allein richtig. Denn abgetrennt von den scheußlichen Gaffern und Mittätern glüht im Kern neue Jugend, ein sehr kräftiges 161
ER Geschlecht.
Siebzehnjährige brennen Hitler entgegen.
RER ER Bier-
studenten von ehemals, öde, im Glück der Bügelfalte schwelgend, sind nicht mehr zu erkennen, es hämmert ihr Herz. Der alte Burschenschafter steht wieder auf, Schills Offiziere wiedergeboren, finden in Schlageter ihren Bruder, heldische Bünde mit allen Zeichen irrationaler Verschwörung sammeln sich unter einem geheimen Licht. Hitler, ihr Führer, hat die Schonung
seiner Richter und diesen possenhaften Prozeß nicht verdient; aber selbst mit dem Witz Berliner Rechtsanwälte ist ihm nicht beizukommen, und auch Ludendorff, dies brutal beschränkte
Mannssymbol, lebt nicht auf gleicher Ebene mit ihm. Der Tribun Hitler ist zweifellos eine höchst suggestive Natur, leider um gar vieles vehementer als die echten Revolutionäre, die Deutschland 1918 zitiert haben. Der abgematteten Ideologie des Vater-
lands gab er ein fast rätselhaftes Feuer und hat eine neue aggresive Sekte, den Keim zu einer stark religiösen Armee, zu einer
"Truppe mit Mythos geschaffen. Nicht daraus auch erklärt sich die anhaltende Kraft des Hitlerschen Programms, daß hier Befreiung von Juden, der Börse, der Zinsknechtschaft des internationalen Kapitals, von dem vaterlandsfeindlichen internationalen Marxismus versprochen wird und ähnliche verworrene Musik für die Ohren des urteilslosen Kleinbürgertums. Sondern rückt hier die Wirtschaft an die Peripherie und die Staatsgesinnung wieder ins Zentrum, so klingt damit zugleich die Musik
der alten, unbürgerlichen Zucht wieder auf, die säkularisierte Ethik der Ritterorden. So ist nicht gering anzuschlagen, wie Hitler die Jugend hat. Man unterschätze nicht den Gegner, sondern stelle fest, was so
vielen eine psychische Gewalt ist und sie begeistert. Gewiß auch zeigen sich von hier aus mancherlei Zusammenhänge mit dem Linksradikalismus, solche demagogischer, formaler, wenn auch nicht inhaltlicher Art. Dem bayrischen Pöbel wurde durch diese
Verwandtschaft (zumeist nur eine windfängerische Kopie des Sozialismus, auf primitive Instinkte abgestimmt) der Fahnenwechsel erst recht erleichtert. Bei den Kommunisten wie bei den Nationalsozialisten wird wehrhafte Jugend aufgerufen; hier wie
dort ist der kapitalistisch-parlamentarische Staat verneint, hier wie dort wird die Diktatur gefordert, die Form des Gehorsams 162
‚und des Befehls, die Tugend der Entscheidung statt der Feig_ heiten der Bourgeoisie, dieser ewig diskutierenden Klasse. Es ist vor allem der Typus Hitler und derer, die nach ihm sich bilden, . charakterologisch und formal stark revolutionär. Desto erkennbarer freilich auch sind die Ziele und Inhalte dieser Schar, trotz
alier Verworrenheit, nur der völlig gegenrevolutionäre Willensausdruck versinkender Schichten und ihrer Jugend. Schon die
zwanzigtausend Dollar der Nürnberger Industrie zeigen an, wie hier die Bourgeoisie sich gar nicht bedroht fühlt, wie sie der neuen, scheinbar kapitalfeindlichen Staatsmystik ohne Schreck
gegenübersteht. Engels nannte den Antisemitismus den Sozialismus der dummen Kerls, wobei das nichtjüdische Finanzkapital und vor allem das Grundkapital vortrefflich gedeihen. Der Sozialismus des Kavaliers, der patriarchalisch-reaktionäre
Antikapitalismus,
ist ein noch viel größeres Mißverständnis
oder vielmehr ein offener Betrug, um mittels des bloßen Gegensatzes zum Finanzkapital den sehr viel größeren Gegensatz zum Sozialismus zu verdecken. Völkisch statt international, roman-
tisch-reaktionäre Staatsmystik statt des sozialistischen Willens zum Absterben des Staates, Autoritätsglaube statt der in allem echten Sozialismus latenten letzthinigen Anarchie — dieses sind unvereinbare Gegensätze des positiven Wollens, stärker als die scheinbaren Verwandtschaften der Form und der gemeinsamen
Verneinung des Gegenwartsstaats. Othmar Spann, der österreichische Soziologe, ein kleiner Kopist der österreichischen Staatstheologen des Vormärz, suchte dieser Art dem Nationalsozialismus seinen Begriff zu schaffen; und was herauskam, war vom Sozialismus so verschieden wie die romantische Staatsver-
götterung von dem Satz des jungen Engels: »Das Wesen des Staates wie der Religion ist die Angst der Menschheit vor sich
selber.« Der Untertan rast umher, den der jahrhundertelange Feudaldruck hergestellt, zurückgelassen hat, und sehnt sich als formales Raubtier in den strengen Stall. Wühlt messianische
Träume auf und pervertiert sie mit feudalen, radikalisiert die stumpfe Mitte, um sie zu asketischen Rebellen zu machen, und bezieht die Ideologie der »Rebellion« von Metternichs Gnaden, vom Urheber der Karlsbader Beschlüsse und Wächter der Heiligen Allianz. 163
Wohin also wird diese Unruhe noch treiben? Dreierlei trennt sich ab, gesondert zu betrachten, und ja auch bereits mit sehr verschiedenem Tonfall behandelt. Unten treibt das kleinbürgerliche Pack, wie es von Rot zu Weiß überlief und sich gern so hämisch wie begriffslos hetzen läßt. Darüber steht der Stoßtrupp Hitlers und seiner Offiziere, gute kräftige Jugend, roh und von dem scheußlichen Hintergrund der Nachläufer infiziert, aber im ganzen reinen Willens. Von der Börsenzeit, der Depression des
verlorenen Krieges, der Ideallosigkeit dieser stumpfen Republik angeekelt. Hitler selbst hat hier in der bürgerlichen Jugend eine durchaus unbürgerliche Bewegung entzündet oder wenigstens angeblasen, eine gewisse asketische Energie geformt, die sich immerhin vom Stumpfsinn der ersten deutschen Kriegsbegeisterung, auch vom Oberlehrerpathos der gewesenen Vaterlandspartei um einige Grade unterscheidet. Sehr verräterisch aber ist zum Dritten wiederum die nationalsozialistische /deologie und Praxis. Sie sucht den Bourgeois durch den Ritter zu vertreiben und erlangt nicht mehr, als daß sich der Bourgeois durch die jungen Ritter erst recht geschützt und konserviert fühlt. Und auch der Ritter selbst - er ist zwar menschlicher als der Bourgeois, aber zur Zeit noch unwirklicher als dieser, noch abstrakter
und noch unklarer den Durchbruch in die Wirklichkeit verhindernd. Hitler, Hitlerismus, Fascismus ist die Ekstase bürgerlicher
Jugend: dieser Widerspruch zwischen Kraft und Bourgeoisie, zwischen Ekstase und dem leblosesten Nationalismus macht die Bewegung zum Spuk. Der wird nicht realer durch die mitgeführten feudalen Gespenster, durch die Alliahz von kräftig gegenwärtiger Begeisterung mit längst versunkenen Ritterträumen oder altgermanischem Volkskönigstum aus dem X. Jahrhundert. Immerhin trägt die Hitlerjugend zur Zeit die einzige »revolutionäre« Bewegung in Deutschland, nachdem das Proletariat durch die mehrheitssozialistischen Führer um seine eigene, um die einzig gültige, widerspruchsfreie Revolution gebracht worden ist. Ein Teil des Fascismus in Deutschland ist gleichsam der schiefe Statthalter der Revolution, ein Ausdruck dessen, daß die soziale Lage auf keinen Fall statisch ist. Die
echten Volkstribunen aber fehlen oder bewähren für sich das kluge Wort Babels: Die Banalität ist die Gegenrevolution. 164
SCHLUSSFORM
ROMANTISCHE
HAKENBILDUNG
Was schal wird, geht auch leicht über. Wir meinen nicht nur die Menschen, deren die Nazis ohnedies unsicher sind. Mißtrauische Bauern, gekaperte Arbeiter, kurz, fascistische Fremdkörper so-
wieso. Diese Gruppen sind bereits unmittelbar anfällig, nur nicht ganz so erwacht, wie sie das rufen. Werden sie von selbst nicht rot, so bleiben sie, hungernden Magens, auch nicht braun.
Aber bereits, was an diesen träumt, ist zweiseitig. Zeigt Sprünge, Stellen des Absprungs im »Geist« der Nazis selbst. Einige dieser Widersprüche erschienen bereits: als solche des »Dritten Reichs« im Bürgertum, als solche echter » Ungleich-
zeitigkeit« schlechthin. Die folgenden Partien nun möchten in mehreren
anders üblichen Prämien
des romantischen Gemüts,
vom Märchen bis zur Kolportage, ja, vom mancherlei »Okkultismus« bis zum Lebensmythos, gewisse Haken zeigen; Haken ungereinigter Widersprüche zur bestehenden Welt, nicht nur der Bindung an diese. Es gibt hier Phantasieweisen der »Puerilen« wie des »Mythizistischen«, welche dem Nationalsozialismus sich scheinbar leicht verbinden und dem Muff dennoch suspekt, der häuslichen Wildheit zweideutig sind. Denn die Flamme, welche in diesem Herd brennt, sieht sich ebenso, mit langen Hälsen, nach allen Seiten um. Auch als man
noch nicht entdeckt hatte, daß der Jude immer nomadenhaft sei und der Deutsche immer eine Wurzel, zogen Gesellen in die Ferne, um später erst daheim zu sein. Selbst der Wandervogel,
ein heute so billiges Wesen, war einmal beste Jugend und nicht so eingesessen wie die Alten; er zog den alten Volksliedern nach, die er sang, und war ein Teil ihrer Unruhe, bevor er Schnecken-
frisur geworden ist. Bringen singende Erwerbslose (die man zwingt, romantisch zu sein) heute den wurzellosen
Schlager 165
are
I A|
wieder aufs deutsche Volkslied zurück: so war doch gerade dieses Volkslied schweifend und schwärmend wie keines, und heimattreu derart, daß ihm nichts zu Hause schon Heimat genug
geworden war. So folgte der deutsche Geselle dem deutschen Märchen nach, das in die weite Welt zieht, ins rebellisch Unbekannte, in die Befreiung vom Druck, um das Glück zu finden.
Einen Haken hat die kindliche Flucht, hat die jugendliche Kolportage, einen anderen der kuriose Okkultismus, einen besonders dialektischen die sogenannte Lebensphilosophie. Alle diese sind dem stockig-autarken Zweck solcher »Volksnähe« oder »Irrationalität« nicht günstig. Greifen die Hakenbildungen auch in den Schlamm nicht ein und lassen ihn durchaus unter sich: so ziehen sie doch manchen Fisch ans Land, der nicht ins fascistische Brackwasser gehört, auch manche Piratenkiste, die erst
die Vernunft öffnet und erbt. Benjamin bereits gab dazu Fingerzeige; auch die »Spuren« haben gelehrt, was es mit Stoff nebenbei, mit allerhand kleinen Geschichten, Märchen und Items an
Wundern des Teiches auf sich hat. Die Berauschung geschieht nur um der Lüge willen; doch der Jahrmarkt in ihr, die GlücksKolportage, der Gang zu den »Anfängen des Lebens«, gar der Waldrausch, Meerrausch des Pan tragen, wider die Absicht, rebel-
lische Zeichen. Das Märchen will heraus aus der völkischen Sage, wohin es gebannt wird; Utopie des ersten »Anfangs« will heraus aus dem Archaischen bloßer » Urzeit«. Welche entweder rettungslos vergangen und verschollen ist oder aber Einkapselung abgebrochener, ungewordener Gehalte. Und die bleibende Bedeutung dieser romantisch bezeichneten Gehalte enthüllt sich nicht selbst romantisch, sondern nur aus der Intention des Ungewordenen, noch nicht Gewordenen, kurz, nicht aus der gehaltenen Vergangenheit, sondern aus dem eingehaltenen Weg der Zukunft.
DIE BUNTE
FLUCHT
Schon atmend gehen wir ein und aus. Im ersten bleibt man hier, im anderen ist bereits ein Gang. Man zieht, schwimmend, die Luft ein, während man ruht, stößt sie von sich, sobald man vorwärtsschießt. All das läuft in beiden Zügen hin und her. 166
Mit dem Saugen freilich fängt es an. Pflanzenhaft, ein Kind
_ steckt noch ganz im Haus. Aber wird es älter und hat es scheinbar keine Wahl, so sucht es sie, in geträumter Ferne. Und die meisten Kinder, weinen sie, so über ihre Eltern, über den Ort, wo sie sind. Dessen Nähe ist nur selten die eigene, und schöne Weite lockt früh. In dieser Weite lebt noch das Nächste und zieht mit sich fort. Sobald das scheinbar so häusliche Kind sich umsieht, ist es bereits anderswo. Der Boden ist rutschender Sand, worauf es kriecht.
Die Fuge zwischen den Brettern, die Ritze zwischen Boden und Wand ist vielversprechend wie später keine Felshöhle. Verstecktes Osterei verstärkt die zahllosen Verstecke, woraus die elter-
liche Wohnung besteht und wohin das Kind sich wenigstens mit den Augen flüchtet. Zugleich aber treibt das Suchen den Jagdhund im Kind an und einen, der die Beute nicht zurückbringt. Auch das Sammeln ist keines des engen Ich oder des in sich selbst verliebten Geizes, sondern begleitet gerade die Flucht und unterstützt sie. Klicker, Marmeln, Briefmarken werden hergeholt, weil sie zu sich hinholen; Abziehbilder zeigen ihre unerwartete,
sehr erwartete andere Seite und werden deshalb geliebt. Nur durch eine dünne Wasserhaut ist die Ferne hier getrennt, ist der Eselskarren vorn und dahinter die Tanne mit dem Vogel, oder die Familie beim Nachtessen und dahinter der feuerspeiende Berg. Aus Muscheln rauscht seit alters das Meer, Silberpapier leuchtet von seiner Küste, und das Kind glaubt sich daheim nicht
mehr gesehen, wenn es die Augen schließt. Ist diese Ferne eine alte und liegt sie in Primitive, wie das Kind selbst, so ist sie doch im gleichen Zug eine weite. Das spielende Kind fährt nicht nur in jener Welt umher, die dem Erwachsenen längst vergangen ist, und die er bloß im Schlaf, mit der Schutzdecke des Schlafs wieder erreicht, sondern Schreck und Zauber dieser Welt sind
ebenso entführend, exotisch, ja, voll Hoffnung. Auch das sinkende Graben unter dem Hier und Jetzt fliegt ins Weite oder
enthält diesen Flug. Zwar wird bürgerlichen Kindern stets die Angst vor dem genährt, was sie »rauben« könnte; ein Lied etwa
singt sie in Schlaf, ein merkwürdiges Lied vom Hündlein, das
den Mann
gebissen habe und des Bettlers Rock zerrissen.
Doch der Bettler, den sie fürchten oder fürchten sollen, dessen 167
zerrissener Rock in Sicherheit wiegt, ist ihnen gar nicht der Arme vor der Tür. Er ist innerhalb ihrer, als der Erwachsene in einer oder mehreren Personen, wogegen das Kind sich wehrt, auch wo es ihn liebt. Nun »gehört« das Kind den Eltern nicht mehr, ist unter seinesgleichen und ihrem Traum. Der hat viele Gesichter, gute und böse, das stockende eben ist unter den guten nicht.
ÜBER
MÄRCHEN,
KOLPORTAGE
UND
SAGE
Der Däumling
Was ein Kind hört, lebt an ihm selbst. Sein Saugen wird anders,
wenn es am Buch geschieht. Trotz wird frei und nur dasjenige gespürt oder geliebt, was ihn unterwegs zeigt. Je bunter er hervorkommt und alles gutmacht, desto mehr sagt das Kind zu allem Ja. Immer zieht die Sucht vor, um auch sich zu retten. Die Hörer wandern mit, finden das Ihre träumend. Lesen Märchen, voll kleiner und bunter Menschen wie sie. Oft waren
diese aus gutem Haus gegangen, öfter war alles so arm und elend, daß man sich dareinfand, wenn der Rückweg abhanden kam. Hänsel nimmt Gretel, Gretel nimmt Hänsel im Märchen, nicht nur im Märchen an der Hand. Finden sie freilich ein neues Haus, so wohnt die Hexe darin, sperrt wieder ein und brennt. Andere Hexen befehlen dem Mädchen, das bei ihnen unterkommt, zu spinnen, Garn in einer Nacht zu spinnen, das in
Jahren nicht zu bewältigen wäre. Die Angst ohne Ausweg ist in diesem Bild märchenhaft enthalten und gemeint; so wirkt auch
in der Fremde das Haus als Gefängnis, ja, als völlig ausgebrochene Gewalt des Banns. Aber sonderbar geht eben im Märchen die Kraft des Auswegs wieder an, schwach und listig, stark durch List, die versteht, das Böse zu betrügen, und hat das Recht dazu. Hänschen steckt der Hexe ein Hölzchen durchs Gitter, so
daß sie glaubt, es sei sein dürrer Finger. Oder der arme Soldat bohrt ein Loch in den Stiefel, den der Teufel mit Gold füllen sollte, und stellt ihn über eine Grube: also muß der Böse bis zum Hahnenschrei Gold schütten, ohne daß der Stiefel vo!l wird: 168
. aber der Soldat sackt ein, und der Teufel fährt ab ohne dessen Seele. Derart sind diese Märchen der Aufstand des kleinen Men-
‚ schen gegen diemythischen Mächte, siesind die Vernunft Däumlings gegen den Riesen. Erstes schweifendes Wesen schlägt hier Raum für ein anderes Leben als das, wohin man hineingeboren oder, gebannt, hineingeraten war. Statt Geschick beginnt eine Geschichte, Aschenbrödel wird Prinzessin, das tapfere Schneiderlein holt die Königstochter. Wo das geschieht, steht dahin, es schwebt ebenso wie die Zeit, worin der Triumph geschehen wird. Wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch; da kein Kind den Tod versteht ( Totsein heißt ihnen Verschwundensein, Abgereistsein), so leben die Glücklichen des Märchens immerfort, nachdem sie glücklich geworden sind. Es war einmal: das ist zwar ganz in der Nähe, aber in der der Kinder, also ist es ebenso berauschend wie landfremd. Die Silberbüchse Winnetous Literaturblatt der Frankfurter Zeitung, 31. März 1929
Auch was Knaben gern lesen, gerät ihnen gut. Faules, Gemachtes, verlogene Gefühle haben da keinen Platz. Erscheinen sie in
kleineren Mengen, so werden sie nicht wahrgenommen.
Er-
scheinen sie in größeren, so liest die Klasse das Buch nicht fort. Obwohl Karl May nie tat, was er von sich erzählt, nie dort war,
wo er jeden Strauch zu kennen vorgibt, findet ihn noch jeder Junge richtig. Also muß an der Lüge etwas dran sein, nämlich der echte Wunsch nach Ferne, den sie erfüllt.
Nicht immer gingen die grünen Bände so ungehindert um. Zwar konnten Autos den edlen Pferden nichts antun, Rih, dem Wind, Hatatitla, dem Blitz. Neben Taniss und- Flugzeug steht der Bärentöter unbewegt, so schwer, daß ihn nur Old Shatter-
hand heben kann; der Henrystutzen bleibt ein Wunder, mit fünfundzwanzig Schuß, denn er ist ein Traumgewehr. Aber es
läßt sich nicht verschweigen: als Träume schlecht im Kurs standen, vor dreißig Jahren, wurde Karl May angeschossen. So bewaffnet er war; und die Kanone stand in der »Frankfurter Zei-
tung«. Old Shatterhand flog auf, an Stelle seiner märchenhaften Biographie trat der Polizeibericht. Karl May: ein Proletarier 169
ohne Vorbildung, ein Lügner, der nie bei Indianern Id A
h
bern war, ein Verbrecher, der schon als Vierzehnjähriger mit den Gesetzen der Feuerwehr in Konflikt kam. Ein entlassener Zuchthäusler, ein Protestant, der katholische Geschäfte macht,
mit dem Kreuz in der Blutlache. Die Provinzpresse druckte das
nach, die Eltern packte das gebildete Grausen, die Abenteuer verschwanden vom
Weihnachtstisch, die Welt wurde eng, die
Puritaner der Zeitung hatten den Shakespeare der Jungens besiegt. Obwohl das Verdikt längst verjährt ist, laufen seine Kategorien noch in der Welt. Karl May gilt als anrüchige Sache, höchstens als Ulknummer ohne literarischen Wert. In den letzten Auseinandersetzungen über Schmutz und Schund zeigte sich: Rudolf Herzog bleibt ex lex, Karl May nicht. Hier ist vor Jahren Unrecht geschehen, züchtig und unwis-
send. Bei KarlMay werden Verbrechen oft am Ort wieder gutgemacht, wo sie geschahen. So wird hier in der gleichen Zeitung, an
erhobener Stelle, in veränderter Zeit, festgestellt: Karl May ist einer der besten deutschen Erzähler, und er wäre vielleicht der beste schlechthin, wäre er kein armer, verwirrter Prolet gewesen. Der Schuß, den die Wohlgesinnten damals abfeuerten, geht umgekehrt, auf die Gesellschaft selbst. Beispiellos, wie dieser Zuchthäusler zum Schriftsteller wurde; schon in der Zelle be-
gann er zu schreiben: »Geographische Predigten« — Abenteuer und Besserungswille, mit so leichter und frischer Hand. Karl May ist aus dem Geschlecht von Wilhelm Hauff; nur mit mehr
Handlung, er schreibt keine blumigen Träume, sondern Wildträume, gleichsam reißende Märchen. Die Knaben lesen über sein Schlechtes leicht hinaus, weil die Spannung hilft. Gerade ist der Held an einen Baum gebunden, der Führer der Feinde kommandiert »Feuer!« — und Seiten
schlägt man
vor, um
zu sehen,
ob Karl
May
überhaupt
noch lebt, dasselbe Ich, das all dies doch erst geschrieben haben mußte. Das Geschriebene verschwindet, so vorzüglich und rein
ist die Fremde nah. Oder die Spannung im ersten Band, ganz rein aus dem Traum: Kara ben Nemsi kriecht durch einen Gang,
das geraubte Mädchen aus dem Palast zu befreien. Der Gang wird zum Kanal, Schwimmen, Waten, faules Wasser, das schon über die Augen geht, endlich Ausgang in den Hof, Kara ben 170
|
Nemsi taucht auf - und schlägt mit der Stirn an ein Gitter, das . die Zisterne verschließt. Wie nun der Held das Gitter zertrümmert, mit dem Kopf im Wasser und halb erstickt hochkommt,
eine Kugel pfeift um seinen Kopf: - die Handlung ist wie ein Angsttraum, aus dem man sich nicht herausfindet, oder wie eine Rettung, die man nicht müde wird, hundertmal zu hören. Echte Kolportage läßt sich immer wieder lesen, weil man sie vergißt wie Träume und weil sie dieselbe Spannung hat. Aber auch technisch ist vieles vortrefflich (ohne »aufzuwachen«, ohne aus Kol-
portage
erwachsene
Literatur
zu werden).
Das
Haus
des
Schmieds in den »Schluchten des Balkan«: im Finstern kann man alles greifen, bis in den Keller hinunter, wo der Schmied und
sein Weib gebunden unter Kohlen liegen. Die Exposition des »Rio de La Plata«: mit der Straße von Montevideo, dem Verfolger, dem alten Orgelspieler, den Teesammlern, dem Pakt, in den Urwald zu ziehen und dem unheimlichen Umschlag, der aus Freunden Feinde macht, die ganze Exposition umdreht. Überhaupt das schluchtig oder gassenhaft Unheimliche, Basarhafte ist ein Neues, das Karl May in die Indianergeschichte gebracht
hat; oder vielmehr, alle Reize der Indianergeschichte trug er in den Orient, wo nicht bloß das Abenteuer der Fremde, sondern auch ihr Geheimnis ist. Winnetou hat nur die freie Prärie für sich, alles frei und offen, Schleichen nur durch Gras, Wald, selten die Stadt oder Überfälle auf den Expreß, der die Stadt herbringt; einfache Sprache, in Spät-Cooperschem Papierdeutsch: »Mitternacht ist längst vorüber und ehe noch der Morgen graut,
müssen die Yumas umzingelt sein.« Jedoch die Orientbücher sind gesprenkelt mit den Merkmalen des städtischen Ferngeheimnisses, kurz, mit den tieferen Traumelementen der Kolpor-
tage, jenseits ihres ersten Merkmals: der Abenteuerlust und Freizügigkeit. Abenteuerlust und Traumangst hier, Traumglanz dort sind die Elemente der Kolportage des XIX. Jahrhunderts; sehr zum Unterschied von den seßhaften Kalendergeschichten, mit denen sich die Unerwachsenen oder Ausgesperrten vorher
die Zeit vertrieben hatten. Nirgends sind die Spannungen dieser sehr dynamischen
Literaturgattung stärker zu finden als bei
Karl May, selten vollständiger. (Das Erotische ausgenommen, das der Westmann nicht braucht, der Orientfahrer nicht haben KT
will, im Zölibat seines Muts.) Und das »Christentum«? so etwas
merkt ein Gescheiter gar nicht, wenigstens in den Orientbänden nicht, wo ihm der Islam lieber ist. Oder das Christentum ist ein Stilmittel, das den Verbrecher immer wieder laufen läßt, sobald man ihn hat, sobald also die Handlung zu Ende sein müßte; seine Harmonie ist die Dissonanz, die den Traumstoft treibt. Fabelhaft gesund ist alles, weite Fahrten und Luft. Ein sehn-
süchtiger Spießbürger, der selbst ein Junge war, durchstieß den Muff seiner Zeit. Er kolportierte nicht die romantischen Ideale des Bürgertums (feine Leute, Salonglanz), auch nicht die Rit-
tergeschichten aus dem Biedermeier. Sondern er kolportierte nochmals den Indianerroman aus der Zeit Coopers, der revolutionären Ideale (als die Wilden noch bessere Menschen waren).
Der Flitter des Jahrmarkts kam hinzu, der echte Budenorient, wie er zur Kolportage gehört, damit sich die Freizügigkeit nicht in kruder Natur erschöpfe, sondern färbt und in Traumschichten
spiegelt. Fast alles ist nach außen gebrachter "Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will. Erst in den späteren Büchern wurde Karl May verschroben und privat, die Naivität war hin und er symbolisierte. Der Traum stieg aus der
Krankheit, deren Welt mit der der Jugend nicht mehr gemeinsam war. Die Abenteuerlust fabulierte nicht mehr aus den vier
Wänden heraus, sondern Minderwertigkeitsgefühle, ja Schuldgefühle überkompensierten sich. Karl May wurde offenbar psychotisch, übergoß mit Bedeutungen aus billigem Fett, selbst die Pferde mußten dazu herhalten, sinnbildlich zu sein. Halef Had-
schi Omar wurde zur »Leibseele« vertieft, Old Shatterhand (der doch schlimmstenfalls ein unschädlicher Wilhelm II. war) zum
»Menschheits-Ich«. Die schöne Schmiede, wo sonst Sklavenjäger und Mädchenräuber hielten, wurde zur »Geisterschmiede« zwischen » Ardistan und Dschinnistan«, zwischen Diesseits und Jenseits. Freunde haben Karl May kurz vor seinem Tode besucht; sowohl um die Silberbüchse Winnetous zu sehen (die es wirklich gibt), als um Karl May auf den alten Wegen zu treffen, der Prärie, dem Traum-Stambul. Vergebens, Karl May war ein kranker Mann, seine Reiseerzählungen sah er als » Aerostaten« an, der gleichnishaft »um den Dschebel Mara Durimeh und den Mount Winnetou zu kreisen habe«; Mara Durimeh aber war
172
eine alte Nestorianerin, die schon in Kurdistan jeden Jungen langweilt. Die letzten Bücher sind also verloren, ungefähr vom »Reich des Silbernen Löwen« ab; desto klarer bleiben die ande-
ren: Reiseerzählungen konkreter Phantasie, die jeden Baedeker kreuzen. Sie sind genau der Jugendtraum von Ferne, ein transponierter Jahrmarkt, der Orient als Landschaft des Jahrmarkts,
der wilden und geheimnisvollen Buden. Die Orienterzählungen sind besser als die indianischen, welche dafür bekannter sind. Beide wären nur dort zu kürzen, wo Kara ben Nemsi hier, Old Shatterhand dort nicht schläft, wo er aus dem Traum fällt. Be-
rauschung des 'Traums ist Karl May wie alle Kolportage, Berauschung gewiß aus Blut, doch ebenso aus Ferne: womit der doppelsinnige Fluß auch hier erscheint, der dialektische Fluß, der auch durch den See der Kolportage fließt. Nicht um ihn zu predigen, durchstieß Karl May den heimischen Muff seiner Zeit; und zweischneidig wie ein malaiischer Kris ist die unterdes
wieder so verbreitete, ertüchtigte, »arisch« ausgewertete Heldenlektüre. Ist auch Old Shatterhand nicht das »MenschheitsIch«, wozu ihn Karl May zuletzt erhöht hatte, so ist er erst recht nicht die Autarkie und Winnetou, sein roter Bruder, nicht der
Rassenhaß. Nur widerwillig kann Kolportage nach Hause abgebogen werden, um aus dem Ferntraum, der sie ist, zu Deutschland zu erwachen, nämlich zu einem Deutschland der Stockigkeit
unter sich. Der Rappe Rih ist kein Militärpferd, sondern ein Geschenk
des arabischen
Scheiks
Mohammed
Emin,
und
er
reitet ins Morgenland, nicht nach Sachsen. Traumschein, Jahrmarkt und Kolportage Was um sie nicht wuchs, schmeckt Knaben überall desto besser.
Jeder träumt die Taten seiner bunten Helden, während er sie
liest, und vergißt sie einige Zeit nach dem Erwachen. Dabei kann dem Leser der Kolportage sogar das Bewußtsein fehlen, daß er liest, genau wie dem Träumenden, daß er träumt. Mehrmals läßt sich ein solches Buch lesen und ist immer wieder vergessen. Will sagen, immer wieder unbewußt vermählt und dem Gespannten am Tag so neu wie ein Bild, das einmal schreckte
oder aber in längst vergangenem Kielwasser nachglänzt. Sieht 173
Be | man doch keine wirklichen Menschen, sondern deren gewünschte Abenteuer, offen erzählt.
Ein gleich offenes Stück, genau gehört es hierher, ist der Jahrmarkt selbst heute. Durch technischen Kitsch verfälscht zieht
immer noch liebliches Geläute. Auch er führt für Jugend und »Volk« Süden her, orientalische Farbe dazu, und ist ein Abbild
der Kolportage. Wovon jede Erinnerung zeugt, jeder erneute Gang durch die kindliche, uralte, medizinische, kriminelle, exotische Rauschwelt. Beginnt sie nicht sogleich gewürzt, für Nase, Ohr und Auge zugleich? Die Wafteln duften, Zuckerstangen lie-
gen vielfarbiginihren Mulden, zähe süße Schlangen hängen in sie herab. Kokosnuß liegt geschnitten auf dem Teller, rote und grüne Limonade ist aus farbigen Fläschchen zu saugen, als wäre sie verboten. Gezuckertes amerikanisches Maisbrot wird in einem
kleinen Drahtgestell gar, das über der Spiritusflamme hin- und herschwingt; Tiroler Alpenbrot türmt sich empor, braun, würf-
lig, leicht wurmstichig und porös. Der kleine Affe auf der Stange schultert den Degen oder schießt; müde und friedlich, still auf
gerettetem Boot, sitzt der alte einarmige Bergmann neben seinem schwarz ausgeschlagenen Schrank, und wie er dreht, bewegen sich die winzigen Puppen im Kohlenbergwerk, die Glocke klingt, der Förderkorb steigt, die winzigen Wagen rollen herbei
und das Geheimnis der gefährlichen Tiefe liegt am Licht. Freundliche Brezelmänner durchteilen mit ihren Körben die Menge; kalte verdrossene Hausierer stehen fest umher, um den
Hals den Kasten voll blauer Zwicker, schreiender Beutel und Schweine zum Aufblasen, auf- und niedertanzender Indianer, kitzelnder Pfauenfedern für Erwachsene, hölzerner Scheren-
griffe, die, zusammengeklappt,
diagonale Hölzer in die Luft
treiben, mit zitternden Schmetterlingen am Ende. Zwischen Luftballons zieht noch der große Götzendiener einher, den Dudelsack wie einen Leichnam vor sich, worin es singt, auf dem Rücken die Riesentrommel mit Triangel, welche er vom Ellbo-
gen und der Ferse her gleichzeitig betreibt, auf dem Kopf aber sitzt ihm ein ruhelos geschüttelter Glockenbaum: der Südwind, die Südsee, welche an hundert Glocken schellt. Die Zigeunerin sammelt, und die Italienerinnen halten Käfige mit Wellensittichen im Arm, welche Glücksbriefe ziehen, der Bologneser Teufel
174
tanzt in seinem Glas auf und nieder, und auch er weiß die Zukunft voraus, an einem unscheinbaren Tisch daneben hängen kleine Schläuche nieder, die man in die Ohren stecken kann, das Ganze sieht halb nach Schuhlitze, halb nach Tintenfisch aus, da dreht sich die Walze, und man hört, unendlich fern, den Aufzug der Schloßwache in Berlin. Doch immer wieder schreit der wahre Jakob gewaltig dazwischen, auf hohen Brettern nicht
fern von Laucks Waffelbude und dem recht versteckten Kasperltheater in der Hafenstraße; dem wahren Jakob aber zu Füßen breiten sich aus, schichten sich hoch die Posten Makkohemden und Unterhosen, die Schnupftücher, Bleistiftbündel, Notizbücher, Hosenträger, Wachstuchdecken und Fleckenwasser, es blitzen die Tombakketten mit Berlocke zur Dreingabe. Alte dunkle Reime sagt er vor von Kain und Abel, auf der Wachstuchdecke aber sind Adam und Eva zu sehen samt dem ganzen Paradies, und würzige Bilder stehlen sich den Weibern, Bauern, Schiffern, den berußten Hemshöfern, den Mützenmännern aus dem Rheintal und der Gräfenau ins Herz. Das alles ist erst Vor-
hof oder Pylonenreihe der Budenstadt, ja: der Schiffsstadt, die vor Anker gefahren ist und exotisches Apriori ausladet (dem nichts mehr oder noch nichts entspricht). Im Innern aber leben die »Schrecken des Orinoko«, mit Muschelgeheul und Meerweibchen im Schiffsrumpf, daneben »Seltene Menschen und ihre
Kunst«: Cowboys nicht nur und Einwerfen der Dame mit Mes; sern vom
Kopf bis zu den Füßen, auch Hermaphroditen
und
ägyptische Goldweiber, lebende Aquarien, letzte Azteken und Männer,
welche sich in ihr Riesengedächtnis
versenken.
Re-
ı gungslos murmelt Madame Lenormant als Puppe hinter Glas, doch einen Schritt weiter und Schichtls Zaubertheate: folgt ihr
‘nach, der Doktor Faust ist nicht vergessen, däs » Treiben der alten Brahmanen und Ägypter in ihren 'Tempeln und Extra‘ hallen«. Weiß im Mantel steht Doktor Faust (auch Dr. Archi-
medes seit manchem Jahr), zaubert Blumen aus Straußeneiern, bannt Schlangen zurück in die klappernden TTruhen, welche ‘ durch die Lüfte fahren. Samiel schwebt als rotes Gesicht durch ‘ den kohlschwarzen Raum: die Musik gibt soeben das letzte Zei‚chen, und Magneta erscheint, die entflohene indische Haremsprinzessin als Königin der Luft. Es ist entführender Zauber 175
ohnegleichen, zweimal im Jahr schlug das geheime Mittelalter seinen Mantel zurück; dies Leben drang an mit der Miene eines Gastgebers, der sich auf Kitsch und Grauen, auf Schreck der
Anatomie und Lüsternheit des Scheins, jedenfalls auf Überfluß versteht. So ist der Jahrmarkt, so macht sein billiges, sein überfließendes Traumschiff auf den staubigen Plätzen fest. Noch
steht die eigentümliche Schönheit von Schießbudendamen vor den Abendtempeln (mit Schminke, die sich als solche gibt, und Augen wieemailliert);dieSchönheit desMarsmädchens Adruide, man muß sie enthüllt gesehen haben, wie sie dasBild hier draußen
zeigt, Adruide ist wild und jähzornig, wird darum gefesselt vorgeführt, Adruide ist die originellste lebende Reproduktion des Jahrhunderts. Barbarisch geht der Traum- und Vorhanggötze über den Platz; Orchestrions wirbeln die Fetzen zusammen, und
der Äquator zieht durch den eigenen Leib. Die Trompeten zwar, welche Musikanten
vor mancher
Bude blasen: hemdsärmelig,
mit offenen Westen, dem steifen Hut auf dem Backenkopf, sind Dorf geblieben, Musik des dörflichen Biers. Und doch ist lehrreich, in veränderter Zeit, in den Zeiten abnehmender, ja,
verschwindender bäuerlicher Folklore: je mehr Proleten gerade eine Stadt hat, desto weniger ist dieser Volkszauber verschwunden, desto greller sehen seine Meßplätze aus, desto lebhafter ist
alte Folklore gerade in eine neue umgesetzt. Das Orchestrion hat die Drehorgel schon lange vermehrt, nicht verloren, der Jazz ist gerade wegen seiner Exotik, wegen der Primitive in dieser Exotik dem Ländler näher, als die Nationalsozialisten glauben (welche den Ländler nur als Salonstück kennen); selbst die Elektrizität hat den Karussells nicht geschadet, sie vielmehr aus einer ganz anderen Masse befeuert. Hier eben arbeitete schon von Anfang an jener Doppelsinn von Folklore, welcher heimische Sitte und städtisch abgestoßene Wunderschau zusammen erträgt; die dörfliche Kirchweih war die Bauernstadt (sogar die exotische), der städtische Jahrmarkt macht Stadtbauern. Und das XIX. Jahrhundert gab außer der Mechanik noch eige-
nen Schwulst hinzu: es brachte seine Litzen und Glasperlen, das Ornament als Roheit und Gebrüll, die Musik als Kolportage, das Lachgas des Orientalischen Irrgartens, die Paradoxien eines Dampfkarussells in Barock (die nur hier eben keine sind); kurz, 176
alle Traum-Montage
des rätselhaften Jahrhunderts kam hier
lange vor dem Surrealismus nach Hause. Ein »Blauer Reiter« mit dem Index Großstadt statt bayrischer Glasbilder hätte in dieser Welt »Expressives« noch einmal; er hätte heimische Südsee
auch hier, Wachsfiguren und die langgezogenen Wachsfiguren der mechanischen Musik. Jahrmarkt wie Kolportage bewahren derart entscheidende Kategorien verzerrt, die das bürgerlichgebildete Wesen längst verloren hat; sie bewahren vor allem Seinwollen wie das fehlende Leben, wie buntes Glück. Selten ist »Barbarei« dem Juste milieu (das der Nationalsozialismus aus
ihr doch wiederherstellen will) so wenig günstig. Kolportage aber, zu der jede Jahrmarktsstraße zurückkehrt, ist als Lektüre, was der Marktzauber zum Teil optisch war. Sie ist, in ihren Spannungen und Lösungen, orientalischer Irrgarten, entflohene
indische Haremsprinzessin zugleich. Auch dem Leser dieser Dinge ist daher nur wichtig, sich fort
zu träumen. Kaum nimmt er die Sprache wahr, worin Packendes doch erst gesagt werden muß. Wie die Straße sich unmittelbar in den Jahrmarkt hineinzieht, so sind auch die geschriebenen Buden für Passanten da. Was »guten« Büchern so wesentlich ist: gestaltet zu sein, keinen Stoff ohne Formung darzubieten, das
fällt an Kolportage ohne weiteres aus. Was vor »guten« Büchern den Dummkopf, mindestens Laien kennzeichnet: Sprache und Aufbau nicht wahrzunehmen, diese selbe Unmittelbarkeit macht vor Kolportage den Kenner. Die literarische Unbildung der meisten deutschen Kleinbürger (sie mögen lesen, so viel und so
lange sie wollen) ist derart mit der Frische nicht verwechselbar, die Jugend und »Volk« der Kolportage entgegenbringen. Nur dann, wenn diese erwacht, wenn sie statt erzählter Spannungen und Wunschphantasien wirkliches Leben zu herabgesetztem Preis dichten will, entsteht verluderte Sprache statt überhaupt keiner Sprache, Klischee der gleichen Situationen statt Arabeske
der gleichen Motive, kleinbürgerliche Moral statt des Glückswegs durch Nacht zum Licht; nur dann entstehen »innere« Menschen aus Papier statt der hier einzig legitimen aus rasender Handlung. Selbst wo Schund in einem dieser Bücher überwiegt, ist er nebensächlich; wogegen er substanziell gerade in der klein-
bürgerlichen Wachliteratur zu Hause ist, in der Lektüre jener,
177
die aus ebensoviel Klasseninteresse wie schlechtem Geschmack
Kolportage mit Schmutz- und Schundgesetzen bekämpfen. Gibt es kein ganz gutes, so erst recht kein ganz schlechtes Buch der Abenteuer; dieser Schatz reinigt sich sogleich an der Traumkraft, der er ohne viel Umwege entstammt, an gewissen »urrecht-
lichen« Wunschphantasien, die die Erzählung selber sind. Aber nicht nur das Unmittelbare der Spannung, auch deren Inhalt
selbst nährt sich aus dem Traum, und zwar in doppelter Gestalt. Einmal ist der kreatürliche Wille in ihr, der schreit, sodann der Widerschein dieses Willens in einer frühen Wunschwelt, die im "Traum überall durch die heutige Dingwelt durchscheint. Beiden
Eigenschaften des Traums: der kreatürlichen Urspannung wie den Arabesken der Verschleierung, Einkleidung und Verwette-
rung ist Kolportage der nächste und treueste Ort. Sie wird dieser Art der populäre Widerschein von Urmotiven der Angst, der Rückkehr, des Muts, der Erwartung, Enttäuschung,
Rettung und anderer Erschütterungen des Willenslebens im | Spiegel gefährlicher Ferne oder abgrundreichen Glanzes. Das hat weder Psychologie noch gegebene Wirklichkeit; es zeigt lediglich das gärende Farbenwetter der Kreatur und draußen den veränderbaren
Bildnebel vorrealer Traumwelt.
Die Ver-
schlingungen des Willens also sind in Kolportage allemal die der
Traum-Arabeske, freilich nicht die der völlig freischwebenden, | an welcher die »Phantasie« (man erinnere sich der Einleitung, die Hauff seinen Märchen gibt) ohne Wille und Kreatur wäre;
sondern es ist jene Arabeske, welche in Abenteuern fließt, reitet, fährt, welche ihre endlos möglichen Verschlingungen mithin selber dynamisch hat. Erst recht am Schluß; denn durch und mittels
all dieser Arabesken arbeitet immer wieder die Tonika der Lösung, der Urwille der Rettung und des Glücks. Kolportage hat in ihren Verschlingungen keine Muse der Betrachtung über sich, sondern Wunschphantasien der Erfüllung in sich; und sie
setzt den Glanz dieser Wunschphantasie nicht nur zur Ablenkung oder Berauschung, sondern zur Aufreizung und zum Einbruch. Daher eben wird Kolportage von der Bourgeoisie als. gefährlich, nämlich als Schmutz und Schund schlechthin verfolgt; daher vor allem ist Kolportage keine stille Kalendergeschichte mehr, auch kein bloßer romantischer Ritterroman 178
fürs kleine Volk. Sondern sie ist der Wunschtraum nach Weltgericht für die Bösen, nach Glanz für die Guten; dergestalt, daß
. am Ende dieser Bücher stets ein Reich der »Gerechtigkeit« hergestellt ist, und zwar eine der Niedrigen, denen ihr Rächer und Glück kam. In der Freizügigkeit erst entstanden, ja, sinngemäß aus ihr erst möglich, dringt so Kolportage seit hundert Jahren steigend vor; sie hat die seßhaften Kalender, die Schnurren des bedürfnislosen Volks überrannt; sie ergreift die Urstoffe der alten Ritter-, Verfolgungs- und Rettungs-Epen, wenn überhaupt, so nicht romantisch, sondern selbstbezogen und revolutionär. Die Freiheit erscheint hier als ihre eigenen Circenses, mit Schurken, die sie hindern, mit edlen Rächern, die sie ans Licht bringen. Kolportage hat Gift, Dolch, Schändung, Brandluft Indiens und als Stern darin die einzige gerettete weiße Frau, den Engel von Delhi: doch indem sie so wild und primitiv sich kontrastiert, geschieht sie als bewaffnetes Märchen, als höchst aktivierte »Unterhaltung« an mythischen Mächten und vor allem als deren Sturz. So verschieden auch hier der Zweck, wozu die rauschenden _ Stoffe brauchbar sind. Das gut entführte Mädchen freilich ist im Leben selten, die freie Bahn dem Glücklichen lenkt ihre Leser nur ab. Sie täuscht vor, es gäbe noch freizügiges Leben; als wären die kleinen Leute nicht alle wieder Arbeitssklaven ohne Aufstieg (sofern sie nicht so frei sind, entlassen zu werden). Es ist
zwar menschlich richtig, auch sachlich letzterdings in Ordnung, zu sagen: Laßt dem armen Teufel sein Vergnügen, der bei seinem abendlichen Preßsack mit Kara ben Nemsi von Bagdad nach Stambul reitet. Doch politisch allerdings ist eine Kehrseite der
Kolportage gerade heute nicht übersehbar; sie ist so aufdringlich roh und matt zugleich, wie die andere Seite feurig und unbequem. Denn Glücksbilder können auch stillen und irreal berauschen; dazu kommt, im eigentlich nationalsozialistischen Zweck und Gebrauch: Old Shatterhand trägt einen sehr deutschen Bart,
und seine Faust schmettert imperialistisch herab. So daß hitlerisch ertüchtigter Gebrauch nicht fern scheint (und Hitler in der Tat auch diese Art Karl May liebt und dem » Volk« erfüllt). Was derart nationalsozialistische Wirkung von Kolportage angeht, so
sei ein Passus aus Schlichters Jugendbericht: »Das widerspenstige 179
‘
Fleisch« hergesetzt; dieser ist das bezeichnendste Stück Hitlerpubertät ante rem. Der Maler Schlichter beschreibt seine jämmerliche Jugend, ihre Minderwertigkeit und Verschwültheit, ihre Niederlagen kameradschaftlich, sozial und erotisch, er bei
schreibt die vergebliche Werbung um ein Mädchen und fährt fort: »Auf dem ganzen Weg versuchte ich nun, sie in meine Ideenwelteinzuweihen, ich schwärmte ihr von der Französischen Revolution vor, schilderte die Ruchlosigkeit des Reichtums,
klärte über indische Mördersekten und chinesische Geheimbünde auf, erzählte von den Heldentaten Karl Mays und daß auch für mich einst der große Tag komme, wo ich an der Spitze zahlloser Reiterheere die verworfene Welt einer Gott entfremdeten Zivilisation in Trümmer schlagen werde.« Der sub-
jektive Ernst dieser Phrasen liegt ebenso vor Augen wie der unverkennbare, der von Schlichter eigens zitierte Einfluß der Kolportage: nämlich ihrer wilden und wirren, dazu klein-
bürgerlich-moralisch
interpretierter* Freiheitsirratio
auf ein
Milieu, das dem Nationalsozialismus, wie er dann kam, nicht
günstiger sein kann. Ohne Zweifel ist Schlichters Bericht für viele Kolportage-Einflüsse auf Pubertät, ja,noch auf jugendliche Erwerbslose typisch; sowohl was den unnachahmlichen Spiegelberg-Tonfall wie die Überkompensierung angeht, welche nationalsozialistische Phantasterei und »Idealismen« aufweisen. Nicht
einmal der furchtbare Geheimbund fehlt im Kolportagesystem des deutschen Fascismus: er ist der des Schut oder des Mahdi zu Hause geworden, er ist die » Verschwörung« des Freimaurertums und vor allem der sogenannten Weisen von Zion; Millionen Deutsche glauben an einen jüdischen »Fürsten der Verbannung« und seinen » Auftrag an alle Juden, die Herrschaft Israels mit allen Mitteln zu errichten«. Das alles ist geglaubte, ja realisierte Kolportage durchaus; solche Züge und Wirkungen hat sie allerdings auch, heute mehr denn je, Züge, worin sie (und die wilde, wirre Freiheits-Irratio, die Fluchtlust, Marschlust, Lagerfeuer-
lust, deren sie der aussprechende Teil ist) zum Effekt von heute ideologisch beiträgt. Jedoch eben, es gibt erst recht die andere Seite der Kolportage, diejenige, welcher die angestammte Autarkie durchaus, ab ovo, fehlt, dagegen Erinnerung der Franzö-
sischen Revolution, dazu ein gewisses Ex oriente lux nicht. Nur 180
dadurch überhaupt ist die finstere Phantasterei der Nazis, nur dadurch ist diese ihre Gegenkolportage möglich geworden, daß die bleibend revolutionären Spannungen und Inhalte der echten (im ausgedehntesten Sinn) dem Proletariat nicht zugeführt,
‚ vielmehr: aus dessen neuer revolutionären Spannung und Welt nicht neu entwickelt worden sind. Wo das geschehen ist, wie in einigen russischen Filmen, vor allem im »Potemkin«, mit
großem Abstand auch im »Sturm über Asien«, zeigt sich sogleich, daß nur hier die Sonne Lederstrumpfs leuchtet, nicht im wahnsinnig gewordenen Familienroman. Kolportage im XIX.
Jahrhundert war gerade Flucht aus ihm; sie malte — wie undeutlich und klassenunbewußt immer - uneingelöste Jugend in die Welt. Leser suchten hier Erzähler, welche ohne Urwald nicht auskommen; welche für alles, was in Europa nicht geworden war, draußen Entladungsräume hatten oder den Traumbasar. Auffallend, nicht auffallend, daß es heute keine Jugendbücher
gibt, die mindestens weniger individualistisch sind. Weniger an einem »Helden« hängen, weniger das individualistische Pionierland Amerika mitschleppen. Mehr zu national-revolutionären Volksaufständen gehen, worin Boxer oder Mahdis unterdrückte Völker fanatisiert haben; dieser Explosivstoff hat noch keine
Kolportage gezündet, hat den Lederstrumpf mit Sturm über Asien noch nicht überholt und vermehrt. Und die Gegend, worin
Kolportage ihre eigentlich literarischen Enklaven hat, ist nicht die kleinbürgerliche Wachliteratur, worin sie Schund wird, son-
_ dern durchaus die Gegend Poe (nach Seite ihres Choks) die Gegend Sealsfield, Conrad, Stevenson (nach Seite ihrer Ausfahrt und Abenteuer). Wobei sogar diesen Großmeistern fehlt, was
_ lediglich die Literatur der Enterbten (auf dem Marsch) haben kann: nämlich Rettungs-Stil, ja, um an das größte Beispiel
- Kolportage zu erinnern: Fidelio-Stil. Träumt also Kolportage immer, so träumt sie doch letzthin Revolution, Glanz dahinter; ' und das ist, wenn nicht das Reale, so das Allerrealste von der Welt.
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Das Riesenspielzeug als Sage
Wäre es zu Hause anders, dann möchten Kinder nicht so grell lesen. So aber brauchen sie Märchen, wilde Männer, befreiende
und glänzende dazu. Diese jedoch zeigen zuweilen viel herbere | Miene als die märchenhafte im Buch der Befreiung, als die rettende. Das immer dort, wo sich andere deutsche Seiten aufschlagen, sagenhafte, von Herren kündend, nicht von kleinen oder
armen Helden, die sich ihnen entzogen haben. Hier brennen Knaben nicht durch, sondern es verschönt sich gewesene Angst,
gewesener Druck, befohlener Stall, ist er gleich im Haus des Herrn, der sie nachher frißt oder schont, je nachdem. Dies Wilde gehört noch hierher, es ist zunächst ein völlig anderes als die Kraft, ihm zu entrinnen.
|
Nicht nur Hänsel nimmt Gretel mit sich fort, auch größere verführen es. Sie zeigen Gesichter, die sich an die Scheibe pres- |
sen oder glänzende, allemal von oben her starrend. Es sind Gesichter der Sage; denn auch diese wächst im alten Land, Märchen und Sage sind so dicht und schlicht nebeneinander, zeigten sie nicht ganz verschiedene Zeit. Als bezeichneten
die ja, als sie
nicht ganz verschiedene Welt: das Märchen hineinleuchtend in
Kolportage, bezeichnet Revolte, die Sage, abstammend
vom
Mythos, erduldetes Geschick. Ist im Märchen Aufruhr des Klei- | nen und meint es Aufklärung des Banns, bevor es eine gab, so,
berichtet die Sage still von Unabänderlichem. Hier nehmen die
Menschen hin, was mit ihnen geschieht, und gehorchen; worauf | sie bestenfalls »belohnt« werden. Setzt der Fährmann die Zwerge über, so wird ihm ein großartiges Almosen; wo nicht, wird er |
siech. Wirft der Bergmann sein Beil in den goldhaltigen Stollen, | wohin der Berggeist eingeschritten ist, so bleibt der Stollen often; hat er die Regel nicht befolgt, dann ist wieder
taube
Wand. Hochzeiter werden in der Sage wegen ihres »Übermuts« | in Felsen verwandelt, geschwätzige Prinzessinnen, weil sie das
Schweigegebot übertreten haben, in Bäche. Selbst die guten Geister sind zweideutig, als Nixen, gar Kobolde, oder launenhaft despotisch, und der Umgang mit ihnen unterliegt einer Etikette, die noch, wo sie rettend, entzaubernd ist, von den Geistern diktiert wird. Die Mitspieler aber sind allermeist geängstigte Bauern, 182
Brni 2‘
böse Grafen und Gräfinnen, die sie noch im Tod erschrecken. Selbst wo Armen geholfen wird, wirkt in Sagen nicht die eigene List oder die Ratio des gefundenen Auswegs, sondern von oben
herab segnen Stammherrn, belohnen erlöste Ritter in den Armen wunderschöner Frauenbilder. Lehrreich derart für den puren Herrenfrieden, Herrennutzen, den die Sage im Unterschied zum allemal rebellischen Märchen stiftet, ist die elsässische vom Rie-
senspielzeug: der Bauer in der Schürze, auf dem Tisch muß er sein Geschick leiden schlechthin, ganz ohne List, und die Riesen sind nicht dumm wie im Märchen, sondern spielende Edelfräulein und ernste Ritter als Väter, welche den Bauern wieder zurücktragen lassen; denn »baut der Bauer nicht sein Ackerfeld, so haben wir Riesen auf unserem Felsennest nichts zu leben«. Und bezeichnend für den mythischen Frieden, für den Frieden mit dem alten Mythos ist der Weg, welchen noch die »Christianisierung« der Sagen genommen hat. Hier werden die alten Dämonen, auch Götter, ihrem Grund nicht enthoben oder gar
der getaufte Mensch über sie gestellt, sondern sie bleiben als verteufelte Ci-devant-Herren (vor denen man nun doppelt sich zu fürchten hat). Oder sie werden gar, scheinbar, neu gebildet
und leihen der mythischen Straf-Dämonie, auch im Christentum, neuen Hintergrund. So wird nicht nur Prinzessin Ilse das geschwätzige Bächlein im Harz (dessen Nymphe sie vor Zeiten war), es wird auch die brotschändende Frau Hütt in den Tiroler
Berg versteinert (als dessen Göttin sie vor Zeiten geherrscht und gebannt hatte). Nur der Akzent des Banns ist in der »christianisierten« Sage verschoben, der Bann nicht; so stammt noch
Gotthelfs halbmythisches Hagelwetter auf Uli, den schlechthandelnden Knecht, von den Höhen der versteinerten Frau Hütt, während die Gärten des Märchens allerdings nirgends davon betroffen werden. Denn eben: das Märchen ist, wie zu sehen
war, die List Hänschens, die List des armen Soldaten gegen die mythischen Mächte, sogar noch gegen die moralisch getönten;
wogegen die Sage allermeist nur verkleinerte Mythologie darstellt und nicht ihren Gegensatz. Das Märchen, sagten wir, schwebt wie die Zeit, worin sein Triumph geschehen ist; und
wo er geschehen ist, steht dahin. Die Sage dagegen hat sich zeitlich wie lokal durchaus niedergelassen, sie ist moralisch wie die 183
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en
Unterdrückung, stationär wie eine Chronik und passiv genau wie das Zeremoniell ihrer Inhalte. Dem Märchen (wie dem ihm verwandten Kasperltheater) gelten nicht einmal die Polizisten
als Menschen, alles ist gegen sie erlaubt. Der Sage dagegen sind die Menschen das gleiche mythisch, was sie zur Zeit der Brü-
der Grimm, zur Zeit der Reaktion, politisch waren: nämlich Objekte, denen nichts erlaubt ist. Das Märchen ist ebenso die erste Aufklärung wie es, in seiner Menschennähe, Glücksnähe, das Muster der letzten bildet; es ist allemal kindliche Kriegs-
geschichte der List und des Lichts gegen die mythischen Mächte, es endet als Märchen vom menschlichen Glück, als gespiegeltes Sein wie Glück. Die Sage dagegen erzählt mythischen Bann, gibt seine heteronomen Reize, ist eine Gespenstergeschichte älterer Ordnung, ist das einzige Feld, woraus die Reaktion ihre Bilder holen kann, sie mit dem Märchen in falscher »Folklore« vermischend. Die Welt des Märchens lebt in Kindern und dem Apriori der Revolution; die Sagenwelt überlebt sich, nach ihrer düster-panischen Seite, in Träumen und Irren, nach ihrer hero-
isch-panischen in der Reaktion. Noch die Helden der Sage sind zumeist ja keine menschlichen, keine prometheischen mit Spannung zu droben, keine Helden der Tragödie; es sind vielmehr Natur-Dämonen, welche mit anderen Naturdämonen um die Herrschaft streiten, um die Herrschaft im unveränderten Reich der Natur. Also trifft auch jede Folklore, welche, wie heute üblich, Märchen und Mythos koordiniert (weil beide so nahe, so
gleichmäßig nahe der »Natur« scheinen), an der Folklore nur, was ihr Bann, nicht, was ihr Wille zur Freiheit war. Wagner frei-
lich, mit seinen fascistischen Instinkten, sah auch im Märchen nur |
»verkleinerten Mythos« (und der Sohn Siegfried folgte nach, Humperdinck hat gar Hänsel und Gretel mit den Mitteln des | Nibelungenorchesters
komponiert);
Klages
wiederum,
der
ahnungsvolle Reaktionär, sieht im Märchen nur den »kindlichen Nebenschößling des schauenden Lebens«. Doch eben das » Volkstum« der Sage ist überhaupt keines als ein reaktionär konstruiertes und darüber hinaus ein bloßer Spiegel von Schreckherren und Dämonien; während das wirkliche Volkstum der Märchen heute noch in Kindern blüht und im menschlichen Glück. Wie
die Kolportage nicht Ritterromane fortsetzt, sondern höchstens
184
|
|
deren Abenteuer, als verwandelte, ins Groß-Märchen oder Grob-Märchen der Befreiung einbringt: so stehen in der unab-
gelenkten » Volksromantik« überhaupt nur Bauernkriege, keine Ritterburgen, nur Märchen der Entronnenheit, kein Aberglaube.
Die Aufklärung hat das Jenseits nicht heruntergestürzt, damit die Reaktion das Diesseits wieder panisch mache. Ja, auch hier suchten die Hörer Besseres, als die Herren meinten. Helden, die sich in den Wald vertiefen und Gebannte erlösen, wenngleich allzu huldvoll. Es gibt sogar lebende Über-
gänge zwischen den Schwachen des Märchens und den Gewaltigen der Sage, die dadurch
aus ihr heraustreten.
Der
»edle
Räuber« vor allem bezeichnet diesen Übergang; lange vor der Französischen Revolution hat das arme Volk die Fra Diavolo geehrt, halb im Märchenton, halb sagenhaft von ihnen berichtend. Und Hauff, im schönsten Reich neu-alter Märchen und frischer Kolportage, malt mit verwandten Farben sowohl den kleinen Muck, als eine echte Märchenfigur, wie den Räuber Orbasan, als den mächtigen Herrn der Wüste. Verwandt er-
scheinen die ziehende Sehnsucht des kleinen Muck, der jeden Scherben aufhebt, worin die Sonne glitzert, als sei er ein Diamant, und der Glanz des edlen Räubers Orbasan, sein kriegerischer Anstand, vor dem es dem Zaleukos immerhin »graute«.
Solch große Herren sind dann stellvertretend für die Racheoder Glückwünsche
der Kleinsten und führen sie zum
Sieg.
Das steigert sich sogar in mancher Spuksage: was Bauern sich wünschen, wozu sie zu feig oder zu schwach sind, das erfüllen,
wie Sternberger an einem »Vogelsberg-Gespenst« zeigte, Dämonen oder Gewaltige des Orts; freilich irregulär die einen, illegal die anderen. Ein weiteres Mischwesen zwischen Märchen
und Sage ist uneigentlich Mythisches in ihr, Mythisches, das durchaus bannend und statisch wirkt und trotzdem nicht außer-
halb der Menschen. So »mythisch« in der Sage sind die taohaften Gestalten, vor allem sehr alte, das Paar Philemon und Baucis etwa: märchenhaft entronnen, obwohlnaturhaftruhend. Und ge-
wiß auch ist in dem sehr viel geringeren Tao Gotthelfs ein solches Verhältnis; es entzieht streckenweise der Sage die Lokalität des Banns, rettet das Lebenslicht, das menschlich eigene Lebenslicht ruhig brennend drinnen wie draußen. Keine Korrektur 185
erfährt dadurch die Erkenntnis der Sage als einer überwiegenden Macht-Verehrung, Bann-Vergoldung; im Gegenteil: die mythologische Natur-Dämonie der Sage erhellt an solchen Einbrüchen, sei es der Kolportage, sei es der märchenhaften Mystik, erst recht. Aber selbst in der Sage ist zuweilen menschlicher Krieg und ein Sieg über Herren, der zu plündern gibt. Selbst in der Sage trifft der verspukte Schuß zuweilen, wider
alle Regel des Anfangs, den Schützen, der in Schreck versetzt. Selbst die Sage hat den Rattenfänger von Hameln, den gerade Kinder gut verstehen; auch sollen die Kinder, nach einer Lesart dieses wunderlichen Berichts, aus dem Berg glücklich wieder
hervorgeführt worden sein, in weiter Ferne. Vielleicht ist die »Kolportage«, recht angewandt, noch einmal so stark, daß auch
sie den Mythos auflockert, wo er am dicksten ist. Nur aus der reaktionären Romantik und zuletzt eben von Wagner stammt die dumpfe Uniformierung, daß der Mythos ein vergrößertes Märchen, das Märchen ein verkleinerter Mythos sei; und die
Nationalsozialisten vollends verwischen die Grenze zwischen Märchen und Sage, die Grimm noch entscheidend gesetzt hatte, vollends. »Mir war«, sagt Nestroy, »mir war der verlorene Sohn immer verächtlich; aber nicht, weil er ein Schweinehirt war, sondern weil er wieder nach Hause gekommen ist«; — genau das Dynamit dieser Erkenntnis ist im Geist der »Kinder-
und Hausmärchen«, ist im gesprenkelten Rausch der Anti-Sage oder Kolportage. Die proletarische Revolution ist der »phantastischen« Literatur meist feindlich; doch in Märchen und Kol-
portage haben Spannungen und Buntheit ihr brauchbares Refugium, sie können von hier aus Truppen werden.
OKKULTE
PHANTASTIK
UND
HEIDENTUM
Der Tag der meisten ist öder als je. Lang schon läuft kein besserer Brief ein, bleibt die Post aus. Dafür Sorge genug zu Hause,
das Dasein der Jungen geht nicht an, das der Mittleren wird
früh zu Asche. Selten war bürgerliche Kälte so lastend, nie die Tür so zu. 186
Desto heftiger der Wille, wenigstens versteckt durchzubrechen. Die Pessimisten der letzten bürgerlichen Generation
waren zufrieden, schließlich nur scheinheilig trauernde Spießbürger. Sie fühlten sich noch stolz darauf, in ihrem Sinn »aufgeklärt« zu sein, lobten nicht nur, wie rechtens, die Wissenschaft, welche Illusionen zerstört, sondern die starre Leere dazu. Ihre Formel war nicht nur das entzaubernde »Nichts als«, sondern der neue Zauber des Mechanismus, die kalte Verzauberung, welche Druck und Stoß, Kampf ums Dasein, sinnlose Welt als
»ewig« setzte. Erst die Pessimisten der jetzigen bürgerlichen Generation fühlen das Entsetzen dieses Nichts als eines geschichtslos, fertig gemachten; und der Glaubensersatz von
»Kunst und Wissenschaft«, der dem Bildungsphilister genügt hatte, wirkt nicht mehr als Trost. Denn im urtümlichen Glauben war weder Kunst noch Wissenschaft, sondern ein eigenes Bedürfnis, mit Sexualität und Rausch eng verschlungen; die Gegen-
stände aber, woran sich das religiöse Urbedürfnis gefaßt und gestillt hatte, waren mit den Gegenständen der späteren Naturwissenschaft nicht konform. Erstaunlich zwar, daß die mecha-
nische Naturwissenschaft dies Urbedürfnis überhaupt abbauen konnte (nachdem keine sexuelle Aufklärung und Gynäkologie je die Libido entzaubert, gar zerstört hat), aber undenkbar, daß dieselbe Wissenschaft, die zerstörte, die gekommene Leere schließen könnte, gar mit Mechanismus. Sie ist hierzu desto
weniger imstande, als sich diese Wissenschaft mit ihrem Bürgertum selbst zersetzt hat. Der quantitative Kalkül ist zersprungen: so hält er den Mechanismus nicht mehr als Amen der Welt. Auch
von hierher bricht ins Haus Phantastik ein, dieses Falls völlig okkult. Zunächst sind darin nur schlechte oder verdächtige "Träume sichtbar. Flucht aus einem Nichts ins andere, Fratzen, woran
man nicht einmal glaubt. Weshalb sie auch wissenschaftlich erscheinen, sozusagen; denn selbst das Abergläubische weiß man
hier mehr, als man es glaubt. Aus aller Herren Länder werden derart Dunkelheiten geholt, besonders aus der eigenen Vorzeit. Man bezieht Masken, durch die der Träger sich selbst chloroformiert; oft auch nur Räucherei, die die Kleinen benebelt, die Großen einnebelt. Alte Weiber beiderlei Geschlechts, Adel und 187
Kleinbürger, kurz, sinkende Klassen bevölkern besonders Steiners Welt; sie ist die verbreitetste und unreinlichste. Offenbar verhindert nur der starke Anteil anderer Länder an der anthro-
posophischen Bewegung, daß diese geschlossen zu Hitler übergeht. Nicht nur die sozialen Dilettantismen (»Dreigliederung«) machten
sie dazu tauglich, auch die »Wesenheit
Michael«
in
ihrer Mitte. Welcher Steiner die Herrschaft des nächsten Zeitraums übergibt; sie wäre, trotz ihres hebräischen Ursprungs,
dem deutschen Michel desto leichter verbindbar, als dieser ja noch keine Mythisierung bei den Nazis gefunden hat. All dies Negative ist wahr, aber wahr ist auch, daß die Kunden dieser verkehrten Welt für die schiefe zu Hause nicht ohne weiteres tauglicher werden. Das »Okkulte« von heutzutage hat ein doppeltes Gesicht, und das fascistische, wie es sich seit 30 Jahren auch hier vorbereitet, gibt nicht die ganze Fülle seines katastro-
phalen und abergläubischen Ausdrucks. Gewiß ist im gesamten Vordringen des Dunkelsinns fascistische Reaktion, ja, ein totaler
Frontwechsel
des »liberalen«
Bürgertums
gegen seinen ehe-
maligen Feind, den Obskuranten, Okkultisten. Diese Reaktion
war ebenso im Rausch der liberalen Presse vor dem »Wundern von Konnersreuth«, wie sie in den mancherlei Metaphysikfreuden der Einzelwissenschaft seit 1900 schon lebt: im Neovitalismus, in der Konstitutionslehre, in dem mancherlei Ineinander
von Virchow und Paracelsus zugleich. Also ist auch der ökonomische Inhalt dieses unmittelbar fascistischen Dunkelsinns nicht selber verborgen; und bezeichnend wirkt für das Negative daran, daß das Anti-Marx-Institut Italiens » Akademie für fascisti-
sche Mystik« heißt. Denn der analytische Materialismus mußte einem Bürgertum immer fremder werden, je mehr es sich von seinen revolutionären Zeiten entfernt hat, je kräftiger vor allem das ‘Proletariat Vernunft und Analyse gegen die bürgerliche Welt selbst ansetzte. Jedoch damit eben ist weder der gesamte soziale Inhalt noch gar der gegenständliche, der gleichsam naturbezogene Inhalt dieses Neu-Okkultismus erschöpft. Der soziale nicht, weil die archaische Irratio der Vermissungen ebenso ein
riesiges Eingeständnis der bürgerlichen Leere darstellt oder der gekommenen Schwäche des bürgerlichen Weltbilds. Der Raum der springenden Mechanik füllt sich mit vorbürgerlichen 188
Erinnerungen auch hier, mit Trümmern eines mannigfachen Aberglaubens, die dem »sauberen« Kalkül und »systematischen
‚ Zusammenhang« mindestens fremd sind. Hier ist, mittelbar genommen, ein eigenes Ferment des spätkapitalistischen Widerspruchs, trotz aller fascistischen Nützlichkeit des Augenblicks;
der Rausch vorkapitalistischer Denkarten, vor allem die Sprung‚ welt des »Wunders«
und daß sie unter fertigen »Tatsachen«
und »Gesetzen« möglich sei, ist dem mechanisch geschlossenen Kalkül des Kapitalismus eine Anomalie. Ebensowenig aber ist der gleichsam naturbezogene Inhalt dieser Anomalie fascistisch erschöpft; denn der Hohlraum, den sie in der Welt anzeigt, ist
genau der des »Ding-an-sich-Problems«, also die mechanistisch undurchdrungene Materie und jener Abgrund, woraus einem Schelling noch Mythologeme kamen, einem Spätbürgertum Anti-Mechanismus steigt. Kurz: unmittelbar gesehen ist der okkulte Spuk gewiß nur Fascisierung des Bürgertums, Übergang seines unbrauchbar gewordenen Liberalismus ins autoritäre und irrationale Lager. Aber mittelbar genommen ist hier nicht minder ein Stück Widerspruch, welches das Spätbürgertum selbst gegen seine Ideologie produziert hat; wird dieser Wider-
_ spruch mit Aberglauben, Unsinn, Archaismen auch sogleich ent-
spannt, so eröffnet er doch wider Willen ein Segment mytho-
logisch
bezeichneter
(nur
bezeichneter)
Inhalte,
die
dem
' mechanischen Segment mindestens fremd sind, ja, zum Teil vielleicht unter jedem bisherigen Blick-Horizont liegen. Eine Klasse ohne Zukunft, wie die bürgerliche, schafft zwar keine neuen Gedanken zur Wirklichkeit, gar zu den echt verborgenen
' »Horizont-Problemen« der Wirklichkeit (nach dem Ausdruck von Lukäcs). Doch ist das Bürgertum, in all seinem lückenbüße-
rischen Eklektizismus, zum Ausverkauf alter, archaischer, viel‚ leicht verdrängter, vielleicht auch unerledigter Inhalte allerdings noch imstande. Kein Vergnügen, in dies Negative von _ höchst anderer »Kolportage« zu gehen, von Mythen-Kolpor-
tage gleichsam; jedoch: es ist ihr gesunder, ihr paradoxer Abgesang. Er hat zersetzte Mythen und Gärungselemente, macht ‘ dadurch stellenweise Bedeutungen frei, die im alten Mythensystem, im Banntypus der Mythen, nicht waren. Er ist insofern nicht nur ein Narrenspiegel, erst recht nicht einfache Reaktion, 189
Po
\
sondern steigt aus wankendem Boden. Okkultismus in seiner verbreitetsten Erscheinung ist Reaktion, gemildert durch Un-
kraut; Kolportage aus Mythologie fehlt ihm nicht, Phantasterei verwirrt die Sicherheit, und die Gegenstände sind mehr als diese selbst.
der Phautastik
Erlerntes Gruseln
Oft nimmt sich kleine Angst ganz leicht. Die Karten schlagen sie auf, der Tisch klopft ihr zu. Es ist die innere Unruhe, die so
ärmlich sich ermuntert, Laut gibt. Eigene innere Kräfte weckt gern der abergläubische Mann, die Frau fragt lieber, wie ihr
geschehen wird. Je zufälliger und undurchschauter ein Leben, | desto mehr
scheint
es mit einer Decke
zugeschlagen,
deren
Zipfel privat zu heben ist. Das geschieht leidend und nur mit | schrägem Blick ins unabwendbar Kommende. So wie Schüler heimlich, während der Pause, aus dem Notizbuch des Lehrers in der Manteltasche ihr Fortkommen erfahren. Vor Jahren
schon hat Meyrink die Folgen solch gestörter Zucht in literarische Form gebracht. Ursprünglich ein Witzbold, hat er das Gruseln erlernt; es gedieh zu feilem Spuk und feierlichem Kitsch. Unterhaltende Irrlichter tanzten hier auf dem sozialen Sumpf. Die Leute ziehen am Abend aus, noch ohne zu sehen, wohin. Science drolatique
Aber der beherzte Mann zwingt dem Dunkel sich selber auf.
Statt auf Karten zu hören und die Sprüche darum herum, greift | der abergläubische Wille selber in den Aberglauben ein. Nicht | bloß in der nüchternen Weise Cou&s, die sich auf recht dürre Vorsätze beschränkt, sondern in der massiven der Christian science. Diese ist Glaube an die Macht des Willens und über-
|
steigert zugleich die Vorstellung. Indem die rechte unablässig den Menschen
durchdringt, fallen die schädlichen Folgen der
falschen Vorstellung, der bloßen » Annahme« fort. Denn diese,
Annahme ist nur Schein, und Schein ist das Nichts; angenomme- |
ner, nicht seiender Schein ist derart jede Krankheit, die leibliche‘ wie die des (kapitalistischen) Sozialkörpers. Wogegen Glaube 190
an die »Gesundheit« oder das Gebet ein Transmissionsriemen _ ist, der das ermattende Individuum wieder mit dem Urdynamo Gott verbindet. Weiber machen mehr einen medizinischen, Männer mehr einen merkantilen Gebrauch von solchem »Christentum«. Praktisch empfehlen sich diese weitverbreiteten Glaubensartikel nicht nur naiv, am eigenen Leib, sondern mehr noch sentimentalisch, nämlich sozial. Der Arme hat es sich selbst zuzuschreiben, einer zu sein, seine falsche Annahme ist dasselbe, was früher seine Faulheit oder Untugend war. Es ist eine sehr
praktische Glaubenshysterie mit höchst gesundem Jesus und rein kapitalistischem Inhalt dieser seiner Gesundheit; sie erzeugt keine Wundmale aus Glauben, sondern nimmt sie weg, nämlich
die Wundmale mangelnder Prosperity. Eingreifend, als magischer Wille eingreifend, sind aber auch unchristlichere Geister;
diese holen sich aus den Lücken der Wissenschaft ihr Werkzeug, sozusagen. Glaubten nicht völkische Patrioten mit Abitur und allem Zubehör, gerade diese, an den Goldmacher Tausend, als an eine Art naturwissenschaftlichen Hitler? Amerikanisch: Sekten stellen ihre Betten in den Meridian, um vom Erdmagnetis-
mus zu profitieren; Tausend aber zeigte die »langhinschwingende Hand des Meisters«, er lehrte, daß Blei nur durch seine
Schwingungszahl vom Gold verschieden und also in dieses zu modulieren sei. Der Goldbaum im Innern der Erde schlug in Gedanken wieder aus, ja, der Mond gewann seinen Einfluß wieder auf das Wachstum des Silbers und die Sonne den höheren auf das Wachstum des Goldes. Idealer wurden andere Felder der Halbbildung bearbeitet, doch kosmischer Weizen hatte auch hier zu blühen, und dunkles Wetter stand darüber. Das wildromantischste zeigt wohl Hörbigers sogenannte Welteislehre: ' da wird Hagel zum Boten aus dem All, die Welt-besteht aus Eis,
drei Monde haben der Erde bereits geschienen und dazwischen
war mondlose Zeit. Allegorische Deutung der Sagen ist aufs ' neue in Schwung, doch nicht, um diese religiös auszusinnen, sondern um kleinbürgerliche Visionen ganz großen Stils hinein-
zulesen und die Sage dann, mangels wirklicher Beweise »naturwissenschaftlich« zu verwenden. Die Offenbarung St. Johannis ' etwa sei »zehn Millionen Jahre alt« und keine Zukunftsvision, ‘ sondern beschreibe »den Niederbruch des Tertiärmonds auf 191
die Erde«, - ein, wie Hörbiger sagt, »ebenso furchtbares wie spannendes Schauspiel«. Jede geologische Epoche wird derart durch einen Mondbruch abgeschlossen, jede neue durch eine glückliche, eine mondlose Zeit eröffnet: bis ein neuer Begleiter | eingefangen, bis auch Luna, der »Quartärmond«, auf die Un-
|
glücklichen niedergegangen ist und Marseinfang bevorsteht. Das sind die »Weltwenden«
für Halbgebildete oder der Reflex
apokalyptischer Stimmungen im Kleinbürgertum - eine spießig | ausgebosselte Phantasterei, die freilich nicht möglich wäre, hätte nicht auch der Verstand der bürgerlichen Wissenschaft sich um | drei Monde vermehrt. Denn was ist am Welteis wunderlich,
wenn es nach Dacque& - Sauriermenschen gegeben hat, die sich des Tertiärmonds erinnern? Ein Mann der Zunft, eben der an-
gesehene Urzeitforscher Dacqu£, legt derart als Ergebnis vor: es habe
Mikroben-
und
Fischmenschen
gegeben,
Proselenen
oder Menschen älter als der Mond, ja, der hürnene Siegfried sei ein Saurier gewesen, er schwamm wohl von Xanten nach | Worms. Die Wissenschaften haben, wie Jean Paul vorhersah, einen so hohen Gipfel erreicht, daß ihnen schwindelt. Der Wille aus Christian science, die musikalische Chemie des Goldmachers,
|
die nüchterne Phantastik aus Urweltsage-all das ist dem Fascismus als »Stimmung« tauglich, als bürgerliche Ordnung nicht. | Der faule, auch tätige Zauber blüht über den Zaun und Bann,
den er mythisch erneuert, wirr hinüber. Geheimniskrämerei als Großbetrieb
Wirrer noch, wo der beherzte Blick völlig fernhin zu treffen |
scheint. Dann herrscht Steiner, geschwätzig und viertelsgebildet, hat Geheimes zu versenden. Man erfährt vom wenig dichten Leib früherer Menschen, und daß die heutigen Knorpeln des Kindes dessen der Rest sind. Eine Abfolge von sieben mal sieben Unterrassen innerhalb der sieben Wurzelrassen faßt das Ganze der geschichtlichen Entwicklung ein, wobei die Welt |
eine Schule ist und ihr Gang ein Pensum abarbeitet. Lehrer aber |
sind die sogenannten Geisteswesen, von der Zeit an, als die Erde | noch feucht-innerlich war, bis zum
fernen Ziel, wo
auch sie
verengelt wird, nämlich zu Seelendunst. Alle parapsychischen |
|
192
|
Erscheinungen werden in dieser Zusammenfassung ausgenutzt, seien es Wahrträume oder Yogi, die zur Decke schweben, oder
schäumende Medien. Als sei das Grauen ein religiöser Zustand und das Gespenst ein Kronzeuge des wirklichen Grundes und Hintergrundes. Gerade sogenanntes »Christentum« ist hier völlig in verspukte Natur versenkt, zugleich auch (denn diese Geheimwissenschaft ist modern) eine Art gnostischer Lückenbüßer Haeckelscher Welträtsel geworden. Dies Sonnenwesen Christus, wenn es sich in die Erde versenkt und sie mit kurz
begrabener Sonne tingiert, präparierte lange vor den Neuheiden oder »deutschen Christen« einen Naturgott für nordischen Fascismus: daher die Adaptierung Jesu auf Siegfried, der Bibel auf
nordgermanische »Einweihungen«. Selbst die sogenannte »Christengemeinschaft« der Okkultisten sucht religiöse Erneuerung durchs Erlebnis des »kosmischen Christus« als einer »Sonnenkraft«, als der » Wiederbelebung des sterbenden Erdendaseins«.
Zu diesem »durchkräftenden Lebensmittelpunkt« hin findet der
Gottesdienst der Christengemeinschaft statt, der auch »Menschenweihehandlung« heißt; Steiners Mysterien sind jedes Orts atavistischer Spuk, trivialgewordener Astralmythos, travestierte
»Naturwissenschaft«. Doch auch ihr Lager ist recht vielseitig: Malerei, Farbenlehre, 'Tanzkunst, »Demeter-Bewegung« in der Landwirtschaft, Dramaturgie, Botanik, Physik, Geologie, Astrologie, Säfte-Medizin, Geister-Medizin, Metallurgie, Sozialpolitik, Aristoteles, Urgeschichte, Astrophysik — kurz, alle Gei-
steszweige und Hexenbinsen werden hier, mit wahrhaft enzyklopädischer Konfusion, ausgerissen und zum Strauß gebunden. Werden mit Luzifer-Gnosis erfrischt, mit Ahriman-Meaterialis' mus kontrastiert, von einem Geistes-Auge genossen, das die Erde schon kannte, als sie Saturn war, und wieder erkennt,
wenn sie »Vulkan« geworden ist, die nächste »Geistesstufe«. Hier arbeitet atavistisch-internationaler Großbetrieb, der im Mut zur Superstition, in der Generalauslage zersetzter Mythen
jede Konkurrenz schlägt, heiße sie Cagliostro oder Eliphas Levi. Natürlich führt dieser Betrieb, lange vor den Tausend, Hörbiger, Dacqu&-auch gewisse schiefe Restbilder historischer Art; wie das bei so viel Atavismus und seinem Ausverkauf nicht an‚ ders möglich. Denn nur durch die Mitteilungen atavistischer, 193
wenn auch kleiner »Hellseher« mögen dunkle Gebräuche der Vorwelt, Hexenglaube und Magie nacherfahrbar sein; selbst so
hohe Dunkelheiten wie Opfertrank, Grabkammer
der Pyra-
miden, Sternbilder, Tierkreis, das Tau des Kreuzes oder das I.N.R.I. (Igne Natura Renovatur Integra) haben eine (heutzu-
tage) parapsychische Wurzel. Es gibt keinen Religionshistoriker, auch keinen Theologen mehr, der trotz aller babylonischen oder astralwissenschaftlich parallelisierenden Forschung die religiösen Symbole oder gar die Vorgänge in den Mysterienkulten begreift (die mehr waren als bildliche Einführungskurse
in mathematische
Geographie).
Atavismen
dieser Art
regenerierten bei der Blavatzki und anderen Steinerdrusen der »Entschleierten Isis«, sie blühen bei immer vornehmeren Dun-
kelmännern bis herauf zur Parapsychischen Gesellschaft oder gar der Chymischen Rose (sieht man ins Dunkel, sagt Yeats, so ist immer etwas darin). Und Verblüffendes treibt zuweilen auch
in Steiners uferlosen »Zyklen«; es gibt manch bizarre Erinnerung des mythischen Pfingstfests beispielsweise oder des unterbrochenen Naturschlafs, alter Erdriten und verschollener Kult-
orte. Diese Art Erinnerung bezeichnet gewiß, bei allen guten Geistern, bei Rama, Krischna, Orpheus oder selbst Swedenborg, kein Erbe, wohl aber einen Hinweis, daß Theosophie, in- | dem sie im Schlamm wühlt und in vormals religiösem Schutt, ge-
gebenenfalls auch Tempelgänge durchschneidet, die die ehrliche Grabung nicht sah, und Figuren hebt, die der Religionshisto- | riker, sogar der Religionsphilosoph nicht als solche erkannte, erkennen konnte. Heute sind alle diese möglichen Funde durch ihre unselige Erscheinungsweise mit solchem Degoüt behaftet, daß kaum ein deutliches Interesse sie deutlich erkennen kann,
daß der philosophische Indizientrieb zwar sieht, doch nicht recht angreift; trotz manch zweifelhafter Wunderlichkeit, trotz eines unzweifelhaften läppisch-riesigen Mythenzerfalls in der Steinerwelt. Ist aber einmal die Zeit gekommen, im Raum einer
unverdächtigen Sozialwelt zu sehen, was vom großen Dunkel und den atavistischen Schleichpfaden noch übrig blieb: dann | wird, vielleicht, selbst auf Grotesken
wie Theosophie
oder |
Anthroposophie ein Licht aus der wirklichen »organischen Weltnatur« fallen, die diese Grotesken doch bezeichnen wollen;
194
und nicht bloß ein Licht aus Dummheit, Psychiatrie, sinkendem ' Leben, sinkender Klasse oder allen vieren zusammen. Außer
dem weitest verbreiteten Narrenspiegel, ja sogar in ihm geht dann möglicherweise ein anderer auf, einer aus den Abgründen ausgelassener oder unbekannter »Natur«, » Über-Natur«. Wiewohl also nicht eine einzige der Steinerschen Bezeichnungen, gar »Zusammenhänge« und kaum eines seiner Bilder (aus der atavistischen Merkwelt) zurückbleiben dürfte, so wird doch ein
vorgeschrittenes Bewußtsein, das es mit Kolportage und Montage gut meint, auch an diesem Bruchgebilde der Phantasterei — trotz seiner Jämmerlichkeit
und
»Modernität«
— nicht ohne
Wünschelrute und versuchte Goldwäscherei vorübergehen. »Der Blitz als Aura des Gedankens eines Erzengels« - dieser Satz Steiners überbietet den Dacqu&schen Siegfried, den Siegfried als Saurier durchaus; und er gibt nicht nur der Psychiatrie zu raten auf, sondern auch dem Naturbild im Zeitalter der un-
tergehenden Mechanik.
Erzengel ziemen zwar nicht solchem
Munde; doch sofern es gar keine sind, sondern Mythen, auf dem Kamm geblasen, auch abgebrochene, drunter wie drüber okulierte Mythenzweige, hängt ein Stück Gnosis in die Leere hin-
ein und macht sie erst recht skurril. Verborgene Qualität Gut das, ins Trübe der anderen zu gehen und selbst darin zu fischen. Nicht nur Verbrechern ist ja das Dunkel tauglich, auch Liebende wichtig, verdeckt vielleicht
wissen mit ihm etwas anzufangen. Darum ist ein Blick der, indem er Fortschritt will und kennt, diesen auch oder in Schleifen kennt. Viele Marxisten kehren sich allzu a limine von okkulten oder archaischen Erschei-
nungen ab, gleich als ob mit der Aufklärung von 1880 die Welt zu Ende wäre. Der oft so kühne, tiefblickende Engels sieht in den Mythen (wenn nicht in Religion und Theologie insgesamt) nur »einen vorgeschichtlichen, von der geschichtlichen Periode vorgefundenen und übernommenen Bestand von dem, was wir heute Blödsinn nennen«. Und fährt fort: »Diesen verschiedenen falschen Vorstellungen von der Natur, von der Beschaffenheit
der Menschen selbst, von Geistern, Zauberkräften etc. liegt 195
meist nur negativ Ökonomisches zugrunde: die niedrige ökonomische Entwicklung der vorgeschichtlichen Periode hat zur Ergänzung, aber auch stellenweise zur Bedingung, selbst Ursache die falschen Vorstellungen von der Natur.« Ein aufgeklärter Satz und allzusehr vielleicht ein Kind seiner Zeit, der
bürgerlichen Zeit, als welche auf sämtlichen Stufen der Geschichte eine einzige Wirtschaft sah, nämlich ihre eigene, die kapitalistische, nur noch als unvollkommen; und ebenso folglich
eine einzige Natur, nämlich ihre eigene, die mechanische, nur noch als metaphysisch entstellt. Der Satz überrascht bei Engels, sofern seine »Dialektik der Natur« die mechanische Natur nach vielen Seiten aufreißt und qualitative Geschichte
nicht nur angereihte Entwicklungsgeschichte.
hineintreibt,
Vor allem: ist
nicht konkret vermutbar, daß, wie die gesellschaftliche Bezie-
hung mindestens in den Gentes konkreter war als in späteren Perioden, wenn auch unentwickelt und in »Kinderform« (Marx), — daß ebenso die Naturbeziehung der Primitive, also
die prälogische Denk- und Erfahrungsweise, andere Wirklichkeit an der Natur getroffen hat, vielleicht mehr Wirklichkeit, als dies von der Klimax Magie-Metaphysik-Positivismus
her sichtbar wird? Macht doch die Geschichte des Ding-an-sichProblems auch späterhin gegen den allzu einfachen Fortschritt mißtrauisch:
die Linie Descartes-Kant-Hegel
ist gerade, was
Konkretheit angeht, eher eine Linie: (mechanischer) Positivismus — (historische) Metaphysik als umgekehrt. Unwahrscheinlich, daß die Qualität sämtlicher Mythologien und Okkultismen — nach ihrer bannenden wie zersetzten Seite - lediglich Hypostasierungen undurchschauter Wirtschaft gewesen sind und nicht auch Mitspielen undurchschauter, in sich selbst noch undurchschauter Natur. Das Nichts - nicht nur der mythologischen Bezeichnungen, sondern des Bezeichneten selbst - das quantitative Nichts als Inhalt der ganzen Welt ist jedenfalls nur das Gegenextrem zu einem aus lauter mythologischen Qualitäten bestehenden All. Daß die Welt völlig leerer Mechanismus sei: diese Behauptung hat sich heute schon als kapitalistisches Dogma enthüllt, es war zur Entfesselung der maschinellen Produktivkräfte ideologisch wichtig, bindet aber den Naturbegriff der folgenden Gesellschaft mitnichten. Ob im mannigfachen Spuk, den der 196
mechanische Hohlraum jetzt aufwirft, bloß archaische Fratze erscheint oder ob darin, stellenweise und archaisch verkleidet,
gewisse Bestimmtheiten aus dem mechanistisch ausgelassenen, nicht mehr auszulassenden Teil der Welt sich zurückmelden: diese Frage ist konkret erst traktierbar, wenn eine nicht mehr kapitalistische Beziehung der Menschen zur Natur bürgerlichen Mechanismus wie spätbürgerlichen Mystizismus zugleich gesprengt hat. Aber vom Feind wäre immerhin zu lernen, daß man das bürgerlich verengte und vermauerte Welt-Segment nicht länger hält als er selbst. Ebenso ist nicht nur die Veränderung in der Naturbeziehung lehrreich, welche sich in spätbürgerlicher Malerei - von den Expressionisten bis Surrealisten — anzeigt; es sind auch die anderen »Bilder« durchaus zur Kenntnis zu nehmen, zur vollendet boshaften Kenntnis, welche ein Klages etwa
in die vergehende Bürgerwelt stopft, in den eklatant gewordenen Widerspruch der mechanischen Welt zum lebenden, ganzen Menschen. »Bist du bereit und reif, das Heiligtum zu betreten, wo den verdächtigen Schatz Pallas Athene bewahrt?« -
so schrieb Schiller einem jungen Freunde ins Stammbuch, als ; dieser sich der Weltweisheit widmete. Der Schatz war gerade jenem Schiller verdächtig, der Weltfülle suchte, jene Fülle, welche der bürgerliche Verstand damals schon fühlte, verloren zu haben. Die Göttin des Begriffs ist dem Marxisten zwar keines-
‚ wegs verdächtig und ihr Schatz am wenigsten; doch gerade die dialektisch-materialistische Vernunft macht Schleifen, und ihr
ı Sieg ist desto konkreter, je sicherer er auch die zweideutigen Lebensgötter stellt und — beerbt. Man wird dem kein Wischi‘ waschi Steiners, nicht einmal Dacque insinuieren, wohl aber die
' Ahnung, daß auch im Naturbegriff noch nicht aller Tage anorganischer Abend ist. Er enthält mehr als Druck und Stoß, ‘ mehr als mechanische Erdschollen, die um Feuerkessel schwin' gen;er enthält auch verborgene und zu vermittelnde Qualitäten, f
die dem Automatismus des bürgerlichen Verstands paraphysisch sich entgegensetzen: Grauen etwa, panischen Schreck, panisches Glück, »Naturschönheit« und was diese, noch immer unver-
standen, anzeigt.
197
ap
GESÄNGE
DER ENTLEGENHEIT.
Der dichtende Blick kam in der Mitte lange recht freundlich an. Diese verlangte Edelware, die ihr auf gut gemachte Weise ihren Schein ausbreitet. Belesene Bildung glich gewisse äußere Mängel aus, nicht genügend hohe wirtschaftliche oder soziale Stellung. Vor allem aber: der Mittelbürger brauchte Gebilde, die ihm sein verblaßtes Leben wenigstens konstruiert darstellen, seine Fragen in Spielform, seine Ideale, als wären sie noch der Rede wert. All das wurde ihm im Juste milieu durch Schriftsteller des ebenso häuslichen wie friedlichen Scheins. Könner wie Wassermann oder Thomas Mann eröffneten, in der Breite des Romans, eine ganze Galerie diskutierenden Scheinlebens mit
al! seinen Fragen, außer der einen: woher denn dieses Leben und diese Fragwürdigkeit stamme, und wie sie daher wirklich be-
schaffen sei. Kurz, hier gerieten, trotz starker Besorgtheit des einen, trotz noch stärkerer Ironie des anderen, schön geschwungene, schön geschlossene Konstruktionen, an denen alles stimmt
außer der Welt, die sie scheinbar so realistisch darstellen. Die
Fragen blieben auf der Symptomfläche, worauf sie ausgefabelt sind; das dargestellte Leben dieser Ärzte, Staatsanwälte, Edelknaben, Zeitverlierer ist nicht so wirklich wie ihre Beredsam-
keit, wie die angenehme Säure ihrer innerbürgerlichen Zweifel. Nun aber ging das schwarzrotgoldne Publikum als Leser wie Stoff dahin, auch die lesende Mitte ist wild geworden und wendet sich zum Teil gegen die Dichter ihres Juste milieu. Einen besonderen Fall unter ihnen gab nur, zuweilen, Gerhart Hauptmann ab, und zwar negativ, weil er zuerst den Naturalismus in
blondgelockte Träume und versunkene Glocken umbog, positiver wegen der alten Gegend, worin manche seiner Figuren hausen. Weich und verräterisch wie ein Sozialdemokrat hatte dieser Dichter doch genau zuweilen das Halblicht, das einer noch
echt ungleichzeitigen Welt zukam, nämlich der Schlesiens. Einer Welt, besetzt mit Holztischen, Waldleuten, Sturm, Abend, ver-
schwimmendem Schneelicht, mit der Schenke Pippas im Rotwassergrund, mit Funken aus Glasöfen und dem dumpf gefüllten Eulen-Spiegel eines geisterhaften Deutschland. Mit Hannele, das im Tode 198
ihr Glück
gefunden,
mit armen
Bestien
und
der Gier verworren-unglücklicher
Kältegötter, mit schmalen
. Funken von Sehnsucht und Sonne. Insofern brachte Hauptmann . ein Stück »Rotwassergrund« in die Literatur, das wegen seiner Menschlichkeit zum fascistischen Gebrauch nicht recht taugt, obwohl es zurückgebliebene Folklore, auch Geheimnis für nichtliberale Bildung mehrdeutig bereitstellt. Aber die barbarisierte Mitte findet auch hier keinen Spiegel, sie kehrt das Wort Zivilisationsliterat, das Thomas Mann einmal erfunden hat, bevor
er die Folgen sehen konnte, gegen die gesamte liberale Rasse, mitsamt ihren »Brunnenteufen«
oder Protuberanzen;
sie ver-
langt weniger durchgedrehten Schein. Darum findet selbst die Versponnenheit des neuesten Thomas Mann (als Mythologen) wenig Pardon; obwohl alle Gehirnfragen des Zauberbergs in den Josefbüchern höchst »irrationale« Urbilder geworden sind, obwohl selbst das Zeitproblem des Zauberbergs sich in einen veritablen Zeitmythos (des Uralt, des Immerwieder) verwandelt hat. Aber ist ein Raum wie der des Josefromans auch ein Zeichen der Zeit, so fehlt dieser, als fascistischer, doch der Zugang; teils wegen des Gebildet-Verwickelten, Gelehrt-Parabolischen der Mannschen »Urzeit«, teils wegen der Ironie, die der Liberalismus auch als »Goldwana-Kontinent« nicht lassen kann (»nicht ohne vernünftigen Beifall vernimmt man die Lehre« das bleibt seine Haltung selbst zur »Höllenfahrt«). Der schiere Rausch will statt dessen, was ihm sofort den Schein macht, was Blut sehen läßt, dampfend. Hier hausen zu-
nächst, in einzigartiger Mischung, gut wilhelminische Festredner und schlecht erneute »Expressionisten« durcheinander, eine »Barbarei« ohnegleichen. Ihr einer Ort ist die Brust des Oberbürgermeisters oder folgende Festrede bei der Grundsteinlegung eines Wagnerdenkmals in Leipzig: »Noch eine zweite Schale wird den Eindruck dieses Monumentalblocks in die Stimmung opfervoller Weihe tauchen.« Ihr anderer Ort ist die Tiefe deutscher Urnacht, Isolierung und Außermenschlichkeit; so gibt der nationalsozialistische Dramatiker Dietzen-
schmidt seinem Schreibtisch folgende Topographie: »Nur diese Verlassenheit und Einsamkeit, die Füße im Nichts, die Stirne in der Kälte der ewigen Sterne, nur daraus findet sich unver-
bogene Schöpferkraft.« Aber auch hoch über diesen Untertanen 199
geht Nacht, sie verläßt die hirnliche Kunst, um gedruckte Runen zu bilden. Sie ersetzt den Schein gebildeter Abstraktheit durch den finster-alten der Barbarei, kennt keine »Schriftsteller« mehr, nur »Dichter«. Der Fascist Benn etwa parfümiert die Leere seit
langem mit Wort-Aromen, braut daraus eine Art laxen Zungenredens, schlägt chthonisches Nachtsalz und kleines Sonnenei
in die Hohlräume der Zeit, macht Wolkenschiebung wie Zeus,
ja, mehr noch: Mystikschiebung. Hat jenes griechisch-römische
Tertiär, jene (wie Benns Dichtung sagt) »thalassale Regres-
sion«, welche sich auf Regression und Fascismus nicht minder versteht wie auf das Thalatta eines schäumenden Aquariums oder Antiquariats. Heroisch aber, ganz und gar nicht tertiär, sondern griechisch-römisch von Anfang an, wird die Maske seit
langem im Georgekreis. Keine Haltung hier und kein Thema der Bedeutbarkeit, das die bürgerliche Zeit nicht zu richten vor-
gibt, das sie nicht ebenso auf ein heroisches Eleusis zurichtet und zurettet (scilicet: auf Hitler). Derart strahlen scheinbare Urerlebnisse statuenhaft: Tat und Freundschaft, Gestalten der Ju-
gend, Rittertum und die Sternträger ihres Schicksals, der dunkle Sonnenmensch,
Es ist vertikale
das Pantheon
Entlegenheit
eines heroischen Sonnenzirkels.
schlechthin,
eine solche
auch,
deren Pan harter Süden sein will, griechisch-römisch vollendete Natur, nicht die romantische oder unausgehämmerte reiner Barbarei. Hier ist Geniemoral über den Nöten des massenhaften Daseins, hier fühlt sich der Dichter, mitten in elendester Zivilisation, als Letzter aus edlem Stamm; ja, Zeit überhaupt ist Täuschung, der Dichter tangiert ihre Gunst oder stoffliche Miß-
gunst nicht im mindesten, sondern gehorcht Urklängen und umschließt sie mit strenger Mauer. Daher soll nur Lyrik, Epos,
Drama Dichtung sein, nicht so der Roman der »Schriftsteller«; denn nur die Gärten und Wälder der Lyrik halten altes Wasser,
nur epische Felsen, dramatische Blitze von einst sollen darüber sein. Scheinbar gegen die Zeit und doch so völlig mit ihr, mit dem Pathos der Berauschung gehen Gesänge der Entlegenheit; nämlich der selber romantischen Flucht. Der Flucht in »Urbilder«,
die dem »Blutschein« schon gemäß waren, als noch gar keiner, in Wirklichkeit, floß, die ihm damals schon den Fascismus zeig-
ten, das formidable Kapital, die goldene Leere, die gesperrte 200
Zukunft. Heute gar meldet ein »Grunddichter« wie Benn nichts anderes an und sieht unmittelbar nichts als die Frage: » Was erleben wir denn nun an diesen Räuschen, was erhebt sich denn in dieser schöpferischen Lust, was gestaltet sich in ihrer Stunde,
was erblickt sie, auf welche Sphinx blickt denn ihr erweitertes Gesicht? Und die Antwort kann nicht anders lauten, sie erblickt auch hier am Grunde nur Strömendes hin und her, eine Ambivalenz zwischen Bilden und Entformen, Stundengötter, die auflösen und gestalten, sie erblickt etwas Blindes, die Natur, erblickt das Nichts.« Das ist, in gelehrter Akademierede, wie Kla-
ges und Heidegger zusammen gelesen, wie strömende Panmixie des einen, wie Nichts des anderen:
doch nur, um
zu diesem
Nichts zu gelangen (aus der »Frigidisierung« des heutigen Daseins), dazu hebt solch Trostes armen Fascisten ihr All an, dazu bedarf es des »Vorstoßes der alten, noch substantiellen Schichten«, dazu eines »großartigen, halluzinatorisch-konstruktiven (!) Stils, worin sich das Herkunftsmäßige, das Schöpfungsfrühe noch einmal ins Bewußtsein wendet«? Dazu spricht Sprache fast
wie Utopie? — und ist doch nur eine der Flucht, des selbstgenossenen Taumels, der polemisch gesträubten, der rein antithetischen, also substanzlosen Dämonik. Nichts dahinter, nichts an
Objekt und »Perspektive« als ewige »Differenzierung zwischen den Formen und dem Nichts«; als Südsee-Zitate ohne SüdseeWelt. Und der Georgekreis, die »equestrische Wissenschaft«,
die schöne Gestus-Mystik, die an geschlossener Erscheinung sich Genüge tut, fast gleich, was erscheint: ob geölte Ringer und gesalbte Pagen, ob Morituri, in leicht ritterlicher Haltung, oder
_ Gott Augustus, purpurn lebendig auf goldenem Wagen - dieser Gestaltenkult also und überalterte Marstall, diese Imitatio Dan-
tes, Goethes und des Sonnengötzen Elagabal dazu: ist selbst die; se Kavalkade ästhetischer Rentner-Ritter anderswo abgestiegen als im Nichts und feudalen Tierreich, ja, huldigt sie nicht dem
Spießerkönig als ihrer Löwen Kern, enthüllt sie nicht die Leere ihrer dekorativen Strenge, besingt sie nicht seit alters, über Rom und Magna Graecia, trotz aller »Zeitkritik«, die herrschende
. Bande, als wäre sie das geheime Deutschland, ist ihr nicht das formidable Kapital, mehr als je, das Tabu aller »Zeitkritik«, die Zahlbank alles Scheins, der Grundstock aller »Hierarchie«? Mit 201
Den =
dickem Beckenklang setzte dies Wesen die Irratio eines poetischen Herrenreichs, setzte die vermeintliche Haltung des Bam-
berger Reiters; doch kein George-Pathos ist echt genug, um zu erkennen: die »Idee« des Bamberger Reiters ritte heute nach Osten, gerade nicht als Feind, sondern um in der Ritterschaft
eines ganzen Volkes zu kämpfen und denselben Drachen zu werfen, den das Georgetum zu Hause mit römischen Orden behängt. Selbst »Dionysos« ist im Georgekreis und der explodierten Rausch-Mythologie um ihn her »Frühgott« nur als Schaum
vor
antiquarischem
Mund,
als »Schrei,
der
durch
güldne Harfe saust«, durch dieselbe Harfe, die hinter dem Gott Augustus getragen wird, purpurn auf goldnem Wagen. Höchst nützlich geht dadurch die andere Gestalt des »Frühgotts« unter, die Lebensfackel, der Sturm gegen Druck und Bann. Was sonst in den »Archai« als Vermächtnis, gar an »Ewe« enthalten sein mag, steht auf einem anderen Blatt: die verkauften Dichter des
Fascismus werden es noch sehen, jedoch nicht mehr lesen. Die Berauschung ist ein ahnungsvollerer Bürgerengel als die Ironie; sie wohnt nicht am Zauberberg der gegenwärtigen Welt, sondern an ihrer Propagandastelle, zuweilen auch - erhabenen Heldenblicks, Hehlerblicks - an der Bruchstelle. Und der Rausch
aus ihr pythisiert diese Welt jetzt ebenso, wie er thalassale Träume macht, unfreiwillige Orakel.
ATTRAPPE
MIT
GIFT
Die Begier nach neuen Dingen ist da und schiebt sich zurück. Es sind zu dem Angestellten, wie sich zeigte, gebundenere Schichten gestoßen. Der Bauer, sodann die ältere Mitte: Handwerker,
Kleinhändler, sogenannte freie Berufe. Diese Mitte hat halbwegs noch Pflug und Boden, Hobel und Werkstatt oder auch
nur das gemietete Büro. Indem sie, als pauperisiert, doch mit zurückgebliebenen oder ungleichzeitigen Bindungen, vorstieß, änderte sich überall, auch bei Angestellten, die frühere Lust der Zerstreuung. Die gute Stube kam wieder, die Besinnlichkeit, 202
der Väter Zucht und Sitte, zuletzt — unter wie über der guten Stube — rachsüchtige Roheit und archaische Berauschung. Die
Roheit wurde geleitet von stellenlosen Sadisten und abgedankten Offizieren; die Berauschung goß vor allem der deutsche
Rasputin ein. Die Bauern und Kleinbürger wurden nicht nur auf Juden abgelenkt, der Konkurrenzkampf der Mitte nicht nur durch durchsichtigsten Antisemitismus gemildert: es hatte auch
Undurchsichtigeres
im Betrug Platz, die Gemeinschaft,
die
»Seele«, der »Führer«, das »Schicksal«. So geriet der fascistische Staat, der Wolfs-Staat (der zwischen Wölfen und Schafen, Kapitalisten und ihren Opfern »vermittelnd« eingreift); so wurde Sozial-Demokretie ausgewechselt mit einer neuen
Attrappe, der Sozial-Autokratie. »Die Erschütterung, die heute die Welt durchbebt, ist die Rache der Natur gegen den intellektuellen Versuch, ihre Gesetze zu durchbrechen«; war die feudale
Ordnung »gottgewollt«, so ist die kapitalistische aus der »Natur«. Berauscht glaubt der Mittelstand seine eigene »Natur« darin zu finden, berauscht sieht er ihre Aufzüge auf der uniformierten Straße, gläubig nimmt er den Brand Roms, den die
Kommunisten angelegt haben, gläubig die Versprechungen des Volkskanzlers. Das Ganze ist kompliziert wie eine Buchfälschung (mit Runen aus täglichem Blut) und einfach wie die Wahrheit, wenn sie an den Tag kommt. Niedergehende Mitte, ungleichzeitige, also stumpfe Widersprüche hier; Betrüger, Verbrecher, monumentale Winkelpropheten dort, die diese Widersprüche deformieren und sie in den Dienst des Großkapitals stellen; Niedergang eines Kapitalismus selbst, der sich formidabel macht: — das sind die drei Momente des deutschen Fascismus, und das dritte ist vorerst das herrschende unter ihnen.
Aber rasen Bestialität und Mythos auch in Sackgassen, so wird den Palästen kaum doch wohl, macht der Rausch in der erkannten Sackgasse kehrt. Hunger stirbt auch bei ökonomischer Un-
wissenheit nicht, Glanz der Berauschung sättigt und beruhigt erst recht nicht, im Gegenteil; beide machen des Dritten Reichs so lange begierig, bis nur das Vierte und Letzte übrig bleibt. Der Staub, den die Explosion des Ungleichzeitigen aufwirbelt, ist dialektischer als der der Zerstreuung; er ist selber explosibel. Sozialistischer Gebrauch und die Kunst, Irrationales — unschädlich,
203
mehr, helfend zu machen: das istder Abschied von den ungleichzeitigen Dingen; er ist ein konkreter, mit beherrschter Zukunft noch in den Menetekeln dieser Vergangenheit.
204
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GROSSBÜRGERTUM, SACHLICHKEIT UND MONTAGE
DER
RUCK
Wir sind außer uns. Der Blick schwankt, mit ihm, was er hielt.
Die äußeren Dinge sind nicht mehr gewohnt, verschieben sich. Da ist etwas zu leicht geworden, geht hin und her.
NEUES
ECKEENSTER
An diesem ruht man kaum aus. Das Auge betrachtet nicht, es
wandert mit. Das große Fenster läßt nicht bloß Licht auf den stillen Tisch fallen, sondern auf das Leben derer ohne ihn. Die gleichsam froh sind, noch Arbeit zu haben. Der Boden draußen ändert sich, als wäre er keiner. Zur Rück-
seite Blick auf einen Hafen; der Kai garniert sich von Stunde u Stunde verschieden. Schiffe von weither decken das Wasser zu; ein flach gewölbtes Verdeck, rauchende Kombüse, manchmal
wird ein dunkelblauer Mann sichtbar, meistens ein Spitzhund. Krane fahren den Steg ab, drehen ihre Hebel und greifen ein. Mit leeren Backen in Korn, Weizen, Kork, Schwefel, mit Ketten um Steine und Eisenstangen. Die Händler sind fern, und der Hund, der den Knochen verdient, bekommt ihn nicht.
Noch bewegter wird der Blick auf die andere Seite. Karren, Autos, Elektrische, Menschen und Gefahr dazwischen. Auf dem Hafen war immer etwas Mond sozusagen, gleitend; das Bild
der häßlichen Straße dagegen ist grell, bitterer, klarer Alltag und Durcheinander.
Frühmorgens,
spätabends Arbeiter, über
Tag Geschäftsleute, eine überalterte Dampfbahn schleicht als offene Wunde hindurch. Zweimal die Woche Markt mit Gemüsen am Platz, auch mit Blumen und Orangen, die schlecht in
den Ruß passen und singen, was nicht hierher gehört. Echt ist der Platz erst wieder, werden mittags die Stangen abgeschlagen; 207
ein Lautsprecher spielt Märsche, ein Mann erzählt, wo es Betten auf Abzahlung gibt, manchmal sieht man rote Fahnen, manch-
mal spielt die Heilsarmee. Die Straße und der Platz dahinter sind durchaus wahr, als von heute, ohne falsches Licht, und im Gewühl ihres Tuffs raucht es. Anders als dort, wo Herren und
Damen spazierengehen, wo Anlagen sind, so daß man gar nicht mehr weiß, wo man ist. Hier weiß man es und hat keine Seide zu spinnen. Die Luft geht frisch, durchaus nicht reın, doch sie läßt nicht rosten.
LUDWIGSHAFEN-MANNHEIM
(1928)
Sonst rußt das Öl mehr für sich. Oder nur dort, wo gehobelt wird, liegen die Späne. Die Hobler wohnen in Mietslöchern, die Straßen sind trostlos. Weit weg aber wohnen die Herren mit dem von anderen verdienten Geld. Hatten Häuser wie Nippes, bekleideten sich mit alter Form. Kein Laut von dem sauren Tag-
werk drang herein. So trennten sich früher schon die Viertel, wo geschafft wird und wo verzehrt. Zwar sprang die Technik auch in ältere, edle Stadtteile vor, zerstörte dasBild. DieZufahrtsstraße vom Bahnhof war meist eine andere als die von der Landstraße geworden, verlegte die alte Achse. Aber immerhin starb die überkommene Stadtkultur nicht ganz; der Wall, der Ring wurde
bepflanzt oder gar Wohngegend. Der neue Wasserturm genierte sich, in den achtziger Jahren, einer zu sein, wurde wie ein Hum-
pen gebaut. Auch gesellschaftlich rückte die Bourgeoisie ins höfische Vergnügen ein, hatte ihre guten Konzerte, plauderte in den Logen. Schlecht aber erging es dabei neuen Städten, denen nichts die Schritte lenkte. Besonders wenn sie neben einer alten Kulturstadt liegen, wie Ludwigshafen
neben Mannheim,
auf beiden
Seiten des Rheins. Der Fluß trennte schon genügend, die bayrisch-badische Landesgrenze hinderte erst recht jeden Ausgleich. Ludwigshafen war derart verpflichtet, eine eigene Stadt zu werden, nicht etwa nur eine Vorstadt, worin die Abwässer der 208
Industrie fließen. Bei seiner Gründung vor 75 Jahren war es durchaus als Konkurrenz gegen Mannheim gedacht; so richtete es sich auch weiter höchst gegenwärtig aus Eigenem ein. Hier ist darum eine Stelle, bezeichnend fürs kapitalistische Jetzt durchaus, wo die Hobler in der Stadt selber wohnen, wo keine
schönen Häuser weit weg, erst recht keine früheren Stadtkulturen das Jetzt überschwindeln. Die Badische Anilin- und Sodafabrik, der Kern von I. G.-Farben (hierher verlegt, damit Rauch und Proletariat nicht nach Mannheim bliesen ), wurde das buch-
stäbliche Wahrzeichen der Stadt. Drüben lag das Schachbrett der alten Residenz, heiter und freundlich gebaut wie zu Hermann und Dorotheas Zeiten; hatte statt der größten Fabrik das größte Schloß Deutschlands, vielleicht weniger Wahr-Zeichen, im XIX. Jahrhundert, doch eine schöne Dekoration, die der
Bourgeoisie Haltung gab. Wann immer sie bei Kaffee und Zi-
garre angelangt war und dem Höheren. Ludwigshafen dagegen blieb der Fabrikschmutz, den man gezwungen hatte, Stadt zu werden: zufällig und hilflos, vom Bahndamm im Kreis entzweigeschnitten, ein Zwickau ohne Hemmungen, nach dem falschen Morgenrot von Biedermeier, das in seine Gründungszeit fiel,
ein äußerst nasser Tag. Die Anläufe zu »Kunst und Wissenschaft« gerieten lächerlich, wurden alle von Mannheim abgefangen; es gibt in der zahlenmäßig längst perfekten Großstadt heute noch kein Theater. Auf dem Marktplatz steht ein »Monumentalbrunnen«
(er heißt so); der ist grau, gelb, weiß, rot, weil
er sämtliche Sorten des pfälzischen Sandsteins enthalten sollte. Männerköpfe, Wappensprüche, Säulen, Nischen, Urnen, Kränze, Schiffchen, Kronen, Bronze, Becken, Obelisk, alles im mickrigsten Ausmaß — das Ganze ist vielleicht das schönste Renais-
sance-Denkmal des XIX. Jahrhunderts. Tausend gute Stuben sehen von diesen Steinen auf uns herab; hier ist 1896 in nuce
und in der Provinz. Und vom Bahndamm grüßt eine Trauerweide zum »Jubiläumsbrunnen« herüber (er heißt wieder so): dort steht Gußeisen auf Tuffstein, die Bavaria verleiht der Lud-
wigshafenia die Stadtkrone, schräg unten lehnt Vater Rhein grottenhaft, gießt spärlich Wasser aus seinem Füllhorn. Am Bahnhof steht eine Schillerbüste, und die Berg-und-Talbahn singt den Text dazu, Branntweinschenken heißen »Zur Pariser
209
Uhr« und der theatralische Verein spielt den »Scharfrichter von Augsburg«: das ist oder war bis vor kurzem dieses kleinbürgerliche Wildwest am Rhein. Am feierlichsten Fluß Deutschlands, mitten zwischen Speyer und Worms, mitten im Nibelungenlied | gleichsam, dicht neben Jesuitenkirche, Rokoko-Bibliothek, Schillers Hof- und Nationaltheater in Mannheim. Selten hatte man die Wirklichkeiten und die Ideale des Industriezeitalters
so nahe beisammen, den Schmutz und das residenzhaft eingebaute Geld. Weshalb schreiben wir aber darüber mit so langem Anlauf? Eben weil hier etwas umschlug, weil hervorkommt, wohin die Zeit marschiert. Weil Ludwigshafen, das für mehreres steht, plötzlich wichtiger geworden ist, in der neuen Luft, als Mannheim. Da liegt, nein, da fährt nun die häßliche Stadt, aber sie
spektakelt so roh, Geld kreist und die I. G.-Farben dampfen. Da ist etwas zur Front geworden, die alles an den Tag legt und sich
nicht mehr gebildet geniert. Selbst der Stadtgöttin Ludwigshafenia wie auch dem Vater Rhein legte man jetzt einen Strick um den Hals, am Jubiläumsbrunnen, und zog sie nieder, was
mindestens so symbolisch ist wie der Baumeister Solneß. Und eine Vergnügungsmaschine soll an die romantische Stelle, ein Theater dazu mit wechselnden Truppen, die gerade vorn liegen; kurz, all der mischende Lärm, den die Bourgeoisie jetzt zuläßt und der immerhin
konkreter ist als Schiller und Ibsen, vom
Stamm Pensionsberechtigter gespielt. Die Knaben Ludwigshafens habe Krane vor Augen, Jahrmarkt und Karl May, der Mittelstand liest zwar auch hier seinen Rudolf Herzog, doch ohne Glauben daran, die meisten lesen überhaupt nicht, doch ihre Welt sieht aus wie Sinclair, manchmal auch wie Jack London. Darin haben Wassermann und Thomas Mann, soignierte
Bürgerprobleme älterer Schicht, keinen Platz. Hier ist nur die Rampe für Fabriken und was damit zusammenhängt, ist Roheit und Gestank, doch ohne Stickluft. I.G.-Farben haben die Stadt
von Anfang an begründet, geben ihr jetzt erst recht das reine, roh-kalte, phantastische Gesicht des Spätkapitalismus. Städte dieser Art sollte man darum besonders wiegen. Im
Ruhrgebiet gibt es manche dergleichen, obzwar ohne so nah scharfen Gegensatz. Sie haben noch reaktionären Muff genug, 2Io
den Stumpfsinn währender Kleinbürger, eine schauerliche Pro-
_ vinzpresse. Dennoch hat Ludwigshafen gegen den Typ Mannheim das ehrlichere Gesicht; seine Industrie zerstörte nicht erst
natürliche, kulturelle Zusammenhänge, sondern steht ab ovo fremd zu ihnen. Da ist aufrichtigster Hohlraum des Kapitalismus: dieser Schmutz, dieses rohe und todmüde Proletariat, aus-
getüftelt bezahlt, ausgetüftelt an laufende Band gestellt, dies Projektemachen eiskalter Herren, dieser Profitbetrieb ohne Legendenreste und Phrase, dieser schundig-kühne Kinoglanz in den traurigen Straßen. So sieht es jetzt aus in der deutschen Seele, eine proletarisch-kapitalistische Mischwirklichkeit ohne
Maske. Und rings um Ludwigshafen die dunstige Ebene mit Sumpflöchern und Wassertümpeln, eine Art Prärie, die keine
Gütchen und Idyllen kennt, zu der Fabrikmauern und Feuerschlote bedeutend passen; die Telefonstange singt dazu. Das ist ein guter Standort, um die jetzige Wirklichkeit zu sehen, um mehr noch die Tendenz zu fassen, die sie ist und die sie auf-
heben wird. Ältere, gemütlichere Städte, Plüschstädte gleichsam, haben diese Tendenz auch, doch nicht in solch traditionsloser
Luftleere. In 5o Jahren könnte auf dem kruden Boden eine Stadt stehen, die sich gewaschen, die sich nicht einmal gewaschen hat, sondern direktester Wuchs ist aus Schiffbau, Silos, Elevatoren, Fabriksaal. Die kommende Zeit hat hier mehr umzustoßen, aber
weniger anzuzünden als in der alten Kultur, die dafür mehr zu - plündern gibt. Im jetzigen Schmutz blüht noch kaum etwas, der Rede wert.
An die vorgeschrittenste Stelle kommt nichts als dürftiger Ab-
hub Berlins, bestenfalls, hie und da. Dafür aber sind Sprung‚ stellen da, die Berlin noch nicht hat, und in denen Improvi-
‚ sationen nisten können, die kein »Kulturwille«.ahnt. Orte wie Ludwigshafen sind die ersten Seestädte auf dem Land, fluktu-
‚ ierend, aufgelockert, am Meer einer unstatischen Zukunft. Das
behagliche pfälzische Weinland, eine halbe Stunde von hier, Hof- und Nationaltheater, die nahen Dome von Worms und
Speyer rücken vorerst fern. Die internationale Bahnhofhaftigkeit schmilzt alles ein, hat weder die frühere Muse noch kann sie sich am rezeptiven Genuß überkommener Bilder begnügen. Der Nullpunkt, der schreit, das Chaos, das kalt und gegenwärtig 2II
sich verschiebt, ist dem Ursprung, der die Kulturbilder gemacht hat, wahrscheinlich näher als das bloß »gebildete« Bürgertum, das sie im Eßzimmer aufhängt. Noch das Alte zu plündern, zu
Neuem zu montieren, gelingt vom Standort solcher Städte am besten. Sie sind selbst ein Knotenpunkt; Arbeiter und Unternehmer schürzen ihn klar, gleichzeitig, sachlich, zwischen sich
und Künftigem.
BERLIN,
ÜBERGANG: FUNKTIONEN IM HOHLRAUM
Dieser Ort zog zuerst wieder frische Luft ein. Arbeitete mit geliehenem
Geld, füllte sich die geflickte Tasche. Berlin hat in
Deutschland den Krieg gewonnen, die Stadt liegt spätbürgerlich
ganz vorn. Sie hat wenig ungleichzeitige Züge, im Sinn, wie wir |
ihn kennengelernt haben; sie wurden ihr ganz zuletzt erst eingeführt und eingeredet. Berlin scheint vielmehr außerordentlich »gleichzeitig«, eine stets neue Stadt, eine hohl gebaute, an der nicht einmal der Kalk recht fest wird oder ist. Soweit vorn freilich eine kapitalistische Stadt auch liegt: sie ist vorerst nur | »gleichzeitig« im beschränkten, ja unechten
bloßen solcher tischen so hat
Sinn, nämlich im |
Up to date. Fühlt sich der Unternehmer und Kaufmann Städte auch besonders auf der Höhe, »mitten im prakLeben stehend«, gänzlich al pari mit der »Gegenwarte: | doch selbst die relative Gleichzeitigkeit Berlins die Be-
schränkung,
daß dem
Bourgeois,
wie Marx
sagt, »Geschick,
Kenntnis, geistige Einsicht und intellektuelle Hilfsquellen nicht weiter reichen als seine Nase«. Er liegt nur im Vergleich mit |
älteren Klassen und mit Provinz an der Spitze, ist aber selbst |
getrieben, selbst an eine spukhafte, dabei verdinglichte Warenbewegung
angeschlossen,
an eine Wirtschaft
»stehender
Tat-
sachen und Gesetze«. Dadurch, daß ihm überhaupt » Tatsachen
und Gesetze« bestehen, nämlich statische oder gar ewige, ist der |
Bourgeois nicht in der echten Gegenwart, sondern nur in ihr | als einem Caput mortuum, nämlich im Produkt ihrer Verdinglichung. Noch der Spätkapitalist, der am vorgeschrittensten up 212
|
to date erscheint, befindet sich um jenen Schritt hinter der echten Gleichzeitigkeit zurück, der Verdinglichung von der lebenden
Tendenz, bloßes Ausnutzen jeweiliger »Chancen« von der wirklichen und konkreten Beherrschung des Prozesses trennt. Mit anderen Worten: Gleichzeitigkeit ist keine, wenn sie nicht auch übergleichzeitig ist; al pari mit der wirklichen Gegenwart steht nicht der Kapitalist des unbeherrschten, wetterwendischen
Heute, sondern nur der Kenner und Beherrscher des Morgen im Heute zugleich, kurz, der tätige Marxist. So hat also auch
die Gleichzeitigkeit Berlins, trotz der gewaltigen Vorgeschrittenheit und gleichsam Unfertigkeit ihres Kapitalismus, unmit-
telbar gesehen, noch keine Wahrheit. Nur mit der Originalquelle, sagt Burckhardt, geht der Geist die richtige chemische Verbindung ein; das auch im »gleichzeitigen« Berlin. Wohl aber lassen sich hier, mittelbar und von echter Gleichzeitigkeit her
gesehen, Züge des Übergangs (des Morgens wider Bewußtsein und Wille) besonders aktiv erkennen und betonen. Denn in der
relativen »Gleichzeitigkeit« des Großkapitals sind Arbeiter und Unternehmer rein unter sich: Widerspruch der gesellschaftlichen Produktivkräfte zu ihrer privatkapitalistischen Aneignungsform ‚ ist hier auf homogenem Feld. Zwar zeigten sich bereits Staub, Zerstreuung, zuletzt Berauschung im Auftrag des Großkapitals genug; alle diese Momente des Betrugs wie der Anfälligkeit
wurden bereits als übergehend zu notieren versucht. Aber die : Navigation im Up-to-date-Meer, wenn auch in einem der unı echten oder relativen Gleichzeitigkeit, ist freilich leichter, sie ist
| mittelbar darin »zu Hause«. Mit andern Worten: das Morgen im dezidierten Heute nimmt die Momente des Staubs, der Zerstreuung, Berauschung relativ homogener auf; sie erscheinen dann
sozusagen als Staub hoch vier, nämlich im Schwung des Groß' kapitals, in seiner Sachlichkeit (die sich vergeblich als Staub-
’
sauger gerieren möchte) und vor allem in seinen Montagen. Die Kulmination dieses Staubs hoch vier geschah an der zeitlichen | Bruchstelle zwischen der Zerstreuungs- und der Berauschungswelt, die die erstere ablöste, also um die Jahre 1927-1929. Aber } die durchbrochene »Kultur« der herrschenden Klasse regiert f
ebenso den ganzen Zeitraum, von der Markstabilisierung 1924 bis zur Hitlerstabilisierung 1933, und sie wirkt darüber hinaus. 273
An dieser Stelle übergreift der obere Fascismus (als Haltung des
Großkapitals) den Nationalsozialismus (als Werbung der proletarisierten Schichten im Dienst des Großkapitals); erst Fascismus in diesem Sinn ist selbstverständlich die letzte Phase der
kapitalistischen Wirtschaft. Wo immer daher Konjunktur angeht, als Schein oder belebt durch Kriegsindustrie, sucht der obere Fascismus auch erneuten Anschluß an die Technik und die modernste »Ratio« in ihrem Gefolge. Dieser Anschluß ist im
Hitlerdeutschland durch die nicht »entartete« Spießerei samt Narkose durchkreuzt oder erscheint nur als ein Moment unter
anderen in der Spannung Goebbels und Rosenberg, Flachdach und Steildach, Stromlinie und Defregger-Kult; doch in Mussolinis Italien wirkt gerade die »fortgeschrittenste« Architektur, überhaupt ein völlig, bis zum Snobismus funktionalistisches »Kulturleben«. Die stärker behinderte Fascismusklasse Deutschlands tanzt nicht mehr so modern: dennoch hat sie selbstver-
ständlich einen anderen Ort erreicht und bezogen als den der Zerstreuung und Berauschung; vielmehr, in den dialektischen Reflexen des Großkapitals überbieten sich diese beiden Mo-
mente durchaus und auf eigene Weise. Die wirklich letzte Phase des Kapitalismus enthält, auf relativ vorgeschrittene Weise, das
Wendige der Zerstreuung und das Mischdunkel
der Berau-
schung, kurz, sie enthält das Relativistische und Archaische zugleich. Ersteres, als Moment der Zerstreuung, ist in der nackten, scheinbaren, überhellen »Sachlichkeit«; letzteres, ais Moment der Berauschung, lebt vor allem in den Trümmer- und Misch-
figuren der mancherlei »Montage«. Sachlichkeit und Montage, so sehr sie dem Betrug dienen oder ziellose Assoziationen machen, haben aber ebenso den Teufel im Leib: die Sachlichkeit
greift, wie jede Rationalisierung,
zu anderen Produktions-
formen; und die Kombinationen mannigfacher Montage halten
keine abgelaufenen Ganzheiten, keine verlogen angebeteten »ewigen Werte«, sondern unterbrochene Trümmer, neu figuriert. Hier ist Unterbrechung und neue Fügung in einem Sinn, der über die Auswechslung technischer Teile, gar über Photo-
montage weit hinausliegt und doch dieser Form noch gehorcht, |
als einem wirklichen »Stückwerk«. Insofern ist Montage, nicht | Sachlichkeit die eigentliche Frucht des »Relativismus«; denn sie 214
|
|
‚improvisiert mit dem gesprungenen Zusammenhang, sie macht aus den pur gewordenen Elementen, woraus die Sachlichkeit ‚starre Fassaden bildet, variable Versuchungen und Versuche im Hohlraum. Dieser Hohlraum eben ist durch den Einsturz der
bürgerlichen Kultur entstanden; und in ihm spielt nicht nur die Rationalisierung einer anderen Gesellschaft, sondern sichtbarer
eine neue Figurenbildung aus den Partikeln des chaotisch gewordenen
Kulturerbes.
»Schwung«,
»Sachlichkeit«, vor allem
»Montage« sind hier nun genauer zu bestimmen und jedesmal nach ihren zwei Seiten, nach ihrer unmittelbar kapitalistischen, nach ihrer mittelbar brauchbaren. Danach folge eine variable Galerie vielsagender Zeitphänomene, die aus dem »Relativismus« Musik machen: vom »Schiffshaus« bis zu »Denkenden Surrealismen«. Das ebenso abstrakte wie variable Berlin ist diesen Formen, zwischen Proletariat und Bourgeoisie, der immer-
hin vorgeschrittenste, der lehrreichste Ort. Lehrreich in der Zerstreuung und Lockerung nicht nur, auch in den Vexierbildern geformter Lockerung oder des Experiments, dem ein spezifisch »Irrationales« nicht fehlt. Der Schwung
"Schon lange geht es derart windig her. Der Unternehmer fährt mit Schwung und braucht ihn. Das preßt nicht nur das Letzte aus der Mannschaft heraus, schont gar nichts, überflügelt. Sondern mit Schwung gibt sich Spätkapital auch den Schein, tätig und urhebend zu sein, statt gehetzt an den Warenumlauf
angeschlossen. Die Leere und Entfernung, worin der Unter' nehmer zu sich und den wirklichen Dingen steht, hebt sich durch " überdrehte Zeit zwar nicht auf, doch erträgt sich besser. Indem
' die Stadt immer mehr Tempo einlegt, scheint sich aus diesem der Stoff zu bilden, der sonst überall fehlt. Das hält sich an purer Bewegung fest, ja, erholt sich an ihr, gleich, wohin sie fährt. Zum Unterschied aber auch vom Bauer, Handwerker, Junker: nichts kann auf sich und dem Seinen weniger beharren als der Unternehmer. Nichts ist sichtbarer erst seit kurzem so und ge-
macht, nichts weniger gewachsen, weniger naturgewollter Zu‚stand; obwohl
der Unternehmer
von
solchem
spricht. Diese
215
Bewegung,
wenn
sie auf den Großvater
zurücksieht,
kann
wenigstens nicht sagen, daß der Mensch sich nicht ändert. Sachlichkeit, unmittelbar Bei soviel Wind wurde die Luft recht dünn. Sachlich sein, heißt hier, das Leben und seine Dinge so kühl als leicht zu machen.
Zunächst spricht sich darin nichts aus als Leere, und sie erschöpft sich im Weglassen. Und gleich darüber zeigt sich der Betrug, sofern die Leere derart vernickelt wird, daß sie glänzt und besticht. Die Entseelung des Lebens, das zur Ware-Werden der Menschen und Dinge wird poliert, als sei es in Ordnung, ja, die Ordnung selbst. Hier ist neue Sachlichkeit die oberste, auch un-
kenntlichste Form der Zerstreuung; sie ist es als Ablenkung durch
»ehrliche«
Form.
Es ist aber nur
die Ehrlichkeit
des
Vordergrunds, und sie gibt keine Handhaben, nicht den geringsten Schnörkel zur weiteren Prüfung; ein glattes Gesicht schützt
krumme Wege. Wie jener Bauer, als er eine Geldsumme erhielt und sie nachzählen sollte, nur bis 60 zählte und dann aufhörte,
weil die Summe bis jetzt gestimmt habe und gewiß auch weiter stimme: so soll es der Prolet und Angestellte mit der Sachlichkeit halten; die vorne solange stimmt, als man in den Hintergrund nicht weiterzählt. Ihr Licht, ihre Heiterkeit, ihre Klarheit markieren den Teil fürs Ganze, das Schaufenster fürs Geschäft. Das
erklärt die aufdringliche Heiterkeit (in einem durchaus öden Leben), die aufdringliche Klarheit und Nüchternheit (vor einem durchaus zweideutigen Hintergrund); das erklärt noch die aufdringliche Festigkeit der Form (in einem durchaus kritischen und labilen Dasein). Selbst das Bestechende der Formverhärtung entspricht noch der Erholung des Kapitals, die um die gleiche
Zeit geschah; Form und Kapital machten übereinstimmend, im Nachkrieg, fest. Erst damals erschien die falsche Festigkeit von unten an bis oben hinauf, bis zu den Bildern hinauf, welche an
den Wänden hingen oder auch nicht mehr hingen (damit selbst die bescheidenste Phantasie nicht störe). Statt der expressio-
nistischen Träume, »Ballungen«, doch auch Gewitter stabilisierte sich ein »Realismus« ohnegleichen, nämlich einer der wieder gesetzten Welt, des Friedens mit dem bürgerlichen Sein. Nach 216
Noske erst gaben sich gemalte Verdinglichungen, luft- und schwerelose
Schemen
in Bildern ä la Schrimpf als klassische
Wirklichkeit. Der Fortgang gar führte zu einem Haß gegen Phantasie, als wäre Noske Cromwell und die revolutionär-ex-
pressionistische Zeit — vor der Erholung des Kapitals — eine katholische gewesen. Also kam mit diesem Phantasiehaß zum Betrug ein weiteres Motiv, nämlich das Muckertum der neuen Sachlichkeit, ihr puritanischer Zug mitten im kessesten Schein.
Eine Reprise von klassizistischer Ruhe und Strenge ging durch die Welt, durch jenes Dasein voll edler Einfalt, stiller Größe, worin die Kapitalisten leben. Wie der einfache Betrug mittels der Heiterkeit wirkte, so paradiert dieser tiefere, klassizistische mittels Strenge, Ornamentlosigkeit, Puritanertum schlechthin; solche Sachlichkeit hat ihr Ornament daran, keines zu haben. Sie
ist längst nicht mehr reine Zweckform, vielmehr überzogen mit technoiden Zieraten. Ihr maschinelles Modell ist längst zum Selbstzweck geworden, dient als Ornamentersatz und wieder zu keinem anderen Zweck als dem der Stärkung der Fassade. Ihr dient schließlich das letzte Motiv der Sachlichkeit, nämlich
die weit getriebene und doch abgebrochene, also abstrakt bleibende Rationalität; diese entspricht, in ihrer Abstraktheit, zugleich dem großkapitalistischen Denkstil. Sie entspricht der
»kapitalistischen Planwirtschaft« und ähnlichen Anomalien, ; womit das Kapital zu Formen von morgen greift, um die von ' gestern am Leben zu erhalten. Die Sachlichkeit dieser Art erlangt natürlich, wie in der Wirtschaft so in der Baukunst so in ' der Ideologie, erst recht nur Fassade; hinter den eingebauten ‘ Rationalitäten bleibt die volle Anarchie der Profitwirtschaft. Unter der Decke regt sich zwar manches auch hier; die Geräte ; werden einfach und genormt, die Maschine schafft serienweise, die stählernen Zimmer werden praktisch schlechthin, und wären ı sie nicht so teuer, so wirkten sie fast klassenlos. Planwirtschaft,
ı genormte Technik, Kollektive, Stadtgründungen und derglei‚ chen sind objektive Widersprüche zur Klassengesellschaft und ‚ müssen ihr, als Rationalisierung ohne Ratio, zur Krise gerei‚ chen. Aber gerade diese Ratio, als eine konkrete, fehlt hier; die - Sachlichkeit bleibt daher notwendig — auf kapitalistischer Stufe
| gesehen und gehalten - abstrakt, ohne Inhalt, bleibt »exakte« 219;
Fassade ante rem. Ein geistiger Ausdruck dieser neuen »Exaktheit« ist derart noch die sogenannte »empirische Philosophie«
|
(als lucus a non lucendo), das ist: die völlig abstrakte, doch
gerade deshalb sich »exakt« erscheinende Philosophie der NeuMachisten. Mach schon lehrte und kannte keine andere Erkenntnis als die des mehr oder minder angepaßten, nichts Wirkliches
bezeichnenden
»Modells«. Sachlichkeit von heutzutage, bloß
heutzutage, läßt derart auf allen Gebieten nur Fassade entste-
hen, Fassade aus unterernährter oder abgebrochener Vernunft. Sachlichkeit, mittelbar
Ins Einzelne der hier brauchbaren Stücke führt noch nichts herein. Was der bürgerlichen Wirtschaft anschlägt, läßt sich auch mittelbar für Anderes nicht verwenden. Und gewiß verhindert der Betrug, dem die Sachlichkeit dient, sie weithin, in kapitalistischer Wirtschaft störend zu sein. Nur das aber ist, im
strengen Sinn, mittelbar gebrauchbar, was im kapitalistischen Ort selbst schon als verdächtig oder widerspruchsvoll erkannt
|
|
werden kann; hic falsum index veri. Beachtet man diesen Grundsatz, dann trennen sich allerdings gewisse Partien der Sachlichkeit; es trennt sich nämlich die Ratio von dem schein-
klaren Betrug, auch von der klassizistischen Verfestigung. Zum Unterschied von Scheinklarheit ist Ratio in anarchistischer Profitwirtschaft ein tätiger Widerspruch, auch wenn dieser Wider-
spruch gedrosselt liegt oder ein Leben unter der Decke führt. Indem die Ratio freilich nur als eine abgebrochene und abstrakte,
nämlich als privatwirtschaftlich begrenzte in der kapitalistischen Sachlichkeit
vorkommt,
indem
sie zuletzt gar, in Roosevelts
Amerika, zur planmäßigen Vernichtung der Produktivkräfte im Interesse des kapitalistischen Systems dient, kurz, zur »Stabilisierung« der Krise: erscheint auch sie keineswegs bereits als
voller Index des Wahren oder als einer, den man nur weiter so |
zu Ende führen, ganz »vernünftig« machen müsse, um einer zu werden.
Die Grundbedingung
zum
konkreten
Gebrauch
der
vielen »systematisch aufgezogenen Sachen« von heute ist vielmehr die geschehene Revolution; ohne diese eben ist Ratio nur die bekannte 218
— Rationalisierung.
Daher
denn
auch die
sogenannten Regungen unter der Decke, nämlich die vielen technisch-kollektiven »Ansätze« im Spätkapitalismus nirgends bereits unmittelbar als »sozialistisch« begrüßt werden können. Gemäß sozialdemokratischer »Modernität« ä la Giedion, auch gemäß einer Architekten-Zuversicht, die überhaupt nicht aus Politik, sondern aus technoid fortgeschrittenem Können und aus
dem Willen zu seiner Anwendung erwachsen ist, die aber gleichfalls, wenn
auch mit anderen
Worten,
eine Art »friedlichen
Hineinwachsens des Kapitalismus in den Sozialismus« proponiert, wenigstens dieses Orts. Das aber scheint eine falsche Mit-
telbarkeit, nämlich gar keine; sieht sie in jedem Schiebefenster schon ein Stück Zukunftsstaat, so überschätzt sie offenbar das technisch-neutrale, unterschätzt das klassenhaft-parteiische Element. Sie überschätzt die neutrale Sauberkeit, Bequemlichkeit des neuen Bauens, die Herkunft aus Fabrik, aus technischer Zweckmäßigkeit und genormter Maschinenware. Sie unter-
schätzt, daß dies »gleichmäßige hygienische Wohnen« noch keineswegs auf eine klassenlose Gesellschaft ausgerichtet ist oder
auch nur potentiell ausgerichtet sein kann, sondern auf jungen, modern fühlenden, geschmackvoll klugen Mittelstand, auf seine sehr spezifischen, keineswegs klassenlosen oder gar ewigen Bedürfnisse. Sie unterschätzt den Termitencharakter, den die neue
Sachlichkeit überall dort ausrichtet und unterstreicht, wo — wie
in Arbeiter-, auch Angestelltensiedlungendas Geld zur BabbitUmgebung nicht reicht; sie unterschätzt die Repräsentation, die
sich umgekehrt modernes Großkapital aus seinem »Funktionalismus« herstellt. Falsche Mittelbarkeit unterschätzt auch das schlechte Ornament, das mit der Schmucklosigkeit getrieben wird, ebenso wie den Fassadencharakter und die ungeheuerliche Leere, die diesen Gebilden eignet; diese ist der Preis, den das
Spätbürgertum für die Entmythologisierung auf diesen Gebieten zahlt und für die Abkehr vom Schwulst des XIX. Jahrhunderts. Unmittelbar jedenfalls ist hier kein Erbe, sondern erst recht nur eines der Mittelbarkeit; noch der Genuß dieser Architektur ist sich seiner Bedenken bewußt, ist bereit, seinen
Enthusiasmus gegen das bourgeoise Gift empfindlich zu machen, das in den Stahlbauten Mussolinis immerhin
reichlicher ent-
halten ist als im — Säulenmonstrum des Sowjetpalastes. Diese 219
Empfindlichkeit ist desto wichtiger, je mehr in der neuen Architektur die alte Gesellschaft vergangen scheint; je mehr Kapitäle, Portale, Mittelrisalite und die anderen Reflexe feudaler Über-
ordnung zu verschwinden scheinen, je offener bewegliche Gleichordnung das Zimmer- wie Fassadenbild bestimmt. Übernahm Rußland selbst verwandteste Elemente der Sachlichkeit, nicht nur Technik also, auch »Gemeinschaftsschulen«, »kollektive
Stadtanlagen« und anderes mehr: so hat es doch die sogenannte Decke und den Rahmen, vor allem die Materie der Zuständigkeit so entscheidend schon verändert, daß selbst die Formen dieser
Ratio nicht die gleichen sind oder bleiben können, geschweige ihr Inhalt. Hierher eben gehört, daß die neueste russische Architektur, wenn schon Repräsentation notwendig ist, weniger Wert
auf Ingenieur-Kunst legt als auf den »heimischen Klassizismus«; man spürt in der Sachlichkeit bourgeoises Gift mindestens so
genau wie mögliche Zukunft. Ist allerdings aktive Revolution geschehen oder auch nur in Gang, dann geraten die konkretrationalen Widerspruchskörper, Zukunftskörper im Kapitalismus unvermeidlich in Vermittlung; sie befreien sich aus ihrer
Suspektheit und Abgebrochenheit, sie befreien sick erst recht aus ihrer abstrakten Öde, aus dem inhaltlosen Einerlei ihrer Architektur. Selbstverständlich ist kommunistische Sachlichkeit
nicht nur die spätkapitalistische minus Ausbeutung; vielmehr: fällt die Ausbeutung weg, so entfernt der unausdenkbare Unterschied Profit und Anarchie aus dem Hintergrund, den die
abstrakte Sachlichkeit nur zugedeckt oder vermieden hatte, so wandelt er noch die leblosen Zweckformen in gesellschaftlich beseelte um, so erhalten die kalkweißen Mietsblöcke, worin heute Arbeitstiere minderer Größe hausen, Farbe und ganz andere Geometrie, nämlich von einem wirklichen Kollektiv. Das die verschwindende Privatheit nicht wie heute zum Elend macht
und die gesellschaftliche Lebensform nicht wie heute zur Mechanik oder zum Zuchthaus. Und im Hohlraum der Ideologie-
losigkeit ist statt des Zynismus hier frische Luft, statt des Nihilismus das Nichts an Schein, woraus sich ein All erst bilden kann.
Sogar die »Denkmodelle«, mit denen der Funktionalismus, Relativismus neusachlicher Ratio vor seiner starren Anarchie spielt, sind dialektische 'Theoriestücke geworden, einer selbst 220
dialektischen Tendenz konkret zugehörig. Keineswegs aber sind diese Elemente unter der sogenannten kapitalistischen Decke schon da, sicher nicht als ausgebildete; sonst wäre die neue Sach-
lichkeit nicht so fassadenhaft und reflexiv. Hier ist für Reformisten also kein Erbe anzutreten, sondern die Mittelbarkeit des Blicks und Gebrauchs ist die Revolution. Immerhin täuschen jetzt schon die nackt gewordenen Teilstücke nur mehr
Fassade vor, nicht mehr Zusammenhang aus Bildung, Theater und Plüsch. Und die Ratio wird von kapitalistischer Sachlich-
keit so platt abgebrochen und pervertiert, weil sie ihr so gefährlich ist oder wird, so vorwärtstreibend, so sehr Konsequenz unter Kompromissen. Montage, unmittelbar
Hier erst ist der Wind durchaus, von überall weht er her. Teile stimmen nicht mehr zueinander, sind lösbar geworden, neu montierbar. Faßlich für viele war zunächst nur das geschnittene,
neu geklebte Lichtbild »montiert«; im Umgang mit Maschinen ist das Wort freilich älter. Auch am menschlichen
Leib wird
Haut, werden innere Organe versetzt; doch leistet der versetzte Teil am neuen Ort bestenfalls nur, was des Ortes ist, nichts an-
deres. In der technischen und kulturellen Montage jedoch wird
der Zusammenhang der alten Oberfläche zerfällt, ein neuer gebildet. Er kann als neuer gebildet werden, weil der alte Zusam-
menhang sich immer mehr als scheinhafter, brüchiger, als einer der Oberfläche enthüllt. Lenkte die Sachlichkeit mit glänzendem Anstrich ab, so macht manche Montage das Durcheinander da-
hinter reizvoll oder kühn verschlungen. Sachlichkeit diente als oberste Form der Zerstreuung, die Montage erscheint kulturell als oberste Form spukhafter Intermittenz über der Zerstreuung, ja, gegebenenfalls als gleichzeitige Form der Berauschung und
Irrationalität. Insofern zeigt die Montage weniger Fassade und mehr Hintergrund der Zeit als die Sachlichkeit; ebenso hat sie die Paradestücke der Sachlichkeit nur als Trümmer. Sie täuscht keine Stabilität vor, welche den Vordergrund verhärten will; ihre Form war vielmehr - bereits in der Stabilität - der Jazz, die Revue, das Mosaik aus Fetzen, Lumpen und Lockerung. Der 221
Jazz mischte Maschine und Sentimentalität zugleich; aber wie der Maschinentakt die Trommel Afrikas einließ (und wieder doppelt: als Aufregung und Bann), so kannte die Sentimentalität das ironische Zitat, trieb Chopin, gar den Pilgerchor in die Frechheit des Stegreifs. Noch verblüffender als beim Jazz berührt sich die Revue mit konkreteren Intentionen der Lockerung: die Revue wurde nicht bloß Zerfall des Zerfalls, wie ihn die bloße Gemeinheit der späten Operette darstellt, sie hob vielmehr - in der Kraft des vollendeten Unsinns — auch die Einheit der Personen, den letzten Zusammenhang der Architektur
auf; die Bühne schien aus sogenannten Träumen oder als Kaleidoskop regelloser Wünsche. Freilich zeigte der Ausgang an Jazz wie an Revue, daß nicht hier schon das Material irgendwo konkret durch Montage verändert worden ist, sondern das
Großkapital lenkte beide wieder (ohne daß eine Materialveränderung geschehen wäre) in die kleinen Formen der Irratio ab - hier der Militärtrommel, dort der Hitlerparade. Auch die Montage also kann unmittelbar immer nur als Mittel enden, den Hohlraum zuzubauen; war die Sachlichkeit Fassade des
Vordergrunds, so endet Montage dieser Art als Schloß-Restaurierung des Hintergrunds. Entsprach der reflexiven Sachlichkeit die Mode des neuen Machismus, so lebt die Montage gleichfalls von »Modellen« (die sie anpaßt und variiert), so flickt sie vor allem, als bürgerliche Leermontage, den Abgrund des »Existere«
mit den sogenannten ontischen Erlebnissen (im Gefolge der Husserlschule, bei Heidegger und, wider Willen bereits übergehend, bei Jaspers). Diese letzteren Montagen, mehr Kaleidoskope, werden später, an ihrem Ort, noch beachtet werden; fast spukt darin schon Joyce herein, in eine Professorenphilosophie,
die derlei gar nicht kennt. Ohne das Ineinander der Stände und Dinge gäbe es desgleichen kaum Verständnis für die Metamor-
phosen-Mythologie des rezenten Klages; soweit diese auch durch willenlosen Traum und Archaismen - vom Nolens- Volens
der »Montage« getrennt ist. Unmittelbar freilich, in ihrer eigenen bürgerlichen Wahrheit, sind alle diese durchkreuzten Emotionen oder Hieroglyphen nur ebenso durchkreuzter und verbauter Hintergrund. Aus Trümmern, die den Mut nicht fin-
den, zu phosphoreszieren, aus Teilen der alten Welt, die immer 222
' wieder nur zum Gebrauch in der alten Welt umfunktioniert werden. So ist mindestens gewöhnliche Montage unmittelbar nur eine geschlossene Flasche: geschüttelt, oder ein fertiger Rest: gemischt. Trotz einer Zeit, die mit »Revue« und Folgen manchen Übergang zur Avantgarde zu nehmen schien. Nochmals Montage: höherer Ordnung
Doch nicht nur leichte Form drängt hier, in Fluß zu kommen. Sie schäumte schon dort, als Pinsel und Feder ganz hoch hinauswollten, nämlich expressionistisch. Damals wollten alle Künstler, als »innerliche«, ein sozusagen musikalisches Spiel treiben,
ein bewegliches, ein kreuzungsreiches. Diese Lockerung, dies Eintun der Formen in den Schmelztiegel war eines der expressionistischen Ämter; kurz vor, in und kurz nach dem Krieg. Da
die Form bei den damaligen Mitläufern mit dem äußeren jeden Inhalt verlor, also im Gegensatz zur gemeinten Ausdrucksfülle nichtssagend wurde, wurde freilich auch ihr Ineinander, Durcheinander sehr oft starre Manier. Abstraktes Rebellieren tobte sich dann aus, ohne einen andern Boden als den der bestehenden Gesellschaft zu finden, nur als einer verneinten; in diesem Schein
lebte uferlose Bewegung an sich, uferloser Schrei gegen den Krieg überhaupt, für den Menschen
überhaupt. Die abstrakt
gesprengte Form stellte sich gerade im selbtsgenügsamen, im musisch fixierten Zerfall wieder her, weil sie gegenstandslos blieb, das ist, weil sie keinen Anschluß an wirkliches, klassenhaftes Versinken und Steigen, an andere Gegenstände fand, als
die abstrakt abgelehnten der kapitalistischen Dingwelt. Das musikalische Kaleidoskop gerann in diesem uneigentlichen Expressionismus kunstgewerblich,
fast zur 'Iapete, ja, schlug ge-
radezu in sein Gegenteil aus, nämlich in den sogenannten Kubismus, das ist, in selbstzweckhaften Genuß an Ingenieurkunst, in die Verdinglichung geometrischer Konstruktion an sich. Führten
vom Kubismus sehr rasch Wege in die neue Sachlichkeit, so haben Noskes Feldzüge freilich auch den eigentlichen Expressionismus beendet, diese erste und echteste Form ungegenständlicher, anders gegenständlicher Traum-Montage in unserer Zeit. Diese Montage war nicht die buchstäbliche im Kunstgewerb-
223
lichen (Uhrräder oder Holzklötze auf manchem Ölbild), auch nicht der Münchhausen ganz beliebiger Titel (sieben aufeinandergestellte Hutschachteln als Geburt Christi): der Expressionismus im Original war vielmehr Bildsprengung, war auf-
gerissene Oberfläche auch vom Original her, nämlich vom Subjekt, das gewalttätig aufriß und verschränkte. Dies Subjekt bürgerlich-ästhetischer Opposition (gegen Zusammenhänge der Oberfläche, bildhafte und stabile) blieb also nicht, wie die Mitläufer, bei jener Malerei, die sich noch mit Stolz eine »abstrakte« nannte; nicht bei Kubismus und Tapete. Vielmehr suchte es durchaus Anschluß an die Welt, freilich an eine andere
als an das Subjekt-Objekt undeutlicher Gärung und phantastischer Kristalle. Echter Expressionismus (das Folkwang-Museum in Essen bewahrt von ihm eine Sammlung wahrer Vulkanausbrüche) legte nicht nur subjektivistische Intentionen in eine weggeleugnete Materie, sondern überzog die Welt mit Krieg, montierte ihre Bruchstücke zu Fratzen, montierte in die Hohl-
räume vor allem Exzesse und Hoffnungen stoffhaltiger Art, archaische und utopische Bilder. Auch dieser Expressionismus hatte, obwohl er die Verdinglichung sprengen wollte (statt sie abstrakt zu ignorieren), noch keinen überlegten oder verstandenen Anschluß an die Konkreszierung, nämlich an den revolu-
tionären Prozeß der Subjekt-Objekt-Vermittlung.
Immerhin
hatte er, in der Avantgarde seiner Zeit, »Tendenz« genug im Hintergrund; weshalb der »Blaue Reiter« des Expressionismus besonders verdrängt worden ist, als die sozialdemokratische
Revolution den »Boden der Tatsachen« betrat. Aber auch heute
noch ist kein großes Talent ohne expressionistische Herkunft, mindestens ohne deren höchst gesprenkelte, höchst gewittrige Nachwirkung. Den letzten »Expressionismus« stellten die sogenannten Surrealisten; eine kleine Gruppe nur, aber wieder ist Avantgarde bei ihnen und: Surrealismus ist erst recht —
Montage. Bei Joyce, als dem Monument der »Surrealisten«, ist Montage geradezu der Schlüssel aller Wunderlichkeit, sie ist die Beschreibung des Durcheinander der Erlebniswirklichkeit mit
eingestürzten Sphären und Zäsuren. Die Sprache hier ist auf nichts als Anfänge gebracht, auf verkommene Anfänge des Klingklangs und in ihm nochmals kombiniert; die Handlung 224
läuft zwischen innerem Dialog (der alles sagt, was der Person durch die Sinne geht), Unterwelt, Querwelt und Überwelt (die
wieder im engsten Leibkontakt stehen). Der Raum und Gegenstand der Handlung ist im »Ulysses« ein Tag unbedeutender Personen (der aber mehr als tausendundein Tag sein möchte, ja ein Omnia ubique in der Nuß). Zote, Chronik, Gewäsch, Scholastik, Magazin, Slang, Freud, Bergson, Ägypten, Baum, Mensch, Wirtschaft, Wolke gehen in diesem Bildfluß aus und
ein, mischen sich, durchdringen sich in einer Unordnung, die ihre Gestalt freilich bei Proteus sucht, im Durcheinander
der
gärenden Natur, nicht mehr bei Prometheus, am expressiv gärenden Subjekt. Als letzte Buchmagie wird Proteus selber noch mit seinem Gegenteil tingiert, nämlich mit behaupteter Symmetrie, ja, Durchentsprechung aller Teile; dergestalt, daß
nicht nur Leitmotive sich winden, sondern jedes Kapitel - in der Kathedrale des Relativismus - Körperteilen, Farben, Mineralien und dergleichen, mit ruhelos verdeckter Konkordanz, zu
entsprechen versucht. Die zerlegte Geige Picassos ist so, in schwer durchschaubarer Breitstapelei, zur Wortkinetik geworden; Relationen — nicht gerade zu Dante, wohl aber zu den Romantikern, geben dieser Art Montage das Mondlicht, worin
sie gedeiht. Heute ist das alles erst Bilderrätsel des gesprungenen Bewußtseins; mit einer »Totalität«, die ihr All in Fetzen,
Gesprächsfetzen, Querschlägen ungerichteter Erlebniswirklich-
keit hat. Aber eine Welt, deren kurioseste Literatur die bürgerliche Bildung so ausläutet, ist immerhin fähig, wenn sie keine Dialektik treibt, diese an ihr betreiben zu lassen. Die konstitu-
tive Montage nimmt sich die besten Stücke, baut andere Zusammenhänge daraus, und der Besitzer des früheren Zusam-
menhangs erfreut sich am neuen, falls dieser kein Flickwerk und musischer Mythos bleibt, nicht mehr.
Montage, mittelbar Ins einzelne der brauchbaren Stücke führt auch hier noch nichts herein. Weniger der Betrug durch neue Ablenkung als der einer
ruhenden Verschlingung verhindert auch Montage, an Ort und Stelle widersprechend zu sein. Wir hatten, bei der mittelbaren
225
Sachlichkeit, nur das als mittelbar gebrauchsfähig bezeichnet,
was am kapitalistischen Ort selbst schon als verdächtig oder widerspruchsvoll erkannt werden kann. Dieses ist auch hier das Kriterium brauchbarer Erbstücke: sie müssen im Spätkapital, das sie ausbildet, ebenso unvollkommen und verhindert wie
suspekt sein. Sie müssen das Irreguläre sein, nämlich ein im kapitalistischen Schoß entstandener Widerspruch aus echtem Heute, aus Heute und konkretem Morgen zugleich. Das ist bei Phänomenen
der Montage gewiß oft der Fall; sonst hätte das
restaurierte Kapital nicht die mannigfachen expressionistischen Aufrüttelungen und Schüttelungen gestoppt. Sonst würde Montage nur bei Joyce erscheinen oder anderen »interessanten« Zerfallsfiguren und nicht auch bei Brecht,
der sie geradezu
als
Produktivkraft gebraucht. Nämlich als Unterbrechung des dramatischen Flusses und lehrhafte Versetzung seiner Teile, kurz,
als regiehaftes Politikum. Aber was bei der mittelbaren Sachlichkeit gesagt wurde, gilt auch hier: erst in und nach der Revolution lassen sich Einzelheiten selbst herausmontieren. Einzelheiten des riesigen Improvisations- und Mischwesens, das die Gebilde dieser Zeit, wie keiner anderen, in ihrem Fluß kennzeichnet, in den Ornamenten ihres Relativismus, ihrer »Revue-
Kultur«. So wenig man aus der kapitalistischen Gleichzeitigkeit jedes Erbe ablehnen darf, außer »der jeweils letzten Maschine«, so wenig darf man umgekehrt jedes antinomisch Versehrte schon als Leben unter der Decke notieren. So wenig sind erst
recht aus einer bloßen »Idee« von Montage Übergänge konstruierbar, bloß weil das gesprungene Bewußtsein des Spätkapitals hier Bilderrätsel aufgibt. Bilderrätsel und Vexierbilder,
die zum Teil dem Kapitalismus zwar irregulär sind, ihm aber doch zum Glanz dienen, eben zum »interessanten« Glanz einer
geistigen Produktion, die regulär hier gar nicht mehr möglich wäre. In und nach der Revolution freilich pointiert sich auch die Brauchbarkeit dieses Einzelnen, erst recht des ganzen Habi-
tus, und zwar ohne Gift; nur daraufhin lassen sich jetzt schon »Montage-Gebilde«
nämlich
in dem
erinnern, damit sie im Begriff stehen, einer merkwürdig strudelnden Kultur-Ver-
gangenheit, die auch sozialistisch lange diese Form haben kann. Was also Montage, mittelbar, angeht: so fehlt ihr in der 226
konkreten Zuständigkeit jeder Spaß leerer Kombination, jeder Betrug des Kaleidoskops (um das Chaos des Hintergrunds schlecht geheimnisvollzu machen). Auch Montage ohne Ausbeutung holt aus der zerfällten Oberfläche ihre Teile, setzt sie aber nicht in neue Geschlossenheiten, sondern macht sie zu Partikeln einer anderen Sprache, anderen Informationen, anderen Unter-
wegs-Gestalt der aufgebrochenen Wirklichkeit. Bei Brecht etwa bestehen, dieser Art, unbedenkliche Verwendungen neumachisti-
scher Modelle; indes: wird jede eigne Form, erst recht jeder materielle Inhalt ummontiert, so erscheint kein »angepaßtes« Kaleidoskop, das nichts ändern will, es wird auch kein musisches Chaos versucht. Sondern: die Montage des Bruchstücks aus dem
alten Dasein ist hier das Experiment seiner Umfunktionierung in ein neues. Maschinelle, dramaturgische, gar philosophische Montage ist mit mehr oder minder rascher Umfunktionierung,
das ist: mit dem Gebrauch kurzer und wegwerfbarer Modelle gewiß nicht zu Ende. In den philosophischen Querbohrungen Benjamins etwa zeigt sich: Montage holt sich das Ihre aus manchem Stegreif, der früher beliebig gewesen wäre, aus mancher
betonten Unterbrechung, die früher nur unbetonte Störung geblieben wäre; sie holt eingreifende Mittel aus verachteten oder verdächtigen Formen und aus Formen ehemals zweiter Hand. Aus den Trümmer-Bedeutungen zerfallender Großwerke dazu und aus dem Dickicht eines nicht mehr glatt arrangierten Mate-
rials. Montage hat den Zug zum Interim, zu neuer »Passagenbildung« durch die Dinge und zur Auslage von bisher weit Entferntem; an anderen Stellen, so in manchen merkwürdigen Versuchen der Surrealisten, von Max Ernst bis Aragon, ist sie eine Art Kristallbildung am gekommenen Chaos, die die kom-
mende Ordnung bizarr versucht zu spiegeln. Hier überall ist nicht viel mehr als Programm, flüchtig, einsam und oft vorübergehend; doch im meisten eben, was die zwanziger Jahre an bedeutsamer Kunst und Wahrnehmung hervorgebracht haben,
ist der Reiz dieses Programms oder die abgebrochene Teilnahme an seinen Weiterungen. Schon die im Selbsteinsturz des Bürger-
tums erscheinende Durchdringung und Vertauschbarkeit der Teile liegt über der Geschlossenheit seines bisherigen » Weltbilds«. Ja, hier ist relativ vorgeschrittenes Bewußtsein noch 227
gegen jene Art vulgärmarxistischer Fertigkeit, die alles recht arbeitsteilig an seinem Ort weiß und alles recht abstrakt im Rahmen. Relativismus, der denSprung der geschlossenen Oberfläche anzeigt, Montage vor allem, die sich auf die unheimliche,
die experimentelle Figur dieser Trümmer versteht — so überliefert das Spätbürgertum noch »Kultur« oder läßt sie über-
liefern. Aus einem Guß gelingt auf diesem Boden nichts mehr, er gelingt erst auf dem nächsten oder auf den Landzungen, die der nächste ins Chaos hereinschickt. Doch ist der Guß geneigt, manche Konkursmasse in sich aufzunehmen, vor allem eben Bilderrätsel eines gesprungenen Bewußtseins, so wunderlich
und neu »den Menschen« meinend. Diese Art hat alles Negative der Leere, doch sie hat auch, mittelbar, als möglich Positives: daß sie Trümmer
in einen anderen Raum
gewohnten Zusammenhang.
schafft -— wider den
Montage im Spätbürgertum ist
der Hohlraum seiner Welt, erfüllt mit Funken und Überschnei-
dungen einer »Erscheinungsgeschichte«, die nicht die rechte ist, doch gegebenenfalls ein Mischort der rechten. Eine Form auch, sich der alten Kultur zu vergewissern: erblickt aus Fahrt und Betroffenheit, nicht mehr aus Bildung.
DIE
LEERE
Keiner aber lebt sich ein. Je weiter vorn im Neuen, desto kahler. Die Wand im Zimmer sieht grau oder gelblich aus wie die Straße, und der Boden ist sie. Glatt schieben sich die Stühle, nichts steht fest.
Kaum noch ist möglich oder nötig, recht zu wohnen. Das leere Ich bildet sich keine Hülle mehr, um den darin zu bergen, der ohnehin nicht zu Hause ist. Die Möbel verschwinden, lösen sich in ihren bloßen Zweck auf, gehen an die Wand. Wie Licht an der Wand, so wird die Hand am Schalter bald einen Tisch andrehen, das tragende Feld seiner Platte, und ihn ausdrehen,
wird er nicht mehr gebraucht. Die neuen Straßen sind für sich völlig leblos; wird eine alte Anlage abgerissen und eine frische hingesetzt, so bleibt dennoch ein Loch. Nichts setzt sich an, der 228
Platz bleibt offen für das, was fehlt. Sehr trockene Art, nicht alt zu werden, sie zieht um.
DAS
SCHIFFSHAUS
Auch an diesem lernt man frieren. Drinnen wie draußen ist die Wand nackt. Aber dafür sieht man das Innere offen, das Drau-
Ben bricht durch. Die dicken Stoffe sind gefallen, ein durchdringender Wille reist ab. All das möchte woanders sein als dort, wo es so hoHl steht. Auch dies Haus hier täuscht nicht mehr vor, zu wurzeln. Riemen laufen um die Gesimse, aus blauem Stahl, nachts leuchtend. Die betonte Breite ist keine mehr, sie erinnert eher an die Hun-
gerschlangen, welche vor den Geschäften gestanden haben und nun hochgelaufen sind oder übereinander. Die Not zwingt zu großen Blöcken, doch die offene Zeit bläst den Würfel an und ändert seine Gestalt. Niedere Türen führen nicht mehr ins sichere Haus, sondern an Bord. Kurven bilden einen Schiftsbug,
die Schlangen ziehen Bänder um den Rumpf, selbst das flache Dach, das so südlich aussieht, ist nicht so sehr dem Süden nach-
gebildet oder breitruhend, als vielmehr ein Verdeck. Treppen von außen, eingenietete Rundfenster verstärken den fahrenden Eindruck: das ganze Haus wird ein Schiff. Hier kleben sich keine ' Gespenster toter Stile an und spuken nach; ein Neues spukt voraus, das ist und nicht ist. Jazz klingt vortrefflich zu Stahl, und die Weisen Weills zeigen, daß der Stahl nicht stimmt. Das Haus als Schiff verneint den Platz, worauf er steht; denn Schiffe haben Lust, zu verschwinden. Die Ordre, wohin sie bestimmt sind, wird nicht geöffnet, solange man noch kreuzt; erst später. Doch einige Stücke daraus (ein lumpiger oder böiger Wind
' pfeift durch) sind jetzt schon bekannt.
229
ZUR
DREIGROSCHENOPER
Sehr viele sprach diese besonders heiter an. Sie hatten vergnügten Ulk, nahmen ihn mit nach Hause. Schlager dazu, süße und bittere, merkwürdig geschärfte, doch nicht angreifend. Dies Ungefährliche scheint dort vor allem, wo der Bürger lacht. Die Schlager scheinen dieselben, die er auch sonst tanzt, nur besser
zubereitet. Und die Bettler scheinen mit einer Lage einverstanden, die sie so lustig noch singen und spielen läßt. Zum frischen Ton tanzt manches, das es nicht nötig hätte. Alles richtig, doch mit dem frischen Ton ist es wieder nicht
so weit her. Weill gelang eher, auf sehr lebendige Art, die faulen Wasser auszuschöpfen, gerade die des Schlagers.
»An-
statt daß, anstatt daß sie zu Hause bleiben, brauchen sie Spaß«: die falschen Töne, versetzten Rhythmen dieses Spaßes werden
auskomponiert und enthüllt. Dadurch wird die Triebbefriedigung, die das Publikum sonst an Schlagern findet, verraten und verräterisch umgesetzt; nämlich die Ware als Schlager hört auf, und er erscheint als verhinderter Ersatz für ein Gut. Weill er-
reichte in leichter, ja vulgärer Maske viele, an die die vorgeschrittene Musik nicht herankam. Sind diese Vielen auch nur zum kleinsten 'Ieil Proleten, so macht sich Weill aus dem besseren Klassengemisch, das zuhört, doch nicht »Volk«, das zu singen wäre, sondern Zersetzung, die der leichten Musik bis
auf den Grund geht. Weill ist nicht radikal eintönig und genau wie Eisler, erst recht nicht »musikantisch«, nämlich falsch unmittelbar, wie die sozialdemokratische Urnatur Hindemith; er
nimmt noch weniger den Schlager in Songgestalt auf, als wäre er ein neues Volkslied. Ist er doch längst industrialisierte Ware;
gerade
der neue, aus
armen
Negern
und
eleganteren Ur-
gefühlen, wurde besonders genormt und abgehoben, besonders
anonym und gegenstandslos in seiner Triebbefriedigung. Doch ebenso ist im Schlager ein Seitensprung, ein Stück Hurengasse und Juxkabinett neben der Prachtstraße; macht der Schlager als
Rhythmus, Melodie und Text auch völlig den genormten Zeitzug mit, so hat er darunter noch ein schiefes Gesicht, ein kolpor-
tagehaftes, das mit größter Oberflächlichkeit die Oberflächen sich abschminkt. Das Lumpenhafte des Schlagers bewirkt nicht 230
Er
|
bloß, daß er länger im Gedächtnis bleibt als das Mittelgut seiner Zeit (noch ganz frühe Schlager, wie Fischerin, du kleine, die Holzauktion im Grunewald, Male, Male, lebt denn meine Male noch,
der Rixdorfer,
hängen
im verwandten
Unterbewußt-
sein). Die Dreigroschenoper konnte auch an dies Lumpenhafte sich, kraft der gärenden Zeit, besonders genau anschließen: ihre
Bettler und Gauner sind nicht mehr solche der Opera buffa, gar des Lumpenballs, gar der Wohltätigkeit, sondern der zersetzten Gesellschaft in Person. Daher, o falsche Freunde, diese Töne, daher Brechts höhnische Süße, geschärfte Leichtheit noch ein-
mal, daher die Weisen Mackie Messers und dieser Tiger-Brown. Daher die Stimme der Lotte Lenja, süß, hoch, leicht, gefährlich, kühl, mit dem Licht der Mondsichel; daher die Seeräuber-Jenny und die dämonische Ballade, zu der sie endlich Luft bekommt.
Ohne den kühn gemachten Zerfall in Stravinskijs Geschichte vom Soldaten, wäre die Dreigroschenoper nicht; aber ohne den
gemeinen Zerfall, ohne die Schlager seit 1880 erst recht nicht. Das »Prickelnde« wie der Schmalz haben keine bessere Musik mehr über sich als die, worin sie zitiert werden; die brechende
Schönheit der Trompetenmelodie, beim Abschiec Pollys vom Räuber, wird zum Zitat eines Lebens, das noch keinen Platz hat. Der Versuch der Dreigroschenoper hat die schlechteste Musik
in den Dienst der heute vorgeschrittensten gestellt; und sie zeigt sich gefährlich. Aus der Hure im bürgerlichen Straßendienst wurde eine anarchistische Schmugglerin, wenigstens eine anarchistische. Verschiedene Züge mengen sich miteinander, reiben sich. Der
kantige Ton und die dicke Luft, die geschlossene Nummer und der aufsässige Inhalt. Die vereinfachten Ausdrucksmittel und
‘ der äußerst vielstimmige Traum der Seeräuber-Jenny, die froı hen Melodien und die blühende Verzweiflung; zuletzt ein Choı ral, der sprengt. Der Song handelt nicht, sondern berichtet zuständlich, wie die alte Arie; doch ausnahmslos berichtet er einen ann verfluchten Zustand (und den »verdammten Fühlst-du-meinHerz-schlagen-Text«). Hier setzt sich ein alter Keller als Haus, zuweilen auch setzt sich ein neues Dach unmittelbar auf den * Boden; aus dem Querschnitt beider läßt sich die Zukunft einer
' Gesellschaft freilich noch nicht vorhersagen, gar betreiben. Der 251
Genuß überhaupt, den solche Musik mit sich führt, steht der
Verwandlung der Gesellschaft - wenn nicht im Weg, so nicht immer auf dem Weg; ihr Ton hat nur bisweilen sein Schwert. Hier sind künstlerische Grenzen überhaupt gezogen, auch Stär-
kerem als dem Versuch der Dreigroschenoper und ihren befreiten Schlagerwaffen. Der Nagel, den noch die politisch geziel-
teste Musik und Dichtung auf den Kopf treffen, ist der gegebenen Wirklichkeit nur sehr mittelbar einer zum Sarg. Aber kann Musik Gesellschaft nicht ändern, so kann sie, wie Wiesengrund mit Recht sagt, ihre Veränderung vorweg bedeuten, indem sie »aufnimmt« und lautspricht, was unter der Oberfläche sich auflöst und bildet. Vor allem illuminiert sie die Antriebe derer, die auch ohne Musik in die Zukunft marschieren, doch mit ihr leich-
ter. Weills Musik hat als einzige heute gesellschaftlich-polemische Schlagkraft; und der Wind pfeift durch, der ehrliche Wind, der ist, wo ihn keine Gebäude aufhalten, wo ringsum die Zeit
noch keine Wirklichkeit ist. Den »musikantischen« Sängern hat Weill, in ihrem eigenen » Volk«, das packende Konzept verdor-
ben. Der Kanonensong zeigte, daß auch links Soldaten wohnen, aber die richtigen. Und die Seeräuber-Jenny kam, auf Augenblicke, dem Herzen des Volks so nahe wie früher die Königin Luise. Nichts zeigt klarer, wessen Schlager und die Lust des mischenden Stegreifs jetzt fähig sind.
ZEITECHO
STRAVINSKIJ
Was hohl ist, darauf läßt sich gut pfeifen. So auch hält es Stra-
vinskij mit sich und dem seinen, er versuchte schon viel. Leere trommelt betörend
auf sich selbst, bekleidet sich auch, zieht
Altes an, wird maskenhaft und tönt derart. Der Klang war erst süß und glitzernd, dann schmelzend und heiter verwirrt, bis ein Riß geschah. Er geschah 1918 in der Geschichte vom Soldaten; nirgends wurde dieses Jahr so zerfallen, so einsam und wichtig irr notiert. Stravinskij aber ist die Maske, welche immer anders kann. Nichts hängt in seinem Spiel zusammen;
eine treulose
Musik, eben dadurch heute auch ehrlich. Der Klang ist jedesmal 232
anders und, während sein Stück noch spielt, schon nicht mehr
ganz bei ihm. Geschichte vom Soldaten: das zerfällt einen Mann, daß ihm die Fetzen fliegen. Ein bewußter Ulk, der bald bewußtlos wird, und woran Grauen ist. Der Soldat Josef hat 14 Tage Urlaub, gibt dem Teufel seine Geige, nimmt ein Buch in Tausch, das vor-
geht. »Devisenkurse« liest er (genauer Schnittpunkt hier zwischen Märchen und Teufelei), Kurse die noch nicht da sind; als
Gast sitzt er beim Teufel drei Tage, aber es sind drei Wochen, sein Mädchen zu Hause geht verloren, niemand zu Hause kennt
den Totgeglaubten und er liest in dem höllischen Buch, unselig, seelenlos, ohne Musik, es regnet Titel, Noten, Gold. Und nun, völlig aus der wimmernden, falschen, zerfetzten Partitur, aus
der genialen Falschheit ihrer Einsätze der Gewinn: Sieg des Soldaten über den Teufel und das Böse unter dem Tisch. Die Bühne wird hell, das ganze Theater, noch der Kronleuchter flammt auf, mit halber Stärke, dem Orchester kommt ein Choral
sozusagen, lumpig und kariös, aber wahr und fromm wie »Gelobt sei Gott« in atemraubender Kolportage, wenn Rettung naht, der Freund, Bewaffnete, Licht. Doch auch dieses Glück
hält nicht, die errungene Prinzessin nicht, am wenigsten das Heimatdorf; unter Musik aus lauter Agonie, im alten Bann und vollkommenem Dunkel tappt die unersättliche Kreatur ihrem Teufel nach ins Nichts. Und welche Szene aus Schizophrenie! der Schnürboden ringsherum, ein offner Hohlraum, das jämmerliche Theaterchen in seiner Mitte, der Vorleser dreifach montiert: als vom Soldaten berichtend, als Soldat oft selbst, als
Freund des Soldaten und Helfer der Szene, die in jedem Augenblick nicht weiß, wohin sie der Herr zum Ior hinaustreibt. Kanaster mit Irrsinn dampft im Hoftheater, rauhe Traumbilder ziehen in seinem Rauch, der Vorhang des Theaterchens geht auf und nieder, zeigt die Leinwände einer Moritat, dann Menschen unbeweglich, dann handelnd, dann lebendig gewordene Wachs-
puppen in der Pantomine. Dies ganze verkehrte Wesen aber, dies seltsame Gedicht des seltsamen Dichters Ramuz hat Musik in Bilder niedergeschlagen, häßlich wie der "Traum eines Irren, blutig, zusammenhanglos, hell von unterirdischem Licht am Himmel und dann wieder eingestrichen, als die bezahlte Zeche der 233
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tiefen Nacht. Durchlöcherter Rhythmus überall, eine Orgie aus falschen Tönen; Impression und Montage aus Lumpen und Marche royal durcheinander, ein Hungertraum, der aus Volkstänzen und Marktzauber von ehemals auf eine Landstraße zieht,
wo nur noch die Gespenster vergangener Musikparaden umgehen. In Stravinskijs »Petruschka« war noch der blühende Klang des Jahrmarkts, sah die Ballerina noch aus, wie ein Knabe sich
das Weib vorstellt, war die sonderbare Süßigkeit der Drehorgelmelodie, dies überstark Gefärbte, schmelzend sich Aussingende
bis zum Rest. Aber in der »Geschichte vom Soldaten« nächtigt gerade die Folklore, und die Musik des böse Schlafenden erscheint, die Welt des bis in den Tod Getriebenen und Schlafenden. Stra-
vinskij hat in ihren Bildern, in den gespenstischen Böen aus dem Nachttraum, die die Kreaturbilder aufblättern und verwehen,
eine Art verlumpten Faust in Musik gesetzt, nämlich den Hungermann ohne Welt. Stravinskij, der Unzuverlässige, trägt hier die zuverlässigste Maske, nämlich die des Todes; und seine Musik ist der Sterbetraum einer Inwendigkeit, der kaum noch der Irrsinn, der Ulk des Irrsinns ein Boden ist, welcher den Fall aufhält. Ödipus Rex: Desto erstaunlicher hier der neue Ton, stählern, sicher, vornehm. Statt der Lumpen starre Gewänder, statt des "Taumels dauernd weiße Ruhe. JedeSpur vonFlackern und Durcheinander, aber auch von Wetter und menschlicher Unruhe ist
getilgt. Der Klang scharf hintereinander abgesetzt, Verschmelzung, gar Schwüle völlig vermieden; keine Bewegung zwischen den Menschen. Geschlossene Sätze, der minutiöse wie der Gesamtbau unerhört präzis, hart gerammt; eine Musik, die nicht romantisch fließt, auch nicht zerbricht, wie in der »Geschichte
vom Soldaten«, sondern schlägt. Immer freilich nur an Ort und Stelle schlägt; das gilt für Melos wie Rhythmus wie für die völlig auf sich beruhende Szene. Starr sitzender Chor, im Dunkel der bloßen Masse; Ödipus und Jokaste in musikalischer Blockeinheit, archaischer Haltung; Figuren, an denen ihr Schick-
sal unentrinnbar sich aufspult und abläuft. Auch dies Maschinenwesen ist noch in der Musik, in ihrem nicht ohne Grund von ihr
gesetzten deterministischen Stoff. Hatte Stravinskij früh schon maschinelle Neigungen, und fand er sein »Concertino« erst richtig gespielt, als es, wie er sagte, »lief wie eine Nähmaschine«:
234
2
so ist diese erzmoderne Exaktheit hier der Exaktheit eines Schicksalsstücks verschworen, das ebenso unentrinnbar ist. Musik bejaht hier wie dort das laufende Band der Notwendigkeit, nobilitiert Fließarbeit ohne Pausen, Schicksal ohne Licht. Ödipus
Rex, mit »Psychologie weder davor noch dahinter, läuft derart selbst als musikalische Schicksalsmaschine, in Beton eingeschraubt. Oder in Marmor eingemauert: der ist zwar reich geädert, von italienischen Wendungen (im Gesang der Jokaste), von altrussischen Vokalisen (im Gesang des Ödipus und Teiresias), doch die Starre bleibt selbst in der Schweifung, das maschinell-archaische läßt kein unkontrollierbares Blühen frei. Diese
Starre ist der Tribut des späteren Stravinskij an die Pariser Reaktion, ja, an die kapitalistische Stabilisierung der Welt; dem entstammt auch, was man den »Objektivismus« dieser Musik
nennt. Er ist betonte Entfremdung von aller Psychologie, doch auch von allem Menschlichen; er ist eine ästhetische Entfrem-
dung, welche der wirklichen und unerträglichen des Betriebs, der Zwangsläufigkeit Musik und damit gutes Gewissen zu machen bestrebt ist. Nicht ohne daß Cocteaus lateinischer Text noch ganz andere, ja, fast rätselhafte Elemente von Fascismus hinzuließ und diese Elemente zugleich mit einer erzfranzösischen,
dabei phantastischen Erinnerung durchsetzt. In einer Zeit, wo soviel Verdrängtes wieder aufsteigt, laufen auf dem Land nicht
nur »pelasgische« Bilder um, sondern in der Stadt gewissermaßen »attische«; — sehr viel schwächer, auch mehr in Frank_ reich als in Deutschland und auch dort in bloßer Literatur, freilich in empfindlicher und herb reaktionärer. Es ist eine seltsame
Zuflucht bürgerlicher Zivilisation zur Antike, woraus sie sich herleitet; so vermehrt sich die kühle Welt von Vasenbildern, welche Sachlichkeit, Wohnmaschinen, Hohlräume zuweilen durchtönt, um eine Art Revenant-Musik aus dem Hades. Ein anderes Stück Cocteaus (Orpheus und Eurydike), Kältemusik wäre ihm freilich fremd, mauert nicht nur moderne Notwen-
digkeit in antike ein, sondern montiert umgekehrt antiken Stoff ins hellste Jetzt. Es setzt Eurydike platinblond und im Pyjama, Orpheus mit Hornbrille und Polohemd, und zwar in ein fran-
zösisches Landhaus 1928: gerade dem modernen Prospekt aber gehen griechische Gestalten wie gerufen ein. Madame la Mort 235
trägt Pariser Abendtoilette mit antiker Goldmaske bruchlos; der alte Mythos hallt im Leben solch elegant-morbider »Gegenwart« wider, als wäre er ein Stück Prognose. Picasso, Stravinskij, Cocteau - sie sind, antiker Form sich nähernd, ein Drei-
klang geworden und die letzte Verführung zu »Maß«, die die Oberschicht der Bourgeoisie, in letzter Stunde, hervorgebracht hat. Nicht mehr gegen oder jenseits der Maschinen wie in der Strauss-Hofmannsthalschen
»Antike«, sondern mit ihnen. Der
Hohlraum füllt sich mit dämonischen Masken und Echoreflexen, mit einer erstarrten Montage maschineller, antiker, byzan-
tinischer, weiß-archaischer »Ordnung«. Ödipus Rex, in Stahlton und lateinischer Sprache, bezeichnet die hintergründigste Fassade, zu der es die neue Sachlichkeit mit Montage gebracht hat. So verblüffend wirkt tönende Leere und das jetzt, wovon sie hallt. Es ist eine genau großbürgerliche, jeder Stoß oder Einfall von unten fehlt. Stravinskij hat mit Trommeln, die keine des Fatums sind, seit der Histoire du soldat nichts mehr gemein, sein Ort istder der Entfremdung, mythologisierenden Entäußerung.
Dennoch ist er auch darin unzuverlässig, das Spiel der Entfremdung steht dauernd auf düsterem Hintergrund, kann in Gelächter und ganz offenbare Verzweiflung umschlagen. Daher ist der Bourgeoisie dieser ihr genauester Zeitgenosse und modischster Musiker dennoch verdächtig; denn er hat immerhin das echte
falsche Bewußtsein der Zeit. Auf der genauen Höhe der großbürgerlichen Welt befindlich, ist er trotz alles Objektivismus nicht musikantisch und nicht positiv; Stravinskij spielt in den härtesten großbürgerlichen Widersprüchen, ohne Versuch einer positiven Ideologie, einer musikalischen » Weltanschauung«. Obwohl er der neuen Sachlichkeit die Maschinenmusik, ja die musikalische Unmenschlichkeit hinzugefügt hat, erscheint Stra-
vinskij der Bourgeoisie nicht weniger suspekt wie up to date: der »Fascist» wirkt als »Kulturbolschewik«.
Das erhellte, als
Klemperer, in den denkwürdigen Wintern der Krolloper, Ödipus Rex nach Berlin brachte. Lehrreich zusammen mit der Geschichte vom Soldaten, zusammen mit Klemperers anderen Taten der Reinheit, Exaktheit und Neugeburt. Unter dem Diri-
genten der Präzision, des feurigen und sauberen Hintergrunds 236
|
klang auch der letzte Stravinskij, seiner Reaktion ungeachtet, wie dämonische Gleichzeitigkeit und wurde dazu. Die Bour-
geoisie findet in Stravinskij immer noch Luxus, sogar ihren höchsten,
aber keinen Vertrauen
erweckenden;
vielmehr
ist
Systemlosigkeit sein Name, die Härte eine in Masken und der Stahlglanz einer über dem Spuk der Leere. Vor dem Ödipus bereits hat Stravinskij dessen Klassizität in »Pulcinella« ironisiert; nach dem Ödipus kam die Psalmensymphonie, ein Notbau verblasener und schleppender Gefühle. Die Beliebigkeit von Haltung und Thema, die einen Richard Strauss schon in seiner
Blütezeit gekennzeichnet hatte, ist bei Stravinskij stählerne Unzuverlässigkeit und dadurch
die einer in tausend tur. Stravinskij, von ten Experiment so musikalische Spieler
Genauigkeit geworden:
nämlich
und keinem Stoff explodierenden SpätkulRevolution, ja, bereits von jedem konkreweit entfernt, ist dennoch der präziseste mit einer spätbürgerlichen Zeit geworden,
mit einem abstrakten, viel gebrochenen, reflexreichen Raum. Ein Wort noch zu dem, was als mehr oder minder stählern
weiter umgeht. Fest, genau und hart stehen jetzt alle Stimmen, die etwas zu singen, vor allem zu sagen haben. Auch Weills Musik kehrt zur festen Nummer zurück, will darin nicht berauschen, sondern, so genau und umschweiflos wie möglich, unter-
' streichen. Aber die »dramaturgische Auswertung der geschlossenen Form« ist hier keineswegs selbst geschlossen; sie wurde vielmehr revolutionärer Marsch oder zur Arie verfluchter Zu-
‚ stände oder zum Protest gerade gegen Verdinglichung und Men‚ schenleere. In Weills »Bürgschaft« etwa, keinem einwandfreien Werk und einem mit musikantisch-objektivistischem Anschein,
brechen Wehmut und Nebel in die Geschlossenheit ein: jüdisch
‚ verdunkelter Süden im Klagelied der Mutter um ihre Tochter, Musik des Nebelordens in den Räuberrufen an der Brücke, die irreführen gleich Naturstimmen, gleich wehenden Naturstimmen aus einem irischen Geistermärchen; gar Nebel auf dem
Fluß wird zur Kantate jener Ferne, worin die Menschen von . sich selber sind, welche sie ebenso noch von gediegener Ordnung
und Erzklang trennt. So hat Weills Musik, als gegen Verdinglichung
stehend,
zwar
agitatorische
Härte,
antiromantische
Form, Bestimmtheit des Ziels durchaus, jedoch durchaus nicht 237
u
Stravinskijs abstrakt (nämlich eben als Verdinglichung) durchgehenden Stahl. Musiker andererseits, die immerhin exterritorial zur Verdinglichung stehen, wie Alban Berg, erschweren den
Objektivismus (ohne Objekt) durch ein expressiv gebliebenes Subjekt und seine Bestimmtheit eigener Art. Was Bergs » Wozzeck« angeht, so ist Gegenstand seiner Musik weder die automatische Härte eines Schicksals noch bereits die erhabene einer Kathedrale, sondern der arme, leidende Mensch, sondern der
Abgrund gerade des schutzlosen Wetters in und außer ihm. Wind auf der Straße, die riesengroß aufspielende Angst des Abendhimmels
über der Stadt, der trübe Mond
werden
zur
Ausbreitung des Menschen oder zur Fata Morgana des schrecklich Allernächsten am Himmel; Wetter, nur dieses, ist im » Woz-
zeck« dramatis et musicae persona. Darum ist das Espressivo hier ebenfalls nicht pathetisch, sondern realistisch, nämlich als intensivste Bezeichnung des leidend vorhandenen Menschen; Bergs Musik des Wozzeck-Menschen ist die Wettermusik seiner
Einsamkeit, seiner Unbestimmtheit und Trauer. So hat Bergs Musik zwar realistische Härte und Präzision durchaus, nämlich am Abgrund schutzloser Wetterhaftigkeit oder der armen Leute;
doch wegen dieses konkreten Gegensatzes zu allem abstrakt durchgehenden Stahl fehlt Stravinskijs abstrakter, dämonischer oder verfrühter Stahlton erst recht, rechtens. Bergs Musik schlägt den abstrakten Stahlton des Objektivismus gerade in der Realität, sie schlägt das Kollektiv ohne Menschen, welches der Objektivismus setzt, mit Menschen ohne Kollektiv, als dem derzeit
realsten Zustand. Und die Härte selbst? - es ist ein sonderbares Schauspiel, daß eben die Maskengestalt Stravinskij sie besitzt, wogegen der allerstrengste, allerkonstruktivste, der ZwölftonMusiker Schönberg so billigen Kaufs nicht davonkommt. In der Tat spricht bei ihm ein unruhiges Ich, untergründig, triebhaft,
auf Reise, abseitig, es gibt auch technisch keinen Grundton des Bezugs, die herrschende Tonart verschwindet, die neue Strenge
wird eine des Wegs und der unerfüllten Bewegung, die darauf geht. Schönbergs Feinde mißverstehen daher den Neuerer als letzten Romantiker, wo nicht als eine Art entsinnlichten Chopin; die Strenge wiederum, womit das Atonale gebändigt, erscheint ihnen idealistisch, nämlich abstrakt und selbstgenügsam 238
‚ä geschlossen. Schönbergs Kenner dagegen sehen hier gerade die Ausdrucksmusik des privaten bürgerlichen Individuums, lediglich ihre eigenen Konsequenzen verfolgend, zur Aufhebung gebracht; in der Übersteigerung, welche »Subjektivismus« und »idealistische Systematik« hier zugleich erfahren, wirkt jene Dialektik, welche beide Erbschaften aus der Romantik legitim überwindet.
Gerade die vollkommene
Expression erlischt, so-
fern ihrer Macht das gesamte musikalische Material unterworfen ist; gerade der strengst entdinglichte Kontrapunkt wird auf der anderen Seite, wie Haba sagte, zum Musikstil der Freiheit, das heißt, wie Wiesengrund sagte, zur vollkommenen Durchkonstruktion, als welche erst den nicht mehr mechanischen Menschen freilegt. So ist Schönbergs Programm und die schwierige
Art seines Expressivo zwar ohne rechten Zusammenhang mit der Zeit, doch ein Ferment der Zukunft; auch wenn Schönbergs
Musik nur deren Rüstung und Erkundung, noch nicht realer Einmarsch oder »Beethoven« ist. Dieser höhere Rang Schönbergs muß, sub specie saeculi, allerdings festgehalten werden,
im Gegensatz zum interessanteren Stravinskij, zum WechselMosaik seiner Härte, zum Phosphor seiner Zeitkunst in archa-
ischer Maske und Archaismen. Nicht die Virtuosität Stravinskijs also und nicht die Statik des atmosphärelosen Stahltons (wenn auch durch Unzuverlässigkeit gemildert) kommen an das Expe-
riment des Menschen, als des Objekts jeder konkret experimentellen Musik. Der neurasthenische Stahl Stravinskijs konstruiert nur die vollkommene Leere aus, wechselnde Leere gewiß und eine in immer neuen Gebärden erscheinende, Leere, in die erschütternde Musik eintönt, Schreie wie nie erhört, wenn Trompeten das Todesschicksal der Jokaste verkünden, wenn unaufhörlicher Dreischlag der Pauken, wie in Finsternis ohne Ende,
den Weg des blinden, büßenden Ödipus begleitet, - und doch Leere, deren auffangbares Echo letzthin nur dasSchicksal bleibt, die Verzweiflung an ihm oder seine festgebannte Feier, nicht der
Mensch. Stravinskij hat jeden Stoff, noch den Stahl seiner Musik in den Moden und letzten Formen seiner Zeit, im Banntyp dazu, in byzantinischer Religionssehnsucht und voller Ungläubigkeit; es fehlt der wirkliche Prozeß, erst recht der Stoff des kommen-
den Hauses. Aber wie gegenwärtig auch, das ist: wie sehr auf 239
der Höhe der Bourgeoisie, mit welch treuloser Kunst des Echos und der Verschlingungen zieht dieser bedeutende Musiker seinen Weg. Kalt, anmutig kühn, eckig zuletzt wie ein Mäander und ebenso fortlaufend; gestopft voll Larven wie ein Maskenball
und doch ebenso bewegt und unzuverlässig, ebenso improvisierend, unheimlich und mischend. Stravinskij zeigt, was Volkslied, Marche royal, archaische Schicksale im Maschinenzeitalter geschlagen haben, was sie diesem zu sagen haben. Und der Riß, den die Geschichte vom Soldaten in eine wohlige Tonkunst brachte, ist durch die Musik des automatischen Banns, die danach folgte, nicht gerade schließbarer geworden.
ROMANE DER WUNDERLICHKEIT UND MONTIERTES THEATER Ein Kopf, der träumt, hat es hier vorn besonders schwer, zu sein. Schwerer noch, sich stofflich auszugestalten, es faßt sich nichts in
der Leere. Junge Menschen mit der sogenannten höheren Anlage wissen heute oft nicht recht, wohin.
Taugt das Innen etwas,
bringt es ein wirkliches dichterisches Mehr ein, so kann es sich nur schief an den Stoffen äußern, die heute großbürgerlich vorliegen. Nur mittelbar vor allem; die Dichter verhalten sich dann durchschneidend, übertreibend und jedenfalls unterbrechend zu ihnen. Die Form kann besonders einfach sein, um hierhin wenigstens die Wirren nicht einzulassen. Sie kann auch besonders geöffnet sein, um von den Wirren kein Wort zu verlieren. Das
entscheidet jedenfalls nicht mehr, die dargestellte Sache bleibt in beiden Medien krumm. Je schärfer ein Blick, desto sicherer
wird er die Stäbe gebrochen sehen. So vor allem an dem queren Ort, der dem Dichter großbürgerlich übrig bleibt. Es gibt jetzt, als herrschend oder noch während, kein anderes Dasein als das des Bruchs, der Verwerfung. Was 1918 expressionistisch gewesen wäre, besteigt im
Nachkrieg einen Geisterzug, der kühl, träumerisch und grauend in den Trümmern, Überschneidungen und Hohlräumen herumfährt. Hier sind Chiricos Turiner Plätze, in denen nichts als 240
haarscharfe Schatten stehen, und Salons, deren Parkett links in Brandung ausläuft, rechts aber stehen Wand, Kamin, Pendüle im Urwald; hier sind Aragons Paysans de Paris, lassen aus »dem un-
begrabenen Leichnam unserer Eltern« (wie Benjamin sagt) die Bedeutungen einer noch namenlosen Zukunft singen. Populäre Quellen hatte der Surrealismus im stummen Film, der ja selber oft Zeug wie Träume war; esoterisch aber ist das Echo, das seinen Freudianismen aus dem heutigen Hohlraum zurückgeworfen wird, und worin er hauptsächlich seine Objekte findet. Esoterisch sind erst recht Symbole, die nicht mehr in eine Überwelt hinüberziehen, sondern die in die Porositäten der groß-
bürgerlichen Welt archaisch-utopische Ahnungen ineinander einkörpern. Ganz nahe dieser symbolischen Bewährung, auch Diesseitigkeit steht die stille, große Erscheinung Kafkas; hier fand eine versunkene Welt oder bisher jenseitige am Leben in dieser die unheimliche Wiederkehr. Eine versunkene Welt: sie reflektiert alte Verbote, Gesetze und Ordnungsdämonen im
Grundwasser präisraelitischer Sünden und Träume, wie es im Zerfall wieder vordringt. Eine bisher jenseitige Welt: sie kreist in Kafkas Romanen, im »Schloß«, im »Prozeß«, als bestehende
Mythologie unbeherrschter Abhängigkeiten, »ferner fremder Aufträge, in die man nie Einsicht bekam«. Selten wurden Angst und Frommes dichter in der Nähe zusammengezogen, selten war der Hausschutz durchwühlter, vertrackter. Die Surrealisten selbst hatten zunächst als Einheit des Wollens nur die: Verwesungsstoffe, Traumstoffe in die Zwischenräume der Welt zu legen; dieser Surrealismus, ein ästhetisch abgesondertes Dynamit, ist wohl vorüber. Aber auch Dichter, die der Richtung bewußt gar nicht nahestehen oder nur zu einem Teil, zeigen doch, daß
jeder kühne Auslauf rebus sic stantibus »Surrealismus« streift. »Grotesk« wächst Traumbau in den Hohlraum hinein; dumpfer "Traumbau beiseite, erinnernder aus der ausgebreiteten Todesstunde her (wozu, bei Proust, ein Leben wurde), montierender |
aus der Durchdringung gegenwärtiger Trümmer (bei Joyce). Hier ist dauernde Überschneidung des eingestürzten Vorher, Nachher, Unten, Oben, und dahinter eine Finsternis. Die Dichter, die so wunderlich erscheinen, wurden deutsch besonders sichtbar. Es sind zwar französische und ein irischer,
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der in Frankreich lebt, also in der relativ erhaltensten Gesellschaft. Auch hängen sie keineswegs untereinander zusammen,
der zeitgenössische Raum zwischen ihnen ist selber zersprungen: aber sie wirken seismographisch, als Zeugen eines Objekttraums, den man in Deutschland besonders merkt; Green, Proust,
Joyce - lauter Bruchlinien des poetischen Ausgleichs. Green: Ein Ich, das quälend träumt und sich nicht endet, geht die Angst an. Diese Menschen sind dumpf wie Tiere, meist aus der kleinen Stadt, es riecht nach fallendem Laub. Nach Stuben, aus denen die Bewohner nie mehr herauszukommen scheinen, in deren Kreis
sie gebannt sind wie in Gräber, mit Plüsch und Spitzen ausgelegt. Die Handlung geschieht nur an, fast in Individuen, doch diese werden groß wie Fresken, ja, wie Landschaften; denn jedes ihrer steht für eine Leidenschaft. Nichts mehr als diese einsamen Süchte ist in diesem Raum, nichts als das schleichende, bannende
Schicksal dieser Sucht; kein Miteinander, kein Ausweg. Der Bann ist dicht und bürgerlich unbewegt, er trocknet seine Menschen aus und legt sie um, bevor es hell wird. Er erschöpft sie dicht, bis in den Tod, alle Dinge und Begebnisse werden zu Boten dieses Drucks. Proust: Ein Ich, das eigenes und äußeres Leben zerrinnen sieht, faßt Verlorenes überscharf, schreibt den sterbenden Glanz nach oben. Der Überschuß dieses Dichters ist die Finesse und Mikrologie seines Porzellanblicks, was dasselbe ist wie ein
alles versammelndes Gedächtnis. Es dringt zum intensiv Ungeheuren des kleinen Nebenbei ebenso vor wie zur Nachreife einer Zeit, die, während sie gelebt wurde, schon vergangen war; so agiert das Kaleidoskop dieser großen Herren und Damen, dieser
Betrüger, Abenteurer, Helden des deluge, dieser bleichglühenden Spätwelt, an der alles wirklich scheint und alles Zwischenräume hat, worin die Gleichnissenisten. Die Gleichnisse aus eingestürzten Sphären, die Planeten aus Restauranttischen, die Sonne
als Königsmumie am ausgewickelten Tag, die gesellschaftliche Spielregel als Liturgie. Proust zerstückt die eigene Person in unzählige Ichs, die'nichts voneinander wissen und deren Welten sich überschneiden; Proust sammelt nicht nur die Dinge der
verlorenen Zeit, mit Einzelheiten, die ihr empirischer Zusammenhang niemals gezeigt hatte, er dreht ebenso die vergangene Zeit, gerade als solche, über sein vergehendes Ich zu einem 242
Kuppelraum; dieser spannt post festum erst seine Bilder aus. Der Faubourg St. Germain einer untergehenden Welt hat sich darin erinnert und durchdrungen, ist zu den nicht mehr euklidischen Mosaiken Proustscher und eigener Todesstunde niedergeschlagen. Auch Handlungen, die kein anderes Gefühl als Neugier erwecken, auch Miszellen, scheinbar nur aus dem Einsturz her
sichtbar geworden, scheinbar nur im Mosaik der Erinnerung erstarrt, geben Rechenschaft vor einem nicht mehr vorhandenen Richter. foyce zuletzt: Ein Mund ohne Ich ist hier mitten im fließenden Trieb, ja, darunter, trinkt ihn, lallt ihn, packt ihn aus.
Völlig folgt die Sprache diesem Zerfall nach, sie ist nicht fertig und schon gebildet, gar geformt, sondern offen und verwirrt. Was sonst in Zeiten der Ermüdung, in Pausen des Gesprächs ‚ oder bei träumerischen, auch fahrigen Menschen spricht, sich verspricht, wortspielt: hier ist es außer Rand und Band. Die Worte sind arbeitslos geworden, aus ihrem Sinnverhältnis
‚ entlassen, bald geht die Sprache wie ein zerschnittener Wurm, ‚ bald schießt sie zusammen wie bewegtes Trickbild, bald hängt sie wie Schnürboden in die Handlung hinein. So ist im ‚ »Ulysses« bereits »work in progress«, Werkstatt und Dichtung , zugleich, doch eine Werkstatt, die ebenso krankt, verstaubt, zer-
‚ fällt, sich dem Unterholz gleichmacht. Knapp folgt die Sprache
, grammatischen Regeln, kaum je logischen (von heute); ihr Quell
soll sein primäre klang-bildhafte Beziehung, ihr Sinn die Ent. fesselung und Erfassung unterbewußten Lebens; daran wird sie
wieder zum Leben erweckt, den Worten wird ihr prälogischer , Wert zurückerstattet. Unerheblich fürs Symptom und Symbol ‚des Werks, ob Joyce das gelungen ist, ob seine Verwilderung je /in den holden Wahnsinn des Gedichts übergeht; ob er überhaupt ein ernster Autor ist und nicht etwa der Breitstapler einer un-
ausdenklichen
Nicht-Idee,
die Assoziation
eines bürgerlichen
‚Erdgedächtnisses nach Untergang der Erde, nach einer kosmi‚schen Katastrophe; ob Ulysses, wenn er gleich nicht mit durch-
sichtigem Wandel vorleuchtet, so doch wenigstens die Logik „eines
undurchsichtigen,
eingestürzten
bewährt.
Der
Stil des
Ulysses entspricht jedenfalls einer Welt ohne Aufsicht durchaus;
‚er ist Ferment-Aufnahme des Zerfalls, zunächst des Ich (im ‚inneren Selbstgespräch), sodann des bürgerlichen Zusammen-
243
hangs der Gegenstände. Der bloße »Monolog« von früher hatte die Person in ihrem Ichbestand noch kenntlich gelassen, noch intakt, noch voll bewußter Oberflächenzusammenhänge und moralischer Decken; der »innere Dialog« bei Joyce dagegen hat nicht einmal das Ich als Zeugen, fast noch der Körper des Sprechenden fällt fort, der die Sprache einschließt, und ein anonymer Sturzstrom wird frei. So nackt und schamlos, so unverschönt
und ungeschlossen, daß alle bisherigen Naturalismen dagegen Hofzeremonie
werden
und
Döblins
Romane,
die manchmal
schon in den Bahnen solches Ci-devant-Planeten lagen, Schutzparks ermäßigter Wildnis. Blasen aus Dampf aus dem Unbewußten steigen hinzu; sie machen die irren Wortgebilde, füllen die Tiefräume, die herrenlosen Schatzkammern, den Abgrund unterm Gewäsch dieser Dutzendmenschen, fassen sich höchstens
in der Architektur jener Romantik, worin zum ersten Male mehrstöckige Sprechweise in einer einzigen war. Wieder also lebt verdecktes Orchester im Zugleich mit ganz anderer Szene, Raunen von Leitmotiven lebt schief zur Oberfläche des Textes; eingestandenermaßen ist die Wortkinetik des Ulysses eine rein musikalische und zwar keine des südlichen Ton-Frieses, sondern des Wagnerschen Ton-Abgrunds unter dem Text. Wie in man-
chen Programmsymphonien nach Wagner eilen auch hier Motive ihrer späteren Gestalt prophezeiend voraus, andere versuchen umgekehrt aus einem gewesenen Erdinnern vorzustoßen und nachträglich Kunde daraus zu bringen, Kunde aus Gräbern, aus
Gelehrsamkeit wie kreißende Erinnerung, aus Pornographien und Mythologie. Zerstoßenes Glas von Kirchenfenstern liegt um die Banalität jedes Schritts, Cocktails steigen in Mythologie und Ramses aus Huren, die künstlichste Montage verwandelt sich zu einer Völkerwanderung der Objekte selber, mindestens zum Spuk einer musischen Metamorphose. Das alles an betont wenigen und gleichgültigen Menschen, doch an vollrunden, denen nichts ausgelassen wird, die ohne Komma ins Unendliche
reden, ohne Wissen ins Entlegenste ausschweifen. Die Odyssee, welche dem Menschen zuerteilt ist, geschieht hier, wenn nicht in
jedem Augenblick, so doch wild aktualisiert in 24 Stunden: da sind die Freier, nämlich der Frau Bloom, da ist die Nausikaaszene, nämlich die Begegnung des Herrn Bloom mit drei
244
Mädchen am Strande; da ist die Zyklopenszene in der Höhle des
zwölften Kapitels, in der düsteren Kneipe, mit dem Schwätzer Bloom und dem
»einäugigen«
Nationalisten,
der ihn hinaus-
wirft. Diese Welt eben geht gleich wirr nach unten wie sie quer und nach oben sich aufwirft: nach unten geht sie, indem die drei Mädchen
am Strande die Pensionssprache von
1900 sprechen,
den Marmeladestil am Weltmeer, indem Bloom selber, der Annoncen-Odysseus, ein ungeschlachter irischer Maulheld ist; quer und nach oben aber reicht die uferlose Assoziation der plattesten Erlebniswirklichkeit — bis zu Gott Ptah in der Ieetasse, bis zu
den wasserdurchblinkten Palästen Altindiens in der Gesprächspause. Der Querbezug der »Entsprechung«, welcher die Menschen, Berge und Inseln gleichsam zu durchstoßen
versucht,
nachdem sie sich aus ihren Örtern bewegt haben, ja, welcher gar die einzelnen Buchkapitel in »regierende Edelsteine und Planeten« zu machen beflissen ist, in »Konkordanzen« des Tohu-
wabohu post rem: dies Astrologiewesen fixiert die Sprungwelt, Mischwelt
dennoch
nicht. Sondern
Astrologie
zwischen
den
Fetzen der Erlebniswirklichkeit, Scholastik in einem JüngstenBuch-Gericht zeigen den anarchischen Gegenstand nur desto schärfer, die konkrete Endlosigkeit sämtlicher Zwischengegenstände (und ihrer Hochzeit) nur desto heilloser. Proteus, das Durcheinander der gärenden Natur, erscheint als Patron auch
dieses Endes; und ein einziger 'ITag, der Strom eines einzigen Tags, wird dem Naturgott wieder sein Bett, dergestalt, daß noch
die sechstausendjährige Welt der Geschichte, mit Höhlen, irischsyrischen Bordellhuren, Eingeweiden aus Stein, Jesus aus Dreck,
Szeptern, Annoncen und Schlangen, in den Raum dieses einzigen, dazu durchschnittlichen Tags zurückkehrt. Eine taube Nuß und der unerhörteste Ausverkauf zugleich; eine Beliebigkeit aus lauter zerknüllten Zetteln, Affengeschwätz, Aalknäueln, Fragmenten aus Nichts, und der Versuch zugleich, Scholastik im
Chaos zu gründen; ein dies irae beliebig aus der Mitte herausgerissen, ohne Gericht, ohne Gott, ohne Ende, mit Traumabsud gefüllt, mit Absud eines abgesunkenen Bewußtseins, mit gärend
neuer Traum-Essenz zugleich. Das ist die hohlste und die überfüllteste, die haltloseste und die produktivste Groteske, Grotesk| Montage der Spätbourgeoisie; Hoch-, Breit-, Tief-, Querstapelei
245
aus verlorener Heimat; ohne Wege, mit lauter Wegen, ohne Ziele, mit lauter Zielen. Montage vermag jetzt viel, leicht bei-
einander wohnten früher nur die Gedanken, jetzt auch die Sachen, wenigstens im Überschwemmungsgebiet, im phantastischen Urwald der Leere. Ein träumender Kopf bleibt das auch dort, wo er gänzlich kalt verschwinden will. Wo er nicht Lust hat, zu betrachten, wie o viele der Art vorher, nicht schöne Worte setzt, gar besonders
»eigene«. Sondern tätig eingreift, mit geschultem Satz reizt, in Szenen wirkliche Handlungen vorprobt; wie Brecht. Dichtung mit Beinamen bleibt deshalb doch, überhängende, nicht völlig gedeckte, nicht völlig sachliche; denn auch der Grenzraum zwischen großbürgerlicher und kommender Welt, worin solche Dichter handeln, ist noch hohl, brauend hohl. Die dichterische
Handschrift wird sogar desto eigenwilliger, je mehr sie sich in sachlichen Zügen, auch kollektiven Zügen verlieren zu können
glaubt. Auch ein Beispiel solcher Dichtung wider Willen ist Brecht: sofern er keine Person sein will, sondern eine Einrichtung, ein kräftig wirkender, sachlich lehrender Einrichter von
lauter objektivem Draußen. Aber der träumende Überschuß quillthier gerade aus allen » Worten«: daher die abseitig einfache Sprache, diese vertrackte Schlichtheit, diese Tropensonne
auf
proletarischen Fragen, dieses Kirchenlied gleichgültiger Ungläubigkeit. Und positiv: während der Abenteuerromantik, als dem
»Primären« Brechts, proletarischer Sinn oft nur angebogen scheint, ist das Handlungs- und Traum-Plus genuin hier in der List, womit Sachlichkeit und Montage zu Herstellungsmitteln eines ganz anderen als des großbürgerlichen, noch so zersprungenen Gegenstands gebraucht werden. Damit rücken Abenteuerund Fernromantik in ein gekühltes und experimentelles Objekt; aus dem fernen Schauplatz wird ein zukünftiger, aus der Anarchie (dem besten Teil jeder Exotik) wird eine Art Laboratorium, ein offener Versuchsraum. Der Gegenstand aber, den
Brecht mittels Sachlichkeit und Montage im Laboratorium der Bühne vorerprobt, ist die revolutionäre Geburt der künftigen
Gesellschaft und Welt in der jetzigen. An diesem Gegenstand gleicht sich die wild-kalte, mythisch-schnöde Begabungsrichtung 246
Brechts aus; vieles vertrocknet daran, vieles wird neu erfahrend,
auch logisierend, weise erfahrend, mit dem Willen zu immer genauerer Zuständigkeit. Die »Sachlichkeit« liefert ihm die relativistischen Modelle; doch sie werden hier aus fassadenhaften Mitteln, sich etwas zurechtzulegen, Rezepte, sich etwas vorzuführen. Die Montage macht gleichfalls kein musisches Kaleidoskop, sondern verarbeitet Teilstücke der alten Gesellschaft, auch
freigewordene Möglichkeiten in ihr (»Mann ist Mann«); sie funktioniert sie zunächst in kommunistische Lehrmaschinen, Versuchsmaschinen um. Das Theater verwandelt sich derart zu einem Politikum, genauer: Brechts Regie erstrebt Leninismus an Situationen und an den Problemen, welche sie aufwerfen. Leninismus in dem Sinn, daß das Theater ein Studio wird für
jeweilige »Theorie« an jeweiliger »Praxis«; sein Handlungsspiel wird derart zu einer Vorprobe politischer Haltungen und Theorien an gesetzten und wechselnden Situationen im locus minoris resistentiae der Bühne. So wurde dem Brechtschen »Ja-
sager« ein möglicher »Neinsager« von ihm hinzugefügt, so fanden die vier festen Entscheidungen seines Versuchsstücks »Maßnahme«
ebenfalls, bald darauf, ihre umgearbeitete, elastische,
unabgeschlossene Korrektur; so konfrontiert Brecht in der »Heiligen Johanna der Schlachthöfe« gutmeinende Idee mit der sehr andersartigen Wirklichkeit, wozu sie verholfen hat. Die heilige Johanna - ein Stück Schiller, ein Stück Indras Tochter in Chikago und vor allem eine Naturchristin: doch was sie aus reinstem Mitleid und Helferwillen predigt, sperrt die Arbeiter aus und macht den Fleischkönig noch reicher. Per saldo kanonisieren
die Kapitalisten Johanna so: »Wir wollen sie groß herausbringen, denn sie hat durch ihr menschenfreundliches Wirken auf
' den Schlachthöfen, ihre Fürsprache für die Armen, auch durch
ihre Reden gegen uns über schwierige Wochen hinweggeholfen.«
|; Item: Herz ohne Wissen taugt nichts, Theorie an sich ist weder
| gut noch schlecht, nicht einmal die Wahrheit ist wahr, sondern die jeweilige sozialistische Praxis (aus der sie kommen, zu der
sie führen muß) entscheidet darüber. Der Zuschauer berauscht , sich an diesen » Versuchen« nicht, sondern soll Stellung nehmen,
‚er findet kein kulinarisches Vergnügen, sondern eine Anatomie,
‚keinen Theaterabend, der in ununterbrochener Handlung schön
|
247
zur Neige geht, sondern oft unterbrochene, nicht-idealistische, wirkliche Handlung, konkrete Situationslogik, Praxistheater in bar. Ein Leninist auf der Schaubühne macht derart den Versuch
des objektiv berichtenden und sich berichtigenden, des »epischen« Dramas; zum Unterschied vom dynamischen, als dem Selbstrausch eines »Idealismus«, der sich an nichts Äußerem
bricht, der unaufhaltsam geschlossen steigt und seinen eigenen Genuß
erstürmt.
Gemeint
ist der Gegensatz
zwischen
der
Dynamik der bürgerlichen Revolution und dem konkreten Experiment der proletarischen, das immer wieder seine Steine des Anstoßes hat, und diese außerhalb der idealistisch geschlossenen Handlung, außerhalb des idealistisch zwar »einbe-
zogenen«, realistisch aber unüberwundenen »Schicksals«. Dies epische Programm ist ebenso eine nützliche Annäherung des kommunistischen Anti-Liberalismus an vorliberale Formen, an Balladenzeiten, deren »Bräuche« erst die Haltung setzen und
dann den gegebenen Fall, ja, an Statikländer, deren »Klassiker« die Theorie zur Erfahrung geben und ihren Konfuzius als weisesten Praktiker zu haben scheinen. Sucht freilich Brecht »Medi-
zin und Unterweisung«
noch so weit hinter den Bergen: sie
sind stets fürs nächste schlechte Tal gemeint. Selbst das amerika-
nische, allzu stark mit Illusion und Desillusion betriebene ÜtopieStück »Mahagonny«, selbst dies anarchische Ensemble (»hier gibt es frischen Fleischsalat und keine Direktion«) hat seinen »Zug der Männer« in nächster Nähe, hat seine »Hier-darfst-duSchenke«, den Cantus firmus, an den man sich halten kann, hat das urmenschliche, erzmoderne Lied Jonnys vom Etwas, das
fehlt. Fremde Abenteuer, uralte Symbole sind dem Brechtland so wenig fremd, daß sogar Dämonen nicht fehlen: nur sitzen sie in modernen Direktorialbüros, und die Glöckchen der Zauberflöte, die entzaubernden, günstig bezaubernden, sind hinein-
montiert in Lindberghs Maschine. Dieses macht sein Theater allerletzt noch zu einem umfunktionierenden, zu einem experimentierend montierten; Echo und Überschneidung von Symbolen verbinden Brecht ebenso mit Cocteau, Kafka, selbst Joyce,
wie ihn gezielte Praxis vom Kaleidoskop trennt und Experiment vom dichterischen Reflex.
248
|
So kommen wichtige Dichter in den Stoffen nicht mehr unmittelbar unter, sonders nur sie zerbrechend. Die herrschende Welt verbreitet ihnen keinen darstellbaren Schein mehr, der auszufabeln wäre, sondern nur Leere, mischbaren Bruch darin. Der
großen Wunderlichkeit wie erst recht der bewußten Mischung der Teile (zu bereits anderem Zweck) fehlt der idealistische Lebensschein der mittelbürgerlichen Dichter; es fehlt ebenso das
Zungenreden der Barbarei, die auf der fascistischen Woge reitet. Der Hohlraum ist der Avantgarde perfekt; zum Unterschied von früheren Zeiten, als die bürgerliche Welt noch revolutionär
war oder aber die Merkwelt eines ebenso gestaltbaren wie gestaltenhaften » Ausgleichs« ausgebildet hatte. Der Weg dahin war noch jener vom Sturm und Drang zu Wilhelm Meister, als dem bürgerlichen Erziehungsroman an der »Welt«; der geglaubte Ausgleich kulminierte, wenn auch nicht mehr unmittelbar, als Hegels »Versöhnung des Subjekts mit der Notwendigkeit«. Im Sinn eines geglaubten »Logos« der bestehenden Gesellschaft, ja, in Nachfolge noch gefüllterer Zeiten, jener _ mittelalterlichen nämlich, als die innerste Sonne gerade im äußersten Zenith zu stehen schien und, wie in der Welt Giottos,
die heiligsten Gegenstände sich ganz seßhaft ins Dasein nieder- schlugen. Auf Goethe aber folgte, statt des weiteren Erziehungsromans, der französische der Desillusion; und heute gar, in der
perfekten Nicht-Welt, Gegen-Welt oder auch Trümmer-Welt des großbürgerlichen Hohlraums, ist » Versöhnung« konkreten Dichtern weder eine Gefahr noch möglich. Kein anderes Verhalten hier als ein dialektisches: entweder als Material für dialek_ tische Montage oder als ihr Experiment. Selbst dieWelt des Odysseus wurde beim musischen Joyce zur Wandelgalerie des alles zersprengenden, allzersprungenen Heute im kleinsten Kreis und
Querlauf, weil den Menschen etwas fehlt, nämlich die Hauptsache: ihr Gesicht und die Welt, die es enthält. Daher wird vor allem Brechts verantwortliches Drama zu einem der Unterbre-
chung und praktischen Montage: mit »Helden« im Parkett, »Katastrophen« in der Praxis, möglicher » Versöhnung« erst in einer anderen Gesellschaft. Das Drama wird wieder heilend, ja, philosophisch; dergestalt, daß es eine neue Art »Katharsis« bietet: nicht mit Gefühlen, sondern an Plänen, nicht mit großen
249
Herren, sondern an Exponenten, nicht mit gewesenen Handlungen, sondern an vorbereiteten.
EIN LENINIST DER SCHAUBÜHNE
(1938)
Was immer wir machen, es könnte anders sein. Ein Bild ist nie fertig gemalt, ein Buch nie zu Ende geschrieben. An dem soeben ausgedruckten ließe sich noch der Schluß ändern. Und wäre es soweit, dann finge die Mühe von vorne an.
Schwer zu unterscheiden, was daran eitel oder aber gewissenhaft ist. Sehr oft dieses Verhalten nur nervös und geht nieman-
den etwas an als den Autor. Bei Brecht jedoch — und er ist ein Matador
des Veränderns,
des Umschreibens
eines soi-disant-
Abgeschlossenen - liegt der Fall anders. Gebilde wie die »Dreigroschenoper«, »Mahagonny«, gar »Mann ist Mann« sind wirklich zu früh geschrieben, das heißt dem Stoff und seinen Problemen noch nicht recht angemessen. Schreitet also Brecht, als gewissenhafter und zusammenhaltender Autor, die Front seiner Hervorbringungen ab, so fallen gewisse burleske, bald
anarchistische, bald wieder allzu kollektivistische Züge (besonders in »Mann ist Mann«) aus der Reihe. Doch wichtiger ist eine andere Unfertigkeit, eine höchst positiv zu wertende, und
diese geht nicht nur den Autor an. Brecht will durch seine Produkte den Zuschauer selbst verändern, so wirkt auch der ver-
änderte Zuschauer (und Brecht gehört nun selbst dazu) auf die Produkte zurück. Selten gab es weniger abgehobene Werke als die Brechts; sie sind überhaupt keine im verdinglichten Sinn dieses Worts, sondern — nach einem früheren Ausdruck des Au-
tors — »Versuche«. An Brechts Gesammelten Werken (Band I und II, erschienen im Malik-Verlag, London) ist folglich sowohl das Gesammelte wie das Werkhafte besonders zu verstehen. Das Gesammelte stellt keine Ernte dar, die zufrieden in die Scheune eingefahren wird. Säen, Schneiden, Binden, Dreschen, diese fortdauernden Arbeiten sind vielmehr noch alle erkennbar. Das Stück »Mann ist Mann« beispielsweise konnte so wie es »im Buche steht« als kollektivistische Propaganda mißver250
standen werden. Jetzt lehrt Brecht in einer Anhangnotiz, die
anti-individualistische Parabel des Stücks könne »ohne große Mühe... statt in Indien in Deutschland spielen«. Hier sind nicht nur Bruchstellen, an denen nachträglich weiter gearbeitet oder auch nur umgedeutet wird, hier hat die Zeit etwas gelehrt, und sie lehrt wieder in das Stück zurück. Also macht außer dem Gesammelten auch das Werkhafte keinen Schlußstrich unter absolvierte Bemühungen; diese Gebilde formen vielmehr das richtige Verhalten im sozialen Befreiungskampf, und sie formen es immer neu. Sie sind Haltungs-Experimente auf dem Laboratorium der Bühne, keine Stilleben dopo lavoro. Der Wille zu verändern ist hier das Erste, er macht sich immer wieder heraus. In ihm sind freilich verschiedene Züge, sie schlieBen sich nicht so schlicht, wie die Absicht ist, zusammen. Einseitigkeit macht scharf zum Zweck; diese Einseitigkeit aber ist wie alles Licht, aus mehreren Farben zusammengesetzt. Aus der Farbe eines durchaus originalen Menschen; eines Dichters, dem noch der schnödeste oder abgegriffenste Ausdruck wohl gerät. Eines Jungen, der mit seinem Kipling durch Indien zieht, doch auch die Bakerstreet nicht verschmäht, mit Sherlock Holmes am Kamin und Dr. Watson, in afghanische Erinnerungen vertieft. Eines Alten, der seine Klassiker liebt und aus ihnen zu lehren
vielstimmig wie ein Schauspieler, intolerant wie ein Priester. Am eindringlichsten wirken zwei verschiedene 'Ionarten aus der Zeit, eine an sich fragwürdige (nur Brecht konnte sie sich leisten) und jene großartige, politisch-revolutionäre, die Brechts
ganzes Schrifttum bestimmt. Der fragwürdige Tribut ist durch eine gewisse Annäherung an die kahle, trockene Mode von gestern bezeichnet. Mit der bürgerlichen »neuen Sachlichkeit« hat
Brecht nichts gemein, mit jener Verengerung und Verknappung, die die Wahrheit als Dürre und die Realität als Phantasielosigkeit verstanden hat; wohl aber mit der nicht-bürgerlich gemein-
ten, die als »Liquidierung« aufgetreten ist. Jedoch Brecht wußte auch dieses ephemere Wesen zu beleben, mindestens schöpferisch zu gebrauchen; Brecht hat, wie er von sich selber sagt, »die Kühle der großen Wälder«, in denen seine Mutter ihn getragen
hat. Es ist das ersichtlich eine andere Kühle als die der »Liquidierung«; Brecht will »kärgliche Sprache, reinlich die Worte 251
setzend«, aber er will eben damit eine exakte Phantasie, die die
Dinge beim Namen nennt und sich nicht schmälern läßt. Brechts Einfachheit hat dadurch gerade mit der abstrakten »Liquidierung« nichts gemein; vielmehr es melden sich politische Säure
und Fülle. Deren Ausdrucksweise sieht nun genau so variabel drein wie die Natur ihrer Gegenstände, sie klingt schnöde (»da können Sie etwas lernen, Brown«), dann vertrackt (»Das Leben ist am größten, es steht nichts mehr bereit«), dann formulatorisch (»Über das Fleisch, das in der Küche fehlt, wird nicht in der Küche entschieden«). Und wo die Natur des Gegenstands selbst keine Einfachheit zeigt, bildet sich erhaben reicher Ausdruck. Etwa in dem Zwiegesang von den Kranichen (aus »Mahagonny«), einer Dichtung von außerordentlicher Kostbarkeit und des späten Goethe nicht unwürdig (»So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben/Fliegen sie hin, einander ganz verfallen«). Es ist der Alte in Brecht, der seine Einfachheit gebraucht oder bricht; der Alte mit Lutherdeutsch und Realismus aus Shakespeare; der Revenant aus den Bauernkriegen, dann wieder der Besonnene aus Altchina, der in der Revolution das Maß verehrt und von ihr spricht als einer Legende. Dieser
seltsam antiquarische Klang geht durch Brechts gesamtes Werk, mischt sich wunderlich mit Tropensonne und Keßheit, bedeu-
tend mit Handlungs-Regie und Marxismus.
Sehr oft besteht
Brecht aus der schwäbischen Spätgotik, der sein Habitus angehört, eine Form, die im krassen Gegensatz zum Inhalt zu stehen scheint; so im Gedichttitel »Hauspostille«, im »Choral« am
Schluß der »Dreigroschenoper« und in anderen Kirchenliedern der Ungläubigkeit. Aber auch ein noch so aufgeklärter Inhalt wirkt bei Brecht selten geheuer, es geht etwas um, und man sieht, wieviel im Atheismus steckt, wenn er nicht mehr bürgerlich begriffen wird, als bloße behaglich gewordene Verneinung. Derart mengen sich die Farben, mehr als ein einziger Prozeß macht sich zugleich auf den Weg, fast könnte man sagen: in Brechts Schrifttum ist ein Stück sehr alter deutscher Bolschewismus. Den neuen, verschiedenen, fälligen zu betreiben, daran wird
hier von Fall zu Fall geprobt. Im Ernstfall wird ein Bühnenfall unterlegt; an ihm soll das richtige Handeln untersucht und 252
modellhaft probiert werden. Das nun ist Brechts echter Tribut an die Zeit, nämlich an diejenige, die mit der neuen Gesellschaft
schwanger geht. Und der Tribut kommt nicht nur aus der revolutionären Solidarität des Autors, sondern auch aus seiner spezifischen Begabung: aus der des konkreten Regisseurs. Sie ver-
bindet sich gründlich mit dem Lehrtrieb in diesem Dichter, mit dem Willen, die Bühne aus einer »Vergnügungsstätte« in ein »Publikationsorgan« zu verwandeln. Darum wendet sich Brecht
gegen die »aristotelische Einfühlungsdramatik«, welche den Zuschauer seine Gefühle
mit Genuß
abreagieren läßt, statt ihn
eingreifend zu beeinflussen. Dieser Eingriff in das gesellschaftliche Verhalten des Zuschauers geht nach Brecht einzig von der »Parabeldramatik« aus und ihrem epischen, auf Gesten gestell-
ten, objektiv beobachtbaren
Stil. Eines seiner Mittel, ja das
Hauptsächlichste ist die Montage, das heißt bei Brecht: das Herausnehmen eines Menschen aus seiner bisherigen Situation und
die Umfunktionierung in eine neue oder die Ausprobierung einer aus anderen Verhältnissen stammenden Verhaltensregel in
_ einem veränderten Verhältnis. Das Experiment mittels Montage ist nicht abstrakt, kein »zersetzender«
Eingriff in eine angeb-
lich geschlossen zusammenhängende Wirklichkeit; vielmehr die Wirklichkeit ist selber voller Unterbrechung. Sie ist in ihrem durchgehends dialektischen Zusammenhang und eben wegen seiner intermittierend, das heißt voller Sprünge und voll noch nicht entschiedener, als fertig gesetzter Wendungen. Und von hier aus erweist sich gerade der versuchte Leninismus Brechts,
das elastische Haltungs- und Handlungs-Experiment an Situationen, wie sie auf der Schaubühne
manöverhaft
hergestellt
werden. »Lehrstücke« dieser Art sind vor allem der » Jasager«, die »Maßnahme«, die »Heilige Johanna« und die dramatische Umarbeitung von Gorkis »Mutter«; ihnen allen ist (dialektische) Umfunktionierung eines Elements gemeinsam. Im »Jasager« ist das Element alter Brauch, in der »Maßnahme«
eine
vierfache Moralität, in der »Heiligen Johanna« die Predigt der abstrakten Menschlichkeit, in der »Mutter« ist es die Mütterlichkeit. Von ihr wird gezeigt, daß sie in der Familie reaktionär
wirkt, in der Partei jedoch, wenn sie nach dorthin Platz gewechselt hat, progressiv, propagandistisch, konspirativ. Zweifellos 253
ist dieser Lehrstückstil (durch Verschiebung der Situationen, durch Stauung der dramatischen Welle, durch Herstellung dessen, was man im vorigen Jahrhundert mit dem Ausruf: »Tableau!« bezeichnet hat) eine der fruchtbarsten Erneuerun-
gen. Lebendigkeit ist hier unumgänglich, Lebendigkeit nicht nur der Situationen, sondern vor allem eben des Elements, das durchgeprobt, der Maxime, die konkret abgewandelt werden
soll. Wo allerdings die Maxime identisch bleibt und - infolge ihrer allzu einleuchtenden Simplizität -— am Anfang schon so dasteht wie am Schluß, dort wird kein dialektisches Lehrstück vorgeführt, sondern ein Beispiel auf ein Exempel; so in einem der letzten Brechtdramen: »Die Gewehre der Frau Carrar«. Auch das ist nützlich, nur hier wird nicht untersucht, erprobt, variiert, sondern eine von vornherein haltlose Maxime ad ab-
surdum geführt. In allen anderen Lehrstücken jedoch hat das Thema während seiner Durchführung etwas erlebt, und das macht das Charakteristische der Brechtdramen aus; es sind T’heorie-Praxis-Manöver auf der Bühne. Wird das klassenlose Ziel einmal erreicht sein, so wird man aus Stücken dieser Art nicht mehr so viel zu lernen haben. Es bleiben aber die Kostbarkeiten, auch Seltsamkeiten, die uns fort und fort betreffen, als die beste Dichtung. Zu ihnen gehört der
erwähnte Gesang von den Kranichen, vor allem auch merkwürdig tiefe Resultate, beunruhigend scharfe Bilder, wie sie fast überall in Brechts Schrifttum sich ansetzen. »Unter unseren Städten sind Gossen. In ihnen ist nichts und über ihnen ist
Rauch« - läßt sich die kapitalistische Leere malender sagen? » Aber dieses ganze Mahagonny / Ist nur, weil alles so schlecht ist / Weil keine Ruhe herrscht / Und keine Eintracht / Und weil es nichts gibt / Woran man sich halten kann« - läßt sich für Utopie eine demagogischere,
eine menschlichere
Reklame
fin-
den? Man lese auch in »Mahagonny« den Auftritt VIII (»Alle wahrhaft Suchenden werden enttäuscht«), und man wird eine der dauerhaftesten menschlichen Bekundungen treffen, die es gibt. Paul Ackermann wiederholt dort auf allen möglichen Glücksstationen seinen unstatischen Refrain: » Aber etwas fehlt«.
Das ist ein zentraler Satz, nichts bereits jetzt Vorhandenes macht ihn bereits überflüssig, sinnlos. Paul aber hat sich ausgesprochen,
254
kommtleider wieder mit nach Mahagonny. Und was das Lied der
Seeräuberjenny in der »Dreigroschenoper« angeht, so muß man bis zu Gnostikern und Kirchenvätern zurück, um einer solchen Phantasmagorie von Inkognito, Rache und Auferstehung zu be-
gegnen. Der Weltenrichter, den das arme Luder in der Spelunke umkreist, ist ein Pirat - »Und das Schiff mit acht Segeln / Und mit fünfzig Kanonen / Wird entschwinden mit mir.« Item,
das Werk Brechts hat es in sich, es taugt und wirkt großen Teils zum langsam verändernden, fortbetreffenden. Von diesem Werk gilt, was ein Plakat von Mahagonny verspricht: »Dort wurde
gestern erst nach euch gefragt«. Und die Finsternisse antworten, mit Ärger die Kapitalfreundlichen, die nicht gefragt wurden, mit Torheit die Schematischen links, die es nicht verstehen.
Epitaph, 14. VIII. 1956: Der Schlag, den uns Brechts Tod zufügt, ist durch Brecht selber gedämpft. Dem Leben wie dem Tod ist der Dichter mit
nüchtern-tiefer, klangvoll-genauer Weisheit gerecht geworden. Ein anderer Westöstlicher Diwan, völlig neu und ebenso uralt,
Achtzehnter Brumaire und Laotse in Begegnung, das eine durch das andere lesend und bewährend. Die Wolke, »sehr weiß und ungeheuer oben«, von der Brechts »Erinnerung an Marie A.« spricht, wird nie vergehen. Sie ist er selber geworden, hoch und nah, lauter Licht und ganz menschlich.
DER EXPRESSIONISMUS, JETZT ERBLICKT (1937) Er drückt vermutlich noch immer etwas aus. Die entarteten Bilder wurden von viermal so viel Menschen besucht wie die artgerechten. Der Eintritt in die Schreckenskammer ist freilich gratis, auch das muß bedacht werden, damit man das Ergebnis nicht überschätze. Trotzdem ist wahrscheinlich: Marc zieht mehr an als Ziegler, die neueste Verkehrung von Gut und Schlecht gelang nicht. Der Deutsche lernt hier, sich seiner Herren zu schämen, nicht nur an ihnen zu leiden. 255
Aber auch darüber hinaus wird ein Unrecht gutgemacht. Wie viele wußten noch Genaueres von der seltsamen expressio-
nistischen Zeit und ihren Werken? Seit 1922 war der Expressionismus verleumdet; Noskes Feldzüge, der Wunsch nach Ruhe
und Ordnung, die Lust an den gegebenen Verdienstmöglichkeiten und an der stabilen Fassade haben ihn erledigt. Diese Lust hieß »Neue Sachlichkeit«; sie führte zwar von allzu verstiegenen Träumen zuweilen wieder zur Welt zurück, aber sie verschwieg den Wurm in dieser Welt, sie wurde buchstäblich die Malerei übertünchter Gräber. Hausenstein und andere Kunstschwätzer beeilten sich, im Gefolge der »Stabilisierung«, dem
Publikum verdächtig zu machen, was sie eben noch angebetet hatten; die meisten deutschen Maler folgten der veränderten
Konjunktur. Fast einzig Klee, der wundersame Träumer, blieb sich und seinen unwiderlegten Gesichten treu, er nagelte die expressionistische Fahne an den Mast, und an ihm liegt es nicht, daß sie nicht mehr als Fahne galt, sondern als bloßes Taschentuch mit einem Monogramm. Auch bedenkliche Reste der Expression blieben übrig, wie Benn, dessen großer Ausdruckswille
zu lange auf den Urschleim ohne
von heutzutage gekommen
»Fazit der Perspektiven«,
ist,
es sei denn der nihilistischen.
So ging der Expressionismus in Deutschland zugrunde, im gleichen Land, das ihn vorher als deutschesten Ausdruck, als Musik in der Malerei besaß. Der Surrealismus (wohin in Frankreich und der Tschechoslowakei manches expressionistische Wesen
geflüchtet ist) fand in Deutschland wenig Widerhall. Die zerris-
sene Umwelt und das Phosphoreszieren an den Rändern - all diese unheimliche Wirklichkeit fand offiziell keinen Ausdruck. Oder der Ausdruck wurde, wo er halbwegs erschien, etwa in der »Dreigroschenoper«, behaglich mißverstanden, in anderen Fällen verlacht. Auch Marxisten (damit das nicht verschwiegen werde) wie Lukäcs haben dem Expressionismus in Bausch und
Bogen ein wenig kenntnisreiches Etikett aufgeklebt. Sie denunzieren ihn als »Ausdruck kleinbürgerlicher Opposition«, ja sogar, völlig schematisch, als »imperialistischen Überbau«. Aber Marc, Klee, Chagall, Kandinsky kommen in dem Klischee »Kleinbürgertum« kaum unter, und am wenigsten, wo dieses Klischee Spießertum, bestenfalls raunzendes, bezeichnen soll. 256
' Und selbst wenn hier nichts als kleinbürgerliche Opposition wäre
(man wünscht sich, den Kleinbürger kennen zu lernen,
dem Marcs »Turm der blauen Pferde« sein Ausdruck ist): was steht dem Kleinbürger Besseres zur Verfügung als bestenfalls — Opposition (und gar solche)? Daß aber der Nazi sich nachher,
gelegentlich, in der Anfangszeit, expressionistische Literaturreste beibog (Benn) oder Thingspiel-Industrie daraus machte (Euringer), daran ist nicht Marcs »Imperialismus« schuld, sondern des Goebbels Sinn für wirkungsvolle Falsifikate (fast
gleich, woran sie geschehen). Und eben Hitlers letzte Attacke
beweist, daß selbst die sogenannte »kleinbürgerliche Opposition« nicht immer so verächtlich sein mag. Sie beweist erst recht, daß die expressionistische Kunst — zuerst von Hausenstein, nun viel großartiger von Hitler erledigt — keine Rechtfertigung des Feinds enthalten hat, keine Ideologie seines Imperialismus und seiner Ordnung. Die »Übereinstimmung« einiger Moskauer Intellektueller schematischen Schlags mit Hitler ist folglich nicht angenehm. Am wenigsten, wenn selbst in dieser Zeit noch rote.
Fanfaren gegen den Expressionismus geblasen werden. Vom Klassizismus her; diesen aber besitzt Hitler auch, er ist das Ideal
der Stümper und Oberlehrer geworden. Auch sind römische Adler, Triumphsäulen und die andere »edle Einfalt, stille Größe« von heutzutage gewiß genauso imperialistisch wie — Bechers Lyrik um
1918 oder gar die Zeichnung Klees: Angelus Novus.
Also ist wichtiger als je, über die so blutig gehaßten Bilder sich klar zu werden. Was wurde 1912-22 gewollt, warum geht uns das wieder etwas an, warum
erscheint die Kunst dieser Jahre
Hitler so »ungesund«? Der Schluß ist zwar nicht überall gültig, daß das, wogegen Hitler kämpft, das Rechte sei. Denn Vieles, wenn nicht das Meiste an Nazi-Urteilen ist so falsch, daß nicht einmal das Gegenteil wahr ist. Aber im Fall »entartete Kunst« darf man vom Feind die Marschroute sich diktieren lassen, min-
destens bewirkt sein Angriff, daß das angegriffene Objekt in unsere Nähe rückt und treue Betrachtung verlangen kann. Sowohl seine schlechten, leeren, abgestandenen Züge wie die Be-
deutungen der wirklichen Expression sind heute überblickbar geworden und frappant. Auf letztere, als auf das ehemalige Original, gegen das ja auch Hitler grundsätzlich angeht, kommt es 257
ae
Sir
vorallem an. Und dabei ist am sichtbarsten, nicht nur an der Oberfläche, sondern wesentlich: es enthielt statt des daran herankon-
struierten »Imperialismus« durchaus Antikapitalismus, subjektiv unzweideutigen, objektiv noch unklaren. Es enthielt objektiv archaische Schatten, revolutionäre Lichter durcheinander, Schat-
tenseiten aus einem subjektivistisch-unbewältigten Orkus, Lichtseiten aus Zukunft, Reichtum und Unabgelenktheit des menschlichen Ausdrucks. Eine Kunst, die weder mit den überlieferten
Formen noch vor allem mit dem ringsum Gegebenen einverstanden war, überzog damals die Welt mit Krieg. Dieser Krieg hatte freilich keine anderen Waffen als Pinsel und Tube, als direkten Schrei, und sein Schlachtfeld war die Leinwand oder
das musisch bedruckte Papier. Und die kriegführende Macht bestand aus dem puren Subjekt, aus der emotionalen Not und Wildnis des Subjekts, das sich mit seiner Laterna magica in eine scheinbar gegenstandslose Welt projizierte. Die Bilder selbst waren eben mit einer Mischung, die nur in Deutschland möglich ist, im Deutschland Ossians, der Romantik und zuletzt noch des
sumpfblumigen, Freiheit träumenden Jugendstils, aus Archaischem und Utopischem zugleich hergeholt, aufgeholt, ohne daß genau zu sagen gewesen wäre, wo der Urtraum aufhörte, das Zukunftslicht begann. Und die scheinbar gegenstandslos gemachte Welt, auf die die Selbstentladung sich auftrug, gab den »Kompositionen« oder »Konstruktionen« keinen Anschluß an die wirkliche Welt; auch von hier aus war der Expressionismus zum Teil »abstrakte Kunst«, und zwar im schlechten Sinn dieses Worts. Dem Negativen dieser Abstraktion hat Gottfried Keller
im »Grünen Heinrich« schon längst eine Kritik angedeihen lassen, die alle berechtigte vorwegnimmt, obwohl das Objekt der Kritik noch drei Menschenalter weit unter dem Horizont lag. Auch der Grüne Heinrich hatte sich, »um eine Zuflucht zu su-
chen«, mit »tiefer Zerstreuung« ins gegenstandslose Wesen begeben, hatte sich Tage und Wochen hindurch in die Malerei einer Art Spinnennetz versenkt, das durchaus »gewisse Verknotungen in den Irrgängen seiner Seele« aufzeigte und wohl auch gewisse Inhalte des Unbewußten, tief Versteckten fing, bis sein Freund, ein ebenfalls gescheiterter Maler, das Produkt aufs beste ironisierte, mit Worten, die fast an den Panegyrikus 258
J
_ erinnern, womit auch der schlechte Expressionismus einst erho-
ben, in den gegenstandslosen Unsinn-Himmel erhoben worden war. Um vom schlechten Expressionismus sich abzusetzen, den bedeutenden aber desto nachdrücklicher vor der Verwerfung in Bausch und Bogen, vorm Jubel in Bausch und Bogen zu schützen,
ist nichts ratsamer, als die prophetischen Worte aus dem »Grünen Heinrich«, III. Kapitel »Der Grillenfang«, unterscheidend zu wiederholen: »Du hast, grüner Heinrich, mit diesem bedeutenden Werke
eine neue Phase angetreten und begonnen, ein Problem zu lösen, welches von größtem Einflusse auf die deutsche Kunstentwicklung sein kann. Es war in der Tat längst nicht mehr auszuhalten, immer von der freien und für sich bestehenden Welt des Schönen, welche durch keine Realität, durch keine Tendenz
getrübt werden dürfe, sprechen und räsonieren zu hören, während man mit der gröbsten Inkonsequenz doch immer Menschen, Tiere, Himmel, Sterne, Wald, Feld und Flur und lauter
solche trivial wirkliche Dinge zum Ausdruck brachte... Wohlan! Du hast dich kurz entschlossen und alles Gegenständliche, schnöd Inhaltliche hinausgeworfen!
Diese fleißigen Schraffie-
rungen sind Schraffierungen an sich, in der vollkommenen Freiheit des Schönen schwebend: dies ist der Fleiß, die Zweckmäßigkeit, die Klarheit an sich in der reizendsten Abstraktion! Und
diese Verknotungen, sind sie nicht der triumphierende Beweis, wie Logik und Kunstgerechtigkeit erst im Wesenlosen ihre schönsten Siege feiern, im Nichts sich Leidenschaften und Ver-
finsterungen gebären und sie glänzend überwinden?« Soweit Keller, und wer zweifelt, daß Salz auch dumm sein konnte? In der Tat, hier blickt die Karikatur des Expressionismus drein, das Wesenlose, worin Hochstapler sich angesiedelt haben,
die sechs Hutschachteln, übereinandergestellt, gemalt haben und, der äußeren »Gegenstandslosigkeit« zuliebe, als »Geburt Christi« ausgeben konnten. Weniger naiv als der grüne Heinrich grassierten damals also auch hohle Subjektivitäten, Privatsphinxe ohne Rätsel, die aus der Leere ihrer spätbürgerlichen Welt Allotria machten, aus der Abstraktheit sinnlose Hieroglyphen.
Fast unheimlich trifft hier der Hohn eines genauen großen erzgegenständlichen Dichters; und genau diese Kehrseite der 259
Abstraktheit ist es (sei sie eine kubistische oder symbolistische), welche etwa als »Formalismus« abgelehnt werden könnte. Ganz
anders aber stehen die Großtaten des Expressionismus da, ganz anders wirken ihre Zeichen - als wirkliche Zeichen und als Zeichen eines (menschlich) »Wirklichen« — auf uns ein. Da ist kein Zerfall um seiner selbst willen, sondern Sturm durch diese Welt, um Platz für die Bilder einer echteren zu machen. Da ist der
Wille zur Veränderung nicht nur auf Leinwand und Papier abgegrenzt, will sagen, auf Musisches, das sich genug daran tut, musisch zu chockieren. Da herrscht erst recht keine Prävalenz des Archaischen, Brütenden, kein gewollt Lichtloses und gefälscht Diluviales wie oft bei Benn, sondern Einordnung des Nicht-
mehr-Bewußten ins Noch-nicht-Bewußte, des längst Vergangenen ins durchaus noch nicht Erschienene, des archaisch Verkapselten in eine utopische Enthüllung, die ihm endlich gerecht wird. Montage zudem von verpflanzten, umgestellten Gesichts-, Weltteilen, die dadurch mehr verraten, als sie am alten Platz konnten, dies wurde bei Picasso lang schon
begonnen. Die Bilder Chagalls, Marcs enthalten nicht Irrationales schlechthin, sondern einen Rationalismus des Irrationalen, eine Philanthropie des Irrationalen dazu, die sich seiner erbarmt und es in den Menschen aufnimmt, der sich darüber neigt. Wie eine Schuld, die er vergessen hat, steht all dies Brütende vor der Expressio und vor dem Licht, das von hoch oben
und doch brüderlich in das sanfte oder brüllende Schweigen der Kreatur hereinfällt, in das unübersetzte Zeugnis des Primitiven, der Kinder-, Gefangenen- und Irrenkunst, in die stammelnden Buchstaben von Berg, Tal und Sternhimmel. Auch war bei Klee, Chagall, Marc keine Gegenstandslosigkeit schlechthin; der Gegenstand (Traumfische, Kälbchen im Leib der Mutter, Tiere im
Wald) wurde vielmehr entdinglicht, auf unsere Fabel gebracht. Und nirgends war ein Fortschritt mit dem Kopf im Nacken, Fortschritt ins Nichts oder in menschenfeindlichen, kulturfeindlichen Urschlaf (bestenfalls mit der Unruhe des Dschungels), sondern die Avantgarde von damals meinte auch in der Wildnis den Menschen, den freilich verborgenen oder heraufdämmernden Menschen; kurz, sie betrieb die Geheimnisse der Humanität. Sie erweiterte die Welt im Menschen und den Menschen 260
in der Welt, bis weit über den bisher aus; sie suchte den Schrei, der nicht Harfe sauste, das ist, durch die Harfe und ihres unehrlichen, dezimierenden
bekannten Ausdruck hinerst durch eine goldene der herrschenden Klassen Wohllauts. Das erst war
echter Expressionismus, gewiß noch eine innerbürgerliche Revolte, eine innermythologische Überwindung der Mythologie, aber eine, die aus der Nacht zum Licht wollte und sich nicht scheute, lieber aus der Nacht der Unterdrückten als aus dem
bisher herrschenden Tag das Licht herauszudestillieren. Die Bewegung war also nicht von ungefähr, ebensowenig hat sie das Ihre bereits getan. Die Nazis haben von ihren Resten Nutzen gehabt, freilich nur von ihren schal gewordenen und halbierten. Von dem Dunkel ohne Dämmerung, vom Archaischen ohne Utopie, vom schwindelhaften oder verworrenen
Schrei ohne menschlichen Inhalt. Und hier wie überall wäre
auch dieser partiale Nutzen nicht entstanden, hätte man das Irrationale nicht versumpfen lassen, statt es zu erforschen und ihm konkret gerecht zu werden. Der Expressionismus, hat man gesagt, sei so alt wie der künstlerische Ausdruck überhaupt; er
sei überall dort, wo das ungeregelte »Gefühl« (gleich welches) den » Verstand« überwiegt. Das ist zweifellos eine zu weite, eine
selber ungeregelte und vor allem inhaltlose Formulierung; nicht nur die Form (gar die bloße Formlosigkeit), sondern der spezifisch menschliche Inhalt macht die gültige Expression. Das menschlich Subjekthafte bildet ja gerade das Positive an der unleugbaren (und bedenklichen) Subjektivität des Expressionismus; ein unabgelenkt Menschliches wurde expressionistisch laut. Als Flucht, Protest und Verwirrung, als neue Form und Schöp-
fung zugleich ward die Bewegung bei so erlauchten Namen wie Gauguin, van Gogh, Rimbaud bereits angelegt; und unabgegolten, als Strom, der im Unterirdischen am wenigsten versiegt, läuft sie im Surrealismus weiter. Deutlicher aber als der Surrealismus (mit seiner Montage, seinen drohend zitierten
Bruchstücken aus dem neunzehnten Jahrhundert, seinem Phosphoreszieren ins Unbekannte) — deutlicher war der Expressionismus
ums
Humane
zentriert. Gegen die Karikaturen
war
oben Keller herangezogen worden; als Zeugnis des original expressionistischen Antriebs sei hier nun die Betrachtung eines 261
-
|
philosophischen Werks erwähnt, die in der letzten Blütezeit des Expressionismus entstand und die Erzeugung seines Ornaments reflektierte. Die Stelle lautet (Geist der Utopie, 1918, S. 5of.):
» Wir suchen den magischen Bildner, der uns selbst entgegenkommen, uns uns selbst begegnen läßt. Der neue Blick knetet unkenntlich um und fährt wie ein Schwimmer, wie ein Zyklon durch das Gegebene. Das sollen sich alle diese vor Augen halten,
die bei jedem expressionistischen Bild zu fragen haben, was es darstellt, durch welche Mittel also ihrem Auge, das einer bloßen
photographischen Platte gleicht, eine Hölle nun wieder zu einer Straßenecke
zurückschrumpfen
kann.
Denn
bereits
seit van
Gogh wird es deutlich anders: wir sind plötzlich mit darin, und gerade dieses wird gemalt; es ist zwar immer noch sichtbares
Gewühl,
immer
noch Geländer,
Überführung,
ziegelsteinerne Mauer, aber das überschneidet
Eisenbalken,
sich plötzlich
sonderbar, der verworfene Eckstein schlägt mit einem Male Funken, und das Gezeichnete in allen Erscheinungen, das unbegreiflich uns Verwandte, uns Verlorene, Nahe, Ferne, Saishafte
der Welt tritt in van Goghs Bildern ans Licht. Und nun geht es weiter, sich selbst entgegen zu sehen, umbrennend weiter, Gras ist nicht mehr Gras, das Vielfältige verschwindet und das Ge-
sichthafte siegt. Das Ding wird zur Maske, zum Begriff, zur völlig deformierten, denaturalisierten Formel geheimer Zielerregungen, das menschliche Innere und das Innere der Welt
rücken zusammen. Wies van Gogh noch aus uns heraus, sprechen bei ihm noch die Dinge, so heftig sie auch sprechen, doch scheinbar nur von sich und nicht als Echo des Menschen, so hallen wir plötzlich von ihnen zurück, so ist im neuen Expressio-
nismus der Mensch eine Kaspar-Hauser-Natur, die die Gegenstände lediglich als Erinnerungszeichen ihrer versteckten Abkunft oder als Schriftzeichen zum Behalten und Aufbewahren ihrer fortschreitenden Wiedererinnerung verwendet. Hier können uns die Bildwerke, fremdartig bekannt, wie Erdspiegel erscheinen, in denen wir unsere Zukunft erblicken, wie die vermummten Ornamente unserer innersten Gestalt. Das ist dasselbe wie die Sehnsucht, endlich das Menschengesicht zu sehen,
und so kann es auch für das magische Bildwerk keine anderen Traumstraßen mehr geben als solche, auf denen das Erlebnis 262
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1 N;Y
des sich selbst Entgegenreitens geschehen kann, und keine andere Gegenstandsbeziehung als eine solche, die den geheimen Um-
riß des Menschengesichts in aller Welt widerspiegelt und derart die abstrakteste Organik mit der Sehnsucht nach unserem Herzen, nach der Fülle des sich selbst Erscheinens verbindet.« Soweit die damalige, der Expression nicht unverwandte Deutung;
und zweifellos bezieht sie sich auf Probleme der unausgeschöpften, der utopischen Humanität. Zweifellos sind und bleiben diese Probleme im Zug der gesamten revolutionären Mobilmachung, auch der malerischen, die bewegendsten. Humanität unterscheidet den Sozialismus vom Fascismus; Grund genug, sich einer Kunst in Ehren zu erinnern, die der Banause bespuckt, einer Kunst, worin menschliche Sterne - wie unzureichend, wie seltsam auch immer — gebrannt haben oder brennen wollten. Ein Anderes noch macht diesen Rückblickneu und unvermeidlich. Vor uns steht das kulturelle Erbproblem; wodurch aber ist es ein frisches Problem geworden, ein durchaus kühnes? Nur dadurch, daß die expressionistische Epoche den Schlendrian, die hergebrachten Assoziationen aus der Vergangenheit so gründlich zerrissen hat. Die Menschen mit »unserer Väter Werke« im
vorigen Jahrhundert waren keine Erben, sondern Epigonen; auf ihnen lastete Goethes Wort: »Weh dir, daß du ein Enkel bist.« Die Jugend aber, die sich in unserem Jahrhundert erneuert,
immer wieder erneuert, hat die große Vergangenheit nicht als Fluch, sondern als Zeugnis. Denn sie hat selber erfahren, was Ausdruck in seiner Echtheit und Glut ist, und daß er ein Anderes
ist als das erstarrte, das ewig nur kopierbare objet d’art. Auch dieses verpflichtet zum Dank an die »entartete Kunst«; der Epi-
gone freilich findet in der Vergangenheit nur einen »Formenschatz«, der Nazi gar nur den Kitsch, der er selber ist. Die Expressionisten aber haben frisches Wasser und Feuer gegraben,
Quellen und wildes Licht, mindestens Willen zum Licht. Nicht
dadurch allein, doch im Gefolge dieser Erneuerung wurde auch der Blick auf die künstlerische Vergangenheit erquickt, er leuchtet in neuer, damit jetzthaft aufgesprengter, gleichzeitiger Tiefe.
263
DISKUSSIONEN
ÜBER
EXPRESSIONISMUS
(1938)
Trefflich, daß hier Kämpfe wieder beginnen. Vor kurzem schien dies undenkbar, der »Blaue Reiter« war tot. Jetzt melden sich nicht nur Stimmen, die sich seiner mit Achtung erinnern. Fast
wichtiger ist, daß sich andere über eine vergangene Bewegung so akut ärgern, als wäre sie eine heutige und stünde ihnen im
Weg. Sie ist gewiß keine so heutige, aber hat sie noch nicht ausgelebt? Einer stellte das so dar, als spuke sie nur in einzelnen älteren
Herzen fort. Ehemals waren diese jugendbewegt, nun bekennen sie sich zum klassischen Erbe, leiden aber noch an gewissen Resten. Ziegler (im »Wort«, Moskau, 1937, Heft 9) sieht einen
besonders prägnant erscheinenden Expressionisten — Benn - im Fascismus enden und schließt daraus: »Dieses Ende ist gesetzmäßig.« Die übrigen Expressionisten wären nur nicht konse-
quent genug, es zu finden; heute ließe sich klar erkennen, wes Geistes Kind der Expressionismus war, und wohin dieser Geist, ganz befolgt, führe: in den Faschismus.« Danach wäre also der
neuerweckte Ärger an den Expressionisten nicht nur.-ein privater, sondern ein kulturpolitischer, antifaschistischer: die »Men-
heitsdäimmerung«
von ehemals war eine — Prämisse Hitlers.
Hier passierte nur Ziegler (er heißt in Wahrheit Alfred Kurella und blieb so erhalten) das Mißgeschick, daß Hitler einige
Wochen, bevor Zieglers Ahnenforschung veröffentlicht wurde, in seiner Münchner Rede und Ausstellung die Prämisse gar nicht wiedererkannte. Im Gegenteil, wie bekannt: rascher und sinnfälliger wurde eine falsche Herleitung, ein eilig negatives Werturteil selten ad absurdum geführt.
Wurde es auch grundsätzlich, das heißt auf eine uns angemessene Weise ad absurdum geführt? Die Übereinstimmung, in der
sich Ziegler, zu seinem Schreck, mit Hitler fand, ist gewiß töd-
lich, aber der Betrüger in München hätte ja einen Grund dafür haben können (man sieht freilich nicht, welchen), die Spuren des Fascismus zu verwischen. Um die grundsätzliche Frage daher zu klären, ist es angezeigt, den chronologischen Unfall des Ziegler-Artikels, aber auch den Artikel selbst nicht einzeln zu
pointieren, sondern jene » Vorarbeit« des Ganzen aufzusuchen, 264
auf die Leschnitzer in seinem lyrischen Diskussionsbeitrag bereits hingewiesen hat. Wir meinen also den vier Jahre alten Aufsatz von Lukäcs: »Größe und Verfall« des Expressionismus« (Internationale Literatur, 1934, Heft ı, wiederabgedruckt in »Schicksalswende«, Aufbau-Verlag, 1948, $. 180-235); darin
ist das Konzept für die neueste Grabrede auf den Expressionismus. Wir beziehen uns in folgendem wesentlich auf diesen Aufsatz; denn er liegt den Beiträgen Zieglers, auch Leschnitzers
gedanklich zugrunde. Lukaäcs ist zwar in den Schlußformulierungen bedeutend vorsichtiger, er betont, daß die bewußten Tendenzen des Expressionismus keine fascistischen waren, daß er schließlich »nur als untergeordnetes« Moment in die fascistische »Synthese< einverleibt werden« konnte. Aber das Fazit bemerkt trotzdem, daß »die Faschisten — mit einem gewissen Recht - im Expressionismus ein für sie brauchbares Erbe er-
blicken«. Goebbels findet hier für das Seine »gesunde Ansätze«,
denn
»der Expressionismus
als schriftstellerische Ausdrucks-
form des entwickelten Imperialismus (!) beruht auf einer irra-
tionalistisch-mythologischen Grundlage; seine schöpferische Methode geht in die Richtung des pathetisch-leeren, deklamatorischen Manifestes, der Proklamierung eines Scheinaktivismus... Die Expressionisten wollten zweifellos alles eher als einen Rückschritt. Da sie sich aber weltanschaulich nicht vom Boden des imperialistischen Parasitismus loslösen konnten, da
sie den ideologischen Verfall der imperialistischen Bourgeoisie kritiklos und widerstandslos mitmachten, ja zeitweilig seine Pioniere waren, muß ihre schöpferische Methode nicht entstellt werden, wenn sie in den Dienst der faschistischen Demagogie,
der Einheit von Verfall und Rückschritt gepreßt wird.« Man erkennt: die Auffassung, daß Expressionismus und Fascismus Kinder des gleichen Geistes seien, hat hier ihren grundsätzlichen Ausgangspunkt. Auch ist die Antithese: Expressionismus und — sage man- klassisches Erbe bei Lukäcs genau so starr wie bei Ziegler, nur besteht sie weniger aus Feuilletoneifer, ist begrifflich fundiert. Freilich nicht ebenso sachlich, dem Stoff nach; hier liegt man-
ches im argen. Wer Lukäcs’ Aufsatz zur Hand nimmt (was sehr ratsam, das Originallehrt immer am besten), dermerkt zunächst, 265
eh
daß in keiner Zeile ein expressionistischer Maler vorkommt. Marc, Klee, Kokoschka, Nolde, Kandinsky, Grosz, Dix, Chagall sind nicht vorhanden
(um von musikalischen Parallelen,
vom damaligen Schönberg zu schweigen). Das überrascht desto mehr, als nicht nur die Zusammenhänge zwischen Malerei und
Literatur damals die engsten waren, sondern die expressionistischen Bilder viel bezeichnender für die Bewegung sind als die Literatur. Zudem hätte sie eine wünschenswerte Erschwerung
des vernichtenden Urteils abgegeben, denn einige dieser Bilder bleiben dauernd bedeutsam und groß. Aber auch die literarischen Gebilde sind weder in einer quantitativ noch qualitativ zureichenden
Weise
beachtet;
der Kritiker begnügt
sich mit
einer sehr geringen, wenig charakteristischen » Auswahl«. Gänzlich fehlen Trakl, Heym, Else Lasker-Schüler; der frühe Werfel wird nur hinsichtlich des pazifistischen Tenors weniger Verszeilen zur Kenntnis genommen, ebenso Ehrenstein und Hasenclever. Während von den frühen, oft bedeutenden Gedichten
Johannes R. Bechers nur versichert wird, daß es dem Autor gelungen sei, die expressionistische Methode »allmählich wegzuwerfen«, werden Auchdichter wie Ludwig Rubiner durchaus
zitiert, jedoch wiederum nur zu dem Zweck, um an ihnen zu erhärten, was — abstrakter Pazifismus sei. Hier tritt bezeichnenderweise auch ein Zitat aus Rene Schickele an, obwohl Schickele niemals ein Expressionist war, sondern eben nur ein abstrakter Pazifist (wie damals viele brave Dichter und Männer, Hermann Hesse, Stefan Zweig dazu). Was aber ist nun das Material, an dem Lukaäcs eine Expressionismus-Auffassung kenntlich macht? Es sind Vorworte oder Nachworte zu Anthologien, »Einleitungen« von Pinthus, Zeitschrift-Artikel von Leonhardt, Rubiner, Hiller und dergleichen mehr. Es ist derart nicht die Sache selbst, mit ihrem konkreten Eindruck an Ort und Stelle, mit ihrer nachzuerfahrenden Wirklichkeit, sondern das Material ist schon selber ein indirektes, ist Literatur über den Expressionismus, die nochmals literarisiert, theoretisiert und kritisiert wird. Gewiß zum Zweck, »die gesellschaftliche Basis und die aus ihr
entspringenden weltanschaulichen Voraussetzungen dieser Bewegung« klarzustellen, aber mit der methodischen Begrenztheit, daß ein Begriff von Begriffen, ein Essay über Essays und 266
Minderes gegeben wird. Von daher auch die fast ausschließliche ‚Kritik bloßer expressionistischer Tendenzen und Programme
(meist solcher, die erst die Literatoren der Bewegung formuliert, wo nicht hineingetragen haben). Sehr viele richtige und feine Konstatierungen finden sich in diesem Zusammenhang; Lukäcs charakterisiert den Abstraktpazifismus, den Boheme-
Begriff der » Bürgerlichkeit«, den »Fluchtcharakter«, die »Fluchtideologie«, dann wieder die bloß subjektive Revolte im Expressionismus, auch die abstrakte Mystifizierung des »Wesens« der expressionistisch dargestellten Dinge. Aber bereits die subjektive Revolte dieser Bewegung ist kaum genügend erfaßt, wenn Lukäcs — an Hand der »Vorworte« - lediglich die »fanfarenhafte Überheblichkeit«, die »blecherne Monomentalität« ankreidet. Wenn er inhaltlich lediglich »kleinbürgerliche Ratlosigkeit und Verlorenheit im Getriebe des Kapitalismus« vorfindet,
»das ohnmächtige Aufbegehren des Kleinbürgers gegen sein Zermürbt- und Zertretenwerden durch den Kapitalismus«. Wäre selbst nichts sonst zum Vorschein gekommen, hätten die
Expressionisten während des Weltkriegs wirklich nichts anderes zu melden gehabt als Frieden, Ende der Tyrannei, so wäre das noch kein Grund, ihren Kampf, wie Lukäcs tut, als bloßen
Scheinkampf zu bezeichnen, ja ihm zu attestieren, daß er eine bloße
»pseudokritische,
abstrakt-verzerrende,
mythisierende
Wesensart der imperialistischen (von mir hervorgehoben, E. B.) Scheinoppositionen darstellte. Es ist wahr, Werfel und andere
seiner Art haben ihren Abstraktpazifismus nach Kriegsende zu einer Kindertrompete verwandelt; die Parole »Gewaltlosigkeit« wurde dadurch, der neuen Lage, der Revolution gegen-
über, zu einer objektiv gegenrevolutionären. Aber das hebt den Umstand nicht auf, daß diese Parole während des Krieges selbst
und vor seiner möglichen Umwandlung in den Bürgerkrieg eine durchaus revolutionäre, auch objektiv-revolutionäre war, daß sie von den Durchhaltepolitikern auch so verstanden worden ist. Übrigens haben viele Expressionisten auch der »bewaffneten Güte« ein Wort gesungen, der Peitsche Christi, die die Wechsler aus dem Tempel trieb; so völlig begriffslos war diese Menschenliebe nicht. Gar die Mitteilung, daß der Expressionismus
den
»gemeinsamen
weltanschaulichen
Boden
des deutschen 267
Imperialismus« nicht verlassen habe, daß er infolgedessen dem Imperialismus durch bloße »apologetische Kritik« auch noch genützt habe, ist nicht nur einseitig und schief, sondern gibt überdimensioniert schief ein Schulbeispiel für den banalen,
gerade von Lukäcs bekämpften Soziologismus und Schematismus. Doch wie gesagt, das von Lukäcs fast einzig Zitierte gehörte gar nicht zum gestaltenden Expressionismus, wie er uns als Phänomen doch einzig interessiert. Es gehört wesentlich zum »ZielJahrbuch« und ähnlicher mit Recht verschollener Diatribe, (wenn diese auch, unter Führung von Heinrich Mann, keines-
wegs imperialisierte). Aber in den nach wie vor rätselhaften Subjektausbrüchen, in den archaisch-utopischen Hypostasen der damaligen Kunst ist, wie nicht erst versichert zu werdenbraucht, auch bedeutend mehr als die »USP-Ideologie« anzutreffen, auf die Lukäcs den Expressionismus zudem reduzieren möchte.
Subjektausbrüche ins nur Gegenstandslose sind zwar zweifellos noch bedenklicher, als sie rätselhaft sind; ihr Material aber ist durch bloße »kleinbürgerliche Ratlosigkeit und Verlorenheit« kaum genügend umschrieben. Es ist ein anderes Material, zum Teil aus archaischen Bildern, zum Teil aber auch aus revolutionärer Phantasie, aus kritischer und häufig konkreter. Wer Ohren gehabt hätte zu hören, hätte in diesen Ausbrüchen ein revolutionär Produktives wahrnehmen können, auch wenn es ungeregelt und ohne Obhut war. Auch wenn es noch soviel »klassisches
Erbe«, das heißt zur damaligen Zeit: klassischen Schlendrian »zersetzt« hat. Dauernder Neuklassizismus oder der Glaube, daß alles, was nach Homeros und Goethe hervorgebracht wurde,
unrespektabel sei, wenn es nicht nach deren Vorbild, vielmehr der Abstraktion daraus gemacht sei, dieses ist allerdings keine Warte, um die Kunst der vorletzten Avantgarde zu beurteilen und in ihr nach dem Rechten zu sehen. Was überhaupt wird, bei solcher Haltung, an neueren künstlerischen Versuchen nicht abgekanzelt? Sie werden ohne weiteres der kapitalistischen Fäulnis zugeordnet und das nicht nur, wie selbstverständlich, zu einem bestimmten Teil, sondern hundertprozentig, in Bausch und Bogen. Avantgarde innerhalb der
spätkapitalistischen Gesellschaft gibt es dann nicht, antizipierende Bewegungen im Überbau sollen nicht wahr sein. So will 268
es eine Schwarz-Weiß-Zeichnung, die den wirklichen Umstän. den schwerlich gerecht wird, den propagandistischen erst recht
nicht. Sie rechnet fast alle Oppositionen gegen die herrschende Klasse, die nicht von vornherein kommunistisch sind, der herrschenden Klasse zu. Sie rechnet sie auch dann zu, wenn die
Opposition, wie Lukäcs im Fall Expressionismus konsequenzlos eingesteht, subjektiv gutwillig war und den Tendenzen des späteren Fascismus entgegengesetzt fühlte, malte, schrieb. Im Zeitalter der Volksfront scheint eine Fortsetzung dieser Schwarz-
Weiß-Technik weniger als je angebracht; sie ist mechanisch, nicht dialektisch. Der gesamten Abkanzlung und schlechthin negativistischen Kritik liegt die Theorie zugrunde, daß seit der Beendigung des Weges Hegel-Feuerbach-Marx von der Bourgeoisie überhaupt nichts mehr zu lernen sei, außer Technik und
gegebenenfalls Naturwissenschaft; alles andere sei bestenfalls »soziologisch« interessant. Daher werden selbst so eigentümliche und bisher unerhörte Erscheinungen wie der Expressionismus von vornherein als pseudo-revolutionär gerichtet. Daher
werden den Nazis die Expressionisten als Vorläufer zugebilligt, ja zugetrieben, Streichers Ahnentafel sieht sich völlig unwahrscheinlich, höchst verwirrend aufgebessert. Ziegler gar machte eine Klimax aus Namen, die durch Abgründe voneinander getrennt sind, er trennt sie aber nur durch Kommata und setzt hintereinander, als Brüder des gleichen »nagenden« Geistes: »Bachofen, Rhode, Burckhardt, Nietzsche, Chamberlain, Bäumler,
Rosenberg«. Lukäcs bezweifelt aus den angegebenen Gründen jetzt selbst an C&zanne die malerische Substanz, und von den
großen Impressionisten insgesamt (also nicht nur von den Expressionisten) spricht Lukäcs wie vom Untergang des Abendlandes. Er läßt in seinem Aufsatz nichts von ihnen übrig als »die Inhaltsleere... die in der Häufung wesenloser, nur sub-
jektiv bedeutsamer Oberflächenzüge künstlerisch zum Vorschein kommt«. Riesig steigt dagegen der Klassizismus auf, bei Ziegler sogar die Winckelmann-Antike, die edle Einfalt, stille Größe, die Kultur des unzerfallenen Bürgertums, die Welt vor hundert und noch mehr Jahren; sie allein sei das Erbe. Gegen solche Sim-
plifizierung darf wohl daran erinnert werden, daß die Zeit des Klassizismus nicht nur die Zeit des aufsteigenden deutschen 269
Bürgertums war, sondern auch der Heiligen Allianz; daß Säulen- E klassizismus, der »strenge« Herrenhaus-Stil dieser Reaktion Rechnung tragen; daß selbst die Winckelmann-Antike keineswegs ohne feudale Gelassenheit ist. Es ist wahr: die laudatores temporis acti halten bei Homeros und Goethe nicht ausschließlich an. Lukäcs verehrt Balzac aufs höchste, macht Heine als nationalen Dichter kenntlich und ist gegebenenfalls von Klassik so fern, daß er Mörike, der allen Freunden früherer Dichtung als einer der echtesten deutschen Lyriker gilt, im Heine-Aufsatz einen »niedlichen Zwerg« genannt hat. Überall sonst aber ist hier Klassik das Gesunde, Romantik das Kranke, Expressionis-
mus das Allerkränkste, und dieses nicht nur wegen des chronologischen Decrescendo dieser Gebilde, sondern freilich auch —
wie Lukäcs mit geradezu romantischer Beschwörung geschlossener Zeiten betont- wegen
des schön Geschwungenen und Eben-
maßes, wegen des unzerfallenen objektiven Realismus, der die Klassik eignet. Es ist hier nicht der Ort, auf diesen Punkt einzu-
gehen; gerade wegen seiner Wichtigkeit erforderte er die gründlichste Behandlung, doch müßten dazu alle Probleme der dialektisch-materialistischen AbbildlehrezurSprachekommen.Hiernur soviel: Lukäcs setzt überall eine geschlossen zusammenhängende
Wirklichkeit voraus, dazu eine, in der zwar der subjektive Faktor des Idealismus keinen Platz hat, dafür aber die ununterbrochene »Totalität«, die in idealistischen Systemen, und so auch
in denen der klassischen deutschen Philosophie, am besten gediehen ist. Ob das Realität ist, steht zur Frage; wenn sie es ist,
dann sind allerdings die expressionistischen Zerbrechungs- und Interpolationsversuche, ebenso die neueren Intermittierungsund Montageversuche, leeres Spiel. Aber vielleicht ist Lukäcs’ Realität, die des unendlich vermittelten Totalitätszusammenhangs, gar nicht so - objektiv; vielleicht enthält Lukäcs’ Realitätsbegriff selber noch klassisch-systemhafte Züge; vielleicht ist
die echte Wirklichkeit auch - Unterbrechung. Weil Lukäcs einen objektivistisch-geschlossenen Realitätsbegriff hat, darum wendet er sich, bei Gelegenheit des Expressionismus, gegen jeden künstlerischen Versuch, ein Weltbild zu zerfällen (auch wenn das Weltbild das des Kapitalismus ist). Darum sieht er in einer Kunst, die reale Zersetzungen des Oberflächenzusammenhangs 270
auswertet und Neues in den Hohlräumen zu entdecken versucht,
selbst nur subjektivistische Zersetzung; darum setzt er das Experiment des Zerfällens mit dem Zustand des Verfalls gleich. An dieser Stelle läßt, zuguterletzt, sogar der Scharfsinn nach. Zweifellos haben die Expressionisten den spätbürgerlichen Verfall benutzt und sogar weitergetrieben. Lukäcs nimmt ihnen übel, daß »sie den ideologischen Verfall der imperialistischen
Bourgeoisie kritiklos und widerstandslos mitmachten, ja zeitweilig seine Pioniere waren«. Aber erstens stimmt das sehr wenig, was den flachen Sinn des »Mitmachens« angeht; Lukäcs selbst erkennt den Expressionismus an als einen »ideologisch nicht unwesentlichen Bestandteil der deutschen Antikriegsbewegung«. Sodann aber, was das »Mitmachen« im produktiven Sinn angeht, das eigentliche Weitertreiben des kulturellen Verfalls:
gibt es zwischen Verfall und Aufgang keine dialektischen Beziehungen? Gehört selbst das Verworrene, Unreife und Unverständliche ohne weiteres, in allen Fällen, zur bürgerlichen De-
kadenz? Kann es nicht auch — entgegen dieser simplistischen, sicher nicht revolutionären Meinung — zum Übergang aus der alten in die neue Welt gehören? Mindestens zum Ringen um
diesen Übergang; wobei lediglich immanent-konkrete Kritik, aber keine aus allwissenden Vor-Urteilen weiterhelfen kann. Die Expressionisten waren »Pioniere« des Zerfalls: wäre es besser, wenn sie Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus ‚hätten sein
wollen? Wenn sie den Oberflächenzusammenhang wieder geflickt hätten (etwa im Sinn der neuen
Sachlichkeit oder des
Neuklassizismus), statt ihn immer weiter aufzureißen? Ziegler wirft den Expressionisten sogar »Zersetzung der Zersetzung« vor, also ein doppeltes Minus, ohne in seinem Haß zu bedenken, daß daraus gemeinhin ein Plus wird; für den Niedergang des Klassizismus hat er überhaupt keinen Sinn. Erst recht keinen
für die seltsamsten Inhalte, die gerade im Einsturz der Oberflächenwelt sichtbar wurden, und für das Problem der Mon-
tage. Ihm ist das alles »kläglich geleimtes Gerümpel«, und eines, das er den Fascisten nachträgt, obwohl sie es gar nicht haben wollen und ganz seiner Meinung sind. Der Expressionismus hatte gerade in dem Bedeutung, worin ihn Ziegler verurteilt: er hat den Schlendrian und Akademismus zersetzt, zu dem die
271
»Kunstwerke«
verkommen
waren.
Er hat statt der ewigen
»Formanalyse« am objetd’artauf den Menschen und seinen Inhalt
verwiesen, der zum möglichst echten Ausdruck drängt. Daß sich Schwindler gerade dieser ungesicherten und leicht imitierbaren Direktheit bemächtigt haben, daß die allzu subjektivistischen Durchbruchs- und Ahnungsinhalte nicht immer, ja sogar selten,
kanonisch waren, unterliegt keinem Zweifel. Aber eine gerechte und sachliche Wertung muß sich an die wirklichen Expressionisten halten und nicht, der leichteren Kritik zuliebe, an Zerrbilder oder gar nur an die Zerrbilder der eigenen Erinnerung. Der Expressionismus war als Erscheinung bisher unerhört, aber er fühlte sic‘. durchaus
nicht traditionslos;
im Gegenteil,
er
suchte, wie der »Blaue Reiter« beweist, durchaus seine Zeugen in der Vergangenheit, er glaubte Korrespondenzen bei Grünewald, in der Primitive, sogar im Barock zu treffen, er betonte eher zu viel Korrespondenzen als zu wenig. Er sah literarische
Vorgänger im Sturm und Drang, hochverehrte Vorbilder in den Visionsgebilden des jungen und des greisen Goethe, in » Wanderers Sturmlied«, der »Harzreise im Winter«, in »Pandora«
und dem späten Faust. Der Expressionismus hatte auch gar keinen volksfremden Hochmut, wieder im Gegenteil: der »Blaue Reiter« bildete murnauer Glasbilder ab, er öffnete zuerst den Blick auf diese rührende und unheimliche Bauernkunst, auf Kin-
der- und Gefangenenzeichnungen, auf die erschütternden Dokumente der Geisteskranken, auf die Kunst der Primitive. Er pointierte die nordische Ornamentik, das heißt das wild ver-
schlungene Schnitzwerk, wie es sich auf Bauernstühlen und Bauerntruhen bis ins achtzehnte Jahrhundert erhalten hat, als
ersten »organisch-psychischen Stil«. Er pointierte dies Wesen als geheime Gotik und setzte es dem menschenleeren, dem kristallinischen Herren-Stil Ägyptens und gar des Klassizismus entgegen. Daß der kunstwissenschaftliche Fachausdruck »nordische Ornamentik«, ja selbst die Feierlichkeit, womit dies Wesen expressionistisch begrüßt worden ist, nichts mit Rosen-
bergs Nordschwindel gemein hat und nicht seine » Anfänge« darstellt, braucht kaum versichert zu werden. Um so weniger,
als die nordische Schnitzkunst voll von orientalischen Einflüssen ist; der Teppich, das »Liniengeschöpf« der Ornamentik 272
überhaupt, war dem Expressionismus ein anderer Zuschuß. Und eben noch eines, das Wichtigste: der Expressionismus war bei
aller Lust an »Barbarenkunst«
aufs Humane gezielt, er um-
kreiste fast ausschließlich Menschliches und die Ausdrucksform
seines Inkognito. Davon zeugen, vom Pazifismus ganz abgesehen, selbst noch die expressionistischen Karikaturen und Industrialisierungen; das Wort »Mensch« wurde damals genau so häufig gebraucht wie heute von den Nazis sein Gegenteil: die schöne Bestie. Es wurde auch mißbraucht, da gab es auf Schritt und Tritt »entschlossene Menschlichkeit«, die Anthologien hießen »Menschheitsdäimmerung« oder »Kameraden der Menschheit« — lauter verblasene Kategorien, aber zuverlässig keine vorfascistischen. Der echtrevolutionäre, materialistisch klare Humanismus hat allen Grund, diese verblasenen Kategorien abzulehnen, niemand verlangt auch, daß er den Expressionismus als Muster oder seinerseits als »Vorläufer« nimmt. Aber es besteht ebensowenig Anlaß, ein neuklassizistisches Interesse durch
verjährten Kampf mit entwertetem Expressionismus interessant zu machen. Was kein Vorläufer ist, kann deshalb - in seinem
Ausdruckswillen und seiner Zwischenzeiten-Existenz — jungen Künstlern dennoch näherstehen als ein dreifach epigonaler Klassizismus, der sich auch noch »sozialistischer Realismus« nennt und so administriert wird. Erstickend wird das der Bild-, Bau-, Schreibkunst der Revolution aufgesetzt und ist kein griechisch Vasenbild dabei, sondern der spätere Becher als roter Wildenbruch und Zieglerisches als das Wahre, Gute, Schöne. So irreal
wie möglich wird eine untergehende Welt aus Scherben-Ineinander, eine aufgehende aus Tendenz und Experiment mit falschem Formmaß von gestern »abgebildet«. Selbst echterer Klassizismus ist wohl Kultur, aber abgezogen, abstrakt-gebildet gewordene; er ist Kultur, gesehen durch kein- Temperament. Immerhin regt die frühere Glut, auch als solche, noch auf. Ist
also der Expressionismus noch nicht verjährt, hat er noch nicht ausgelebt? Mit dieser Frage wäre man, fast unfreiwillig, an den
Anfang unserer Betrachtungen zurückgekehrt. Die ärgerlichen Stimmen reichen gewiß noch nicht zur Bejahung aus, auch Zieglers drei andere Probleme am Schluß seines Artikels verbreiten hierüber kein Licht. Ziegler fragt zum Zweck einer anti-expres273
De sionistischen Selbstprüfung erstens: »Die Antike: »Edle Einfalt und stille Größe« - sehen wir sie so?« Zweitens: »Der Formalismus: Hauptfeind einer Literatur, die wirklich zu großen Höhen strebt - sind wir damit einverstanden?« Drittens: » Volksnähe und Volkstümlichkeit: die Grundkriterien jeder wahrhaft großen Kunst - bejahen wir das unbedingt?« Es ist klar, daß auch derjenige, der diese Fragen verneint, erst recht der andere, der
sie als unrichtig gestellt ansieht, deshalb noch keine »Reste des Expressionismus« in sich bergen muß. Hitler — dieseErinnerung läßt sich bei so summarisch gestellten Fragen leider nicht vermeiden - Hitler hat ja die erste und dritte Frage bereits vorbehaltlos bejaht und ist trotzdem nicht unser Mann. Aber lassen wir die »edle Einfalt und stille Größe«, eine rein historisch-kontempla-
tive Frage und eine kontemplative Haltung vor Historischem. Bleiben wir bei den Fragen »Formalismus« und »Volksnähe«,
so unscharf diese Probleme im vorliegenden Zusammenhang auch gestellt sein mögen. Zuverlässig aber ist Formalismus der geringste Fehler der expressionistischen Kunst gewesen (die man nicht mit der kubistischen verwechseln darf). Sie litt eher
an zu wenig Formung, an einer roh oder wild oder durcheinander hinausgeschleuderten Ausdrucksfülle; das Ungestaltete war ihr Stigma. Dafür freilich auch die Volksnähe, die Folklore: ganz im Gegensatz also zu der Meinung Zieglers, der sich Winckelmanns Antike und den Akademismus, der aus ihr gezogen wurde, als eine Art Naturrecht in der Kunst vorstellte. Volkstümlich im schlechten Sinn ist freilich auch der Kitsch; der Bauer des neunzehnten Jahrhunderts vertauschte seinen ge-
malten Schrank gegen ein Fabrik-Vertiko, die uraltbunten Glas-
bilder gegen einen Öldruck, und hielt sich für arriviert. Aber diese übelsten Früchte der Kapitalisierung wird man kaum als volkhaft
sprechen
wollen;
sie sind
erweisbar
auf
anderem
Boden gewachsen und verschwinden mit ihm. Nicht so sicher ist der Neuklassizismus ein Gegenmittel gegen den Kitsch und ein Element wirklicher Volksnähe; dafür ist er selber viel zu
sehr das »Höhere«, das unecht Aufgesetzte. Wogegen die Expressionisten allerdings, wie schon bemerkt, auf Volkskunst durchaus zurückgingen, Folklore liebten und ehrten, ja male-
risch zuerst entdeckt haben. Besonders Maler aus Völkern von
274
‚Junger Selbständigkeit, tschechische, lettische, jugoslawische Maler fanden um 1918 im Expressionismus eine Ausdrucksweise, die ihrer heimischen Folklore bezeichnend näher lag als die
meisten Kunststile bisher (vom Akademismus zu schweigen). Und wenn expressionistische Kunst in vielen Fällen (nicht in
allen, man denke an Grosz oder Dix oder auch den jungen Brecht) dem Betrachter unverständlich blieb, so kann das bedeuten, daß
Angestrebtes nicht erreicht wurde, es kann aber auch bedeuten, daß der Betrachter weder die Auffassungsgabe unverbildeten Volks noch die Aufgeschlossenheit entgegenbringt, die für das
Verständnis jeder neuen Kunst unentbehrlich ist. Ist der Wille des Künstlers für Ziegler maßgeblich, so war der Expressionismus geradezu ein Durchbruch zur Volksnähe. Ist die erreichte Leistung maßgeblich, so darf Verständnis nicht für jedes einzelne Stadium des Prozesses verlangt werden: Picasso malte als erster »geleimtes Gerümpel«, zum Entsetzen sogar des gebildeten Volks; oder sehr viel weiter herab: Heartfields satirische Photoklebebilder waren so volksnah, daß mancher Gebildete nichts
von Montage wissen will. Und wenn der Expressionismus heute noch zu Erregungen Anlaß gibt, jedenfalls nicht undiskutabel geworden ist, dann scheint auch die »USP-Ideologie«, die heute
zuverlässig ohne Unterbau ist, nicht die einzige im Expressionismus gewesen zu sein. Seine Probleme bleiben so lange denk‚würdig, bis sie durch bessere Lösungen, als es die expressionisti-
schen waren, aufgehoben sind. Eine Abstraktion jedoch, die die
letzten Jahrzehnte unserer Kulturgeschichte überschlagen möchte, sofern sie keine rein proletarische ist, gibt diese besse-
ren Lösungen kaum. Das Erbe des Expressionismus ist noch nicht zu Ende, denn es wurde noch gar nicht damit angefangen.
DAS PROBLEM DES EXPRESSIONISMUS NOCHMALS
(1940)
Der so betroffene Blick hat aufgehört, unmittelbar zu sein. Er ist wesenhaft vermittelt, im gleichen Zug, wie es seine Gegenstände sind. Aber nun kommt solch wesenhafte Beziehung je 275
nach den Zeiten, in denen sie sich gegenständlich eröffnet, variiert vor: als jäh vermittelte und als breit vermittelte. Im
einen Fall wird gerade Übersehenes oder Zerfallenes vielsagend, im anderen Fall schlägt sich das Ganze und Wesentliche erst in der Breite des Zusammenhangs auf. Jäh vermittelt, das kann gewiß auch unordentlich vor sich
gehen. Es ist dann vom Unmittelbaren eines bloß subjektiven Erlebens bedroht. Doch allein schon der Zustand der Zeiten, in denen die jähen, oft abbrechenden Blicke auf Verstecktes, auch Absonderliches bedeutend werden, zeigt, daß eine Sache —
und zwar eigener Art - sich einmischt. Jäh vermittelt gibt sich eine wesentliche Beziehung vor allem in jenen Zeiten, wo infolge ungesicherter Verhältnisse Löcher und Hohlräume im bisher glatten Zusammenhang aufgehen; darüber und über das,
was darin auftaucht, geben die - sage man: unregelmäßigen Künstler auf ihre Art Aufschluß. Eröffnungen dieser Art treten
seit dem Ausgang des Mittelalters immer wieder hervor, das heißt, in den Hohlräumen, die infolge des langdauernden Einsturzes einer alten Gesellschaft, vor allem aber der Ausschachtungen einer neu heraufkommenden entstehen, — so wie im Zwielicht der Frühe Nacht und Morgen ineinander gemischt sind. Wichtig sind selbstverständlich nur die Gestalten des über-
wiegenden, ja regierenden Morgenblicks, trotz aller Absonderlichkeit, die eben diesen noch ungeordneten Sprunggebilden eig-
net. Eine gemischte, doch trotzdem nicht unverwandte Reihe zieht sich derart malerisch von Baldung Grien, von dem schein-
spaßhaft-grausigen Hieronymus Bosch zu den empört-reellen Grotesken Goyas, zu zerlegend-epatanten Seltsamkeiten Franz Marcs, Chagalls, Picassos. Dichterisch zieht sich eine, wie immer selber unterbrochene, Reihe von Francois Villon, diesem mittelalterlichen Anfang aller »unregelmäßigen Autoren«, zu dem
»wilden Apollo« im revolutionären Sturm und Drang, zu den Frühwerken Bertolt Brechts. Hierbei sind ersichtlicherweise nicht die selber zerfallenen Zufallsautoren, die seiend oder bleibend Dekadenten primär bemerkenswert (obwohlauch
sie skurrile oder stygische Gegenstände gefördert haben mochten, die nun ans Licht zu halten sind). Wichtig sind vielmehr die Meister der wahren Vermittlung durch Fähheit: ins Nebenbei 276
und die Heimatlosigkeiten des Hohlraumes einschlagend (ob-
wohl auch diese der Dekadenz der anderen vielfach einige Gestehungskosten ihres Werks zahlen mußten, ja zuweilen noch mit einem Fuß in ihr standen). Das ganze Wesen kulminierte
sinngemäß während rapider Einstürze des bürgerlichen Hauses, während der Endkrise des Kapitals. Und indem bei der Krise Abendrot und Morgenrot sich dialektisch überschneiden können, waren Expressionismus, dann, wie Ernst Fischer mit Recht hervorhebt, der Surrealismus zuweilen in der Lage, eine keines-
wegs nur subjektivistische, gar formalistische Montage gegebenenfalls bereitzustellen. Recht entfernt von bloßer Kunst der Dekadenz
erscheint dergleichen im Opus des Kommunisten
Picasso, in all diesen spät-frühen Geburt-Allegorien aus Zerfällung, ja eben aus Zerfall. Es ist also keineswegs so, als wäre
solch jähe Vermittlung gar keine — Vermittlung, das ist: außer Bezug zur zerrissenen Wirklichkeit selber, rebus sic non stanti-
bus. Oder als wäre hier, wie Lukäcs angibt, einzig Verzerrung, Verkehrung eines an sich ausgewogenen, sozusagen allemal formvollendeten Wirklichkeitszusammenhangs. Konträr: bereits die Welt Goyas, wie gar die »Guernica«-Welt Picassos
haben auf zerrissene Erlebnisweisen durchaus nicht erst gewartet, um voller Hohlräume, Folterkammern, Spannungsfiguren zu sein. Unabhängig von bloßen Subjektivismen ist die Wirklichkeit in Zeiten der Krise selber eine weithin zerspellte,
eine keinesfalls nur mit breit-ruhiger Vermittlung treffbare. Die Krise ist das Auseinandertreten der immer weiter verselbständigten Momente, und wenn die Krise gemäß dieser großen Marx-Definition auch ebenso »die Einheit der gegeneinander verselbständigten Momente
manifestiert«, so das doch keines-
wegs als vorherige bürgerliche Klassik und ihre Reproduzierbarkeit, gar Mustergültigkeit, gleich wie wenn in Zeit und Inhalt nichts geschehen wäre. Das Marx-Zitat weist darauf hin,
daß die Dialektik als Einheit der Einheit und der Widersprüche nirgends ihrer spotten läßt, aber es will selbstverständlich nicht sagen, daß die Krise ein Ausbund von Ordnung und Einheitlich-
keit wäre. Letzteres vielmehr - und damit stellt sich der Übergang vom Jäh- zum Breit-Vermittelten her - ist nur in relativ
ruhigen
Höhenzeiten
einer
gesellschaftlichen
Stabilisierung 277
\
darstellbar oder aber — konkretest — erst in einer Gesellschaft nach gelungener sozialer Revolution, ohne Krisen, aber auch ohne nennenswerte Schwierigkeiten des sozialen Aufbaus. Breite Vermittlung also, diese glücklichere Weise wesenhafter Beziehung,
sie ist gewiß nicht von Unordentlichem bedroht und vom Unmittelbaren eines bloß subjektiven Erlebens wie das Jäh-Vermittelte. Wohl aber ist diese Weise in allen Übergangszeiten von allzu Geordnetem bedroht, das ist von epigonalem Klassizismus, der seine nur idealistisch-formale Totalität fälschlich
als realistisch ausgibt. Breite Vermittlung wirklich konkreten und dann freilich eben konkretesten Sinns ist nur dort möglich,
wo eine sozialistisch gewordene Welt nicht mehr voller Krisen steckt, oder aber, in der bisherigen Vorgeschichte der Menschheit, dort, wo der Blick sehr weitschauend von einem großen Kunst-
werk her ergeht, also auf der erlangten Höhe einer progressiven Kultur. Das geschah bei Giotto und Dante, philosophisch bei Thomas, es geschah - bereits mit einer Fülle von »unregelmäßigem Autorentum« untermischt — in dem großen Roman der Neuzeit, in Shakespeares Welt-Drama - bei relativem Totum
des gesellschaftlichen Zusammenhangs, bei utopisch-entelechetischem
Totum
der Charaktere,
Situationen,
Handlungen
zu-
gleich. Doch fehlen allerdings auch hier pointiert unterbrechende Instanzen nicht; denn in Wahrheit ist die Wirklichkeit auch in
Zeiten und Großwerken der breit möglichen Vermittlung nie lückenloser Zusammenhang, sondern stets noch — Unterbrechung und stets noch Fragment.
RELATIVISMEN
UND
LEER-MONTAGE
Der frische Zug ändert sich hier oben. Die Jugend liegt wirr und böswillig zurück. Auch ihre Lehrer bauen seit langem ab, aber ins schlechte Alte. Der Student trägt jetzt durchwegs das Haus mit, dem er entstammt, am meisten das enge. Übernimmt die Wünsche, die Rachsucht, die ungelüfteten Meinungen der sinkenden Mitte. Dem Denken weicht er aus, weil er erkennen müßte, wie aussichtslos die Lage der Klasse ist, die er halten, in
der er fortkommen will. Nun suchen viele Studenten auf den Universitäten eine Art Vater (meist, weil sie keinen ausreichen-
den zu Hause gehabt haben); sie suchen ihn dringender als eine Geliebte. Die Lehrer aber, die dazu dienen, entstammen als jün-
gere meist derselben Mitte wie die Studenten, einer sinkenden, gereizten, irrenden; als ältere, auch großbürgerliche, biedern sie
sich der Jugend nur an oder leben ohnehin im Kaiserwetter. Sie verhalten sich zu den national-»revolutionären« Studenten wie die Schwerindustrie zu den SA-Iruppen; sie sind die ideologischen Statthalter der Schwerindustrie beim akademischen Sturm. Klar, daß unter so rostigen Verhältnissen, im Bund mit so welkem Bewußtsein die Studien nicht blühen. Der Ort überhaupt, wo die nationalistischen Studenten sich Rats erholen, liegt nicht
mehr innerhalb der Universität, widerspricht jedenfalls ihrer bisherigen, rational-humanistischen Tradition. Der Satz: »Man stirbt nicht für ein Programm, das man verstanden hat, man stirbt für ein Programm, das man liebt«, — dieser nationalsozia-
listische Grundsatz, ein Glaube nicht nur dumpfer Jünglinge und bewußtloser Überzeugungs-Verschwender, sondern der feurigsten »Akademiker« von heute, führt in derwischhafte Feldlager, nicht in Hörsäle. So ist die »Vernunft« deutscher Hochschulen höchstens noch in ihren technisch-zweckhaften Fächern, das »systematische« Bildungsideal (aus der Zeit Humboldts) längst vorüber. Ja, selbst sozialistisch gesehen dürfte an 279
2
den »Bildungsidealen«, an den Resten und Eiertänzen der philosophischen Universität, wo sie noch, mit deutschnationaler Überlieferung, besteht, wenig behaltbar und gewiß nichts reparierbar sein. Dem Sozialismus bleiben fast nur die technischrationalen Fächer als unmittelbares Erbe, sie sind jedenfalls zukünftiger als ein Bildungsideal, das nicht ohne Grund gesprungen ist, hier relativistisch, dort irrational. Auch die junge Kirche hat nicht die Tempel, sondern die Basiliken bezogen.
Jedenfalls ging der humanistisch-ideale Überbau, den dieSpranger oder Rickert bisher noch besorgten, der »universitas litterarum« toto coelo verloren. Das Epigonentum hat ihn gegen die ökonomisch-politische
Wirklichkeit
nicht halten
können, |
nicht einmal gegen den mythischen Überbau, der jetzt besser als der humanistisch-ideale Wirkliches verdeckt. Lehrreich jedoch,
jenseits der Eiertänze und des »Bildungsideals«, die immerhin vorgeschrittensten Zerfallsformen der bürgerlichen Philosophie | mittelbar zu mustern; sie hängen in der Basilika wie Konkursartikel, auch wie nicht-euklidisches, nicht-mechanisches Vergiß-
meinnicht, auch wie Tribute der Tugend an das Laster. Neuere »Empiristen« müssen ohne weiteres die bürgerliche Ratio zersetzen und machen sie beweglich, nämlich mit Modellen. Doch auch neuere Idealisten sind auf einen Nullpunkt bürgerlicher Ratio geraten, nämlich aufs sogenannte »Existieren«; sie füllen seinen abstrakten Abgrund teils mit emotionaler »Ontologie« (aus spätbürgerlichen Stimmungen), teils mit »Chiffern« aus eingestürzten Ordnungen. Unter dem Schein des Beginns ver- | kauft sich hier bürgerliches Denk-Ende, mit falscher Gebärde| oder »fragendem, ungedecktem Standhalten inmitten der Ungewißheit des Seienden im Ganzen« (Heidegger), mit wesenlosen Lösungen. Doch über die Triebanstalt und den Beschäftigungen einer sterbenden Kamarilla ist recht bunte Agonie, Logik und Metaphysik sozusagen einer fragenden Agonie. Ein Blick, der sich auf Hohlräume versteht, wird hier darum, zuweilen, Probleme spüren, die auf der Kante stehen, und Sterbematerial, das dem von - Joyce nicht immer ganz fernsteht. Es
ist ein Ausverkauf von Relativismus und Leer-Montage, mitten im Untergang des bürgerlichen Wissensstolzes. Relativisten sind Trumpf, ihr Erkennen wird klein geschrieben, sie schreiben es 280
schließlich überhaupt nicht mehr zu guter Letzt. Sobald nämlich Sphinxe (die immerhin, bei solcher Wahl, etwas besser sind als allwissendes »Es ist erreicht«) Platz genommen.
DAS
AUGE
Immer wieder fängt man nun von sich her an. Trägt ab, bis draußen überhaupt nichts mehr ist. In zerstückter, dürrer Arbeit
würde bürgerliches Denken ohnehin schwach, bescheiden. Sein Stoff ging nicht mehr in Begriffe ein; diese wurden schwankend, der Stoff selber zerfiel in bloß Gesehenes oder wich ganz zurück.
Da glaubte Ziehen schon aus dem Bau des Auges zu wissen, daß der Mensch die Dinge nicht wahrnimmt, wie sie wirklich sind.
Daß auch jede erkennende Aussage über sie ein Wort ist und nicht mehr. Wie die Dinge sind, läßt man gerne draußen und
dahingestellt. Desto leichter fällt es, wechselnd über sie auszusagen, morgen anders als heute.
DIE
FIKTIVEN
Andere zweifeln schon von vornherein, nur nicht an sich. Trokkener Schlamm von gestern kommt wieder auf, wird witzig und
allgemein. Mach lebt, seine Lehre von der Anpassung der Gedanken an die Tatsachen greift sogar recht organisch um sich. Ein Vaihinger, mit der Lehre des Als-Ob, kam nach 40 Jahren erst nach Hause, ist wieder zu Hause. Trifft eine Zeit, die ihre Be-
griffe völlig schwankend nimmt, nämlich als bloß fiktiv, und sich dieses, wie nachträglich immer, testieren läßt. Erkenntnis wird bloße fiktive Annahme; ihr entspricht real nichts und nicht einmal sicher nichts. Wie eine Krankheit Schübe hat, so auch
der bürgerliche begriffliche Zerfall, und er wird immer leichter, immer bequemer gedacht. Das bloße Als-Ob empfiehlt sich schon deshalb, weil es alle bürgerlichen Grundsätze abzutragen erlaubt. Es verwandelt die wissenschaftlichen Begriffe, selbst die 281
ur
idealen Überzeugungen höchst nützlich in Aktienpapiere, welche je nach der gegebenen Lage schwanken. Das fingierende Wesen trägt überdies für sich die Wahrheit ab, um sie weder
vorher noch nachher irgendwo besser anzusiedeln. Es macht den Zweifel am heute faßbaren Sein zu einem an allem und jedem. So durchzieht
es große Teile des heutigen Denkens,
leicht,
bequem, treulos. Steigt in alle gerade gangbaren Züge des Begriffs, um mit keinem zu Ende zu fahren.
DIE
EMPIRISTEN
Aus dem Zweifel kommen Kühle, indem sie ihn gänzlich mitmachen. Das reine Denken ist ihnen leer, das übrige Innen bloß gefühlig, und was es »erkennend« hinzugibt, gedichtet. Nur
zwei Denkweisen gelten hier als wirklich treffende: die neue Logik, im mathematischen Sinn Russels, und das Verfahren der
einzelwissenschaftlichen, empirischen Forschung. Klar und deutlich — der alte Ruf vom Anfang des bürgerlichen Denkens, der Ruf des abstrakten Kalküls kehrt derart wieder; freilich, was die Kraft des Kalküls angeht, aus sich heraus Wirkliches zu erkennen, mit sehr gemindertem, sehr geschlagenem Anspruch. Für den Kreis der »wissenschaftlichen« Philosophen gibt es
keine synthetischen Urteile a priori; Denken über die Erfahrung hinaus greift in nichts, in Hirngespinste, in völlig gegenstandslose Reste mythischen Denkens. Es gibt nur analytische Urteile a priori; diese machen die neue Logik aus, als ein gehaltleeres Gefüge von Tautologien, die zwar bedingungslos richtig sind,
aber nichts über das, »was der Fall ist«, aussagen (Wittgenstein). Gehaltvolle Erkenntnis liefern einzig die empirischen Wissenschaften, die synthetischen Urteile a posteriori, zurück-
führbar aufs Gegebene und daran allein als wahr oder falsch
entscheidbar. Dem Philosophen obliegt lediglich, die »Form« der einzelwissenschaftlichen Fragen und Urteile bis zur äußer-
sten Helligkeit logistisch durchzudenken; denn durch Philosophie werden die wissenschaftlichen Sätze nur geklärt, durch Erfahrung aber werden sie bewahrheitet. Philosophie wird so 282
x
zur puren Ordnungs-Kontrolle der Einzelwissenschaften; ihre »Sinnforschung« ist eine der Form, mitnichten des Inhalts. So
klar dies gesamte Wesen ist, so unreflektiert ist freilich der Bezug, den es zu dem älteren kritischen Empirismus hat, nämlich zu Mach. Den Kreis um Schlick, Dubislav verbindet mit Mach (dem zweiten Ahnherrn, nach Russel) die Ablehnung jedes
»vermenschlichenden« Denkens, die Tendenz, synthetische Urteile a priori (also subjektiv-mythische) auch noch in den formalen Grundbegriffen, vor allem aus der Kausalität zu entfer-
nen. Dagegen scheint unklar, wie es die Empiristen mit dem Modellgedanken des Machismus halten, das ist: mit der Anpassung von Gedanken an Tatsachen mittels eines Denkmodells. Diese Unklarheit ist desto merkwürdiger, als der Modellgedanke das Einzige wäre, was den idealistischen Katzenjammer auch in den Einzelwissenschaften zeigte, nicht bloß in dem, was man
hier metaphysische Überschreitung nennt. Doch gerade die kritische Auflösung der Einzelwissenschaften
selber scheint bei
den Empiristen noch en enfant zu sein; ebenso die Einsicht in die Fragwürdigkeit jener Verdinglichungen, die einzelwissenschaftlich noch »Tatsachen« genannt werden. Wie das sehr zeit-
liche Subjekt hier unterschlagen wird, dem alles Gegebene doch erst »gegeben« ist, so bleibt die gegebene Erfahrung selber schlecht unmittelbar, ungeschichtlich und unveränderlich. Andere Logik als die der Gleichungen ist unbekannt; von Dialektik,
die nicht einmal ein Mal in denselben Fluß steigen kann (also mit bestem Willen nicht tautologisch ist), wurde hier noch nichts
vernommen. Je größer die Bescheidenheit vor der bürgerlichen Wissenschaft, je kärglicher der Halt, den der Zweifel logistisch und »wissenschaftlich« gefunden zu haben glaubt, desto unwis-
sender der »Hochmut« vor allen Denkern der Vergangenheit, vor allen »Musikbeispielen«, welche mehr als a=a von sich ge-
geben haben. Die Nähe dieser abstrakten Strenge zur neuen Sachlichkeit leuchtet ein; sie hat dieselbe menschliche Leere, dieselbe Klarheit eines bloß äußerlichen Verstands, denselben Verzicht, in die »Hintergründe« der Erfahrung (auch die Bewe-
gung ist ein Hintergrund) einzudringen. Dennoch geben manche Marxisten diesem Denken, weil es so gleichzeitig scheint, respektvollen Pardon; ja, auch die übrigen Denker der » Anpassung« 283
werden von ihnen als technisch vorgeschritten begrüßt. So die sogenannten Behavioristen (Watson), weil sie ganz ohne Innen auskommen und das Bewußtsein leugnen oder ins übrige organische Verhalten zur Umwelt eingliedern. So die Pragmatisten (Schiller, James), weil sie Wahrheit nur als biologische,
überhaupt
als praktische Brauchbarkeit
definieren
und
nur
insofern »Interesse« an ihr haben; so die Neu-Empiriker schließ-
lich wegen ihres metaphysikfreien Denkens. Daher akzeptieren manche Marxisten, trotz Lenins Warnung, hier ein Erbe; das
wasserklare Wesen scheint ihnen »der reifsten kapitalistischen Entwicklung« zu entsprechen. In der Tat ist diese philosophische »Sachlichkeit« ein Stück England und USA, aber sie ist es auch
philosophisch, also nicht auf die beste Weise; sodann aber ist ihr Ursprung ziemlich bemoost, nämlich Mach und das nicht sehr amerikanische Wien. Was Pragmatisten angeht, so ist ihre behauptete Nähe zum marxistischen Denk-Praxis- Verhältnis nur eine scheinbare. Denn nicht deshalb ist dem Marxismus etwas wahr, weil es brauchbar ist, sondern die praktische Grund-
frage ist hier ebenso eine theoretische: nämlich ob eine Theorie mit der wirklichen Tendenz übereinstimme; erst sofern sie mit dieser übereinstimmt, ist sie auch wahr, und nur sofern sie der-
gestalt wahr ist, ist sie auch brauchbar. Was gar das Metaphysikfreie der Logisten und Neu-Empiristen angeht, so stellt dieses nicht Hegel auf die Füße, was einzig marxistisch wäre, sondern
wirft ihn hinaus, sagt a — a und traut im übrigen der bürgerlichen Wissenschaft, als wäre sie lautere »Erfahrung«. Schwankend, doch unabweisbar geht in all diesem Verstand eben Mach um; ebenso schwankend, doch freilich -— qua Forschung von heute — ebenso unabweisbar der Modellgedanke, der elastische
Relativismus. Dieser wirkt schief und ausdrücklich erst in gewissen sozialwissenschaftlichen Reflexionen, fruchtbar in der mo-
dernen Physik.
284
pe
LAXER,
SOZIALER UND PHYSIKALISCHER RELATIVISMUS
Auch Weiches löst gern auf, was anders als es selber ist. Ihm genügt das bloße Zählen, Greifen, Nennen, darin erschöpft es sich. Was gegriffen wird, mag Brei sein und bleiben, ein ständig fließend empfundener. Am sogenannten Ich oder der Seele be-
gann dieser Blick sachlich zuerst, setzt sich seitdem mäßig fort. Verworn etwa schwächte, vor langem schon, alle psychischen
Begriffe zu bloßen Namen ab, die nichts Seiendes bedeuten. So überall setzt das Denken hier bloße Zeichen, die dem endlos Empfundenen als dem Einzigen, was ist oder vielmehr schwebt, nur hinzugefügt werden. Daran wirkte Machs Modell zuerst
und wurde angewandt: das Ich ist nicht zu halten, doch auch alles in und außer ihm ist nur webend Empfundenes. Überall schüttelt dies Weben den harten, stellenden Begriff ab, wie der Hund das Wasser oder vielmehr wie das Wasser den Hund, als nicht zu ihm gehörig. Es gibt keine für sich selbst umrissenen psychischen Zustände, es gibt auch keinen wirklichen Scharlach, erst recht keine psychisch geschlossenen Krankheiten, sondern
nur die Ansicht, den Namen von ihnen, der Erscheinungen bald hierhin, bald dorthin zusammenlegt. Es gibt auch keine getrennten Leiber, Arbeiter, Unternehmer, Klassen; das ist die weitere Folge solches rein »phänomenalen« Blicks. All das existiert nicht
im unendlich Flüssigen der gegebenen Empfindung, es ist daraus nur in herangehaltene, handliche Gefäße geschöpft. Begriffe werden derart reflexiv wie nie, und zwar alle Begriffe, ausnahmslos; der Gedanke macht sich klein. Nicht klein genug,
um nicht in ihm und seinen Folgen den schlauen Kreter sehen zu lassen, der sagte, alle Kreter seien Lügner. Indem er sich selbst beschimpft und aufhebt, meint er, jede wirkliche Aussage zu
schlagen und aufzuheben. Und räumt doch nur jene bürgerliche Sprache weg, die zu schwach geworden ist, um mehr zu sagen, als daß sie nichts mehr sagt.
285
Soziale Reflexionen
:
Ei
Dies Denken wieder lockert endlos auf, um nicht handeln zu
müssen. Es versteht jede Stellung so gut, daß es für keine sich zu entscheiden braucht. Bedenklich dies Wesen, wenn es, wie bei Mannheim, sich an geschichtlichen Triebkräften versucht. Es ist dann weniger »versuchend« als betrachterisch entspannend, nämlich Geschichte in die Standpunkte entspannend, die hinter-
einander die Zeiten über sich einnehmen. »Geschichte«, sagen derart Mannheim und seine Schule, »ist nur aus der Geschichte selbst sichtbar«, es gibt keinen Sprung aus dem notwendig teil-
haften, »perspektivischen« Blick auf einen objektiv erfaßbaren, durchgreifenden Gang des Geschehens. Das Machsche Modell erscheint hier als eine Art Schicksal der Geschichte als Wissenschaft, nämlich als »Soziologie«. Das Modell nun, womit heute Geschichte erfaßbar wird, ist vor allem das der Ideologie, das heißt, der wirtschaftlichen Zuordnung. Jeweilige wirtschaftliche
Zuordnung bestimmt aber nicht nur die Inhalte, sondern, nach Mannheim, auch noch den ökonomisch-materialistischen Begriff, den die Geschichte heuzutage, als im Industriezeitalter, von sich selber nimmt. Diese heutige »Perspektive« sei selber
nur eine wirtschaftlich zugeordnete und bedingte, folglich keine endgültige oder konstitutive; es gebe überhaupt keine endgül-
tige. So verbindet sich der bürgerliche Relativismus noch mit dem Ideologiebegriff, den er aus Marx gelernt hat, um diesen auf — Marx selber »anzuwenden«. Marx wird mit Max Weberschem Nominalismus und »Positivismus« verbessert; reichlich Lukäcs kommt hinzu und wird zu bürgerlichem Gebrauch taug-
lich gemacht, während Spenglers Kulturgruppen und Schelers » Typenlehre« dem Zweck wieder dienen, daß dem Perspektivewesen unterwegs ein Halt sei. Also wird jene Ideologielehre, die bei Marx ein Schlüssel zur bisherigen, doch erst recht ein Hebel zur künftigen Geschichte ist, nur noch zum Schlüssel: und zwar zu einem auf Zeit; und gar zu einem, der den Hebel selbst behebt. Alle Theorie, auch die marxistische, geht derart, nach ihren eigenen »Prämissen«, in eine sogenannte Soziologie des Wissens über und darin unter: es gibt ebenso eine ökonomisch zuordenbare und folglich relativierbare Strukturlehre des 286
_ proletarischen Gedankens von heute, wie es eine des konservativen zu Metternichs oder des chiliastischen zu Thomas Münzers
Zeit gegeben hat. Die Ideologen jeder Klasse, auch der proletarischen, leben hier als diskutierbare, als logisch völlig gleich-
wertige in der Schmetterlingssammlung der Kontemplation. Übersteigert diese relativistische Sozialphilosophie den Historismus, so schafft sie erst recht jeden Anschein von geschichtlichem Prozeß ab, mit ihm den durchgehenden Inhalt, welcher sich in der Geschichte mehr oder minder konkret berichtigt. Der Inhalt der Geschichte war marxistisch erkannt als die Beziehung von Menschen zu Menschen und zur Natur; der Prozeß ist die Dialektik der Klassenkämpfe. Mannheim dagegen bestimmt nicht nur die früheren Ideologien, welche über die Klassenherrschaft täuschten und, als undurchschaute, täuschen mußten, rein formal: nämlich als Zuordnung bestimmter Bewußtseinsinhalte zu bestimmten Gruppen, als Summe von Vorstellungen, welche
die bestehende Gesellschaft spiegeln und rechtfertigen. Sondern indem dieser Relativismus seinem ganz formalen Ideologiebegriff auch Marx unterworfen glaubt, entwurzelt er angeblich die marxistische Wahrheit und Wirklichkeit selbst; es entsteht
die alles begreifende Einfügung auch der proletarischen »Ideologie« in Gruppenvorstellungen, deren eine so wahr ist wie die andere, nämlich soziologisch wahr und nicht mehr. Übrig bleibt nur der Magen, der sich nicht selbst verdaut, die Skepsis, welche als letzter, leerster Endpunkt in sich selber spielt, ohne in An-
deres sich aufheben zu können als wieder in Skepsis. Übrig bleibt die sogenannte Leidenschaft des Forschens und ein Reflexionstrieb, der in der Geschichte alles sieht außer dem, was geschieht;
übrig bleibt freilich auch die Freude jener Parteien, die ihr Programm nicht auf Erkenntnisse gegründet haben, sondern auf Blutwille und Glauben, also der Fascismus, das katholische Zen-
trum. Dabei mußte sich diese Auffassung sogar von ABC-Schützen des Marxismus
ihre Kritik vorhalten lassen, als eine, die
bereits »theoretisch« einleuchtend die relativierende Entspannung des Marxismus verbietet. Das Proletariat, so wurde Mann-
heim mit Recht entgegnet,
hat eine völlig unvergleichbare
»Ideologie«, aber nicht, weil es bloß glaubt, eine andere zu haben, gar weil es so außerordentlich viel klüger wäre denn die 287
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früheren Klassen. Sondern das unterscheidet die proletarische »Ideologie« von anderen objektiv, daß es das materielle Interesse des Proletariats ist, keine Verschleierung der Wirklichkeit zu
entwickeln, vielmehr Einsicht zu gewinnen in die realen "Triebkräfte und die reale Tendenz dieser Wirklichkeit; indes es das materielle Interesse aller früheren Klassen ebenso war, daß fal-
sches Bewußtsein gebildet und über dessen Grenzen nicht hinausgelangt werde. Allerdings kennt die Mannheimsche Soziologie außer Ideologien auch noch mehr: sie übernimmt den Utopiebegriff aus dem »Geist der Utopie« und setzt ihn neben
die Ideologien; Utopien werden dann Vorstellungen, welche die gegebene Gesellschaft nicht spiegeln und rechtfertigen, wie die Ideologie, sondern unterwühlen und sprengen. Greift diese richtige Definition auch über das bloße reflexive »Staatsmärchen« hinaus, als das man Utopie bis vor kurzem allein verstanden und
kritisiert hat: so ist sie doch selber unvollständig und entbehrt vor allem-in ihrem Formalismusjeder klassenmäßigen Unterscheidung echter und toter Utopie. Kleinbürgerliche Utopien von heute etwa unterwühlen und sprengen doch nur sehr ungefähr, erst recht erfüllen sie nicht Mannheims
Kriterium:
daß
Utopien »immer der Wirklichkeit vorauseilen« oder die Wirklichkeit von morgen werden. Lediglich die klassenmäßig genau bestimmte »Ideologie des revolutionären Proletariats«, als die Lenin den Marxismus bestimmt hat, dürfte auch echte Utopie
genug enthalten und genug Utopie von heute, um »die Wirklichkeit von morgen zu werden«. Der Utopiebegriff der alles begreifenden Soziologen hat jedenfalls den sozialen Relativismus weder »unterwühlt« noch »gesprengt«, worin sich in der
Tat die jetzige Gesellschaft »spiegelt« und »rechtfertigt«; er wird sogar ein Spiegel von Spiegeln. Es ist das gewisseste Zeichen soziologischer Irrlehre und nicht etwa Furcht einer Erkenntnis, wenn
sich noch der Marxismus
»relativiert«, wenn
sich der entdeckte Hebel der Geschichte zur bloßen Vorstellung des niederen Proletariats zurückbildet, und hinter ihr ist wenig
mehr als tausend anders mögliche Gruppenträume auch. Ist die herrschende Klasse schon Spreu geworden und rettet sie nichts vor dieser Erkenntnis, so ist dieser Klasse freilich nützlich, auch
alles Künftige als Spreu und Unwirklichkeit zu denken. Und 288
kann doch nicht umhin,
sich den historischen
Leichenschein
auszustellen; und umgeht den dialektischen, den konkret-utopischen Ort so genau, als ob sie ihn sähe. Physikalischer Relativismus
Anders schließlich baut ein Denken ab, dessen Probe durchaus
auf äußere Dinge geht. Ein solches hat erst recht Begriffe auf Abbruch, um sich mittels ihrer physische Anschauung zurecht-
zulegen. Atome, Äther, die physikalischen Grundbegriffe werden im eigentlichsten Sinn Modelle, die sich immer wieder neu durchbrechen und umbauen lassen, denen bestenfalls ein »Ähnliches« in der Welt entspricht. Durchaus siegte Mach in der relativistischen Physik; Machs Modell-Anlage hatte Atom, Äther, Kausalität immer schon als mythische Hinzufügung zur
reinen Erfahrung bezeichnet. Die wirksamste Form gaben dem Machismus Duhem und Poincare; hier erscheint der Kalkül nicht
einmal mehr als denknotwendig, geschweige als naturnotwendig. Die geometrischen Axiome und physikalischen Prinzipien werden zu bloßer Übereinkunft, die Theorien liefern nur »Symbole« für die Praxis, erheben keinen Anspruch mehr auf abge-
spiegelte physische Wirklichkeit. Diese Mischung von Impressionismus
und relativistischer Denkkrise
ist in der neuesten
Physik zwar etwas zurückgegangen; Physiker wie Planck, Laue und andere treiben von Mach fort einer mehr »realistischen Weltansicht« entgegen, einer, die dem Atom Wirklichkeit gönnt,
auf Grund seiner möglichen Sichtbarkeit, und der Kausalität Geltung wenigstens in der euklidischen Umwelt. Jedoch diese »Realität« gelingt nur um den Preis, daß seit Planck und Ein-
stein der physikalische Relativismus in Ansehung des ganzen Weltalls wächst. Nun zerfällt das Weltall selbst in drei Teile; das geschlossene System der Physik, mit allen seinen Grundprinzi-
pien, springt gerade im neuen »Realismus« dreifach und disparat. Die atomaren Vorgänge bevölkern ein mikrokosmisches Gebiet, worin die Quantentheorie herrscht, dergestalt, daß das Geschehen imKleinen unstetigund unregelmäßig ist, nur mehr statistisch
erfaßbar, nicht kausal. Die astronomischen Vorgänge bevölkern ein makrokosmisches
Gebiet,
worin
die
Relativitätstheorie 289
herrscht, dergestalt, daß Uhren und Maßstäbe, wie sie auf der Erde üblich sind, im Himmelsraum versagen, daß in kosmischen Dimensionen weder Gleichzeitigkeit noch die Struktur euklidischer Geometrie anzutreffen ist. Der euklidische
Raum bedingt weder die kosmischen Bewegungen, noch reicht er überhaupt in diese herein; vielmehr
sind die Zusammen-
hänge des kosmischen Raums variabel, und es ist die Gravitation, welche den Massen die geometrischen Verhältnisse ihres Raumes erst bestimmt und ihnen damit, von Ort zu Ort, ent-
sprechende Bewegungsmöglichkeit schafft. Die bisherige Mechanik aber, die euklidisch-klassische, welche auch die der Technik
geworden ist, die Mechanik der Kausalität und Gleichzeitigkeit bleibt auf den Mesokosmos der menschlichen Umwelt. Mitte — Welt beschränkt. In dieser Dreiteilung sind also — weit davon entfernt, nicht relativistisch zu sein — ebenso die »Denkformen« erweitert (und folglich die »Aprioritäten« von früher selber historisch gemacht), wie die Begriffe von Stetigkeit, Kausalität,
Raum, Zeit zu bloßen »Näherungen« anderer Erfahrung gegenüber herabgesetzt. Der geschlossene Kalkül und seine von einheitlichen
Gesetzen
durchwaltete
Welt ist also auch hier
durchaus zu Modellen gezwungen, zur Aufgabe sowohl der Aprioritäten, welche angeblich für jede Erfahrung galten, wie zur Kapitulation vor einer immer unbeherrschter andrängenden Materie, einem rationalistisch immer weniger erzeugbaren, systematisch immer schwieriger ableitbaren Erfahrungs-Inhalt. Eine andere Frage freilich ist, letzthin: ob dem naturphilosophischen Relativismus
dieser Zeit, so zweifellos
er einer ist,
nicht doch im Objekt ein »Reales« entspricht, nämlich eines, das Trümmer als möglichen Objektzustand besitzt. Ist doch ungestörter Relativismus in der Physik viel unwahrscheinlicher als in der Soziologie (die mit ihren Bürgerproblemen sozusagen mit sich allein ist). Wirkt doch das »Objekt« im Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur unvergleichlich viel durchdringen-
der mit als in der sogenannten Geisteswissenschaft und ihren freischwebenden »Perspektivismen«. Es geht hier nur an, diese Frage anzudeuten, nicht sie, die
weit führt, zu verfolgen. Sie beträfe noch einen ganz anders lehrreichen Zerfall als den des bloßen Begriffs der äußeren 290
En _ Dinge. Sie ginge auf ein Taumeln der Dinge selbst, sei es, daß dieses jetzt erst erkannt wird, sei es aber auch, daß dieses jetzt erst, in solcher Stärke, »erscheint«. Sicher zwar drückt auch der _ Naturbegriff in erster Linie die Gesellschaft aus, worin er erscheint; ihre Ordnung oder Unordnung, die wechselnden Formen ihrer Abhängigkeit. Diese Formen kehren auch im Natur-
begriff überbauhaft wieder; so ist der urwüchsige, der magische, der qualitativ gestufte, zuletzt der mechanische großenteils als Ideologie zu verstehen. Die mechanische Naturwissenschaft war
sogar in besonderem Maß Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft ihrer Zeit, zuletzt
des Warenumlaufs;
insofern
wird
jetzt, mit dem Sprung dieser Gesellschaft, mit dem Andrang unbeherrschter Materie gegen den Kalkül, auch ihr Naturbegriff
löcherig und fiktiv. Aber es ist bereits die schwere Frage, ob dieser Naturbegriff,
als verdinglichender
und
mechanischer,
nicht außerdem, jenseits der bloßen Ideologie, ein Stück selber dinglichen, mechanisierten Weltinhalt repräsentiert hat. Marxistisch wird diese Frage zum Teil bereits positiv entschieden, man
traut gerade der bürgerlichen Naturwissenschaft, qua NaturWissenschaft, zu, ein Stück Natur real erkannt zu haben; obwohl sonst überall in bürgerlicher Kunst und Wissenschaft nur
Ideologie erscheint, mit der Wirtschaft als einzigem Kern. Am »Zerfall« bürgerlicher Naturwissenschaft dagegen, am Relativismus Poincares, sogar an den Revolutionen der neuesten
Physik wird ein metasozialer Bezug marxistisch oft verneint oder nur widerwillig zur Kenntnis genommen. Das alte bürgerlich-materialistische Naturbild bleibt marxistisch zuweilen bestehen; nicht nur als - im XVII. Jahrhundert — revolutionär geheiligt, sondern eben in der Form, wie es die gesättigte bürgerliche Naturwissenschaft, im XIX. Jahrhundert, vor ihrer Krise, ausnahmslos innehatte. Gerade für den alten Materialismus, scheinbar noch in seiner Haeckelschen Form, hat Lenin sein Buch »Materialismus und Empiriokritizismus« geschrieben;
gegen PoincareE und Mach. Vielmehr gegen deren Nachfolge unter Marxisten, gegen jene »Modernität«, welche auch noch den marxistischen Materialismus als »Metaphysik in der Naturwissenschaft« abzuschaffen suchte und die Dialektik (soweit sieüberhaupt nochbekannt war) erst recht. Unaufhörlich betont
291
N
7-3
Lenin gegen die Machisten: »Nicht die Körper sind Symbole der Empfindungen, sondern die Empfindungen sind Symbole (richtiger: Abbilder) der Körper« (Materialismus und Empiriokritizismus, 1927, $. 316); Lenin preist Haeckels Welträtsel ebenso als »Waffe des Klassenkampfs« (1. c., $. 358) wie als Beweis, daß echten Naturforschern keine »andere Erkenntnistheorie als die des naturwissenschaftlichen Materialismus möglich sei« (1. c.,$. 362 ). Aber es bezeichnet die Größe Lenins,
sich bei dem bloß ideologischen Charakter des physikalischen Relativismus nicht beruhigt zu haben. Einzigartig zwar verspürte er den Klassengeruch der reinen, metaphysikfreien »Erfahrungslehre«,
aber wahrhaft
dialektisch entdeckte Lenin in
dieser »reaktionären Philosophie« zugleich eine veränderte, eine notgedrungen elastische Haltung, eine Modell-Haltung in konkreterem Sinn; mindestens auf Grund eines veränderten Objekt-
Bezugs. Mit Nachdruck wiederholt Lenin die Forderung von
Engels:
der dialektische
Materialismus
habe
jede epoche-
machende Entdeckung auf dem Gebiet der Natur- und Geisteswissenschaften aufzunehmen und sich daran zu bereichern. Diese
Forderung gilt Lenin auch angesichts der spätbürgerlichen Physik, sofern sie ihm selbstverständlich nicht nur »soziologisch« interessant ist, nicht nur ideologischer Zerfall, idealistische Zerfallslehre; ja, diese Forderung gilt, in genau begrenztem Sinn,
sogar noch angesichts der physikalischen Machisten. »Sie weisen auf die Beschränktheit einer solchen Auffassung hin« (der ato-
mistisch-mechanischen Auffassung der Natur), »auf die Unmöglichkeit, sie als Schranke unserer Erkenntnis anzuerkennen, auf die Starrheit vieler Begriffe bei den Anhängern dieser Auf-
fassung. Dieser Mangel des alten Materialismus steht auch außer Zweifel; Verkennung der Relativität aller wissenschaftlichen Theorien, Unkenntnis der Dialektik, Überschätzung des mecha-
nischen Gesichtspunktes, — das warf auch Engels den früheren Materialisten vor.« Nur sagte sich Engels »von dem alten,
metaphysischen Materialismus los zugunsten des dialektischen Materialismus, nicht aber zugunsten des Relativismus, der in den Subjektivismus hinübergleitet« (1. c., S. 315). » Welche Lust«, fährt Lenin fort, nachdem er Duhems Belege besehen
hat, daß jedes physikalische Gesetz provisorisch sei, — »welche 292
_ Lust, offene Türen einzurennen! - denkt der Marxist, der die
langen Betrachtungen über dieses Thema liest. Aber das ist eben das Unglück der Duhem, Stallo, Mach, Poincare, daß sie die von dem dialektischen Materialismus geöffnete Tür nicht
sehen. Weil sie keine richtige Formung des Relativismus geben können, gleiten sie von diesem zum Idealismus. Mit einem Wort, der physikalische Idealismus von heute... bedeutet nur, daß eine Naturforscherschule in einem Zweig der Naturwissenschaft zur reaktionären Philosophie hinabgeglitten ist, weil sie nicht vermochte, direkt und von allem Anfang an sich vom metaphysischen Materialismus zum dialektischen zu erheben« (l. c.,SS. 315, 317). Diesen Schritt aber gerade wird nach Lenin die moderne Physik machen, als im Begriff, den dialektischen Materialismus zu gebären, in freilich schmerzhafter und verwickelter Entbindung. »Außer einem lebendigen und lebens-
fähigen Wesen kommen unvermeidlich noch gewisse tote Produkte, einige Abfälle zum Vorschein, die in die Kehrichtgrube gehören. Zu diesen Abfällen gehört auch der ganze physikalische Idealismus,
die ganze empiriokritische
Philosophie samt
dem Empiriosymbolismus, Empiriomonismus und dergleichen mehr« (1. c., S. 318). Kurz, bei Lenin steht das Problem bereits so, daß der mechanische Materialismus in vielem zwar ein Stück Natur, wenn auch fehlerhaft und einseitig, »widerspiegelte«, daß aber erst recht der relativistische »Zerfall«, außer seiner ideologischen Nichtigkeit, ein Stück konstitutiver Natur, nämlich die des dialektischen Materialismus in sich wirkend habe. Lenin also gibt nicht nur dem unzerfallenen, mechanischen Natur-
begriff die Ehre, die unzweifelhafte und relativ konkrete, den Materialismus, wenn auch fehlerhaft und einseitig, wieder entdeckt und genauer erfaßt zu haben. Er unterscheidet auch den
eigentlich physikalischen Relativismus (der die mechanisch geschlossene und einheitliche Starre lockerte) genau von dessen miserabler Philosophie, nämlich dem Empiriokritizismus (der überhaupt keinen Begriff auf Natur konkret anwenden ließ). Lenin erkennt im Elastischwerden physikalische Begriffe und Prinzipien durchaus einen Übergang, einen forschenden Übergang zum dialektischen Materialismus. Der Naturinhalt selbst freilich hat, genau wie er ist, für Lenin immer bestanden, 293
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unabhängig von jedem menschlichen Naturbegriff. Wie das Bewußtsein der Zeiten nur die mehr oder minder trübe Spiegelung der realen Klassenkämpfe und -Inhalte ist: so laufen die Naturvorgänge unabhängig vom Bewußtsein in dialektisch-realer Notwendigkeit ab. Die historisch aufeinanderfolgenden Naturbegriffe sind erst recht nur ihr Spiegel, geben sie erst recht nur nach Maßgabe der jeweiligen Gesellschaftsform und ihrer Naturbeherrschung wieder. Die fortschreitende Verwandlung der Dinge an sich in Dinge für uns (nach dem Ausdruck von En-
gels) berührt die reale Ordnung der Dinge nicht, sondern nur die Erkenntnis dieser Ordnung; wobei materialistische Zeiten
die adäquatesten zu dieser Erkenntnis waren. Aber freilich fordert gerade dieser Spiegel-Standpunkt seine dialektische Subjekt-Objekt-Ergänzung: denn die »natürliche Notwendigkeit«, wird sie objektiv richtig erkannt, so ist ist sie beherrschbar, und ist sie beherrschbar, so wird sie verändert; hier greift also der Naturbegriff einer Zeit, und zwar bereits der kapitalistischen,
durchaus in Natur ein und läßt sie an Geschichte teilnehmen. Weiterhin enthält die Ideologie einer Zeit außer der Verschleierung von Klassenherrschaft ebenso einen unzweifelhaften
Überschuß qua Überbau, qua Kulturerzeugung, jenen Überschuß, der auch nichtrevolutionärer Vergangenheit gegenüber das Problem des kulturellen »Erbes« aufwerfen läßt: sollte es also ein Problem des Erbes auch in der Natur geben? Dergestalt, daß in den einzelnen historisch aufeinanderfolgenden Naturbegriffen - den urwüchsig animistischen, den magischen, den
qualitativ gestuften — außer der Ideologie aufgehobene Momente des großen 'Tendenzwesens Natur mitbezeichnet, mitinformiert worden wären? Zweifellos ist der dialektische Materialiimus die höchste bisherige Realeinsicht in die Natur; er ist im Bezug auf die Natur ein erlangtes Ineinander von Taumel
und Notwendigkeit, von objekthaftem »Relativismus« und »Gesetz«. Indes der physikalische Relativismus von heute, als Zer-
fall der Mechanik vom Objekt her, macht auch für die Möglichkeit früherer Bestimmtheiten als relativer Realbestimmtheiten in der Natur empfindlich; so daß Naturdialektik nicht nur die mechanische Naturwissenschaft von gestern, sondern ebenso gewisse frühere, gerade qualitativ-gestufte Elemente als
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aufzuhebendes, aufgehobenes, wo nicht die Mechanik überschie-
Bendes Material hätte. Das ist der Inhalt der schwierigsten, auch gefährlichsten Frage, die am Anfang dieses Absatzes gestellt wurde: was der Zerfall des mechanischen Begriffs für die natürlichen Objekte selbst auf sich habe. Diese Frage taucht bei der Behandlung des physikalischen Relativismus und seiner Bedeutung im Umzug zwar auf, doch sie kann dieses Orts nicht mehr als angedeutet, nicht mehr als ausgezeichnet werden; denn sie sprengt den Rahmen des spätbürgerlichen Zerfalls ebenso, wie sie den Rahmen jedes Mechanismus sprengt, wie sie » Ausgelassenes« im mechanischen Trümmerzustand wieder bemerkbar macht. Der spätbürgerliche Geist hat jedenfalls auch hier einen Hohlraum gebracht; er ist ein Flug über Luftlöcher geworden und der geschlossene, abgeschlossene Bogen nicht mehr seiner. Ganz
anders als beim soziologischen Zerfall des Wirklichen,
viel direkter und positiver, gewinnt sich aus dem naturphilosophischen ein Zerfall, ein Zweck der Übung, ein Zweck für den Marxismus selber. Die neuen Nominalisten haben keinen marxistischen Inhalt mitzerstört, sondern nur einen, den der Marxis-
mus höchst uneigentlich mitberührt hatte oder zuweilen noch mitberührt, den gerade Engels mit Feuer und Schwert verfolgt: nämlich den Inhalt des quantitativ-mechanischen Materialismus,
als eines fertigen, geschlossenen. Als Materialismus hat er die mythische Jenseiterei im Christentum zerstört; aber als mechanisch geschlossener Materialismus war er selbst wieder Mythologie geworden. Eine astralische zu herabgesetztem Preis; denn die Hypostase des Geschicks, der »Notwendigkeit«, der antiken
»Ananke« lebte in diesen fertigen Determinismen wieder auf. Nach ewigen, ehernen Gesetzen muß aber kein Mensch seines Daseins Kreise vollenden;
auf die Dauer
sind sie nicht ewig,
weder in Geschichte noch in Natur. Wenn daher die naturphilosophischen Relativismen und Intermittenzen dem zukünftigen Menschen keinen Boden gebracht haben, gewiß nicht, so haben
sie ihm wenigstens einen falschen entzogen.
295
GRUNDSTOCK
DER
PHÄNOMENOLOGIE
.
Nicht oft haben Denker ohne sich selbst begonnen. Das Abtun seiner ist nur einzelwissenschaftlich üblich, gerät dann auch nicht schwer. Denn Forscher brauchen nicht persönlich bedeutend zu sein, nicht selber ein Stück Dasein außerhalb ihrer Arbeit zu bedeuten. Ihre beste Eigenschaft ist Fleiß, Genauigkeit, Treue
im Kleinen; als ihr Glück gehört ihnen lediglich zu das Glück des Findens. Dies Ichlose gilt nicht bloß für Mittlere, sondern bis sehr hoch hinauf; ist doch der wissenschaftlichen Arbeit bisher wesentlich, unabhängig vom erlebenden und auffassenden
Subjekt zu sein. Eigene Farbe, vielleicht Tiefe besteht bestenfalls nebenher; ebenso Ortsgefühl seiner und seiner bürgerlichen Lage in der Zeit. Daher denn die möglich nichtigen Erscheinungen außerhalb ihrer Arbeit; daher zum Anderen die naiven Urteile, sobald Gelehrte zum Tag sprechen oder Historiker politisch werden. Erst in letzter Zeit wurde ihnen wenigstens die
Klasse scharf, der sie zugehören. Doch die eigentlichen Denker sahen selten so gesichtslos drein. Ja, vielleicht zum erstenmal ist an Husserl der Fall, daß einer
ihrer Bedeutendes »leistete«, ohne es zu haben. Durch mühselige Arbeit zunächst auf sprach- und zeichenanalytischem Gebiet, einem rein einzelwissenschaftlichen. (»Forscher« nannten sich die Jünger der ersten Husserlschule mit Vorliebe; das Denken
war noch mehr grammatisch, »die Rose ist rot« sein häufigster Inhalt.) Sodann war das nicht vorhandene Personsein durch die Neuscholastik überdeckt, wo nicht ersetzt, welche Husserl durch Franz Brentano überkommen war. Ein ganzes Herbarium ehemaliger Vitalität, die Fülle alter Gesamtanschauung wurde dadurch ins Forschen eingeliefert. So war in bestimmtem Sinn auch hier nicht philosophische Person erforderlich, sondern wieder nur das Glück des Findens; die Aufnahme vergessener intentio und adaequatio. Das durchtönende Plus, ohne das es keine
behaltbaren philosophischen Gedanken gibt, ist derart durch eine Art Lombard ersetzt: und Husserl hat mit der geliehenen
Summe gearbeitet. Alle wichtigen Denker aber hatten ihr Plus als durchtönend, als »personans«, als »Person« an sich selbst; nicht in individueller oder auch eigenwilliger Weise, sondern 296
als »philosophisches Plus«, bezogen auf eine Gesamtanschauung und vor allem auf einen Grundinhalt, der das Denken des Klein-
sten bestimmt und sich zuordnet. Es gibt dies philosophische _ Plus so wie es ein poetisches gibt; trotz der ganz anderen Haltung, trotz des durchschlagenden Erkenntnis- und Wirklichkeitswillens, welcher den philosophisch eingezahlten Überschuß
vom poetischen trennt. Kurz, die bedeutenden Denker waren stets ebensoviel »Köpfe«, als solche stehen sie nicht nur »auf der Höhe ihrer Zeit«, zeigen sie nicht nur das stärkstmögliche Bewußtsein der Zeitinhalte und der nächsten, sie heben auch in ihrer Zeit Sachverhalte herauf, welche darin nur angelegt sind
und des philosophischen »Durchtönens« durchaus bedürfen. Selbstverständlich gehört Husserl in nichts zu den bedeutenden Denkern (dieses genau bekannten Stils) und wird doch wahr-
scheinlich, aus angeführten Gründen, ziemlich lange als »Methode« behalten bleiben. Mit den eklektischen Bettelsuppen, wie
sie fünfhundert »Philosophen« zu jeder Zeit aufgießen, um ebenso weggegossen zu werden, hat Husserl nichts gemein. Merkwürdig auch, welch verschiedene Züge, hier die Schelers,
dort die Heideggers, in schlichter Bedeutungslehre präformiert waren. Aber das schwache Ich ließ sich bei dieser Denkart doch nicht ganz verleugnen und wirkte ein. Als mittleres unter der Höhe der Zeit, als eines, das allerlei Abgelegtes unvertreten, ohne eignen Einsatz mit sich führt. Bürgerliches Ich, das sich nur scheinbar ausläßt, ist in der naiven Hinnahme alles dessen, was
»an sich einsichtig« zu werden scheint und doch nur die Einsicht eines Warendenkens ist. Die mangelnde Gesamtanschauung rächt sich vor allem in den Mitteln, womit der »subjektive«, also schwebende Idealismus
»überwunden«
werden soll. Hus-
serls »Logische Untersuchungen« begannen deskriptiv, gegen jede psychologisch-genetische Erklärung eines Sachverhalts (Lipps), aber auch gegen jede transzendentale Erzeugung, welche ihr Sein nur im Denkverfahren hat (Cohen). Die Phänomenologie richtete sich gegen psychologische, relativistische Idealisten so gut wie gegen transzendentale, gegen die quaestio fiendi
der Erkenntnis so gut wie gegen ihre quaestio juris. Ganz fern dieser allemal noch subjektivistischen Bewegungen galt allein 297
die quaestio essendi: als Beschreibung unableitbarer psychischer Gegebenheiten, sodann als die eigentlich logische Untersuchung der »Wahrheiten« an sich. Die quaestio essendi löste sich im Ganzen als versuchte Anschauung der Sachheit in den Sachen, kurz, als Seinsordnung erfaßt durch » Wesensschau«. Bewußt-
sein überhaupt freilich, als »protestantische« Subjektivität, blieb in dieser scheinobjektivistischen Philosophie ebenso erhalten, ja wurde beim späteren Husserl ebenso pointiert wie der Um-
kreis einer geschlossenen, ständisch, »katholisch« gestuften Vernunft. Einer Vernunft aber, welche den bürgerlichen Idealismus
nicht so sehr verlassen, als um den viel älteren platonisch-scholastischen vermehrt hat; das geringe Personans ließ beide unentschieden nebeneinander. Der »katholische« Objektivismus ist gewiß stärker; doch die Katastrophe, die er in Husserls Schule schließlich gefunden hat, ist im »protestantischen« Bewußtsein überhaupt bereits angelegt. Aus Husserls Schule kam nach dem objektiven der nihilistische Scheler, zuletzt zog Heidegger die Phänomenologie sozusagen verkehrt an, ihr Inneres nach außen gewendet, als Kierkegaard auf ontologisch — und all das im Namen der Husserlschen Methode. Nur dadurch, daß in Husserls Grundkonzeption kein Personans arbeitet, sondern
verschiedene aus verschiedenen Zeiten. bloß aufgenommen worden sind, konnten so verschiedene »Bezüge zum Sein« in seiner Schule auch explodieren. Dies kam freilich erst zutage, nachdem die Phänomenologie auch material gegen den Relativismus, als den subjektivistisch zerbrochenen Seinszusammenhang von heute, Krieg führen wollte. Er endete beim letzten Scheler mit der Niederlage der »katholischen Weltfülle«, bei
Heidegger höchstens mit einem kleinen Sieg, mit einem Pyrrhussieg des existentiellen Subjekts, nominalistischen Objekts in der Phänomenologie. Von Scheler bis Heidegger: es ist der Rückzug des expansiven, weltfrohen Ich zum
introvertierten,
zur einsamen Seele in des Teufels Wirtshaus, als das Luther die
Welt bezeichnet hatte. Es kam die »Konkretisierung« des Bewußtseins überhaupt (das bei Husserl nur ein ganz allgemein
idealistischer Beziehungspunkt
gewesen war) zur Ontologie
eines inneren Seins: durchbrochen von Bewegung, aber nihilisti-
scher, gekrönt mit Aussicht, aber zum Tode. Doch bevor auf 298
nn2 . dieses eingegangen wird, folge eine kurze Erbschau der Hus_ serlschen Methode in ihren verschiedenen Arten und Möglichkeiten. Wie diese 1917 erschienen, als die Husserlschule noch sozusagen unter sich war, und wie sie großenteils weiter erscheinen. Denn die Lehren einer Methode, welche dickste Scholastik
auf den Spuk eines Leerraums anwenden will, sind nicht gering. So »unpersonant« dieses Philosophieren ist (oder gerade deshalb): es sind immer noch Handhaben darin, zum Teil bisher unverwandte und solche, deren Zeit vielleicht noch nicht vorüber ist. Man weiß erstens genauer seitdem, was Meinen und Denken selber seien. Sie wurden als Akte beschrieben, nicht aus wissenschaftlichen Früchten erst erschlossen. Zweitens machte Husserl
den Sinn der Worte scharf, wie er genau ihnen zukommt. Die Sprache wurde auf ihre vorwissenschaftliche Bedeutung hin verdeutlicht, etwa auf das Zackige, das Löwenhafte und anderes an sich. Wer sich bloß Begriffe verdeutlicht, weiß freilich noch nichts über ihre wirklichen Gegenstände; sonst wäre auch der wortklauberische Eulenspiegel ein guter, wo nicht der beste Phänomenologe. Die bloße Bedeutungsanalyse des Löwenhaften ergibt selbstverständlich keine reale Erkenntnis der Löwen (schon deshalb nicht, weil das Löwenhafte ja nicht bloß an Löwen vorkommt, es gibt auch löwenhafte Männer, es gibt, wie
Keller sagt, den »goldfarbenen Löwen des Weins«). Aber ist
die wirkliche Welt auch kein Bilderbuch von »Bedeutungen«, so bleibt immerhin sehr wünschenswert zu wissen, was unter Löwenhaftem, besser noch, was unter Stück, Vertrag, Verbind-
lichkeit und ähnlichen Begriffen noch unterhalb ihrer »Anwendung« zu verstehen sei. Die Kenntnis dieses formellsten »Sinns«
ist nützlich, obwohl seine Er-Kenntnis erst material geschieht, möglicherweise auch, als ökonomisch-historische Erkenntnis, vom formal-evidenten Sinn nichts mehr übrig läßt. Drittens
hob sich Husserls Phänomenologie ohnedies, über solche Bedeutungen, auf die Sache selbst hin. Der intendierende Aktbezug auf etwas verschwindet, ebenso tritt der »protestantische«, der neukantische Bezug des Bewußtseins überhaupt auf
dieser Stufe zurück. Vor allem aber wird die Existenz des Geschauten »eingeklammert«; was dann noch übrig bleibt, ist der 299
objektive Sachverhalt, ist das sich in den verschiedenen Empfindungs- oder Erinnerungsreihen stets als dasselbe gebende »Wesen«. Der Blick treibt hier völlig nach außen, in das weite Reich »schlichter, wie kategorialer Anschauungen«, in eine
strukturell genau vorgeordnete, jeder Subjektivität entzogene » Wesenswelt«. Freilich ist sie nicht nur der Subjektivität, sondern eben auch der Existenz entzogen; daher läßt sich mit Phänomenologie von allen Gegenständen handeln, und sie »ent-
scheidet« sich für keinen, sie braucht an keinen zu »glauben«. Der Primat der Anschauung über den Begriff, der Ontologie über das endlose Methodisieren
hebt die idealistische Unterernäh-
rung hier nicht auf: Die Diskutierbarkeit von allem und jedem wird nur »anschaulich«. Die Wand, die ein Irrer halluziniert,
und die wirkliche Wand hier rechts vom Schreibtisch ist nach ihren »Wesenskonstituentien« dieselbe (so wie bei Kant hun-
dert mögliche und hundert wirkliche Taler »logisch« dasselbe waren). Ja, es wurde in Husserls Schule von Interessierten eine Phänomenologie des Teufels geliefert, mit allen Bestimmtheiten seines - in Berichten, Sagen, Theologien vorkommenden — Wesens; nur die Frage der Existenz eben wurde in kontempla-
tiver Zurückhaltung nicht gestreift. Und was den Primat der Anschauung über den Begriff angeht, so ist es gewiß eine interessante, auch scheinkonkrete Umkehrung, daß Anschauung nicht mehr als ein zu Überwindendes, Trübes am Anfang, sondern am erfüllenden Ende steht; daß der Begriff bloßes Geld wird, um Anschauung zu kaufen, bloße Intentionsspecies, die sich erst
in der schlichten oder kategorialen Anschauung »erfüllt«. Indes auch die konstruktive Methode fehlt hier nicht so ganz wie vor-
gegeben, das Bürgertum kann nicht Konstruktionen völlig beiseitelassen, um ein reines Weltauge zu werden. Husserl hat nur die erzeugende Konstruktion (gegen die sich immer unaufhalthaltsamer das Ding-an-sich-Problem erhob) durch gewisse Anleihen bei der nachdenkenden Konstruktion der Scholastiker zu verbessern gesucht. Er überbot nur den Neukantianismus, der an der »Impertinenz der Gegebenheit« (Cohen) zugrunde ging,
durch die gewiß qualitativere und stoffnähere Ratio der Scholastik. Aber »Wirklichkeit« ist damit nicht erschienen, sondern lediglich eine Art sinnlicher Logik, eine visuelle Kategorienlehre
300
Y scholastisch-ständischer
Ordnung.
Viertens schließlich glaubt
sich dies Beschreiben eines Einblicks fähig, der an gewissen hohen Begriffen ohne weiteres die äußere Anschauung hinter
sich läßt. Treusein etwa, überhaupt alle moralisch-religiösen Begriffe erfüllen sich nicht als äußere Wesenheit, sondern nur als innere an sich selbst; für jede äußere bleiben sie »vorbildlich«.
Fragt Richard von St. Viktor, ob dieses der Prüfstein vollkommener Liebe sei, daß beide Liebende wünschen, es möchte ein Dritter an ihrer gegenseitigen Liebe derart teilnehmen, daß
dieser von beiden im gleichen Maß geliebt werde, wie sie sich gegenseitig lieben: so bezeichnet diese Wesensdefinition eine Einleuchtung »umweltlicher«, »ontisch-normativer« Art, eine Stelle, wo das Denken gleichsteht mit einem Sein, dem nicht nur
äußere Anschauung, sondern jede Realisierung erst nachkommt. Hier intendiert kein nach außen zielendes Meinen und Denken,
sondern ein »Eingedenken«, und es hat seine Evidenz nur am eigenen Ort und an eigener Stelle, nämlich in moralisch-mystischer Gestalt; - ein sehr fern gewordener Sinn der Phänomenologie, in ihr heute nicht mehr vorhanden, aber trotzdem darin
angelegt. So offene Fragen lassen sich an diese Denkart stellen, ist sie
doch selbst vierfach oder noch mehr geteilt. Aber die Wirkung der Platonismen war zunächst weniger offen, war gedeckter, nämlich eine Füllung des wissenschaftlichen Hohlraumes mit
Formen. Als Formen der sogenannten Gestaltschau heben sie nicht nur den abstrakten Kalkül, sondern auch jede Tendenz auf: wo das Palmenhafte, Löwenhafte, Apollinische, Magische,
Faustische ins » Wirkliche« trat, wurde es sogleich ein »Gewachsenes« oder der Tendenz ein »Schicksal«. Gestalten sind logisch, selbst geschichtlich unleugbar, aber nicht als unbewegte (als diese verdienen sie das Kommando: Feuer! — denn sie sind das Schibboleth purster Reaktion und »überwinden« den Rela-
tivismus um den Preis rückläufigster Statik- und StändestaatsIdeologie). Gestalten in der Geschichte sind nur als SpannungsFiguren, als Tendenzgestalten, als Versuche der unbekannten Lebensgestalt, die so wenig ist, daß gerade deshalb die Gestalten
immer wieder springen und die Geschichte weitergeht. Indem mit oder ohne Husserl Wesensschau getrieben wurde, hat man 301
hei a
in den weichenden Zusammenhang des Kalküls feudale Häuser,
einen ganzen Kranz reaktionärer Geschichts- und Schicksalsburgen gesetzt. Das Löwenhafte
und die andern weltlichen
Arten von »Morphe« sind aber weder im Begriff noch gar in ihrer realen Erfüllung fertig, letzterdings überhaupt nichtseiend,
also keine Gestalt dessen, was sich in der Tendenz real gestaltet. Jedoch auch die »unweltliche« Art des vierten und letzten Sinns
der Phänomenologie, worin die Definition schon der Inhalt zu sein und vor allem der Prozeß zurückzuliegen scheint, als wäre hier ein Moment völliger Gestalt: auch hier ist noch keine Berührung mit dieser, noch nicht die Sache selber in natürlicher Größe, noch nicht jene »Deckung«, welche die Makarie der Wanderjahre mit dem Sonnensystem (gar mit einem mystischen)
einzunehmen intendierte. Ernst und Tiefen solch eigentlicher visio beatifica stehen hier nicht zur Frage: wichtig ist, daß die Phänomenologie ein letztes Mal den Raum mit substanzialen Formen füllen wollte; mit sonderbar säkularisierten » Visionen«, ohne untere Materialgrenze, in konkreter Endlosigkeit. Wich-
tiger ist der bald darauf geschehene Sprung der ontologischen Formenlehre in der Welt, beim Versuch, sie gegen den relativistischen Hohlraum
zu halten. Die Dinglichkeit hörte auf,
Husserls »allgemeine Wahrheiten« wie die »Wesengesetze der spezifischen Gegenstände« zogen sich bei zunehmender Relativierung auf die sogenannte Existenz und Existenzanalyse zurück — die »Eidetik der Sphären« stürzt ein. Und statt der rein
idealistischen Unterernährung bleibt lediglich eine unreinere Ernährung: durch Erweis statt Beweis, durch schattenhafte An-
schauung statt des Begriffs.
DER
FÜLLE
»ONTOLOGIEN« UND VERGÄNGLICHKEIT
Da niemand dahinter, blieb dies neue Sehen lange matt. Es begnügte sich damit, zweimal zwei als gleich vier zu haben oder die Rose eben als rot. Erst zehn Jahre nach Husserl ging der Weg weiter nach außen, und zwar mit Menschen, die wollten, was sie 302
& zu sehen bekamen. Statt des Teilens und Auflösens ging der Be-
griff auf Ganzes; dieses wurde im Kleinen wenigstens gesucht.
Es kam, wie bemerkt, Sehen von »Gestalt«, das breitete sich zunächst nur einzelwissenschaftlich und harmlos aus, an einfachen
sinnlichen Wahrnehmungen, am Ablauf von Krankheiten und psychischen Vorgängen. Der Gestaltlehre ist hier das Ganze nur mehr als die Summe
seiner Teile und bleibt, als Melodie, auch
wenn alle seine Teile andere geworden sind. Das Ganze tritt, als leibliche Konstitution, zu den Teilen auch in eine Art kausaler Beziehung, so daß, wenn zwei Gestalten dasselbe leiden, es nicht
dasselbe ist. Wobei das analytische Denken dennoch beibehalten wird und sich auf eine Weise, die an wechselnde Modelle erinnert, mit dem gestaltsehenden austauscht. So daß eben Bazillen
und Pechvögel, Analysen und Konstitutionen, Virchow und die Temperamente zugleich goutiert werden. Etwas ärmlich schwebt hier Gestalt noch in der Luft, ohne daß die Welt, die ziemlich alte Welt zu sehen ist, worin sie allein möglich wäre. Ein selt-
samer Versuch, rücksichtslos zu forschen und doch komplex sein zu können. Er verlangt, in verschiedenen Arten Sein wirklich zu gründen. Das erst hält Gestalt als solche, als eine weder scheinbare und
zusammengesetzte noch im Fluß vergehende. Vor allem Scheler trieb hier Husserl material weiter, über die bloß begriffliche Schau hinaus. Er hat zwar nicht das Zeichen gegeben, wohl aber den Raum bestimmt, worin sich die ganze Gestaltlehre, von Gelb, Wertheimer, Köhler, sogar Kretzschmar angefangen bis hinauf zu Spengler ausgebreitet hat. Und von hier wird vollends deutlich, wozu, zu welchem Ende die scholastisch-objektivisti-
sche Komponente Husserls heute brauchbar geworden ist. Die wissenschaftliche Gestaltlehre der Wertheimer und anderen Psychologen ist davon abzutrennen (Meinong etwa zeichnete die
Melodie und ähnliche Gruppen bereits als »Gestaltqualitäten« aus, als weit und breit noch keine Statik sichtbar war), Modelldenken war eingemischt, auch Begrenzung auf ganz bestimmte
Erscheinungen.
Kretzschmar
Konstitutionslehre
freilich oder
die mannigfache
stehen bereits im fascistischen
Übergang;
dieser wird perfekt bei den veritablen Gestalt-» Visionären« wie Spann, dann (geographisch) bei Banse und Passarge, dann bei 303
Dacqu& und seinen biologischen Dominantarten, dann selbstverständlich bei Spengler und eben bei Scheler, in seiner anthropologischen und anders numerierten ethischen Typenlehre. All das übt mißverstandenen Goethe, überbaut ihn mit scholastiziertem Platon, fügt gegebenenfalls Sippen-, Sprach-, Staats- und andere »Bestands«-Theologie aus dem romantischen Vormärz hinzu, nutzt die unleugbare Verführung des Ruhe-, die durch-
sichtigere des »Ordnungs«-Begriffs; so fixiert sich »Gestalt« als Ersatz für »Gesetz«, als schlechthin invariante Wesenheit, als feudale Stauwehr im historischen Fluß. Wir wiederholen: es
gibt selbstverständlich Gestalten im logisch-kategorialen Sinn, es gibt sie ebenfalls, wenngleich sehr relativ, in der einzelwissenschaftlichen »Erfahrung«, nicht nur als Melodie, auch als
»Periode« in der Geschichtszeit, als »Spezies« in der Biologie, als »ästhetische Figur«, wo nicht »Figurentendenz« in der betrachteten Landschaft. Wir betonen aber desgleichen: das alles sind nur relative Konstanten, ja, über die Hälfte, heutzutage, Reflexe von Warenbildern und undurchschauten Produkt-Fetischen; und
unterstreichen das bei Husserl Gesagte: echte Gestalten sind in Geschichte und Welt nur als Spannungs-Figuren, als Tendenzgestalten, als Versuche der unbekannten Lebensgestalt, die so wenig bereits ist, daß gerade deshalb die Knotenbildung immer wieder springt und die Geschichte weitergeht. Soviel über dies Schibboleth und die -— freilich temporäre - Rolle, die es im Schelerismus spielt. Mit Scheler selbst lebte das gesamte Schauen erst auf, wurde weltläufig. Er brachte keine echte, aber e’ne irteressante »Person« in die Wesensschau von heute. Eine widerspruchsvolle und gezeichnete, eine leicht diabolische aus der Großbürgerklasse, aus der Ordnungsklasse, eine breit interessierte und nicht ohne
Phosphor. Sie zahlte ihre Farbe der Phänomenologie ein (statt des formalen Bewußtseins überhaupt), sie erwies auch wider Willen, was bei Husserl schon bemerkt wurde: daß nämlich Konstruktion in der Phänomenologie nicht fehlt: daß der erkenntnistheoretische Begriff, der der Anschauung vorhergeht,
je nachdem wie er zuvor eingesetzt und vor allem auskonstruiert worden ist, die ihn erfüllende Anschauung bestimmt. (Bergson etwa »versetzt sich gleichfalls in die Sache«, trifft aber dort
304
_ lauter fließendes Leben, wo die Husserlschule, welche nicht Schelling, sondern einen scholastischen Platon in ihrer Erkenntniskonstruktion hat, lauter Statuen »sieht«.) Scheler ließ diese Konstruktion zwar unausgesprochen, implizite, als wäre sie völ-
lig in den intendierten Gegenständen selbst, nicht in seinem feudalen Idealismus; er gab den erkenntnistheoretischen Kate-
gorien bestenfalls nur eine »vauswählende« oder »entdeckende« Funktion, den »ewig vorgeordneten« Wesenheiten gegenüber. Aber gerade diese Wahl oder Entdeckung hat sich in Schelers Entwicklung so oft verändert, und die Anschauung folgte der veränderten Einzel- und Grundspecies so völlig nach, daß man
das »Ewige« nur in Schelers reaktionärer Erkenntnistheorie, nicht in seinen so wechselreichen Statuen »vorgeordnet« sieht. Scheler begann mit Untersuchungen seelischer Akte, fügte sodann
einzelwissenschaftliche
Befunde
bei, die
die
formale
Bedeutungsanalyse füllten und je nach katholischem Bedarf »wesentlich« gemacht wurden. Danach folgte der Scheler einer geplanten » Weltphänomenologie«, eines Gangs in den »kosmischen Gottesgarten reiner Wesensbestimmtheiten«, wobei Goethe sich vortrefflich mit allen möglichen Ruhebildern zu verbinden hatte. Hier eben eröffnete sich der Raum des Palmenhaften an den Palmen, der geprägten Form, die lebend sich entwickelt, der sich
ausgestaltenden Morphe, Spengler hat sie danach recht überbietend an Kulturen illustriert und der analytischen Forschung, auch allem Unvollendeten in der Geschichte entgegengesetzt. Scheler indes ging diesem Gottesgarten weniger in der Welt nach als in der Ethik; so brachte er, statt des kantischen Formalismus,-eine materiale Ordnung katholisch-sittlicher Werte zur Erscheinung, eine »Inhaltsethik«. Diese materiale Ethik war
teils an bürgerlichen, teils an mittelalterlich-feudalen Werthaltungen als Wahrnehmung eines personalen Wertseins geordnet; von vitalen und geistigen Rangstufen bis zum Heiligen, vom Willen in der Welt bis zum begnadenden Ideenhimmel aufwärts. Die Religions-Metaphysik Schelers (»Vom Ewigen im Menschen«) fügte das Nacherlebnis der jedem zugänglichen natürlich-religiösen Akte, die Rezeption der offenbarten Akte und Akt-Inhalte hinzu; eine Flucht in höchste Substanzwerte,
eine versuchte Kathedrale in den Sümpfen des Relativismus. Zu 305
den vielen Wegen nach Rom war hier einer der metaphysischen Halbtalentiertheit gekommen oder jene Beziehung, welche nicht
aus Glaube, sondern aus Systemschwäche die alt-transzendente Ordnung in ihre halbschürige einsetzte. Mit historischer Großartigkeit, selbst Korrektivgewalt leuchteten nun die Hierarchien des feudal-katholischen Idealismus auf, deren Ruhe die katho-
lisch befriedete oder zufriedene Welt durchwaltet. Doch gleich danach kam gerade dieser Kathedrale der Sprung, kam Schelers letzte Wendung und der Untergang des Objektivismus: unerfüllte Akte rebellierten gegen das heilige Sein, der Gottesgarten ewiger Ganzheiten verdorrte um die Gralsburg, Klingsors Zaubergarten drang vor, Parsifal schwang kein Kreuz darüber. Der »Drang«hob diekatholische Grundkonstruktion, die Möglichkeit einer ideal-realen Ontologie in der Welt auf; der Relativismus,
gegen den sie gegründet war, hatte gesiegt. Und zwar, da nach wie vor Dialektik der Geschichte ausblieb, Statik weiter herrschte, siegte der Relativismus sogar als theologischer End-
zustand; dem Untergang der bürgerlichen Klassenwelt gemäß, auch noch in ihrer mittelalterlichen Armierung. Der letzte Scheler mußte
die Gottesruhe
der Kontemplation,
die Rentner-
existenz übernommener Frömmigkeit einem »moralisch-heroischen Atheismus« ausliefern, einem Gott, der nicht ist und den
Menschen nur mehr als Kämpfenden und ungarantiert Hoffenden, nicht mehr als Gläubigen hat. »Das große Sehen, das durch
die Welt geht«, verlor seine Gegenstände, den gesamten Nachschein gestufter Harmonie. Der einsame Mensch in einer zusammengebrochenen Ideenwelt: diese » Anthropologie« blieb das letzte Wort und die Zuflucht einer Phänomenologie,
welche
buchstäblich mit Gott und der Welt ausgezogen war. Welche allen Subjektivismen und Relativismen gegenüber strengste Ontologie hatte gründen wollen, Lehre der ontischen Veste. Bald danach ging ein anderes Sehen einwärts, schränkte sich
aber sogleich darauf ein. Heidegger hob von vornherein mögliches Sein nur als innen »befindliches« aus, ja, als ein auch hier
fragwürdiges, als Sein der Angst. Er lombardiert nicht Thomas, sondern Kierkegaard; so eben brechen protestantische Züge in der Seinsschau vor (die so lange nur katholische gekannt hatte). Protestantische, 306
selbst augustinische
Innerlichkeit
(von
a
;
heutzutage), Zeit statt Raum pointieren sich jetzt in der Phä. nomenologie. Freilich der Art, daß stärker noch als früher bloße Worte, wenn auch des Innen, gepreßt werden. Es geschehen
. ganze Erlebnisse an neu gemachten oder alt hergeholten Zeichen, an einer deutschtümelnden Sprache, die Gefühle von heute
mit verlorenen verstärkt. Seltsam einen sich gewisse seelische Feinheiten, auch ein sturer Bauernernst mit der Lust, ihn zu beschreiben, ihn worthaft recht vorfindlich zu machen; Heidegger hat die Angst, indem er sie doziert. Seltsam ist dieser Ernst von
einem pedantischen Wandervogel getragen, dem ein Professor für Angst und Sorge sich anschließt, als wäre das Lehrstoff wie anderer auch. So entsteht eine Art gelehrter
Katheder- Trauer,
die, obzwar sie das »Bewußtsein überhaupt völlig subjektiviert hat, nicht aufhört, reine Begriffsschau zu sein. Dennoch wirkte Heidegger erregend: die » Angst«, als Heideggers eine Existenzkategorie, berührte den Zustand des Kleinbürgers, der keine Stelle und Aussicht mehr hat; die »Sorge«, Heideggers andere Kategorie, traf Großbürger, die in der Tat genau so, wie Heidegger »menschliche Situation überhaupt« bestimmt, »ins Nichts hinaus gehalten« sind. Vor allem erstrebt die subjektive Ontologie eine gewisse Nähe zum Nullpunkt des heutigen Seins, nämlich zum nackten Leben; sie empfiehlt sich derart einer allgemeinen Leere und bürgerlichen Alltäglıichkeit als »existentiell«. Dieser »existentielle« oder noch »indifferente« Ausgang ist zugleich positiv kein anderer als der des privatwirtschaftlichen Seins: Ich-selber-Sein und nur dieses erhebt sich gewissensmäßig-isoliert,
lutherisch-düster
gegen
die »Verlorenheit
ins
Man« und die öffentliche Welt. So hat Heidegger die Innenarchitektur sinkender Schichten reflektiert, in einer angeblichen » Analytik des Daseins überhaupt«; so grub er aber auch dem Irrationalen der Reaktion, der er zugehört, einen Kanal Blut ab (oder höherer »Existenz«). Denn das Existere von Angst und
Sorge zeigt sich in der »Analyse« ebenso als heroisch, nämlich als »ungedecktes
Standhalten
gegenüber
dem
Schicksal«;
die
Elemente der Analyse aber bleiben die vorlogischen der »Stimmung«, der »Befindlichkeit«; die Logik der Existenz ist die Kontemplation einer heillos gewordenen Subjektivität, eine der dumpfen, verfallenen Emotion. Wie diese Existenzlehre jetzt 307
schon zu faulen beginnt, so fehlten ihr von Anfang an Vitalismen nicht; Subjektivität und Zeitlichkeit, diejenigen Kategorien, denen gerade die Phänomenologie zuerst ihren festen Vernunftbau unzufälliger Wesenheiten entgegensetzen wollte, sind
hier allein geglieben, ja, die Ontologie selber geworden. Die vielen »noetisch-noematischen« Ideen Husserls sind dahin; das große Sehen, das nach Scheler durch die Welt ging, hat sich
gänzlich ins dumpfdunkle Existieren zurückgenommen. Die Kategorien der Wesensschau schrumpfen zu solchen der gesetzten »Eigentlichkeit«; sie transzendieren auch, als bloß im blinden, sinnleeren »Leben« bleibend, allesamt nicht weiter als nur
zum Tod. »Geworfenheit«
ist die letzte Existentialkategorie
des Menschen, und zwar Geworfenheit in den Tod, als in einen unabänderlichen, statischen Zustand, als in die einzige Zukunft,
die auf den Menschen zukommt. Heidegger war ins Subjekt gegangen, um den Relativismen der äußeren Wesenswelt von vornherein zu entgehen, um das Menschsein als Anfang einer Frage zu haben und nicht, wie Scheler, als Ausgang einer Kata-
strophe: aber der ersten Gefahr hier, dem Vitalismus und seinen Folgen, ist er bereits erlegen. Wie Wiesengrund mit Recht bemerkt, wußte sich Heidegger auch der zweiten großen Bedrohung jeder materialen Ideen-Phänomenologie — der durch Historismus — nur dadurch zu entziehen, daß er die Zeit selber
ontologisierte; wodurch Schelers Ewiges im Menschen paradox sich auflöst: es entsteht die Fundamental-Ontologie der Vergänglichkeit. Die »Wesenheiten« sind damit zwar nicht verschwunden, doch aus ihrem Ideenhimmel zu einer Art matter
Ideenhölle von Angst, Sorge, Geworfenheit, Tod übergegangen — das Ewige ist bloß noch diese Zeitlichkeit. Eine kontemplierte Zeitlichkeit dazu, eine »Zeit« im Zentrum, welche weder zur Geschichte noch zur Dialektik hingelangt; eine »praktische Phi-
losophie« (als auf die »konkrete Bedrängnis der menschlichen Existenz« bezogen), welche lediglich Anweisung zum Hinnehmen der Gesetztheit enthält, niemals zum Handeln. Als Frage taucht zuletzt freilich auf, wieso die Bourgeoisie, welche sonst
Zerstreuung und Berauschung durchaus der »Innerlichkeit« hinzufügt, bei einem ihrer modischsten Philosophen soviel Kierke-
gaard und Finsternis duldet, wenn auch gemildert durch der 308
_ Betrachtung strenge Lust. Aber erstens ist Heideggers Philosophie, wie bemerkt, durchaus eine begriffliche geblieben, eine Trauer besprechende, mit der sich leben läßt. Ganz gleich, wie stark das »ontische« Erlebnis, das Luther-Erlebnis der Ge-
schöpflichkeit in ihr war: es zeigt sich, was kontempliertes Fragen von Sorge, Sünde, Schuld »weiß«; nämlich alles und dadurch
nichts. Begriffsschau, wenn auch emotionierte, siegt am Ende doch über das dumpf-dunkle Existenzsein; die Selbstbetreffung wird zum Zweck einer kontemplativen Wissenschaft verwandt, nämlich der Onto-logie, wenn auch einer mit lauter Vitalitäts-
Inhalt. Die Sorge Heideggers ist nicht Selbstbetreffung, Selbstbezichtigung im Existenzsinn Kierkegaards, sondern Objekt einer Daseins-Analytik; sie ist kein »Interesse« mehr, sondern ‚interessant, gelehrt, objektiv, sie heißt »die Einheit der transzendentalen Struktur der innersten Bedürftigkeit des Daseins im (!) Menschen«. Empfahl sich so Heidegger der liberalen ' Bourgeoisie durch einen Ernst, der keinen macht, durch Re-
flexionsgefühle, die nicht einmal Gefühle bleiben, geschweige Praxis werden: so empfahl er sich zweitens einer fascistisch gewordenen durch das alte protestantische Erbgut der menschlichen Nullität und die Finsternis des ihr Gesetzten. Alles Dasein ist Geworfensein in den Tod; zu diesem aber gibt es nur das Verhältnis der »vorlaufenden Entschlossenheit«, welche nicht
das Geringste am »Zu-fall« ändert. Welche lediglich den Bestand des individuellen Selbst nochmals bestätigt, gegenüber der Verlorenheit ins Man: der erfaßte Tod als das erfaßte Sein-zumEnde ist die radikale Individuation. Und auch darin ist der Tod nicht, wie bei Kierkegaard, ein Zeichen der existentiellen Para-
doxie, er erschüttert nicht die Subjektivität zur Hinnahme des Bibelworts; er ist vielmehr ein bloßes Auslaufen der Existenz, die bloße Finsternis des feierlichen Zu-falls. Förmuliert Heid-
egger das »Dasein in seiner Unheimlichkeit«, bestimmt er »das ursprüngliche geworfene In-der-Welt-Sein als Unzuhause«, so formuliert er dies Überantwortete zugleich als identisch mit dem Zu-fall des ganzen Daseins überhaupt; er kennt kein Element in ihm, das sich der Unheimlichkeit und dem Unzuhause
entgegensetzt. So ist das Dasein selber seine eigene Unheimlichkeit, so ist es dem Tod restlos überantwortet, alle »vorlaufende 309
Entschlossenheit« kommt nur dem Tod und sonst nichts unter die Augen, es gibt keinen Trost gegen den Tod als die positiv erkannte und anerkannte »schlechthinige Nichtigkeit« des Daseins selbst, das im Tod sich nicht vernichtet, sondern repräsentiert. Also wird mit der Unverbindlichkeit auch die absolute Nichtigkeit zum Frieden der Bourgeoisie, zum Frieden, den die
Entmutigung des Veränderungswillens, die metaphysische Verabsolutierung des eigenen Unbehagens schafft. Der ewige Tod am Ende macht den jeweiligen Gesellschaftszustand »des Menschen« so gleichgültig, daß er auch ein kapitalistischer bleiben kann. Die Bejahung des Todes als eines absoluten Schicksals und des einzigen Wohin ist der Gegenrevolution von heute dasselbe, was ihr früher die Vertröstung auf ein besseres Jenseits war. Unendlich fern, nicht einmal gestreift ist in dieser »Onto-
logie des Subjekts« die Tendenz, in der Verzweiflung Empörung zu gründen, in der Empörung Hoffnung anzutreffen (als wel-
che in der Welt noch nicht zuschanden wurde). Es fehlt jedes »sich selbst in Existenz Verstehen«, das gegen den blinden Lebensbegriff, gegen den menschlich unvermittelten Natur-
status — gerade aus »Innerlichkeit« — ausbräche. Das Pathos des Subjekts ist in dieser Ontologie lediglich leidend, individuell und geht, mit völlig verdinglichtem »Schicksalsglauben«, zum Tode. Ein anderes Subjekt als das der individuellen und ver-
dinglichten Klasse wird vielleicht nicht mit Heidegger finden, daß keine Strenge der Wissenschaft heranreicht an den Ernst der Heideggerschen Metaphysik, wohl aber, daß der Ernst jeder Metaphysik sich zu bewähren habe an der Liquidierung der vitalen Geworfenheit, des mortalen Schicksals. Als neues Ele-
ment sticht zwar das »Subjekt« in dieser Ontologie hervor (statt der arkadischen Gottesruhe im Weltgarten). Aber als Heideggersches Subjekt hat es, trotz seines »Daseins überhaupt«, nur den Charakter, ein sehr ephemeres zu sein; es ist das Subjekt des introvertierten Bürgertums im Abstieg oder des zäh gehaltenen in seiner akzeptierten Nichtigkeit. Daran ist die »Befremdlichkeit des Daseins«, die Grundierung mit Angst und Tod, das Hineingehaltensein ins Nichts, die metaphysische Frage
nach dem Grund oder wie sonst Heidegger Leere und Spuk dieser Zeit verabsolutiert, keineswegs konkret erfahrbar. Das 310
echte »Subjekt« ist nicht dieser bürgerliche Spätmensch (unter der Maske des Daseins überhaupt), sondern heute nur der unterdrückte, verschollene und ebendeshalb wendende Mensch
(als dessen stärkster Umschlagspunkt das Proletariat signiert). Und ebenso: als wirklich zeithaft ist das Subjekt nicht vereinzelt da, spiegelt sich nicht in formalisierten Gefühlen, vitalisierten Lutherwinkeln; sondern die Zeit seines Seins ist die Dialektik der Geschichte, die dialektische Hoffnung aus lauter Klassen-
geschichte. Heidegger hat statt dessen (und freilich auch statt des vormaligen Gottesgartens) nur das Labyrinth spätbürgerlicher, sehr gepreßter, sehr heilloser Subjektivität. Es ist alles Labyrinth,
einschließlich
eines Leitfadens
hindurch
bis zum
Minotauros am Ende - und der Ariadnefaden fehlt.
EXISTENZERHELLUNG UND SYMBOLSCHAU »QUER ZUM DASEIN« Auch manch älterer Blick sucht hier, was ihm noch geblieben sei.
Nimmt sich selbst ins Auge, spiegelt erst recht einsam und erinnernd. Sind die wirtschaftlichen Verhältnisse sicher, sagt Fas-
pers, so breitet sich der Sinn aus und vergißt, bedingt zu sein. Sind sie unsicher
(wie heute doch scheint), so wendet
sich
Jaspers, als letzter Phänomenologe, erst recht von ihnen ab ins rein Menschliche, einsam Höhere und Gebildete. Der »Sinn«
ist dann allein bedingt vom jeweiligen Träger, vom frei wählenden Menschen, er drängt sich nicht mehr auf. Wissenschaft als Beruf hat ohnehin nicht bekennerisch zu sein, doch auch Philo-
sophie wird nur mehr als Philosophieren anerkannt, und höchstens als sokratisches. Ja, in seiner »Psychologie der Weltanschauungen« hatte Jaspers nicht einmal so viel zugegeben, sondern
war
noch völlig unwertend,
einzelwissenschaftlich-
positiv. Er beschrieb die großen Gedanken als rein psychische Gebilde, wie sie nun einmal da sind, ordnete sie bestimmten Typen zu, blickte nur durch diese Typen auf die Welt, führte Sinn zum Aussuchen, entschied sich nicht oder nur unmerklich
und glaubte außer an die psychologische Wahrheit an keine. 311
>. 2
Seitdem freilich ist Kierkegaard vorgedrungen, die Universität erfuhr die »Krise der Reflexion«, das ist, sowohl den Bankerott
der bürgerlichen Ratio wie den ertrinkenden Willen zum Halt: also erscheint statt Philosophieren Philosophie wieder selbst und, wie bei Heidegger, als »existentielle«. Das Existentielle
jedoch wird hier - seiner psychologistischen Herkunft gemäß -— ein zerrissenes und lediglich ratendes Wesen; diese Krisis der
Reflexion will - mit einem Liberalismus, der zur bürgerlichen Anarchie übergeht - jeden Einzelnen nur sehen lassen, wie er es treibe oder (den Glauben betreffend), wie er es halte. Statt riskierter Ontologie verbleiben ethisch nur Appell und Wahl,
metaphysisch nur mögliche Betreffbarkeiten durch vieldeutige »Chiffer«. Ratend, sagten wir, ist dieser »existentiell«
gemil-
derte und gefärbte Agnostizismus; er ist es sowohl im unaufdringlichen Sinn einer appellierenden Beratung (nämlich Suchender durch eine Suche, die selber nur durch Nichtwissen philosophierend zu sich kommt), wie ratend im letzten Sinn einer Erratung, einer Chiffer-Deutung
des Welt-Seins.
»Exi-
stenzialphilosophie«
kennt
keine
auf dieser
Stufe
folglich
Gewißheit, weder wissenschaftliche (diese gilt nur fürs unper-
sönliche Bewußtsein überhaupt und seine positivistischen Gegenstände) noch die eines prophetischen Pathos auf dem Katheder. Sie gibt auch den apodiktischen Anspruch der »Evidenzen« auf, den die Phänomenologie, kraft eines mittelalterlichen Gemeinschafts- und Glaubensbilds, noch für ihre Sehwelt, Ein-
Sichtswelt behauptet hatte. »Existenz« gar bei Jaspers ist völlig protestantisch geworden; denn sie ist nur in einzelnen kommunizierenden
Menschen,
sie vergewissert sich auch methodisch
allemal nur als Selbstbetroffenheit von Sinn. In diesem Subjektraum freilich trägt sich recht sonderbare Breite zu, eine, die auf
»existentieller Basis« wenigstens gebildete Gestaltordnung sich
einzufügen versucht; das streift dann sozusagen, in protestantischer Enge, eine Art katastrophierten Katholizismus. Statt der Schelerschen Gestaltschau erscheint »Symbolschau, quer zum Dasein«; diese nennt Jaspers »eingeschmolzen in die Bewegung
der existenziellen Vergewisserung der Transzendenz«. Denken beginnt hier als Frage nach dem, immer noch nach dem, was das Sein schlechthin sei. Recht unwichtig, dabei zu 22
verweilen, recht schwach auch der sittliche Ruf an Menschen
»auf demselben Wege«. Denn nicht jeder wandelt auf dem Weg dieser Sorgen, nicht jeder im orphischen Schlafrock durch das
»Gesetz des Tags und die Leidenschaft zur Nacht«. Nur Bürgergefühle grüßen in diesen Teilen von Haus zu Haus, gespenstisch weltfremd; kein Licht wirklicher Analyse fällt herein. Schon die »Weltorientierung«, womit Jaspe-s einsetzt, hat von der
einzig positiven Orientierung, der marxistischen, kein Wort vernommen. Die »Existenzerhellung«, womit ein moralischer Band fortfährt, verewigt dafür die »Daseinsantinomien« (des
Bürgers) als existentielle Bestimmungen »menschlicher Unvollkommenbheit schlechthin«. Hier ist die Parallele zu Heideggers Sein zum Tode oder zu der totalen Entwertung, welche auch Liberal-Fascisten, wenn sieden Aufschwung nicht goutieren, immer noch zurVerfügung halten. Doch gesprenkelter ist der dritte Band der Jasperschen Bemühung; denn die »Transzendenz«, welche hier erscheint, ist immerhin zerrissen und wirr belebt, wirr geflickt zugleich. So mag sie als echteres Zeichen der Zeit beachtet werden, als Phänomenologie in voller Durch-
kreuzung; sie ist ebenso bodenlos wie sie, in dieser Gegend, als Ineinander überrascht. formales
Hier ist unbedingtes Sollen selbst als
Cadre unhaltbar geworden,
erst recht fehlt Jaspers,
als dem ehrlichen Spätbürger, jeder Sprung in religiöse Wirklichkeit, jede verbindliche Ontologie des Seins als Sein. Einzig bleibt die existentielle Betroffenheit durch Zeichen, »Chiffern«, Symbole, mittels derer sich die völlig unfaßliche Transzendenz (das ist: das Sein als Sein) einem inneren Bereitsein »schwebend« kundtut. Daher kann wissenschaftliches Bewußtsein, als Bewußtsein überhaupt, die Chiffern »nicht einmal hören, geschweige verstehen«; doch der Abgrund in diesen, leer für den Verstand, vermag sich »für Existenz« zu füllen. »Denn das
transzendierende Zeitdasein des Menschen vermag als mögliche Existenz die Einheit von Gegenwart und Suchen zu werden: eine Gegenwart, die nur als das Suchen ist, das nicht abgeschnit-
ten ist von dem, was es sucht.« Metaphysischer Gegenstand ist folglich nie das ens absolute absconditum der "Iranszendenz, sondern nur eben deren Chiffer, womit sie den existentiellen Menschen im Augenblick, auch mitten im Weltsein anrührt,
313
»um ihn geradezu vor das Ungewußte zu stellen«. Die mythischen Bilder, worin ursprüngliche Schau sich erloschen; der Positivismus, sagt Jaspers, hat der Welt der Wißbarkeit vertrieben. Aber des wissenschaftlichen Bewußtseins an ihren men, dann ist die Welt der Mythos-Bilder,
gefaßt hatte, sind. sie mit Recht aus bricht diese Welt Grenzen zusamdiese zuerst nur
autorative Objektivität, in der Sprache existentieller Zerrissenheit und Schmelzbarkeit (als allgemein werdender Sprache) neu ergreifbar. Einheit des substanziellen
Grunds
ist dieser
Sprache nicht erreichbar, wohl aber jene echte Symbolik, welche nicht wie bloße »Symboldeutung« von einem Bild zum anderen herumgeschickt wird, um schließlich in einem bereits Gewußten zu landen (sei es die Libido oder primitiver Ackerbau oder auch frühere Sternkonstellationen). Sondern echte Symbolik bricht
ihre Geschichte quer durchs bereits Geordnete und empirisch Wirkliche hindurch; sie kennt nur einen unerschöpft sich verschlingenden Wirbel der Tiefe und landet, statt im Sein als erkannter Sache, in einem Abgrund des Indefinitiven. Das Mittel, diese Sprache zu entziffern, ist folglich nicht mehr der Be-
griff, sondern die echte physiognomische Phantasie: ihr hat alles Dasein »ein unbestimmtes Schwingen und Sprechen, scheint etwas auszudrücken, aber fraglich, wofür und wovon; ihr ist
»in der Straßenpfütze und im Sonnenaufgang, in der Anatomie eines Wurms und in einer Mittelmeerlandschaft.... etwas, was
mit dem bloßen Dasein als Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung nicht erschöpft ist«. Was bei Jaspers dann freilich,
nach soviel bescheiden-hochgemuten Worten, als Beispiel seiner Chiffern erscheint, hätte des riesig-verborgenen Raums nicht immer bedurft. Jaspers, als der frühere Logiker der psychiatri-
schen Diagnostik, versteht zwar ohne Zweifel mehr vom physiognomischen Verstehen als mancher Klages; auch bestechen einen redlichen Denker der Existenz nicht so sehr die mythologischen Bilder (aus Literatur) als die wirklich erfahrbaren (aus
heutiger Existenz und unmittelbarer Wirklichkeit). Ebenso überrascht der Trieb, Chiffern quer in die Welt einzumontieren, am alten Klassifikator durchaus; war der zweite Teil dieser
»Philosophie«, die sogenannte Existenzerhellung, überwiegend nur Seelsorge aus dem Vorkrieg, so ist die Welt als Chiffer
314
in der Tat ein gegenwärtiges Problem. Dennoch sind die spezi. fisch hier angezogenen Chiffern, so die der Natur, durchaus nicht frische Bildschau, sondern ebenfalls voll abgestandener Bürgergefühle, voll verabredeter Assoziationen, dazu in einer Sprache, welche, trotz ihrer metaphysischen Seelsorge, doch nicht die des intendierten 'Tiefenwirbels sein dürfte, denn sie ist, mitsamt
ihren Inhalten, seit der Romantik tausendmal gesagt worden und besser. Wieder erscheint hier der bodenlose Versuch, mit
spätbürgerlicher Ratio, nur weil ihr der Boden unter den Füßen fehlt, »Metaphysik« zu treiben; wieder vor allem erscheint das Hoffnungslose substanzieller Vermittlung (das nur dem völlig undialektischen Denken dieser »Transzendenz« hoffnungslos ist) als »ewiges Schicksal«. Wie die angebliche Nichtigkeit des irdischen Daseins, so ist auch die Nachtmystik des »Scheiterns« (die hier die Erfahrung des substanziellen Grunds umgibt), an
sich bloße Verabsolutierung des bürgerlichen Untergangs und ebenso reaktionär; dasselbe gilt für die »ewige Unerforschlichkeit« des ontischen Seins. Doch unerwartet immerhin ging die existentielle Phänomenologie von der »Einsichtigkeit« zur »docta ignorantia«, von der scheinbaren Fülle adäquat vergegenwärtigter Gestalten zum Bild von Sais. Nun steht sie da mit leeren Händen, steht freilich, letzthin, auch mit Handlinien
da und kreuz und quer erscheinenden Chiffern. Erst hat Ontologie den psychologischen Relativismus besiegt, dann zwingt der objekthafte Relativismus des Hohlraums die Ontologie selbst, zu Symbolen der Einzelheit und Vergänglichkeit sich zu flüchten; ja, Ontologie überhaupt vergeht, ihr prätendiertes festes Wissen vom Sein zerspringt zur zerrissenen, zur zerreißenden und kaleidoskopierenden Erfahrung vom Sein als Schweben. In Ordnung derart und ein lehrreicher Abgesang, daß gerade Phänomenologie noch den Hohlraum erfährt, daß
Gestaltschau als — Chifferlesen endet (in einem Trümmerfeld subjekt-objekthafter Ontologie). Billig hört ihr bei ihren Chiffern die Frage auf, noch billiger verharrt sie dem jeweiligen Chiffer-Sinn gegenüber in bloßer einschichtiger Kontemplation; gratis gar bleibt das »Unerforschliche« gänzlich außer historisch-dialektischer Subjekt-Objekt-Vermittlung. Doch führte solche Phänomenologie den Schein fertiger Gestalten selbst ad 315
” absurdum; sie weiß von ihnen nichts mehr, sie reißt sie aus jeder Hierarchie heraus, sie stellt sie als Schriftzeichen (nicht mehr als Statuen) in ein versuchtes »Diesseits als Wunder«. Erjagt hier
spätbürgerliches Gefühl nichts als sich selbst, wird das Problem einer dialektischen »Bilderlehre« am Einzelnen wie am Ganzen diese »Metaphysik« vorübergehen, so am kosmischen Schrift-
problem (dem die Phänomenologie Zoll zahlt) nicht.
TRIBUT
DER
TUGEND
AN
DAS
LASTER
Alle diese verschiedensten Denker strebten danach, zweifelsfrei zu sein. Sie begannen, wie bemerkt, angeblich von vorn, also mit
Bedenken an allem und jedem. Doch dieses hohlräumige Gefühl beruhigt sich bald an den eigenen Funden, mögen sie logistisch oder ontologisch gewesen sein. Die Empiristen kamen ihrem abstrakten Zweifel mit derklaren und distinkten Erkenntnis zur Hilfe, also immer noch mit dem alten Kalkül, wenn auch mit einem, der sich auf logistische Gleichungen beschränkt hat. Die
Phänomenologie dagegen glaubte zweifelsfreien Boden in der schlichten oder kategorialen Anschauung, in einer Art höherem
»Empirismus« gleichsam. Der die Anschauung den bloßen Erfahrungen der Einzelwissenschaft entgegenhob, der eine materiale Gewißheit versprach, ein materiales Apriori in den gegenständlichen Wesenheiten selbst. Beide so grundverschiedene Lehren sind sich - über den Relativismus hinweg - in der Apodiktik noch einig; wobei die Empiristen immerhin in der
nicht-logistischen, in der offenen »Erfahrungs-Erkenntnis« modellhaft waren oder wenigstens relativistisch anfällig. Beiden gemeinsam ist auch der Kult der »unmittelbaren Gegebenheit«, im Sinn eines an Ort und Stelle, unhistorisch, undialektisch Erfaßbaren; wobei sowohl das Subjekt, dem etwas gegeben ist,
geschichtslos als identisch gefaßt wird, wie erst recht das gegebene Objekt (hier des empirischen, dort des phänomenologischen »Befunds«). Aber nun ist die Oberfläche so viel weiter gesprungen, daß sie keinen Kalkül, erst recht keine Ontologie
der unmittelbaren Gegebenheit mehr erträgt. Die Empiristen 316
_ hatten bereits doppelte Buchführung, eben die der Logistik hier und der offenen Erfahrung dort. Die Phänomenologen zogen auf breiterem Feld Konsequenz: Scheler griff zum unmittelbaren ' Drang und räumte den Ideenhimmel; Heidegger beschränkte die Frage nach dem zweifelsfreien Boden auf die Frage nach dem »eigentlichen« Selbst. Er stellte zwar diese Frage nur um der »Wiedergrundlegung des Seins im Menschen« willen, doch die unmittelbare »Grundbefindlichkeit« ist hier nichts als Angst, Sorge und anderes ephemer erscheinendes Erlebnis, hinaushängend ins Nichts. Alle diese Neuanfangenden oder Jakobiner des
Spätbürgertums kamen also aus der abstrakten Zweifelei nur um den Preis einer konkreteren heraus: des Tohuwabohu im spätbürgerlichen Hohlraum. Am Ende beiJaspers gar, in dieser »Metaphysik«, erschien bereits die kurioseste Mischung, eine Melange von »Symbolen« oder eine Leer-Montage; - hier ist fast Tribut akademischer
Tugend
doch unabweisbares
an ein ungekanntes
Laster.
»Man
und
unbekanntes,
muß«, lehrt Kierkegaard,
»klüger als die Klügsten sein und dann gegen die Klugheit handeln«: unsere phänomenologischen Denkbeamten sind das Erstere nicht, das Zweite aber scheint, stellenweise, ihr »Schicksal«. Oben, im Übergangskapitel: »Berlin, Funktionen im Hohlraum« (S. 222), wurde gesagt: »Unmittelbar freilich, in ihrer
eigenen bürgerlichen Wahrheit, sind alle diese durchkreuzten Emotionen oder Hieroglyphen nur ebenso durchkreuzter und verbauter Hintergrund.« Jetzt, wo es um den Gebrauch dieser Ragouts geht, um
ihre Dialektik wider Willen und Begriff,
interessiert der Tribut der Tugend an das Laster oder der Einfluß des Hohlraums gerade auf jene »Ontologie«, die auszog, ihn zuzudecken. Sonderbar gerät, bei Jaspers vor allem, aus eklektischer Bettelsuppe zuweilen Buchstabensuppe, auch Schüttel-
reim, auch Chiffer-Montage. Die echte philosophische Montage kommt selbstverständlich von ganz anderer Seite; doch sie kann nicht umhin, über Ontologie als Chifferdeutung,
über wahre
Tempelsümpfe in der Akademie dialektisch überrascht zu sein. Der Garant aller echten philosophischen Montage ist freilich niemals ein anderer als der erkannte dialektische Prozeß; und das »Unerforschliche« liquidiert sich, sobald seine »Symbole« endlich in rechter Richtung gelesen werden, nämlich von oben
317
Ber nach unten, nämlich von ihrem gar nicht so transzendenten
»Himmel« herunter auf die Erde. Dazu reicht das bürgerliche Denken
nicht aus; es bleibt, auch was
»Montage«
angeht, in
bloßer dumpfer, vorlogischer »Stimmung«. Die Chiffern spielen ein verworrenes, dabei isoliertes Ineinander, und die »Chiffernschrift«? Sie ist keine, außer als dialektische Verschlingung von
Zerfalls-»Bildern«
und
ihren Zerfalls-Objekten.
Als solche
bringt sie der Zerfallherauf, doch erst in einer neuen, wenn auch
gänzlich umgestülpten Ordnung wird sie, gegebenenfalls, lesbar. Lesbar an Spannungsgestalten, Tendenzfiguren von unterwegs, aber alle voll versuchten Bedeutens jenes ausstehenden Gehalts, der kein »Gehäuse«, wohl aber das Haus sein könnte.
ANHANG: SPENGLERS RAUBTIERE UND RELATIVE KULTURGÄRTEN Nicht nur trauernd sieht dieser Mann, wie alles hingeht. Er ist ebenso zufrieden damit, in der Leere recht scharfen Wind
zu machen. Blühende Wege ging Spengler geschichtlich, fürs Heute bleibt ihm nur der wilde Mann. Der kalt anfängt, dann so fortfährt, als hätte es nie geschichtlichen Bau und Kleider gegeben. Der Bau vergeht, wachsend tierisch tritt das sogenannte Leben vor. Zuerst sollte der heutige Mensch zwar kalt, doch auch recht geschäftlich sein. Spengler, selbst alles betrachtend, gönnt dies
anderen nicht, sondern preist die Tat. Eben die großkapitalistische, auch die des technischen Verstands; für Wildnis schien
1918 die Lust vorbei. Aber auch unblutige Wildnis wurde nicht gestattet; da der Sommer der Kultur vorüber, war sinnlos, zu malen, zu musizieren oder zu dichten. Keine »Zeit« im Abend-
land mehr zu "Traum; diese These setzte ein Bürger, dem seine
untergehende Klasse jede ist und sein besiegtes Land das Abendland schlechthin. Die Untergangsthese sollte durch kein Allotria
im Unterricht, durch keine phantasievolle Berufswahl gestört werden; das verlangten Spenglers Lehrplan und das chronologische Schicksal. Im Pauschal erhielten alle künftigen Talente, 318
jahrhundertelang, ohne Ansehen der Person, Kontorstuhl und
Polytechnikum auf den Leib geschrieben. Wobei der Soldat nicht fehlt, der Sieger über »Geld und Geist«; doch eben: auch er ist
nicht aus dem frisch-fröhlichen Krieg, nichtmehr sterngläubiger Dämon, sondern Techniker, ein Cäsar der Maschinenschlacht.
Das war das erste Bild des heutigen Menschen und seiner Spitze; später, 1921, in der Schrift »Pessimismus?«, kamen noch einige Erlaubnisse dazu, doch ohne das »römische Gesicht« zu ändern.
Als sich Spengler dagegen verwahrte, bloß Untergang zu sein, gestattete er, als »Optimist«, — nicht Rosen, doch Astern aufs
Grab. Fröhliche Astern gewiß, der Heiterkeit entsprechend, welche die deutsche Scheinblüte
nach dem Krieg verbreitete,
und welche sie zur Dekoration gebraucht hat. Der »Cäsar« gilt zwar weiter, den »wir Deutsche noch gebären werden«, jedoch ein deutscher Roman wird gleichfalls gestattet, auch eine »Posse großen Stils«, ja, sogar eine »deutsche Carmenmusik, voller Rasse und Geist, sprühend von Melodie, Tempo und Feuer, bei welcher Mozart und Johann Strauß, Bruckner (?!) und der
junge Schumann sich nicht schämen würden, als Ahnen genannt zu werden«. Fröhlicher Kehraus ohne Zweifel und so wildvergnügt, daß auch Offenbach sich nicht schämen würde, als Ahne zu
erscheinen; hat er doch all das schon, ironisch, zusammenkomponiert, was Spengler um den Stahlhelm tanzen läßt. Oder besser
eben: um
Großkapitalisten und Direktoren; denn Spenglers
»Mann der Tat«, sein großes Vorbild ist und bleibt der schwerindustrielle Räuber, der Imperialist. Mit der Sehnsucht des Oberlehrers blickt Spengler auf Cecil Rhodes, den versten Vertreter des letzten abendländischen Stils«, — hier aber beginnt auch schon das letzte Pathos in Spenglers Jetztzeit, 1932 angekündigt (dem richtigen Jahr), in seiner Schrift: »Der Mensch und die Technik«. Dies letzte Pathos gilt nichtmehr dem alten Geschäfts-
mann, sondern dem blutigen: der Mensch erscheint als Raubtier und zwar als erneuertes. Damit ist die Geschäftsfreude, auch der Preis der Technik, den Spengler 1918 verliehen hatte, endgültig abgetan. Der Krise und dem veränderten Interesse des Profits entsprechend ideologisiert sich nunmehr die gedrosselte Erfindung, der verbrannte Kaffee, der Maschinensturm; wie bei Klages, nur bedeutend wilder, tritt ein »Urmensch« in die Nacht.
39
Beim Lob des Kontorstuhls war noch die Frage: ob es dazu sol&
ches -— Umwegs bedurft hätte, ob es dreier »Kulturseelen« bedurft hätte, um solche rochers de tombac zu stabilisieren? Jedoch noch stärker erscheint diese Frage vor der Raubtier-
Philosophie berechtigt, zu der Spenglers Schau zuletzt zerfällt; und noch weniger bleibt von aller abendländischen Kultur zu-
rück. Spenglers Mann der Spätzeit ist nicht einmal Zivilisationsbestie, wie noch Cecil Rhodes, sondern eine ganz nackte, eine
dampfende vor allem; ja, eine Art Mißgeburt, ein Krokodil mit heißem Blut. So oberflächlich und summarisch, wie selbst an ihm ungewohnt, dekretiert der Spengler von 1932 »Vitalismen«, deren Falschheit nur noch von ihrer Banalität, deren Banalität nur noch vom Zynismus hemmungsloser Ausbeutung übertrof-
fen wird. Nun sondern sich endgültig die Böcke von den Schafen, nun herrscht die »vornehme Gesichtsethik« des Raubtiers über
die »feige Geruchsethik« der Beute. Nun ist »die eigentliche Menschenseele jedermanns Feind«, denn »sie kennt den Rausch des Gefühls, wenn das Messer in den feindlichen Leib schneidet,
wenn Blutgeruch und Stöhnen zu den triumphierenden Sinnen dringen«. Nun ist, in kaum glaubhafter Hysterie, jede Greuelpropaganda über Deutschland bestätigt; und zoologischer Unsinn aller Art kommt recht, um die »Nacht der langen Messer«, welche die Nazis verkündet haben, vorweg zu ideologisieren. » Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, wie könnt’ die Sonne es erblik-
ken«, sang Goethe und wußte noch nichts von der »Gesichtsethik« des letzten Deutschen oder dem l’art pourl’art des Mords. Im » Untergang des Abendlandes«, als Antiquar, war Spengler ein
Gesang erhabener Stile, eine Sammlung von Kulturgärten quer durch die bebaute und durchformte Erde; nun lehrt der Anti-
quar, den man mit Herder und Hegel verglichen hat, den Menschen als Gebiß, den Nebenmenschen als Rohkost, und alles andere: die Athenamünze, die arabische Kuppel, die abendländische Geometrie der Nacht - ist so vergangen, als wäre es nicht einmal gewesen. Windelband sprach einmal vom »Dichter F.
Nietzsche« als dem »nervösen Professor, der gern ein wüster Tyrann sein möchte«. Dieser Satz ist an Nietzsche ein Skandal, aber am letzten Spengler kommt er nach Hause. Bei ihm lebt, als
Subjekt des »germanischen Endes«, nicht einmal die blonde 320
Bestie, sondern die kranke, nicht der träumende Urmensch der Romantiker, sondern der dekadente Mörder, nicht Cäsar, sondern Nero. Also begrüßt Spengler 1933, im » Jahre der Entscheidung« und seiner allerletzten, gleichgenannten Schrift, die
»nationale Umwälzung« als eine »herbeigesehnte«, und es plagt ihn nur Sorge, daß sie nicht »starke Rasse« genug zeigen könne. »Als die Arbeiter aus dem Krieg nach Hause kamen, entstand
überall in der Welt trotz der gewaltigen Menschenverluste die Wohnungsnot, weil (!) das siegreiche Proletariat (!) jetzt nach
Art der Bourgeoisie wohnen wollte und das durchgesetzt hat«; und mit ähnlicher Stärke des Gefühls, Tiefe der Erkenntnis präzisiert der letzte Spengler seines Pudels Kern: »Die Arbeitslosigkeit steht überall genau im Verhältnis der politischen Tariflöhne.« Dergestalt fürchtet der Philosoph des Herrenklubs an Thyssen zuviel »Sozialismus«, er fürchtet, daß die »nationale
Umwälzung«
sich ausruhe auf den Vorschußlorbeeren
eines
Raubtiers, das noch nicht gebissen hat; daß sie nicht »großen
Stils« genug ausbrechen könne gegen die »weiße Weltrevolution« oder den Klassenkampf, gegen die »farbige« oder den Rassenkampf und alle beide zusammen. »Der Ekel tiefer und starker Menschen an unseren Zuständen und der Haß tief enttäuschter könnte sich schon zu einer Auflehnung steigern, die
Vernichtung will.« Das erste wahre Wort in der »preußischen« Ideologie, doch nicht so gemeint; die erste Absage fast ans Hitlertum, doch nur, weil Spengler dem Demagogen die Bestie nicht glaubt und dem großen Maul des Massenjubels nicht das aristokratische Gebiß. Das Großkapital mit seinem Spengler will keine »Apotheose des Herdengefühls«, will sich als einsam herrschende Bestie, ja, als einziges Leben auf der Erde, und die Arbeitermasse gestorben zur Maschine. »Deutscher Carmenmusik«, mit Bruckner als Ahnherrn, dürfte der Tanz um solche
Monstren nicht leicht sein. Die Musik der abendländischen Kultur reicht zu diesem ihrem »Untergang« nicht aus, ja, er reicht nicht einmal zu Spenglers »Untergang des Abendlandes« hin,
worin die abendländische Musik immerhin kein Schlachthaus
garniert hatte, sondern »Morphologie«. Zwar auch hier war schnöder Ton, nur der vorsichtigen Hand etwas zu nehmen da. Das Nichts der Kälte war mindestens 321
sprachlich beteiligt, in den falsch geknappten Sätzen, die herrisch sein sollen und bloß schnoddrig sind. Was man in den neunziger Jahren glänzende Schreibweise genannt hatte, das wurde hier die Phrase als Tagesbefehl. Höchst Anfechtbares erschien dabei genau, höchst Allgemeines präzis: »Form ist Angst« oder »Weltgeschichte ist Stadtgeschichte« oder » Opti-
mismus ist Feigheit« oder »Kulturen sind Pflanzen« oder gar »Kulturen sind Pflanzen«, »Leben ist Krieg« und Ähnliches zahllos, so daß summarischer Brei wie gegossen stand. Dabei war die Grundhaltung, hinter der militärischen Maske, durchausbetrachtend, geschmäcklerisch und genießend; diese Haltung ließ nicht etwa Geschichte aufs Heute zulaufen (das eben nur noch die Praxis der vorgeschichtlichen Bestie kennt), sondern verweilte einsammelnd, zusammenschauend, historisch durchaus an Ort und Stelle. Dadurch fehlt, zum Glück, das brutale und schwachsinnige Larifari des Publizisten Spengler auch; kaum
oft vermutbar, daß dieser und der fingerspitzige Antiquar dieselben seien. Fürstenhöfe des XVII. Jahrhunderts kannten als eigene Hofcharge den » Verwahrer der Schildkröten«; eine solche Charge ist der Historiker Spengler mit seinen vielen Miszellen, und freilich auch ein Verspeiser der Schildkröten und ein
amüsanter Verwandler gesammelter Geschichte zu gleichzeitig gedeckten Tischen. Die geschichtlichen Triebkräfte selber wurden zerstört, so Unvornehmes wie Ökonomie überhaupt nicht
entgegengenommen, die Zeiten liefen ab, letzthin unbewegt, in Autarkie. Hier berührt sich die relativistische Soziologie
(Mann-
heim) mit Spengler und umgekehrt: wie diese schaffte er jeden Anschein von geschichtlichem Prozeß ab, erst recht jeden durchgehenden Inhalt, jede durchgreifende und übergreifende »Einheit in der Geschichte«. Was bei Mannheim die verschiedenen soziologischen Strukturen in der Zeit, das leisteten die Kulturkreise Spenglers, die isolierten Landschaftsgärten jeweiliger Kultur im Raum: nämlich die Zersprengung der Geschichte, die
Aufhebung dialektisch durchgehender Glieder. Überhaupt ist der Primat des Raums über die Zeit ein untrügliches Kennzeichen reaktionärer Sprache; von den illustrierten Beilagen angefangen, welche sich »Volk und Raum« nennen (Beilagen der Linksblätter hießen »Volk und Zeit«) bis zu Nadlers »raumhistorischer 322
Methode«
und
‚Höchstens
ist bei Spengler
Keyserlings
geographischen das
Meditationen.
»raumhistorische
Schicksal«
nicht so unmittelbar an den Boden geknüpft, sondern mehr an die »Kulturseele«, welche über verschiedenste Länder dahin-
zog und sie einte. Bagdad und Cordova liegen arabisch im gleichen Raum und fügen sich ihm ein; auch gedeiht auf italienischem Boden, unter Pinien, ebenso gut antike Zivilisation wie
faustische Kultur. Dennoch herrscht bei Spengler Primat des Raums durchaus: wenn nicht mittels der Landschaft, so mittels der »kulturellen Physiognomie«; diese bringt sogar einen Exzeß von »Gestalt«, von »Morphologie« und eben jener Statik, welche, unter dem Schein des Lebens, jeder »Gestaltschau« anhaftet. Das Gesetz, wonach eine Kultur angetreten, ist bei
Spengler erst recht ein inneres Raumschicksal und gleichsam ein erhobener Boden: mit fester Flora, mit der Naturbestimmtheit
organischen Blühens und Verwelkens seiner Früchte, mit vier Jahreszeiten über sich wie im Naturgebäude. Es gibt so beiSpengler überhaupt keine Zeit außerhalb des jeweiligen Kulturraums; und diese seine Zeit ist nichts als der kraftlose Schatten einer
vorgeordneten Entfaltung, welche in allen Kulturen denselben Schicksalsweg nimmt, denselben Anfang, dasselbe Ende, und
nur das Kultursymbol ist jeweils verschieden. Selbst die »mythologische Urzeit«, welche Bachofen nicht weit genug an den Anfang der Geschichte legen konnte, ist hier aus dem einheitlichen Nacheinander der Zeit herausgehoben; sie beginnt in
jeder Kultur neu, in der »nebligen Merowingerzeit« jeder Kultur, »wo ihr Symbol geboren wird aus dem Dämmer geschichtsloser Frühe«. Hier überhaupt ist kein Unterschied eines
Nacheinander
zwischen Ägypten, Griechenland,
Abendland:
»Synchronismen« sind Alexander und Napoleon, Granada und
Rokoko, Pergamon und Bayreuth; daher denn auch die Zeiten selber nicht in der Zeit sind, sondern Raumwirbel in der ewig
unbewegten, grundhaft unberührten Substanz. » Alles Drängen, alles Ringen ist ew’ge Ruh in Gott dem Herrn«: mit diesem Goethesatz wird Kulturzeit,ja, noch jedes Kultursymbol isoliert auf sich selber; zugleich wird das zerfallene Schweben dieserSymbole fälschlich geweiht, nämlich als Schweben im unberührten, im ewig unerkennbaren Raum. Dergestalt bleiben schöpferische 323
Zeit, unbekannte Zukunft erst recht ausgeschieden, der Prozeß zerfällt, fängt sich in statischen Gebilden, ohne den min-
desten Bezug ihrer relativ wahren Inhalte auf einen übergreifenden. Dies Vielheitliche und Unterbrochene entspricht also nicht nur dem Relativismus getrennter »sozialer Strukturen«,
sondern cum grano salis, als »Weltbild«, auch dem physikalischen Relativismus; dieser setzte (mit mehr »Berechtigung«) mehrere Welten sogar in die Natur, mikro-, meso-, makrokos-
mische, mit eigenen Gesetzen und ohne erkennbaren Bezug auf übergreifende »Mechanik«. Spenglers »Morphologie« ist eine Summe
variabler,
doch beschlossener
Geschichtsfiguren,
und |
die Figuren hängen wie Sternbilder beziehungslos im ewig transzendenten All. |
Also gingen hier schon viel falsche Blicke in Leben, das keines | hat. Wirtschaftliche Anlässe, gar Ursachen fallen ohnehin, wie
man sah, außer Acht. Aber es fehlt auch jeder andere Bezug zum Werden,
zur Erfahrung des Werdens,
zur Frage des Neuen.
Spengler kennt keine anderen als museal aufspießbare Gehalte, ja, sie sind ihm an Ort und Stelle schon gerahmt. Es fehlt außer dem Organ für Wirtschaft auch das für schöner bildende "Triebkräfte, wie sie kulturell Gewordenes aus sich herausgesetzt haben und mit ihm nicht abgegolten sind. Der Historiker Spengler ist
dergestalt kein rückwärtsgewandter Prophet, sondern ein vorwärtsgewandter Antiquar. Und dieses ganze statische Gefängnis. dazu, der Reflex
der Entselbstung,
bürgerlich-mechanischen |
Verdinglichung über der ganzen »Geschichte«. Bei so viel »herrischen« Reden, so viel Raubtiergeste: wie viel historische Peitsche zugleich, wie viel automatisches Schicksal in Worten und. Lehren wie dieser: »Nur "Träumer glauben an Auswege; das | Schicksal des Menschen ist im Lauf und muß sich vollenden,
Optimismus ist Feigheit.« Auch motorisch mithin, nicht nur »visionär« herrscht völlige Beziehungslosigkeit zum Phänomen
der Zeit, »heroisch«-höhnische Freude am gesetzten Bann. In- |
dem Spengler so die Zeit austreibt, kommt er freilich einem | Bürgertum zurecht, das immer mehr sowohl Geschichte verließ
wie erst recht kausal-genetisches Denken von unten herauf.
Insofern ist Spengler nicht nur relativistische Soziologie, mit iso- | lierten »Strukturen«, sondern ein Zentrum aller reaktionär-
324
statischen geworden; denn er hat gezeigt, wie man noch historischen Fluß — scheinbar gerade in voller »Historie« — gerinnen läßt. Ebenso ist die »Physiognomik« ein Mittel zu dieser Entzeitlichung und die »Morphologie« das Medium des Raums: sie ist es, welche »Sinngebilde« am stabilsten der kausalen Genese und
gar erst der Dialektik enthebt. Merkwürdig auch hier, wie weit diese offenbare Fascisierung von Geschichte schon zurückreicht,
wie sehr bewußte Reaktion von heute eine ungewußte von gestern pflückt. Mit dem spezifisch historischen »Verstehen« hatte die genetisch-kausale Abkehr schon bei Dilthey begonnen, sie führte zu Windelband-Rickerts »Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung« (nämlich zu den Grenzen der Naturwissenschaft an der Geschichte, an den »idiographischen Wertgebilden« der Geschichte); sie bekam zuletzt noch schola-
stischen Zuschuß durch die Phänomenologie oder die Schau »platonischer Wesenheiten«. Dies » Wesenswissen« setzte sich besonders hoch gegen alles bloß »induktive Wissen« ab, mithin gegen die analytisch-kausale Methode des XIX. Jahrhunderts (das der Fascismus so »organisch« verachtet). Vor allem ent-
fernte es als »Ganzheitswissen« den gefährlichen Marxismus viel erhabener aus der Diskussion als die bloß relativistische Soziologie 4 la Mannheim, als die bloße Anwendung des »Mar-
xismus« auf sich selbst; so entstand gar, hinter Spengler, die sogenannte »sinnhafte Soziologie« (bei Sombart, Freyer, GottlOttlilienfeld und anderen Fascisten), setzt sich völlig außer
genetisch-kausalen Strom, ja, außer verstandesmäßige Ableitbarkeit (der Sinngebilde) überhaupt. Leider ist die Katastrophe des gestalthaften Wesenwissens an der bürgerlich vorliegenden Welt (eine Katastrophe, welche mit Scheler bereits begonnen hat, in Heidegger, auch Jaspers sich fortsetzt und von der man
in den vorigen Kapiteln das Nötige gehört hat‘) - leider ist diese vorgeschrittenere Phänomenologie den soziologischen Nutznießern der älteren noch unbekannt geblieben. Aber auch so ist es ein Sonnenfleck der »kausalfreien Morphologie« — vor und nach Spengler -, daß ihr Erscheinen in diesem Zeitpunkt gerade ökonomisch-kausal
so sehr »verständlich«
ist; nichts erweist
Kausalität stärker als der Fascismus, wenn er sie leugnet. Und ein zweiter Sonnenfleck ist die Beschränkung des genetischen 325
Ei Hasses auf Kausalität allein, statt auch die Dialektik expressis verbis anzugreifen; denn diese ist dem Marxismus mindestens so
eigen wie die verachtete induktiv-kausale Methode. Dialektik freilich ist weniger als Kausaldenken eine naturwissenschaftliche Subalternität, auch keineswegs eine Frucht des XIX. Jahrhun-
derts, sondern Platons und Hegels; dennoch — so wenig angenehm ein Kampf der neuen Idealisten gegen Platon und Hegel sein mag -: die Ablehnung der einfachen Kausalität ist unfair, wenn sie deren Seitenstück, der sehr vornehmen, wenn auch
materialistisch gewordenen Dialektik ausweicht, als wäre sie den Morphologen ganz unbekannt. Wie dem immer sei: Spenglers Morphologie war dem Kausalhaß die bequemste Erfüllung, das ausgeführteste Gemälde, war die vollkommenste Abriegelung des dialektischen Bewegungs- und Einheitsgedankens vor allem. Daher denn Spengler zwar den massivsten Glauben an die jeweiligen Einheitspunkte pflegt, an die »Symbole« einer Kultur; doch er kennt keinen Einheitspunkt der Kulturerzeugung
überhaupt, welche diese »Symbole« doch erst hervor und zu Hilfe gerufen haben mag. Er sieht zwar - inkonsequent genug — in die völlig isolierten Kulturen hinein, ja, er arbeitet mit übergreifenden Sphärenbegriffen wie Kunst, Mathematik, Religion durchaus, er hat sogar solch Übergreifendes wie »Christentum« in dreifacher Ausgabe: nämlich arabisch, faustisch und russisch. Doch der Geschichtsprozeß selbst zerfällt in Kulturgärten oder »Kulturseelen«, die untereinander ebenso unvermittelt sind wie mit dem Menschen und seiner Arbeit (als der durchgehenden Materie der Geschichte) wie mit der Natur (als dem anders
Durchgehenden oder Übergreifenden, worein diese Geschichte gestellt ist). Historischer Relativismus wird hier — mit großer Kunst - statisch, indem er sich in Kultur-Monaden fängt; das heißt, in Kulturseelen ohne Fenster, ohne Verbindung miteinander und mit der Natur, aber voller Wandspiegel innen.
Daher also erbt Spengler so wenig von dem Glanz, den er zeigt. Übrig bleibt ihm das Raubtier, sonst ist Vergessen oder kurzer, vergangener, hoffnungsloser Geschmack, vielleicht ein Raubtier mit Geschmack. Je näher Spengler dem Jetzt oder »existentiellen« Fragen des Überhaupt kommt, desto absurder sinkt das Niveau, das er als Antiquar durchaus noch innehielt. 326
' Der Bestialitätsphilister ist niederträchtig, der Staatsmann ‚ Spengler zum Lachen, doch auch der Morphologe von unterwegs verliert Haltung, wenn Licht von heute irgendwo nur in sein Antiquariat fällt. Dann nennt unser Staatsmann den Marc Aurel ein »altes Weib«, das Raubtier findet Lao-Tse und Buddha
nicht lebensbejahend genug, wogegen Bernard Shaw als der letzte — faustische Philosoph erscheint. So behält Spengler von fremden Kulturen überhaupt nichts übrig, von den eigenen, germanischen, faustischen nur die Bestie, den Witzbold und die
»Übergangserscheinung«
des Sozialismus. Unsere Kulanz ist
sprichwörtlich, doch als der Kutscher Tycho de Brahes sich einst
verirrt hatte und der Astronom ihm den Weg zeigen wollte: »Herr«, rief der Kutscher, »am Himmel mögt ihr euch auskennen, doch auf Erden seid ihr ein Narr.« Spengler kennt sich
zwar nur im Museum
der Geschichte aus und gar nicht am
Himmel oder höchstens an einem solchen, der die Geschichte zu Rotiertrommeln herabsetzt, von Schicksalssternen betrieben.
Dennoch gehen, was das Jetzt angeht, Spenglers Rezepte gleichfalls vor jedem organisierten Kutscher zuschanden; und das Überhaupt? — »Kulturen sind Pflanzen, sonst nichts«, sagt die
wütende Geschichtsphilosophie und schneidet sie ab. Bleiben die
Einzelheiten der Morphologie, manch schönes Kapitel, manche gescheite Bemerkung, manche amüsante Parallele, mancher Querblick vor allem, wider Willen, und der Fund der »arabi-
schen Kultur«. Das Herbarienhafte dieser Bildungsgärten liegt zutage, ebenso wie die biologische Regression, ebenso wie die Stabilität ohne Fenster, ohne Utopie. Nur wenn ein Eroberer
einträte, der mit den »Symbolen« und vielen Symbolzeugen etwas anderes anzufangen wüßte als ihre unbetroffene und isolierte Betrachtung; wenn die »Kuppel und die Alchymie«, der »gotische Tiefenraum und die Analysis als Geometrie der Nacht« in einem versammelten und bezogenen Bedeutungsraum untersucht werden könnten: wäre ein Erbe da, aber eines, das gerade der Neu-Geschlossenheit dieses Relativismus widerspricht; näm-
lich das Erbe möglicher Bruch-Symbole unseres gemeinsamen und unbekannten Gesichts. Erst dann könnte ohne Lüge und Stockung die relative »Statik« bezeichnet werden, welche im dialektischen Prozeß allerdings auch Wirbel schlägt, Verknotungen
327
eines historischen »Überschusses«, spärliche Paradiese aus man-
cherlei »Kultursymbolen«. Unzweifelbarer Querblick auch hier, begegnetes Ineinander von Einzelheiten; die stürzende, mischende Spätzeit kann - trotz aller »Morphologie« — nicht anders. Reizvoll das Picasso-Bild des apollinischen Querblicks: Pinie, Münze, Polis, Statue, Nahfarbe, Flachdecke, euklidische Geometrie. Träumerisch das Kaleidoskop des magischen Quer-
blicks: Höhle, Kuppel, arabisches Märchen Schweben
als kuppelhaftes
des Jenseits im Diesseits, Goldgrund
des Mosaik,
Goldgrund der arabischen Naturwissenschaft als der Alchymie, Sakrament der Taufe. Aufregend die Rimbaud-Mischung des faustischen Querblicks (der Fern- und Tiefendimension): Wilde Jagd, Turmuhren, Langschiff, Apsis und himmelhohes Netz-
gewölbe, Sakrament der Buße, Perspektive und die blaue Fernfarbe, Kontrapunkt und Analysis, Erfindung des Fernrohrs, des Scheckverkehrs, der Weltwirtschaft, der Linienzüge in Uner-
meßlichkeit. Die Grundsubstanz dieser Syzygien bleibt unstimmig, schon wegen der genießerischen, kontemplativ geborenen Analogie-Kunst, die hier »Synopsis« treibt; der Versuch immerhin ist aus später Misch-Perspektive, und er wäre eben unvoll-
ziehbar, hätten nicht Seitenteile, Trümmerstücke der Betrachtung gewisse Bedeutungen verraten, welche der geschlossene Gipfelblick früherer Kontemplation nicht sah. Es sind aber nur Trümmer der Betrachtung, und sie sind zu lauter stillgewordenen »Kulturseelen« gerahmt; sie sind zudem in einer Nacht, deren
faustische »Unendlichkeit« dem Bürgertum pures Nichts geworden ist. Spengler addiert die »Kultursymbole«, trotz ihrer inneren Syzygien, nur tot nebeneinander; keines vor allem hat anderes zu sagen oder auszusingen als seinen eigenen, immanenten, ästhetizistischen »Sinn«. Kurz: erst dann, wenn nicht
mehr Tote ihre Toten begraben, bildet auch ganz andere »Morphologie« einen Leib, einen durchgreifenden oder einen, dem das Erbe lebt. Erst dann ist nicht mehr geschichtliche, sondern einverleibte Folge, eine Folge durchgehender Menschen- und Kultursymbole, die der Geschichte das Verschwinden nimmt,
eine Folge von Versuchsgestalten der menschlichen Gestalt, Schellingisch gesagt: von Silberblicken des herausgekochten menschlichen Metalls. Bis dahin ist »Morphologie« nur ein 328
Zeichen, dieses allerdings, und ein gefährliches, vom fascistischen Feind. Es ratet aber zugleich, daß Dialektik, auf ihrem Marsch und während der Taten ihrer Entzauberung, die real bleibenden
Schatzhäuser nicht zu besetzen vergesse. Außer den Höhlen des Ungewordenen und der gärenden Unbestimmtheit, außer den Erbstücken des revolutionären Bewußtseins sind, rätselvoller Weise, auch noch die Schatzhäuser stehender Kultur. Von welcher der Feind ein verzweifeltes Inventar macht, nachdem sie ihm nicht mehr gehört.
329
PHILOSOPHIEN VON UNRUHE, PROZESS, DIONYSOS
DER
KLUGE
RAUSCH
Auch sonst hält das Ich nicht still. Daher sein Wühlen; von her beginnt nun, nochmals, eine Suche von vorn. Doch mit derer Lust als der blassen des Zweifels. Statt seiner fassen Triebe, die nichts zerfällt. Es muß ihnen vielmehr Platz macht werden. Das alles war im Rausch bereits, als dumpf. Licht fiel
ihm ansich genur
schief, gleichsam zufällig herein. Hier nun erscheint es an Ort und Stelle, als eigenes, das sozusagen Dunkel denkt. Dies Denken geht in sein Gegenteil, um darin aufzuhören. Zieht seinen Schlaf nicht nur über Müde, auch über Wache, am Morgen, wenn es
schon hell wird. Wenn alle Bilder ein Heute spiegeln, auch dort, wo sie sich abkehren. So später Schlaf stärkt selten, träumt nur unruhig. Dünne Wand überall, wirrer Lärm dringt herein.
DER
GESPRENKELTE
URELUSS
Mancher scheint sich ohne Blick schon richtig. Ratet dem Kopf,
sich zu legen, in Traum zu legen. Dahin zog Klages vor allem, bequem, mit papierenem Gesang, auch verführend durchaus. Das bewußte Ich soll aufgegeben werden, dann erscheint ein Abgrund sozusagen. Worin alles Rausch ist; einer, der sich nicht vorwärtsbewegt, der auf der Stelle tritt, vielmehr, auf der Stelle
quillt. Jede Art Wachheit, die gesamte Kultur wird als bloßer gehemmter Trieb verneint. Der Denker Klages will sie mitsamt der Wurzel abtragen. 330
Diese ist ihm verstandeshaft schlechthin, von Anfang an. Der ursprüngliche Mensch steht gegen den bewußten, gezüchteten, zuchtvollen, Seele holt auf gegen Geist. Der heutige, gänzlich ausgelaufene Betrieb istnur das Ende von Zerstörungen, welche von vornherein im Willen und Verstand angelegt waren. Alles dermaßen Gezüchtete ist dekadent, Wachheit die Krankheit an
sich, Geist eine Überwucherung der grauen Hirnrinde. Zahllose Worte verwendet Klages gegen das Bewußtsein, das das Leben immer wieder in Ichs und Teile zerfällt; es hat von Anfang an eine zersetzende, zerstörende, analysierende, atomisierende Funktion. Nur das Ticken des Ich tötet den Strom, nur die Selbstsucht und das Ich-Bewußtsein, das ihr entspricht, bringen den
Abfall von der Lebensganzheit; geistige Kultur überhaupt ist ein einziger Irrweg von den Lebensquellen fort, diemoderne Großstadt der Lohn zehntausendjähriger Instinkt-Zerstörung. Der Mensch ist als einziges Wesen aus dem Instinkt und Lebensstrom
herausgetreten, gerade als homo sapiens. Noch die Primitiven meistern ihre Seele nicht, sondern fühlen sich von ihr, als einer allgemeinen, als einem Bilderstrom, als einer objektiven Macht gespeist und abhängig. Aber in der »Geschichte« drang das molochitische Wesen des Bewußtseins vor, sperrte die Menschen in sich ein, fraß die Gemeinschaft mit ihresgleichen wie mit dem
lebenpulsenden, bilderdurchfluteten All. Nur Kinder, Dichter, Seher, Weise sind zuweilen noch ein Nachklang aus. der Urfülle des Lebens, aus der Weltseele, als diese noch auf Erden ging, aus der Erdseele, als diese noch die Menschen durchströmte. Aber
sonst hat sich Denken an Stelle der Schauung gesetzt, Begriff an Stelle des Symbols; bei Platon bereits verschüttete »die beständige Scheinwelt verdinglichter Begriffe« die » Wirklichkeit stets augenblicklicher Bilder«. Zwar bahnt sich Klages im Buch » Vom
kosmogonischen Eros« selber den Weg durch eine begriffliche Vorbetrachtung (mit übrigens recht sorgfältigen Unterscheidungen), doch der Trieb predigt mit Dichterzitaten und Archäologie gegen den Geist und schließt mit einer Stelle, die unüber-
trefflich zugleich den schaumigen Duktus dieser Predigt wiedergibt. »Wir fassen rückblickend zusammen: in der ekstatischen Wallung zieht das Leben auf Befreiung vom Geiste - die Vollendung besteht im Erwachen der Seele und das Erwachen der 331
Seele ist Schauung - sie schaut aber die Wirklichkeit der Urbilder
- Urbilder sind erscheinende Vergangenheitsseelen — zum Erscheinen bedürfen sie der Verbindung mit dem Blute leibhaft Lebendiger - die geschieht im Ereignis der Schauung, das deshalb
eine mystische Hochzeit ist zwischen hingegeben empfangender Seele des Schauenden und dem zeugenden Dämon — wieder zu sich gekommen, weiß der Ekstatiker, wenn anders er sich zu
besinnen vermag: daß die Welt der Tatsachen bloß ein schwer zerreißliches Hirngespinst ist, die Welt der Körper eine Welt
der Symbole, schlechterdings wirklich aber die Ausgeburten des von der Urwelt befruchteten Schauens, angesichts deren Vergehen und Sterben Wandlung bedeutet.« Kurz, die Seele
befreit sich in allerhand seliger Wallung; hingerissen in dieser werden das Ich und der Verstand (Geist), hinreißend aber ist allein das panische Leben. Immer wieder wird betont, daß dies Leben zugleich alles sei. Nämlich die Seele des wahren Innen; wo und wie freilich drückt
sie sich aus? "Trübe Wandervögel gehen damit um, deren Motten ins Licht fliegen. Oder ältliche Räuschlinge oder phantasielose Kahlköpfe, die ein Haarmittel anpreisen, das ihnen nicht hilft. Das geschieht am dürren Holz, doch auch Klages, ein entschiedener Wochenend-Philosoph, hat Zeiten, wo die Tiefe seiner
Begeisterung eine ebensolche des Niveaus wird oder verrät. Da erscheinen Sätze wie dieser: »Möge sich denn das Buch zu den alten Freunden diesen und jenen neuen gewinnen!« oder: »So dürfen wir der Hoffnung Ausdruck geben, es möge die Neuauf-
lage ohne Gehaltseinbuße an Verständlichkeit gewonnen haben.« Das mag noch mit den begrifflichen Voruntersuchungen des Anti-Begriffs zusammenhängen; obzwar man eher ein Wörter-
buch zu Xenophons Anabasis so eingeleitet vermutete als den Kosmogonischen Eros. Aber auch innerhalb seiner, im durchgehenden Preislied ekstatischer Bildschau, erscheinen gerade
»Bilder« folgender Art: »die gefangennehmende Durchblutung eines Stoffes«, es erscheinen Gleichnisse aus dritter Hand und
abgestandene Geschmacklosigkeiten, Provinzpathos von vorgestern: »in fliederduftender Sommernacht bei ungewiß flakkerndem Lichterschein«. Es erscheinen Sätze von solcher Kraft zu unterscheiden Echtes und Falsches, von solcher Echtheit 332
selber wie dieser: »Wem je auch nur einmal zu rascherem Klop. fen das Herz bewegte die wolkenbeschattete Meeresferne, die Böcklins (!) Pinsel erwachen ließ in der schmerzlichen Trunkenheit seines Tritonenblicks« und dergleichen mehr. Steht dieser Satz (1930 noch geschrieben) für viele und zeigt er, was Böcklin an Ekstase auf sich hat, so sind doch selbst die besseren über-
wiegend
nur Nachklang
der Jahrhundertwende,
ihres sich
»Auslebens« und der Spielart eines dionysischen Bürgertums sozusagen. Die wunderbare Franziska Reventlow hat solcher Klageszeit schon in statu nascendi ihre Parodie geschrieben; einer Zeit, worin »Eros« und »Kosmos« Atelierfeste geschmückt hatten, bevor sie lächerliche Salonworte und ernsthafte Windjacken geworden sind. Die »pelasgische Urstufe des Lebens« wird derart sichtbar als Münchner Diluvium von 1900: der Hohlraum von heute füllt sich mit Stimmungen aus Kunst und Literatur
von damals; Böcklin erschien bereits, er mischt sich mit Wagner im Jugendstil, ja, mit Stefan George, als wäre dieser Bruno Wille. Übrig bleibt die Sucht, ursprünglich zu werden, was dasselbe
ist, wie endlich zu leben. Der spätbürgerliche Hunger findet da drinnen allerhand, worauf Proleten, denen es am Nötigsten fehlt, noch gar nicht kommen. Daß der heute bewußte Mensch
nicht der ganze ist, merkt er als bürgerlicher untergehend und taucht nun ganz unter; wovon sogleich. Übrig bleibt weiter die Sucht gegen das Selbersein von heute, gegen ein künstliches Da-
sein, woran kein Segen mehr ist. Das Glück ist rückwärts in der völligen Entspannung, in Boheme, die die Nacht zum Tag macht, in Freilicht erst recht, das der städtischen Unwirklichkeit ent-
rinnen läßt. Gern gehen hier Kapitalisten mit, schon um der Proleten willen, denen das Vorwärts verleumdet wird und das
Kollektiv »naturhaft« umgefälscht; doch auch um ihretwegen lieben sie Moratorium der Technik (als Maschinensturm der Besitzenden), Sonne dazu, um das Vakuum auszufüllen. Der
Weg ins lebend Innere, drinnen wie draußen, wirkt sogar noch weiter: er zieht Frauen an, als Liebende wie als Mütter, die müde
Jammerschelle schmückt sich mit Grün, jenes Urgefühl täuscht, das noch Männer zu Frauen macht, nämlich verschießend vor Pan. Pans Anschein tritt aus dem Sonntagmorgen ins Zentrum des Lebens; wo Professoren nur das sogenannte »Naturschöne«
333
eo a
Be
behandelt hatten, lockt Klages absolut, setzt die Klimax Böcklin, Wagner, Nietzsche, lehrt einen mit Winterstürmen und Wonnemond versetzten Nietzsche. Wieweit das mit den Höhlen des
Mutterrechts verträglich ist (welche beim Kenner Bachofens gleichfalls nicht fehlen) steht dahin; genug: ein kosmischer Fluß schwemmt Lesefrüchte ans Land, Zweige, Zitate, Mythologismen. Ja, er gibt sich als Bilderstrom, herfließend von der Urwelt und nach Art eines archaischen Kaleidoskops; wovon ebenfalls sogleich. Zwar sind zitierte Bilder nie so frisch wie neue, doch eben sie füllen, undeutlich, eine undeutliche Lücke aus, alter Ersatz tobt, als wäre er uralter. Wunderliche Zeit, welche so erschüttert ist, daß sogar antiquarischer Staub Klangfiguren bildet.
Welche so in Fluß ist, daß noch der zahme Sonntagmorgen wild über die Ufer tritt.
ROMANTIK
DES
DILUVIUM
Das also gibt vor, lauter bunter Trieb zu sein. Lauter alter und breiter, der das Heute scheinbar ausläßt. Zuerst war Klages nicht so allgemein oder zeitlos; er sah sich, auf seine Weise,
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durchaus im Leben um, gerade unter den einzelnen Ichen von heute. Schriftdeutend, charakterforschend, winzige Teile eines individuellen Daseins isolierend. Andere Triebfedern des Heute wurden nicht bemerkt, andere Instanzen nicht gedeutet. Überstieg Klages daher die Mauern der Handschrift, des Charakters,
so lag die gefundene Burg nicht mehr in der Zeit, sondern ganz und gar rückwärts. Der Trieb ohne Verstellung, der Charakter
ohne Zaum stampfte dann allerdings vorgeschichtlich. So nämlich, wie der müde Bürger sich als gewesenen Menschen wünscht
und denkt, wie ihm Wildes und Buntes nachglühen. Die guten Züge dieses Anfangs werden derart aus erbitterten Träumen gemalt. Nicht so sehr aus Fülle, die selber eine ist und daher vergangene trifft, zur Sprache bringt.
Der Mensch soll hier nur ein ganzer sein, woerrast.So vollund ursprünglich war er angeblich vor zehntausend Jahren und mehr, nämlich als rauschhaft. Aber hat es diesen »ursprünglichen« 334
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Menschen, diesen Most ohne Behandlung je gegeben? Und . wenn es ihn gegeben haben sollte, lebt irgendwo ein Zeuge dessen, geht es irgendwo zu diesem unbekannten Adam zurück? Noch der letzte Buschmann ist kein alter Adam, sondern auf seine Weise gekerbt, gebrochen, gezüchtet, tätowiert. Wo immer Menschen sichtbar werden, primitiv, griechisch oder wie sonst, sind sie erst nach der Mannbarkeit auf ein Leitbild hin bestimmt worden; »ursprüngliche« Natur ist daran nirgends. Nur was an Rosen und Tauben gezüchtet wurde, nur diese
»Dekadenzen« oder »Sublimierungen« oder »Paradoxe« gehen, sich selbst überlassen, wieder auf die wilde Heckenrose, wilde Felstaube zurück. Doch der Mensch, durch so viel Kulturen von
seinem Ursprung getrennt, findet zu sich als vorgeschichtlicher Kreatur keinen Weg. Sucht er ihn mit Libertinage, so kommt
nichts als eine Art konstantinopolitanischer Straßenhund heraus, an dem Rückstand aus tausend Arten, aber kein Urtyp zu finden ist. Sucht er den Weg mit Romantik, so entsteht ein auf
Flaschen gezogener Urwald, mit Inhalten, die einer leeren Sehnsucht, ungeregelten Dichtung, vollen Philologie entstammen,
jedoch keiner Intuition, die selber urgewachsen wäre. Denn eben: zum Unterschied von der Heckenrose,
Felstaube hat es
den Urmenschen nie gegeben, als einen bewußten oder gar am
Anfang schon definitiven; gerade der »wahre« Mensch war stets _ ein Nebel, ja, ein Problem seines Bewußtseins. Er ist als solches
_ durch immer neue Umbrüche seiner versuchten Lösung gegan_ gen, gerade durch immer neue rationale Leitbilder seiner Iden_ tität. Gerade durch immer neue »Klärungen«, und Bestim-
‚ mungsversuche seines » Wesens«; man kennt die Abfolge dieser ı Bestimmungen, man sieht, wie der Mensch in den verschiedenen . »Kulturen« allemal sein wechselndes Leitbild hatte. Niemals ist
der Mensch ein fertiger Besitz gewesen, sondern allemal eine ‘ Variable über X; auch der dionysische Zustand ist nicht »Ursprung«, sondern der Versuch einer Bestimmung, dem andere
‚ ebenso vorhergegangen sind wie ihm andere folgten und folgen werden. Wäre irgendwo schon der wirkliche Mensch erschienen,
dionysisch, so stünde die »Existenz« nicht immer wieder vor der Frage, wie sie leben solle, was sie zu tun habe, welche un; bekannte Speise auf dem Lebensherd koche. Unsere Welt ist
337
jedenfalls, gerade im radikalen Abbau aller komplexen und mythologischen Trümmer, auch der »dionysischen«,an einen reinen Nullpunkt gekommen, der, wenn er schreit, nicht nach zeitfremden Masken schreit. Weder nach Blutschein noch nach Erdmythos (der bloß noch Hitlertum aus sich heraussetzen kann),
noch nach Himmelsmythos (der bloß noch Sonnenglast sagt, jedoch, bei allen Abgöttern, kein Ostarafest mehr begehen kann). Gerade die echten metaphysischen Umtriebe, die dem
Großbürgertum noch geblieben und dialektisch brauchbar sind (so bei Bergson, dem eigentlichen Vitalisten), verbinden sich heute mit Wachheit, ja, mit »Zivilisation«, nicht mit verärgerter Provinzseele, nicht mit Lenbachtum, das statt Tizian Diluvium
kopiert. Die schlecht Entzauberten, die sich deshalb als Bewußtseinsfeinde erscheinen, haben im dionysischen Bewußtseinsrest noch nie Anderes gefunden als Archäologie, und wollten sie hier Substanz, so stießen sie erst recht auf heilloses Vorbei. Gerade die Wurzel zu allen »Mythen«: das erstaunte Geheimnis des Menschen und der Welt - wandert immer wieder neu durch
den Bewußtseinsraum und ist heute näher ausgegraben, unverdeckter durch falsche Räume als je; so wie sich die wirkliche Substanz von Mensch und Welt nur im Geschichtslicht, nicht am
»Anfang« faßt, verwirklicht und berichtigt. Klages hat nur das Verdienst, statt »Angst« und »Sorge« auch »Leben« gezeigt zu haben; im Dasein eines »Subjekts«, das bürgerlich und großbürgerlich kein »Leben« mehr hat, und deshalb schöne Leichen
gräbt. Aber erst die Klasse mit Zukunft wird auch dionysische Vergangenheit gebrauchen und besitzen können. Erst diese Zukunft schlägt aus dem Rausch
heraus, was nicht Bestie oder
Phrase ist, sondern noch mögliche Gärung. Der Mensch soll weiter nur ein ganzer sein, wo er schwärmt. Damit wird er sichtig, nachtsichtig, dem Ich entrückt, die Seele wird schauend. Das geschieht im Glück der Kinder und Dichter
einsam, doch der eigentlich schöpferische Rausch, der erotische, schmilzt Körper, Seelen, Welt völlig in eins. Dies überhaupt sind
die drei großen Schmelzweisen des Rausches: die heldische, die erotische und die magische; ihr Orgiasmus führt allemal Ich und Geist wieder in Entrückung. Der Ichtod des heldischen Rausches geht durch den Kriegertod des Leibes, der Ichtod des
336
magischen Eros durch »wollüstig-selige Ekstasis«, worin die Seele ihr Bild wie das ihrer Schau-Inhalte von der Tünche der Jahr-
tausende befreit. Der heldische Rausch hat einem ganzen Zeitalter der spätpelasgischen Menschheit den Namen des Heroenzeitalters gegeben; der magische Rausch kulminiert gleichfalls in purer Hingabe: also nicht etwa in Willenskraft und Zauberei, sondern in Totenkult und Gestirndienst. So verweiblicht Klages noch Heldentum und Magie; er halbiert Nietzsches Heroismen, indem er ihnen den Willen zur Macht entzieht; er »halbiert«
Nietzsches Teleologie: der Mensch ist nicht etwas, das überwunden, sondern bloß etwas, das archaisch umgangen, entzielt werden muß. Klages halbiert noch Bachofens Pantheismen, indem er wesentlich nur ihr Nachtseite gelten läßt, nämlich das
Mutterrecht und die Erdgöttin, Apollo gilt nur ohne »Apollonismus«. Halbiert ist sogar noch die Nachtseite, sofern Klages alles Leid und Negative, alle Härte und Menschenfeindschaft daraus entfernt; sein pantheistisch-mythischer Vitalismus ist ebenso ein - monistischer, ein Lebens-Monismus mit dem Behagen Böcklins, fast Haeckels. Gegensatz ist lediglich der Geist, und dieser steht, als Daimon ex machina, außerhalb des Lebens; Biozentrik ist ohne Schmerz, wie im Traum, ist erdseelischer Zusammenhang mit dem unbewußten Walten, ist voller Ein-
klang mit dem rhythmischen Ausgestalten des Lebensstroms und seiner Bilder, seiner puren Bilder. »Gezüchtet« ist nach Klages auch das heroische Denken des »Ethikers«, dessen Ob-
jekt die Person des Menschen in ihrem Widerstand zur Welt bildet: urtümlich allein das kosmisch-organische Bildsehen des
»Metaphysikers«,
dessen Objekt das Ableben der Natur ist.
Man hat Mesmers »Allfluidum« wieder, ohne Heilkraft, doch ästhetisch; man hat den »siderischen Sturm« des Paracelsus, ohne medizinische Praxis, doch mit fascistischer. Denn der Feind auch hier bleibt die Vernunft, sowohl als moralische wie als intellektuelle, sowohl als Selbstbeherrschung wie als » Vergeistigungsschwindel«, sowohl als Sokrates wie als Jesus. » Wessen der Geist sich bemächtigt, das ist unfehlbar entzaubert, und es ist mithin zerstört, wenn es dem Wesen nach ein Geheimnis
war. Die geistige Bemächtigung ist Frevel am Leben, und darum
trifft den Frevler der rächerische Rückschlag des Lebens. 337
a Dieser Satz wird wahr bleiben, solange es eine Menschheit gibt, und er wird sich furchtbar bewährt haben, wann die entartete
Menschheit an der rationalistischen Entzauberung des Lebens verendete.« Sokrates und Jesus waren auch bei Nietzsche die
Schibboleths dieses Verderbs; aber Sokrates wird bei Klages der erste Vertreter der »rassefeindlichen und internationalen Vernünftigkeit« überdies, und Jesus gar verleumdete nicht nur das »prachtvolle Menschentier«,
sondern sein Wachen
und Beten
verschüttete nach Klages auch die »gebärerische Zone heiliger Mythen, die vor dem Blick des Weihelosen ein Dickicht schauervoller Mythen barg«. Der Sinn des »Metaphysikers« mag diese Mythen als Urgut meinen und die Menschen, welche ihre Entrückung daran haben, als archaische; doch bei Klages werden es
mehr wagnerianische, jene, von denen es im »Geist der Utopie« heißt, sie seien »tanzende Schiffe, die widerstandslos das Leid,
den Kampf, die Liebe und Erlösungssehnsucht ihres untermenschlichen Meeres mitmachen, und über die in jedem entscheidenden Augenblick die Weltwoge des Schopenhauerschen Willens hinweggeht«. Dergestalt eben betont Klages konsequent die »wollüstig-selige Ekstasis« als einzigen Quellpunkt echter Erleuchtung, als genuine Vermählung des Lebenswillens, der hier Lebenstrieb genannt wird, doch in gleicher Art mit dem Menschen durchgeht, als Widerstand ihn absetzt. Gewinn wird
dem Schauenden freilich dies: »Wer die Form des Personseins in der Ekstase sprengt, für den geht im selben Augenblick die Welt der Tatsachen unter und es aufersteht ihm mit alles verdrängender Wirklichkeitsmacht die Welt der Bilder.« Diese Bilder nun - zentralster Teil der Schwarmschau — haben bei Klages vier Bestimmungen; alle vier wollen sie von bloßen Begriffen, auch Ideen unterscheiden. Sie sind erstens inwendig geschaut, der Mensch ist mit ihnen träumend im inneren Blühen und Wachsen einer Blume selbst. Sie sind zweitens nur im augenblicklichen Erleben und ein einziges Mal da, fließend mit dem Augenblick ihres Erlebtwerdens, und ein Nu, der den Menschen
und die Welt im gleichen Anfang verschmilzt. Bilder werden von der Seele empfangen, und was sie befruchtet, mit einem Blitz befruchtet, ist die außermenschlich erscheinende Seele; so
daß Bilder nicht das begrifflich festhaltbare Wasserding oder 338
Waldding,
sondern
Erscheinung
der Erlebnisseele
sind: als
‘Woge, die von innen schwillt und sich hebt, als das Sturmverfangene des Baums, als der Wald, »während er flammt in Glu-
ten der Abendsonne«. Drittens duldet das Bild keine mögliche Nähe, keine Greifbarkeit wie das Ding, sondern ist Ferne schlechthin, seine Höhenzüge sind allemal blau umflort. Was aber in dieser Bildferne erscheint, die eigentümliche Klangfarbe der Sehnsucht in ihr, was an den Sternen gerade durch Abwesenheit glänzt und sie zu begehren verbietet: diese Ferne ist alle-
mal zugleich das Urvergangene. In der räumlichen Distanz eines Gegenstandes erscheint seine zeitliche (Zeit ist die Seele des Raums, Raum der Leib der Zeit); und zwar erscheint sie nicht etwa als Ferne der Zukunft, die bei Klages zum unwirklichsten
Hirngespinst wird, sondern lediglich als Ahnenbild, als Totenkult des im Gegenstand geschauten Fernbilds -: »wolkenwandlerisch über Bergesfirnen, im täuschend entlegenen Sterngefunkel zieht ewig abschiednehmend
ewig die Vorzeit vorüber«.
Wegen dieses eigentümlichen und verhangenen »Ferndufts« sind Bilder nach Klages auch nur durch Symbole wiedergebbar; diese sind die Schriftzeichen, um sich ekstatisch erschauter Bilder in den Zwischenräumen der Nüchternheit zu erinnern: »ist der Begriff der Ausgangspunkt der wissenschaftlichen For-
schung, so das Symbol der Ursprung des Mythos«. Viertens schließlich ist das Bildleben nicht still, sondern schießt immer neu auf seiner uralten Stelle durcheinander. Bilder »existieren« nicht wie Dinge, sie sind vielmehr in dauernder Verwandlung;
statt der toten Begriffsdinge des Verstandes »ist der Grundzug des gesamten Mythoswesens die Metamorphose«. So beschreibt Klages - orphisches Griechenland: » Alles bewegt sich und wandert, kündet sich an, entfaltet sich und entschwebt, und so lebt
es denn; Triebe und Wünsche, Verlangen nach Sättigung oder Begattung, Krieg und Verbrüderung ballen das Luftige, lösen das Feste, ziehen das himmlische Feuer in die Umarmung der
Sümpfe, senden als Nebel das nährende Naß in die Gluten der Sonne. Der Glaube an Allebendigkeit, an Panmixie und unab-
lässige Wandlung durchblutet den Mythos wie die Systeme der frühesten Denker.« Kaleidoskope also auch hier, in der neuen »Sumpfzeit«, welche Klages im Hohlraum reflektiert: »Das Bild 339
des Menschen löst sich in die Meteorilien, die Meteorilien gerinnen zum Bild des Menschen. Farben, Formen, Klänge, Geräusche, Düfte scheinen in ihm zum Pandämonium aller Bildelemente verschmolzen; und dennoch leuchtet es schimmernd und überklar, einem bald drohenden, bald verheißenden Antlitz ähnlich.«
Metamorphose ist derart die letzte Bildbestimmung; Metamorphose auf einer imaginären Bühne, der die Urzeit ihren Haschisch hereinschickt, ihren Proteus freilich auch. Wieder ist ein
Tribut gestaltschauender Tugend an das hohlräumige Laster unverkennbar;
wieder auch ist dieser Tribut auf dem Boden
bloßer Kontemplation, ja, eines effiminierten Ästhetizismus nicht auszahlbar. Wieder kann erst eine Klasse mit Zukunft den »Fernduft des Horizonts« und die »Bilder«, welche darin stehen, gebrauchen und dasVerkapselte heraussprengen: nämlich die
in eine unabgegoltene Vergangenheit eingekapselte Zukunftsbedeutung der Bilder. Wieder, vor allem, macht das Spätbür-
gertum - Metamorphose frei, jenes wohlbekannte Wesen, das man
Iraum-Montage
hier nennen
könnte, wäre nicht so viel
(scheinbare) Bewußtlosigkeit dabei. Bei Klages utopisiert sich
nur Vergangenes als solches und ewig; der Traum des Vergangenen wird zur Vergangenheit des 'ITraums, zum Totenkult, we-
niger noch: zum Totenkult der — Totenkulte selber. Zukunft, sagt Klages, ist lediglich eine nach vorn projizierte Vergangenheit; zum Teil völlig richtig, aber dahin zu ergänzen, daß es Vergangenheit, welche lebt, Tote, welche erweckbar sind, leuchtende Chöre der Vorwelt anders auch gar nicht gibt. Das letzte Wort zu diesem Trieb, vor allem zu seinen Bildern,
ist noch nicht gesprochen. Noch lange nicht; denn hier ist ein geladenes Feld, und es reicht viel weiter als das späte Schwär-
men oder gar als die alten Mahnmale. Sehr träumerisch will dies Bürgertum aus dem verdinglichten Begriff heraus; sehr wenig aber, das liegt auf der Hand, kommt es über schönen Rauch hinaus. Die Unlust dieser Betrachtungsweise, Bilder ernst zu nehmen, ist evident; sie hängt aufs genaueste mit dem bloßen FernRausch zusammen. Dieser wird von Klages zwar als Vehikel der Sehnsucht selber begrüßt; aber gerade die alte Zeit, wo echte Bilder noch lebten, oder jene neue, die sie echt innehat, zeigt den Wunsch, sie auch tätig-nahe zu erfüllen. Die echte Klangfarbe
340
. der Sehnsucht schlug im Volkslied bekanntlich so aus: »Wenn ich ein Vöglein wär, flög ich zu dir«; und die Griechen gar, an deren Lebenskult Klages mitlebt, kannten überhaupt keinen Eros der Ferne, ihre Welt ist Leib, Polis, Küstenschiffahrt des Begriffs. Ja, selbst die romantische Ferne sprach noch von künftigem, von erreichbarem Glück, sie zog nicht, wie der Klages-
sche Karneval, bloße Scheinrenten aus einem längst vergangenen, ' noch in der Vergangenheit fiktiven Kapital. Hat die Klagessche Bilderlehre das Ding recht vital zu hintertreiben versucht, so
gibt ihr Ästhetizismus dem Bild selbst doch wieder Dingcharakter, nämlich den des Faktums: nicht mehr im Sinn eines »Gemachten«, wohl aber eines längst »Gewordenen« und Gewese-
nen. Die Brücke zur Zukunft, an der gerade Nietzsches sämtliche "Traumstätten gelegen waren, sind abgebrochen, die Teleologie schrumpft zum ’Iao der Urzeit, das Kinderland wird zum blühenden Antiquariat, Zukunft überhaupt — mit einem Mut der Paradoxie, der an Nonsens grenzt - aus der Welt herausgeleugnet. Und das Alleben, das romantische Alleben, wohin die riesige Metamorphose immer wieder zurückkehrt, in ebenso breiter,
wie hoffnungsloser Unbestimmtheit des Seins und Ziels? Von dieser Lebendigkeit gilt erst mit Fug, was Jean Paul einmal, in
einem Brief an Jacobi, von Schellings Weltseele bemerkt hatte: »Das Positive, worauf ich durch das ganze Buch hoffte, weiß er nicht weiter anzugeben, als daß es im Allgemeinen überall sitze und sich bei glücklichen Anlässen als Vieh etc. zeige«; so biozentrisch ist die Sinnlosigkeit — nicht Schellings, wohl aber eines Panvitalismus beschaffen, der aus dem Leben den Menschen herausläßt und aus dem Menschen Werwölfe, Traumbilder, Ahnenkult, Tierkult macht. Die Frage nach wahr und falsch ist Fascisten ohnehin unbeliebt; sie entfällt im Traum, sie verlischt im Ästhetizismus, und die Klagessche Mythologie läßt sie erst
recht verlöschen. Die Panmixie des richtungslosen Sinns spürt unter ihren Elementen selbst keinen Unterschied der »Bilder«: nämlich, ob sie von »Dämonen« sind oder von dem, was sie ver-
scheucht. Wo alles hinnehmend, alles nur urvergangenes Sehen ist, wird alles auch zu Sage und Bann; dergestalt, daß das Mär-
chen etwa, dieses Feuer gegen die Raubtiere des Mythos, nur _ als verkleinerter Mythos bei Klages erscheint, nur als »der
341
x
kindliche Nebenschößling des schauenden Lebens«. Erst recht lebt im Kaleidoskop des Ästhetizismus noch keine Dialektik; als
welche ja nicht statthat, wo Gegenstände selber zum urbildlichen Ein und Alles werden, sondern (selbst mythisch) nur dort ist, wo das Ein und Alles in jedem Gegenstand diesen ebenso als Widerspruch zu dieser Allheit entwickelt und im Widerspruch auf den Weg schickt, auf einen von Figuren begangenen, nicht von Fernbildern beschienenen. Dennoch, wir wiederholen:
das letzte Wort zur Bilderlehre, gerade in der archaischen Verkapselung und »Panmixie«, worin sie dem Hohlraum erscheint,
ist noch nicht sprechbar. Klages, ein dionysisches Grabgeläute der bürgerlichen Kultur, ist ebenso die ausgeführteste, die konsequenteste Romantik einer älteren, ja, der ältest bekannten $
sub specie des spätbürgerlichen Hohlraums.
Nicht grundlos
erscheint selbst an dieser Stelle, im Zentrum dieser Stelle, das
Wesen Panmixie; ein »orphisches Griechenland« im spätkapitalistischen Flucht- und Mischraum. Ein weiches Wesen und ganz aus Masken, jedoch die Masken tragen Symbole und erinnern aus dem Scheinfluß, worin sie sind, daß auch der echte voller Bildversuche ist, voller Gleichnisse eines All im Unterwegs. Konkrete Dichter haben solche Bilder stets notiert, Denker nur nebenbei oder als Hilfsmittel: ihr weittragender Erkenntnissinn steht aber, nach Abzug des Kalküls, vor der Tür; denn oft sind die Spiegelungen eines unbekannten Endes, eines noch nicht
vorhandenen Alls im kleinsten Detail. Dazu taugen die bloß archaischen und vor allem kontempliert archaisch gehaltenen Bilder eines Klages nicht, wohl aber die echten: teils aus Archaismen ausgewickelt, teils neu im Unterwegs entstanden, gerade
aus dem Exodus des Unterwegs. Insofern tauchen sie aus der Unruhe der Dialektik auf, sie betten sich unterwegs schon ein als ebenso weitertreibende wie »bedeutungsvolle«, als TendenzGestalten nicht nur, sondern fast schon als mögliche Tendenz-
Endgestalten; solche »Symbole« sind und bleiben Knoten in der Analyse, kleine Azoren im Prozeß. Fragt man nach diesen echten Bildern, so ist hier nicht der Ort, sie zu entwickeln; nur so viel: es sind bereits die im Märchen enthaltenen Wunschbilder, es sind vor allem die Hoffnungsbilder des betroffenen
Staunens
342
(nur dies »Schaudern«
ist »der Menschheit bestes
Teil«), es sind auch jene »Formen«
der Erhabenheit, welche,
wie Kant sagt, eine Ahnung unserer künftigen Freiheit übermitteln. Und gerade diese Bilder werden nur von der Höhe des fahrenden Bewußtseins her konkret sichtbar, von jenem Neuesten her, das das »Älteste« allein mit sich führt, um es - in voller Wachheit - aufzulösen und zu beerben. Bei Klages selbst geschieht das mitnichten, seine Rückschau ist, an Ort und Stelle, vom echten Bild so getrennt wie das Moratorium der Technik (um des Kapitals willen) vom sozialistischen Zweistundentag. Falsches Waldweben schwärmt in der Brust, »dämonisch-ekstatisches Verhältnis zur Welt« erleichtert nur den weniger ekstatischen Verhältnissen das Geschäft. Die Rechnung des Daseins ist
dem Kapital zu schwierig geworden; wie wenn ein Schulknabe Gleichungen zu lösen hat, aber das X wird eine riesige Bruchzahl, und er merkt daran den falschen Ansatz: so wachsen dem
kapitalistischen Kalkül die Kompliziertheiten über den Kopf, ' und seine Irrationalen verlassen die Schule, ziehen aufs Urland der Triebe oder des Eros, der alles begonnen. Es hat aber kein
vorhanden und schon »wirklich« gewesener »Urmensch« je gelebt, jeder vermeintlich alte Adam war stets nur der »Jesus« einer vorhergehenden Brechung und Bestimmung des menschlichen Kreatur-Dunkels: daher ist alles »Erste, wirklich Älteste« noch unbekannt, ist, wie wir sagten, ein dauerndes Problem des Bewußtseins und als gelöstes, als »Urwirklichkeit des Menschen«, als die ganze »Urwirklichkeit« selbst erst am Ende da.
Gerade der wirkliche Anfang (der im archaischen bestenfalls
spukte oder eingehüllt umging) lebt immer nur auf den Gipfeln des wachsten Bewußtseins, nicht im Aufguß des Unbewußten, das man mit Recht »Entspannung« nennt. Oder wie ein arabischer Philosoph gesagt hat, Ibn Tofail, derselbe, der den ersten
Robinson geschrieben hat (den frisch anfangenden Menschen): »Der Lebende ist des Wachenden Sohn.«
343
IMAGO
ALS
SCHEIN
AUS
DER
»TIEFE«
Manchmal quälte ich den Vater, er solle die Mappe bringen lassen. Und manchmal war ich nicht dazu zu bringen, noch ein Blatt mehr zu sehen, lief mitten drin fort und wurde gescholten. Ich könnte es auch heute nicht sagen, ob mir die Erinnerung an diese schwarzen Zauberblätter lieb und kostbar oder verhaßt ist. Aber nahe gingen sie mir, in mich hinein drang eine Gewalt von ihnen, und ich glaube, ich werde auf dem Totenbett noch sagen können, was für einen Hintergrund das
Meerwunder hat oder der Einsiedler mit dem Totenschädel. »Das ist das alte Deutschland«, sagte mein Vater, und das Wort klang mir fast schauerlich. Aus der Romantik
Seitdem geht der träumende Trieb noch tiefer um. Man baut auch seelisch den Tag ab, um
zu diesem Dunkel
herunterzu-
stoßen. Ärzte zum Beispiel bewundern an Irren das Dunkel oft mehr, als sie es heilen; so in mancher neueren Schule, in der Jungs vor allem, die aus Freud ausgebrochen ist. Auch hier ist
der untere Mensch der wirkliche und der Kopf nur richtig, wenn er wieder singen kann, was die Leber meint. Oder das Herz; denn die Lichter werden umgestellt und sie bescheinen
sehr alte Dinge. Mancherlei Traum spült sie von unten herauf, er kann nicht unbewußt genug sein. Zwar auch Freud war nach unten gegangen, ja, er nahm zuerst den Traum als Weg. Erst recht setzte er den Trieb als Grund, den Geist als Reflex; auch seine Welt ist dunkel und der
Trieb als Libido genügend »irrational«. Aber baute Freud auf den Grund ab, so geschah das nicht mit den Mitteln des Grunds,
sondern mit hellstem, analytischen Bewußtsein. Und der Gang ins Unbewußte war ihm erst recht nicht die Heilung, sondern heilend ist allein das schärfste Bewußtsein, sofern es die »Kom-
plexe«, also gerade die Unbewußtheit des Unbewußten durchsticht. Dagegen nun gehen heute die Liebhaber des Traumdunkels
an, die Prinzhorn,
Jung,
Klages,
die offenen
oder
Krypto-Fascisten der Psychologie. Sehr interessant hier, wie die Fascisierung der Wissenschaft gerade jene Elemente Freuds ändern
mußte,
die noch
der
aufgeklärten,
materialistischen
Periode des Bürgertums entstammen. Das fängt schon mit dem
344
Trieb selber an, er ist bei Jung nicht nur geschlechtlich, sondern . gierig, wild und träumend schlechthin. Vor allem ist das Unbewußte hier nicht mehr individuell, also kein erworbener Zustand im einzelnen, gleichsam liberalen Menschen, sondern ein Schatz der rezent werdenden Urmenschheit; es ist ebenso nicht
Verdrängung, sondern gelungene Rückkehr, nicht Ursprung der Neurose, sondern gegebenenfalls deren Heilung. Freud geht diesen Dunkelfreunden gerade zu wenig weit zurück; denn er sieht nur die gefälschte Person des XIX. Jahrhunderts und
glaubt sie geheilt, wenn
er sie auf den bürgerlich-normalen
Menschen von heute bringt. Er sieht die Verlogenheiten der Plüschzeit in theoretisch ziemlich ähnlicher Linie wie die dichterische oder religiöse »Lüge«, nämlich beides nur als »Sublimie-
rungen«, mit verdrängter Libido als Kern. Jung dagegen überspringt diese aufgeklärte, auch allzu aufgeklärte Entzauberung und sucht das Recht, ja, genau: das Urrecht der künstlerischen Phantasie, der religiösen Mythen; er sucht es eben im Unbewußten, als dem »unabdingbaren« Urwert der Traumwelt. Bereits die sexuelle Libido wird hier bürgerlich geschönt, Jung nennt sie »Liebe«, manchmal auch »psychische Energie«
schlechthin; das klingt nicht mehr anstößig. Therapie aber ist Rückkehr ins Unbewußte
mit bestem Gewinn, das heißt: der
neurotisch Amoralische hat seine verdrängte Anständigkeit zurückzunehmen, aber der Neurotiker aus Moral (der häufigste Fall) muß sich mit seinem unterirdischen Dämon gerade dadurch auseinandersetzen, daß er sich mit ihm zusammensetzt. Das »Acherontische«, das Freud seiner Traumdeutung nur als
Motto vorgesetzt hatte, wird dergestalt von seinen fascistischen oder krypto-fascistischen Nachfolgern, von den Benutzern Bachofens und der Romantik ins Tempelinnere selbst gebracht. Wobei freilich die ebenso unabdingbare Bedeutung einer Person den Dunkelfreunden einen Streich spielt, den sie noch im 'Tempel selbst verspüren. Denn eben der alte Freud, der Lehrer des » Todestriebs«, pflückt kraft seiner bedeutenden Person zuweilen
Früchte des Altwerdens, geht gerade in »Tiefen«, wie sie seit dem letzten Goethe kaum formuliert worden waren: wogegen Jung, mit seinem »ozeanischen Gefühl«, mit einer Tiefe, die sich unaufhörlich als solche bekennt, die aus lauter Tiefe noch »alle 345
Religionen bejaht«, entweder nur antiquarische Lesefrüchte i nach Hause bringt oder die Tiefe in solcher Allgemeinheit beredet, in solch abstrakter Allbetroffenheit, folglich Unbetroffenheit, — als wäre gerade hier Aufkläricht und Forel, wenn auch
ein Forel der Mystik. Schließlich finden die Jungs am Nationalsozialismus so viel gute Kerne, daß dieser fast wie eine Sonnenblume aussieht und sie — beleuchtet. In Träumen erscheint, aus
Träumen gebiert sich das verlorene Land des »instinkthaft sicheren Lebenssinns«. Ein älterer Mensch jedenfalls als der heutige wird hier zu wecken versucht. Jungs Kranke klagen nicht, weil sie ihre geschlechtlichen Triebe nicht ausgelegt haben. Ihrem Dasein fehlt vielmehr der »Sinn«: bis zu vierzig Jahren leiden sie an der Unfähigkeit, ihr Leben in Angriff zu nehmen, nachher finden sie sich mit dem ihnen Gewordenen nicht ab. Jung heilt diese Kranken aber nicht, indem er sie allergrößtenteils als Patienten
der heutigen Wirtschaft und Gesellschaft begreift. Sondern nur, indem er ihrer »abgeschnittenen Seele« mythische Verbindungen schafft (und durch diese »Ergänzung« den Kapitalismus erst recht befestigt). Das Ergebnis ist eine »Umlagerung der Persönlichkeit im Sinn einer Neuzentrierung, bei welcher das Ich dann nicht mehr den Mittelpunkt der Persönlichkeit bildet«. Der Kapitalismus-Patient hat vielmehr einen Anschluß ans All gefunden, an jenes All zuletzt, das im Kollektiv-Unbewußten einer archaischen Menschheit ruht und unser Verlust, also unsere
Krankheit ist. Die Mutterbindung etwa in vielen Neurosen ist keine an die individuelle Mutter allein, wie Freud lehrt, sondern
an ein uraltes, generelles Mutterbild.
Dieses wird in Jungs
Schule nicht durch Aufklärung beseitigt, sondern durch Mythisierung verstärkt, damit es seine Heilkraft entfalte: es ist »Ima-
go«, mehr noch: der »Archetyp« der Erdmutter, der sich im individuellen Komplex jeweils belebt. So sind überall, durch das mechanisierte Dasein, erst recht durch »kindischen Aufklärungswahn«, wesentliche Bedürfnisse ihrer Befriedigung und ihrer
Korrelate beraubt, nämlich der mythischen. Und: wie das XIX. Jahrhundert, »nur als dünne Staubschicht über dem Uralter der Seele liegt«, so verschafft die Erweckung dieses archaischen All-
gefühls Jüngeren eben den Übergang in die Aktivität, Älteren 346
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' den Anschluß an einen verlorenen »Lebenssinn«. Ungeheuerlich ' wird von hier aus der Heilwert künstlerischer oder religiöser »Phantasie« betont; denn sie vor allem führt ja jene Gestalten herauf, deren der jeweilige Zeitgeist ermangelt. Sie vor allem belebt die »Archetypen der alten Triebbilderwelt« und »über-
setzt sie in gegenwärtig verständliche Sprache«, damit das bloße Bewußtsein sie fasse. »Wer mit Urbildern spricht, spricht wie
mit tausend Stimmen, er ergreift und überwältigt, zugleich erhebt er das, was
er bezeichnet,
aus dem
Einmaligen
und
Vergänglichen in die Sphären des immer Seienden, er erhöht das persönliche Schicksal zum Schicksal der Menschheit, und dadurch löst er auch in uns alle jene hilfreichen Kräfte, die es der Menschheit je und je ermöglicht haben, sich aus aller Fährnis zu retten und die längste Nacht zu überdauern.« Kurz, der »holde Wahnsinn« in Kunst und Religion ist kein Symptom von Krank-
heit, sondern ein Symbol von Heilung; im Opiat urvergangener "Träume ist hier die letzte, die substanziellste Kompensation einer »unbefriedigten Gegenwart«. Jung beschwert wenig, daß nicht alle Neurotiker Philosophen sind, deren Grübelei der »Lebenssinn« ist. Daß sich darunter auch — Erwerbslose befinden, denen nicht erst die Neurose den Übergang in die » Aktivität« erschwert. Daß aber ein Marxismus lebt, der die Krankheit des »Lebenssinns« nicht mit Seelsorge behebt, sondern mit
Revolutionen zerstört. Wie dem immer sei, dieser KryptoFascismus reicht Kunst als Religionsersatz, Religion als Lebensersatz und beides für eine müde Bourgeoisie; es ist David Friedrich Straußens »Alter und neuer Glaube« in mystagogischer Ausgabe. Es ist ein Ästhetizismus, der alle »Archetypen« wahllos liebt, wenn sie nur recht tief im Altertum stecken, im möglich urvergangenen, zeitfreien, prozeßentrückten. So entsteht »Psychosynthese«, nämlich synthetische Versammlung und Führung zum »Erbschatz ursprünglichen Fühldenkens«; so sind im
Archaikum sämtliche Kategorien schöpferischer Phantasie vorauf enthalten, unvermehrbar. Schüttelt freilich auch solch tiefe Urseele »die dünne Staubschicht des XIX. Jahrhunderts«, ja,
»fünftausend Jahre Zivilisation« mühelos ab, so gehen ihr die paar Jahre Fascismus immerhin erstaunlich nahe und haben die Kategorien ihrer Phantasie
offenbar doch vermehrt,
nämlich 347
um die des Abschüttelns selber, um Tarzan in der Psychologie. Unter Archaismen läßt sich gut munkeln, laut bramarbasieren, wenig verwirklichen, vor allem geschieht nichts Neues unter
ihrer Nacht. »In jedem dieser Bilder«, sagt C. G. Jung, »ist... ein Stück Leid und Lust, das in der Ahnenreihe sich ungezählte
Male ereignet hat und durchschnittlich auch immer denselben Ablauf nahm.« Imago ist also nicht einfacher Schein, sondern Schein aus der » Tiefe«; und diese » Tiefe« ist bei C. G. Jung eine
hoffnungslose, angeblich urgewesene. Sie begrenzt daher nicht nur künstlerische Phantasie, sie ekrasiert erst recht revolutionäre oder den Vorstoß ins noch nicht Bewußte, noch nie Ge-
dachte, nie Erfüllte. Alle Heilung sowohl wie alle Schöpfung ist Rückverbindung mit den alten Mächten und Bildern des Lebens, ist gerade - Nichtschöpfung.
Selbst diese Flucht, wenn sie wirklich zu Ende ginge, käme dort nicht an, wohin sie geht. Die Jungs sind sehr gefühlig und genießen das Dunkel nur wahllos von außen, sonst merkten sie seine Schleife. Das Archaische nämlich ist nicht so dumm wie der Blutmythos (der dafür hübscher ist), nicht ganz so wesenlos wie dieser ad hoc gebaut. Diese Psychiater freilich haben die »urtümliche« Phantasie bloß als gebildete Phrase und hauptsächlich als Opiat; sie haben das »Fluidum« von Klages, so wie
dieser es aus der Romantik hat oder äußerstenfalls aus der »Dithyrambik des Untergangs«. Darum sagt Klages im dritten Band seines Geist-Seele-Buches, 1932, von den dithyrambischen Taten mit Recht (obwohl er die liberalen meint): »Die Erde raucht vom
Blut Erschlagener
wie nie noch zuvor,
und das
Affenmäßige prunkt mit den Spolien aus dem zerbrochenen Tempel des Lebens.« Malt der erste Teil des Satzes Kapitalismus plus Mord, so illustriert sein letzter den telepathischen Diebstahl auch nicht übel, womit »Urseelen« echte vorwegneh-
men, Tarzan-»Urbilder« Geheimnis kopieren. Doch wo das Bürgertum weniger müde und diebisch war, in den revolutionären Anfängen seiner Phantasie, im Sturm und Drang, vor allem bei Hamann, als dem wirklichen Magus des Nordens,
zeigte sich im Archetypischen gerade die vertrackteste Dialektik. Es zeigte sich: jeder Weg ins »Unbewußte des Anfangs« ist
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ebenso, streckenweise, ein verkapselter ins noch nicht Bewußte dessen, was in den Menschen steckt und in ihrer Geschichte noch nicht wurde. Gerade im kollektiv-archaisch Unbewußten, das
eine reaktionäre Psychiatrie gegen Freuds bloß persönlich Unbewußtes ausspielt, ist selber - neben unvordenklichem Unsinn
und Aberglauben - ein noch nicht Lautgewordenes verkapselt; ein Ungewordenes im Menschen, das selbst in den größten »Offenbarungen« historischer Kunst und Religion noch nicht herauskam. Auch dies noch nicht Lautgewordene ist zwar in
brütenden Bann ganz anderer, nämlich völlig versunkener und verschlackter Art eingehüllt; die reaktionäre Brauchbarkeit des »Mythos« stammt ausschließlich von diesem Bann. Jedoch darüber hinaus, ja, in der Einkapselung einiger Mythenbilder selbst, ist zuweilen eine Märchenchiffer noch ungewordenen Lichts und der utopischen Glücksländer, Bedeutungsländer, welche es beleuchtet. Daher das Auftauchen dieser »Primitive« in allen Zeiten echter Revolution und eben auch in der Betrugszeit, Mischzeit der fascistischen »Revolution«. Daher aber auch ein Dasein dieser »Primitive« in allen noch nicht ausgekochten Kulturen, selbst wenn sie wesentlich eine der Herrenschicht waren. Das schaffte noch, vom Atem der Völkerwanderung her, die
geheimnisvollen Ornamente der Gotik, ihre Wälder und gedrungenen Traumlöwen, den gesamten überfüllten Dunkelglanz, vor allem im alten Deutschland. Gerade die Gotik zeigt aber auch, daß echt aufgeholte »Primitive« keine urvergangene
bleibt oder zu bleiben hat: ihre 'Traumlöwen liegen Maria zu Füßen, keiner Kybele der Steinzeit. Hat die Gotik auch große
Teile aus dem »mythischen Urgedächtnis« (oder aus der Gnosis) rezipiert, so hat sie christlich rezipiert, mithin gerade von einem
neuen Ur-Sprung des Anfangs her. Unzweifelhafte » Archetypen« wie die Mutter und das Kind, die Heilige Nacht, den Weinstock und die Reben, die Auffahrt des Menschensohns hat die Gotik keineswegs im Diluvium belassen oder auch nur, wie Jung sagen würde, »in die Sprache der Zeit übersetzt«, son-
dern ganz und gar verwandelt. Aus solchen Urbildern schlug die Gotik lediglich »Verheißungen« heraus, zu denen sie die offenbarende »Erfüllung« zu besitzen glaubte. Ihr Schlüssel ist nicht der unsere und gewiß nicht der letzte, doch die wahllosen 349
»%
Liebhaber des Archaischen an sich besitzen überhaupt keinen
Schlüssel, wollen und können keinen haben. Denn die einzige Wahlverwandtschaft sowohl zum fruchtbar Archaischen wie sein einzig möglicher Schlüsselraum ist die Hoffnung der Zukunft als der noch gärenden Wirklichkeit. Autochthone Anwesenheit im »Chthonischen« würde sich nicht auf Seite der Urvergangenheit legen, wie die empfindsamen Ärzte von heutzutage oder die Romantiker der Romantik oder die Philosophie von beiden zusammen. Hamann zum Beispiel, den wir schon nannten,
dürfte sich echter auf »Irratio« verstanden haben als Jung oder Klages; vor allem auch lebte er noch im bürgerlichen Sturm und Drang, nicht in den Umtrieben der Reaktion (die aus Sturm und Drang nur das Längstgewesene hört). Gerade der »Magus des Nordens« aber sagt: »Wer will vom Gegenwärtigen richtige Begriffe nehmen, ohne das Zukünftige zu wissen? Das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige und dieses das Vergangene, wie die Absicht Beschaffenheit und den Gebrauch der Mittel.« Und ebenso: »Das Feld der Geschichte ist mir daher immer wie jenes weite Feld vorgekommen, das voller Beine lag, - und siehe! sie waren sehr verdorret. Niemand als ein Prophet kann von diesen Beinen weissagen, daß Adern und Fleisch darauf wachsen und Haut sie überziehe.« Also meint Hamann: wie erst Poesie das wahrhafte Urelement der Sprache abgibt, so ist Prophetie das Urelement aller Geschichtsschreibung. Das ist zwar purster Idealismus von oben herab (den Grenzen der damaligen, der bürgerlichen Revolution entsprechend, zumal in Deutschland); doch wie anders als bei Jung und Klages gärten im echten
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Sturm und Drang die Archai, gärten sie zur Zukunft hinüber und in nichts als diese. Nur der reaktionären Irratio, als dem
»Sturm und Drang« der Reaktion, ist der Archetypus, den sie streift, nicht der Anfang, sondern umgekehrt die Urgewesenheit schlechthin. Die reaktionäre Irratio bleibt im Gefängnis bloß mythischer Urbilder, so des Sonnen-Penis oder der großen Erdmutter; vergebens leben ihr auch andere Archetypen, so die gewiß nicht weniger phantasievollen vom Zug aus Ägypten nach Kanaan oder die bedeutend germanischere vom Schlaraf-
fenland. Solche Urbilder jedoch — als die des »Märchens« im | »Mythos« — vermeidet ein wahlloses Lobrednertum temporis 350
_ acti durchaus. Weil in ihnen das Stichwort zu hören wäre, das ' die Träume der Urzeit wirklich an den » Anfang« setzte, nämlich in die sozialistische Revolution. Erst der Anfang, den diese mit der menschlichen Geschichte macht, holt auch die »Primitive« konkret auf, der Gewalt ihrer Märchenbilder, Glückstraum-
Bilder gemäß. Dieser echte Anfang wirft die Schlacken weg, deren sich die Reaktion zusammen mit dem Brennstoff erinnert und nur deshalb zusammen erinnert, damit man die Brennstoff-
Archetypen nicht entdecke. Die Brennstoff-Archetypen sind ausschließlich solche des menschlichen Glücks; so haben sie Uto-
pien in sich und wollen weniger erinnert werden als realisiert. Das Schlaraffenland etwa heilt dann wirklich »von den Schäden der heutigen einseitigen Gesellschaft«. Doch nicht, indem es sie ergänzt, sondern indem es sie aufhebt; denn ein rechter Arche-
typus drängt aus dem Bild zum Dasein, aus dem Opium zum Licht. Kurz: das rechte Urbild liegt nicht als gewesen unterhalb des Bewußtseins, sei es des Einzelnen, sei es der historischen Menschheit; es ist vielmehr in Fahrt, ein summum bonum revolutionär-dialektischer Fahrt und wandelt sich mit ihr.
BERGSONS
ELAN
VITAL
Von hier ging die ganze lebende Lust erst an. Als verwandter Blick auf Fließendes, möglichst mitten in ihm darin. Das Erleb-
nis, worin ein Stück Zucker vergeht, ist bei Bergson denkend geworden. Hat seinen Quell im ungeteilten inneren Strom, als dem gleichen, der im Innern aller lebenden Dinge hochsteigt. Mittels seiner läßt sich in diesem Innern zugleich auftauchen: mitlebend, mitverstehend, hineinversetzt, sympathisch. Der Be-
trieb, dem es gut geht, gibt sich als schwunghaft und blühend. Flüssig wie das Leben, noch flüssiger will hier Denken sein. Ein Wallen und Fluten instinktiver Kenntnisse, die sich jeder Wendung anpassen. Getroffen wurde damit das Erlebniswirkliche zunächst,
das Durcheinander
seines Jetzt und Vorbei.
Sodann aber setzte sich ein Begriff ein, der das bloß erlebniswirkliche Belieben so ausrichtete wie füllte: der des gärenden, 351
zeugenden, unendlichen Lebensantriebs. Dieser Begriff stammt
aus der deutschen Romantik, allererst zwar aus der Freizügigkeit also der Französischen Revolution. Schelling bereits hatte Fich-
tes »unendlich tätiges Ich« allgemein vitalisiert (da ihm in Deutschland gar nichts anderes zu tun erlaubt war), Schopenhauer verteufelte denselben Vorgang. Nach hundert Jahren nun holt Bergson den alten Antrieb wieder auf seinen ersten, freilich sehr veränderten Boden: das romantische Alleben wird zum unternehmerhaften Elan vital. Der »Verstand«, als Funktion des erlöschenden Lebens trifft selber nur Erloschenes an, nämlich Dinge, Atome, Materie, kurz »geometrischen Ballast« im
Leben. Nur die »Intuition« wird dem Leben mit Maßanzügen, gerecht (statt mit quantitativer Konfektion); sie trıfft als Elan
logique denselben Lebensschwung draußen real. Für den Bergson des Elan vital existieren keine Dinge, keine berechenbaren Ursachen, nicht einmal Zwecke: wie das Ich frei ist, der Geist
schöpferisch, so ist sein Lauf draußen (der Weltlauf) beständiger Wechsel, beständige Neuigkeit des Werdens, Freiheitskurve ohne Plan. Der Weltgeist ist nach Bergson »die Rakete, deren erloschene Schlacken als Materie niederfallen«; Bewußtsein bleibt als ihr Funke zurück, durchdringt einige Schlacken und läßt sie zu Organismen aufglühen, zu Pflanzen, Tieren, Menschen, zu ebensoviel Lebensströmen, welche durchs Bett der Materie fließen, sich reich verzweigen, Widerstände, Ab-
drängung, Rückschläge erfahren, bis der Urimpuls dereinst ohne Capita mortua gelungen ist. Helle, sozusagen jugendliche, nach vorn gerichtete Elemente fehlen hier sichtlich nicht. Doch noch ersichtlicher ist der leere, sich selber schwingende Schwung genau der des Unternehmers, der reussiert; als solcher war er in
sämtlichen Feuergarben und Heldenleben des jungen Jahrhunderts, vom
Glühlala Dehmels
bis Richard Strauss; als solcher
ging er zuletzt - mit abgezogener Konjunktur und folglich als Gewalt - in die »Willenskraft« des Fascismus ein, in die Theorien der Bergsonschüler Sorel und Gentile, in die Praxis der
» Augenblicksbeherrschung« und »spiritualen Freiheit«, welche alles angeblich zu aller Zeit kann. Elan vital bei Bergson selbst ist noch der einer Bourgeoisie, welche ihre Widersprüche bagatellisiert; welche die »Materie« ihrer wachsenden Entäußerung
352
aufs Debet-Konto des ganzen Weltalls setzt, um sie leichter zu ertragen; welche die Dialektik ihres Untergangs mit einem Saltovitale überspringt. Elan vital auf dieser Stufe hat den Unternehmer noch in höchster Blüte des Schwungs, doch in abnehmender seiner »Erfahrung«, seines Kalküls; so bleibt der Schwung leer, wird eine Antithese, die sich seitwärts in den
Dschungel schlägt und inhaltlos verabsolutiert. Das ist der merkwürdige Fall eines neuen Schopenhauer mit den reflexiven Gehirnfunktionen (die nichts wirklich erkennen) und dem Ding an sich als Wille zum Leben. Nur hineingetrieben in Zeit und
Geschichte,
nur bejaht durch
eine Philosophie,
die kein
Leid, keine Kraft zu wenden, keine Menschentiefe und derart auch keinen konstituierenden Menschengeist über dem Leben kennt und anerkennt. Doch unterdes hat sich hier gerade der Mensch über das
sogenannte Leben gehoben. Denn in seinem letzten Buch schlug ' Bergson selbst eine überraschende Kurve ein, eine unvorhersehbare, die in der Tat »Neues« brachte. Dies Buch lehrt »offene« Gesellschaft statt der familienmäßig oder clanhaft gebundenen
und letzthin vermufften. Es lehrt bewegte, »offene« Religion statt der Fabeln über bannende und fertige Mächte des Jenseits;
das Fünklein im Menschen geht als sprengend auf. »Les deux sources de la morale et de la religion« (ein kleines Vermächtnis,
nicht nur ein Spätwerk) zeigen einen Elan, worin der Citoyen sich erinnert, nicht nur der Entrepreneur ins Leere rast. Vor
allem ist der Dschungel verlassen, derselbe, den der Lebensphilosoph als erster inszeniert hatte; Bergsons Spätwerk bietet dem Rausch buchstäblich die Stirn. Alle hellen Elemente von früher
sind nun neu pointiert: der impressive Elan, der immer nach vorn sich schlug, nie rückwärts; derBewußtseinskult als erfrischtes oder erhaltenesStück aus der bürgerlichen Revolution. Merkwürdig berührt sich sogar der Ausgangspunkt dieses Philoso-
phierens mit seinem jetzigen Endpunkt; die extrem idealistische »Unabhängigkeit des Geistes vom Gehirn« berührt sich mit einer fast marxisierenden
Ȇberwindung der Naturschranken
durch planhaftes Bewußtsein«.
So hat Bergsons Philosophie
zwei Gesichter erlangt; und das zweite preist, selbst im Jahr
1932, keine Technik-, keine Bewußtseinsflucht
an (wie vom 353
ER m 1
großen Vitalisten doch erwartbar gewesen wäre). Die erste Philosophie Bergsons bleibt wesentlich eine des Unternehmerschwungs, eine der vielen Scheinimpulse des Vorkriegs, wohinter
nichts steckte als Rekordbruch, Ziellosigkeit und Verdeckung des einzig wirklichen Ziels: des Profits. Die zweite Philosophie dagegen reduziert den Unternehmerschwung - quixotehaft und leicht großartig - auf Zielinhalte der Französischen Revolution zurück; ja, der späte Bergson kennt beherrschte Technik (zum
Unterschied von der »tragikomischen Halbheit des heutigen Zustands«) und Zieldenken, wenn auch eines verblüffender Art. Was dem ewig Neuen, folglich ewig Leeren des Elan vital das
Fremdeste war, nämlich Plan und Zielinhalt: das siegt zuletzt, gemäß Bergsons phantastischer Weltdefinition: »l’universe une machine ä& faire des dieux«. Eben mittels der technischen Vernunft vollzieht sich der Übergang aus den »organischen« Gesell-
schaftsweisen, geschieht der Sprung aus der »societe close« in die menschlich gewordene der »societ€ ouverte«. Denn die soziale Entwicklung hat sich nach Bergson in die societ€ close von Familie, Stamm, Nation verkapselt, in eine gegen alles Fremde abgeschlossene, nur sich selbst, nicht die Totalität wollende Gemeinschaft. Gerade diesem Naturzustand, einem Stillstand gegenüber, der sich souverän, gar die organische Fülle
selber dünkt und doch nur habitude ist, bejaht Bergson die sprengende Technik, als ebenso geleitete wie vernunfthaft organisierte. Als organisierte mit dem Zweck: den Elan vital aus den societes closes zu einer societ€ ouverte überzuführen, den Lebensstrom aus den Partialitäten bloßer Natur-Abhängigkeit zu einer Freiheit zu befreien, welche nicht einmal eine halber Menschen ist, sondern ganzer - Götter. Der offenen Gesellschaft ent-
spricht daher die »dynamische Religion«: wie das rechte Leben sich von Familie und Clan abhebt, so wendet sich die rechte
Frömmigkeit von den Göttern des Banns ab. Die »Liebe« des Neuen Testaments steht übertreibend auf gegen die (völlig juristisch gefaßte) »Gerechtigkeit« des Alten; dynamische Religion
ist Mystik, nicht Mythologie, ist Kampf gegen alle Hypostasen der Abhängigkeit, gegen alle Fabelwesen unwissender Selbstentfremdung, gegen alle Transzendenz der Gewordenheit. Sie ist Mystik des im eigenen Innern zu entdeckenden Lebens: so löst 354
sich ihr Subjekt, auf abstrakt durchtrennende Weise, von der Natura naturata desGewordenen, hängt sich auf ebenso abstrakt
vitalistische Weise in die Natura naturans des Sprengend-Wirklichen, in die »Jeanne d’Arc des produktiven Glaubens«
oder
der Gottwerdung unserer selbst. Hiezu aber gibt die societe ouverte den ersten Raum und die Technik - gerade als Postulat,
wo nicht Funktion der »Freiheitsmystik« — das breiteste Signal. Daß der Lebensstrom auf die Hemmung der Materie stieß, dies ist der Grund, weshalb er nur zur Schaffung von Menschen und
nicht von Göttern gereicht hat. Daß geleitete Technik die Hemmung der Materie völlig aufhebt, in einer societ€ ouverte jenseits des bloßen Profit-Nutzens, jenseits der partialen und abgeschlossenen Egoismen, jenseits der Individuen und auch noch jenseits der »organischen« societes closes — das ist die Mobilmachung zum Reich der Freiheit (wie der späte Bergson sie sich interpretiert: als Kreuzung von Anarchismus und Katholizität). Eine romantische Perspektive gewiß, aber fast auch einebewegte, kolportagehaft-spannende
Chikago-Roman
(Evanston in Johannes V. Jensens
»Das Rad«
könnte
die »Welt als Götter-
maschine« kreiert haben); hier ist nicht des mindesten geistfeindliche Romantik mehr oder Lebens-Irrationalität schlecht-
hin, wie beim »Kosmiker« Bergson von ehedem. Während seine Nachahmer beim »organischen Wachstum«
halten, gar ins Dilu-
vium zurückgingen, steht der Schöpfer der Lebensphilosophie dem Mut der fortgeschrittensten Technik nicht fern, ja, er visiert,
wenn auch mysteriös, eine ebenso gegenindividuelle wie gegennationale - Planwirtschaft. Wie von bourgeoisen hebt sich der neue Elan vital auch von folkloristischen Bünden ab, wie vom Kalkül so von der dunkeln Dämonie; denn diese ist ihm nur eine schlechte Lebensform, eine heidnisch durchraunte oder ange-
glühte, doch nicht durchgeglühte und folglich überwundene »Materie«. Ganz anders wie die »Naturphilosophie« Bergsons ist folglich seine »Ethik« vom Impuls der bürgerlichen Revolution noch erfüllt; auch die durchbrennende Jungfrau, auch die letzte, dieScheinemanzipation des Bürgertums: der »Jugendstil« klingen in ihr vernehmlich nach. Völlig richtig bemerkt der Marxist Horkheimer: »Bergson steht selbst heute dem impressionistischen Ursprung seiner Philosophie noch näher als der DD)
politischen Funktion, welche seine Grundgedanken kraft der geschichtlichen Entwicklung inzwischen genommen haben.« Der Ästhetizismus des Unternehmerschwungs ist vorüber, doch
ohne daß Bergson mit Ästhetik und Unternehmertum auch den
Elan preisgegeben hätte (nämlich den rechten). Ratio der Intuition fehlte schon vorher nicht (der Urimpuls war immer höchstes Bewußtsein, Licht), nun wirkt sogar eine Art Eingriff in die Weltrakete. Damit ist kein Saulus zu Paulus geworden (so
zentral ist Bergson nicht und so genau sein Übergang erst recht nicht), doch die Irratio hat, sozusagen, eine Art roten Tag in
ihrem spätbürgerlichen Kalender. Wir, mit unseren aufbauenden Kräften, sind jetzt mehr als das bloße Leben. An uns kräftig Gesammelten allein ist, zu raten, zu
helfen, zu entscheiden, was » Auftrieb« ist. So geht es gerade zur Tat, ja zur erst verachteten Maschine hinaus, zum Vergewaltigen des Lebens, damit es Leben sei. L’homme vital gleicht nicht jenem horazischen Bauern, der vergebens darauf wartet, daß
der Fluß abfließt; er wird noch weniger vor den ewigen "Türen des ewigen Lebendigseins antichambrieren statt die Zeit zu überholen und den Mangel ihres Wohin zu füllen. Der beschleu-
nigende Mitgang, um anzukommen, vertieft sich so gut und besser als die »Intuition« in den Fluß, in die Dauer und das Wagnis des Prozesses; aber er nimmt ihm die Eitelkeit des unabgeschlossenen Affekts, die ziellose Apotheose der Unordnung. Die Aktion, welche die »Tendenz« logisch verdeutlicht und real beherrscht, führt gerade in eine andere Tiefe des Lebens, des vom Rationalismus des Irrationalen, durchstrahlten Lebens, als sie das bloße Beteuern des noch rein vitalistischen Bergson gewonnen hatte, der das »Leben« stets nur im Gegensatz zu »Begriff«,
»Zwang«, »Ballast«, »Mechanismus« definiert hatte oder so hilflos negativ wie Ovid das Chaos: damals gab noch keine braune Kuh süße Butter. Seit freilich Bergson menschliche Be-
stände in den Elan gebracht hat (seien es selbst übermenschliche), ist auch die »schöpferische Unordnung« (das ist der Un-Sinn: Zweck oder Ziel mit Kausalbann als »mechanisch«
gleichzusetzen) fast verschwunden. Die Angabe einer überall vorhandenen,
356
nur
»vom
Schlaf der Weltmaterie
belauerten«
Freiheit war noch grotesk; die Angestellten wußten wenig davon, und es war nicht die Weltmaterie
allein, welche sie am
Lebensschwung gehindert hatte. Jedoch was als Seinsbehauptung radikal antimarxistisch war: derselbe »Indeterminismus« blickt als Hoffnungsbild derWelt, als Überwindung ihrer Naturschranke durchaus nicht bloß abstrakt drein. Der marxistische
Begriff der beherrschten Notwendigkeit unterscheidet sich von den spiritualen Anarchien und Phantasien Bergsons gewiß grundsätzlich. Dennoch ist der Unterschied des neuen Bergson zu Vitalismen a la Klages, selbst zu seiner früheren rein naturalen Freiheitsfeier bedeutend; er ist größer als der der societe ouverte, des »zentral beherrschten und organisierten Maschinis-
mus« zum marxistischen »Endziel«. Auf der Hand liegt gewiß die Donquixoterie des Bergsonschen Utopisierens: die Bürger, an die er sich wendet, dieselben, welche vorher wollüstig und
erlebnisdunkel sich ins ewig Neue (ewig Alte) versenken ließen, machen keine soziale Revolution; und von Proletariat, gar von
Klassenkampf ist entscheidend nicht die Rede. Wenn sich die Völker selbst befreien, sagt Schiller, dann kann die Wohlfahrt
nicht gedeihen; auf die Frage, wer denn sonst sie befreien soll, weist auch Bergson nur auf den »erträumten Genius einer groBen schöpferischen Persönlichkeit«. Hier also ist nicht bloß die Naivität des Lebensstroms erhalten, als vor allem sein »Heldensinn«, sein Carlyletum, seine Personalität noch an der Schwelle der societe ouverte, wenn nicht weiter. Da Proletarier und Dia-
lektik fehlen, übergibt Bergson die zentral planende und organisierende Führung des Industrieapparats (welche die »Menschheit« befreien soll) Heiligen und Heroen, welche den »Sprung des Geistes« einer »in tausendjähriger 'Trägheit erstarrten Masse« vorzumachen imstande sind, hoffend, »diese werde, ihre Trägheit abschüttelnd, folgen«. Sehr also liegt fern, aus dem Nikodemus auszurauben, was er anders meint; sehr nahe dagegen die Einsicht in die teils liberal-anarchistischen, teils personalpapistischen Grenzen des französischen Vitalismus, auch wenn er, als organisiertes Menschenleben«, katholisch blüht. Jedoch
hindert das nicht, im letzten Bergson eine der überraschendsten Kapitulationen des organischen Vitalismus vor dem — sage man: organisierenden und anthropologischen zu begreifen; und eine 357
Unruhe, welche die »Entdinglichung« zwar träumerisch, doch mit Flucht nach vorne betreibt. Diese Art Lebenskult landet durchaus nicht im Urwald oder Pan, auch nicht in seinen französischen Parallelen; sie verläßt die »naturhafte« Wärme der Fami-
lie, die zur zweiten Natur gewordene Begeisterung der Nation. Und die »großen Genien«? das Mißverständnis der Masse? die Allianz von Französischer Revolution mit einer Intelligenzkirche
& la Auguste Comte, die Anarchie mit papistischer Impulsspitze? Der »Sprung des Geistes« verläßt selbst im Kuriosum die brutwarme oder rasende Ananke, setzt sich ins offene Leben Aller, nicht ins unendliche Alleben; dieses Paris ist diese Messe wert.
DER
IMPULS
NIETZSCHE
Hier griff das schlecht lebende Ich sich selber an. Das bürgerliche Ich, das sich will und nicht will, je nachdem, ob es von sich genug hat oder nicht genug von sich bekommen kann. Der Ruf Leben,
er sagt so wenig und meint so viel, ging von Nietzsche aus. Dieser schrie die Leere, die sonst nur an sich litt. Über Weiche kam das zuerst, sie steckten sich einen Mann an. Ein herrschendes Ich, das man im Traum werden möchte, dem man, wach, dient. Die Herren selbst aber fanden im Übermenschen bald das Ihre, den nackten und verklärten Ausbeuter.
Ohne Gefühle des Mitleids, ohne humane Phrase; so hat der
Übermensch gewirkt, so fühlte er sich tatsächlich. Nietzsche meinte es anders: er malte das Vornehme (statt des Guten) zu-
künftig unbestimmt.
»Wirf den Helden nicht fort in deiner
Seele«; jedoch die blonde Bestie, in dieser Zeit verkündet, konnte gar keine Seele haben und war imperialistisch. Insofern ist der Übermensch ehrlich; aus seiner Klaue erkennt man nicht den Löwen, wohl aber den Unmenschen, und wessen man sich von
ihm zu versehen hat. Die Lüge fiel ab, die laue Mitte hörte auf, in einer Zeit bereits, die die Peitsche nur gebraucht hatte, wenn sie zum Weibe ging.
Weiter aber ist der harte Mann hier ebenso gelöst wie er 358
brennt. Im Menschen erneuert sich das allemal wilde X unter dem Haustier, nämlich der »Trieb«, welcher entbehrt. Auf dem
Nullpunkt des mechanischen Daseins sind nicht nur die verschiedenen übermenschlichen Bestien, es erinnert sich auch Dio-
nysos. Das Raubtier tropisch, nicht kalt, der thrakische Wald gegen den kalten verdinglichten Bürger. Dionysos als Zeichen für abstrakt-phantastische Flucht in Anarchie: damit erst begreift man Nietzsches ernste Gewalt auf die Zeit. Damit erst hat Nietzsche seine Zeit in Parolen gefaßt, in Parolen undeutlicher Gegenbewegung des »Subjekts« gegen die Objektivität, welche es vorfindet.
Sokrates,
Apollo
und
Zivilisation,
selbst Jesus
rückten negiert zusammen; Dionysos nahm einen Amoklauf gegen alle noch so weit entfernten »Domestizierungen«. In seinem Namen blühen seitdem Sport, "Tanz, Kriegsfurie, Jugend-
bünde, »Urdämonen« (rezent oder zitiert), Naturgefühle; das war »der Abbau des moralischen und intellektuellen Phäno-
mens«. So auch ist Dionysos nicht bloß der hemmungslose Reflex des Kapitals, das Zucht, Maß, Recht, Bürgertugend beizeiten abbauen läßt, sondern er ist formale Ausschweifung in ein unbestimmtes Außersichsein, Außer-der-Zeit-Sein schlechthin. Selbst Anfänge der bürgerlichen Revolution, nämlich Rousseau,
zeigten sich wieder, jedoch gänzlich umgekehrt zu den Antipoden verlegt: statt des schäferlichen ein panischer, statt des arkadischen Gärtchens ein menhain, statt des kühl anfangenden Lichts das
orientiert, wie Morgens kam sausender Paluranfängliche,
nächtig-heiße. So wurde Romantik auf Brand gesetzt, Archaismus auf die Bestie, Philologie auf ein trunken ausfahrendes Schiff. Das Schiff ist angekommen; nun gilt es, nicht in Ansehung des »Übermenschen« (der ist bereits sonnenklarer Fascismus), wohl aber der Dionysiaka, die Beute zu teilen. — Nicht auf unsere Seite fällt die Flucht aus der Zeit, die Lust, wirr verkleidet zu sein. Glühende Worte, besonders alte, ersetzen heutige Gefühle, so daß keiner mehr weiß, was die Uhr
zeigt. Nicht auf unsere Seite fällt die Maske, der förmliche Festzug, als der sich der Protest gegen die Zeit doch anläßt und bewegt. Makart war im vorigen Jahrhundert auch dort, wo man ihn bekämpfte,
auch dort, wo
ein Verkleideter
dem
anderen
Schauspielerei vorwarf. Nietzsche gegen Wagner: als sich die 30
Zusendung von Parsifal und Zarathustra kreuzte, kreuzten sich nicht nur, wie Nietzsche meinte, Degen, auch Maskenzüge. Wie
wagnerverwandt, maskenhaft und dekorativ zeigte gerade Zarathustra seinen griechisch-persisch-biblischen Goldschnitt: intellektuelle Rechtschaffenheit in Gestalt eines persischen Reli-
gionsstifters lehrt mit Bibelsprache den Antichrist. Eine Sprache äußerster Berauschung (wenn auch mitromanischem Geschmack
und reinem Fond) preist Carmen contra Wagner, Bergluft contra Wahnfried, Tapferkeit contra Barockkreuz und Himmelreich: und ist doch der gleiche Kopientraum, worin damals das
Bürgertum lag, oder bloßer Carneval de Venise gegen den dicken, deutschen. Selbst die großen Geschichtsgestalten, an denen Nietzsche Verehrung des aus sich rollenden Menschen und Verachtung der Masse lehren will, an denen er zudem den echten
Dionysos bremst, sind über die Hälfte mehr Legendenbilder des damaligen Renaissancismus als »Exempla der Vornehmheit«. Nicht auf unsere Seite fällt selbst die echte Maske, nämlich die des trunkenen und höhlenhaften Dionysos, worin Nietzsche
sprang. Sie war keine des bloßen Festzugs, sondern eine schamanische, eine, die vergessene Kräfte auf den Träger herabzog. Aber diese Mischung wieder von Sprengpulver und Räucherwerk, von Morgen und Urvorgestern, von
»freien Geistern«
und thrakischem Nibelungenring, von Revolte und Archaismen. Dionysos steht für ein sehr allgemeines ortloses Subjekt, das in den bisherigen Bestimmungen durch Moral und Intellekt nicht satt wurde, in den bürgerlichen am wenigsten; doch wie dunkel bleibt er im bloß archaischen, scheinbewegten Protest. Der »An-
tichrist« gar gibt sich völlig als Lichtfeind, wo nicht als noch viel älterer Mythologe; so ist die Morgenröte des Nietzsche-Lebens
nicht »Apollos rötliche Schwester, die mit erhobener Fackel den Erdkreis beleuchtet«, sondern völlig das Gegenspiel Apollos und bleibt in der Nacht. Dionysos zieht nicht, wie der wirkliche, von Indien nach Griechenland, sondern bleibt im Dschungel; Sokrates, Apollo, Jesus (mit Verwischung aller Grade) werden
nicht als die aufgeschlagenen Augen des Dionysos (des gärenden Mensch-Subjekts) geschaut, sondern nur als seine Untergänge;
ja, der fernhintreffende Apollo steht da als bloßer Gott des menschlichen Haustiers. Indes: »Wettre hinein, o du, mit deinen 360
flammenden Rossen, Phöbus, Bringer des Tags, in den unendlichen Raum!« - dies singt Kleist, obwohl er sich auf Penthesileen verstand, auch auf die »granitene Bahn des Siegs«, und
gerade deshalb: denn Dionysos ist in Wahrheit der Bruder Apollos, und seine Spannung ist die zu »Zeus«, zu Druck, Gesetztheit und Bann, zur Ruhe, nicht zum Licht. Nicht korybantisch trüber Lärm, in betrunkenen Höhlen und künstlichen Anfängen, sondern
revolutionäre
Dialektik
der Geschichte
»Dionysos« — als den Grundwiderspruch
ist für
des Menschen
zur
Entfremdung und Entäußerung-der Kult, welcher ihm zugleich ein Weg ist. Auf die richtige Seite der Beute kommt daher nicht Dionysos als bloße frühere Bewußtseinsstufe, blutbesudelt, kreißende Ananke und Mordnatur, Höhlen-Gegensatz zum Licht. Sondern gerade ein Dionysos als Zeichen des Ungekommenen, Ungewordenen im Menschen, als Gott der Gärung, aber der weinsuchenden, lichtrufenden. Auch dieser Gott wird bei
Nietzsche laut, zuerst wieder nach langem Schweigen; bei einem anderen Nietzsche freilich als dem der Masken, Bestialismen und
Mythologie, bei jenem Teleologen, der seinen Posten vergebens an der Brücke zur Zukunft bezogen hat, dessen Gesichte mit wilder Blendung von einer Welt beschienen sind, die noch nicht da ist. Die Hymne der Barbarei, das Paradies unter dem Schatten (vergangener) Schwerter, die Agitation der Renaissance-
bestie und alles noch versetzteren »Instinkts« schlägt sich in jedem Wort mit dem: Dorthin will ich, mit dem Blauen des Genueser Schiffs, mit der Ausfahrt in unterdrückte Weite, mit
einer besseren Welt als der den Sklaven und - den Herren gewordenen. Dann leuchtet die Musik eines noch nicht gelebten Lebens auf, macht sich das Nicht-Entsagenkönnen, die Uner-
sättlichkeit der Hoffnung schöpferisch, um ihre tausend Flaschen und Essenzen ins Werk zu gießen; dann zieht ein umwendendes Wollen, ein motorisches Denken des Neuen herauf, das der Welt ein Ziel setzt. Ein abstraktes Ziel bei Nietzsche, ein privates, aristokratisch-reaktionär tingiertes und vermummtes,
eine romantische Utopie, ohne Kontakt mit der Geschichte, gar mit der heute entscheidenden Klasse; aber die Geschichte nimmt sich ihren Kontakt selber, die List der Vernunft ist groß. Der
Totentanz
des romantisch-reaktionären
Gefrierfleisches lehrt 361
nichts, jedoch »Dionysos« ist gerade der »Sklavenmoral« ein nicht unbekannter, ein fröhlicher, vor allem ein sprengender Gott. Saturnalien hießen die Feste der antiken Sklaven, und der
Weinstock Jesus, so völlig ihn die Kirche ermäßigt hat, zeigte im allerchristlichsten
Bauernkrieg
weniger
Sklavenmoral
als
den Herren lieb ist. »Dionysos« ist eines der kräftigsten, wenn nicht das kräftigste Zeichen des Menschen, der noch außer sich ist und falsche Formen zerbricht: und er ist es nicht an einem fertigen, großkapitalistisch visierten Anfang der Geschichte, sondern immer nur in ihr darin, an ihren neuen Einsatz- und
Wendepunkten. Zwar noch weiter hinaus hört hier ein dunkel unruhiger, Mensch das Seine. Zum Teil, wie wir sahen, der bürgerliche Mensch von heute, als Angestellter, der die Peitsche träumt, als Herr, der sie hat. Wille zur Macht ist darum das letzte Wort, wozu sich das »Leben«, dies alles verwischende, bei Nietzsche entschloß. Unbestimmt wie das »Leben« ist auch der Macht-
inhalt zu dem es sich aufgipfelt; ebenso unbestimmt der » Wille«, wozu sich der dionysische »Trieb« nun schärft. Dem Monopolkapital, ebenso dem imperialistischen Krieg fehlt zwar das Verständnis für diesen Machtwillen nicht. Doch ideologisiert Nietzsche auch in dieser letzten Phase - nach Übermensch und Dionysos -nicht bloß Imperialismus, sondern formale, inhaltlich unbestimmte Emportendenz dazu. Eine gegen das Glück, gegen
den untragischen Menschen, der Glück in der Welt meint, und freilich auch gegen jede Macht, die die Welt ändern will, statt sie — unverändert — zu beherrschen. So entstand das Da capo des Heroen zur gewordenen Welt; so entstand, um den Augenblick zu weihen, um das Leben mit sich und nur mit sich zu potenzieren, die sonderbare Lehre von der Wiederkehr des Gleichen. Diese Lehre ist an sich keineswegs neu, eher banal und oft selber, bis zur Weisheit zechprellender Studenten, bei Hans Sachs und Hebel, wiedergekehrt; doch einmalig ist ihr herrisch-physikalischer Gebrauch. Nun spiegeln und vermehren sich rückwärts wie vorwärts die Spitzen des Lebens zu einem wahren Lanzenwald ihrer selbst; wäre nicht auch die Vergangenheit, welche im
Heute sich wiederholt, dann wäre freilich jede Tat ein schöpferischer Akt, welcher den freien Willen zum Da capo in sich hat. 362
Da
aber - was Nietzsches Zukunftswille ganz seltsam nicht
wahrhaben will —-, da aber das Heute, bei ewiger Wiederkehr, doch ebenso längst schon determiniert ist: so wird der Heros des
Da capo zum Knecht des längst Gewesenen, ja, der Vergangen‚ heit aller Vergangenheiten, und der Sturm auf den künftigen Himmel erlangt nur den Bann längst abgelaufener, immer wieder ablaufender Erdentage. Die Emportendenz bloßer Spitzen oder Großheroen ohne Band untereinander, ohne Kuppel allgemeiner Inhalte erzeugt so, im Willen, diese Tendenz mit sich selbst zu wölben, nur verödendes Diesseits und schreckliches Jenseits, nämlich eines ohne Durchbruch; es entsteht das Bild
einer aus endloser Wiederholung imitierten Ewigkeit. Das ist eine Anomalie im Flußwort Leben, worin Nietzsches Philosophie sonst vorwärtsschießt; eine Anomalie erst recht am Expeditionscharakter dieser Philosophie, an der Feuernatur des Weltkerns,
womit der sprengende Dionysos im Bund stehen mag. Das allzusehr schon seiende »Raubtier« Übermensch, der Individualis-
mus heroischer Wiederkehr des zu genau, was er bestimmt weiß,
Geschichtsfiguren, gar die völlig statuierende Gleichen: Dionysos weiß hier mit einem Male will, weil er in Wahrheit zu wenig weiß, zu unwas er will. Indem sich die formale Empor-
tendenz an Feudal- und Statik-Bildern faßt, dankt sie zu einer Art barbarischem Klassizismus ab. Auch läßt nur dieser statische Nietzsche geschehen, daß ebensolche Deutung, Bertrams etwa, ihn gesunden Leibes schon nach Weimar schafft, zu Göttern,
Helden und George. Der andere Nietzsche sucht nicht bloß un-
gebleichtes, sondern in utopische Feuer gesetztes Diesseits: » Tausend Pfade gibt es, die noch nie gegangen sind, tausend Gesundheiten und verborgene Eilande des Lebens. Unerschöpft und unentdeckt ist immer noch Mensch und Menschen-Erde.«
Ge-
rade diese (uneingelöste) Diesseits-Teleologie überwächst den Spitzen-Befehl
an die menschliche,
den Kreis-Befehl
an die
Weltgeschichte; das Herz der Erde ist von Gold und im Diesseits alles, doch dieses Diesseits wurde am wenigsten schon ent-
deckt und ausgezahlt. Also lehrt Dionysos, gerade auf Dauer, keine einsamen Spitzen, keine ewige Wiederkehr; denn er ist eher zu viel als zu wenig schäumend das Problem des unfertigen Menschen und seiner Welt. Nur als dieser Nietzsche, nicht als
363
der Statuarier, zu dessen Feier sein verfestigtes Unterwegs falschen Anlaß gibt, ist Dionysos da, ist er das Ende des geschlossenen Weltblicks und ebenso bereits, positiv, Zeichen des — Anti-Nichts. Nur in diesem Bezug ist gewiß, daß Nietzsche, ja,
summarisch gesprochen, daß die »Subjektivisten« der Neuzeit in so verschiedener Gestalt: Münzer, Kant, Kierkegaard, Feuerbach, Nietzsche, daß die gründlichen Humanisten und Atheisten,
in denen das ausgelöschte Jenseits fruchtbar und auf die Zukunft des Menschen zurückgebracht worden ist, — daß also auch der zum Wohin und Überhaupt ausfahrende Nietzsche noch lebt,
wenn die großen Systematiker der geschlossenen Welt lange zu Ende erfahren sind. Das lumen naturale wurde hier feurig, die Erkenntnis
nicht mehr kontemplativ,
die Welt hörte auf, ein
bloßes Rätselspiel für den wissenschaftlichen Intellekt zu sein. Luft vom anderen Planeten ist dieser Nietzsche kaum, doch gewohnte vom bürgerlichen auch nicht. Gibt es keinen Willen zur Macht mehr, keinen bürgerlich bestimmten, nicht einmal einen
bürgerlich unbestimmten: so begegnet man Dionysos oder dem glühenden Kern im »Menschen« neu.
Heiß zog sich dieser Wille zu leben auf sich selbst, nämlich aufs Wilde zurück. Teils, größten Teils, weil er als bürgerlicher beim Denken, beim geschichtlichen Weitermachen nur zu verlieren hat. Teils aber auch, weil in der Tat das »Bewußtsein« nur
ein Licht auf dem Weg ist und nicht der Wanderer selbst. Als der Wanderer erschien bei Nietzsche Dionysos, das ist der mythologische Name für das historisch verdrängte, unterschlagene, geschwächte, mindestens abgelenkte »Subjekt«. Am Lebensgott erst, der sich überhaupt nicht aufs Bewußtsein einließ,
der auf keinerlei Analyse hörte, der ihre Sprache a limine nicht verstand, schien der Nihilismus ohne Macht. Ja, gerade aus dem Abbau des Abbauenden selber, aus dem radikalen, nämlich vorlogischen Anfang selber schien das Grundwasser zu steigen, das kein Begriff mehr verdampft. Freilich: aus welchem » Anfang« stieg das? — doch nur aus einem, den die Flucht vor jedem Begriff aufzudecken scheint, in einem erträumten Außerhalb von
Geschichte und Vernunft. Weiter: welches »Subjekt« erschien in Nietzsches » Trieb«, »Leben«, sogar in Dionysos? — doch nur das
364
_ selber schlecht bestimmte (wo nicht als »Raubtier« bestimmte) zwischen Unmensch und Übermensch, kurz, wiezuerfahren war,
ein ungefähres Subjekt und nicht der exakte Nullpunkt, der schreit. Das »Subjekt« des Dionysos im Menschen, ist es gewiß nicht klassenmäßig völlig faßbar, nämlich in der jeweils revolutionären Klasse, heute also im Proletariat, so ist es erst recht
nicht alle Klasse oder gar die jeweils herrschende. Deshalb suchen lehrreicherweise, großfascistische »Nietzsche-Interpreten«, wie etwa Bäumler, Dionysos selbst noch in der unbestimmten Fassung zu eliminieren, die er bei Nietzsche gefunden hat; die herrschende Gewalt wird hier seine Abdankung und »Be-
‚ stimmtheit«. Dionysos kann aber nur schaffen als Krieg gegen jede Entäußerung, als das feuerhaft-revolutionäre Element jeder Erhebung gegen »Zeus«; und nur insofern, als gegen ‚ jedes Innen, Außen und Oben gerichtet, das nicht das des völlig ‚ befreiten Menschen ist, ist Dionysos zugleich der - Antichrist. - Nietzsche zwar richtet den Antichrist nur gegen Apollo und die
Folgen, nur gegen den klugen und Lichtgott; er trennt, - biblisch gesprochen, den Baum des »Lebens« vom Baum der »Erkenntnis« auch hier. Wer aber ist der wahre Antichrist, den Nietzsche
so seltsam in Dionysos feiert, als den Weinstock des aufgehenden Lebens? Antichrist dieses Sinns ist die erste Schlange, welche vom
Apfel essen ließ, indes auch jene zweite, lichtbringende,
welcher »Zeus« am Kreuzesstamm zum zweitenmal den Kopf zertrat: der wahre » Antichrist« des dionysischen Sinns, des Eritis
sicut Deus ist - Jesus. Das ist »Dionysos, der Gekreuzigte«, darauf dringt die einzige Erkenntnis, aus den Tiefen der christlichen Ketzerei, und zwar der ältesten, »ophitischen«, schlangenkun-
digen, welche der » Auferstehung und dem Leben« gemäß wird. Dieser Christus ist der Verkünder einer unbekannten mensch-
lichen Glorie, heller als daß sie der gegebene Leib noch equilibrieren könnte, gar die jetzt seiende Welt. Er ist die Eroberung der Menschenglorie noch hinter dem geringsten und unerwartet-
sten Fenster, und gerade dort, gerade im Paradox des ganz und gar Unerwarteten, nicht im zufriedenen Maß des bereits Erschienenen, Herrschenden, Satten, wozu ihn die Kirche gefälscht und entspannt hat. Der Jesus der Ketzer, also der echte, der Jesus von dem die »Ophiten« als Grundketzer geglaubt hatten, es sei
365
die Paradiesesschlange seine Raupe gewesen, so wie diese, am
u
Baume der Erkenntnis hängend, die Raupe der Göttin Vernunft
ist: in diesem Jesusbild ist auch das Leben des Dionysos oder der Trunk eines Reichs, das weder von dieser (gewordenen)
Welt
ist noch auch von jener (menschenfernen, schicksalhaften). Solche Berührungen und »ophitische« Erinnerungen, zu Paulus feindselig, in der Geschichte des »siegreichen« Christentums unterschlagen, waren in Nietzsches letzten Visionen allerhöchst,
in »Dionysos, dem Gekreuzigten«. Spuren dieser Schlange sind wieder in heutigen Ruinen; denn Dionysos ist nicht die Ruine oder die Nacht, wohin die Reaktion flüchtet, nicht die dampfende Natur »am Grunde«, sondern - als auf die Fahnen der Revo-
lution gesetzt - die Feuerschlange oder der utopische Blitz. Dergestalt kann das von Nietzsche am Übermenschen, gar am letzten Dionysos Intendierte recht betreffend, ja einschlagend von frühchristlichen Ketzern her verstanden werden. Samt dem Zeus, der tot ist, Prometheus also nicht mehr an den Felsen schmiedet. So stark emergiert hier wieder das alte Eritis sicut
deus, auch mit allem Ineinander von Hybris und menschlichübermenschlicher Frömmigkeit sui generis. Diese Art Anruf in
Nietzsche könnte gerade christologisch mehr zu denken geben, als der »blonden Bestie« und anderen Banalitäten der Roheit, aber auch der Duckmäuserei lieb ist. Denn nicht alles, was sich »Antichrist« nennt, steht dem Christos, der nicht Staub frißt sein Leben lang, nicht im Grab bleibt den ganzen verhängten
Tod lang, so völlig fern.
366
i
DENKENDE
SURREALISMEN
Hier ist dauernde Überschneidung des eingestürzten Vorher, Nachher, Unten, Oben, und dahinter eine Finsternis. Romane der Wunderlichkeit und montiertes
Theater (S. 241)
DIE
HAND
IM SPIEL
Zu viel sieht man um das her. Es ist sehr bunt, was oben zerfällt. Schreit, träumt, schlägt nach links und rechts zugleich. Kommt aus der Leere nicht heraus, sondern macht sie fratzenhaft. Kräuselt selbst die Flucht, welche zurück will.
Geht alles schief, so bleibt auch der Fluß nicht gerade. Formen brechen und schillern, Rauch von heute wallt auf, Nebenbei macht sich wichtig. Eben die »Revue« kommt derart, über den Masken, denkend wieder; sie wird als Form logisch benutzt, um er ee Ineinander zu spiegeln. Eine philosophische Hand wie die Ben)
jamins greift in dies Niedere hinein und in das Nebenbei, das es kenntlich macht, zeigt daraus Dinge her, auf die ein vernünf-
tiger Mann vor zehn Jahren kaum gekommen wäre. Wie in der Dichtung, so im Gedanken taucht Wunderliches auf, betrifft sich. Und nicht bloß der Dämmer spukt, der heute oben ist. Auch
die Zeit, woher wir kommen, die der Eltern; sie geht gespenstisch auf und nieder. Doch ebenso mittelbar wurde das vorige Jahrhundert merkwürdig; nämlich malerisch, poetisch, philosophisch, als surrealistische Entdeckung. Sie liefert Reizstoffe, man weiß noch nicht, für was; sie befruchtet einen höhnischen Zauber, man weiß noch nicht, wozu. Das geschieht ın einer Garde, die aus der Oberschicht ausbrach, die mit der eben ver-
gangenen Zeit ihr Felder düngt. Was damals gefiel, bekommt heute den Ausdruck grauenvoller, doch wichtiger Träume; was damals fühllose Mischung aller Stile war, wird heute quer montiert. Desto merkwürdiger, als die meisten dieser Benutzer
367
kommunistisch gerichtet sind; der Akt darüber ist keinesfalls geschlossen. Morgen kann mehr darin enthalten sein, als das Wesen heute vorzeigt.
REVUEFORM
IN DER
PHILOSOPHIE
(1928)
Wo sie sich bildet, geht man recht heiter mit. Dann stört etwas, wird gleich nebendran anders, biegt von neuem um. Derart er-
geht es uns beim ersten Versuch, den Benjamin dieser Art unternommen hat. Spielende Vergleiche fehlen nicht, obwohl sie es könnten. Auch die ernsten kommen nicht immer nach Hause, vielmehr auf die Straße, die hier läuft.
Anderes ist teils zu eigen, teils klingt es unnötig an Altes an. Eben in der Schrift »Einbahnstraße«, die Benjamin erscheinen ließ, und die hier als Typ für surrealistische Denkart steht. Ihr Ich ist sehr nahe, aber wechselnd, ja, es sind recht viele Iche;
ebenso setzt fast jeder Satz neu ein, kocht anders und anderes. Die Schrift bedient sich höchst moderner Mittel, mit später Grazie, für oft abseitige oder verschollene Inhalte. Ihre Form ist die einer Straße, eines Nebeneinander von Häusern und Geschäf-
ten, worin Einfälle ausliegen. So etwas mochte nur heute wachsen, ohne selber ein Nebenbei zu sein. Nur heute läßt sich innere, vor allem gegenständliche Schrulle wichtig nehmen, ohne daß sie einsam, unmitteilbar, unfaßbar bleibt. Denn weithin ist die große Form abgestanden;
altbürgerliche Kultur mit Hoftheater und geschlossener Bildung blüht nicht einmal epigonal. Von der Straße, dem Jahrmarkt, dem Zirkus, der Kolportage dringen andere Formen vor, neue oder nur aus verachteten Winkeln bekannte, und sie besetzen das Feld der Reife. Genau brach der Clown ins sterbende Ballett, die leichte Wohnmaschine in die lange schon toten Stile, durch-
brochene Revue in den alten, schön geschlossenen Bühnenbau. Unmittelbar enthielt Revue zwar wenig außer ihrer »Locke-
rung« (und auch diese läßt sich wieder festschrauben). Kein neuer »Mimus« ist aus der Revue entstanden, sie diente überwiegend Amüsierpöbel und war amorph wie dieser. Aber 368
‚
mittelbar freilich konnte »Revue« gebraucht werden, als eine der
offensten und wider alle Absicht ehrlichsten Formen der Gegenwart, als Abdruck jenes Hohlraums, worin sich nichts mehr _ ohne Lüge schließen läßt, worin sich nur noch Teile begegnen und mischen. Der mittelbare Eindruck der Revue kam gerade aus der sinnlichen Stärke und Bewegtheit unverkitteter Szenen, aus ihrer Wandelbarkeit und Verwandlung ineinander, aus ihrer Berührung mit dem Traum. So ging diese Form als Hilfsmittel in sehr andere Kunst, von Piscator bis zur Dreigroschenoper; selbst neue Aspekte des »Stegreifs«, der Taten linker Hand fehl-
ten nicht. Bei Benjamin wurden diese Taten philosophisch: als Form der Unterbrechung, als Form für Improvisation und plötzliche Querblicke,
für Einzelheiten
und Bruchstücke,
die
ohnedies keine »Systematik« wollen. Sinnspruch, Unterweisung, Dialog, Traktat - das waren immer schon philosophische Formen außerhalb des Systems, lange vor den neuzeitlichen Systemen und noch in ihnen darin. Nun zieht, mit dem bürger-
lichen Vernunftprinzip a priori, auch idealistischen Zusammenhang einzig zip bestritten und entwickelt hatte. gebäude vergeht im selben Akt wie
das System ab, das seinen aus diesem VernunftprinDas geschlossene Lehrder abstrakt-geschlossene
Kalkül des Bürgertums; dergestalt, daß Nietzsche das System
sogar »Wille zur Unehrlichkeit« taufen konnte. So fanden Simmels fragend-fragwürdige Impressionen Platz; so ist selbst in den akademischen Pilgerchor, der unentwegt
»Systeme« singt,
eine Art Hörselberg eingebrochen: in Gestalt sogenannter Existenzphilosophie - mit Komplexen, doch ohne System. Ganz anders dezidiert erscheint »Revue« in Benjamins kleinem Formversuch; sie erscheint als überlegte Improvisation, als Abfall des gesprungenen Zusammenhangs, als Folge von Träumen, Aphorismen, Losungen, zwischen denen höchstens quere Wahlver'wandtschaft wünscht, da zu sein. Ist also »Revue«, ihrer methodischen Möglichkeit nach, Reise durch die hohlgehende Zeit,
so reicht Benjamins Versuch Photos dieser Reise oder besser ı gleich: Photomontage.
Immer neue Ichs, sagten wir, sind hier zu sehen und löschen
sich aus. Ja, gegenständlich geht überhaupt niemand recht auf der Straße, ihre Dinge scheinen mit sich allein. Was ahnungsvoll
369
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den Busen füllt, das spricht sich nur in äußeren Bruchstücken ; aus; diese formen sich zu Schildern und Auslagen. Eben zu der Einbahnstraße: nicht als beliebigem Gebilde, als leerer
Platzstraße, wie es deren in bloßen Träumen gibt, sondern als philosophischem Leitfaden und Bazar. Das ergibt die seltsamste Form, worin je Gedanken ausgebreitet worden sind; die Kapitel heißen: Tankstelle, Frühstücksstube, Normaluhr, Halteplatz für nicht mehr als drei Droschken, Galanteriewaren, Nr. ı3, Fundbüro, Maskengarderobe und so fort. Dem entsprechen die philosophierten Bruchstücke, welche an diesen Stellen, in diesen
Auslagen untergebracht werden und doch ebenso wieder, mit höchster Variabilität, vertauschbar sind. Kathedralen etwa zei-
gen sich als »Religionsbahnhöfe«, zeigen sich sogleich wieder mit Allegorie-Blicken verhüllt wie diesem:
»Schlafwagenzüge
in die Ewigkeit werden zur Messezeit hier abgefertigt«. Kritik am »Religionsbahnhof« gewiß, doch ebenso läuft der Zug um-
gekehrt, nämlich aus der Ewigkeit und ihrem Mythoswesen in den Bahnhof
ein, um
hier Konterbande
auszuladen.
Dieser
Sprachstil hat jene Fülle von Verkopplungen gedanklich, welche von Max Ernst bis Cocteau den Surrealismus ausmacht: die Ver-
kopplung von Dort mit nächstem Hier, von brütenden Mythen mit dem exaktesten Alltag. Erneut taucht so die Frage nach dem Ich oder Wir auf, das auf dieser Straße doch nicht so unmenschlich wechseln oder fehlen mag. Das bleibende Ich auf der Straße ist allerdings nur der schlendernde Leib, also primär nicht Ohr oder Auge, nicht Wärme, Güte, Staunen, sondern klimatopathischer Tastsinn und Geschmack. Läßt sich eine Kategorie von Bachofen hier anwenden, so hat ein chthonischer Geist in diesem Straße-Denken, genauer: Passage-Denken sein Gehäuse gefunden. Wie Segelschiffe in der Flasche stecken, wie Blütenbäume,
schneebedeckte Türme im Spielzeug drehbarer Glaskugeln eingeschlossen und verwahrt scheinen: so stecken hier Philosopheme der Welt unterm Glas der Schaufenster. Noch den Kosmos hat dieser Geist nur mit innerem Geschmacksblick oder
Blickgeschmack, ja spricht ihn mit Leibrausch
aus (Kapitel
»Planetarium«). Leibnahe Traumstraße mit Läden, in denen der Geschmack der Zeit, mit Häusern, in denen Mischinhalte der Zeit kondensiert werden — das ist oder könnte sein die 370
8 h)
Landschaft dieses Versuchs. Hier ist deshalb nicht bloß eine neue
Geschäftseröffnung von Philosophie (die vordem ja keine Läden hatte), sondern
eine Strandgut-Orgie
dazu, ein Stück Sur-
Realistik der verlorenen Blicke, der vertrautesten Dinge. Sieht man aufs kleine Ganze zurück, so steht es für manches,
das heute nicht kam. Ein Denker spürt Einzelnes genauestens auf, prägt es scharf aus, um dennoch kaum zu sagen, wofür denn
die Münze gilt. Er gibt Schriftbild-Werte ohne bürgerlichen Kurs, ohne noch faßbar anderen; sichtbar ist anarchische Bedeu-
tung und die Bedeutung sammelnder, im Zerfall wühlender, rettender, doch substanziell unausgerichteter Betroffenheiten.
Der gleiche Blick, der zerfällt, läßt den vielfältigen Fluß zugleich gefrieren, verfestigt ihn (mit Ausnahme seiner Richtung), elea-
tisiert noch die Phantasie variantester Verschlingung; das macht dies Philosophieren gleichmäßig medusisch, gemäß der Definition Medusas bei Gottfried Keller: als »der Unruhe erstarrtes Bild«. Geht aber »Revue« mit Strom durchs surrealistische Phi-
' losophieren hindurch, dann kommt durchaus, an den geretteten 'Trümmer-Bedeutungen, ein anderes »Kaleidoskop« ans Licht. Denn die Hohlräume unserer Zeit (wie bereits des XIX. Jahr‚ hunderts, dessen Spuk-Allegorie ins surrealistische Philosophie-
ren überall hereinragt) liegen nicht im selber Leeren, sondern . im Reich konkreter Intention, materialer 'Tendenz, als einer
, keineswegs unbestimmten. Benjamins Philosophie läßt jede Intention den »Iod an der Wahrheit« sterben, und die Wahrheit
‚ gliedert sich in gestillte »Ideen« und ihren Hof: die »Bilder«. ‚ Indes gerade echte Bilder, die scharfen Angaben und präzisen Tiefen dieses Schrifttums,
seine zentrale Abseitigkeit wie die
Funde seiner Querbohrung wohnen nicht in Schneckenhäusern oder Mithrashöhlen, mit einer Glasscheibe davor, sondern im öffentlichen Prozeß, als dialektische Experiment-Figuren des Prozesses. Das surrealistische Philosophieren ist musterhaft als
Schliff und Montage von Bruchstücken, die aber recht plura‚ listisch und unbezogen solche bleiben. Konstitutiv ist es als Montage, die an wirklichen Straßenzügen mitbaut, dergestalt, daß nicht die Intention, sondern das Bruchstück an der Wahrheit stirbt und für die Wirklichkeit verwertet wird; auch Einbahn. straßen haben ein Ziel. 371
DURCH
RETTUNG WAGNERS SURREALISTISCHE KOLPORTAGE
(1929)
Schräg wird Nahes seit je am besten gesehen. Das ist beiderseits möglich, doch links sind die jüngeren Augen. Der Blick von dieser Seite lockert Gewohntes oder biegt es neu. Hindert den mittleren Genuß, trennt, was verfilzt war, geniert sich der Frische nicht, sondern spricht sie aus. Dadurch rücken Dinge zusammen, die weit voneinander entfernt schienen. Heute kräuselt sich viel Schönes, rollt auch auf. Nicht am schlechtesten von kindlichen Eindrücken her, oft werden sie im Zerfall besonders richtig. Das Gefühl eines Knaben wird derart lehrreich, der sechs Stunden in Wagners Ring aushalten mußte.
Seitdem haßte er diese Musik; sie sah aus wie die gute Stube, war auch genau so seßhaft und langweilig wie der Besuch darin.
Da hörte er später, ganz gelegentlich, den Matrosentanz aus dem Holländer, die großartige None, die Piccoloflöte als Bootsmannspfeife. Gleich wurde das Stück wild, bunt, kolonial; Karl
May und Richard Wagner schüttelten sich die Hand. Ein Wort zuvor, damit der Händedruck nicht zu früh stimme. Weder Wagner noch Karl May sind in diesem Zusammenhang, was sie dem Leser sind, der sich über ihre Conductio wundert,
schlicht ärgert oder auch schlicht freut. Wagner ist eine Verlegenheit, das ist ja klar, aber Ironie an ihr ist billig, unverschämt
und hilflos, wird nirgends gemeint. Und Karl May, an sich schon einer der spannendsten, buntesten Erzähler, steht gut für
Jahrmarkt, Kolportage, für Wesen also, deren Improvisation und Grelle man wichtig, fast ernst zu nehmen hat. »Rettung« Wagners durch Karl May bedeutet also keinen Witz auf einem Leichenschmaus, sondern ein lebendiges Stück. Manch surreali-
stischer Versuch sieht ja die gute Stube, den grandiosen Salon des XIX. Jahrhunderts auf dem Jahrmarkt; kurz, hier ist eine Zuspitzung fälliger Tendenzen. Wagner in Kolportage ist die Übertragung der genialsten Fragwürdigkeit auf die Ebene einer heutigen Frage. Betrachte man zunächst die gute Stube, aus der jeder Junge floh. Sie ist widerlich geblieben, aber ein Rätsel geworden, Wagner mit ihr. Das erste gefühlte Merkmal der guten Stube ist der 372
Traum, worin sie steht. Er überzieht heute das Bild ihrer Nippes; die Kindheit, woher er stammt, hatte in dem selber Hohlen " und Spukhaften des vorigen Jahrhunderts sehr guten Platz. Ja,
auch die Erwachsenen lagen damals im Bett, das Bürgertum lag im Adelsbett; außerstande seine eigene Form zu haben, träumte
es alte Kultur nach, mit überfülltem Magen, ohne Zusammen-
hang mit dem sehr nüchternen Arbeitstag. Der Kapitalismus und seine Technik, der die überkommene Kultur zerstört hatte,
gestand sich noch nicht; neue Kräfte, die gerade aus dem kulturellen Hohlraum hätten schaffen können, waren noch nicht gekommen, vom Einsturz regierte nur der Staub daraus, der sich zu dekorativen Wolken bildete. So kam dieser Traumkitsch (nach dem Ausdruck Benjamins), aus allen Stilarten überein-
ander gelegt, diese unsägliche Überschneidung historischer Ge- sichter, diese eigentliche Kitschmythologie, an der nicht einmal ' mehr ideologische Wahrheit ist. So kam vor allem das zweite Merkmal der guten Stube, an und über dem Traum: nämlich der ' vollendete Schein. Dieser aber ist, außer der bloß subjektiven | Lüge, nicht nur Flucht und widerlichstes Falsifikat, sondern er entzauberte die Mythen, die der Kapitalismus zerstört hat, nochmals durch vollendeten »ästhetischen« Nicht-Ernst an ihnen.
Ohne das ebenso Auflösende wie Abhebende, Objektive dieses Falschtons wäre die Musik im Biedermeier oder formalen Epi| gonentum untergegangen, privat, gesellschafts- und inhaltslos;
uTe mn
Mendelssohn, Schumann und Bessere sind davon das Zeichen.
' Se jedoch verband sich Musik mit der Traumkollektive der Zeit, fand sich mit ihren Scheinsymbolen zusammen: mit Fronten und Interieurs, die nicht grundlos Alkoven, Schreckverstecke und wollüstig waren, mit Handel und Gewerbe als veritablen ' Göttern, am Bankportal ausgehauen, mit Renaissance, die im ' X VI. Jahrhundert keine Portieren hatte, die man aber im XIX. nur als Portiere verstand, mit der Ludwigshafenia als »geglaub-
ter« Stadtgöttin, mit Traumgewirr und Bruchemblemen, mit ‘ der Edda als maskiertem Zeitinhalt. Aus Dekoration kam diese -: -’En __Tu > en
; seltsame Form von »Allegorie«, die gar keine ist, wenigstens
nicht im üblichen Sinn, wie man ihn vom Klassizismus her kennt.
Im überfüllten Schein des XIX. Jahrhunderts sind Traumtränke, Kyffhäuser, Fafner keine Versinnbildlichung von Abstraktionen, 373
wie es noch die Allegorie des Biedermeier war, also keine Ab-
mattung von geschauten Symbolen zu bekleideten Begriffen. Sondern die Fülle historisch-mythischer Art eben ist die Einle-
gung scheinsymbolischer Nachgeburten in Traumkitsch;
der
ist von allen Göttern verlassen, im guten wie schlechten Sinn, schwebt aber dennoch in einer Zwischenschicht von »Maskerade«, die mit vollem Nicht-Ernst Symbol-Mythen reproduziert, nicht mit halbem Ernst Allegorien denkt. Auch das eigentümlich »Große« der Zeit, ihrer Zimmer, Bildformate, Möbel, vor allem Wagners selber stammt aus Maskenschein oder vielmehr aus dem dekorativen Mythos darin, der seinen panhaften Raum hindurchwarf. Der Schein selbst wirkt schon im ersten’ Schwindschen Dekorieren, sättigt sich an der Theater- und Historienmalerei, wird dreidimensional in der großen Oper, kul-
miniert vierdimensional bei Wagner, allegorisiert sich wieder bei Klinger und Böcklin, erheitert sich bis zu dem leichten Glühduft bei Strauss, stabilisiert sich zu dem so ganz anderen, gefrore-
nen Wagner-Dunst im George-Kreis, zum hohen Goldschnitt. Aber das Grundwerk des guten Stuben-, des großen Salonscheins ist und bleibt der Ring: er steht in so dichter Theatralik, daß er
fast etwas von Wirklichkeit an sich hat, weshalb Wagner seinen absoluten Schein ja auch gegen Meyerbeers Halbheit ausspielen konnte, das ist, gegen den bloßen Effekt als »Wirkung ohne Ur-
sache«; Wagner kämpfte gegen Meyerbeer mit fast den gleichen Gründen, womit Nietzsche wieder den »Schauspieler« Wagner entlarvt. Wagners Musik hat ihre »Echtheit« gerade in diesem vollendeten Schein; nicht nur nach seiner illusionistischen, son-
dern, worüber jetzt drittens zu sprechen ist, auch nach seiner physiognomischen Seite, gegen das Sicht- und Sinnproblem hin. Als vollendeter der guten Stube ist er zugleich ein rätselvoller, zum Rätsel gewordener Schein, eine Hieroglyphe im Hohlraum des XIX. Jahrhunderts. Bereits den Expressionismus hat nur die Kürze seines Lebens daran gehindert, in Kleinbürgertapeten
von 1880 Ausdrücke zu entdecken, die außer plumper Melange und einfältiger Kopie noch ein Anderes sind. Das Glück des Kitsches, der Gartenlaube, der gestellten und doch nicht völlig irrealen Schönfassade gehört gleichfalls hierher; diese Zeit hatte ein Auge für das auch objektive Mischlicht um die Dinge. Als 37.4
Lebenshaltung unerträglich, als »Stil« das uns Fernste, geistert das XIX. Jahrhundert doch in den Hohlräumen weiter, die das _ XX. mit ihm gemeinsam hat; diese und ein freilich ehrlicheres _ Wissen um sie, auch ein konkreteres »Scheinen« sind aus dem Einsturz der alten Kultur geblieben. In Frankreich, wo Wagner \
nie abstarb, auch die »Dekoration« nie so lebensfern war, geht der Surrealismus wieder merkwürdig in diesen Traumbasar, in
ein Getümmel von Symbolen kreuz und quer, denen er das Blut wirklicher Dinge zu trinken geben möchte, damit ihre Tendenzen erscheinen und den Symbolen das dingliche Herz schlage. Verstünde man also zu raffinieren, so dürfte nicht nur der Bie-
nenstock wirklicher alter Kultur, sondern auch Wagners Wachsfigurenkabinett noch manchen seltsamen Honig enthalten. In dem Tohuwabohu von Kitschschemen steckt unter anderem eine Pseudomorphose, deren Tage buchstäblich nicht gezählt sind, „und eine Hieroglyphe, die auf Deutung wartet. Soviel über die gute Stube, wie sie zu wundern gibt, und das reicht schließlich schon aus. Wie sehr ernst, wenn (was bevorsteht) der Jahrmarkt in sie einbricht; denn dieser betrachtet den
' Kitsch nicht, sondern legt ihn um. Früher besorgte das, mythischen Mächten gegenüber, das Märchen, mit dem hilflosen, den-
ı noch siegreichen Hänsel, auch Kasperle. Das Märchen wirdbeerbt ‚ von der Kolportage (die dem Jahrmarkt so nahesteht); die mythischen Mächte sind ihr der Scheinkitsch der Besitzenden geworden, und -ie plündert die gute Stube aus, zwirbelt die Dä-
monen des Plüschvorhangs, bis ihn das Dienstmädchen als Brautmantel sich umhängen kann. Die Kolportage ist folglich die . eigentlichste Rettung Wagners, über dem Traumkitsch an ihm; . sie ist die Bootsmannspfeife,an der der frische Wagner-Eindruck ‚begann, an der nichts rätselhaft, aber auch nichts staubig ist. Auch die Kolportage stammt aus dem XIX. Jahrhundert, ist i gleichfalls ein Traum, doch (wie im Kapitel der »Berauschung« ausgeführt und hier erinnerbar):keiner der Satten, sondern der Gespannten und Wartenden. Sie schiebt gleichfalls alte Stoffe
; ineinander und reproduziert sie, doch die Ritterromane, sogar ı Mythen, die sie umwandelt, sind in einen Wunschtraum einge‚ setzt, der alles in bar meint, in keinen aus Erinnerung und pathe‚ tischer Flucht. Der Kolportagetraum ist deshalb ein revolutionär 318
fundierter, ein wetternder Bildnebel von befriedigter Rache und erfülltem Wunsch, mit viel Spannung, Handlung und großarti-
gem Triumph am Ende. Weite Reisen, sehr ferne oder sehr glänzende Schauplätze sind der Kolportage wesentlich; keineswegs nährt sie sich zu Hause redlich, sie ist nicht die stille Schnurre, betrachtsame Kalendergeschichte des seßhaften Volkes, sondern
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ein Produkt der Freizügigkeit, erst mit ihr entstanden. Die Antipathie des heutigen Bourgeois nicht gegen Schmutz, aber gegen | Schund wird so verständlich; die Kolportage läßt Unerwachsene | und Proleten Glanz vorträumen, kurz, sie reizt immer noch mehr auf, als sie (was nur ihre bürgerliche Funktion ist) über
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den Betriebskerker tröstet. Begreift man also schon das Märchen als Antizipation von Freizügigkeit, als Kampf und Sieg von
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Hänsel und Gretel, vom schlauen Soldaten über Hexen, Teufel,
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mythische Verstrickungen schlechthin: so wird auch der Held, | den sich die Kolportage wählt, immer märchenhaft sein, ein tap-
feres, schlaues Kasperle riesengroßen (aber nie großkopfigen) | Stils, selbst wo er sich aus dem »Mythos«, vielmehr aus dem |
vollendeten Schein des Mythos ausstaffiert hat. Noch die wie | immer problematischen »Erlösungen« Wagners gehen in das happy end eines Wunschtraumes, an dem viel Indien, viel ver- | schwimmende und quietistische Herrlichkeit, aber kein eigent- | licher »Mythos« mehr ist, der als solcher immer gegen oder wenigstens außerhalb der Menschen und für die himmlischen Mächte steht. Hebt man ihr die Stelzen ab, so müßten sich aus
Wagners Traumbarbarei gerade die circenses des menschlichen Einbruchs, kolportagehaften Glanzes gewinnen lassen, jene cir- | censes also, welche so spannend darin pfeifen oder auch donnern
oder mit Harfenklängen ins nirwanische Grafenschloß ver- ' schweben. Die Kolportage überhaupt ist, was an unserer Zeit
fast unmittelbar fruchtbar sein kann; denn am Glanz des Jahr- |
markts ist nichts mehr verlogen, die Kolportage ist wahrhaft |
volksnah, ist unser Boden und Luft, Volks- und Kirchenlied ge- |
worden. Man versteht große Werke kaum mehr anders als märchenhaft mit Kolportageschein, und »Fidelio« wurde die Orien-
tierungssäule jeder Kolportage: von der Dreigroschenoper, der | der Bote des Königs nicht fehlt, bis zur Geburt
neuer Meta- |
physik aus dem Geist der Kolportage. Mehr als ein Weg führt 376
aber auch von der Räuberbraut zur Wagnerschen Schwüle, von
den Traumverschlingungen der alten Kolportage, den beliebig ' dehnbaren, zur unendlichen Melodie, von Captain Marryat zu
dem schlagenden, drohenden, ruhelosen Meer des Fliegenden Holländer und dem Frauenhimmel über seiner Überflutung. Mehr als ein Weg führt von den Haddedihns, bei denen Karl May gleichfalls nicht war, zu den Germanen des Rings, von der
Silberbüchse Winnetous zu Nothung und seinem Kampf gegen den weißen Vater, vom Traum-Orient zur Kitsch-Edda: - diese
Wege müßten auch umgekehrt begehbar sein, damit Wagner ganz auf sein Seeräuberschiff gerate, mit acht Segeln, fünfzig Kanonen an Bord und der sonderbaren Hafen-Kemenate des gestillten Wachtraums. Wiesengrund bemerkte bereits (im »Berliner Opernmemorial«, 1930): » Wer Klemperers Holländer sah,
wird gestehen müssen, wie wenig blasphemisch solche Zuordnung
ist; daß sie allein es vermag, Wagner endlich vom Staub
des Metaphorischen, ausgehöhlt Symbolischen, muffig Geweihten und romantisch Kostümierten zu reinigen und den Fond an Aktualität zu mobilisieren, der bei Wagner heute zum Greifen
nahe liegt.« So geriete vielleicht der »Idealismus« Wagners gefährlich und materiell, das ist: das ursprünglich Revolutionäre wäre zurückgeholt und aus Schein der »Mythologie« die Rache‚ und Utopie-Kolportage herausgeschärft.
Freilich ist dies Frische leichter allgemein zu raten als bestimmt zu tun. Es ist sehr merkwürdig, daß man an Wagner noch nicht konkreter sein kann, daß alles über ihn Gesagte zwar in der Luft
liegt, aber auch in der Luft liegen bleibt. Die gesamte bisherige Zeithaltung zu Wagner ist Verlegenheit oder Verneinung; prak;tisch bleibt trotzdem (oder deshalb) jeder Regisseur und Dirigent des Rings ein Medium, aus dem die unveränderte MakartZeit spricht. Man ist völligaußerstande, dieZauberflöte, Fidelio,
ja selbst die zeitlich so nahe Carmen zu spielen, wie sie in ihrer Zeit gespielt wurden, obwohl das nicht das Schlimmste wäre; aber Wagner bleibt, obwohl es das Schlimmste ist, ein MakartStrauß, ein Klara Ziegler-Museum. Solches stammt nicht nur > et —.Tm. u re AA. an t daher, daß der Bayreuther Fundus so völlig erhalten ist und ‚ drückt; auch nicht nur aus der Tyrannengeste Wagners, die
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angeblich nicht Gelockertes hat, also nicht sich erneuert und die Zukunft aufruft. Wagners symphonische Oper war gerade ihrer Zeit eine absolute Sprengung, an deren Eklat man nicht zu er-
innern braucht. Hat sich diese Sprengung in Wagners Werk auch bald gesetzt und dogmatisiert, so ist Wagner doch zum Unterschied von anderen Routiniers und zeitgebundenen Kompilatoren ein musikalisches Genie schlechthin, mithin eine Gestalt, die
per definitionem genii nicht an Ort und Stelle bleibt. Denn nur Talente bleiben an Ort und Stelle, sind fertig, voll ausgeschöpfte Vergangenheit, können also auch für uns vergangen sein; indes Genie in einem Werk ist das noch Weiterarbeitende in ihm, das uns weiter Betreffende, der Beitrag einer Zeit zur Zukunft und
dem noch ungewordenen Überhaupt. Folglich scheint nicht so sehr der Bayreuther Fundus zu drücken, als: man hat die »Genie-
weise« Wagners noch nicht gefunden, bleibt infolgedessen in seiner Vergangenheitsweise, spielt ihn als sonderbares Gemisch von Kassenmagnet und Ballast, von Wunderwerk, aufgedonnertem Mittelvaleur und widerlichster Epoche. Dazu kommt der Gegensatz Wagners zur Nummernoper, die wieder auftaucht, zur Musik als Rosine, zur Lust an Abwechslung, Handlungs-
fülle, Minutenszene. Das riegelt erst recht ab und hält Wagner, trotz der einleuchtendsten Irritierung, in seiner Zeit, als wäreer
Meyerbeer oder Spontini (an denen man sich freilich nicht zu ärgern braucht, weil sie in der Tat »vergangen« sind). Darum herrscht Schlendrian und abstraktes Schweigen, ein Ruhenlassen
Wagners, gar ein fauler »Patriotismus« an seinem MakartStrauß und Kaisermarsch, jedoch keinerlei Erbschaft. Die einzig versuchte Aktualisierung ist die durch Striche, zuletzt gar durch den Vorschlag, den größten Teil des Rings zu sprechen und nur
die Höhepunkte singen zu lassen. »Wer sich diesen Film ansieht«, stand auf einem Plakat zu den »Brüdern Karamasow«,
»erspart sich die zeitraubende Lektüre des umfangreichen Romans«; wenig anderes meint die verkrampfte Anti-Pathetik der
neuen Wagner-Sachlichkeit auch. Ist Wagners Ring nicht Dostojewskijs Ernstfall, so sind seine einzelnen Akte doch symphonisch gebaut, so exakt nach dem Sonatensatz ausgewogen, daß
der Strich nur Beethoven, nicht Wagner aus Wagner austreibt. Die bloß geminderte Quantität schlägt noch nicht in die Qualität 378
um, die man hier braucht, vielleicht ahnt. Nur zum entschiedenen Frisch- und Links-Aspekt ist die Zeit bereits reif: sollheißen,
Wagner ist heute von seinem unmittelbaren Zustand entgiftbar. Er braucht eine andere »Stimmung«, selbst Bruckner und Mah-
ler, an denen ja viel Wagnerisches rein wurde, helfen der gewordenen Fettmusik noch nicht dazu, das Dynamit zu werden, das sakrale, das sie zuweilen zu sein verdient. Erst müßte die liebe Leiche darum mit Essig gewaschen wer-
den. Wagner braucht seinen Offenbach, den er ohnedies schon in sich hat, gegen den er deshalb keinen Spaß verstand. Die Keifund leeren Pathosszenen müssen so hoch hinausgetrieben werden, daß sie von selber herunterfallen. Es ist nicht möglich, das Schlechte, gar Sächsische an Wagner zu lieben, so wie man etwa Banalitäten an Verdi liebt, ja, ihn um dieser Dinge willen beson-
ders liebt, den freundlich tiefen Geist. Wagner ist dafür zu '_ anmaßend, an den Blößen eines Gewaltzwingers ist nichts Rührendes wie an den Schwächen eines Geliebten; vor allem sind auch die Schwächen Wagners sächsisch, nicht italienisch. Vieles wirkt bereits als Offenbach nochmal parodiert, so daß, wie bei
doppelter Umkehrung, der Ernstfall herauszukommen scheint; dies müßte zum unfreiwilligen Offenbach in Wagner zurückgebracht werden. Es ergäben sich dabei »Parodie« und echtes " Pathos im gleichen Werk, oft an den gleichen Gestalten, gestaffelt und gewiß sonderbar, doch jedenfalls als echter Zustand im j ‚Werk, den man jetzt nur zudeckt. Das macht keinen quantita;
tiven, sondern
einen qualitativen Strich im Ring, den einzig
| sinnvollen. Sodann müßte der wirklich »bedeutende« Schwulst 4
\ in Grund
und Boden variiert werden, eben das Klara Ziegler-
"Museum, das fremd gewordene, die Kitschmythologie der guten l ‚Stube. Gerade aus unserer Umgebung haben wir alle diese | Stücke entfernt, und eine der besten 'ITaten neuerer Ingenieurkonstruktion ist, uns vom kitschmythischen Bau des »wonnigen h Hausrat« befreit zu haben. Aber wie bemerkt: einen Schritt weiter lebt das im Raum fort, nicht seiner Gemütlichkeit, son-
dern seiner Unheimlichkeit nach, als Hieroglyphe. Dient die Ingenieurkonstruktion dieser Zeit dazu, daß der gekommene Hohlraum 1
nun
wenigstens
nicht einstürzt,
so bildet — unter
anderem — das XIX. Jahrhundert genug Symbolstoff, der im 379
Hohlraum schwebt, auch dialektisch leuchtet, auch Fragmente neuer Substanz bezeichnet. Versuche mit offenem Bühnenraum wären darum lehrreich, mit sichtbaren T-Trägern um die Kitsch-
mythologie und ihre Requisiten; völlige Illusionsleere umher, Blockhaus, Rheinterrasse, Brünhildenfels, vu par un surr£aliste,
in der Mitte. Und auf jeden Fall kann jetzt schon Kolportage in Wagner einbrechen, Jahrmarkt, Zirkus, Rummelplatz in ihr darin; der machte das Klara Ziegler-Museum bereits seiner Zeit
kriminalisch oder trug es in die weite Welt. Man muß hören lernen, wie man Karl May verschlang, mit ihm Jahrmarkt gehen. Dann hören die Phrasen auf, weil greller werden, auch das Züchtige verlieren, das sich
Wagner auf den sie noch feierlich:
nennt. In Leningrad wurde Lohengrin hinter Schleiern und als
Kinderstück gespielt; wie es heißt, mit der reinsten und richtigsten Wirkung. Das wäre dann gleichsam Rettung Wagners durch Christoph von Schmidt, durch den Verfasser der »Östereier« und »Heinrich von Eichenfels«; eine Biegung weiter in den Rätseln der Kinderzeit: und der Ring erscheint als Präriemusik, als Surrealistik des vollen Traumscheins, als befreite Kol-
portage im Zuhörerraum und in der Regie. Das »Unvornehme« dieser Musik, das man immer fühlte, das »Nicht-Legitime«, das ihr gerade von der guten Stube vorgeworfen wurde, zeigt Messe-
lärm an Wagner, offenbare Kolportage genug. Beir.ı bart seiner Propheten, er hat die Festwiese nicht so gemeint, an Ort und
Stelle, aber dieser Ort und diese Stelle stehen nur als Aufgabe und Problem. Auch blüht auf dem Jahrmarkt noch keineswegs
die gesuchte »Genieweise« Wagners, doch immerhin besser als in den Plüschstädten und ihrer Repräsentation eines nicht mehr Vorhandenen. Waldvöglein singt sein Ansichtskartenlied, Siegfried zieht durchs wilde Kurdistan, Berg- und Talbahnmusik klingt unter Walhall, das Vorstadtkinoplakat reicht mit grellsten
Szenen, pastosen Schicksalen auf die Bühne - der Nibelungenfreund merkt die Absicht und ist nicht verstimmt.
380
HIEROGLYPHEN
DES XIX. JAHRHUNDERTS
Wo viel stürzt, bleibt manches krumm hängen. Es wird dann deutlicher sichtbar als vorher an der Wand oder zusammenhän-
gend. Die Franse bebt, der Mann um das Kind tritt vor. Vergessenes dringt an und fängt sich in den Zacken vormals glatter ‚ Gefühle. Auch Gewohntes liegt schief, sieht dann befremdend drein. So reißen sich die Tage auf, woher wir kommen, Ja, der Leib
des vorigen Jahrhunderts beginnt wieder zu kreißen. Bringt neben Früchten eines bloß zurückgebliebenen Geschmacks auch frischen Kitsch. Doch ist diese neue gute Stube, obwohl heute sehr sichtbar, meist nur nachträglich oder nachgeholt; sie ist in
kleinbürgerlichen Schichten noch unmittelbar lebend, nicht mit' telbar zitiert. Lehrreicher daher und hier allein gemeint ist die
mittelbare Betroffenheit von den Dingen des XIX.Jahrhunderts; ‚ als solche gerade der Avantgarde eigen. Seit Aragons »Paysans de Paris«, seit Benjamins seltsamen Briefmarkensammlungen und Passagen taucht die Elternzeit (und zwar in der Weise, wie man als Kind in sie versenkt war) stets erwachsener auf. Was früher nur der Alp der Schulträume war, ist die freiwillige Lust
einer gebannten Rückkehr geworden. Jeder Zug, jedes Gerät ist dazu recht: eine Vase von damals am Fenster, zwischen den
Quasten des Vorhangs - und der Erwachsene hat es leicht, sein Kindergrauen, Kinderdämmern mit den Rätseln dieses Kitsches zu verbinden. Denn das XIX. Jahrhundert steckt an sich schon voller Traum, Gemisch und Gemunkel; heutige Erinnerung legt das Gewesene nur weiter aus. Die Form, worin dies Jahrhundert vergangene Zeiten nachträumte, nachbildete, mischte und er-
‚setzte, schießt zur Hieroglyphe zusammen. Die meisten Kleinen wollten damals anders scheinen, als sie sind. Bereichert euch, war der Ruf der fünfziger Jahre, er ist den
folgenden geblieben. Bürger, über Nacht groß geworden, wußten nicht, wie das zu halten sei, ihr Kitsch wurde daher noch größer. Man vergißt hier nicht, sondern gleich anfangs sei bemerkt: der Wille, sich zu bereichern, hat auch Wirkliches ent-
bunden. Als Wichtigstes zuerst: der bürgerliche Sieg 1789 hat die industriellen Produktivkräfte entfesselt, von 1830 ab wälzt 381
die Maschine das Leben um. Auch mit neuen Formen fühlte die | Industrie schon weit vor; durchs ganze Jahrhundert ziehen sich, | oft verblüffend, Versuche aus Glas, Eisen, unabgegrenztem, luft-
durchspültem Raum. Giedion hat dies »Bauen in Frankreich« gleichsam ausgegraben; »wo das XIX.Jahrhundert sich unbeobachtet glaubt, wird es kühn«. Ein großer Sonderfall schließlich ist die Wissenschaft dieses Jahrhunderts, ihr Wille zu positivistischer Genauigkeit und die Dienste, die sie mit ihrer riesigen
Materialsammlung dem Marxismus fast unmittelbar erweisen konnte. Aber vom Sonderfall der Wissenschaft abgesehen ( dessen Grenzen, dessen eigene Übergänge zum kontemplativen
Schein aufzuzeigen hier zu weit führen würde): ist Offenheit
in allen ideologischen Äußerungen dem Jahrhundert seine Ano- | malie und Plüsch seine Regel. Akademische Architektur hinderte
die sogenannte funktionelle durchaus, dicke Stile lagerten sich über die »combinaisons a&riennes« (deren Möglichkeiten Octave Mirbeau 1889 schon erkannthatte); »Ornament« vor allem verblendete (im wörtlichsten Sinn) die Konstruktion. Der Wi-
derspruch zwischen der immer stärker beginnenden gesellschaftlichen Produktionsweise (der Industrie) und der privatkapitalistischen Aneignungsform — dieser Widerspruch erschien in zwei Gesichtern: dem ingenieurtechnischen hier, dem dekorativindividualistischen dort oder der Anarchie der »Stile«. Nur daß es gar keine zwei Gesichter waren; denn das erstere schämte sich seiner Existenz, kam gar nicht auf, während die historische Dekoration Zimmer, Haus, Lebensform, Kunst, Kultur von der Wiege bis zum Grabe beherrschte. Auch erleichterte dieselbe
Weltwirtschaft, welche die eisernen Ausstellungshallen bauen ließ, ebenso einen historischen Warenmarkt,
nämlich die ver-
logene Weltausstellung »aller Zeiten und Stile«. Der Schwindel, den man seit Einführung der festen Preise im Geschäft überdeckt hatte, brach nun wenigstens im Leben wieder vor. Die historische
Nachahmung aber, ein anderer Grundzug des Jahrhunderts, entsprang der Lust des Parvenu, im eroberten Adelsbett zu träumen, feudal sich aufzudonnern. In Deutschland vor allem, bei
politisch
fortbestehendem
Adel,
in der
altertümlichen
Dekoration dieses Reichs, blühte der bourgeois gentil’'homme, 200 Jahre nach Moliere, mit ungeahnter Pracht; seine innere 382
Unsicherheit wie sein historischer Traumschein bestimmten Ge-
sellschaft wie Kultur. Kurz: handelten die meisten damaligen Menschen nüchtern und bürgerlich, so verdeckten sie es oder fan-
den keine Form dafür. Daher das eigentümlich verlogene, süß- liche oder läppische Spiel, die Feinsliebchen, die man pflückte, die
Bettelarmbänder, die man sich schenkte. Daher der Goldschnitt, Frau Wirtin und die sangeslustigen Jägerburschen (während
seit einem halben Jahrhundert schon die Eisenbahn lief, gab der Dichter Scheffel »dem Roß die Spornen« und ritt ins Neckartal). Daher die hochrote Hausfrau am Herd, doch außerhalb der Küche ihr perlendes Gelächter, im Reifrock mit Puffärmeln; daher die Komplimente schnurrbartstreichender Schwerenöter. Daher der Riß zwischen Alltag und Dekoration,
das Schein-
leben auf Plüschsesseln, beschienen vom Glanz der Gas-Flambeaux; daher das Vestibül der achtziger Jahre mit Schnitzerei,
Marmorpracht und einem pneumatischen Türschließer, der seufzend ins Schloß fällt und die Wirklichkeit dämpft. Daher das gedrechselte Tischlein im Salon, mit aufgeschlagenem Buch darauf und zieren Kettchen, die von der Platte herunterhingen; daher die lebensgroße Photographie
auf der - Staffelei, mit
gerefftem Vorhang darüber. Daher die goldenen Äpfel der Kunst in silbernen Schalen aus Papiermach£, die Prachtausgabe
und die bayrischen Königsschlösser, errichtet gegen eine Wirk- lichkeit, der ästhetisch am besten die Flucht vor sich selbst gelang. Ein Eigenes lieferte die Geldpracht freilich auch: nämlich weichlichen Festgenuß, im Leben, wie in der Kunst. Dem Ruf: »Bereichert euch!« entsprach letzthin ein Hedonismus, der bei Scho-
penhauer und Hartmann die gesamte Weltanschauung durchzog; er reduzierte fast sämtliche Weltprobleme auf Bilanzfragen, aufs Konto von Lust oder Unlust, auf Optimismus oder Pessimismus. Von daher wieder mußten die Frauen »weiblich« sein, mit Büste, Hüfte, Taille, fetten Armen und ahnungsvoller Ver-
hüllung. Stiefeletten liefen drückend und gepeinigt mit herzförmig geschweiften Rändern; vaginale Rüschen besetzten Sonnenschirme, Jäckchen, Schleppen, Culs de Paris, — noch im Parkgras saß das Lila des Rhododendron nicht anders als die Rü-
sche an der Schleppe eines großen Kleids. So wollüstig bauschte die Portierenzeit, daß ihre Frauen uns allesamt entgegenblicken
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wie Figuren aus dem »Pschütt« oder der »Vie de Budapest«; trotz der durchdringenden Bürgerlichkeit im Hauptberuf. Nicht anders die Herren, mit engen Hosen und Vollbart: im Bart nistete frisierte Schwüle, im Schlafgemach brannte die Ampel, im ganzen Zeitalter schwellte, dämpfte, log das Plüsch. Es war das Jahrhundert der Nüchternheit und ebenso des Schwulstes, der sie übertäuben sollte; das Jahrhundert der wol-
lüstigen Fabrikanten und ihrer Traum-Melange im Adelsbett; das Jahrhundert einer »Stilkunst«, die als historisches Masken-
geschäft an der trostlosen und entgegengesetzten Straße stand. Dies Wesen grüßte von Haus zu Haus, aber auch schummrig und versteckt. Der Mensch verhüllte sich, noch alle Dinge lagen in Etuis wie in einem Bett. Wie genau überhaupt verbanden sich‘ Angst und verkrochener Betrug mit diesen Wohnungen, wie gefährlich schlug sich Kriminelles darin nieder. Schön sah Benjamin dies Element des Jahrhunderts: die »singende Gasflamme« oder den »langen Korridor, der dem Opfer die Fluchtbahn vorschreibt«; so war
die hochherrschaftliche
Wohnung
nicht nur
der reiche Schauplatz des Nehmens, sondern auch der einleuchtende des Genommenwerdens, des Kriminalromans. Hinzu trat als dickster Glanz des Profitsalons, daß die Reichen von damals,
nicht gesättigt von Zugbrücke, Spinnrädern und anderer Renaissance, auch noch Orient brauchten, auch noch Kelimsegel quer durch
Zimmer
brauchten,
die Perserteppiche
am
Boden,
die
Zimmerpalme inmitten, Kameltaschenmuster auf allen Polstern und Kanapees. Was immer im Biedermeier den Orient entdeckt hatte, den Kashmirshawl und die türkisgrünen Wände: das bal-
kanisierte hier, der Balkan im Kapitalismus wurde zum »Khanat des faulen Zaubers«.
Derart war
der Salon, und
die Straße
setzte die Künstlichkeit fort, zugleich mit neuer Abwandlung der Grundmotive des Jahrhunderts, als welche sind Unechtheit und üppig großer Traumschein im Adelsbett. Sieht man diese Riesenfenster und Balkone, die Stein-Nippes als Ungeheuer, das gußeiserne Grobzeug und die Karyatiden vor Bankpalästen, so scheint ein neues Volk hergewandert, eine barbarische Zivilisationsrasse statt der zart-kultivierten des Biedermeier; um im
Abstand weniger Jahre Deutschland mit Greueln zu verwüsten, die ihresgleichen suchten und nicht fanden, außer im 'Traum-
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Talmi, in der Stil-Melange aus allen Zeiten und Völkern. Es ist die Straße der Weltausstellungen und ein Historismus, worin
jeder jedes konnte, der Baumeister nicht bloß riesig baute, son' dern romanisch, gotisch, renaissancistisch durcheinander, je nach Auftrag, und die äußere Größe der inneren Uferlosigkeit ent-
sprach. Einsam die französischen Impressionisten, ohne Einfluß das ehrlich-große alte Handwerk der Leibl oder Gottfried Keller: die damalige Kunst bestand aus Maskenball. Der reichte vom neckischen Genre bis zum ebenso theatralischen Riesenfor-
mat; nur eines Wagners Genie machte fast mythische, kaum noch mythische Maske daraus. Die letzte (bereits gesprenkelte) Scheinwelt des XIX. Jahrhunderts war der Jugendstil, war dies
Glühlila in Müdigkeit, als solches noch in Wagnerepigonen nachklingend und merkbar bis zu Klages. Jugendstil war die Scheinempanzipation eines Bürgertums, das — bald sozialdemokratisch, bald nietzscheanisch aufgestachelt — doch nichts mehr - in sich zu emanzipieren fand als Flucht und Ausleben, als selt-
same Sumpfmotive zugleich, als Sumpfschein des gebärenden Anfangs im faulenden Ende. Die Ornamente früherer Jahrhunderte waren innere Figur, die sich nach außen brachte; die Dekorationen, welche das XIX. Jahrhundert aus dem alten Ornamentsich holte, sind nicht einmalgute Falschmünzerei geworden.
Das freilich auch aus hieroglyphischem Grund und einem, der mit den Wunsch- und Ersatzträumen des Bürgertums, mit der Zutat des Kollektivtraums genau zusammenhängt. Denn das XIX. Jahrhundert kopierte ja nicht nur, auf gelehrte Weise, die
Vergangenheit, sondern materialisierte zugleich seinen Traumschein aus ihr: es ist historische Kopie plus Architekturtraum einer entschlafenen Geschichte.
‚Wo viel stürzt, sagten wir, bleibt manch Krummes hängen. Das merkt sich vor allem an der vorigen Zeit, bloßer Ekel drückt sie nicht mehr aus. Nach dem Ekel war das Lachen gekommen, der
oft sehr kunstgewerbliche Spaß an den komischen Kleidern und Sitten des Plüsch. Ekel wie Lachen waren nicht sehr tief gegangen, sie lagen in einer gewissen Zone des Schweigens; nun aber wird das vorige Jahrhundert als Rätsel hörbar, lauter, wenn-
gleich noch spukhafter als vorher. Das hörende Subjekt ist 385
zunächst, noch ohne Deutung der Folgen, das Kind von damals im Erwachsenen; dessen Reaktion ist Grauen und selber winkelige, echoreiche Betroffenheit. Denn Kindheit, wir sagten es, fand nie so vielZacken und Verzierungen wie im XIX. Jahrhundert, so viel Verstecke, die schreckten und verbargen, so viel
Traum der Späte, der archaischen der Frühe sich ansetzen ließ. Doch vor allem ist die Zone des Schweigens passiert, weil die
Dinge des XIX. Jahrhunderts jetzt erst zerfallen, weil sie faulen und dunghaft phosphoreszieren. Der Nationalsozialismus tut das Seine als Gespenst, um die gute Stube recht unmittelbar zu nutzen. Er lehnt gerade die »in die Zukunft weisenden« Ele-
mente des XIX. Jahrhunderts ab, also sein erstes oder IngenieurGesicht; doch nahe lebt er im zweiten, im Plüsch. Und je deut-
licher die bisherigen Machtmittel zur Unterdrückung des wirklichen Sozialismus versagen, je genauer das Großkapital fascistischer Diktatur
bedarf und der Narkose
dazu, als der
Diktatur in anderer Gestalt: desto häufiger auch aktualisiert es den Festschein und Maskenball des vorigen Jahrhunderts, desto geschickter wieder kann Dekorationsmalerei siegen. Die mittelbare Rezenz dagegen, die seltsame Avantgarde des Surrealismus, welche für ebenso seltsame, neu-symbolische Zwecke Haut-goüt
destilliert, hat das XIX. Jahrhundert forensisch: als Chok und
Objekt, als lebendig gewesenes Wachskabinett und Spuk, als Ausgrabung und » Antike« mit Totenflecken. Gaslicht kleinbürgerlich über dem Eßtisch und dem Vertiko daneben; Gaslicht großbürgerlich über bärtigen Fräcken und Plüschrondells. Gaslicht kleinbürgerlich auf den Stichen und Öldrucken der Zeit,
auf dem Mädchenengel, der ein Kind vor dem Abgrund behütet, auf dem savoyardischen Hirtenknaben, auf dem wasserrosigen See und der geschmückten Gondelfrau, auf dem rot und grün erleuchteten Ballsaal des Hintergrunds, worin Paare tanzen in Decollete und Frack; Gaslicht großbürgerlich über Makartbildern, deren alabasterne Arme zu Leichenweiß verderbt sind,
deren Komposition als wilder Plunder zerfällt. Diese Gebiete geben jetzt erst, durch Chok und Zerfall, ihre Bedeutungen frei: als Hieroglyphen
des Scheins und der Überfüllung,
als Stil-
Melange und bodenlose Mythologie. Dergestalt hat der Surrealismus am XIX. Jahrhundert seine Empfindlichkeit, seinen 386
Acker und sein Kolosseum. Der Inhalt der Ausbeute aber ist gerade die völlig zerfallende Traumstil-Melange, und das Mittel, womit deren Hieroglyphen verstärkt werden, um seltsam
. betreffend, vielleicht sogar lesbar zu sein, ist diabolische Montage der damals schon kreuz und quer durchschossenen Ornamente, Die Photographien auf Staffeleien, die Thermometer auf Hellebarden, die rätselvolle Schreckenskammer der Zeit: dies Jahrhundert ist näher als die Kindheit, ferner als China. Aber Surrealisten wie Max Ernst, Chirico, Aragon, Benjamin entzünden ein Kaminfeuer in der Chinesischen Mauer, rücken den kleinen Goldstuhl aus der Konditorei heran, und die Chinesische Mauer umschließt eine Zeit, die das Experiment des Menschen aus
Abhub ist. Ausrufer auf Jahrmärkten pflegen vor mancher Bude zuzuraunen, hier seien zu sehen »die Geheimnisse Griechenlands«. Sie sind es im XIX. Jahrhundert nicht, doch die Zeit enthielt andere Geheimnisse, nämlich die halbwüchsigen der
damals Erwachsenen; sie war spießbürgerlicher Tempel aus Alkoven, ein neumythisches Alt-Mexiko aus lauter »Budapest«. Kein Zweifel: verworfene Ecksteine (nicht immer blasphemischen Sinns) dürften im Trümmerfeld noch findbar sein. Auch
ist die Fauna der Ornamente groß, und das Löwenhaupt am Kanapee hält den Ring nicht mehr fest. Das Bergwerk dieses XIX. Jahrhunderts liefert keine Kunstwerke wie die vorigen, aber
Urbilder,
Archetypen
(menschlicher
Expression)
aus
Einsturz.
VIELE
KAMMERN
IM WELTHAUS
(1928)
Da draußen rührt sich zu vieles ohne uns. Nicht immer ist schlecht, daß Benanntes wieder entläuft. Desto eigener fällt es
auf, gehört nicht mehr so verabredet zusammen. Grünt oder welkt ganz anders dahin, als man denken mag. Ja, schon dies Grün hier kommt nur bei sich vor. Die Blumen duften vielleicht und »träumen«, wie man das nannte, aber wer weiß, wozu und worin. Die meisten Tiere leben fern, nicht in unserer Welt, in der oder gar zu der sie sich kaum bewegen. Niemand hat die Wege des Fischs, wie er sie schwimmt, was er
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auf ihnen sucht und sieht. Es gibt auch bedeutend weniger Haustiere, als man das wahr oder vielmehr falsch haben will. Die Katze kreuzt niemals unseren Weg, auch nicht zum Unheil,
selbst der Hund geht nicht mit. Und wenn sein Bellen noch so sehr den Bettler verneint, das Geld bejaht, das er beschützt.
An uns als Kindern sieht es nicht viel gerader aus. In der kleinen, wogenden Lage, die wir kaum noch träumen, damals,
als Türklinken
wie Fliegenköpfe
aussahen.
Und
wieder
die
Frauen um uns, sie mögen noch so sehr männliche Sprache als die ihre erlitten, erfahren und schließlich selbst ergriffen haben: an
ihnen bleibt Duft aus völlig fremden Gärten genug. Das blanke, üppige Weib, ein gefährliches Fremdwunder, und zugleich die Freundin, das alter ego im wahrhaft dialektischen Akt der Liebe. Schon der Nebel an Frauen, sehr deutlich zu fühlen, ist ein
anderer als der männliche, und ebenso die Richtung, in der er gefragt sein will. Man hat Frauen nicht entwertet, wenn man sie Sphinxe ohne Rätsel nannte oder ihre »unergründliche Halbheit« stellte, man hat damit nur unseren Rätselbegriff, selbst diesen, an ihnen entwertet. Nicht die keusche Magd, nicht die
donna graciosa, nicht die gleichberechtigte Reformschwester, nicht das Girl, nicht die Genossin schließt das Unbestimmte am Weib auf, kaum das ihr selbst schon Gegebene. Weibliches Lie-
besgefühl hat einen seltsam abgewendeten Blick, noch in der Wollust, gerade in ihr; die Mutterschaft wirkt wie in dunkle Kreise eingeweiht, ein Reservat, nicht mitzuteilen, kaum einzu-
beziehen. Mindestens nach Liebe und Mutterschaft hin liegt die weibliche Spindelseite außerhalb des männliches Blicks. Sie ist seiner Schwertseite neben-, oft übergeordnet, nicht als Variante
beigelegt. Näher zu uns, so stimmt kaum am menschlichen Leib die Reihe, nicht einmal als krumme. Die blutigen Muskeln unmittelbar unter der dünnen Haut, sogleich sehen wir anders aus, sind
uns ganz und gar nicht ähnlich. Was ist nicht alles sonst noch im Leib zusammengepackt an zuckenden, schlagenden Röhren, Knollen, Wurmbewegungen der Eingeweide; das geht mit dem Menschen, wie er sich gibt, schwer in eins, von den Ausscheidungen zu schweigen. Kaum zu glauben, daß in diesem blutigen Inneren das menschliche Leben gekocht wird oder im Gehirn 388
|
das Denken; an einer Geißlerschen Röhre wäre der Übergang »verständlicher«, gleichsam homogener, oder an einer blitzenden Maschine, - ’homme machine, er ist dieses nicht. Auch oberhalb dieser Tiefsee, an der Oberfläche des Leibs als ihrem dekkenden Spiegel, mit so ganz anderem Ausdruck, gibt es noch
Unterbrechung
genug.
Die Geschlechtsteile
etwa
sind dem
Kanon des nackten Menschen fremd, wie wir ihn seit den Grie-
chen haben. Weichtier und Schlange gehen darin um, sprechen sich nur pornographisch aus, am Rand der Sprache, derb, pikant
oder schwülstig. Die Geschlechtsteile unterbrechen den apollinischen Umriß, und der barocke, der ihnen näher steht, bekleidet. Erst recht hat der Liebesakt sein eigenes Reich, einen Raum mit
offenem Boden und offener Decke, aber ohne Fenster und Taglicht, kreist darin mit reflexhafter »Barbarei«. In der heutigen Stadt werden wenigstens am » Werktag« Erschütterungen von der Stärke der Sexualität nicht laut; oder nur an Abenden, in ‘ Luxusstraßen und Lichtblendungen, uneigentlich, vorspielhaft,
zum farbig-streuenden Allotria entspannt. Vielleicht wird die bürgerliche Welt durch Hunger, sicher nicht durch Liebe betrieben; auch in ihre Kunst, Religion sind Liebesblicke nur uneigent-
lich eingemischt worden und nicht als wichtigste Motoren. Bei den Griechen herrschte wenigstens noch Spannung, im gotischen Christentum Feindschaft zwischen Dionysos und Apollon, zwischen der unterweltlichen Dämonie, in die Eva riß, und MariaChristus. Sinnenglück rivalisierte immerhin noch mit Seelen-
frieden, in der heutigen Welt steht es völlig schief zum bloßen Arbeitstag. Maria-Christus war noch der raubende Fluchtver-
such aus Dionysos
heraus, das überlegene Experiment, auch
aus dionysischen Phiolen gereinigtes Wasser in ein neues _ Leben zu gießen; Minnedienst kam von daher und durchwirkte
eine ganze Kultur, bis hin zum Rokoko. Dem bürgerlich gewordenen »Geist« dagegen ist Dionysos völlig disparat, freilich dadurch desto schärfer auch als das Ausgelassene fühlbar. Dabei ist »Dionysos« nur einer, wenn auch ein Starker von vielem, woran unser gewohntes Lebensgefühl, abstrakter Ratio-
nalismus versagt. Wird die Liebesnacht nicht hell, so ihre Frucht noch weniger, obzwar sie sich mitten am Tag trägt. Bizarr ist das Kind im
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Mutterleib, die unsagbare Schlafwelt des Embryo, von Schwangeren auf die Straße, in Geschäfte, auf Bälle getragen. Der An-
fang einer Welt, jader Welt überhaupt dumpft und glüht hier in einer wachen Frau; Nullpunkt der Vorgeschichte fährt gegebenenfalls zwischen zwei Stationen der Straßenbahn, im kühlen
Alltag des Jahres 1928. Dies unvergleichliche Zugleich läßt sich ja freilich homogeneisieren; entweder modern, indem Gynäkologen vom Embryo handeln, als liefe auch im Mutterleib eine
Straßenbahn, oder mythologisch, indem Kabbalisten auf dem Haupt der Frucht ein Flämmchen sahen, den »Engel«, der sie führt. Aber die letztere Einordnung ist schon lange gesprungen (so wie Dionysos als Gott in einem »Göttersystem« gesprungen ist); und sie gab auch nur ein bunteres Haus, mit eingemischten Farben der Urwelt, wo überhaupt noch kein mögliches Haus
statthat. Zudem: können die Gynäkologen die Mysterien des Anfangs nicht ordnen, so brachten Kabbalisten umgekehrt das Dasein der höchst irdischen Welt nicht unter, in der das Engelswerk doch eingeschlossen ist. Der Chok, der Reinhardt, einen
jungen Naturforscher, in Kellers »Sinngedicht« überkommt, als er die Liebesgeschichte seiner Eltern hört, der er seinen Ursprung verdankt, ist der erfahrene, nicht nur kontemplative Begriff dieses seines eigenen Anfangs, als eines Weltanfangs mitten im zivilisierten
Hochzeitshaus,
ja mitten
in der bekannten,
scheinbar sich selbst genügenden Urbanität. Die Liebeszeit der Eltern erregt nicht nur aus freudianischen, sondern
auch aus
metaphysischen Gründen diesen Chok. Der Ekel der Kinder, sich ihre Eltern im Liebesakt vorzustellen, aber auch der Schreck
der Eltern am beginnenden Liebesleben ihrer Kinder hat außer den verständlichen noch diese dunkleren Gründe: hier sind Falltüren in der Welt, Orte, an denen die gewohnte Wirklichkeit
ihren Boden verliert. Auch die kirchliche Kultur kann das embryonale Dasein aller Menschen und immer wieder aller Menschen nicht in Form bringen, in eine, die die scheinbar kontinuierliche, noch in ihren Revolutionen kontinuierliche Ge-
schichte nicht auf Abgründe setzt. Sie hat nur für den Augenblick des Übergangs die Taufe; doch die ungeheuerliche Spukwelt vorher, ein umgekehrtes Totenreich, mitten unter Lebenden herumgetragen, bleibt ohne Licht.
399
.
Fast überflüssig zu sagen, wie sehr erst der Tod bricht und verdunkelt. Der Beilhieb ins Mark, so daß dasselbe Fleisch ver-
2 west, das sich zuerst so seltsam gebildet hat. Da liegt nun die
bittere Leiche, nicht mehr eingeschlossen in die Welt wie die Frucht,
wie das Kälbchen
im Leibe
der Kuh,
die man
zur
Schlachtbank fährt: sondern der denkende Mensch ist selber an
den Urort des Alogos gefahren, dicht neben der Stadt auf dem Friedhof. Man hat den Tod in die organische Substanz selbst einbezogen, ihn gleichsam an die Spitze eines eigenen Triebs,
des Todestriebs gelegt. Nicht nur als Sehnsucht des hohen Alters, sondern gerade auch als Tendenz der Jugend, als mineralische "Tendenz gleichsam, die das Ich auslöschen, allhaft oder starr vergehen lassen will. Auch in der Askese soll ein solcher Vernichtungstrieb wirken, nicht in der Askese der Arbeit, die es sich sauer werden läßt, auch nicht in der Askese der Weltflucht um eines inneren Lichts oder der Überwelt willen, wohl aber in der
baren Abtötungslust, die gleichsam eine Völlerei des Todestriebs sein kann und an der die Religion eine Ideologie ist. Ebenso gibt es gewiß mehrere Weisen, mittelst derer der Tod in die psychi-
sche Substanz einbezogen oder wenigstens von ihr gebraucht wurde. Entweder direkt, wie bei den Ägyptern, als den Verehrern der Starre, der Statuarik, der Osirislehre, oder indirekt
und gleichsam dialektisch in den Phänomenen des »Liebestods«, zuhöchst des »Opfertods«, auch der echten Askese. Ästhetisch gehört das Phänomen der "Iragödie hierher, wie sie den Tod zum Rahmen eines herausgetriebenen Lebenssinns macht. Je-
doch wie richtig oder falsch auch diese Phänomene gedeutet sein mögen: selbst ihre Einflechtungen geschehen immer nur am Rand des Tods, an seiner zurecht gelegten Schauseite, nicht im Zentrum. Er bleibt das fremde Nicht-Ich schlechthin, das Irra-
tionale in der Ratio jeder Kultur, selbst der ägyptischen, selbst der christlichen; der Tod ist der Prototyp jedes »verhängten Schicksals«, als eines ebenso ungewollten wie fremd eingreifenden wie unbegriffenen. Noch fremder als der Vormensch reicht
so der Nachmensch und sein Leichenreich in den Begriffstag, wird davon überhaupt nicht mehr oder nur mit ungeheuerster Entfremdung überboten. Das aufgeklärte Lebensbewußtsein kapituliert vor dem Tod, das kirchliche durchhaut ihn, aber 391
nirgends ist der gordische Knoten wirklich verschlungen in den Sieg. So viel ließe sich dem schlichten Grün noch nachtragen, mit dem hier zu staunen begonnen wurde. Eine Skizze, weniger: ein
kleiner Katalog müßte so entstehen, sehr unvollständig und wissentlich ungeordnet. Ein Katalog des Ausgelassenen, jener Inhalte, die im männlichen, bürgerlichen, kirchlichen Begrifjsystem keinen Platz haben. Die aber im selben Maße wieder hervortreten müssen, als das System revolutionär gesprengt
wird oder »relativistisch« selber springt. Und infolgedessen — gegen den abstrakten Rationalismus — existentielle Inhalte erscheinen, die gewiß nicht jede Ratio sprengen, aber eine, existentiellere und konkretere brauchen. Elende treten vor, die
schlimmer als das Vieh gehalten werden und sich nicht dagegen regen, weil sie gänzlich draußen stehen. Dienstmädchen, so schwach und sprachlos, daß sie nicht mit dem Leid, sondern daß das Leid mit ihnen ins Wasser geht. Dirnen, Zuhälter, bürgerlich Unbestimmte und Unterbestimmte des Verbrechens, Gestank, Madenleben und eben »unsäglich« verkommene Buntheit in den südlichen Hafenstädten. Und im Seßhaften, gefährlicher Ausgelassenen: noch die Bauern marschieren außer Reih und Glied, in ihrer Nüchternheit, die keine ist, in ihrem Besitz, der nicht
kapitalistisch ist und also nicht umschlägt. Der Adel ist erst recht kein Vorbei, vom Bürgertum linear überrannt, sondern das XIX. Jahrhundert ist noch ein Handgemenge bestehender Gewalten, unter denen die Restauration, auch innerhalb des
Bürgertums, nicht die geringste war und bleibt. Und wieder herauf, zu Beständen mit tieferem Dunkel oder Licht: sind denn
die Juden Spreu geworden, nachdem das Korn Jesu heraus ist? Niedere, auch höchste Religionen strotzen noch im vollsten Nebeneinander, in den Lagunen der Südsee, mit Kannibalen be-
haftet, in den geheimen Klöstern Indiens; sie landen weder tatsächlich noch substanziell im »Primat« des Christentums, als wäre bereits aller Dimmerungen Tag. Erschreckend, doch reli-
giös erschreckend ist in ihnen das »Numinose« enthalten, ein Menetekel aller Theologie, die weiß, was es mit bloßem Rationalismus des Herzens und Geistes auf sich hat. Mit nichten ist auch die »Naturschranke« überwunden, wie es sich der 392
Kapitalismus wünscht, der hier vergebens der Nachfahre der ' alten Zauberei ist. Der bloße Kausalnexus, von dem unser Leben, unsere Begegnungen und die daraus anhebenden Schicksale abhängen, sieht nicht nach konkretem Produktionsbudget aus, das den Wildwuchs der »Natur« überwindet. Und ebensowenig, nach der anderen Seite, den Abgrund des Unfalls: die Einstürze, Zusammenstöße, Explosionen im Bereich der Technik, der immer noch abstrakten, nichts durchbohrenden; gar die kosmische
" Schutzlosigkeit jenseits all der neumagischen Triumphe. Und auch sonst: wie disparat an sich selbst steht auch im Kleinen immer noch Naturhaftes zum wachsenden Generalnenner, der es
nichts angeht. Da hebt sich das Wasser so öd und schwer, der Fels lastet, schweigt und starrt auf seine namenlose Weise, unendlich rollt die Wogenprozession aus der Nacht in die Nacht,
ungeschäftig in dunklen Geschäften, es flammt die bleiche Blitzader, wie sie Dichter sehen und Philosophen nicht durchdringen, bis auf die feinste Einzelheit in solcher Eile ausgebildet, doch
von unfaßbar kurzer Dauer; die Sterne brennen als Argusaugen, die keine sind, als Götter, die keine sind, als Feuerklumpen, Strahlungskörper, die keine sind, mitten in der ungeheuren Anderheit der Weltnacht: kein Begriff, weder einfühlend noch
dichterisch noch qualitativ noch quantitativ, setzte diesem Übermaß an Rätseln ein Ziel; selbst die Fragestellung blieb hier blind vor Irratio: als der riesigen Anforderung an die Vernunft, die das Geheimnis nicht auflösen kann, ohne ihm gerecht zu wer-
den. Selbst die Mystik gab mit allen ihren Sonnenwerdungen oder Gottiefen der »Natur« kein Haus. Faßt man die Welt nach der einen Seite, so entrinnt sie nach der anderen, verlegt immer wieder ihre schlechte Unstellbarkeit. Was heute Elektrizität ist, dies breit rationalisierte Wesen, war den Griechen gewiß nur geriebener Bernstein, aber dafür ist alle alte Magie wieder bis auf ein
kleines Stück dilettantischen Bernsteins zurückgegangen, und die alte Magie war auch nur Stückwerk. Wie dunkelt erst der Kern der Natur, Menschen im Herzen. Der Beweger des Menschen-
geschicks ist unbekannt, sogar noch der Beweger des Hungers und der Ökonomie, wie sehr erst das Subjekt der »Kultur«, all
der Täuschungen, auch Glanzbilder eines wechselnd adäquaten Bewußtseins,
in dem
das echte
verborgen
ist. Im
Kleinen, 393
a Winzigen geht oft noch am genauesten das Herz des Existierens
auf; das hat schon an der Art, wie diese Pfeife da liegen mag, die Instanz seines Schlags: doch nur erst ein großes Staunen, wenn auch das letzte und höchste, faßt sich daran. Völlig im Nebel,
noch ohne Lampe des Begriffs, ist das Subjekt des Existierens überhaupt. Dieser Weltodysseus ist nicht nur der Philosophie, sondern damit sich selber noch unbekannt, heißt noch Niemand oder Subjekt ohne Gesicht, Tendenz ohne gestellte Materie; sein Ithaka liegt unter dem Horizont.
So hart drängt reichlich Anderes an, links, auch rechts. Geht nicht unter einen Hut, steht quer, ist sperrig zu einem allzu rasch oder verabredet sammelnden Begriff. Dieser zeigt sich so als ab-, strakt, er läßt aus, mit einer Art numerus clausus, was nicht in seinen Zusammenhang paßt. In seinen abgegriffenen, dadurch
doppelt glatt gewordenen, in ein Bezugssystem, das als männliches, bürgerliches, als immer wieder quantifizierendes sehr viel Unterbegriffenes im Vielen hat. Das Viele vagiert hier als das Einzelne, das nicht als Besonderes unterkommt; vorzüglich das
qualitativ Besondere ist dann so wenig auch das Besondere eines Allgemeinen, wie das Allgemeine das Allgemeine dieses Besonderen sein kann. Der heutige Zerfall des Oberflächenzusammen-
hangs macht für dergleichen besonders empfindlich: freilich aber nicht zum Zweck einer Abdankung des Allgemeinen, weiterhin Ganzen, schließlich gar Einen. Wenn das Ganze nicht die Wahrheit ist, so nur nicht das allzu fertig geschlossene Ganze, wohl
aber das offen gehaltene. Als eines, das sowohl nach unten wie nach vornhin begrifflich bisher Unterprivilegiertes einläßt, das, aus wirklicher Vornehmheit, gegen das bloß »Beiherspielende«,
wie selbst Hegel zuweilen sagt, nicht vornehm tut. Ein so erfahrener Pluralismus ist dann gerade Anforderung an die Unitas und zu ihr hin; er macht sie durch Erschwerung erst unverabredet. Das Ganze dieser Einheit ist also nicht das bereits umfassend Wahre, sondern einzig das noch ausstehend Wahre; dies
Totum
gibt es noch nicht, außer in utopischer Experiment-
Beschaffenheit. Sein Eines (wie es nottut, also noch nicht gelungen ist) steht erst in der vielfältig versuchten ProzeßRichtung auf es hin. Nur derart, aber genau derart kann
pluralistischer Reichtum kein Störendes sein, bleibt auch sein 394
_ Kontingentes, versucherisch gesehen, nicht chaotisch Nebenbei,
sondern wird umgekehrt ein Weisendes und Zeugenhaftes von unterwegs fürs Ganze, das wahr wäre. Solch Zeugenhaftes gibt _ statt des abkappenden Schemas mithelfende Fülle zur Abbildung des Prozesses, stärkt vor allem das Gewissen-Wissen, daß die Welt noch unfertig sei und ihr All-Eines, genau dieses, am
wenigsten abgefertigt. Was nicht zuletzt dann auf die dialektische Methode einwirkt, als der des unabgeschlossenen Prozeß-Inhalts selber. Statt des bequemen Stoffs gehört zu konkreter Dialektik
_ unbequemer, also nicht nur einer an homogen gewordenen oder ‚auch ab ovo homogenen Widersprüchen, auch Widerständen. Sie trifft den unbequemen, doch sonderlich konkreten Stoff auch - dort, wo nicht alles in Reihen läuft, wo es Kreuz und Quer gibt,
Ungleichzeitigkeiten, ja Disparatheiten. In den vielen Kammern des Weltgebäudes, den genau durch Zerfall ab-, also aufgedeck“ ten, den in Montage nicht nur subjektiv zusammengeschobenen, nistet solch eigenes Außersichsein, gegebenenfalls Negativsein viel, auch ohne vorausgeschickte Thesis. Statt des immer gleichen Dreitaktes Thesis, Antithesis, Synthesis, woran immer derselbe und ein allzu sicherer Segen ist, erscheint dann ein wechsel-
reicher, auch stark synkopisierter Rhythmus. Statt des einlinigen lebt ein vielzeitiger, vielräumiger Prozeß, worin seine keines-
wegs homogene Materie sich ausgestaltet und herausexperimentiert. Die Welt arbeitet derart gerade in der dialektischen
Methode pluralistisch, doch erst recht als Multiversum versus Unum
nondum
inventum. Einer Einheit also zugewendet, die
ebenso als das immerhin fehlende (nicht etwa völlig abwesende) Vollkommene im ebendeshalb Unvollkommenen, das heißt: ‚seinem Vollkommenen,
Unangemessenen
umgeht,
latent
ist.
; Dem muß Tag und Nacht der Gedanke geöffnet sein, ein Ratio-
nalismus der ins Offene bezogenen Kontingenz und dialektischen Geladenheit zugleich, eine utopische Erfahrenheit, die weder abstrakt entflieht noch irrational kapituliert. Dazu aber muß der Begriff so spürsam wie eingedenkend sein. Auch das kann aus dem Einsturz gelernt werden, sofern man nicht selber zu ihm gehört. Und wie die Gesellschaft, so schlägt auch die von ihr abhängige Welt immer wieder neue Seiten auf. Das kann sogar, wenn auch zu einem noch nicht bestimmbaren 395
Teil, in der von uns relativ unabhängigen Welt, sie induzierend,
ihr korrespondierend, der Fall sein. Also nicht nur durch technische Vermittlung von heutzutage (die durchaus keine bereits
konkrete zu sein braucht), durch ihre oft nur listige Umleitung, künstliche Verbindung gesetzhafter Naturzusammenhänge. Sondern es gab Zeiten-und sie könnten auf höchst rationaler Ebene wiederkommen -, wo die Menschen ein kosmomorpheres Verhältnis als das der List hatten, als das bloßer »Beherrschung«, »Ausbeutung« der Naturkräfte. Bis zu diesem, noch sehr aus-
stehenden, ja sehr hypothetischen Verhältnis freilich bleibt der größte Teil der anorganischen Welt, humanistisch gesehen, freilich ein Niemandsland; das heißt, es ist mit dem Menschen und
seiner Geschichte, obwohl es sie rundum umgibt, keineswegs konkret
vermittelt,
keineswegs
daran
angeschlossen.
Ja, das
Agens der Dinge selber, das X, das sie treibt und worin ihr Wesen zugleich latent ist: dies eben wurde als » Weltodysseus« bedeutet, der selber noch Niemand heißt, samt einem »Ithaka«, zu dem
dies Fahrende noch keineswegs eine gebahnte Zukunft des Erreichens hat, das sich während der richtigen Fahrt und durch sie
aus seiner Tendenz-Latenz sogar erst hebt. Aber das Selbstproblem des unfertigen Daseins hat im Bau seiner möglichen Lösung manche Bausteine, die die bisherigen Bauleute verworfen haben. Philosophieren muß also viel mitnehmend sein können, um andererseits wieder jene eingedenkende Einseitigkeit erprobend zu halten, die scharf macht zum Zweck. Nicht mit viel abseitig bleibenden Kammern zuletzt, sondern mit der Einheit einer Wohnung als Welt, die so erst recherche de l’espace perdu nicht mehr nötig hätte. Das ist ein noch völlig irrealer Grenzbegriff des Unum; außerhalb seiner bleibt daher der Blick
aufs Uneingemeindete ein gutes Mittel gegen Armut der Umfassung. Totum relucet in omnibus: doch eben nicht als beruhigt generalisierendes, sondern nur als utopisch zentrierendes kann Totum widerleuchten. Wobei es dem Begriff wohltut, wenn er
im geringsten Detail Zeugen sammeln will und kann.
396
AKTUELLE
QUERE: ANGST
VORM
»CHAOS«
(1932)
Sie hemmt heute weit. Es ist doch die zwölfte Stunde, sagt man.
”
Hinter ihr der Abgrund, vor dem man steht oder gerade gestanden hat. Vor dem im letzten Augenblick noch der Wagen zurückgerissen wurde. Dankbar wird man darum braun, blickt
auch immer wieder nach oben. Was unten wohnen mußte, hatte zum Schaden mehr als nur Spott zu ertragen. Unten sollte fast ohne Unterschied dum' mer Pöbel sein, das Pack, der faule, freche, unmusikalische Sklave. Ein zeitgenössischer Schilderer erzählt von den zielbewußten Bauern des Bauernkriegs, als sie auszogen, sie »wußten nit warum, die blinden, elenden, verstockte Leut«. Was immer Lumpen trägt, Schnaps säuft, die schwerste und schmutzigste Arbeit schafft, weder Bildung noch Manieren zeigt, hat dies Mi-
nus als Folge seiner angeborenen Roheit und nicht die Roheit als Folge seines sozialen Minus. Odi profanum vulgus et arceo, singt Horaz, der Sohn eines Freigelassenen; dies Oberlehrer-
gefühl ist geblieben, wo immer Menschen dienenden Standes erscheinen, die den Respekt vergessen. Freche Dienstboten, tük-
kische Bettler, gar meuternde Matrosen finden von Horaz bis — Jack London kein Pardon.
»Weh denen«, singt Schiller, »die
den ewig Blinden des Lichtes Himmelsfackel leihen«; der Rittersmann begehrt auch im sozialen Abgrund nicht zu schauen, was die Götter gnädig bedeckt mit Nacht und mit Grauen. Frauen der Revolution sind, die Sturmglocke läutend, durchaus Hyänen; die sexuelle Angst und das Mißtrauen des Kleinbürgers vorm allemal ungeordneten Weib steuern damit der Revolution eine besonders chaotische Note bei. Conze, in seinem vielseitigen Buch »Der Satz vom Widerspruch«, hat die lehrreichsten dieser
Beispiele zusammengestellt, sie zeigen allesamt den »Pöbel« als minderwertig von Natur aus. Seit Jahrhunderten wiederholt die herrschende Klasse, daß die Massen keinen Verstand, kein Urteil haben, daß sie, wieSombart es ausdrückt, »intellektuell beschränkt, kurzsichtig, leichtgläubig«, sogar kritiklos sind. Ortega
y Gasset, der Schönschwätzer und mißvergnügte Fascist, stellt fest: »Heute wohnen wir dem Triumph einer Überdemokratie bei, in der die Masse direkt handelt, ohne Gesetz (!), und dem 3977
>
Gemeinwesen durch das Mittel des materiellen Drucks ihre Wünsche und Geschmacksrichtungen aufzwingt.« Die Masse wird förmlich definiert als »die Gesamtheit der nicht besonders Qualifizierten« (denn dem Bürger, der ehemals selbst aus Unterschichten kam, ist selbstverständlich, daß nur »Mangel an
eigener Initiative« in der Masse hält); Ortega y Gasset fährt fort: »Grundverfassung ihrer Seele ist Unzulänglichkeit und Unbelehrbarkeit, es ist ihr angeborener Fehler (!), nichts zu berücksichtigen, was außerhalb ihres Horizontes ist, weder Tatsachen noch Personen.« Völlig die heutige Chaosangst, vielmehr das nur durch Verachtung gemilderte Schreckensbild sozialer
Volksfront
malte
aber bereits Macauly voraus. Er prophe-'
zeit das »bolschewistische Chaos« völlig als homo homini lupus: »Es würden da sein viele Millionen von menschlichen Wesen, zusammengedrängt auf einen engen Platz (?), beraubt
aller jener Hilfsmittel, die allein es ihnen möglich machen, auf einem so engen Raum zu existieren. Handel, Fabriken und Kredit werden tot sein. Was könnten sie anders tun, als für die bloße
Erhaltung ihres Lebens zu kämpfen und sich gegenseitig in Stücke zu reißen, bis Hungersnot und Epidemien im Gefolge der Hungersnot die schreckliche Bewegung in eine noch schrecklichere Ruhe verwandeln?«
Macauly, auch Luther, auch Scho-
penhauer - die Liste wäre lang und mit zahllosen Varianten fortsetzbar; doch darin ist sich die jeweils herrschende Klasse einig, daß die Masse nur Wolf oder Esel oder eine Kreuzung von beiden sei.
Auch geistig sozusagen wird der Gegner schlimmer als nichts. Malt die Angst ihn blutig, so die Unwissenheit schwarz. Die
Faulheit und Freßlust des Pöbels kann ja nicht anders als - materialistisch sein. Dies Wort wird dem Kleinbürger lediglich im
plattesten Sinn vorgesetzt, und er hört den gemeinsten heraus. Was immer der Kleinbürger flieht und wovon er umschlossen
ist, das gerade schreibt er dem »materialistischen« Proleten zu. Jeder Begriff geht darum durcheinander: »Materialismus« als Völlerei; als egoistische, nur auf den eigenen Vorteil bedachte Gesinnung; als Welt-Rückführung auf mechanischen Tod. Da-
bei verschlägt nichts, daß Völlerei der geringste Fehler des Proleten ist, daß die Märtyrer der Kommune recht wenig auf ihren
398
persönlichen Vorteil geachtet haben, daß dialektischer Materialismus Mechanik zuschanden schlägt. Der Kleinbürger ‚ reagiert alles Widrige vom Kapitalismus ab, indem er es »materialistisch« nennt; und das »bolschewistische Chaos«, als Praxis
der Materialisten, ist dadurch doppelt belastet. Vor zwei Gene_ rationen war das anders, als das liberale Bürgertum noch seinen
Scheinkampf mit Weihwasser und Säbel hatte. Heute dagegen, an solchem Kampf nicht mehr interessiert, hat es den Materialismus sich selber verächtlichgemacht, verstehtsich:bloß theoretisch verächtlich, und den Drang des Idealen, zuletzt des Irrationalen
_ emanzipiert. Seitdem geschieht jede Erwähnung des Materialis_ mus von oben herab, immer mit dem Affekt, die Arbeiterbewe_ gung zu treffen; er wird abgetan als flach, grob, kraß, seicht, _ dürr, banal, seelenlos, geistlos, kulturlos, grau, langweilig, tot,
‚längst überwunden, kurz seine Charakteristik besteht lediglich - aus summarischen Beschimpfungen. Die Tage sind fern, da Windelband Demokrit noch als einen mit Platon und Aristoteles ebenbürtigen Denker behandeln konnte; erst recht ist der _
ahnungsvolle Ernst vergangen, womit Hegel die französischen Materialisten ausgezeichnet hatte. Der Materialismus wird nicht nur rein als mechanischer verstanden und in der ohnehin barbarischen Form der Büchner und Moleschott, er wird auch zum hoffnungslosen Unstern gemacht, ja eben zum grauen Elend schlechthin. Kein Wort dringt besseren Herren vom Novum des dialektischen Materialismus an die Ohren, kein Wort von
den Unterschieden, welche dieser gegen den bürgerlichen Materialismus, gar gegen den epigonalen der Moleschott und Häckel setzt. Der Kleinbürger wäre voller Welträtsel, kennte er die
echten Affekte, die gerade der dialektische Materialismus gegen - die verplatteten Affen desmechanischen kehrt. Gegen die »Reise-
prediger und Karikaturisten Vogt, Moleschott und dergleichen«, gegen ihren »Flor zur Zeit der tiefsten Erniedrigung Deutschlands und der offiziellen deutschen Wissenschaft« (Engels, Naturdialektik, $S. 151). Dem lichtbedürftigen Kleinbürger möchte erst recht die »idealste« Überraschung winken, wenn nicht die plumpe Propaganda der Vulgärmarxisten, die gerissene der herrschenden Klasse in Ansehung des Materialismus derart blockierten. Völlig fern von dessen historisch-dialektischer Gestaltung,
399
Umgestaltung,
Umgestaltbarkeit,
detektivisch
und
hoffend
zugleich. So aber wird materialistische Geschichtsauffassung, vom akademischen Lehrbuch bis zum Zeitungsartikel, nur a la canaille definiert; will der »Gebildete« hier sich Rats erholen, dann erfährt er: » Verlangen nach Geld« gelte bei Marx als ein-
ziges Motiv des Menschen, die Bewegungen
der Geschichte
würden von Marx »ausschließlich auf solche des Unterbaus, auf mechanische (!) Gesetzlichkeit« reduziert; Ökonomie und nichts als Ökonomie sei der »Inhalt der Geschichte« und werde es bleiben (!). Neuerdings gar wird Marxismus, außer mit
Ludergeruch, auch mit dem der — Verwesung ausgezeichnet, in einzigartiger Umkehrung der wirklichen Situation, worin sich’ Kapital und Marxismus befinden. Die ungebändigte Irratio der Vitalisten, die gehaltenere der sogenannten Gestalttheoretiker | schreiben dem Marxismus, als einem »Produkt des liberalen Jahrhunderts«, seinen Leichenzettel; dergestalt, daß der »Gebildete«, wenn er auf Formen sieht, vom bloß »haptischen« Materialismus, von dieser Pöbelei des Tastsinns, degoutiert Abstand nimmt und sich gänzlich an den »optischen« Idealismus hält, an die Welt der Gestalten, Formen und allemal vornehmeren Persönlichkeiten. Gestohlen wird vom Marxismus genug, weil er die Wirklichkeit ist und weil nicht einmal der Betrug, soweit er in der Wirklichkeit geschieht, ohne ihn auskommt. Aber die Lehre wird tabu, Abgrund, Pöbelphilosophie, das Ende der Kultur. Wie dem Bauern und Kleinbürger, obwohl er nichts zu. verlieren hat als seine Schulden, die Republik der »Habenichtse« pures Grauen ist, so wird ihm eine sogenannte Gottlosenbewegung, obwohl er an gar keinen rechten Gott mehr glaubt, zum
Zero, ja zum Minus schlechthin. $o erscheint ihm im marxistischen »Abgrund« kein blühendes Diesseits, kein unbekanntes Wunder der Befreiung, sondern ein eiskaltes Chaos. Aus der Lage selber, worin der kleine Mann lebt, wird hier nicht alles klar. Sie verschleiert ihm zwar den Weg ins Freie, doch sie verteufelt ihn nicht geradezu. Das bewirkt erst ein älteres,
ungleichzeitiges Wesen, eine — zu allem anderen — abergläubische Furcht vor dem »Unten«. Uralte Mythologien, allerneueste Auffrischungen ihrer kommen der Unwissenheit zuletzt noch zu Hilfe, werden zum Dienst neuer 'Teufelsfurcht mobilisiert, 400
schließen sich an die gewesene an. Dieser war das Böse allemal unten und das Licht bei den Herren, die zähmen. Da kriecht die biblische Schlange auf dem Boden, muß Staub fressen ihr Leben
lang, sticht den Menschen in die Ferse, und er hat ihr den Kopf zu zertreten. Da ist vom Sündenfall her das lüsterne Weib, muß hart gehalten werden wie alle Begehrlichkeit, ist die Rotte
Korah und die große Hure von Babylon, die ebenfalls aus dem ' Abgrund herauf will. Da ist das Chaos selber als Zustand von ' Anfang an, der kosmische Untergrund der Welt und als solcher - drohend, wo immer die Bande braver Scheu, frommer Scheu sich lösen. Auch dionysische Umkehr dieser Wertungen kommt
gegen die alteingefahrene, sozusagen vaterrechtlich eingefahrene Reaktionsbasis nicht auf. Destoweniger als »Dionysos«
gänzlich zu einem Herrengott gemacht worden ist, zu einem besonders skrupellosen, und dem Volk durchaus die »Sklaven- moral« bleibt, unter irrationalen Phrasen, die es lediglich betäuben sollen. Gerade die Lebensangst des üblichen Klein-
bürgers aber will Sicherheit; gerade die Ungleichzeitigkeit des dämonisierten Kleinbürgers, welche faktisch frühere Bewußtseinslagen streift und im Blutrausch steht, mindestens
in archaischen Träumen, will gestaltlos vorgestelltes Chaos nicht, sondern geht dagegen an. Sie will als subaltern Führung - und Gefolgschaft, als dämonisiert Drachensieg und deutschen Stern; Jubel von »Panchaotikern« schlechthin ist selten. Schwer "unterscheidbar, ob nicht auch die religiösen Wertgefühle, welche
den Begriff Materie in seiner langen Urgeschichte begleitet haben, in der heutigen Chaosangst, Materialismusangst stellen_ weise rezent sind; mindestens in der »gebildeten«. Das Verdikt, - welches die Kirche der Materie angedeihen ließ, reicht bereits - aus; denn die Kirche überliefert sie dem Bewußtsein (und heute
dem Unbewußtsein)
als »Nichtsein«, als all das » Unvollkom-
'mene«, welches die »Nacht« den Gestalten der Schöpfung beifügt. Sie überliefert die vaterrechtliche, die platonisch-mythische Gleichsetzung von Materie mit Fleisch, Dunkelheit, verdächtigem Stoff des Abgrunds, sie überliefert ebenso »Idee« als Form und einziges Licht. Das alles ist Beisteuer zur Chaosangst, wo immer sie im Interesse der herrschenden Klasse liegt. Die christliche »Bewegungsumkehr der Liebe«, wonach die Seele nicht 401
nach dem glänzenden Gott der Spitze sich erstreckt, sondern im
Drunten ihren Eros und ihre Objekte hat: diese Bewegungsumkehr scheint heute weniger im Interesse der herrschenden Klasse, obwohl Scheler von ihr spricht. Der Kleinbürger erschrickt vor dem proletarischen Zustand, dem er sich nahe sieht,
den er als einen schlechterdings ewigen betrachtet, wie alles in seiner Welt. Und die Oberschicht befördert sämtliche Reflexe der Mythologie, welche vor dem Abgrund zurückschaudern, — als wäre er einer.
Doch auch das Gefühl der zwölften Stunde lebt fort. Eine gesellschaftliche Ordnung, worin alle Kleinen leiden, trägt sub-
jektiv wie objektiv ihr Ende. Daß es ihnen nicht so mythisch ' verdunkelt scheine, dazu kann der sogenannte Abgrund nicht angemessen genug beleuchtet werden. Das gelingt nicht durch
Proletkult oder durch Nichtswissenwollen von der bürgerlichen Kultur, weil sie eine der Bürger ist. Der Proletkult ist auf die abstrakte Blindheit, womit die herrschende Klasse das Proletariat wertet, großenteils nur die ebenso abstrakte Antwort (wenn auch der interessierte Schmutz der Blindheit fehlt). Ebensowenig taugt Vulgärmarxismus zur Illumination; denn er unter-
streicht, was »Ideenlosigkeit« angeht, nur den Hades, den die herrschende Klasse als »Marxismus« vorführt. Ist der Marxismus kein Abgrund, so ermangelt er doch nicht der »Tiefe«; es
hilft also nichts, die Angst vorm Chaos durch das Pathos der Flachheit zu vertreiben. Der Wille zum Nationalsozialismus kann längst durchlöchert sein, wenn ihm nur der abergläubische Nicht-Wille zu echtem Sozialismus sicher ist, der Schreck vor dem »Abgrund«, worin doch sicherer der Mensch vorkommt als
auf jenen Höhen, die von ihm leben. Der Verstand wirft den verteufelnden Mythos nur, wo er schon schwach geworden ist,
aber exakte Phantasie der Vernunft greift ihn dort an, wo er blendwerkt und zudeckt. Nicht grundlos wirkt aller gekommene Schrecken als fascistisch, und wo er als Sozialismus auftritt, als dessen Vernichtung und nie, wie beim Fascismus, als Konsequenz. Also gehört zur exakten Phantasie der Vernunft auch die
Kraft, jede Diagnose eines sozialistischen Abgrunds Lügen zu strafen; denn es ist immer das Fascistische selber, das breit Bedrohende schlechthin, das vor ihm warnt und in ihn hineinführt.
402
FAHNE ROT UND GOLD (1932) . Der Tag ist leer. Die Arbeit fehlt. Der Dienst ist hart. Das Volk braucht Reize. Der Nazi malt sie in die Stickluft, wie das » Volk« es wünscht, das Kapital befiehlt. »Arbeiter« der Stirn reichen ' dem Arbeiter der Faust die Hand (sonst nichts); große Kuxenbesitzer rufen Glückauf! und haben recht, als wackere Berg- leute. Allen anderen zeigt sich, hinter den Rache-Exzessen, dem jErhrasen- Portal immer nur die gleiche traurige unabgestellte
Wirklichkeit. Techniker sehen Maschinen gedrosselt, die Millionen Brot schaffen könnten, sehen Erfindungen verhindert, _ weil sie dem Profit im Wege stehen. Ärzte haben Menschen _ für eine Hölle gesund und leistungsfähig zu machen, heilen
Krankheiten, die aus den Lebensbedingungen
der heutigen
Gesellschaft immer wiederkommen wie Wunden im Krieg. Juri- sten sprechen Recht als nackten Ausdruck der Gewalt; der fasci-
- stische Staat duldet sie nur noch als Metzger höherer Ordnung oder als Sophisten des Verbrechens. Lehrer, Künstler, Schrift-
- steller finden keine Kultur mehr auf dem Boden des Kapitals, es sei denn eine ironische oder wunderliche,
eine, welche die
Heimatlosigkeit, die direkte Objektlosigkeit selber ist. Trotzdem steht kleinbürgerliche Gewohnheit jeder dieser Einsichten im Wege. Trotzdem formt eine ganz kleine Schicht Interessierter die revolutionäre
Lage reaktionär und bedient sich derer, die
das XIX. Jahrhundert »Desperados« genannt hatte. Trotzdem aber auch hätte Reaktion niemals so weit verführen
können,
_ wären ihre Mittel nicht gesprenkelt und widerspruchsvoll wie _ die Lage selbst, wäre ihre Kunst nicht so ungestörtgeblieben, "im Dunkeln zu munkeln. Die »irrationalen« Bedürfnisse von - heute, gewiß, auch sie entstammen letzthin der wirtschaftlichen Lage, doch nicht so glatt und einfach, sind darum auch nicht so glatt und einfach behandelbar, behebbar. Während der paar Jahre »Sachlichkeit« hatte mancher Fortschrittsfreund behauptet: »unsere Zeit ist ein schlechter Nährboden für Gespenster«;
es hat sich gezeigt, ein wie guter sie ist. Denn gäbe es unter den pauperisierten Schichten nicht ebensoviel ausgehungerte Phantasie wie beleidigten Standesdünkel, ökonomische Unwissenheit und wirkliche Not: dann wäre unmöglich gewesen, die
403
»Revolution« derart reaktionär, die Reaktion derart lemurisch zu betreiben, mit Gott, Führer, Vaterland und Feuerwerk. Sowohl rezeptiv wie »elementar« phosphoresziert das trübe Wesen
des Untergangs; dieser Phosphor schönt noch seinen Gläubigen den Betrug, läßt erst recht die Eisenkonstruktionen und Mon-
tagen der Oberschicht im Hohlraum glühen. Ohne dies wilde und verquerte Wesen wäre weder die »Suppenlogik mit Knö-
delgründen« (die Heine als die wirksamste beim Volk ansah) so uneinsichtig in den Tag hinein verhindert noch die »seelische Vermissung« so völlig gegen Marxismus kehrbar statt gegen Ka-
pitalismus, gegen die Heilung statt gegen die Krankheit. Im (ungestört) Irrationalen steckt das Scheinmittel, welches die »Verkleinerung des Menschen«
(Nietzsche) behebensoll, und welches,
wie zu sehen war, so gefährlich, so phantastisch oder lehrreich verfängt. Es verfinge aber nicht dermaßen »total«, steckte in den
Begeisterungen des Rausches, in den Experimenten des Einsturzes nicht auch ein anfälliges »Element«, dessen anfällige Seite Marxisten
eben
allzulange
unbetont
gelassen
haben.
Außer
daß fallierten Bürgern das Rot fremd ist, kennen sie erst recht nicht das Gold an der roten Fahne, die Goldfigur von Sichel und Hammer im Rot. Fremd ist ihnen die Poesie der Prosa, die Poesie, welche durch Prosa erst aufhört, eine verlogene zu sein. Fremd ist ihnen der Traum (auch ohne Schlaf), das Glücksbild (auch ohne Behagen im Muff), die Erneuerung des ganzen Daseins (auch ohne Belebung des abgestandenen), die Phantasie
des Horizonts (auch ohne dunklen Schwindel), die Fata Morgana des Wohin und Wozu (auch ohne ausgeführte Lüge). Gerade marxistisch aber ist der Weg mit der Tendenz nie genau einer, wenn er nicht, wie in die »Ganzheit« der augenblicklichen Situ-
ation, so in die wahre Ganzheit der menschlichen Hoffnung und Latenz eingetragen ist. Es gibt nationalsozialistischen Betrug zahllos; es gibt Religionen, deren »Himmel« die Armut nur vertröstet, Philosophie, deren »Metaphysik« nur die Physik der
Ausbeuter ist, hoch droben. Dieser Himmel und diese Metaphysik sind enthüllt, und zwar zu neunzig von hundert Teilen Chloroform dahinter statt Rosen und Rosengeruch. Aber das Feld der » Vermissungen« ist damit noch nicht leer geworden, weder
von gegenwärtigen Verführungen zum Falschen, wie sie der
404
Nationalsozialismus zeigt, noch von zukünftigen. Gerade marxi-
stische Dialektik ist kein immanenter Mechanismus; gerade sie hat - vom subjektiven Faktor ganz abgesehen - als materiellsten Motor: daß die Hauptsache, nämlich das wirkliche menschliche
Leben, in keinem Klassenzustand bereits geworden ist. Daher der Wille, der human-vermehrende und nicht nur ökonomisch-
freilegende Wille, die Klassengesellschaft in die sozialistische “überzuführen, nachdem alle ihre äußeren Bedingungen nicht schlecht gereift sind. Daher die Losung, das Wozu und Überhaupt, das man noch nicht kennt, als dauernde Frage zu halten. Der Mensch lebt nicht von Brot allein, besonders wenn er keines hat. Hat er es, dann ist der Traum des Mehr erst recht fällıg
und rot.
GLAUBE
OHNE
Nur der unzufriedene Mensch
LÜGE
kann fromm
sein. Vergeblich,
sich neuheidnisch an ein angeblich schon überreich gegebenes Leben zu halten. Völlige Lüge, sich mit den Bildern eines überlieferten Jenseits aufzufrischen, das unvorhandene Leben drü-
ben als seiend und fertig, als Ersatz und Ausgleich malt. Wir "schweigen von dem verdorrten jüdischen Gesetz, dem nicht nur die lax gewordenen Juden entfliehen. Wir schweigen noch mehr von der wässerigen Feuerseele des sogenannten liberalen Protestantismus, der Glauben zu herabgesetztem Preis abgibt. Der nicht etwa ein gequälter Rechenschaftsbericht moderner Lauheit, Entspanntheit, Glaubensferne geblieben ist, sondern bil-
‚lige Zufriedenheit damit und Ausweichen ins Gemüt. Auch hat das liberal-protestantische Individuum sehr rasch aufgehört, im Pathos der »Entscheidung« oder der immer neuen »Krisis« zu stehen. Es kapitulierte fast noch rascher als das orthodoxe, so-
bald ihm der fascistische Machtstaat die Korrespondenz, wo nicht den Himmel zu solcher Art Innerlichkeit befohlen hat. Dieser letzte Protestantismus erkennt Rasse und Staat als von Gott gesetzte Lebensordnungen an« und weiß nur, daß »in einer Welt der Sünde alle diese Ordnungen keine ausschließliche Gültigkeit und keine erlösende Kraft haben«; womit aufs neue
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die dünne Innerlichkeit oder die Seele im Sack sich der Obrigkeit verbindet, sich christlich mit sich selber tröstet. Womit der Lutherstaat aufs neue in seiner Härte, Roheit und Totalität sich
mythologisiert: als gottgesetzte Repressalie gegen den Sündenknecht, als Repressalie vor allem gegen den proletarischen Knecht, der so wenig besitzt, daß er nicht einmal einen Glauben hat und eine innere Manier. Allerletzt zwar murrt ein Pfarrernotbund, weil er zuviel seines Staates sich gegenübersieht. Doch der Lutherzorn selbst ist reaktionär vom Meister an; was dem Anfang identisch war, kann der Folge nicht weit entlaufen, die Treue ist das Mark der Ehre. Es wäre ebenso das beste, an der |
großen katholischen Kirche mit vollendeter Erfahrung vorbeizugehen. Ihr Geist, ehemals schlau, auch kühn, bunt und weit, heute »harmonisch« und ausgebissen, ist einer der Sparkasse
geworden, nicht der Verwandlung. Die Fragen und Willensimpulse, welche gegen das Zur-Ware-Werden des Menschen, gegen die Mechanisierung durch Kapitalismus angehen, die Antinomien, welche der katholische Christ besonders ungleichzeitig in dieser Gesellschaft erlebt, werden nicht nur, wie stets,
mit Trost aufs ausgleichende Jenseits behoben, sondern dazu noch mit Draperien aus einer längst gerichteten Gesellschaft, nämlich der feudalen des Mittelalters. Nicht einmal bei dieser, immerhin relativen Entgegensetzung zum Jetzt bleibt die Papstkirche, vielmehr: sie ist praktisch vollkommener Modernismus,
sie bejaht und verteidigt den Kapitalismus und drosselt nur die
Revolutionselemente an ihm, nämlich die proletarischen »Exzesse«, die Akkumulation, die Dialektik. Die Kirche möchte den |
Kapitalismus nur auf gewisse mittelständische Wirtschafts- und Denkstufen zurückbringen, damit er desto sicherer verewigt werde; weit davon entfernt, den praktischen Mechanismus abstrakt abzulehnen oder aber konkret zu Ende zu treiben, wählt die Kirche einen unweisen Kompromiß, eine Harmonie aus Un-
vereinbarkeit, nämlich praktischen Modernismus mit gotischer Verzierung. Sie wählt einen Andachts-Kapitalismus, einen milden Profit mit ebenso milden Evangelien, einen sanften Beton
mit korrekten Symbolen aus dem thomistischen Musterbuch; so fehlt das »Transzendierende« gerade, das » Transzendierende« im Jetzt, welche eine höllische Gegenwart sprengt. Darum auch 406
_ spürt die Kirche am Bolschewismus nur den Kampf gegen das .Kapital, sonst nichts; sie beschützt ein Religionsopium, das aus-
£ nahmslos im Dienst des Zaren gedampft hatte. Das »soziale«
Rom merkt nicht den allerchristlichsten Impuls in jenem Mate. rialismus, der die Schaffung der klassenlosen Gesellschaft be_ treibt; es will eher mit einem kapitalistischen Materialismus
untergehen, der sich christlich nennt, als daß es ein praktisches iChristentum erkenne, das mit theoretischem Materialismus sich _ verwirklicht. Die Papstkirche war öfter im Begriff, die Zusam- menhänge mit Christentum zu schwächen und nur noch ihren historischen Zarismus zu erinnern; also wurde sie Konkordat mit jeder Reaktion, sei es in Mexiko, Spanien, Österreich oder Deutschland. Also protestierte sie nicht gegen Arbeitermord ' und Judenhetze, sondern nur gegen die Minderung ihrer Or-
' ganisationen und Gewohnheiten; also lockerte sie das unheilige Konkordat nicht wegen der zehn Gebote oder wegen ' des Sakraments der Taufe, sondern weil der »Possesismus« be-
- droht schien und Ahab dem Saul die Totalitäten stört. Was ein
mutiger Kardinal in Deutschland an Negationen predigt, wird ‚durch die Positionen eines anderen in Österreich, durch Gottes
Segen über dieses Österreich, mehr als wettgemacht und ent‘ hüllt. Nur Rußland bleibt dem allzeit wachen Klassensinn der Papstkirche fremd, nur der Glaubenskrieg um einen Himmel auf Erden, um einen endlich konkret vermittelten Himmel. An
‘ diesem Zusammenstoß mit Rußland (er ist gefährlicher als der ' mittelalterliche mit dem Kaisertum)) wird die Kirche zugrundegehen oder — auf lauter Trümmern kapitulieren; denn gerade \was sie von den Reichen der bisherigen Welt zum Teil noch
'unterscheiden mochte, ist, mit dialektischer Immanenz, minde“stens im Anhub der anderen Seite. Und noch der durch\ schnittliche Glaube, der Restglaube dieser korrekt gewordenen, dieser prächtig aufgezogenen Restwelt, dieser riesigen Über' lieferung aus Katakomben, römischer Kaiser-Antike, Scholastik
und Feudalherrn, Mystikern und Diplomaten, Scheiterhaufen
' und erlauchtem
|Geistesweite:
' Mystiker
von
Kunstsinn,
Inquisition und allbeherrschender
sie haben keinen Gott mehr, die behaglichen heutzutage,
die von
den
Renten
der
ihnen
' gewordenen Welt sich ernähren, sie sind fast allesamt Atheisten,
407
nur unehrliche, modern-gotisch drapierte oder Gläubige des Gestus, weiler erzogene Gewohnheit ist und wohliges Gepränge den Hohlraum verdeckt; Gott aber liebt einen einzigen ehrlichen Atheisten, der weiß, was das heißt, mehr als Tausende dieser Frommen. Bleiben gewisse religiöse Probleme länger als ihre
»Aufklärungen«, erst recht länger als ihre mythologisch abschließenden Dogmen: so dürfte eine so genannte Kirche, wenn überhaupt, doch nur als Ort dieser Probleme »zeitentronnen« sein (oder von den »Pforten der Hölle« unüberwältigt, die sie
sich jetzt, mehr als je, selbst eröffnet hat). Auch ohne Klerus wird in der klassenlosen Gesellschaft die Frage des Wohin und Wozu brennen, ja, sie wird die mächtigste sein und unerbitt-
licher als heute, wo ein großer Teil des Bürgertums — aus klarsten Klassengründen - sie kastriert hat. Sie auf Jugend und Diluvium zurückstaut oder auch auf »Naturrecht des Eigentums«, »Ständestaat« und andere runde Thomismen. Dann wird vielleicht — nicht die ökonomisch entzauberte und über-
flüssig gemachte Kirche, nicht dies alte Herrschaftsinstrument, wohl aber eine Erziehungs- und Lehrmacht
(wo nicht Glau-
bensmacht) des Wohin jene Sorgen entgiften und jene Fragen erhellen, die die Menschen auch nach getaner Arbeit nicht gut ruhen lassen. Nietzsche sagt: »Ich weiß nicht aus noch ein; ich bin alles, was nicht aus noch ein weiß, seufzt der moderne Mensch« — dieser Mensch ist auch der religiös bedürftige von
morgen, der Mensch im Westchor des Anti-Nichts. Je mehr der Alltag stimmen wird, desto fragwürdiger bleibt der Tod, der ins
Leben hereinfällt und seine Ziele bleicht; desto vermittlungswerter der Raum, worin menschliches Leben emportreibt. Er kann entsetzlich leicht verfehlt werden, ja, hier haben sich nicht nur namentlich-fascistische Molochs aufgetan. Daher die Lo-
sung, kraft des utopischen Gewissens und Wissens, das auf der Wacht steht, dem Abgezielten immer wieder seinen unverwechselbaren Weg zu beziehen, den dialektischen zum menschlichen Haus, das sich dem Weg selber unabdinglich mitteilt, damit er
einer sei. Davon kann aber nicht nur moralisch, sondern im gleichen Zug metaphysisch nicht groß genug gedacht werden, genau
in Ansehung des Glaubens ohne Lüge, des Wozu, das ebenso in die exakte Phantasie greift. Mit jener alten Aufklärung, die den 408
‚Menschen am wenigsten ausließ, und jener neuen, endlich fäl-
‚ligen, die sich beim Licht gerade auch aufs ohne Auslassung seiner dunkleren Tiefen. Es schung der Unwissenheit, Betrug an falscher rauch über durchschaubaren Gefühlen. Doch
Latente versteht, gibt riesige TäuPhantasie, Weihes gibt auch rote
Geheimnisse in der Welt, ja nur rote.
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NAMENREGISTER
Adorno, Theodor 377 Alexander der Große 92, 129 Amalrich von Bena 134
Buddha 327 Burckhardt, Jacob 269
Antoninus Pius, Kaiser 128
Caligula, Kaiser 80 Campendonck, Heinrich 83
Aragon, Louis 227, 241, 381, 387 Aristoteles 193, 399 Augustinus, Aurelius 142 f.
HiAugustus, Kaiser 128 _ Bachofen, Johann Jakob 55, 269, 323,
334, 337, 345, 370 Baldung, Hans, gen. Grien 276 Balzac, Honore de 270
Banse, Ewald 303 Bartök, Bela 86
Bäumler, Alfred 269, 365 Becher, Johannes R. 257, 266, 273 Beckmann, Max 82
Beethoven, Ludwig van 53 f., 378
= Benjamin, Walter
C£zanne, Paul 83, 269 Chagall, Marc 83, 256, 260, 266, 276
Chamberlain, Houston Stuart gı, 269 Chaplin, Charlie 36 Chirico, Giorgio 240, 387 Chopin, Frederic 222, 238 Cocteau, Jean 235 f., 248, 370
Cohen, Hermann 297, 300 Comte, Auguste 358 Conrad, Joseph 181 Conze, Eberhard 396 Cooper, James Fenimore ı71{. Cou&, Emile 190 Courths-Mahler, Hedwig 83
166, 241, 367 ff.,
373,381, 384, 387 Benn, Gottfried 84, 100, 200f.,256f.,
264
i Berg, Alban 238 Bergson, Henri 304, 336, 351 ff. Bertram, Ernst 363 Blaß, Ernst 36
"Blavatzki, Helene 194
_ Blum, Robert 78 Böcklin, Arnold 333 f., 337, 374
- Börne, Ludwig 124 "Bosch, Hieronymus 276 Brecht, Bert 17, 156, 227, 231, 246fl., 275f.
"Brentano, Franz 296
Dacqu£, Edgar 192 f., 195, 197, 304 Daniel, Prophet 130, 141 Dante 201, 278 Defregger, Franz v. 83, 214 Dehmel, Richard 352
Dehn, Günther Karl 147 Demokrit 398 Descartes, Rene 196 Dietzenschmidt, Anton Franz 199 Dilthey, Wilhelm 325 Dimitroff, Georgi 147 Dix, Otto 83, 266, 275 Döblin, Alfred 244 Dostojewskij, Fedor 64, 139, 378 Dubislav, Walter 283
Briand, Aristide 38
Duhem, Pierre 289, 292 f.
Bruckner, Anton 54, 319, 321, 379 Buber, Martin 149 Büchner, Ludwig 399
Eckart, Johann (»Meister Eckart«)
52, 101, 149 4II
Edschmid, Kasimir 40
Hamann, Johann Georg 102, 348, 350
Ehrenstein, Albert 266 Einstein, Albert 289
Hartmann, Eduard von 383
Eisner, Kurt ı60f.
Hasenclever, Walter 266 Hauff, Wilhelm 170, 178, 185
Engels, Friedrich 163, 195 f., 292 £
Hauptmann, Gerhart 198 f.
295. 399
Hausenstein, Wilhelm 256 £.
Ernst, Max 227, 370, 387
Heartfield, John 275 Hebel, Johann Peter 54, 362
Feininger, Lyonel 83
Heckel, Erich 82 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 125, 138, 196, 249, 269, 284, 320, 326,
Feuerbach, Ludwig 21, 269, 364 Fichte, Johann Gottlieb 352 Fischer, Ernst 277 Forel, August 346 Fourier, Charles 145
Franz von Assisi 136 Freud, Sigmund 344 fl., 349 Freyer, Hans 74, 325 Friedrich I., Kaiser 89, 131
394, 399 Heidegger, Martin 74, 201, 222, 280,
297 f., 306 fl., 311 fl., 317, 325 Heine, Heinrich 270, 404
Friedrich II., Kaiser 130.
Herder, Johann Gottfried 320 Herzog, Rudolf 170, 210 Heß, Rudolf 92 Hesse, Hermann 266
Friedrich II., König von Preußen 5ı
Heym, Georg 266
Gauguin, Paul 261
Hielscher, Kurt 147 Hiller, Kurt 266
Gelb, Adhemar 303
Hindemith, Paul 230
Gentile, Giovanni 352
Hindenburg, Paul von 71, 89 Hitler, Adolf 67, zı ff., 8of., 84, 86,
George, Stefan 101, 201 f., 333, 363,
374 Giedion, Siegfried 216, 382
Giotto di Bondone 249, 278 Gobineau, Joseph Arthur Graf 9ı Goebbels, Joseph 72 £., 76, 80, 84, 139, 214, 257, 265
89, 91 f., 101 f., 104, 111,132, 139£., 147, 153 f., ı60ff., 179, 188, 200,
203, 257, 264, 274
201, 249, 252, 268, 270, 272, 304f.,
Hofmannsthal, Hugo von 236 Hofer, Karl 83 Hölderlin, Friedrich 84 Homer 268, 270 Horaz 396
320, 323, 345
Hörbiger, Hanns 192
Goethe, Johann Wolfgang von 83,
van Gogh, Vincent 83, 261 f.
Göring, Hermann 139 Gorki, Maxim 253 Gotthelf, Jeremias 55, 183, ı85 Gottl-Ottlilienfeld, F. von 325 Goya, Francisco de 276. Green, Julien 242
Horkheimer, Max 355 Hugo von St. Viktor 133 Humperdinck, Engelbert 184 Husserl, Edmund 222, 296 ff., 308
Ibn Tofail 343 Ibsen, Henrik 63, 139
Grosz, George 83, 266, 275
Grünewald, Matthias 83
Jacobi, Friedrich Heinrich 341
Grützner, Eduard 83
James, William 284
Haeckel, Ernst 291, 337, 399
Jaspers, Karl 222, 311 ff., 316 £., 325 Jean Paul 341
412
| |
Jensen, Johannes V. 355
Leonhard, Rudolf 266
Jesaias, Prophet 86, 141 f.
Lessing, Gotthold Ephraim 137 ff. Lipps, Theodor 297
Jesus 56, 87, 101, 129£., 134f., 141 £.,
337 8. 359 fl.,365, 392
London, Jack 397
Joachim von Fiore 63 f., 131, 133 ff.,
Ludendorft, Erich 89, 162
139, 145, 157 Johannes, Apostel 138, ı91 Johannes der Täufer 130
Ludwig II., König von Bayern ı3 1 £.
Joyce, James 222, 224 ff., 241 ff.,
248 f., 280 Jung, Carl Gustav 84, 344 ff.
Ludwig XIV. 5ı Lukacs Georg 158, 256, 265 ff., 277, 286
Luther, Martin 75, 140, 298, 398, 406
Macauly, Thomas Babington 398 Kafka, Franz 241, 248 Kandinsky, Wassily 53, 83, 256, 266 Kant, Immanuel 196, 300, 343, 364 Karl der Große 131 £.
Mach, Ernst 283 ff., 289, 291 ff. Mahler, Gustav 52, 54, 101, 379
Makart, Hans 359, 377, 386 Manet, Edouard 83
Keyserling, Hermann Graf 149, 323
Mann, Heinrich 268 Mann, Thomas 198 f., 210 Mannheim, Karl 286 ff., 322, 325 Marc Aurel 327
. Kierkegaard, Sören 298, 306, 308 f.,
Marc, Franz 53, 82 f.,85 f., 255 f.,
Kautsky, Karl 146 Keller, Gottfried 54, 258 f., 261, 299,
371, 385, 390 312,
317,364
Kipling, Rudyard 251
Kirchner, Ernst Ludwig 82 Klages, Ludwig 65, 84, 184, 197, 201, 222, 314, 319, 330 ff., 336 ff., 348,
350, 357, 385
260, 266, 276
Marx, Karl 18, 21, 52, 72, 95, 97, 114, 118, 150, 154, 156, 169 ff., 196, 212,
269, 277, 286 f., 400 May, Karl 169 ff., 179 f., 210, 372,
377, 380
Klee, Paul 83, 256 f., 260, 266
Mazzini, Giuseppe 88
Kleist, Heinrich von 361
Klemm, Friedrich gr ft. Klemperer, Otto 236, 377
Meinong, Alexius 303 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 373 Mesmer, Franz Anton 337
Klinger, Max 373
Metternich, Clemens
Köhler, Wolfgang 303
Fürst von
163,
287
Kokoschka, Oskar 82, 266
Meyerbeer, Giacomo 374, 378
Kracauer, Siegfried 33 fl. Kretschmer, Ernst 303 Kurella, Alfred 264 f., 274 f.
Meyrink, Gustav 190 Mirabeau, Gabriel-Honore Riqueti, Graf von 78 Mirbeau, Octave 382
Laotse 255, 327 Lasker-Schüler, Else 266 -Laue, Max von 289 Leibl, Wilhelm 384
Leibniz, Gottfried Wilhelm 93 Lenbach, Franz von 336 Lenin, Wladimir Iljitsch 78, 147, 150, 284, 288, 291 fl.
Modersohn-Becker, Paula 83 Moeller van den Bruck, Arthur
64,
127, 139 Moleschott, Jacob 399 Moliere, Jean Baptiste 382 Montanus
143
More, Thomas 150 Mörike, Eduard 270
413
Moses 128, 130
Rickert, Heinrich 280, 325
Mozart, Wolfgang Amadeus 319
Rimbaud, Arthur 261, 328 Rohde, Erwin 269 Rosenberg, Alfred 84, 139, 214, 269° Rousseau, Jean-Jacques 54, 121,359
Münster, Hanns A. 76 Münzer, Thomas 140, 149, 287, 364 Mussolini, Benito 86, 214, 219
Rubiner, Ludwig 266 Rudbeck, Olof 93 Russel, Bertrand 282
Nadler, Josef 322
Napoleon 1.131 f. Nero, Kaiser 70, 80, 92 Nestroy, Johann 186 Neumann, Therese 108
Sabbatai Zewi 87 ft.
Nietzsche, Friedrich 57, 103, 269, 320,
Scheffel, Viktor von 382
Sachs, Hans 86, 362
334, 337f., 341, 358 ff., 369, 374, 404, 408
Scheler, Max 286, 297 f., 303 ff., 308, 312, 316, 325, 402
Nolde, Emil 82, 266
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph‘
Norden, Eduard 129 Noske, Gustav 217, 223, 256
von 125, 138 f., 305, 328, 341, 352 Schickele, Ren& 266 Schiller, Ferdinand C. S. 284 Schiller, Friedrich von 93, 103, 247,
Offenbach, Jacques 57, 319, 379 Origines, Kirchenvater 63, 133 Ortega y Gasset, Jose 397 f. Ossietzky, Carl von 39 Ovid 356 Paracelsus, Theophrastus Passarge, Siegfried 303 Paulus, Apostel 138, 366
188, 337
357» 397
Schlageter, Leo 162 Schlick, Moritz 283
Schmidt, Christoph von 380 Schmitt, Carl 74 Schmitt-Rottluff, Karl 83
Schönberg, Arnold 238 f., 266
Schopenhauer, Arthur 93, 352 f., 383,
Pechstein, Max 82 Petrus, Apostel 138
398 Schrimpf, Georg 217
Picasso, Pablo 83, 236, 260, 275 ft.,
Schubert, Franz 54 Schumann, Robert 319, 373 Schwind, Moritz von 374
328
Piscator, Erwin 369 Pitt, William d. Ä. 78 Pitt, William d. J. 78 Planck, Max 289 Platon 304 f., 326, 331, 399 Poe, Edgar Allan 181 Poincare, Raymond 289, 291 f.
Sealsfield, Charles ı8ı Shakespeare, William 278
Shaw, Bernard 327 Simmel, Georg 369
Sokrates 337 f., 359 f.
Proust, Marcel 241 fl.
Sombart, Werner 325, 397 Sorel, Georges 352 Spann, Othmar 163, 303
Przywara, Erich 147
Spengler, Oswald 286, 303 ff., 318 fl.
Prinzhorn, Hans 344
Spinoza, Baruch 102
Ramakrischna 194 Reventlow, Franziska 333 Rhodes, Cecil 319 £. Richard von St. Viktor 133, 301
414
Spontini, Gasparo 378 Spranger, Eduard 280
Stallo, John Bernhard 293
Steiner, Rudolf 188, 192 ff., 197
"
Stevenson, Robert Louis 181
Wassermann, Jakob 198, 210
Stinnes, Hugo 95
Watson, John Broadus 284 Weber, Max 286
Strauß, David Friedrich 347
Strauß, Johann 3 19 Strauss, Richard
236 f., 352, 374
"Stravinskij, Igor 23 ı ff. - Streicher, Julius 82, 139, 269
Stresemann, Gustav 38 Suso, Heinrich 149 Swedenborg, Emanuel 194
Tauler, Johann 149
_ Telesphorus von Cosenza 136
Weill, Kurt 230 ff., 237 Weißenberg, Joseph 149 Weitling, Wilhelm 145, 150 Werfel, Franz 266 f£. Wertheimer, Max 303 Wessel, Horst 71
Wienbarg, Ludolf 88 Wiesengrund siehe Adorno Wildenbruch, Ernst von 273 Wilhelm I. 131
Thomas von Aquin 278, 306 ' Thyssen, Brüder 70, 72, 77, 95, 321 Tizian 336 Toller, Ernst 37
Wilhelm II. 74, 84, 172 Wille, Bruno 333 Winckelmann, Johann Joachim 269 f.,
_ Trajan, Kaiser 128
Winckler, Josef 100
h Trakl, Georg 266
Windelband, Wilhelm 320, 325, 399
Tycho de Brahe 327
274 Wirth, Johann Georg August 88 Wittgenstein, Ludwig 282
Vaihinger, Hans 281
Woltmann, Ludwig gı
Verdi, Giuseppe 379
Vergil 128 f. Verworn, Max 285 _ Villon, Frangois 276
| Virchow, Rudolf 188, 303
- Vogt, Karl 399 Wagner, Richard 85,244,333 f.,359 f.,
372.385
Yeats, William B. 194 Ziegler, Adolf 255, 269 Ziegler siehe Kurella, Alfred Ziegler, Klara 377, 379f. Ziehen, Theodor 281 Zola, Emile 78 Zweig, Stefan 266
415
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Spuren Thomas Münzer als Theologe der Revolution
Geist der Utopie. Zweite Fassung Erbschaft dieser Zeit
‚Das Prinzip Hoffnung
Naturrecht und menschliche Würde Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz
Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel Literarische Aufsätze NNaun ee N) awPhilosophische Aufsätze zur objektiven. Phantasie uhEN Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz 12 Zwischenwelten in der Philosophiegeschichte 13 Tübinger Einleitung iin die Philosophie 14 ‚Atheismus im Christentum
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15 Experimentum Mundi 16 Geist der Utopie. Erste Fassung
Ergänzungsband: Tendenz-Latenz-Utopie
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ISBN 3-518-28153-4